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German Pages 474 [476] Year 2002
Kristine Koch Deutsch als Fremdsprache im Rußland des 18. Jahrhunderts
W G DE
Die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache Herausgegeben von Helmut Glück in Verbindung mit Ulrich Knoop und Jochen Pleines Wissenschaftlicher Beirat: Csaba Földes • Gerhard Heibig • Hilmar Hoffmann Barbara Kaitz • Aida Rossebastiano • Konrad Schröder Libuse Spâcilovâ • Harald Weinrich • Vibeke Winge
Band 1
Walter de Gruyter • Berlin • New York
2002
Kristine Koch
Deutsch als Fremdsprache im Rußland des 18. Jahrhunderts Ein Beitrag zur Geschichte des Fremdsprachenlernens in Europa und zu den deutsch-russischen Beziehungen
Walter de Gruyter • Berlin • New York
2002
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft D 473
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ClP-Einheitsaufnahme
Koch, Kristine: Deutsch als Fremdsprache im Rußland des 18. Jahrhunderts : ein Beitrag zur Geschichte des Fremdsprachenlernens in Europa und zu den deutsch-russischen Beziehungen / Kristine Koch. — Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache ; Bd. 1) Zugl.: Bamberg, Univ., Diss., 2 0 0 1 ISBN 3 - 1 1 - 0 1 7 5 0 3 - 7
ISSN 1610-4226 ©
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Meinen Eltern und Großeltern
Vorwort des Herausgebers Sprachen haben ein Innenleben. Es besteht aus ihrer Grammatik und ihrem Lexikon. Das ist ein Gemeinplatz. Sie haben aber auch ein Innenleben sozialer Art: Gruppen von Menschen, die die betreffende Sprache sprechend und schreibend verwenden, hörend und lesend verstehen können. Solche Gruppen von Menschen nennt man Sprachgemeinschaften. Sprachgemeinschaften können groß oder klein sein. Kommt einer Sprachgemeinschaft die Sprache abhanden, dann hört die von ihr getragene Sprache auf, als 'lebende Sprache' zu existieren. Man hat es dann mit Sprachwechsel oder, im schlimmsten Fall, mit dem physischen Verschwinden der Sprachgemeinschaft zu tun. Das soziale Innenleben der deutschen Sprache ist gut erforscht, denn die Sprachgermanistik, die sich früher einmal als Nationalphilologie verstand, hat in der Dialektologie, in der Sozio- und Pragmalinguistik, in der Konversationsanalyse, der Textlinguistik, der Forschung über Gruppen- und Sondersprachen und sogar in manchen sprachdidaktischen Arbeiten breit ausgeleuchtet, wie die Sprachgemeinschaft ihre Sprache benutzt und immer wieder verändert. Auch mit der sozialen Außenhaut der deutschen Sprache hat sich die Forschung unter verschiedenen Blickwinkeln befaßt, etwa dem des Sprachkontakts entlang der Außengrenzen des Sprachgebiets, dem der kontrastiven Grammatik und Lexikologie, dem der Sprachinselforschung. Wir wissen viel über das Lehngut, das im Laufe von 1200 Jahren ins Deutsche aufgenommen und integriert worden ist, und die Nachbarphilologien können uns Aufschluß darüber geben, was andere Sprachen aus dem Deutschen entlehnt und integriert haben. Auch die Fremdwortdebatten, die bei uns, genauso wie in anderen Sprachgemeinschaften auch, immer wieder geführt werden, sind ein Zeugnis für den Sachverhalt, daß Sprachen sich nur selten still, selbstgenügsam und für sich selbst entwickeln, sondern das üblicherweise im Kontakt, im Austausch mit anderen Sprachen tun. Die Lehn- und Fremdelemente, die jede Sprache in sich aufgenommen hat, sind gewissermaßen das Sediment solcher Kontakte und solcher Austauschprozesse. Damit aber sprachliche Sedimente dieser Art entstehen können, müssen zuvor Menschen miteinander kommunziert haben. Realer sprachlicher Kontakt zwischen wirklichen Menschen ist der soziale Ort, an dem Sprachkontakt stattfindet, an dem sprachliche Entlehnungen entstehen, von dem sie ausgehen. In der germanistischen Sprachgeschichtsforschung spielt die Frage, welche (Gruppen von) Personen mit welchen Hilfsmitteln und aus welchen Motiven das Deutsche als Fremdsprache erworben oder gezielt gelehrt bekom-
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Vorwort des Herausgebers
men und gelernt haben, bisher keine große Rolle. In der Forschung zum Reisen im Mittelalter und zur Wirtschafts- und Militärgeschichte werden die interessierenden Punkte mitunter am Rande erwähnt, ohne daß sie systematisch untersucht worden wären. Die Forschung zur Geschichte der Lexikographie des Deutschen hat die Vokabulare und Lexika des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, in denen das Deutsche Referenzsprache ist, vor allem im Hinblick auf ihre lateinischen Vorbilder untersucht. Die Geschichte der Resultate von Sprachkontakten des Deutschen mit anderen Sprachen ist ebenfalls ziemlich gut erforscht, namentlich im Bereich des Lexikons, aber Fragen des Erwerbs und des Gebrauchs des Deutschen als fremder Sprache spielen in ihnen keine Rolle. Ältere Wörterbücher, die Volkssprachen miteinander in Beziehung setzen, sind unter Spracherwerbsgesichtspunkten kaum untersucht worden, und auch die 'didaktische' Lexikographie, die der Lehre des Deutschen als Fremdsprache diente, ebenso die oft erbärmlich schlechten Lerngrammatiken (grammaticae minores) für das Deutsche sind in der Forschung weithin unberücksichtigt geblieben. Der erste Versuch einer sprachwissenschaftlichen" Überblicksdarstellung scheint mein Buch Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit zu sein.1 Die Sprachdidaktik ("Fremdsprachenwissenschaft") hat sich mit der älteren Geschichte des Unterrichts im Deutschen als Fremdsprache bisher nicht ernsthaft befaßt. Über die 'Vorgeschichte' des Fremdsprachenunterrichts vor 1850 sind Mutmaßungen und Fehleinschätzungen im Umlauf. Die verdienstvolle Arbeit von J.-A. Caravolas 2 untersucht die Geschichte des Fremdsprachen Unterrichts in Europa zwischen 1450 und 1700, aber sie ist im Hinblick auf das Deutsche (und die nordischen, slavischen und baltischen Sprachen sowie das Finnische und das Ungarische) sehr lückenhaft, und der außerunterrichtliche Fremdsprachenerwerè ist kaum berücksichtigt. Das ebenso verdienstvolle Biographische und bibliographische Lexikon von Konrad Schröder 3 befaßt sich vor allem mit Sprachen, die in Deutschland als Fremdsprachen gelehrt wurden, kaum jedoch mit dem Deutschen als fremder Sprache. Fragen dieser Art ist die Reihe Die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache (GDF) gewidmet, die mit diesem Band eröffnet wird. Sie versammelt Arbeiten, die sich mit der Geschichte des Deutschlernens und des Deutschunterrichts außerhalb und, im Falle von Einwanderern, auch inner1
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Glück, Helmut, Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit. Berlin - N e w York 2002. Caravolas, Jean-Antoine, La didactique des langues. Précis d'histoire I, 1450 - 1700. Montréal - Tübingen 1994. Schröder, Konrad, Biographisches und bibliographisches Lexikon der Fremdsprachenlehrer des deutschsprachigen Raumes, Spätmittelalter bis 1800. 6 Bde. Augsburg 19871998.
Vorwort des Herausgebers
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halb des deutschen Sprachraums befassen. Es handelt sich um eine sprachwissenschaftliche Reihe. Ihre Schwerpunkte liegen in der Sprachgeschiche und in der Sprachsoziologie. Sie umfaßt einerseits Studien zu einzelnen Ländern oder Regionen, ggf. auf einzelne Epochen bzw. Zeiträume beschränkt (so wie das vorliegende Buch), andererseits solche, die sich auf bestimmte Einwanderergruppen beziehen. Die GDF ist nicht beschränkt auf grammatische und lexikologische Fragestellungen. Auch spracherwerbsbezogene, pragmatische (z. B. 'sprachliche Etikette') und 'inhaltliche' Fragen (z. B. Nationenbilder) sind Untersuchungsgegenstände, ebenso sprach- und kulturpolitische Themen. Der inhaltliche Rahmen der GDF ist dadurch bestimmt, daß das Deutsche auf allen Stufen der Sprachentwicklung von Anderssprachigen als Fremdsprache erworben bzw. gelernt worden ist. In der älteren Zeit (bis etwa 1700) gilt das vor allem für den benachbarten romanischen und den west- und stidslavischen Sprachraum sowie für das Baltikum, Finnland, Ungarn und Siebenbürgen. Im 18. Jahrhundert kommen die Sprachräume der nord- und westgermanischen und ostslavischen Sprachen dazu. Erst im 19. Jahrhundert wird das Deutsche auch in den geographisch weiter entfernten Teilen Süd- und Westeuropas und außerhalb Europas (in Nord- und Südamerika, Vorder- und Ostasien sowie in Afrika) in nennenswertem Umfang gelehrt und gelernt. Die Reihe soll aber auch für die 'umgekehrte Perspektive' offen sein, nämlich für die Geschichte des Fremdsprachenlernens in Deutschland. Um das vorgesehene thematische Spektrum und die Vielfalt der betroffenen Sprachen und Kulturräume abdecken zu können, wurde für die GDF ein international zusammengesetzter wissenschaftlicher Beirat berufen (s. Titelei). Die GDF soll die Sprachgeschichte des Deutschen um einen vernachlässigten Gesichtspunkt erweitern und die Fachgeschichte des Deutschen als Fremdsprache begründen. Die Reihe wird in der Arbeitsstelle für die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache (AGDaF) an der Universität Bamberg betreut. Die AGDaF betreibt derzeit zwei einschlägige Forschungsprojekte, in deren Rahmen mehrere Dissertationen entstehen. Ein Projekt wurde im Sommer 2001 abgeschlossen (Band 2 dieser Reihe 4 ), das Projekt Johann Ernst Glück, die baltische Frühaufklärung und die Anfänge des höheren Schulwesens in Rußland wird seine Arbeit im September 2002 aufnehmen. Band 3 der GDF legt die Akten eines internationalen Bamberger Symposions vor.5 4
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Glück, Helmut - Klatte, Holger - Späöil, Vladimir - Späüilovä, Libuäe, Deutsche Sprachbücher in Böhmen und Mähren vom 15. Jh. bis 1918. Eine teilkommentierte Bibliographie (GDF 2). Berlin - New York 2002. Die Volkssprachen als Lerngegenstand im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Akten des Bamberger Symposions am 18. und 19. Mai 2001 (GDF 3). Hg. von Helmut Glück. Berlin - New York 2002.
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Vorwort des Herausgebers
Die GDF richtet sich nicht nur an Germanisten, sondern auch an Neuphilologen (Romanisten, Slavisten, Nordisten usw., je nach betroffenem Sprachraum), ebenso an Historiker, Politikwissenschaftler, Soziologen, Volkswirte, Pädagogen und Geographen. Nicht zuletzt hat die Reihe die 'Praktiker' im Auge: DAAD-Lektoren, Goethe-Institute, deutsche Auslandsschulen bzw. -lehrer, die 'Mittlerorganisationen' und alle Personen und Institutionen, die in den internationalen Kulturbeziehungen aktiv sind. Ihr Anspruch besteht nicht zuletzt darin, dem bislang vor allem praxisorientiert, vielfach auch praktizistisch (d.h. methodologisch wenig reflektiert und theoriearm) bearbeiteten Fach Deutsch als Fremdsprache ein solides historisches Fundament zu geben. Es steht zu hoffen, daß sich daraus auch theoretische und methodische Konsequenzen für dieses Arbeitsfeld gewinnen lassen. Das vorliegende Buch von Kristine Koch ist der erste große Versuch, einen sozialen Ort der Sprachkontakte des Deutschen mit einer großen Nachbarsprache für eine Zeitspanne von ungefähr hundert Jahren genau zu vermessen. Es geht der Frage nach, wie das Deutsche im 18. Jahrhundert im schon damals größten Land Europas zu einer gesuchten, geachteten und als sehr nützlich betrachteten Fremdsprache aufsteigen konnte. Im Zentrum des Interesses stehen nicht die (vielen) Entlehnungen, die das Russische im Laufe jenes Jahrhunderts aus dem Deutschen aufgenommen hat, sondern die Frage danach, wo, wann, wie und mit welchen Hilfsmitteln Menschen russischer Muttersprache im Laufe dieser hundert Jahre die fremde Sprache Deutsch gelernt haben, in welchen sozialen Räumen sie auf die deutsche Sprache stießen und welche dieser Räume damals in Rußland für das Deutsche reserviert waren. Dieses Buch ist die erste monographische Studie zur Verbreitung des Deutschen als Fremdsprache in einem anderen europäischen Land im 18. Jahrhundert. Seine Hauptthemen sind erstens die Erforschung der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen, also der auswärtigen Kulturpolitik der beiden Länder avant la lettre, zweitens die Erforschung der Geschichte des Fremdsprachenlernens (und hier speziell die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache), drittens die Fachgeschichte der Germanistik und z.T. auch der Slavistik. Das Buch beginnt mit einer Skizze der Fragestellung und einer Darstellung des bisherigen Forschungsstandes. Die russische (Schul-) Sprachenpolitik ist für die sowjetische Zeit sehr gut erforscht, für das 19. Jahrhundert schon viel schlechter, und für frühere Jahrhunderte gibt es nur eine selektive Aufsatzliteratur. Zunächst geht es um die historischen Voraussetzungen, nämlich die Verbreitung von Deutschkenntnissen in Rußland bis zum Ende des 17. Jahrhunderts. Das Kapitel hat drei Abschnitte: die ersten deutschrussischen Begegnungen im Kiever Rus', die Kontakte Novgorods und Pleskaus über das Baltikum nach Deutschland und schließlich die Bezie-
Vorwort des Herausgebers
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hungen des Moskauer Großfürstentums zu den Deutschen und zu Deutschland bzw. den vielen deutschsprachigen Ländern. Es leistet die Hinführung zum ersten Hauptgegenstand, nämlich den sprachsoziologischen Domänen der Fremdsprache Deutsch seit der Regierungszeit Peters I., des Großen. Im wesentlichen sind das die Funktionsbereiche von Politik, Verwaltung, Militär, Wirtschaft/Industrie, Gesundheitswesen und Bildungs- und Publikationswesen. Hier wird im Detail dargestellt, im welchem Maße das Deutsche Grundlagen schuf für den funktionalen Ausbau des Russischen: um 1700 konnte es keine dieser Funktionen erfüllen, um 1800 war es in all diesen Funktionen verwendbar. Im Kontakt, aber auch in Auseinandersetzung mit dem und in Abgrenzung vom Deutschen (und später auch vom Französischen) wuchs das Russische in all diese Funktionen hinein. Seine Entwicklung zu einer modernen Hochsprache erfolgte zu einem gewissen Teil durch lexikalische Entlehnungen, wobei das Deutsche als Quell- und Relaissprache die wichtigste Rolle spielte (viele Entlehnungen des Russischen aus dem Lateinischen und dem Französischen wurden über das Deutsche vermittelt). Bereits 1735 wurde an der Petersburger Akademie der Wissenschaften das Vol'noe rossijskoe sobranie 'Freie russische Versammlung' begründet, das sich mit der Erstellung von russischen Wörterbüchern und Grammatiken befassen sollte, und 1757 erschien Michajl Lomonosovs Russische Grammatik. Doch erst in der Zeit nach 1800 erreichte das Russische das Format einer vollständig ausgebauten Hochsprache. Seit der Regierung Elisabeths wuchs die Bedeutung des Französischen auch in Rußland, doch konzentrierte sich diese französische Orientierung auf den Hof und den Hochadel und berührte die übrigen Domänen des Deutschen nur wenig. Das Deutsche blieb das ganze 18. Jahrhundert hindurch (und auch später) die Fremdsprache der Gebildeten, der Kaufleute, der Ingenieure, der Ärzte, der Juristen, der Offiziere, kurz: der 'Bürgerlichen'. Wie kamen diese Gruppen an die Fremdsprache Deutsch, wie verbreitete sich das Deutsche als Fremd- und Unterrichtssprache an den Schulen Rußlands? Ein modernes säkulares, staatliches Schulwesen entstand dort erst in der Regierungszeit Peters I. Seine Anfänge in Moskau und Petersburg waren von deutschen Vorbildern geprägt und wurden von deutschen Lehrern organisiert. Dasselbe gilt für die Akademie der Wissenschaften (gegr. 1724) und die Universitäten in Petersburg (gegr. 1724) und Moskau (gegr. 1755). Abweichend davon orientierte sich die erste Mädchenschule Rußlands, das Smol'nyj-Institut (gegr. 1764) an französischen Mustern. Neben den allgemeinbildenden (Sprachen-)Schulen standen von Anfang an Fachschulen, in denen der technische (Bergbau, Verwaltung, Seefahrt, Militär) und medizinische Nachwuchs ausgebildet wurde. Ihr Leitungspersonal und
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Vorwort des Herausgebers
große Teile der Lehrerschaft waren bis weit in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts Ausländer, meist Deutsche. Dasselbe gilt für die russische Spielart der westeuropäischen Ritterakademien, die Kadettenkorps. Die Schulreformen Katharinas der Großen, inspiriert vom Dessauer Philanthropin und der Saganschen Lehrart (der österreichischen 'Normalmethode'), änderten diese Verhältnisse: das Russische setzte sich als Unterrichtssprache allmählich durch, und die deutschsprachigen Schulen wurden zu deutschen Schulen der deutschsprachigen Diaspora in Rußland bzw. zu Schulen der Balten- und Finnlanddeutschen. In den russischen Schulen blieb das Deutsche (mit einer Unterbrechung im Ersten Weltkrieg) bis in die 1960er Jahre die wichtigste Fremdsprache. Inzwischen hat das Englische diese Rolle übernommen, nicht nur aufgrund der 'Globalisierung', sondern auch deshalb, weil die deutsche Politik in dieser Frage passiv und konzeptionslos war und ist.6 Um Schulfremdsprachen etablieren zu können, muß man Lehrer dafür ausbilden oder anderswo rekrutieren. Erst 1783/86 wurde ein staatliches Lehrerseminar in Rußland eingerichtet, das den Bedarf an Lehrern aber nur allmählich decken konnte. Bis dahin waren Anwerbungen im Ausland bzw. unter Ausländern und die Überprüfung der (oft geringen) Kompetenz der Bewerber die Regel. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden noch fast alle Lehrer im Ausland angeworben, wobei die hallischen Pietisten sich als wichtige Helfer erwiesen. Aufschlußreich und bildungsgeschichtlich von hohem Wert ist der prosopographische Abschnitt über die wichtigsten Lehrerpersönlichkeiten des 18. Jahrhunderts in Rußland. Die Inhalte und Methoden des Deutschunterrichts folgten zwar lange Zeit deutschen Vorbildern, doch bildeten sich schon früh spezifisch russische Traditionen heraus. Zu Beginn des Jahrhunderts konnte nur mit importierten Lehrbüchern gearbeitet werden, weil es keine inländischen Lehrbücher gab. Am Ende des Jahrhunderts lagen bereits mehr als 100 in Rußland erschienene einschlägige Werke vor. Sie waren für die parallele Entwicklung der Grammatikographie und der Lexikographie des Russischen von hoher Bedeutung. Es ist kein Wunder, daß der Begründer des ersten Moskauer Gymnasiums westlichen Stils, der livländische Pastor Johann Ernst Glück, nicht nur existierendes Lehrmaterial für russische Schüler bearbeitet, sondern selbst eine Grammatik des Russischen verfaßt hat. Einige Jahre später unternahm der Sprachlehrer Johann Werner Paus einen weiteren 6
Glück, Helmut, Deutsch weltweit? Kleine Arbeiten zur auswärtigen Sprach- und Kulturpolitik 1992 - 1997. Mit einem Vorwort von A l o i s Graf von Waldburg-Zeil. Bamberg 1998; Stark, Franz, Sprache als Instrument der Außenpolitik. In: Die Zukunft der deutschen Sprache. Eine Streitschrift. Hg. von Helmut Glück - Walter Krämer. Leipzig 2 0 0 0 , S. 1 9 - 4 2 ; Ders., Sprachförderung und Außenpolitik - Kritik der Politik der B u n desregierung. In: Sprachförderung - Schlüssel auswärtiger Kulturpolitik. Hg. v o n Ulrich A m m o n . Frankfurt/M. u.a. 2 0 0 0 , S. 9 3 - 1 0 2 .
Vorwort des Herausgebers
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Versuch dieser Art; beide Manuskripte sind erst kürzlich zuverlässig ediert worden. 7 Die erste Lerngrammatik des Deutschen, die sich direkt an Russen richtet, erschien 1713 in Berlin unter dem Pseudonym Charmynthes. Kristine Koch macht plausibel, daß sich dahinter höchstwahrscheinlich der seinerzeit hochberühmte Direktor des Gymnasiums zum Grauen Kloster in Berlin verbirgt, Johann Leonhard Frisch. Diese Entdeckung ist eine kleine Sensation. Auch die Darstellung der weiteren Lerngrammatiken der Zeit, mit einer Ausnahme sämtlich von Deutschen verfaßt, sind von hohem Interesse für die Fachgeschichte der Germanistik wie der Slavistik, nicht zuletzt deshalb, weil sich in ihnen die Fortschritte der Grammatikographie in Deutschland zeitversetzt wiederfinden lassen, und zwar mit spezifischen Akzentuierungen. Im Laufe des Jahrhunderts entwickelte sich auch eine Diskussion über Curricula, Lehrpläne und Leistungsmessung. Sie spannt sich von der Rezeption Comenius' über das 'Gesprächsmodell' und verschiedene 'Grammatik-Übersetzungs-Methoden' bis zu den Dessauer Philanthropen. Man setzte sich eingehend auseinander über die Frage, welche Gegenstände im Deutschunterricht aufgrund welcher grammatischen Ansätze und mittels welcher Verfahren am besten gelehrt werden sollten. Auf den ersten Teil des Literaturanhangs soll eigens hingewiesen werden. Es handelt sich um eine komplette Bibliographie aller gedruckten Lehrmittel für das Deutsche als Fremdsprache, die im 18. Jahrhundert in Rußland erschienen sind. Für diese Übersicht wird jeder künftige Forscher auf diesem Gebiet dankbar sein. Dieses Buch arbeitet denjenigen Abschnitt der deutsch-russischen Kulturbeziehungen auf, in dem die Grundlagen für die bis heute einzigartigen bilateralen Beziehungen gelegt wurden. Bis heute ist Rußland dasjenige Land, in dem die größte absolute Zahl von Menschen Deutsch lernt bzw. Deutsch kann (auch wenn ihr relativer Anteil in anderen Ländern größer ist). Im 18. Jahrhundert entwickelten sich umfassende wissenschaftliche, wirtschaftliche, militärische, politische und kulturelle Beziehungen zwischen Rußland und Deutschland, die sich im 19. Jahrhundert weiter vertieften. Sie führten zu russisch-deutschen Symbiosen in vielen Bereichen, die auch die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts und ihre barbarischen Begleiterscheinungen und Folgen teilweise überlebt haben. Noch immer bzw. inzwischen wieder gilt Deutschland in Rußland auf vielen Gebieten Glück, Johann Ernst, Grammatik der russischen Sprache (1704). Hg. und mit einer Einleitung versehen von Heimut Keipert - Boris Uspenskij - Viktor Zhivov (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte, NF Reihe B, Bd. 5 (20)). Köln - Weim a r - Wien 1994; Grammatica Russica Hamburgensis. Kommentierte Edition der Handschrift Cod. slav. 9 der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Hg. und kommentiert von Marietta Schmücker-Breloer (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichts, NF Reihe B, Bd. 17). Köln - Weimar - Wien 2001.
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als attraktiv, noch immer ist das Interesse am Deutschen erheblich. Dieses Buch ist ein Grundlagenwerk für das Verständnis der deutsch-russischen Kulturbeziehungen. Es stellt überdies einen Abschnitt der Fachgeschichte der Germanistik und der Slavistik, einen Abschnitt der russischen Bildungsgeschichte und nicht zuletzt einen Abschnitt der deutschen und der russischen Sprachgeschichte dar. Das macht es zu einem gewichtigen Forschungsbeitrag, der unser Wissen nachhaltig bereichert. Es verbindet unterschiedliche Gegenstände, Fragestellungen und methodische Verfahren so miteinander, daß eine vollständige und 'runde', dabei aber differenzierte und abwägende Darstellung das Ergebnis ist, die zudem den Vorzug hat, sehr lesbar zu sein. Entstanden ist die Arbeit in einem größeren Zusammenhang. Ihr Thema wurde formuliert, als die Pläne zum Aufbau der eingangs erwähnten Arbeitsstelle zur Geschichte des Deutschen als Fremdsprache noch vage waren. Kristine Kochs Buch entstand parallel zu diesem Aufbau in ständigen Diskussionen über ein wesentlich breiteres Forschungskonzept. Es hat also einen engen Bezug zu einem Arbeitsgebiet, das sich erfolgreich entwickelt. Im Herbst 2001 erhielt Kristine Koch einen Förderpreis ihrer Universität für Nachwuchswissenschaftler. In seiner Laudatio beim dies academicus führte der Rektor der Universität Bamberg aus, daß ihre Dissertation "im besten Sinne interdisziplinär [sei], Sie betritt Neuland, in der Germanistik wie in der Slavistik." Und, so möchte ich hinzufügen, in der Erforschung eines zentralen Abschnitts der bilateralen Beziehungen zwischen den beiden der Zahl nach größten Sprachgemeinschaften Europas, in der Erkundung und Beschreibung eines der wichtigsten Abschnitte der gemeinsamen Geschichte der beiden Sprachen aus der Perspektive von Menschen, die in Rußland im Laufe des 18. Jahrhunderts Deutsch lernten und verwendeten und die diese völkerverbindende Sprache nützlich und 'berufsrelevant', womöglich sogar schön und liebenswert fanden. Bamberg, im Juli 2002
Helmut Glück
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2001 als Dissertation an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg angenommen. Ihr Zustandekommen verdanke ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Helmut Glück, der die Anregung zu dem Thema gab und die Arbeit mit großem Engagement, wertvollem Rat, konstruktiver Kritik und viel Geduld betreut hat. Dafür danke ich ihm sehr herzlich. Für die finanzielle Förderung danke ich der Studienstiftung des Deutschen Volkes, die mir von 1995 bis 1998 ein Promotionsstipendium gewährte, und der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die einen großzügigen Druckkostenzuschuß beisteuerte. Dankbar bin ich ferner dem Deutschen Akademischen Austauschdienst, der durch die Förderung meiner Lektorentätigkeit in Kazan ermöglichte, daß ich die Arbeit vor Ort in Rußland fertigstellen und dort an wissenschaftlichen Konferenzen teilnehmen konnte. Mein spezieller Dank gilt der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, die meine Arbeit mit dem von der Görres Buch GmbH verliehenen Wissenschaftspreis ausgezeichnet hat. Für ihr Interesse an meiner Arbeit, ihre Anregungen und weiterführenden Hinweise bin ich meinen Kolleginnen und Kollegen in Deutschland und Rußland zu großem Dank verpflichtet. Persönlich danken möchte ich vor allem Dr. Galina Smagina und Dr. Pavl Choteev, mit denen ich in St. Petersburg viele intensive Gespräche führen konnte, Prof. Dr. Erik Amburger, der mich mit großer Hilfsbereitschaft bei der Recherche in seinem Personenarchiv unterstützte, und Prof. Dr. Sebastian Kempgen, der meine Arbeit als Slavist betreut hat. Prof. Dr. Helmut Keipert danke ich für wichtige Hinweise. Den zahlreichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bibliotheken in Bamberg und St. Petersburg danke ich für die unermüdliche Hilfe bei der Beschaffung von Literatur. Für ihre Ermutigungen, offenen Ohren und nachsichtige Geduld danke ich meiner Familie und meinen Freundinnen und Freunden, die das Werden der Arbeit miterlebt haben. Dr. Jana Skiba sei herzlich gedankt für ihre Hilfe bei der Übersetzung der russischen Zitate. Für das Lesen und Kommentieren der Texte danke ich besonders Dr. Anke Sauter, Dr. Berthold Heymann, Dr. Guillaume Garner sowie meinen Eltern, Ursula und Hubertus Koch. Ihnen und meinen Großeltern sei diese Arbeit gewidmet. München, im Juni 2002
Kristine Koch
Inhalt Vorwort des Herausgebers Vorwort I.
Einleitung 1. 2. 3.
Einführung in das Thema und Zielsetzung der Arbeit Forschungsüberblick Quellen, Gliederung und Methode
VII XV 1 1 6 20
II.
Deutsch im ostslavischen Raum ( 1 1 . - 1 7 . Jahrhundert)
29
III.
Domänen des Deutschen (18. Jahrhundert)
44
1. 2. 3. 4. 4.1 4.2 4.3
Hof und Politik Ämter und Verwaltung Militär, Wirtschaft, Industrie und Gesundheitswesen Bildungswesen, Wissenschaften und Publikationen Akademischer Austausch Deutschsprachige Bücher Übersetzungen aus dem Deutschen
47 56 60 65 67 81 93
Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten ...
102
1. 2. 3. 4. 5. 6.
102 120 126 132 145 155
IV.
V.
Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts Deutsche Schulen Fremdsprachenunterricht und Ausbildungskonzeptionen.. Begründungen für das Fremdsprachenlernen Schülerzahlen und Umfang des Deutschunterrichts Deutsch als Unterrichtssprache
Deutschlehrer an russischen Lehranstalten
169
1. 2. 3.
169 173 178
Lehrerausbildung und Rekrutierung von Deutschlehrern .. Pietisten als Deutschlehrer in der petrinischen Zeit Deutschlehrer am Akademischen Gymnasium
XVIII
VI.
VII.
Inhalt
4. Deutschlehrer am Landkadettenkorps 5. Deutschlehrer an Universität und Gymnasium in Moskau Lehrwerke für den Deutschunterricht
187 193 205
1. 2. 3. 4. 5. 6.
205 210 221 230 244 262
Entwicklung des russischen Buch- und Verlagswesens .... Lehrwerke der petrinischen Zeit 1700-1724 Lehrwerke der Akademie der Wissenschaften 1725-1749 Produktion von Sprachlehrbüchern 1750-1774 Expansion des Lehrbuchmarktes 1775-1800 Zusätzliche Unterrichtsmaterialien und Buchimport
Ziele, Inhalte und Methoden des Deutschunterrichts
271
1. 2. 3. 3.1 3.2 3.3 3.4. 3.5
271 275 281 282 285 292 297 307
Lehrpläne für den Fremdsprachenunterricht Lehrziele, Unterrichtsinhalte und Prüfungen Fremdsprachendidaktik in Theorie und Praxis Die Fremdsprachendidaktik Jan Arnos Komenskys Gesprächsorientierte Methodenmodelle Grammatikzentrierte Methodenmodelle Philanthropische Fremdsprachendidaktik Fremdsprachendidaktik an russischen Volksschulen
VIII. Die Grammatiken des Deutschen aus Rußland 1. 1.1 1.2 1.3 2. 2.1 2.2 IX.
Sprachhistorische Beschreibung Aufbau und Inhalt Das Substantiv Das Verb Didaktisch-methodische Konzeption Auswahl des Stoffes, Progression und Darbietungsform .. Sprachliches Material, Aufgaben und Übungsformen
Ergebnisse
320 324 324 335 344 362 363 371 391
Bibliographie
395
Verzeichnis der Abbildungen
445
Verzeichnis der Abkürzungen
447
Personenregister
449
Jazyki ne delajut ucenym. Oni toi 'ko sut' orudie k prosvesceniju.1
I. Einleitung 1. Einführung in das Thema und Zielsetzung der Arbeit Die deutsch-russischen Beziehungen haben sich im letzten Jahrzehnt in vielen Bereichen der politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und wissenschaftlichen Zusammenarbeit deutlich intensiviert. Daß dies gut und notwendig ist, hat Richard von Weizsäcker in seinem Geleitwort für eine große Wanderausstellung betont, die Mitte der 1990er Jahre die Öffentlichkeit in Rußland und Deutschland auf die Geschichte dieser Beziehungen aufmerksam gemacht hat: Zu manchem ihrer Nachbarn haben die Deutschen ältere, aber zu keinem tiefere Beziehungen als zu den Russen. Die vielen Deutschen, die [...] seit der Zeit Peters des Großen nach Rußland kamen, gehören zu den historischen Belegen dieser Beziehung, und wir tun gerade heute gut daran, uns ihr Beispiel in Erinnerung zu rufen. Daß der russisch-deutsche Austausch im Zeitalter der Aufklärung am intensivsten war, ist ein besonders glücklicher Umstand. Er verbirgt nicht, daß die Anziehungskraft unserer beiden Völker aufeinander auch gefühlsmäßige und seelische Wurzeln hat, die sich als stärker und dauerhafter erwiesen haben als selbst die schlimmsten Tragödien unserer jeweiligen Geschichte. [...] Die Erfordernis des gegenseitigen Kennenlernens ist eine humanistische, kulturelle und politische Herausforderung. Das, was uns als Menschen trennt, nimmt an Bedeutung ab. Die Probleme, die wir nur gemeinsam lösen können, nehmen an Gewicht zu. Es ist unsere Verantwortung, dies rechtzeitig zu erkennen. 2
Das vorliegende Buch will einen Beitrag zur Aufarbeitung dieser gemeinsamen Geschichte leisten, indem es sich einem Sachverhalt zuwendet, der zwar die konstitutive Voraussetzung dafür war, daß sich der deutsch-russi['Sprachen machen noch keinen Gelehrten. Sie sind lediglich Mittel zur Aufklärung'] Appolos I. [Andrej DmitrieviC Bajbakov] (1781), S. 26. A. D. Bajbakov, Absolvent der Moskauer Universität, war von 1770-1772 Konrektor der Universitätstypographie, trat 1774 in den Mönchsstand und war ab 1781 Rektor des Troiskij Seminars. Vgl. RBS, Bd. 2, S. 236f. Richard von Weizsäcker, in: Kopelew/Gromova (1994), Deutsche in Rußland - Russen in Deutschland. Zeitalter der Aufklärung, Ausstellungskatalog, Moskau, März-April 1994, S. 7. Ebenso in: Kopelew/Korn/Sprung (1997), Deutsch-russische Begegnungen im Zeitalter der Aufklärung (18. Jahrhundert). Wanderausstellung durch Deutschland und Rußland. Dokumentation, Köln, S. 19.
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I. Einleitung
sehe Austausch seit dem 18. Jahrhundert so fruchtbar entwickelte, der in seiner elementaren Bedeutung jedoch trotzdem bis heute nicht gebührend gewürdigt worden ist. Gemeint ist die Tatsache, daß Russen und Deutsche, um einander kennenzulernen, voneinander zu lernen und miteinander zu kooperieren, eine gemeinsame Verständigungsebene finden mußten, sprich: sie mußten die Sprache ihres jeweiligen Gegenüber erlernen, also Deutsch oder Russisch oder (in Kommunikationsbereichen wie den Wissenschaften) auch Latein. So wie viele Deutsche, die sich im 18. Jahrhundert in Rußland niederließen um dort zu arbeiten und zu leben, im Laufe der Zeit mehr oder weniger gut Russisch lernten, waren auch die Russen bestrebt, sich Kenntnisse der deutschen Sprache anzueignen. Wie bedeutsam dies für die weitere Entwicklung war, hat K. F. Sivkov schon 1914 betont: ' D i e K e n n t n i s der e u r o p ä i s c h e n Sprachen m a c h t e seit der Zeit der ersten A u s l a n d s r e i s e n v o n R u s s e n unter Peter I. e n o r m e Fortschritte und w u r d e zu e i n e m der w i c h t i g s t e n Faktoren für d i e g e i s t i g e A n n ä h e r u n g R u ß l a n d s an d e n W e sten.'3
Diese Arbeit soll Aufschluß über die historische Bedeutung des Deutschen als Fremdsprache im Rußland des 18. Jahrhunderts geben. Sie soll zeigen, wer dort damals wie, warum und in welchem Ausmaß Deutsch gelernt bzw. gelehrt hat. Wenn im folgenden die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache (DaF) in Rußland nachgezeichnet wird, so hat dies auch noch andere aktuelle Gründe. Nirgends lernen heutzutage so viele Menschen Deutsch als Fremdsprache wie in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion. 4 In der Russischen Föderation und den meisten anderen GUS-Staaten gilt Deutsch nach Englisch inzwischen jedoch nur noch als zweitwichtigste Fremdsprache, auch wenn es nach „Einschätzung vieler Beobachter [...] in der europäischen Mitte und im Osten (einschließlich auch der asiatischen Teile der ehem. UdSSR) noch als die am meisten verbreitete Fremdsprache figuriert". 5 Die große Wertschätzung, die der deutschen Sprache in Rußland bis
„Znanie evropejskich jazykov so vremeni pervych poezdok za granicu russkich pri Petre sdelalo gromadnye uspechi i stalo odnim iz vainejäich faktorov duchovnago sbliienija Rossii s Zapadom." Sivkov (1914), PuteSestvija russkich ljudej za granicu v XVIII veke, S. 12. Zu den Maßnahmen zur Förderung der deutschen Sprache in der GUS und Mittel- und Osteuropa vgl. Schneider (2000), Die auswärtige Sprachpolitik der Bundesrepublik Deutschland. Földes (1994), Deutsch als Fremdsprache in Mittel-, Ost- und Sudosteuropa. Überlegungen zu Bestand und Bedarf, S. 5. 1995 lernten in der Russischen Föderation 3,86 Mio. Schüler an Sekundärschulen Deutsch. Obwohl die Zahl der DaF-Lerner in Rußland damit seit 1985 um 58 % zurückging, lernen dort immer noch mehr Schüler Deutsch als in jedem anderen Land der Welt. Die Zahl der Englischlerner betrug 1995 7,88 Mio. Vgl.
1. Thema und Zielsetzung
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in die entlegensten Winkel Ostsibiriens entgegengebracht wird und die nach wie vor hohe Qualität des Deutschunterrichts hat in diesem Teil der Welt Tradition. Dies hat auch der ungarische Germanist Csaba Földes unterstrichen: D a s D e u t s c h e ist spätestens seit Mitte des 19. J a h r h u n d e r t s in Mittel- und O s t e u r o p a d i e Wissenschafitssprache und die B i l d u n g s s p r a c h e g e w e s e n - nicht d a s Französische, erst recht nicht das Englische. N a c h einer m e r k w ü r d i g e n A u f stiegs- und A b s t i e g s g e s c h i c h t e ist seine F u n k t i o n als L i n g u a franca, z u m a l in den A n r a i n e r s t a a t e n , noch nicht gänzlich e r l o s c h e n . 6
Sich dieser Traditionslinien bewußt zu sein oder zu werden, ist Voraussetzung für eine erfolgreiche Sprach- und Kulturarbeit, wie sie von zahlreichen Mittlerorganisationen wie dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), dem Goethe-Institut, der Zentralstelle für das Auslandsschulwesen (ZfA), der Robert-Bosch-Stiftung und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Rahmen der deutschen auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik in Mittel- und Osteuropa und besonders in Rußland seit mehr als zehn Jahren wieder mit verstärktem Engagement betrieben wird. Das Fundament der deutsch-russischen Beziehungen wurde im Zeitalter der Aufklärung gelegt: Peter I. (1682/89-1725) 7 stieß an der Schwelle des 18. Jahrhunderts das schon einen Spalt breit geöffnete Tor zum Westen endgültig auf und leitete mit Unterstützung von Experten vor allem aus den deutschen Staaten die Modernisierung Rußlands nach westlichen Vorbildern ein. Das Erlernen moderner Fremdsprachen wie des Deutschen oder Französischen war dafür unabdingbar und nahm mit dem Aufbau des Schul- und Bildungswesens, der zum Ende der Regierungszeit Katharinas II. (1762-1796) zu einem ersten Abschluß kam, erstmals institutionell organisierte Formen an.8 Innerhalb dieses zeitlichen Rahmens ist es Ziel der
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Deutsch als Fremdsprache. Zahlen im Überblick. Fakten, Tendenzen, Perspektiven, hrsg. v. Goethe-Institut, München, 2000, S. 173. Földes (1994), S. 3. Bei den Herrschern werden im folgenden stets die Regierungsdaten, bei anderen Personen deren Lebensdaten angegeben. Zu den Lebensdaten der Herrscher vgl. das Register. Mit institutionell organisiertem Unterricht ist allein der Unterricht an öffentlichen Schulen, Universitäten und sonstigen staatlichen Lehranstalten gemeint. Nicht zum Gegenstand dieser Arbeit gehört der Bereich der Privaterziehung (einschließlich privater Schulen), der in einer eigenen Untersuchung aufgearbeitet werden mußte. Auch ihm kam in Bezug auf das Fremdsprachenlernen in Rußland stets eine überaus wichtige Funktion zu und Deutsche und die deutsche Sprache haben hier eine bedeutende Rolle gespielt. So hat z. B. die russische Elite und allen voran die Zarenfamilie ihren Nachwuchs vorzugsweise von deutschen Hauslehrern und Erziehern unterrichten lassen. Zu diesem Thema vgl. v. a. die im Forschungsüberblick näher bezeichneten Arbeiten von Erik Amburger (1961), (1964). Ebenso wenig untersucht werden können in dieser Arbeit Fragen des ungesteuerten Spracherwerbs, man muß aber davon ausgehen, daß Zweisprachigkeit im
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I. Einleitung
vorliegenden Arbeit, die Stellung des Deutschen als Fremdsprache in Rußland allgemein und den Auf- und Ausbau des Deutschunterrichts an russischen Bildungseinrichtungen im besonderen zu dokumentieren. Hierfür ist die Verbreitung des Unterrichts im Fach Deutsch an den russischen Schulen, sein Stellenwert im Rahmen allgemeiner Ausbildungskonzeptionen sowie seine Bedeutung im Vergleich zu der anderer Fremdsprachen nachzuweisen. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, inwiefern die weitverbreitete Ansicht, aufgrund des europaweit vorherrschenden französischen Kultureinflusses sei Französisch im Europa des 18. Jahrhunderts die am meisten gelernte moderne Fremdsprache gewesen, auch in Bezug auf Rußland zutrifft? Der amerikanische Osteuropa-Historiker Marc Raeff hat schon vor dreißig Jahren daraufhingewiesen, daß contrary t o w h a t is frequently b e l i e v e d , the m a j o r intellectual i n f l u e n c e on R u s -
sia in the eighteenth Century was not that of France and the French Enligthenment. This is not to deny this influence alltogether [...]; but it is essential to remember that throughout most of this Century, and for most of the Service nobilitiy, German
was the major foreign
language.9
Anknüpfend an Földes und Raeff gehe ich davon aus, daß das Deutsche im Rußland der Aufklärungszeit als Bildungssprache wie als Wissenschaftssprache (wobei es hier als Ko-Sprache zum Lateinischen fungierte), eine wesentlich größere Bedeutung hatte als das Französische. Das gleiche dürfte für seine Funktionen in anderen Bereichen wie dem politischen oder ökonomischen gelten. Diese These soll - soweit möglich - an konkretem Datenmaterial überprüft werden. Die zweite Aufgabe der Untersuchung ist die Darstellung der Rahmenbedingungen des Deutschunterrichts. Hier sind Fragen der Lehrerrekrutierung und -qualiflkation, die Erstellung von Lehrplänen sowie die Entwicklung von Lehrwerken für Deutsch zu klären bzw. zu dokumentieren. Die in Rußland im 18. Jahrhundert gedruckten Lehrwerke des Deutschen werden in einer speziellen Bibliographie erstmals vollständig erfaßt und beschrieben. Drittes Ziel ist die Rekonstruktion von Inhalten und Methoden des damaligen Deutschunterrichts. Besonders in diesem Kontext soll gezeigt werden, wie stark die Entwicklung des russischen Deutschunterrichts und des Fremdsprachenunterrichts allgemein sowohl in inhaltlicher und didaktisch-methodischer Hinsicht als auch in seiner Gesamtorganisation und -
Vielvölkerstaat Rußland nicht fremd gewesen ist, vor allem an den Landesgrenzen, z. B. im Westen zu den Baltendeutschen in Livland, den Türken im Süden, den Finnen im Norden, den Tataren im Osten usw. Raeff (1971), Imperial Russia: 1682-1825, The Coming of age of modern Russia, S. 140. (Hervorhebung von mir - K.K..).
1. Thema und Zielsetzung
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konzeption von Vorbildern aus dem deutschsprachigen Raum geprägt war, dessen Bildungssystem im Europa des 18. Jahrhunderts als führend galt. Den sprachwissenschaftlichen Schwerpunkt der Arbeit bildet die Untersuchung der in Rußland bzw. für Russen zur Erlernung des Deutschen gedruckten Grammatiken in sprachhistorisch-linguistischer und didaktischmethodischer Hinsicht. Davon ausgehend, daß sich die Grammatikographie des Deutschen in Rußland auf Grundlage der Rezeption deutscher Grammatiken aus dem deutschsprachigen Raum entwickelte, sollen die Quellen der in Rußland verfaßten Grammatiken des Deutschen ermittelt werden. Zum einen sollen so neue Erkenntnisse darüber gewonnen werden, welche Bedeutung die in den deutschen Staaten entstandenen Grammatiken des Deutschen für die Entwicklung der Grammatikographie und Lehre der deutschen Sprache im Ausland besaßen; ein Aspekt, der in der sprachgeschichtlichen Forschung bislang nicht systematisch betrachtet wurde. Die Ermittlung der Quellen der russischen Grammatiken des Deutschen gilt darüber hinaus auch im Hinblick auf die Erforschung der Anfänge der russischen Grammatikographie seit langem als Desiderat. 10 Außer den Bezügen zu den grammatikographischen Quellen aus Deutschland sollen die Spezifika der russischen Grammatiken des Deutschen aufgedeckt und gezeigt werden, was diese Grammatiken als Fremdsprachengrammatiken für die spezielle Zielgruppe der russischen Deutschlerner auszeichnet. Sowohl die sprachhistorischen als auch die didaktisch-methodischen Untersuchungen sollen schließlich über die konkreten Inhalte und Verfahren des Grammatikunterrichts Aufschluß geben. Um die Hintergründe für das Erlernen der deutschen Sprache durch Russen zu beleuchten, werden der Stellenwert und die Funktion der deutschen Sprache in den zentralen politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen Funktionen im russischen Staatswesen untersucht. Im Einzelnen ist dabei die Rolle des Deutschen als Sprache der Diplomatie und bei Hofe, als Amts- und Verwaltungssprache, als Fachsprache in Wirtschaft und Industrie, als Wissenschafts- und Publikationssprache und schließlich als Unterrichtssprache in russischen Bildungsinstitutionen zu bestimmen. Die Untersuchung beschränkt sich auf das russische Kernland. Die im Laufe des Nordischen Krieges 1710 an Rußland gefallenen baltischen Territorien (Estland und Livland) werden nicht berücksichtigt. 11 Dies ergibt
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Auf die Notwendigkeit einer germanistischen Untersuchung der russischen Grammatiken des Deutschen in Bezug auf ihre Quellen hat Helmut Keipert bereits 1983 hingewiesen. Vgl. Keipert (1983), Die Petersburger „Teutsche Grammatica" und die Anfänge der Russistik in Rußland, S. 88. Die einzige Ausnahme stellen sechs im Baltikum (in den Städten Reval, Riga und Ruien) gedruckte Lehrbücher des Deutschen dar. Sie werden in die Lehrbuchstatistik aufge-
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I. Einleitung
sich aus der im Baltikum mit seinem hohen deutschsprachigen Bevölkerungsanteil grundsätzlich anders gelagerten Sprachensituation, deren Untersuchung eine eigene Dissertation gewidmet werden könnte. 12 Die Bedeutung der Baltendeutschen, von denen viele in russischen Städten - vor allem in Moskau und in St. Petersburg - lebten, ist für das Thema der vorliegenden Arbeit gleichwohl hoch einzuschätzen.
2. Forschungsüberblick Die Arbeit ist im Rahmen zweier Forschungsgebiete anzusiedeln. Als germanistische Untersuchung steht sie im Kontext einer Reihe von Arbeiten, die sich der Erforschung der Geschichte des Deutschen als Fremdsprache zugewandt und damit innerhalb der Germanistik ein neues Forschungsgebiet etabliert haben. Als historische Untersuchung leistet sie einen Beitrag zur Erforschung der deutsch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert, wobei sie mit der Frage nach der Bedeutung und der Funktion der deutschen Sprache im damaligen Rußland und ihrer Erlernung durch Russen eine Problematik aufgreift, die innerhalb dieses ansonsten so intensiv bearbeiteten Forschungsfeldes bislang weitgehend unbeachtet blieb. Weitere Disziplinen, zu denen sich Bezüge ergeben, sind im Bereich der Germanistik die Geschichte der Grammatikographie des Deutschen, ferner die russische Bildungs- und Erziehungsgeschichte und die russische Buchgeschichte. Der folgende Forschungsüberblick skizziert den Stand der für diese Untersuchung relevanten Forschung, wobei angesichts ihres Umfangs jeweils nur kurz auf die verschiedenen Forschungsbereiche eingegangen werden kann. Die Geschichte des Deutschen als Fremdsprache hat die Erforschung und Beschreibung von Erwerbsprozessen des Deutschen durch Anderssprachige in der Vergangenheit zum Ziel. Sie ist in Deutschland ein noch junges Forschungsfeld. Zwar hat die Geschichte des Unterrichts der modernen Fremdsprachen seit etwa zwanzig Jahren verstärktes Forschungsinteresse auf sich gezogen, 13 wobei das Hauptaugenmerk in Westdeutschland dem
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nommen, da sie nicht ausschließlich fllr den Gebrauch in den baltischen Provinzen bestimmt waren. Zur Sprachensituation im Baltikum vgl. in dieser Arbeit Kap. III, Punkt 2. Von den wenigen wichtigeren Untersuchungen früherer Zeit seien genannt: Vietor (1902), Die Methodik des neusprachlichen Unterrichts. Ein geschichtlicher Überblick in 4 Vorträgen; Lehmann (1904), Der neusprachliche Unterricht im 17. und 18. Jahrhundert, insbesondere seine Methode im Lichte der Reform der Neuzeit; Boerner/Stieler (1906), Zur Geschichte der neueren Sprachen. Teil 2: Der Neusprachliche Unterricht vom Ende des 17. Jahrhunderts bis auf heute; Streuber (1914), Beiträge zur Geschichte
2. Forschungsüberblick
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Französischen und Englischen,14 in der DDR dem Russischen galt.15 Daß auch die deutsche Sprache zum Gegenstand der historisch ausgerichteten Erforschung des Fremdsprachenunterrichts gehört, insofern nämlich, als sie von Ausländern erlernt zur Fremdsprache wird, hat man im Rahmen dieser Forschungen nicht hinreichend gewürdigt.16 Der systematischen Erforschung der Geschichte des Lernens und Lehrens von Deutsch als Fremdsprache hat sich in Deutschland als erster Helmut Glück (Bamberg) zugewandt. In seinem grundlegenden Werk Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit stellt er erstmals dar, warum Menschen in jener Zeit in Europa Deutsch lernten und mit welchen Mitteln sie dies taten.17 Unter Betreuung von Glück entstanden außerdem mehrere Arbeiten, die Teilaspekte der Geschichte von
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des französischen Unterrichts im 16. bis 18. Jahrhundert, 1. Die Entwicklung der Methoden im allgemeinen und das Ziel der Konversation im besonderen. Notwendige Vorarbeiten wurden durch die Erschließung der Quellen in Bibliographien und Dokumentationen geleistet. Vgl. Flechsig (1965), Neusprachlicher Unterricht I.; Schröder (1975), Lehrwerke für den Englischunterricht im deutschsprachigen Raum 1665-1900. Einführung und Versuch einer Bibliographie; ders. (1980-1985), Linguarum recentium annales: Der Unterricht in den modernen europäischen Sprachen im deutschsprachigen Raum, Bd. 1-4; ders. (1987-1992), Biographisches und bibliographisches Lexikon der Fremdsprachenlehrer des deutschsprachigen Raumes. Bd. 1-6; Christ/Rang (1985), Fremdsprachenunterricht unter staatlicher Verwaltung. 1700-1945. Eine Dokumentation amtlicher Richtlinien und Verordnungen, Bd. 1-7. Seit den 1980er Jahren entstand eine Vielzahl von Einzelaufsätzen, die sich meist mit Fragen der Methodik und der Verbreitung des Fremdsprachenunterrichts im deutschsprachigen Raum auseinandersetzten. Da hier nicht alle dieser Aufsätze genannt werden können, sei lediglich auf die Beiträge in diesbezüglichen Sammelbänden verwiesen, und zwar Kimpel (1985), Mehrsprachigkeit in der dt. Aufklärung; Schröder (1992), Fremdsprachenunterricht 15001800; Bosselmann-Cyran (1997), Fremdsprachen und Fremdsprachenerwerb. Themenheft der Zeitschrift „Das Mittelalter". Monographische Detailuntersuchungen sind bislang selten. Aus jüngster Zeit ist hier vor allem die Arbeit von Klippel (1994), Englischlernen im 18. und 19. Jahrhundert. Die Geschichte der Lehrbücher und Unterrichtsmethoden, zu nennen, die als erste einen umfassenden Überblick über die historische Entwicklung des Englischunterrichts und seiner Lehrmaterialien gibt. Vgl. Baumann (1969), Zur Geschichte der für Deutsche gedruckten Lehrmittel des Russischen (1731-1945); Bernhagen (1977), Die Anfänge des russischen Sprachstudiums im deutschen Sprachgebiet. Zur Geschichte der Russischlehrbücher vom Mittelalter bis zum 18. Jahrhundert. In Westdeutschland wurde eine Untersuchung zum Russischen vorgelegt von Basler (1987), Russischunterricht in drei Jahrhunderten an deutschen Schulen. Lehberger erwähnt sie in seinem Artikel zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland gar nicht. Vgl. Lehberger (1988), Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, S. 475. Vgl. Glück (2002), Deutsch als Fremdsprache in Europa vom Mittelalter bis zur Barockzeit; außerdem ders. (1997), Altdeutsch als Fremdsprache.
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I. Einleitung
Deutsch als Fremdsprache erhellen. Sie reichen von Länderanalysen18 über biographische Studien19 bis hin zur historischen Lehrwerksanalyse.20 Die von Glück eingerichtete Arbeitsstelle zur Geschichte des Deutschen als Fremdsprache erforscht den Erwerb des Deutschen als Fremdsprache vom Mittelalter bis in die Neuzeit.21 Weitere die Geschichte von DaF betreffende Einzelstudien sind länderbezogen22 oder bestimmten Lehrbüchern bzw. Lehrbuchtypen gewidmet.23 Die aus dem 16. und 17. Jahrhundert stammenden deutsch-russischen handschriftlichen Vokabulare wurden bislang vor allen Dingen als frühe schriftliche Denkmäler der russischen Volkssprache des 16. bzw. 17. Jahrhunderts untersucht, nicht jedoch im Hinblick auf ihre auch denkbare Funktion als Lehrmaterial zum Erwerb des Deutschen bzw. Niederdeutschen.24 18
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Vgl. Boulleys (1998), Deutsch in Kamerun; Glück/Nielsen/Paitschadse (1995), Deutsch in Georgien. Vgl. die unveröffentlichte Bamberger Diplomarbeit von A. Reder (1994), Matthias Krämer als DaF-Lehrer. Vgl. die unveröffentlichte Bamberger Diplomarbeit von G. Bauer (1994), Deutsch als Fremdsprache im 16. Jahrhundert. Die Präsentation des Verbs in den Grammatiken von Laurentius Albertus, Albert ölinger und Johannes Clajus. Untersuchungsgegenstände sind erstens „Berichte über die Verbreitung, d. h. den Erwerb von DaF infolge von Kolonisations- und Migrationsprozessen", zweitens „die Entstehung und Entwicklung von Zweisprachigkeit mit Deutsch als Kontaktsprache", drittens „das Deutschlernen als Erfordernis fllr Reisende (Kaufleute, Handwerks- und Kaufmannsgesellen, Pilger, Diplomaten, Soldaten, Intellektuelle, 'fahrendes Volk') und ftlr temporäre Einwanderer" und viertens „explizite Zeugnisse für das Erlernen des Deutschen (Glossare, Sprachbücher, Lerngrammatiken und wissenschaftliche Grammatiken des Späthumanismus und des Barock)". Projekt 1 befaßt sich mit „Deutsch als Fremdsprache in der Romania vom 15. bis zum 17. Jahrhundert", Projekt 2 erstellt eine teilkommentierte Bibliographie von gedruckten Materialien, die vom 15. Jahrhundert bis 1918 in den böhmischen Ländern zum Zwecke des Deutschlernens verfaßt wurden. Winge (1992), Dänische Deutsche - deutsche Dänen. Geschichte der deutschen Sprache in Dänemark 1300-1800 mit einem Ausblick auf das 19. Jahrhundert; Häusler (1998), Zur Geschichte des Deutschunterrichts in Kroatien seit dem 18. Jahrhundert; Henning (1993), Der Fremdsprachenunterricht in den baltischen Republiken in Geschichte und Gegenwart. Piirainen (1989), Grammatiken der deutschen Sprache im 18.-19. Jahrhundert in der Slowakei; Karnein (1976), Deutsch als Fremdsprache im 15. Jahrhundert: Das Sprachbuch Meister Jörgs; Blusch (1992), Ein italienisch-deutsches Sprachlehrbuch des 15. Jahrhunderts: Edition der Handschrift der Universitätsbibliothek Heidelberg Pal. Germ. 657 und räumlich-zeitliche Einordnung des deutsches Textes. Vgl. z. B. Johansen (1955), Fragment eines niederdeutsch-russischen Sprachführers (1551); Hammerich/Jakobson (1961/1970), Tönnies Fenne's Low German Manual of Spoken Russian, Pskov 1607. Vol. I: Facsimile Copy; Vol. II: Transliteration and Translation; Günther (1965), Zwei Gesprächsbücher aus dem 17. Jahrhundert; Gernentz u. a. (1988), Untersuchungen zum Russisch-niederdeutschen Gesprächsbuch des Tönnies Fenne, Pskow 1607; Falowski (1994), Ein Rusch boeck .... Ein russisch-deutsches anonymes Wörter- und Gesprächsbuch aus dem XVI. Jahrhundert; Günther (1999), Das
2. Forschungsüberblick
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In sprachhistorischen Arbeiten zur Entwicklung der Grammatikographie und Lexikographie des Deutschen sowie des Deutschunterrichts wurde der Fremdsprachenaspekt bislang weitgehend ausgeklammert. Untersuchungen, welche die diesbezüglichen Entwicklungen von J. G. Schottelius (1612-1676) bis J. Ch. Adelung (1732-1806) zum Gegenstand haben, sind für die vorliegende Studie gleichwohl relevant, da die in der Zeitspanne von der zweiten Hälfte des 17. bis Ende des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum entstandenen Grammatiken des Deutschen Maßstab und Vorlage bildeten für die Entwicklung der deutschen Grammatikographie in Rußland. 25 Als wichtiges Hilfsmittel für die Erschließung relevanter Quellen sei hier besonders auf die von Claudine Moulin-Fankhänel erstellte kommentierte Bibliographie der deutschen Grammatiken und Orthographielehren verwiesen. 26 Zum Fremdsprachenunterricht in Rußland und der Sowjetunion liegt eine sehr große Anzahl von Veröffentlichungen vor, in denen die Zeit vor 1917 jedoch meist nur gestreift wird. 27 Eine systematische Geschichte des Fremdsprachenunterrichts im zaristischen Rußland wurde bislang nicht geschrieben, auch wenn sich russische Forscher schon früh für Fragen der Verbreitung und Bedeutung von Sprachkenntnissen in der Vergangenheit interessiert haben. Hier sind vor allem die umfangreiche Studie von M. I. Suchomlinov über die 'Sprachwissenschaft im alten Rußland', 28 der 'Abriß der Geschichte der Sprachwissenschaft' von S. K. BuliC, der ein Verzeichnis der in Rußland gedruckten Fremdsprachengrammatiken enthält, 29 sowie die Beobachtungen V. J. Savvas über 'Einige Fälle des Fremdsprachenler-
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deutsch-russische Sprachbuch des Heinrich Newenburgk von 1629. Einführung, sprachliche Analysen, Text, Faksimile. Vgl. z. B. den Neudruck des Grundlagenwerks von Jellinek (1968), Geschichte der neuhochdeutschen Grammatik: Von den Anfängen bis auf Adelung, sowie z. B. Naumann (1986), Grammatik der deutschen Sprache zwischen 1781 und 1856. Die Kategorien der deutschen Grammatik in der Tradition von Johann Werner Meiner und J. Chr. Adelung; BarbariC (1981), Zur grammatischen Terminologie von Justus Georg Schottelius und Kaspar Stieler; Diedrichs (1983), Johann Bödikers Grundsätze der dt. Sprache. Mit den Bearbeitungen von Johann Leonhard Frisch und Johann Jakob Wippel. Moulin-Fankhänel (1994/1997), Bibliographie der deutschen Grammatiken und Orthographielehren. Als wichtige westdeutsche Beiträge seien hier nur Schiff und Anweiler erwähnt. Schiff beschäftigt sich konkret mit der Entwicklung und Reform des Fremdsprachenunterrichts in der Sowjetunion, wohingegen Anweiler breiter an Fragen der sowjetischen Pädagogik und Bildungspolitik interessiert ist. Vgl. Anweiler (1978), Geschichte der Schule und Pädagogik in Rußland. Vom Ende des Zarenreiches bis zum Beginn der Stalin-Ära; Schiff (1966), Entwicklung und Reform des Fremdsprachenunterrichts in der Sowjetunion. Suchomlinov (1854), O jazykoznanii v drevnej Rossii. BuliC (1904), Oöerk istorii jazykoznanija v Rossii, T. 1, XIII - 1825.
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I. Einleitung
nens durch Russen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts' zu erwähnen. 30 Weitere Untersuchungen entstanden in den 1940er bis 1970er Jahren. Bei diesen Studien, zu denen einige nur sehr schwer oder gar nicht zugängliche, ungedruckt gebliebene Dissertationsschriften zählen, 31 handelt es sich vor allen Dingen um Arbeiten zur historischen Entwicklung der Methodik des Fremdsprachenunterrichts allgemein und dessen Lehrmitteln. 32 Einige Arbeiten sind der Geschichte des Fremdsprachenunterrichts an bestimmten Lehreinrichtungen gewidmet. 33 Auf die Besonderheiten des Unterrichts der Einzelsprachen wird hier in der Regel nicht näher eingegangen. Speziell der Geschichte des Deutschlernens in Rußland haben sich nur wenige Forscher zugewandt. Aus der Sowjetzeit liegen zwei ungedruckte Kandidatendissertationen vor, und zwar von B. G. Panovko eine Studie zur Geschichte des 'komplexen Schulbuchs der deutschen Sprache in Rußland' im 18. und 19. Jahrhundert,34 und von Z. L. Vitiin eine Arbeit zur 'Entwicklung der vergleichenden Methode beim Unterricht der Grammatik der deutschen Sprache in Mittelschulen in Rußland vom 18. bis 19. Jahrhun30
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Savva (1914), Neskol'ko sluCajev izuienija inostrannych jazykov russkimi ljud'mi vo vtoroj polovine XVI v. Es handelt sich in diesen Fallen um Kandidatendissertationen, die A-Dissertation, die formal der deutschen Promotion entspricht. Der Zugang zu diesen Schriften ist deshalb erschwert, weil sie, wenn Uberhaupt, nur an den Instituten, an denen sie verfaßt wurden, einzusehen sind, einige der Institute heute aber nicht mehr existieren. Vgl. Rachmanov (1947), OCerk po istorii metodiki prepodavanija novych zapadnoevropejskich inostrannych jazykov; ders. (1949), OCerki istorii metodov prepodavanija novych inostrannych jazykov; Arakin (1947), Istorija prepodavanija inostrannych jazykov v Rossii. Istorija rasprostranenija, izuienija i prepodavanija inostrannych jazykov v Rossii s drevnejSich vremen do serediny 18. veka; ders. (1958), Inostrannye jazyki v russkom gosudarstve v XVI-XVII vv.; Bobrovnikova/Judina (1949), Iz istorii prepodavanija inostrannych jazykov v Rossii; Korolev (1955), LingvistiCeskoe obosnovanie sistem obuCenija novym zapadnoevropejskim inostrannym jazykam (kratkij istoriieskij oCerk XVIII -XX vv); Sinicyna (1959), Izuienie inostrannych jazykov v Rossii XVIII veka (v svete lingvistiCeskich vzgljadov M. V. Lomonosova); Gorelov (1963), Voprosy istorii, teorii i praktiki oteöestvennogo natural'nogo (prjamogo) metoda prepodavanija inostrannych jazykov; RauSenbach (1971), Kratkij obzor osnovnych metodov prepodavanija inostrannych jazykov s I. - XX. vek; Perel'man (1972), Metodika prepodavanija inostrannych jazykov v Rossii v XVIII v.; Vedel' (1979), Iz istorii metodov inostrannych jazykov. Vgl. Poljak (1956), Iz istorii prepodavanija inostrannych jazykov v Moskovskom universitete (18. v.); Feoktistova (1965), O prepodavanii inostrannych jazykov v uiebnych zavedenijach Slobodskoj Ukrainy vo vtoroj polovine XVIII veka; Sapkin (1976), OCerki po istorii prepodavanija inostrannych jazykov v voennych uCebnych zavedenijach dorevoljucionnoj Rossii (s 18. veka po 1917 goda). Panovko (1946), OCerki po istorii vozniknovenija kompleksnogo äkol'nogo uCebnika nemeckogo jazyka v Rossii. Diese Arbeit war weder in Moskau noch in St. Petersburg zu ermitteln.
2. Forschungsüberblick
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dert'. Gedruckt erschien vom selben Autoren eine Monographie zur 'Frage der Rolle des Sprachvergleichs in der Methodik des Unterrichts der deutschen Sprache in Rußland'. 35 L. F. Spiridonova untersuchte in einem Aufsatz die Rezeption J. Ch. Adelungs in Rußland und dessen Bedeutung für das Deutschlernen in Rußland. 36 Die deutschsprachigen Forschungsbeiträge zur Geschichte des Deutschen als Fremdsprache in Rußland und der für das Deutschlernen entwickelten Lehrmaterialien sind ebenso gering an Zahl wie die russischsprachigen. Pionierarbeit hat Helmut Keipert geleistet, der die erste in Rußland gedruckte deutsche Grammatik einer ausführlichen Analyse unterzogen hat - allerdings aus der Perspektive des Slavisten. 37 In germanistischer Hinsicht sind die in Rußland gedruckten Grammatiken des Deutschen bislang nicht untersucht worden, ein Forschungsdefizit, dem diese Arbeit entgegenwirken soll. Keipert hat sich auch dem Fremdsprachenunterricht am Akademischen Gymnasium in Petersburg gewidmet, einer der seinerzeit führenden russischen Bildungseinrichtungen, die auch in dieser Arbeit ausführlich zu behandeln sein wird. 38 Eine sehr kurze Übersicht über die „Geschichte und Bedeutung der deutschen Sprache in Rußland" 39 gibt Michael Zwilling. Dem 18. Jahrhundert wird mit nur einem Absatz jedoch wenig Aufmerksamkeit zuteil. Den russisch* wie deutschsprachigen Forschungsbeiträgen gemein ist, daß sie Einzelaspekte aus der Geschichte des Deutschen als Fremdsprache in Rußland herausgreifen (sich z. B. einzelnen Lehrbüchern bzw. ihren Autoren widmen oder Unterrichtsmethoden untersuchen), ohne sie in einen umfassenderen historischen Kontext zu stellen und nach den Hintergründen und Rahmenbedingungen des Lehrens und Lernens der deutschen Sprache zu fragen, was die vorliegende Untersuchung leisten soll. Welche Aspekte hier angesprochen werden müßten, habe ich bereits in einigen Aufsätzen dargelegt. 40 Informationen zu einzelnen für den Deutschunterricht für Rus35
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Vitiin (1959), Razvitie sravnitel'nogo metoda v prepodavanii grammatiki nemeckogo jazyka v srednich uCebnych zavedenijach rossii (XVIII-XX veka); ders. (1958), Iz istorii russkoj metodiieskoj mysli. K voprosu o roli sravnenija jazykov v metodike prepodavanija nemeckogo jazyka v Rossii. Spiridonova (1961), I. Ch. Adelung i izuCenie nemeckogo jazyka v Rossii. (Iz istorii kul'turnych svjazej Rossii i Germanii). Vgl. Keipert (1983), Die Petersburger „Teutsche Grammatica" und die Anfänge der Russistik in Rußland; ders. (1984), Die lateinisch-russische Terminologie der Petersburger "Teutschen Grammatica" von 1730. Vgl. Keipert (1987d), Der Fremdsprachenunterricht in der Frühzeit des Petersburger Akademie-Gymnasiums. Zwilling (1995). Zur Geschichte und Bedeutung der deutschen Sprache in Rußland. Vgl. Koch (1998), Prepodavanie nemeckogo jazyka, kak inostrannogo, v Rossii v XVIII. veke; dies. (1999), Zur Geschichte des Deutschlernens in Rußland; dies, [im Druck], U Citelja nemeckogo jazyka v russkich uCebnych zavedenijach v XVIII. v.
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I. Einleitung
sen konzipierten Lehrwerken (und deren Verfasser) sind schließlich in dem von Herbert Brekle u. a. herausgegebenen Bio-bibliographischen Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts zu finden, von dem bislang sieben Bände (bis Sehr) erschienen sind.41 Einige wenige russische Deutschlehrer führt außerdem das schon genannte Biographische und bibliographische Lexikon der Fremdsprachenlehrer des deutschsprachigen Raumes von Konrad Schröder auf. Der Verbreitungsgrad der deutschen Sprache, ihre Funktionen und ihre Bedeutung lassen sich unter anderem an ihrer Einwirkung auf das Russische ablesen. So wie das Staatswesen war auch die russische Sprache im 18. Jahrhundert erheblichen Modernisierungsprozessen unterworfen, wobei namentlich der Wortschatz einen rasanten Ausbau erfuhr. Besonders viele Lehnwörter sind aus dem Deutschen ins Russische eingeflossen. Dieser Vorgang ist im Rahmen der Sprachkontaktforschung zu Entlehnungsprozessen ins Russische in zahlreichen Beiträgen dargestellt worden.42 Der zweite für diese Arbeit relevante Bezugsrahmen ist die Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen vor allem des 18. Jahrhunderts. Angesichts des überaus starken Forschungsengagements in diesem Bereich kann nur erstaunen, daß der sprachliche Aspekt dieser Beziehungen, der, wie eingangs betont, als eine der wichtigsten Voraussetzung für den Ausbau der Kontakte zwischen Deutschen und Russen anzusehen ist, bislang nicht systematisch erforscht wurde, zumal auf ein solches Forschungsdefizit hingewiesen wurde: Das „bikulturelle und bilinguale Milieu", das von deutschen Akademikern und ihren Familien gebildet wurde, die zum „festen Inventar der gesellschaftlichen Elite beider Hauptstädte" (also Moskaus und St. Petersburgs) gehörten, unterstreicht Marc Raeff, sei „ein wesentliches Merkmal der modernen russischen Geschichte, dessen Rolle für die Verbreitung deutschen Gedankenguts und für die Ausbildung der russischen Denkweise noch nicht genügend erforscht" sei.43 Zu ersten dauerhaften Begegnungen zwischen Deutschen und Russen kam es im 11. Jahrhundert. Wie sich diese Kontakte bis zum Anfang der 41
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Vgl. Brekle/Dobnig-Jülch/Höller/Weiss (1992ff.), Bio-bibliographisches Handbuch zur Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts. Vgl. z. B. Otten (1985), Untersuchungen zu den Fremd- und Lehnwörtern bei Peter dem Grossen; Smirnov (1910), Zapadnoe vlijanie na russkij jazyk v petrovskuju epochu; Hüttl-Worth (1956), Die Bereicherung des russischen Wortschatzes im XVIII. Jahrhundert; Trebbin (1957), Die deutschen Lehnwörter in der russischen Bergmannssprache; Kaiser (1965), Der europäische Anteil an der russischen Rechtsterminologie der petrinischen Zeit; Gardiner (1965), German Loanwords in Russian 1550-1690; Haarmann (1984), Zu den historischen und rezenten Sprachkontakten des Russischen; Stark (1995), Zauberwelt der deutschen Sprache. Geschichte ihres Wortschatzes und seiner Ausstrahlung. Raeff (1992), Legenden und Vorurteile, S. 71.
2. Forschungsüberblick
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Regierungszeit Peters des Großen entwickelten, ist ausgiebig beleuchtet worden.44 Norbert Angermann hat vor allem die deutsch-russischen Hansekontakte erforscht, einschließlich ihrer kulturellen Dimension, denen auch Erich Donnert besondere Aufmerksamkeit gewidmet hat.45 Im Zeitalter der Aufklärung erlebte die deutsch-russische ,Wechselseitigkeit' (Eduard Winter)46 ihren Höhepunkt. Speziell für die Kontakte im Bereich von Kultur, Bildung und Wissenschaften liegt eine so umfangreiche Forschungsliteratur vor, daß es einer eigenen Bibliographie bedürfte, um sie annähernd vollständig zu erfassen. Hier kann daher nur exemplarisch auf einige für diese Arbeit besonders wichtige Autoren und Titel verwiesen werden. Die Grundlage für die Erforschung der deutsch-russischen , Wechselseitigkeit' haben von deutscher Seite aus die von Eduard Winter geleitete Arbeitsstelle für Geschichte der deutsch-slawischen Wissenschaftsbeziehungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin und die von ihm gebildete Historikerschule der DDR geschaffen. 47 Hier sind neben Eduard Winter u. a. Conrad Grau, Erich Donnert, Peter Hoffmann, Ulf Lehmann und Günter Mühlpfordt hervorzuheben.48 In der Bundesrepublik lagen die 44
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Hier sei nur auf die deutschsprachige Forschungsliteratur verwiesen. Als Gesamtdarstellungen vgl. z. B. Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 1: Bis 1613, Bd. 2: 16131856; Lemke/Widera (1976), Russisch-deutsche Beziehungen von der Kiever Rus' bis zur Oktoberrevolution; Stökl (1957), Rußland und Europa vor Peter dem Großen; Hellmann (1988), Tausend Jahre Nachbarschaft. Rußland und die Deutschen. Vgl. Angermann (1966), Kulturbeziehungen zwischen dem Hanseraum und dem Moskauer Rußland um 1500; ders. (1987), Die Hanse und Rußland; ders. (1991), Deutsche Kaufleute im mittelalterlichen Novgorod und Pleskau; ders. (1996), Die Rolle der Deutschen in Rußland im 17. Jahrhundert; Angermann/Endell (1988), Die Partnerschaft mit der Hanse; Donnert (1971), Russisch-deutsche Kulturbeziehungen und hansische Rußlandkunde zu Beginn der Neuzeit; ders. (1977), Das Moskauer Rußland. Kultur und Geistesleben im 15. und 16. Jahrhundert. Eduard Winter hat das Konzept der ,deutsch-slawischen Wechselseitigkeit' in Zusammenarbeit mit dem sowjetischen Literaturwissenschaftler P. N. Berkov entwickelt, um zu zeigen, „daß es sich um ein wechselseitiges Geben und Nehmen zwischen Deutschen und Slaven handelte und [um] Theorien von einem ,West-Ost-Kulturgefälle' entgeg e n z u t r e t e n " . Schippan (1994), S. 193. Vgl. die Forschungsüberblicke von Schippan (1994), Deutsche in Moskau und St. Petersburg in der Historiographie der DDR, und ders. (1995), Die Berliner OsteuropaForschung seit 1892 zum Thema ,Rußland im 18. Jahrhundert'. Vgl. Winter (1953), Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert; ders. (1958a), Ein Bericht von Johann Werner Paus aus dem Jahre 1732 über seine Tätigkeit auf dem Gebiete der russischen Sprache, der Literatur und der Geschichte Rußlands; ders. (1958b), Euler und die Begegnung der deutschen mit der russischen Aufklärung; ders. (1962), Lomonosov. Schlözer. Pallas. Deutsch-russische Wissenschaftsbeziehungen im 18. Jahrhundert; Grau (1966), Petrinische kulturpolitische Bestrebungen und ihr Einfluß auf die Gestaltung der deutsch-russischen wissenschaftlichen Beziehungen im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts; ders. (1992), Institutionen und Per-
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I. Einleitung
Schwerpunkte der Osteuropaforschung eher im 19. und 20. als im 18. Jahrhundert.49 Besonders zu würdigen ist das Lebenswerk Erik Amburgers, der sich große Verdienste um die Erforschung der deutsch-russischen Kulturund Wissenschaftsbeziehungen und um die an diesem Austausch beteiligten Personen erworben hat.50 Auf das von ihm zusammengetragene sogenannte Amburger-Archiv wird im Zusammenhang mit den Forschungen zur deutschen Lehrerschaft russischer Schulen weiter unten eingegangen. Aus einer speziellen Perspektive hat unter Leitung von Lew Kopelew, dem ,,unermüdliche[n] Kämpfer für die Rückbesinnung auf deutsch-russische Gemeinsamkeiten", 51 das Wuppertaler Projekt die deutsch-russische Beziehungsgeschichte beleuchtet, dessen Ergebnisse in den Sammelbänden West-östliche Spiegelungen publiziert wurden. Es erforschte die Entwicklung der deutsch-russischen Fremdenbilder, Stereotypen und Vorurteile vom 11. bis ins 20. Jahrhundert.52 sonen in Berlin und Petersburg in den deutsch-russischen Wissenschaftsbeziehungen; Grau/Karp/Voss (1997), Deutsch-Russische Beziehungen im 18. Jahrhundert. Kultur, Wissenschaft und Diplomatie; Donnert (1971), Russisch-deutsche Kulturbeziehungen und hansische Rußlandkunde zu Beginn der Neuzeit; ders. (1997), Europa in der frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 3. Aufbruch zur Moderne; ders. (1999a), Europa in der Frühen Neuzeit. Festschrift für Günter Mühlpfordt. Bd. 5. Aufklärung in Europa; Hoffmann (1956), Russische Studenten in Leipzig 1767-1771. Ein Beitrag zur Radiäiev-Forschung; ders. (1988), Russland im Zeitalter des Absolutismus; ders. (1995), Geographie, Geschichte und Bildungswesen in Rußland und Deutschland im 18. Jahrhundert: Briefwechsel Anton Friedrich BUsching - Gerhard Friedrich Müller 1751 bis 1783; ders. (1997), Anton Friedrich Büsching als Schuldirektor in St. Petersburg; Lehmann (1966), Der Gottschedkreis und Russland. Deutsch-russische Literaturbeziehungen im Zeitalter der Aufklärung; ders. (1970), Johann Friedrich Hartknochs Beitrag zur Deutschen Rußlandkenntnis im 18. Jahrhundert; Mühlpfordt (1968), Lomonosov und die mitteldeutsche Aufklärung; ders. (1976), Petersburg und Leipzig - zwei eng verbundene Zentren der Aufklärung; ders. (1997), Rußlands Aufklärer und die Mitteldeutsche Aufklärung: Begegnungen, Zusammenwirken, Partnerschaft. 49
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Vgl. den Forschungsüberblick über die Osteuropaforschung in der Bundesrepublik von Martiny (1980), Osteuropäische Geschichte und Zeitgeschichte, S. 705-724. Vgl. Amburger (1961a-c), Beiträge zur Geschichte der deutsch-russischen kulturellen Beziehungen; ders. (1964), Die Lehrer der deutschen evangelischen Kirchenschule in St. Petersburg und Moskau; ders. (1976), Wissenschaftspolitik in Mittel- und Osteuropa. Wissenschaftliche Gesellschaften, Akademien und Hochschulen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert; ders. (1977), Buchdruck, Buchhandel und Verlage in St. Petersburg im 18. Jahrhundert; ders. (1986), Deutsche in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft Russlands: Die Familie Amburger in St. Petersburg 1770-1920; ders. (1991), Die Deutschen im russischen Reich und der Sowjetunion. Als Forschungsüberblick für die älteren Forschungen vgl. Amburger (1962), Deutsch-russische wissenschaftliche Beziehungen im deutschen und russischen Schrifttum seit 1945. Johannes Rau, Vorwort zum Ausstellungskatalog: Deutsche in Russland - Russen in Deutschland. Zeitalter der Aufklärung, Moskau, 1994, S. 9. Vgl. die für diese Arbeit relevanten Bände der Reihe: Herrmann (1988), Deutsche und Deutschland aus russischer Sicht: 11.-17. Jahrhundert; dies. (1992a), Deutsche und
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Viele der von Pavl Naumoviö Berkov schon in den 1950er Jahren formulierten Forschungsaufgaben, wie etwa die Geschichte der russischen Studenten an deutschen Universitäten,53 die Geschichte der in Rußland erschienenen deutschsprachigen Druckwerke54 oder die Geschichte des deutschen Theaters und Kulturlebens in Rußland,55 sind bearbeitet worden.56 Seit 1990 leisten die alljährlich in St. Petersburg von der Russischen Akademie der Wissenschaften veranstalteten und von Ljudmila Slavgorodskaja ins Leben gerufenen Konferenzen des Seminars Nemcy v Rossii: russko-
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Deutschland aus russischer Sicht: 18. Jahrhundert; Keller (1985a), Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 11-17. Jahrhundert; dies. (1987), Russen und Rußland aus deutscher Sicht: 18. Jahrhundert: Aufklärung. Speziell für das 18. Jahrhundert wurden die Ergebnisse des Projekts auch im Rahmen der eingangs erwähnten Wanderausstellung präsentiert. Vgl. z. B. Amburger (1961c), Die Russischen Studenten an deutschen Universitäten bis zum Ende des 18. Jahrhunderts; Berkov (1962), Ostslavische Studenten an deutschen Hochschulen in der vorpetrinischen Zeit; Hoffmann (1956), Russische Studenten in Leipzig 1767-1771. Ein Beitrag zur RadiäCev-Forschung; Hillert (1997), Von Lomonosov zu Radiäiev. Mitteldeutsche Aufklärung, Leipzig und Rußland; Lauer (1973), Die Beziehungen der Göttinger Universität zu Rußland; Kostjaäov/Kretinin (1994), Rossijskie studenty vremen Petra I v Kenigsberge; Osipov (1995), Peterburgskaja akademija nauk i russko-nemeckie nauinye svjazi v poslednej treti XVIII veka; ders. (1998), Russkie studenty Peterburgskoj Akademii nauk v Gettingene v XVIII v.
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Die Geschichte deutschsprachiger Druckwerke im Rußland des 18. Jahrhunderts haben insbesondere die Buchhistoriker der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg erforscht. Vgl. z. B. Luppov (1973), Kniga v Rossii v pervoj Cetverti XVIII veka; ders. (1976), Kniga v Rossii v poslepetrovskoe vremja 1725-1740; ders. (1982), Kniga i biblioteki v Rossii v XVI - pervoj polovine XVX veka; Choteev (1989), Kniga v Rossii v seredine XVIII veka. Castnye kniinye sobranija; ders. (1993), Kniga v Rossii v seredine XVIII veka. Biblioteki obääestvennogo pol'zovanija; ders. (1995), Das deutsche Buch in Rußland in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts; ders. (1999), Nemeckaja kniga v peterburgskich bibliotekach obäCestvennogo pol'zovanija v pervoj polovine XVIII v.; ders. (in Vorbereitung), Nemeckaja kniga i russkij öitateP v pervoj polovine XVIII. v.; Ivanova (1999), Nemeckojazyfinye izdanija v sobranijach S-Peterburga; Tjuliiev (1983), Prodaia v Moskve izdanij Peterburgskoj Akademii nauk v naiale 60-ch gg. XVII v.; ders. (1989), Kniinaja torgovlja Peterburgskoj Akademii nauk v seredine XVIII veka (tematiko-otraslevye i obSie kolitestvennye charakteristiki); Savel'eva (1976), Knigi na inostrannych jazykach, izdannye na territorii Rossii v 18 v.; dies. (1999), Nemeckaja kniga v Peterburgskich izdanijach XVIII v.; Kopanev (1983), Rasprostranenie inostrannoj knigi v Peterburge v pervoj polovine XVIII veka. Zur Geschichte der deutschen Zeitungen in Rußland vgl. Berkov (1952), Istorija russkoj iurnalistiki XVIII veka; Ltlbke (1992), Von Peters „Vedomosti" zu Karamzins Journalen; Smirnova (1999), Nemeckaja peCat' v Sankt-Peterburge. Den ersten Überblick aus deutscher Sicht hat Kratz vorgelegt; Kratz (1995), Deutschsprachige Drucke. Moskauer und Petersburger Verlage 1731-1991.
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Vgl. z. B. Busch (1997), Theater und Musik im Zarenreich; GureviC (1998), Nemcy v musykal'nom Peterburge XVIII v., mit weiterer Literatur. Vgl. den richtungsweisenden Aufsatz von Berkov (1958), Deutsch-russische kulturelle Beziehungen im 18. Jahrhundert.
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I. Einleitung
nemeckie naucnye i kul'turnye svjazy ['Die Deutschen in Rußland: Russisch-deutsche wissenschaftliche und kulturelle Beziehungen'] einen enormen Beitrag zur weiteren Erhellung dieser Beziehungen und insbesondere der Geschichte der in Rußland lebenden Deutschen.57 Diesem Thema wurde in Deutschland besonders seit Ende der 1970er, Anfang der 1980er Jahre und noch verstärkt durch die Rückwanderung von mehr als zwei Millionen Rußlanddeutschen in die Bundesrepublik großes Forschungsinteresse zuteil, was sich auch in der Einrichtung mehrerer Forschungsstellen und Institute niederschlug.58 Einen überaus informativen, materialreichen Gesamtüberblick über die bislang erzielten Forschungsergebnisse hat Gerd Stricker mit dem Band Rußland aus der Reihe Deutsche Geschichte im Osten Europas vorgelegt.59 Zwar gibt es nur sehr wenige spezielle Untersuchungen zur Geschichte des Fremdsprachenunterrichts in Rußland, viele verstreute Informationen hierzu liefern jedoch auch die allgemeineren Arbeiten zur russischen Bildungs-, Kultur- und Geistesgeschichte. Die Forschungsliteratur hierzu ist mehr als umfassend, weshalb hier wiederum nur auf ganz wenige wichtige 57
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Vgl. die Konferenzsammelbände Slavgorodskaja (1998a), Nemcy v Rossii. Ljudi i sud'by; dies. (1998b), Nemcy v Rossii: problemy kul'turnogo vzaimodejstvija; Smagina (1998a), Nemcy i razvitie obrazovanija v Rossii; dies. (1999a), Nemcy v Rossii. Peterburgskie nemcy. Im Kontext dieser Forschungen stehen auch die von V. A. Kovrigina veröffentlichten Studien über die deutsche Vorstadt in Moskau Ende des 17. bis zum ersten Viertel des 18. Jahrhunderts, in denen die Autorin u. a. auf Grundlage umfangreicher, bislang nicht beachteter Quellen aus dem Rossijskij gosudarstvennyj Archiv drevnich aktov (RGADA) ein z. T. neues Bild der damaligen Verhältnisse vermittelt. Vgl. Kovrigina (1998a), Nemeckaja sloboda Moskvy; dies. (1998b), Nemeckaja sloboda Moskvy i ee iiteli v konce XVII - pervoj Cetverti XVIII vv. Hier sind v. a. die 1990 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg geschaffene Forschungsstelle für Geschichte und Kultur der Deutschen in Rußland (Gottfried Schramm, Dittmar Dahlmann) sowie das 1991 eingerichtete Institut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (Detlef Brandes, Dietmar Neutatz) an der HeinrichHeine-Universität Düsseldorf zu nennen, welche gemeinsam eine umfassende Bibliographie zur Geschichte der Rußlanddeutschen erstellt haben. Vgl. Brandes (1994/1999) Bibliographie zur Geschichte und Kultur der Rußlanddeutschen. Weitere diesbezügliche Forschungsüberblicke bieten Neutatz (1994), Neuere Publikationen zur Geschichte der Rußlanddeutschen, und Schippan (1994), Deutsche in Moskau und St. Petersburg in der Historiographie der DDR. An Forschungsliteratur vgl. u. a. Kappeler/Meissner/Simon (1987), Die Deutschen im Russischen Reich und im Sowjetstaat. Nationalitäten- und Regionalprobleme in Osteuropa; Pinkus/Fleischhauer (1987), Die Deutschen in der Sowjetunion. Geschichte einer nationalen Minderheit im 20. Jahrhundert; Fleischhauer (1991), Die Deutschen im Zarenreich; Eisfeld (1992), Die Russland-Deutschen; Meissner/Eisfeld (1996), Der Beitrag der Deutschbalten und der städtischen Rußlanddeutschen zur Modernisierung und Europäisierung des Russischen Reiches im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; Busch (1995), Deutsche in St. Petersburg: 1865-1914. Identität und Integration; Koch (1995), Zur Geschichte der Rußlanddeutschen. Vgl. Stricker (1997), Deutsche Geschichte im Osten Europas. Rußland.
2. Forschungsüberblick
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Autoren hingewiesen werden kann. Zunächst sind die umfangreichen Materialsammlungen zu einzelnen wissenschaftlichen Einrichtungen wie der Petersburger Akademie der Wissenschaften und der Moskauer Universität oder auch zu den Schulreformprozessen im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zu nennen, durch die eine große Anzahl von Quellen in gedruckter Form bereitgestellt wurde. Als wesentliche Grundlage der vorliegenden Arbeit sind vor allem die in zehn Bänden erschienenen 'Materialien zur Geschichte der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften' von M. I. Suchomlinov60 sowie die in drei Bänden zusammengetragenen 'Dokumente und Materialien zur Geschichte der Moskauer Universität in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts' von N. A. Penöko61 hervorzuheben. Quellen zu der von Katharina II. initiierten Schulreform bieten beispielsweise die vom Ministerium der Volksaufklärung herausgegebene 'Materialiensammlung zur Geschichte der Aufklärung in Rußland' 62 oder die Sammlungen von S. V. Roidestvenskij. 63 Reiches Quellenmaterial präsentieren auch die zahlreichen, zum größten Teil aus der vorrevolutionären Periode stammenden Studien zu einzelnen Lehreinrichtungen des Zarenreiches.64 Im Neudruck liegen die Monographien des russischen Bildungsministers Graf D. A. Tolstoj vor, der in den 1880er Jahren den Werdegang des Akademischen Gymnasiums und der Akademischen Universität in St. Petersburg beschrieb.65 Als wichtige Gesamtdarstellungen sind zu nennen: das Standardwerk von P. Pekarskij 'Wissenschaften und Literatur zur Zeit Peters des Großen' 66 sowie die schul- und erziehungsgeschichtlichen Abrisse von M. F. Sabaeva bzw. M. V. Syöev-Michajlov.67 Einen deutsch60 61
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Suchomlinov (1885-1900), Materialy dlja istorii Imperatorskoj Akademii nauk. Penöko (1960/1962/1963), Dokumenty i materialy po istorii Moskovskogo universiteta vtoroj poloviny XVIII veka Sbornik materialov dlja istorii prosveäCenija v Rossii, izvleiennych iz Archiva Ministerstva Narodnago ProsveäCenija, [...], 1893. Vgl. z. B. Roidestvenskij (1907/1908), Proekty uCebnych reform v carstvovanie imperatricy Ekateriny II. do u£re2denija komissii o narodnych uíiliSíach; ders. (1910), Materialy dlja istorii uCebnych reform v Rossii v XVIII-XIX- vekach. Vgl. u. a. Sevyrev (1855), Istorija imp. Moskovskogo Universiteta, napisannaja k stoletnemu ego jubileju. 1755-1855; Vladimirov (1867), IstoriCeskaja zapiska o 1-oj kazan'skoj gimnazii, in: XVIII stoletie; Leväyn (1902), Paieskij korpus za 100 let; Luzanov (1907), Suchoputnyj äljachetnyj kadetskij korpus (nyne 1-j kadetskij korpus) pri grafe Miniche (s 1732 po 1741). Tolstoj (1969), Ein Blick auf das Unterrichtswesen Russlands im XVIII. Jahrhundert bis 1782; ders. (1970a), Das Akademische Gymnasium und die Akademische Universität im XVIII. Jahrhundert, nach handschriftlichen Dokumenten des Archives der Akademie der Wissenschaften; ders. (1970b), Die Stadtschulen während der Regierung der Kaiserin Katharina II. Pekarskij (1862), Nauka i literatura v Rossii pri Petre Velikom.
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I. Einleitung
sprachigen Überblick über das Schul- und Bildungswesen in Rußland im 18. Jahrhundert hat jetzt noch einmal Erich Donnert gegeben.68 Weitere jüngere Beiträge zur russischen Bildungsgeschichte waren der Bildungspolitik Katharinas der Großen gewidmet,69 oder gingen der Frage nach dem Beitrag der Akademie der Wissenschaften zur Volksaufklärung nach.70 Ein Spezifikum der russischen Schullandschaft stellen die seit Ende des 16. Jahrhunderts in Rußland existierenden deutschen Schulen dar, die seit jeher lebhaftes Forschungsinteresse auf sich gezogen haben.71 Mit ihrer multinationalen - keineswegs nur deutschen - Schülerschaft zählten sie, um Erik Amburger zu zitieren, schon früh zu den „wichtigsten Mittlern zwischen Ost und West, zwischen russischer und deutscher Kultur".72 Aus diesem Grund empfahl Amburger, die Geschichte der deutschen Schulen in Rußland auch im Hinblick auf ihren Nutzen für die nicht-deutschen Schü-
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Sabaeva (1973), OCerki istorii äkoly i pedagogiCeskoj mysli narodov SSSR, XVIII v. pervaja polovina XIX v.; SyCev-Michajlov (1960), Iz Istorii russkoj äkoly i pedagogiki XVIII veka. Donnert (1999), Schul- und Bildungswesen in Rußland im 18. Jahrhundert. Vgl. z. B. Polz (1972), Theodor Jankovic und die Schulreform in Rußland; Madariaga (1979), The Foundation of the Russian Educational System by Catherine II; Epp (1984), The Educational Policies of Catherine II.; Scharf (1995), Katharina II., Deutschland und die Deutschen, hier: Russische Schulreform nach deutschem Muster, S. 130-147. Vgl. z. B. Smagina (1991), Akademija nauk i narodnoe prosveäöenie v rossii vo vtoroj polovine XVIII veka; dies. (1999b), Der Beitrag der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg zur Entwicklung des russischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert. Vgl. z. B. Lemmerich (1862), Die Geschichte der deutschen Hauptschule, St. Petri in Petersburg; ders. (1889), Zur Jubelfeier des 150jährigen Bestehens der St. Annen-Schule am 3. Januar 1889; Cvetaev (1889), Pervye nemeckye äkoly v Moskve i osnovanie nemecko-russkogo pridvornogo teatra; ders. (1890), Protestantstvo i protestanty v Rossii do epochi preobrazovanij; Busch (1867), Ergänzungen der Materialien zur Geschichte und Statistik des Kirchen- und Schulwesens der evangelisch-lutherischen Gemeinden in Rußland; Fechner (1876), Chronik der evangelischen Gemeinden in Moskau. Zum 300jährigen Jubiläum der Evangelisch-Lutherischen St. Michaelis-Gemeinde; Belokurov (1907), O nemeckich äkolach v Moskve v pervoj Cetverti XVIII v. Dokumenty Moskovskich archivov. 1701-1715; Steinberg (1912), Dr. Anton Friedrich Büsching und die zu St. Petersburg am 1. Oktober 1762 an der St. Petrikirche eröffnete Schule der Sprachen, Künste und Wissenschaften; Pantenius/Grosberg (1930), Deutsches Leben in St. Petersburg; Woltner (1937), Das Wolgadeutsche Bildungswesen und die russische Schulpolitik; Amburger (1984), Die deutschen Schulen in Russland mit besonderer Berücksichtigung St. Petersburgs; Stricker (1988), Deutschsprachige Bildungseinrichtungen im Russischen Reich und in der Sowjetunion; Hoffmann (1995), Geographie, Geschichte und Bildungswesen in Rußland und Deutschland im 18. Jahrhundert; Tuchtenhagen (1994), Bildung als Auftrag und Aufgabe. Deutsche Schulen in St. Petersburg 1704-1934. Amburger (1984), S. 22.
2. Forschungsüberblick
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ler zu beleuchten.73 Dies ist bis heute nicht geschehen und soll in dieser Arbeit wenigstens in einem ersten Ansatz nachgeholt werden.74 Weniger Aufmerksamkeit als die deutschen Schulen hat die große Zahl deutscher Lehrer auf sich gezogen, die im 18. Jahrhundert wesentlich zur Entwicklung und zum Aufbau des russischen Schulwesens beigetragen haben. Zwar gibt es nicht wenige Forschungsbeiträge zu den deutschen Gelehrten und Professoren, die in jener Zeit an der Petersburger Akademie der Wissenschaften oder der Moskauer Universität gewirkt haben.75 Speziell deren Beitrag zur Entwicklung des russischen Bildungssystems hat sich die Petersburger Historikerin Galina Smagina gewidmet.76 Zu den Ende des 17./Anfang des 18. Jahrhunderts in der ,Nemeckaja sloboda' in Moskau lebenden und wirkenden deutschen Lehrern hat jüngst Vera Kovrigina eine kenntnis- und materialreiche Studie vorgelegt.77 Über den .einfachen' Durchschnittslehrer, der ,nur' seinen alltäglichen Unterrichtsverpflichtungen nachkam, ohne sich dabei besonders von der Masse seiner Kollegen abzuheben, weiß man dennoch immer noch sehr wenig. 78 Dies ist eine bedauerliche Forschungslücke, denn gerade die historische Analyse der Berufstätigkeit der ,einfachen' Lehrer und ihres Schulalltags kann 73 74
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Vgl. ebd. Exemplarisch für die jüngere Literatur kann man hier den Artikel von Tuchtenhagen (1994) anführen, der die gemischtnationale Schülerschaft der Petersburger deutschen Schulen im 18. Jahrhundert unerwähnt läßt. Vgl. z. B. Stieda (1930), Deutsche Gelehrte als Professoren an der Universität Moskau; Amburger (1961a), Die Anwerbung von Ärzten, Gelehrten und Lehrkräften durch die russische Regierung vom 16. bis in 19. Jahrhundert; Maier (1984), Deutsche Gelehrte an der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften im 18. Jahrhundert; Petrov (1997) Nemeckie professora v Moskovskom universitete. Vgl. Smagina (1996a), Akademija nauk i rossijskaja Skola vtoraja polovina XVIII v. St. Peterburg; dies. (1998b), Vklad nemeckich uCenych v razvitie rossijskoj äkoly v XVIII v; dies. (1998c), Nemcy - uüitelja i ustroiteli gosudarstvennych ufiebnych zavedenij v Rossii v XVIII v.; dies. (1999b), Der Beitrag der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg zur Entwicklung des russischen Bildungswesens im 18. Jahrhundert. Vgl. Kovrigina (2000), Die deutschen Lehrer in Moskau in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts und im ersten Viertel des 18. Jahrhunderts. Den größten Beitrag zur Erforschung u. a. des deutschen Lehrerstandes in Rußland hat Erik Amburger geleistet, der in seinem Biographischen Archiv wertvollstes biographisches Material zusammengetragen hat. Das Archiv verzeichnet für rund 200 000 Angehörige europäischer Völker, darunter vor allem Deutsche, die vom 15. bis zum 20. Jahrhundert (1917) im Staats-, Wirtschafts- und Kulturleben Rußlands tätig gewesen sind, Personaldaten mit Quellennachweisen. Inzwischen ist das Archiv im Osteuropa-Institut München als Datenbank zugänglich, auch über das Internet. Ganz herzlich möchte ich mich bei Herrn Prof. Amburger bedanken, der mich bei den Recherchen zu den Deutschlehrern aufs freundlichste unterstützt und mir umfangreiches Material aus seinem Archiv zur Verfügung gestellt hat. Zu Amburgers Forschungen über die deutschen Lehrer vgl. die genannten Arbeiten (1961 a-c), (1964), (1986).
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I. Hinleitung
Aufschluß über die damaligen Erziehungs- und Unterrichtswirklichkeiten geben. Die vorliegende Arbeit beschäftigt sich daher näher mit der Berufsgruppe der Deutschlehrer, wobei allerdings nur die an den staatlichen Bildungseinrichtungen beschäftigten Pädagogen des 18. Jahrhunderts berücksichtigt werden. Dies waren mehrheitlich Deutsche, es gab aber auch russische Deutschlehrer. Von den Deutschlehrern, die nicht durch eigene Publikationen hervorgetreten sind, haben sich nur wenige Spuren erhalten, wovon die überaus dürftige Forschungsliteratur ein Zeugnis abgibt. In der Sekundärliteratur bzw. in publiziertem Archivmaterial finden sich zu ihnen nur sehr verstreute Hinweise.79 Einzelne Deutschlehrer haben nur dann Aufmerksamkeit auf sich gezogen, wenn sie entweder in den Professorenstand aufstiegen oder publizierten, also z. B. Lehrbücher verfaßten.80 Eine systematische Gesamtuntersuchung dieser Berufsgruppe steht bislang noch aus.81 Ansätze dazu bietet die vorliegende Studie.
3. Quellen, Gliederung und Methode Die folgenden Ausführungen erläutern die Gliederung und Thematik der sieben Hauptkapitel dieser Arbeit sowie die jeweils zugrunde gelegte methodische Vorgehensweise. Grundsätzlich dienen als Forschungsmethode die üblichen historiographischen Verfahren, also Literatur- und Quellenstudien. Die ausgewertete Sekundärliteratur erfaßt die Forschungsliteratur des 19. und 20. Jahrhunderts aus den Disziplinen Sprachgeschichte, Geschichte der Pädagogik und des Fremdsprachenunterrichts, deutsch79
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So etwa für das Moskauer Fremdsprachengymnasium bei Belokurov (1907), O nemeckich Skolach v Moskve v pervoj Cetverti XVIII v.; filr das Landkadettenkorps in Petersburg bei Luzanov (1907), Suchoputnyj Sljachetnyj kadetskij korpus (nyne 1-j kadetskij korpus) pri grafe Miniche; für das Akademische Gymnasium bei Suchomlinov (18851900), Materialy dlja istorii Imperatorskoj Akademii nauk; für das Moskauer Gymnasium bei Penüko (1960/1962/1963), Dokumenty i materialy po istorii Moskovskogo universiteta vtoroj poloviny XVIII veka; fllr das Kazan'er Gymnasium bei Vladimirov (1867), Istoriieskaja zapiska o 1-oj kazan'skoj gimnazii. Zu ihnen liegen verschiedene Aufsätze vor, die sich allerdings nicht immer oder nicht ausschließlich mit der entsprechenden Person in ihrer Eigenschaß als Deutschlehrer befassen. Vgl. z. B. Pönicke (1970), Johann Ernst Glück. Ein Widerstandskämpfer im Zeitalter der Frühaufklärung im Nordosten Europas; Michal'öi (1963), Iz rukopisej I. V. Pauze; Keipert (1983), Die Petersburger „Teutsche Grammatica" und die Anfänge der Russistik in Rußland; Rauch (1979), Johann Georg Schwarz und die Freimaurer in Moskau; FajnStejn (1989), I. A. Gejm - ußenyj, izdatel' i pedagog; Hasselbach (1826), Lebensgeschichte des Kaiserlich Russischen Hofrathes und Professors Christian Heinrich Wolke; Hölterhof (1991), Zwölf Jahre gefangen in St. Petersburg: das Leben des Franz Hölterhof (1711-1805) von ihm selbst erzählt. Eingel. und bearb. von Theodor Gill. Eine erste Obersicht bietet Koch [im Druck], UCitelja nemeckogo jazyka v russkich uöebnych zavedenijach v XVIII. v.
3. Quellen, Gliederung und Methode
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russische Kultur- und Beziehungsgeschichte, deutsche und russische Bildungsgeschichte sowie Buchgeschichte. Die Quellen setzen sich zusammen aus gedruckten und ungedruckten Primärtexten vor allem des 18. Jahrhunderts. Hauptquellen stellen die mit ganz wenigen Ausnahmen in Rußland gedruckten Lehrmittel dar (v. a. Grammatiken, Fibeln, Vokabulare, Gesprächsbücher, Lesebücher, Textsammlungen, Wörterbücher), die zur Erlernung der deutschen Sprache dienten und dem Deutschunterricht zugrunde lagen. Die zweite für diese Studie maßgebliche Gruppe von Quellen bilden offizielle Dokumente zum Fremdsprachenunterricht. Zu diesen Quellen sind zu rechnen: Staatliche Verordnungen zum Fremdsprachenunterricht, wie Schulfragen betreffende Ukaze, amtliche Schulrichtlinien und Schulreglements, im weiteren Sinne auch Schulnachrichten und Schulchroniken. Zu den Dokumenten offiziellen Charakters zählen außerdem: Lehrpläne, Lektions - und Vorlesungsverzeichnisse, Lehrer- und Schülerverzeichnisse, verbindliche Methodenvorschriften und Lehrerhandreichungen sowie Konferenzprotokolle und Schulrapporte, auch wenn bei letzteren nicht selten persönlich gefärbte Einschätzungen des Unterrichtsgeschehens gegeben werden. 82 Viele dieser Materialien liegen als selbständige Drucke vor (wie etwa die Ukaze, Reglements und Lektionsverzeichnisse), andere wurden in den Materialiensammlungen Suchomlinovs und PenCkos publiziert. Erstmals ausgewertet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden in dieser Arbeit die auf den Deutschunterricht bezogenen Dokumente aus dem Fonds des Akademischen Gymnasiums in St. Petersburg, der in der Petersburger Filiale des Archivs der Akademie der Wissenschaften (PF AAN) erhalten wird. Zu den in dieser Untersuchung ausgewerteten Primärquellen zählen ferner pädagogische Schriften bzw. Äußerungen von Pädagogen, Lehrbuchverfassern und Gelehrten zu Zielen, Methodik und Didaktik des Fremdsprachenunterrichts. Sie liegen zum Teil als selbständige Schriften vor, sind häufiger aber noch in den Vorworten oder Widmungen der Lehrbücher enthalten. Schließlich wurden - soweit sie in gedruckter Form greifbar waren - auch Briefe, Reisebeschreibungen und Memoiren von Zeitgenossen in Hinblick auf deren persönliche Beobach-
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Was die staatlichen Verordnungen betrifft, bietet sich dieser Untersuchung eine sehr günstige Quellenlage. Bedingt durch die Konzentration verhältnismäßig weniger Bildungseinrichtungen auf die kulturellen und politischen Zentren Rußlands ist die Quellensituation nämlich gleichermaßen ergiebig wie eingegrenzt. Dies stellt im Vergleich zu Forschungen, die sich beispielsweise auf die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts im deutschsprachigen Raum beziehen, einen wesentlichen Vorteil dar. Aufgrund der territorialen Zersplitterung des Untersuchungsgebietes und der heterogenen Bildungssituation in den Einzelstaaten ist es relativ problematisch, die historische Situation des Fremdsprachenunterrichts im deutschsprachigen Raum insgesamt zu beurteilen.
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I. Einleitung
tungen zum Fremdsprachenlernen und -lehren analysiert. 83 Zitate aus deutschsprachigen Quellen erfolgen in der jeweiligen Schreibweise der Texte. Da es in dieser Arbeit um die Geschichte der deutschen Sprache geht, wird die originale Orthographie beibehalten, auch bei Eigennamen und selbst dann, wenn hier nicht einheitlich verfahren wurde. Auch offensichtliche Inkonsequenzen in der Schreibung und Druckfehler werden nicht korrigiert (und i. d. R. auch nicht durch konventionelle Zeichen hervorgehoben). Zitate aus russischsprachigen Quellen werden im laufenden Text in ihrer Übersetzung angeführt, der Originaltext wird in den Fußnoten gegeben. Da die Originalgestalt der russischen Texte im Zusammenhang dieser Arbeit keine Rolle spielt, werden sie zugunsten einer einfacheren Lesbarkeit in einer der modernen angepaßten Schreibweise wiedergegeben. Das Interesse an der deutschen Sprache und der Wunsch bzw. die Notwendigkeit, sie zu erlernen, sind stets ein Resultat bilateraler Kontakte gewesen. Kapitel II und III geben daher gestützt auf die Forschungsliteratur einen Abriß der Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen. Kapitel II zeichnet deren Entwicklung von den ersten Anfängen im 11. Jahrhundert bis zum Regierungsantritt Peters. I. (27.4.1682) nach. Dabei geht es vor allem um die Frage, inwiefern die Kontakte zwischen Deutschen und Russen, die durch Handelsbeziehungen, diplomatischen Verkehr, Spezialistenanwerbung, Kulturaustausch, Eroberungsfeldzüge und ihnen folgende Zwangsansiedlungen Deutscher in Rußland immer enger wurden, auch zu Spracherwerbsprozessen führten. Mit den petrinischen Reformen beginnt ab Kapitel III die für diese Arbeit maßgebliche Epoche. Dieses Kapitel erläutert in drei Abschnitten, in welchen Funktionsbereichen die deutsche Sprache in Rußland im 18. Jahrhundert eine Rolle gespielt hat und beschreibt, worin seine Bedeutung bestand und wie sie diese erlangte. Die Domänen, um die es hierbei geht, sind die offizielle Sphäre von Politik und Verwaltung, die Bereiche Militär, Wirtschaft, Industrie und Gesundheitswesen sowie schließlich der Bildungs- und Wissenschaftssektor. Allen Bereichen gemein ist, daß sie seit 83
Vgl. z. B. die von Ulf Lehmann publizierten Briefe der nach Moskau gegangenen Philologen Reichel und Köllner in Lehmann (1966), Der Gottschedkreis und Rußland, sowie die von Peter Hoffmann veröffentlichen Briefe des Petri-Schul-Direktors Btlsching in Hoffmann (1995), Geographie, Geschichte und Bildungswesen in Rußland und Deutschland im 18. Jahrhundert: Briefwechsel Anton Friedrich Btlsching - Gerhard Friedrich Müller. Für die Memoirenliteratur bzw. die Reisebeschreibungen kann verwiesen werden auf Schlözer (1802), A. L. Schlözers öffentliches und Privatleben, von ihm selbst beschrieben. Erstes Fragment. Aufenthalt und Dienste in Rußland vom J. 1761 bis 1765; Challjutin (1858), Vospitanie v kadetskom korpuse za polveka nazad; Timkovskij (1874), Moe opredelenie v sluibu; Stepanov (1891), Straniöka iz istorii vospitanija v Rossii konca proälago veka. Iz vospominanij; Ivanovskij (1899), Metody i predmety uienija v narodnych uöiliäiach v carstvovanie imp. Ekateriny II.
3. Quellen, Gliederung und Methode
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Peter I. unter maßgeblicher Mithilfe deutscher Experten grundlegend reformiert, modernisiert oder ganz neu aufgebaut wurden. Diese Prozesse sollen unter besonderer Berücksichtigung der Rolle der deutschen Fachleute, die entscheidend zur Verbreitung und zum Bedeutungszuwachs der deutschen Sprache beitrugen, charakterisiert werden. Hauptaufgabe des dritten Kapitels ist es, die Verbreitung, die Funktionen und damit den Geltungsgrad der deutschen Sprache im Zarenreich insgesamt anhand konkreter Tatbestände zu belegen, um so aufzudecken, welche Notwendigkeiten sich ftir die Erlernung dieser Sprache ergaben. Seit Anfang des 18. Jahrhunderts existierten in Rußland weltliche Schulen, an denen auch die modernen Fremdsprachen, zunächst vor allen Dingen das Deutsche, gelehrt wurden. Kapitel IV dokumentiert, an welchen Bildungseinrichtungen dies der Fall war und welchen Stellenwert Deutsch im Vergleich zu anderen Schulfremdsprachen (gemeint sind nur die neuen Sprachen, also vor allem Französisch, daneben auch Englisch, Italienisch u. a.) hatte. Die Schwierigkeiten, die mit der Einfuhrung und Verbreitung des Fremdsprachenunterrichts verbunden waren, kann nur richtig einordnen, wer Kenntnis von der allgemeinen Bildungssituation im damaligen Rußland hat. Deswegen beschreibt das erste Teilkapitel nicht nur den Prozeß der Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts, sondern stellt - wiederum gestützt auf die Sekundärliteratur - auch die Grundzüge der russischen Bildungspolitik von Peter I. bis Katharina II. dar. Deutschunterricht fand damals nicht nur an russischen Schulen, sondern auch an den Gemeindeschulen der in Rußland lebenden deutschen Diaspora statt. Hier wurden außer deutschen Kindern auch junge Russen, Tataren, Kalmücken, Finnen und Angehörige anderer Volksgruppen unterrichtet, ein Aspekt, der in der vorliegenden Forschungsliteratur weitgehend ausgeklammert blieb. Punkt 2 geht daher kurz auf die deutschen Schulen in ihrer Funktion als Ausbildungsstätten für nicht-deutsche Kinder ein. Der dritte Abschnitt präzisiert, welche Bedeutung dem Fremdsprachenunterricht allgemein im Rahmen der russischen Ausbildungskonzeptionen zukam. Durch den Vergleich der russischen mit zeitgenössischen Schulprogrammen aus den deutschen Ländern wird die herausragende Stellung des russischen Fremdsprachenunterrichts verdeutlicht. Wenn der Fremdsprachenunterricht an den russischen Schulen - wie zu zeigen sein wird - über viele Jahrzehnte hin absolute Vorrangstellung genoß, so mußte dies wohl begründet sein. Punkt 4 stellt solche Begründungen vor, teils aus der persönlichen Perspektive der Zeitzeugen, teils in Form offizieller Erklärungen aus den Schulgesetzen. Die hier angeführten Erläuterungen geben zugleich Aufschluß über Sprachauswahl und Sprachenfolge und begründen, warum an den unterschiedlichen Schultypen verschiedene Fremdsprachen gelehrt
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I. Einleitung
wurden. Das fünfte Teilkapitel versucht am Beispiel der in jener Zeit fuhrenden Schulen, dem Akademischen Gymnasium in St. Petersburg, dem ebenda eingerichteten Korps der adeligen Landkadetten (kurz: Landkadettenkorps) sowie dem Gymnasium der Moskauer Universität, den Stellenwert des Deutschunterrichts anhand von Zahlen konkret zu bemessen. Zu diesem Zweck werden Lektionsverzeichnisse, Schülerlisten, Stellenpläne und Besoldungslisten im Hinblick auf die in ihnen enthaltenen Angaben zu Stundenzahl, Schulerzahlen und Lehrerplanstellen untersucht. Der das Kapitel abschließende sechste Punkt behandelt den Sonderstatus des Deutschen als Unterrichtssprache an einer Vielzahl russischer Schulen, aufgrund dessen der Erwerb von Deutschkenntnissen für Russen, die sich für Bildung und Wissenschaft interessierten, in der Regel unabdingbar war. Nach der Charakterisierung des institutionellen, organisatorischen und konzeptionellen Rahmens, in dem Deutschunterricht an russischen Schulen im 18. Jahrhundert vonstatten ging, wendet sich Kapitel V denjenigen Personen zu, die nicht nur für die Durchführung und den Erfolg oder Mißerfolg des Unterrichts verantwortlich waren, sondern auch einen ganz entscheidenden Beitrag zur Entwicklung des Faches Deutsch bzw. Deutsch als Fremdsprache geleistet haben: den Deutschlehrern. Da es sich als undurchführbar erwies, im Rahmen des in dieser Arbeit Möglichen alle an den staatlichen Schulen beschäftigten Deutschlehrer zu ermitteln - dies hätte zu umfassende Archivstudien erfordert - werden primär die an den schon genannten wichtigsten Lehreinrichtungen tätigen Lehrer behandelt. Im Anschluß an einen Überblick über die Rekrutierungswege der Deutschlehrer und die Anfänge der systematischen Lehrerausbildung in Rußland unter Punkt 1 geht Punkt 2 auf die Rolle der Pietisten beim Aufbau des russischen Schulsystems und der Begründung des institutionellen Deutschunterrichts in der petrinischen Zeit ein. In den drei folgenden Teilkapiteln werden die Deutschlehrer des Akademischen Gymnasiums, des Landkadettenkorps und des Moskauer Universitätsgymnasiums vorgestellt, wobei, soweit möglich, auch auf die Biographien der Lehrer eingegangen wird. Ziel ist zu zeigen, wer damals als Deutschlehrer in Rußland tätig war, woher diese Personen stammten und welche Qualifikationen und Motivationen sie zur Ausübung dieses Berufs mitbrachten, um so einen weiteren Teilbereich der damaligen Unterrichts- und Erziehungswirklichkeit zu rekonstruieren. Da die Sekundärliteratur nur über wenige Deutschlehrer Auskunft gibt, stützt sich dieses Kapitel in weiten Teilen auf die gedruckten Quellen. Ausgewertet wurden neben den publizierten Materialien von Suchomlinov und PenCko die Akten des Gymnasialfonds und Vorlesungsverzeichnisse der Moskauer Universität, die auch Informationen über die Lehrveranstaltungen des Gymnasiums enthalten.
3. Quellen, Gliederung und Methode
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Thomas Finkenstaedt hat zu Recht darauf hingewiesen, daß „Lehrwerke [...] die Hauptquelle für die Geschichte des Fremdsprachenunterrichts" sind.84 Dies seien sie in dreifacher Hinsicht: als Beleg für den Unterricht an sich (durch ihre Datierung und Auflagenzahl), durch ihre Vorworte, die häufig Hinweise auf die Situation des Unterrichts und die Methode des Sprachunterrichts geben, sowie schließlich durch ihre Inhalte. In jeder dieser Hinsichten sei „die Erforschung der Lehrwerke [...] noch nicht sehr weit gediehn".85 Die Kapitel VI, VII und VIII dieser Arbeit kommen den von Finkenstaedt formulierten Forschungsdesiderata nach. Während das sechste Kapitel einen umfassenden Überblick über die gesamte Produktion von Lehrwerken der deutschen Sprache im Rußland des 18. Jahrhunderts gibt, analysieren das siebte und das achte Kapitel diese Lehrbücher auch hinsichtlich der ihnen zugrundeliegenden methodischen Konzeptionen sowie ihrer Inhalte. Kapitel VI dokumentiert in sechs Abschnitten den Prozeß der Entwicklung von Lehrwerken für den Deutschunterricht in Rußland von 17001800. Abgesehen von wenigen begründeten Ausnahmen werden dabei ausschließlich die in Rußland und den ab 1710 von Rußland anektierten baltischen Ländern gedruckten Lehrwerke berücksichtigt. Zur Ermittlung der Lehrbücher wurden die einschlägigen Bibliographien für die in diesem Zeitraum in Rußland gedruckten russischen bzw. fremdsprachigen Werke sowie die Bücher in kyrillischer Schrift ausgewertet.86 Wie im vierten Kapitel wird zuerst in den historischen Kontext eingeführt und der sukzessive Auf- und Ausbau des russischen Buch- und Verlagswesen im 18. Jahrhundert skizziert. Die anschließenden vier Unterpunkte schildern dann jeweils bezogen auf einen Zeitabschnitt von 25 Jahren,87 wie sich die Sprachlehr84
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Finkenstaedt (1992), Aufgeklärter Positivismus. Probleme einer Geschichte des Fremdsprachenunterrichts, S. 241. Ebd. Vgl. Bykova/GureviC (1955), Opisanie izdanij graZdanskoj peCati 1708-janvar 1725 g.; Bykova/GureviC (1958), Opisanie izdanij napetatannych kirillicej 1689-janvar' 1725; Svodnyj katalog knig na inostrannych jazykach izdannych v Rossii v XVIII veke 17011800, Bd. 1-3 (kurz: SKin); Svodnyj katalog russkoj knigi graidanskoj peöati XVIII veka 1725-1800, Bd. 1-5 (kurz: SK); Mel'nikova (1966), Izdanija napeCatannye v tipografii moskovskogo universiteta, XVIII vek; von den älteren Bibliographien: Sopikov (1813), Opyt rossijskoj bibliografii, Bd. 1 und 2; BuliC (1904), OCerk istorii jazykoznanijav Rossii, XVIII-1825. Diese zunächst vielleicht willkürlich erscheinende Gliederung des Jahrhunderts in vier Viertel wird in Anlehnung an die beiden wichtigen Gesamtdarstellungen zur Entwicklung des russischen Buchwesens im 18. Jahrhundert von Gary Marker verwendet. Vgl. Marker (1977) Publishing and the Formation of a Reading Public in Eighteenth-Century Russia; ders. (1985), Publishing, Printing and the Origins of Intellectual Life in Russia 1700-1800.
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I. Einleitung
buchproduktion entfaltete, wobei nicht nur Lehrwerke des Deutschen, sondern - als Vergleichsgröße - auch Lehrwerke des Französischen berücksichtigt werden. Punkt 2 behandelt die petrinische Zeit mit ihren aus einem extremen Lehrbuchmangel resultierenden Problemen und den ersten Versuchen, Unterrichtsmaterialien für den russischen Deutschunterricht zu erstellen. Der dritte Abschnitt stellt die von 1725 bis 1749 verfaßten Sprachlehrbücher der Akademie der Wissenschaften vor, die damals über die wichtigste Typographie des Landes verfugte. Auf die Druckgeschichte einiger dieser Akademiedrucke wird näher eingegangen, da sie zeigt, wie groß der Bedarf an Deutschlehrwerken zu dieser Zeit bereits war und unter welchen Schwierigkeiten sich ihr Druck vollzog. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnten die Druckkapazitäten der russischen Typographien erheblich gesteigert werden, was bei einem rapide wachsenden Bedarf zu einem sprunghaften Anstieg der Lehrbuchproduktion und einer inhaltlichen Ausweitung des Lehrwerksangebots führte. Diese quantitativen und qualitativen Fortschritte beschreiben Punkt 4 und 5. Durch den Vergleich von Produktion und Absatz der Lehrwerke für Deutsch und Französisch sollen die in den vorhergehenden Kapiteln getroffenen Aussagen über den allgemeinen Stellenwert der Fremdsprachen Deutsch und Französisch überprüft werden. Trotz des beträchtlichen Zuwachses an Sprachlehrbüchern gelang es auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht, das chronische Lehrbuchdefizit gänzlich zu beheben. Daher wurden im Unterricht weiterhin aus Deutschland importierte Unterrichtsmaterialien und Bücher eingesetzt. Der abschließende sechste Punkt gibt einen Überblick über diese zusätzlichen Lehrmittel aus Deutschland. Aufgrund des Materialreichtums ist es unmöglich, alle im 18. Jahrhundert für den Erwerb des Deutschen verfaßten Lehrbücher einer tiefergehenden Analyse zu unterziehen. Bei der Mehrzahl der Lehrmittel, also den ABCBüchern, Gesprächsbüchern, Lesebüchern u. a., beschränkt sich die Werkbeschreibung daher auf die allgemeineren Angaben zum Werk (Autor, Wirkungsgeschichte, Verwendung, Zielgruppe und Inhalt). Eine Detailuntersuchung wird in Kapitel VIII nur für die wichtigsten Lehrwerke - die Grammatiken - vorgenommen. Auf die Darstellung der allgemeinen Rahmenbedingungen des russischen Deutschunterrichts folgt in Kapitel VII die Untersuchung der inhaltlichen und methodischen Aspekte des Deutschunterrichts. Am Anfang steht eine Analyse der offiziellen Bestimmungen zum Fremdsprachenunterricht. Punkt 1 gibt einen Überblick über die Entwicklung von ,Lehrplänen' für den Deutschunterricht (bzw. allgemeiner den Fremdsprachenunterricht) in Rußland. Punkt 2 führt aus, welche konkreten Vorgaben diese Vorschriften zu den Lehrzielen und Unterrichtsinhalten enthalten und legt Prüfungsanforderungen dar. Punkt 3 stellt im Anschluß daran die wichtigsten fremd-
3. Quellen, Gliederung und Methode
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sprachendidaktischen Theorien und Strömungen des 18. Jahrhunderts vor, und zeigt, wie sich diese konkret im russischen Deutschunterricht dieser Zeit niederschlugen. Zu diesem Zweck werden Beispiele für konkrete Lehrverfahren gegeben und Auszüge aus Lehrbüchern präsentiert. Im Einzelnen geht es um die Fremdsprachenmethodik des Jan Arnos Komensky, gesprächsorientierte Methodenmodelle wie die Konversationsmethode, grammatikzentrierte Methodenmodelle wie die Grammatik-Übersetzungsmethode, des weiteren die fremdsprachendidaktischen Ansätze der Philanthropen sowie schließlich um die in den russischen Volksschulen praktizierte sogenannte Normalmethode. Auch dieses Kapitel zielt unter anderem darauf ab, genauere Kenntnisse über damalige Unterrichtsabläufe und -inhalte zu gewinnen. Allerdings kann ein solcher Rekonstruktionsversuch - dies sei vorab betont - angesichts der geringen Zahl der Quellen nicht mehr als eine nur ungefähre Annäherung an historische Unterrichtsrealitäten sein. Da explizite Äußerungen von Zeitgenossen über die reale Unterrichtspraxis selten sind, können sich Untersuchungen dieser Art im wesentlichen nur auf solche Quellen stützen, die nicht den Ist-Zustand beschreiben, sondern Soll-Bestimmungen bzw. Vorschläge zu möglichen Unterrichtsinhalten und -methoden geben. Gemeint sind offizielle Schulrichtlinien wie Schulreglements, Lehrpläne und Methodenvorschriften, die die Unterrichtsinhalte und -methoden mehr oder weniger verbindlich festlegen. Aufschluß über den im Unterricht zu behandelnden Stoff und die Methoden seiner Vermittlung geben außerdem die Lehrbücher, in denen ihre Autoren ihre methodischen Konzeptionen gelegentlich explizit in den Vorworten darlegen. Ergänzend wurden einige wenige selbständige, von Lehrwerken unabhängige Schriften ausgewertet, in denen sich russische Gelehrte mit fremdsprachendidaktischen Fragen auseinandergesetzt haben. Den sprachwissenschaftlichen Schwerpunkt dieser Arbeit bildet Kapitel VIII. Es präsentiert vor allem eine erste germanistische Untersuchung der im 18. Jahrhundert in Rußland bzw. für den Sprachunterricht für Russen gedruckten Grammatiken des Deutschen, analysiert diese aber auch in didaktisch-methodischer Hinsicht. Im ersten Punkt werden die Grammatiken einer sprachhistorisch-linguistischen Analyse unterzogen. Mit einem Überblick über Inhalt und Aufbau der Grammatiken, auf den Detailuntersuchungen der Darstellung des Substantivs und des Verbs folgen, sollen die Quellen der in Rußland verfaßten Grammatiken des Deutschen ausfindig gemacht und grammatikographische Entwicklungen aufgedeckt werden. Das zweite Teilkapitel analysiert die methodisch-didaktische Anlage der Grammatiken und geht der Frage nach, was diese Grammatiken als Fremdsprachengrammatiken für russische Deutschlerner auszeichnet. Zu diesem Zweck werden Methodenelemente beschrieben, die den Charakter
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I. Einleitung
der Grammatiken als Fremdsprachenlehrwerke ausmachen. Dabei geht es u. a. um Fragen der Stoffauswahl, der Progression und der Darbietimg des Stoffes. Zum Abschluß werden das in den Grammatiken verwendete sprachliche Material sowie die angebotenen Arbeits- und Übungsformen untersucht. Die Beschreibung der den Grammatiken - und damit auch dem Grammatikunterricht - zugrundeliegenden methodischen Konzeptionen verfolgt zwei Ziele: Zum einen soll sie die fremdsprachendidaktischen Speziflka der Grammatiken ermitteln und dadurch aufzeigen, inwiefern sich die russischen Grammatiken des Deutschen von ihren in der Regel nicht primär für den Fremdsprachenunterricht bestimmten Vorlagen aus Deutschland unterscheiden. Zum anderen soll sie Aufschluß über die praktizierten Lehr- und Lernverfahren im Grammatikunterricht geben.
II. Deutsch im ostslavischen Raum (11.- 17. Jh.) Zu intensiveren Begegnungen zwischen Deutschen und Russen1 ist es vor dem 18. Jahrhundert in drei verschiedenen Räumen und Perioden gekommen: im Kiever Reich vom 11. bis zur ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts, in der Novgoroder Bojarenrepublik seit Ende des 12. bis Ende des 15. Jahrhunderts sowie im Großfürstentum Moskau seit dem 15. Jahrhundert. Diese Beziehungen sind ausführlich beschrieben worden, sowohl in ihren politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Dimensionen als auch in Bezug auf die Frage, was die eine Seite von der jeweils anderen wußte, wie man sich gegenseitig wahrnahm und welche Vorstellungen die Russen von den Deutschen und die Deutschen von den Russen entwickelten.2 Mit Verweis auf die vorliegenden Forschungen soll der beziehungsgeschichtliche Kontext im folgenden nur jeweils ganz kurz skizziert werden, wenn danach gefragt wird, welche Auswirkungen diese Begegnungen in sprachlicher Hinsicht hatten. Denn mit den zahlreichen Berührungen zwischen DeutUm die Darstellung zu vereinfachen, wird in dieser Arbeit verallgemeinernd von deutsch, Deutsch, Deutschen und Deutschland bzw. russisch, Russisch, Russen und Rußland gesprochen. Tatsächlich bezeichnen die Begriffe die historischen Gegebenheiten jedoch nur ungenau. Ein deutscher Nationalstaat existierte in den hier behandelten Zeiträumen bekanntlich noch nicht und zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörten zeitweise auch Italien, die Niederlande, Kroatien und Böhmen. Andererseits siedelten Deutsche auch in Bereichen, die nicht zum Reich gehörten, etwa im Baltikum oder in Preußen. Als Deutsche werden in dieser Arbeit jene Personen bezeichnet, deren Muttersprache Deutsch ist, wobei Deutsch als Oberbegriff für alle dialektalen Varietäten des Deutschen verwendet wird. Der Terminus Deutschland wird verallgemeinernd für die deutschen Fürstentümer verwendet. Entsprechend müßte für Rußland genauer unterschieden werden zwischen der Kiever Rus' (9.-13. Jahrhundert), Groß-Novgorod und Pskov (als Stadtrepubliken beherrschten sie bis zur Mitte des IS. Jahrhunderts den ganzen russischen Norden) sowie dem Großfllrstentum Moskau (Moskovien), in dem sich seit dem 14. Jahrhundert die Teilfürstentümer zusammenzuschließen begannen. Der Be griff Rußland (Rossija) wurde erst seit dem 15./16. Jahrhundert synonym zu Moskovien verwendet. Als Überblick vgl. die Zusammenfassungen von Angermann (1996), S. 11-24; Stricker (1997b), S. 22-35; Brandes (1997), S. 36-39; Hellmann (1988), S. 13-24. Gesamtdarstellungen bieten das Handbuch der Geschichte Rußlands, Bd. 1: Bis 1613, Bd. 2: 16131856, außerdem Lemke/Widera (1976) und Stökl (1957). Speziell zu den kulturellen Beziehungen vgl. Angermann (1966) und Donnert (1971), (1977). Zu den deutschrussischen bzw. russisch-deutschen Fremdbildern vgl. Keller (1985a); Herrmann (1988) sowie für das 18. Jahrhundert Keller (1987a) und Herrmann (1992a).
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II. Deutsch im ostslavischen Raum ( 1 1 . - 17. Jh.)
sehen und Russen und dem allmählich wachsenden Interesse füreinander kam es unweigerlich zu Sprachkontakt, wovon schon früh ins Russische aufgenommene deutsche (oberdeutsche, später niederdeutsche) Lehnwörter zeugen. 3 Wer miteinander Handel trieb, Ehen einging oder ausländische Handwerker in seinen Dienst nahm, ja selbst wer miteinander Krieg führte, der mußte sich mit seinen Partnern in irgendeiner Form verständigen können. Das heißt, er mußte entweder Dolmetscher oder Übersetzer zur Verfügung haben, auf eine beiden verständliche Drittsprache (z. B. Latein) zurückgreifen können oder aber am besten selbst die Sprache seines Gegenübers erlernen. Der Frage, in welchem Maße Deutsche und Russen vor dem 18. Jahrhundert Russisch bzw. Deutsch gelernt haben, hat sich jüngst Helmut Glück in verschiedenen Arbeiten gewidmet. 4 Das folgende Kapitel soll zeigen, daß die deutsche Sprache in Rußland schon sehr früh erlernt wurde, wenngleich sich seine Kenntnis auch noch lange auf einen überaus kleinen Kreis von Menschen beschränkte. Nichtsdestoweniger wurden schon durch diese anfangliche Verbreitung Voraussetzungen für die spätere Popularisierung der deutschen Sprache und Kultur in Rußland geschaffen. Die ersten engeren Kontakte zu Westeuropa und darunter auch zum deutschsprachigen Raum bauten die Kiever Großfürsten durch Eheschließungen zwischen Rurikiden und Angehörigen westeuropäischer Geschlechter auf.5 Dabei siedelte außer den Fürstenkindern häufig auch deren Gefolge ins jeweils andere Land über. Man wird davon ausgehen dürfen, daß die an diesem Austausch beteiligten Personen mitunter auch die Sprache ihrer Partner erlernten. Ein konkreter Hinweis auf solche Sprachkenntnisse liegt im Falle des Kiever Fürsten Vsevolod Jaroslaviö (1078-1093) vor, der nach Angaben seines Sohnes Vladimir Monomach fünf Sprachen gesprochen haben soll, darunter neben Latein und Griechisch höchstwahrscheinlich auch Deutsch.6 Zu Sprachkontakt kam es in dieser Periode außerdem durch die sich intensivierenden Handelsbeziehungen auf dem Handelsweg von Kiev über Krakau und Prag nach Regensburg. Dieser Kontakt führte zur Aufnahme einiger bairisch-althochdeutscher Wörter ins Ostslavische. Beispiele sind Handelsausdrücke wie vaga ['Waage'] und myto ['Zoll' = bair. 'Maut'] und Termini aus dem religiösen Bereich wie altar, krest ['Kreuz'] oderpop. 1 3
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Zu dem vor dem 18. Jahrhundert ins Russische aufgenommenen deutschen Lehngut vgl. Gardiner (1965), Thomas (1978), zahlreiche Beispiele bei Stark (1995), S. 279-287. Vgl. Glück (2002), S. 276-290; außerdem Glück (1997), S. 256ff. Die Töchter von Jaroslav VladimiroviC, ,dem Weisen', (1036-1054) beispielsweise waren Königinnen von Frankreich, Norwegen und Ungarn, seine Söhne hatten deutsche Frauen. Jaroslavs Enkelin Evpraksija wurde mit dem römisch-deutschen Kaiser Heinrich IV. vermählt. Zu den Beziehungen der Kiever Rus' und dem deutschprachigen Raum vgl. Müller (1988). Suchomlinov (1854), S. 200. Stark (1995), S. 280.
II. Deutsch im ostslavischen Raum ( 1 1 . - 1 7 . Jh.)
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Nach dem Untergang des Kiever Reichs, das Anfang des 13. Jahrhunderts unter dem Ansturm der ,Goldenen Horde' zusammenbrach, fand der westliche Teil Rußlands allmählich Anschluß an Litauen und Polen, wohingegen der großrussische Osten vom übrigen Europa weitgehend isoliert wurde. Engere Kontakte zwischen dem großrussischen Raum und dem Abendland bestanden bis in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts nur durch die Hansebeziehungen zu der Bojarenrepublik Novgorod, die vom Einfall der Mongolen und Tataren verschont geblieben war und während des 13. und 14. Jahrhunderts den ganzen russischen Norden beherrschte. 8 Außer zu Novgorod besaß die Hanse seit Ende des 12. Jahrhunderts auch Handelsbeziehungen zu einigen anderen nordwestrussischen Städten wie Pskov [Pleskau], Smolensk und Vitebsk. Nur in Novgorod jedoch wurde mit dem sogenannten ,deutschen H o f [auch ,Peterhof ] eine eigene Handelsniederlassung eröffnet. Sie bestand seit 1192 und war nicht weniger bedeutend als die Hansekontore in Brügge, London und Bergen. Seine intensivste Phase erlebte der hansisch-russische Handel im 14. und in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts, als sich zeitweise bis zu 200 deutsche Kaufleute in Novgorod aufhielten. Diese Blütezeit endete mit der Einverleibung Novgorods in das Moskauer Großfürstentum im Jahr 1478, nach der das Handelskontor nur noch mit Unterbrechungen fortbestand (bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts), aber nie mehr seine frühere Bedeutung erreichte. Am Beispiel des hansischen Rußlandhandels ist zu sehen, wie man schon sehr früh versuchte, das Verständigungsproblem mit den Russen systematisch und in diesem Fall politisch - zu regeln:9 Die Hanse instrumentalisierte den Fremdspracherwerb zur Erlangung eines Monopols über den Rußlandhandel. Nur Hansekaufleute sollten das Recht haben, Russisch zu erlernen. So wurde schon 1268 in einem Vertrag mit dem Novgoroder Fürsten Jaroslav Jaroslaviö vereinbart, junge niederdeutsche Kaufleute, sogenannte sprakelerer, nach Rußland zu schicken, damit sie die dortige Landessprache erlernten. Eine Novgoroder Willkür von 1346 legte fest, daß die sprakelerer nicht älter als zwanzig Jahre zu sein hatten. Nicht-niederdeutsche Kaufleute „versuchte die Hanse [...] durch das strikte Verbot, Russisch zu lernen, aus dem Handel mit Rußland zu verdrängen",10 und gegen Personen, die nicht-hansischen Kaufleuten verbotenerweise Russisch beibrachten, verhängte sie stattliche Geldstrafen. 11 Ob sich diese rigorosen Maßnahmen auszahlten und hansische Kaufleute
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Zu den Beziehungen der Hanse zu Rußland vgl. z. B. Angermann (1966); (1987); (1991); (1996); Angermann/Endell (1988); Donnert (1971); Johansen (1953); OstenSacken (1907); Rennkamp (1977); Rybina (1984). Zur Sprachkenntnis der Hanseaten und der russischen Hansekaufleute vgl. Glück (2002), S. 263-290; Stieda (1884); S. 158f.; Donnert (1971); S. 134f.; Peters (1987), S. 82f. Glück (2002), S. 280. Ebd., S. 280f.
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den gewünschten Erfolg im Russischlernen hatten, läßt sich kaum sicher nachweisen. 12 Daß sich Deutsche und Russen in Novgorod jedoch wenigstens in den Grundfragen des alltäglichen (Miteinander-)lebens und -handelns verständigen konnten, „nicht nur beim Abschluß von Handelsgeschäften, sondern auch dann, wenn ein Abschluß zu begießen war", davon wird man mit Glück ausgehen dürfen. 13 Die frühesten uns bekannten Russischlehrbücher für Deutsche entstanden im Kontext dieser Handelsbeziehungen während des 16. und 17. Jahrhunderts. 14 Zu ihnen zählen u. a. das hochdeutsch-russische Gesprächsbuch von Thomas Schrowe (1546), 15 Ein Rusch Boeck,16 das von dem Revaler Ratssekretär Laurentius Schmidt zu Papier gebrachte Fragment eines niederdeutschrussischen Sprachführers von 155117 sowie das 1607 in Pskov verfaßte niederdeutsch-russische Gesprächsbuch des Tönnies Fenne, 18 das mit 556 Seiten das umfangreichste dieser Lehrwerke ist. 19 Bei den ausnahmslos handschriftlichen Lehrwerken handelt es sich um zweisprachige (russisch-niederdeutsche oder russisch-hochdeutsche) Gesprächsbücher, die von hansischen Kaufleuten oder Beamten verfaßt wurden, um den für Handels- oder Verwaltungsgeschäfte relevanten Wortschatz zu vermitteln. In Inhalt und Aufbau orientieren sie sich am Muster der im 15. und 16. Jahrhundert weit verbreiteten Gesprächsbücher für den Lateinunterricht: Einem lexikalischen Teil, der nach Sachgebieten geordnet den für den Kaufmann wichtigen Wortschatz zusammenstellt - Fenne fügt ihm auch einige Regeln zur russischen Grammatik bei - folgt in der Regel ein Gesprächsteil, der einzelne Sätze und/oder Dialoge darbietet, mitunter auch Sprichwörter, Briefmuster und Texte religiösen Charakters. 20 Diese Lehrbücher dienten nachweislich den Deutschen zum Erwerb der russischen Sprache. 12
Peters vermutet, daß russische Sprachkenntnisse unter den hansischen Kaufleuten „nur ungenügend verbreitet" waren und „die schriftliche Beherrschung der Sprache [...] nur selten erreicht worden" ist. Vgl. Peters (1987), S. 82. Johansen meint demgegenüber: „Die Knaben [d. h. die sprakelerer - K.K.] [...] wurden oft zu Bojaren auf die Adelshöfe gegeben und lernten hier sicher ein ausgezeichnetes Russisch, auch Lesen und Schreiben" und verweist zur Begründung auf die „ganz vorzüglichen Übersetzungen [...], welche von den Dolmetschern im St. Peterhof oder in den livländischen Hansestädten seit 1268 angefertigt wurden." Vgl. Johansen (1955), S. 283.
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Glück (2002), S. 281. Zu den deutsch-russischen Gesprächsbüchern vgl. v. a. Gernentz (1988); Günther (1965); (1999); Cernjak (1985); Falowski (1994); Hammerich/Jacobson (1961/1970); Johansen (1955). Zu diesem noch nicht veröffentlichten Gesprächsbuch vgl. Alekseev (1974). Ediert von Falowski (1994). Ediert von Johansen (1955). Ediert von Hammerich/Jakobson (1961/1970). Eine Übersicht über die bisher bekannten deutsch-russischen Sprachlehrbücher aus dieser Zeit samt ihrer wissenschaftlichen Editionen gibt Günther (1999). Günther (1965) nennt für das 16. und 17. Jahrhundert allein sechs hochdeutsch-russische bzw. niederdeutsch-russische Gesprächs- bzw. Wörterbücher.
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Ebenso gut konnten die deutsch-russisch bzw. russisch-deutschen Wortgleichungen und Dialoge aber auch von russischen Händlern als Hilfsmittel zum Deutschlernen verwendet werden.21 Daß diese Deutsch bzw. Niederdeutsch lernten, ist sehr wahrscheinlich, denn spätestens seit dem 16. Jahrhundert, als sich der Hansehandel stärker in die Hansestädte Riga, Reval, Dorpat und Danzig verlagerte, wohin die russischen Kaufleute nun ihrerseits Waren ausführten, standen diese selbst vor dem „Problem [...] die Kommunikationsbarriere zu überwinden".22 So wie Glück sicher davon ausgeht, „daß ein erheblicher Teil dieser russischen Fernhändler und ihrer Gehilfen die Sprache ihrer Kunden gelernt haben",23 steht dieser Umstand auch für Angermann/Endell „außer Frage",24 auch wenn diesbezügliche Beweise bisher leider nicht erbracht werden konnten. Im Umfeld der intensiven Handelsbeziehungen kam es seit dem 15. Jahrhundert auch zu engeren kulturellen Kontakten zwischen Novgorod und dem norddeutschen Raum. Schon in den 1430er Jahren waren beispielsweise norddeutsche Baumeister am Palastbau für Erzbischof Evfimij II. (1429-1458) beteiligt. Gegen Ende des Jahrhunderts gelangten erstmals deutsche Druckwerke nach Rußland, die in Novgorod unter Erzbischof Gennadij (1484-1504) übersetzt wurden, einige von ihnen zur Erstellung des ersten vollständigen kirchenslavischen Bibeltextes.25 Gennadij hatte einen Kreis gelehrter Männer um sich versammelt, die „sich erkennbar im Einflußbereich westlichlateinischer Ideen" befanden.26 Zu den Mitgliedern dieses Kreises gehörten zwei Deutsche. Beide stammten aus Lübeck. Der bekannte Drucker Bartholomäus Ghotan kam 1493 zusammen mit mehreren Gehilfen nach Novgorod, höchstwahrscheinlich in der Absicht dort Bücher zu drucken, was sein baldiger Tod jedoch vereitelte. Der andere Deutsche, der Theologe, Arzt und Astronom Dr. Nicolaus Bülow, ging später von Novgorod nach Moskau, wo er seine Übersetzungsarbeiten fortsetzte und Leibarzt des Großfürsten Vasilij III. (1505-1533) wurde.27 21
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Darauf deutet u. a. der Umstand, daß das jüngst von Falowski edierte Rusch Boeck russisch-deutsch, also vom russischen Lemma ausgehend, angelegt ist. Vgl. Günther (1995), S. 237. Glück (2002), S. 282. Ebd. Angermann/Endell (1988), S. 97. Das erste deutsche Druckwerk, das ins Russische Ubersetzt wurde, war vermutlich das 1484 in Lübeck erschienene niederdeutsche Zwiegespräch zwischen dem Leben und dem Tod, das in den 1490er Jahren am Hof von Gennadij übersetzt wurde (Prenie zivota so smert'jü). Als Übersetzer, Vermittler und vielleicht sogar Drucker dieses Werkes gilt Bartholomäus Ghotan. Donnert (1971), S. 139. Durch das von ihm 1534 übersetzte medizinische Werk Gaerde der Suntheit, die älteste erhaltene russische Übersetzung westlicher medizinischer Bücher, die in den folgenden
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Die systematische Anwerbung von ausländischen Spezialisten und planmäßige Ansiedlung von Deutschen im Moskauer Reich begann unter Ivan III. (1462-1505), der den Zusammenschluß der großrussischen Länder im wesentlichen vollendete und als erster Moskauer Großfürst diplomatische Kontakte mit dem Westen aufnahm. Die Moskauer Diplomaten fanden besonders in Italien zahlreiche ausreisewillige Künstler, Techniker und Handwerker. Von 1488 bis 1493 unterhielt Ivan III. auch zu den Habsburgern diplomatische Beziehungen und ließ in den deutschen Ländern Fachleute für den russischen Dienst anwerben. So könnte die Übersiedlung des Druckers Gothan nach Novgorod auf eine Anwerbung durch Diplomaten zurückgehen. Sicher bezeugt ist, daß der Arzt Bülow von Diplomaten aus Rom nach Novgorod eingeladen wurde. Ihrer beruflichen Herkunft nach waren die deutschen Fachleute, die gemeinsam mit anderen Ausländern gegen Ende des 15., Anfang des 16. Jahrhunderts von Rußland angeworben wurden, vor allem Ärzte, Spezialisten für die Erzgewinnung und die Herstellung von Waffen, Soldaten, Baumeister, Handwerker sowie Gold- und Silberschmiede. An Vertretern dieser Berufe herrschte konstanter Bedarf, so daß sie auch in der Folgezeit im Moskauer Reich ständig präsent waren, obwohl die Hanse versuchte, diese Spezialisteneinwanderung möglichst zu verhindern. Zahlenmäßig noch stärker vertreten waren unter den seit dem 16. Jahrhundert dauerhaft in Rußland lebenden Deutschen die Livländer deutscher Abstammung, die während des Livländischen Krieges (1558-1583) unter Ivan IV., dem Schrecklichen', (1533-1583), nach Rußland verschleppt wurden.28 Unter anderem wurde die gesamte, fast ausschließlich deutsche Einwohnerschaft Dorpats nach Rußland deportiert. Die Baltendeutschen wurden von Ivan IV. systematisch umgesiedelt. Diejenigen, die bereit waren, in den russischen Dienst zu treten, durften sich in Moskau niederlassen, die anderen wurden auf verschiedene Provinzstädte (u. a. Vladimir, Niznyj Novgorod und Kazan') verteilt.29 Auf diese Weise entstanden die ersten Ausländerviertel, die sogenannten nemeckie slobody.30 In diesen Vorstädten lebten jedoch, anders als die
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Jahrhunderten in veränderter Form zu einer Art von medizinischem Volksbuch wurde, machte er die Russen mit der westeuropäischen Heilkunst vertraut. Zu Bülow vgl. OvCinnikova/Cumakova (1998). Zur Anwerbung oder Verschleppung von livländischen Deutschen (Deutschbalten) nach Rußland im 16. und 17. Jahrhundert vgl. Wiegrefe (1997), S. 11-15. Mit der Ansiedlung der livländischen Kaufleute in Handelszentren wollte Ivan IV. vermutlich den russischen Fernhandel vorantreiben, namentlich denjenigen auf dem Wolgaweg, der 1552 durch die Eroberung der Tataren-Chanate Kazan' und Astrachan (1556) dem russischen Herrschaftsbereich einverleibt worden war. Vgl. Angermann (1996), S. 15. Zur Geschichte der Ausländervorstädte vgl. Angermann (1996), S. 15; Kovrigina (1998); Bogojavlenskij (1947); Sommer (1941), (1990); speziell zur Sloboda in Niinyj Novgorod Falke u. a. (1995).
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häufig vorgenommene Übersetzung 'deutsche Vorstadt' nahezulegen scheint, keineswegs nur Deutsche, sondern überhaupt alle Westeuropäer, also auch Holländer, Engländer, Schotten, Schweden, Spanier u. a. Sie alle bezeichnet das Russische bis etwa zur Mitte des 17. Jahrhunderts als nemcy, d. h. als Stumme, des Russischen Unkundige [höchstwahrscheinlich vom Wortstamm nem-, 'stumm', 'undeutlich sprechend']. 31 Die älteste und bedeutendste deutsche Siedlung in Rußland formierte sich in der Ausländervorstadt in Moskau, die schon seit den 1540er Jahren existierte. Durch die Ansiedlung der Baltendeutschen wurde die deutsche St. Michaelis-Gemeinde so groß - sie soll Anfang des 17. Jahrhunderts 4000 Mitglieder gehabt haben 32 -, daß sie 1576 die Erlaubnis zur Einrichtung einer Kirche erhielt, bei der vermutlich auch Schulunterricht stattgefunden hat. 33 Unter Zar Boris Godunov (1598-1605), der besonders den Deutschen gegenüber aufgeschlossen war, die Niederlassung nützlicher Ausländer in Moskau forderte und auch den in Provinzstädten lebenden Livländern die Möglichkeit gab, nach Moskau überzusiedeln, blühte die Gemeinde auf. Im Jahr 1600 gestattete ihr Godunov sogar, einen eigenen Lehrer aus Deutschland zu berufen. 34 Die Deutschen waren im Moskauer Staat nicht nur als tüchtige Handwerker, Ärzte und Kaufleute willkommen. Seitdem sich Rußland verstärkt dem Westen öffnete - mit der Einrichtung des Posol'skij prikaz ['Gesandschaftsamt'] im Jahr 1549 existierte in Moskau erstmals ein Außenministerium benötigte man die sprachkundigen Deutschen auch als Mittler im Verkehr mit ausländischen Staaten. 35 Nichtsdestoweniger gab es in jenen Zeiten auch schon unter den Russen mehrsprachige Diplomaten, Dolmetscher und Übersetzer, die neben dem Lateinischen und Griechischen moderne Fremdsprachen (vor allem Deutsch, aber auch Schwedisch, Polnisch, Persisch und Türkisch, seltener Französisch) beherrschten. 36 Des Deutschen kundig waren im 16. Jahrhundert beispielsweise die Dolmetscher und Übersetzer Grigorij Istoma und Vlasij, die 31
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Zur Ethymologie der Begriffe nemec, nemeckij vgl. z. B. Herrmann (1988), S. 25f., 129, 155, 196 und 249. Wiegrefe (1997), S. 14. Fechner (1876), S. 90. Vgl. Amburger (1984), S. 1. Vermutlich ist es dieser Lehrer, der zwei Jahre später mit 30 Schillern an der Beerdigung eines in Moskau zu Tode gekommenen dänischen Prinzen teilnahm. Vgl. Cvetaev (1889), S. 2. Insbesondere Godunov schenkte einigen Deutschen großes Vertrauen. So sollte beispielsweise der Deutschbalte Reinhold Beckmann als Kurier des Zaren in England heimlich dessen Beziehungen zu anderen Staaten erkunden. Der aus Wenden nach Moskau Ubergesiedelte Goldschmied Klaus von Bergen führte in Riga 1599 im Auftrag des Zaren Geheimverhandlungen über die Unterwerfung Rigas unter das Zepter Moskaus. Vgl. Angermann (1996), S. 16. Zum folgenden vgl. Suchomlinov (1854), S. 193f.
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Diplomaten und Dolmetscher Afanassi FedoroviC Kuricyn,37 Dmitrij Söerbatov, IvaSko Davydov sowie der Bojar und Diplomat Fedor Pisemskij, der im Jahre 1558 in livländische Gefangenschaft geriet und mit seinen Fremdsprachenkenntnissen großes Erstaunen erregte: [Pisemskij] konde velerlei sprake als Latin, Grekisch, Polnisch, Russisch und tom deile Frantzosisch und Dutsch, ein wiser, vorstendiger mann, des men sych ock vorwunderde. 3 8
Der bekannteste Fremdsprachenspezialist jener Periode war der Gelehrte, Dolmetscher und Diplomat Dmitrij Gerasimov, der über hervorragende Deutsch- und Lateinischkenntnisse verfügte und aus diesen Sprachen auch mehrere Bücher ins Russische übersetzt hat. 39 Auf welche Weise diese Männer moderne Fremdsprachen erlernten, ist angesichts des Mangels an überlieferten Quellen und ihrer geringen Erforschimg nicht mit Sicherheit zu sagen. Zum einen bestand natürlich die Möglichkeit, Deutsch bei den zeitweilig oder ständig in Rußland lebenden Deutschen zu erlernen.40 Zum anderen scheint es seit dem 16. Jahrhundert aber auch schon von staatlicher Seite aus Versuche gegeben zu haben, die Ausbildung von Fremdsprachenspezialisten zu fördern, da diese angesichts der sich intensivierenden Auslandskontakte in zunehmendem Maße benötigt wurden. So soll es in Moskau schon in dieser Zeit Griechisch- und Lateinschulen für Bojarensöhne gegeben haben.41 Pläne für die Einrichtung von Schulen für moderne Fremdsprachen, wie sie Ivan IV. und Boris Godunov hegten, konnten vorerst nicht in die Tat umgesetzt werden.42 Die einzige Schule, an der Russen damals 37 38
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Vgl. LychaCev (1946), S. 49. So aufgezeichnet von Johannes Renner in seinem Warha/tigefnJ und gründliche[n] bericht der krigs und anderer handlung, so vom jare der gepurt unseres Heilands und seligmachers Jhesu Christi der weiniger zall 56 bisz zum zwei und sechtzigtsen in Lißande mit dem Moscowiter, auch andern herrn, potentaten und Stenden daselbst sich begeben [...], der von P. Karstedt als Livländische Historien 1556-1561 publiziert wurde. Vgl. Renner (1953), S. 47. In den 1580er Jahren wurden Pisemskij als diplomatischer Vertreter Moskaus nach Polen und England entsandt. Vgl. Arakin (1958), S. 243. Savva (1914) berichtet auf Grundlage der Memoiren des Polen Maskiewisz, der Bruder des Bojaren Fedor Golovin habe bei einem Deutschen in Moskau heimlich Deutsch und bei einem Polen Latein gelernt und Bücher in diesen beiden Sprachen hinterlassen. Berkov vermutet, daß es sich dabei um Vladimir Vasil'jeviC Golovin handelt. Vgl. Berkov (1962), S. 358, Anm. 3. Vgl. Arakin (1958), S. 245f. Ivan IV. soll, wie der kaiserliche Rußlanddiplomat Daniel Prinz von Buchau berichtet, beabsichtigt haben, in Pskov und Novgorod höhere Lehranstalten einzurichten „in quibus juventus Rhutenica in linqua latina et germanica instituatur". Boris Godunov hatte vor, in Rußland „höhere Lehranstalten, an denen neuere Sprachen gelehrt werden sollten", zu gründen, und sandte im Jahr 1600 zu diesem Zweck sogar einen Deutschen, Johann Kramer, nach Deutschland, um Professoren anzuwerben. Godunovs Plan scheiterte Berkov zufolge am Widerstand der reaktionären Geistlichkeit. Zu Ivan IV. vgl. Donnert
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Deutsch gelernt haben könnten, war die Schule der deutschen Gemeinde in der Ausländervorstadt. Eine andere Möglichkeit des Fremdsprachenstudiums, die sich jedoch nur ganz wenigen Privilegierten bot, war das Auslandsstudium. Dmitrij Gerasimov lernte das Deutsche in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts während seines Studiums an einer .hohen Schule' in Livland, das über ein für die damaligen Verhältnisse überdurchschnittlich gut ausgebautes Schulund Bildungssystem verfügte.43 In Deutschland tauchten die ersten russischen Studenten in den 1490er Jahren auf, als sich die zwei aus Novgorod bzw. Pskov stammenden Studenten Sil'vestr Maloj und Georgius Polman an der Universität Rostock immatrikulierten.44 Die nächsten Hinweise auf den Aufenthalt russischer Studenten an deutschen Universitäten liegen erst wieder in Bezug auf die Mitte des 16. Jahrhunderts vor: Ein Verwandter von Michail Lykov sei „zum Studium nach Deutschland [...] geschickt worden, und da eignete er sich gut die deutsche Sprache und Schrift an [...]: denn er weilte dort, indem er studierte, viele Jahre und bereiste das ganze deutsche Land".45 Anfang des 17. Jahrhunderts schickte Boris Godunov als erster Zar ein gutes Dutzend junger Adliger offiziell zum Studium nach England, Frankreich und Deutschland. Er hatte mit dieser Maßnahme jedoch wenig Erfolg - nur einer der Stipendiaten kehrte nach Rußland zurück.46 Während der Kämpfe der ,Zeit der Wirren' (1604-1613) [smutnoe vremja], als nach dem Aussterben der Rurikiden-Dynastie mehrere von Polen aus ge-
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(1971), S. 143. Zu Godunov vgl. Brückner (1879), S. 199; Arakin (1958), S. 246; Berkov (1962), S. 364. Gerasimov stammte höchstwahrscheinlich aus Pskov oder Novgorod. Aus Livland zurückgekehrt gehörte er zusammen mit seinem älteren Bruder Gerasim Popovka Ende der 1480er Jahre zum Kreis jener Gelehrter, die Erzbischof Gennadij in Novgorod um sich versammelt hatte. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts unternahm Dmitrij Gerasimov wichtige diplomatische Reisen, so auch an den Hof des Papstes, wo er als hervorragend gebildeter Mann mit seinen glänzenden Deutsch- und Lateinischkenntnissen großes Aufsehen erregte. Vgl. LichaCev (1946/1967), S. 49; Donnert (1971), S. 141f. Ober diese beiden ersten russischen Studenten in Deutschland und die Gründe, die sie bewogen, in Deutschland zu studieren, sind verschiedenartige Vermutungen geäußert worden. Angermann/Endell glauben, daß die beiden aus dem Gennadij-Kreis stammen, und daß Gennadij sie „auf das Anraten Nicolaus Bülows, der an der hansischen Universität Rostock studiert hatte, [...] dorthin entsandte, um sie flir eine spätere Teilnahme an den Novgoroder literarischen Unternehmungen zu qualifizieren". Angermann/Endell (1988), S. 111; ebenso bei Donnert (1971), S. 143. Als erster nachgewiesen hat die beiden Studenten Raab (1955/56), S. 359f. (mit weiteren Hypothesen). A. M. Kurbiskij (1528-1583), zit. bei Platonov, S. F., Moskva i Zapad, Berlin, 1926, S. 34, zit. nach Rüß (1988), S. 188. Donnert verweist außerdem auf den Studenten Ivan Aleksandrov, der zur gleichen Zeit zu einem mehrjährigen Studienaufenthalt nach Deutschland aufbrach und später in Tübingen nachzuweisen ist. Vgl. Donnert (1971), S. 143. Vgl. Arcen'ev (1887); Brückner (1879), S. 172.
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lenkte falsche Thronprätendenten die Herrschaft in Rußland zu erringen suchten und polnische Truppen von 1610 bis 1612 Moskau besetzt hielten, wurde die Moskauer deutsche Vorstadt zerstört (1610/11); ein Teil der Deutschen verließ daraufhin Rußland. Mit der Rückeroberung Moskaus und der Wahl des ersten Zaren aus dem Hause der Romanovs erlangten die Russen im Jahr 1613 die Macht zurück. Unter der neuen Romanov-Dynastie gab es im Anschluß an die ausländische Intervention, die mit der ,Zeit der Wirren' verbunden gewesen war, anfangs eine fremdenfeindliche Reaktion. Zar Michail FedoroviC (1613-1645) verhängte ein Auslandsreiseverbot für junge Russen, weil er - wie das Beispiel der von Godunov entsandten Studenten zeigt, zu Recht - befürchtete, die einmal in die Freiheit entlassene Jugend könne nicht zurückkehren. 47 Dann aber setzten sich die Beziehungen zum Westen wieder in gewohnter und sogar intensivierter Weise fort. Auch Michail benötigte ausländische Spezialisten für Heer und Hof, Soldaten für den Krieg gegen Polen-Litauen, Fachleute für den Bergbau, Künstler, Kunsthandwerker, Dolmetscher, Übersetzer und andere Experten. Die Deutschen, die wie zuvor aus Nord-, jetzt aber auch in verstärktem Maße aus Mitteldeutschland kamen, und die anderen Westeuropäer (vor allem Holländer, Engländer und Schotten) lebten nach der Smuta zunächst in verschiedenen Stadtteilen Moskaus. Insgesamt zählte Moskau in den 1630er Jahren rund tausend ausländische Haushaltungen. 48 Die ersten Regierungsjahre des Zaren Aleksej MichajloviC (1645-1676), dem Vater Peters des Großen, waren von sozialen Unruhen, Fremdenfeindlichkeit und Furcht vor Spionage gekennzeichnet, was zu einer vorübergehenden Ausweisung der Ausländer aus der Stadt führte. Da jedoch die Ausländer für Rußland inzwischen unentbehrlich geworden waren, wurden sie seit 1652 aufs neue ins Land geholt und in einer neuen Ausländervorstadt angesiedelt. 49 Diese entwickelte sich alsbald zu einem wahren Klein-Europa, oder, wie es Alexander Brückner formuliert hat, zu einer „Art Hochschule für die höheren Kreise der russischen Gesellschaft". 50 Nicht nur Zarewitsch Peter ging hier später aus und ein,51 auch andere hochgestellte Persönlichkeiten 52 und politisch Interessierte und sogar das einfache Volk nutzten die Vorstadt als „schier
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Brückner (1879), S. 172. Brandes (1997), S. 38. Zu den Umständen der Neugründung vgl. Baron (1988). Zur Entwicklung der neuen nemeckaja sloboda bis einschließlich des ersten Viertels des 18. Jahrhunderts vgl. Kovrigina (1998a); (1998b) mit ausführlichen Angaben zu den dort lebenden Deutschen. Zit. nach Rüß (1988), S. 195, Anm. 21. Vgl. Kap. III, Punkt 1. Als Beispiel sei Fürst Vasilij VasiPeviC Golicyn (1643-1714) genannt, der während der Zeit der Regentschaft Sofias (1682-1689), der Halbschwester Peters, maßgeblichen Einfluß auf die Staatspolitik ausübte. Es wird angenommen, daß Golicyn, der als Westler gilt, auch Deutsch sprach. Vgl. RUß (1988), S. 181, 212ff.
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unerschöpfliche Informationsquelle"53 über die westliche Welt. Derartige Begegnungen führten dazu, daß die russische Oberschicht vermehrt westeuropäische Sitten und Gebräuche übernahm, was Aleksej Michajloviö jedoch zu unterbinden suchte. 1675 erließ er einen diesbezüglichen Ukaz, der verbot, die Gewohnheiten der Deutschen und anderer Ausländer nachzuahmen, sich die Haare nach ausländischem Vorbild kürzen zu lassen oder Kleidung und Hüte ausländischen Modells zu tragen.54 „Die ausdrückliche Hervorhebung deutscher Gebräuche kann", wie Hübner betont, „als Fingerzeig auf die besondere Anziehungskraft dieser Sitten gelten". 55 Daß deutsche Sitten besondere Aufmerksamkeit auf sich zogen, erstaunt kaum, denn wie schon früher dominierten die Deutschen auch in der neuen Ausländervorstadt zahlenmäßig die Holländer, Engländer und sonstigen westlichen Ausländer. Sie prägten dort nicht nur die allgemeinen Verhaltensweisen, auch sprachlich gaben sie den Ton an, denn das Deutsche, bzw. eine Mischung „hoch- und niederdeutsche[r] Sprachelemente" 56 fungierte als Verkehrssprache innerhalb der Sloboda. Anwohner nichtdeutscher Abstammung sahen sich genötigt, diese „vorzüglich für den Handel notwendig[e]" Sprache zu lernen. 57 In der neuen Vorstadt entwickelte sich ein reges kulturelles Gemeindeleben. Jede Gemeinde hatte ihre eigene Schule: neben zwei, zeitweise drei evangelisch-lutherischen Schulen58 bestanden die Schule der seit 1635 in Moskau bezeugten Reformierten Kirche sowie ab 1684 die von Jesuitenpatres geführte Schule der katholischen Gemeinde.59 Die erfolgreichste Schule dürfte die Schule der sogenannten Neuen Gemeinde gewesen sein, die sich 1626 von der alten St. Michaelis-Gemeinde abgespalten hatte. An ihr existierte auch das von Gemeindepastor Johann Gottfried Gregorii (1631-1675) 60 ins Leben gerufene erste moderne Theater Rußlands, das auf Geheiß des Zaren gegründet worden war und geistliche Komödien in deutscher und russischer Sprache, „einem grauslichen Gemisch aus Deutsch und schlechtem Russisch", aufführte. 61 53 54 55 56 57 58
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Rüß (1988), S. 195. Polnoe sobranie zakonov (PSZ), Bd. 1, Nr. 607, zit. nach Hühner (1992), S. 80. Hubner (1992), S. 80. Sommer (1990), S. 36. So der Holländer van Keller im Jahre 1670, zit. nach Stricker (1997a), S. 329. Die dritte Schule gehörte zu der von 1668 bis 1675 bestehenden Baumann-Kirche und wurde 1670 mit der Schule der Neuen Gemeinde vereint. Die Geschichte dieser Schulen sowie der an ihnen tätigen deutschen Lehrer hat jetzt Kovrigina unter Hinzuziehung zahlreicher neuer Archivmaterialien kenntnisreich dokumentiert. Vgl. Kovrigina (2000), S. 6-29. Zu Gregorii und seinem Engagement für das Theater und die Gemeindeschule Uberhaupt vgl. Kovrigina (2000), S. 16ff. RUß (1988), S. 209.
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Gregorii organisierte auch eine „Theaterschule" und hat dort einige junge Russen, Söhne von Behördenbediensteten, zu Tänzern und Musikern ausgebildet. 62 In jeder der Schulen wurden 10-40 Schüler und Schülerinnen in Rechnen und Grammatik (d. h. Latein und Deutsch) unterrichtet, wenn geeignete Lehrer zur Verfügung standen, auch in Geographie und Geschichte.63 Die Gemeindeschulen waren die ersten Schulen in Moskau, von denen mit Bestimmtheit gesagt werden kann, daß an ihnen auch systematischer Unterricht im Deutschen als Fremdsprache stattgefunden hat, denn es ist bekannt, daß dort nicht nur die Kinder der Gemeindemitglieder Unterricht erhielten, sondern - wie z. B. an der Schule der Neuen Gemeinde - auch Söhne „vornehmer Reüßischer Herren" und sogar „allerhand nationen von Pohlen, Tartarn und Türken".64 Cvetaev berichtet, daß an ein und derselben Schule Deutsche, Dänen, Schweizer, Schotten, Engländer, Schweden, Niederländer, Franzosen und Kinder anderer Nationalitäten unterrichtet werden konnten.65 Daß an der Schule der Neuen Gemeinde richtiggehender Unterricht im Russischen stattfand bzw. die Unterrichtssprache Russisch war, wie Bernhagen behauptet, halte ich für unwahrscheinlich.66 Erwiesen ist, daß junge Russen ganz gezielt an diese Schule geschickt wurden, um dort Deutsch zu lernen, so beispielsweise im Jahr 1678 die beiden von der Apotheker-Kanzlei entsandten Knaben S. Larionov und L. Anan'in, die dort die für die Pharmazie und Alchimie notwendigen Deutschund Lateinkenntnisse erwerben sollten.67 Sogar der Zar höchstpersönlich delegierte russische Schüler an die deutsche Schule, damit sie dort die für die Medizin nötigen Fremdsprachenkenntnisse erwarben.68 An der Schule der katholischen Kirche wurden Ende der 1690er Jahre im Auftrag der petrinischen Regierung Söhne des russischen Adels und Behördenbediensteter ausgebildet, darunter Söhne so angesehener Familien wie der Bojaren und Fürsten F. A. Golovin, P. A. Golicyn, G. I. Golovkin, G. F. Dolgorukij, I. A. Musin-Pu§kin u. a. Der Jesuitenpater Johannes Birula unterrichtete sie zunächst im Lateini-
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Ebd. Zum deutschen Theater außerdem Busch (1997), S. 520 und Cvetaev (1889), S. 20f., Anm. 2. Vgl. Kovrigina (2000), S. 12ff. Dies berichtet Pastor Gregorii 1670 in einem Brief an Herzog Ernst von Sachsen-Gotha. Zit. nach Baumann (1957), S. 136. Cvetaev (1890), S. 180. Wenn Bernhagen (1977), S. 85f. darauf hinweist, daß außer den nachweislich an der deutschen Schule beschäftigten deutschen Lehrern auch ein russischer Lehrer zur Einstellung vorgesehen war, ist dies als Argument ftlr die Verwendung des Russischen als Unterrichtssprache wenig stichhaltig, schon allein deshalb, weil russische Lehrer selbst an russischen Schulen noch bis weit ins 18. Jahrhundert hinein auf Lateinisch oder Deutsch und nur selten auf Russisch doziert haben. Vgl. Kovrigina (2000), S. 29, Anm. 48. Cvetaev (1889), S. 23f.
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sehen und später auch im Deutschen, da er der Ansicht war, Deutsch „zu beherrschen sei für die Russen nicht weniger wünschenswert als Latein".69 Die Gemeinden unterhielten intensive Kontakte nach Deutschland und wurden von dort auch gefördert. Besonders gut stand die Schule der Neuen Gemeinde da, die 1668 in Herzog Emst dem Frommen von Sachsen-Gotha einen großzügigen Mäzen gefunden hatte.70 Herzog Ernst, ein auch in seinem eigenen Land an Bildungsproblemen interessierter Landesvater, war als Anhänger der neuen, von Ratke und Komensky ausgehenden Erziehungsmethoden besonders um den Fortgang der Schule bemüht, unterstützte diese finanziell sowie mit Büchersendungen und ließ sich über Unterrichtsmethoden und Lehrmittel sowie die Zusammensetzung der Schülerschaft informieren.71 Die zahlenmäßig größte Gruppe der im 17. Jahrhundert in Rußland lebenden Ausländer bildeten die Militärs. In der Moskauer Ausländervorstadt bestand gut die Hälfte der männlichen Einwohnerschaft aus hohen Offizieren, unter denen die Deutschen vermutlich dominierten. Deutsche Offiziere waren in hohem Maße an der Ausbildung russischer Offiziere und Soldaten beteiligt, worauf auch die frühe Übernahme deutscher Militärbegriffe in die russische Sprache zurückzuführen ist, wie etwa rajtar, dragun, soldat, major, rotmistr und kapitan,72 Nach Angermann stellten die Deutschen zumindest auch noch bei der Berufsgruppe der Dolmetscher und Übersetzer, wahrscheinlich auch bei den Ärzten und Apothekern die Mehrheit.73 So waren die Deutschen nach den Tataren am Posol'skij prikaz die größte nationale Gruppe. Auch im Stab des Apothekerprikazes, der medizinischen Zentralbehörde des russischen Reiches, stellten sie die stärkste Gruppe. Deutsche Mediziner und Apotheker, die von den Zaren nach Rußland gerufen wurden, sorgten seit Mitte des 16. Jahrhunderts kontinuierlich für die medizinische Versorgung des Moskauer Hofes und der Armee und waren seit der Mitte des 17. Jahrhunderts an der Ausbildung russischer Wundärzte beteiligt.74 Größere deutsche Siedlungen gab es im 17. Jahrhundert also in Moskau, den Städten Novgorod und Pskov, den Handelsstädten an der Wolga sowie schließlich in Archangelsk. Im 1584 gegründeten Archangel'sk, das im 17. Jahrhundert die einzige Seehafenstadt Rußlands war, lebten Hamburger und bremische Kaufleute, die sich an der westeuropäischen Weißmeerfahrt beteiligten. Auch sie lebten in einer deutschen Vorstadt, hatten seit den 1680er Jahren eine lutherische Kirche und wurden von Hamburg aus mit Pastoren
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Zit. nach Kovrigina (2000), S. 30. Vgl. ebd., S. 11. Vgl. dazu Baumann (1957), S. 111-136; Bernhagen (1977), S. 85f.; Cvetaev (1889). Amburger (1966), S. 57. Vgl. Angermann (1996), S.19f. Details hierzu bei Amburger (1961b), S. 24-29.
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versorgt.75 Über Deutsche, die es während dieser Epoche im Staatsdienst nach Sibirien verschlug, geben jetzt Rezun/Zuev Auskunft. 76 Nach Schätzungen eines Zeitgenossen lebten 1672, dem Geburtsjahr Peters I., etwa 18000 Deutsche im Russischen Reich.77 * *
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Betrachtet man nun diesen sich über sechs Jahrhunderte hinweg erstreckenden Entwicklungsprozeß der deutsch-russischen Beziehungen im Hinblick auf die Frage, ob Russen infolge der Kontakte zu Deutschen auch deren Sprache erlernt haben, so kann folgendes resümiert werden. In bestimmten Bereichen, in denen es zu engeren Berührungen bzw. zur Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Russen kam, etwa im Bereich der Politik und Diplomatie, dem Hansehandel oder auch im Militär, muß auch gegenseitiger Spracherwerb stattgefunden haben. Für einzelne Herrscher und verschiedene russische Diplomaten und Dolmetscher (seit dem 16. Jahrhundert) sind Deutschkenntnisse nachweisbar. Bei den russischen Kaufleuten kann mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, daß sie die Sprache ihrer Handelspartner zumindest ansatzweise erlernten, zumal Hilfsmittel dafür zur Verfügung standen. Die große Zahl der deutschen Militärexperten im russischen Dienst und die Tatsache, daß diese vielfach für die Ausbildung der russischen Soldaten zuständig waren und spätestens seit dem 17. Jahrhundert deutsche Militärbegriffe ins Russische entlehnt wurden, lassen einen gewissen Verbreitungsgrad der deutschen Sprache auch in diesem Bereich (z. B. als Kommandosprache) vermuten. Intensiver Sprachkontakt ergab sich darüber hinaus in den Ausländervorstädten, in denen eine besondere Mischung von hoch- und niederdeutschen Sprachelementen als Verkehrssprache fungierte, die von den nicht-deutschen Bewohnern der Sloboden und teilweise sicher auch von deren russischen Besuchern erlernt wurde. Ein Beispiel ist Peter I. selbst, von dem es heißt, er habe seine Deutschkenntnisse während seiner häufigen Besuche in der Moskauer Ausländervorstadt erworben. 78 Systematisch gefördert wurde das Erlernen moderner Fremdsprache im damaligen Rußland, das Leibniz im Hinblick auf Schule und Wissenschaften als „tabula rasa" bezeichnet hat, 79 allerdings nicht bzw. nur überaus vereinzelt (man denke an die von Boris Godunov zum Studium ins Ausland geschickten Studenten). Russische Lehranstalten, in denen moderne Fremdsprachen
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Zur nemeckaja sloboda von Archangel'sk vgl. Pec (1998). Rezun/Zuev (1996). Hübner (1992), S. 79. Vgl. Hübner (1992), S. 80ff. Vgl. Benz (1947), S. 28.
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hätten unterrichtet werden können, gab es bis zum Ende des 17. Jahrhunderts nicht.80 Fremdsprachige Bildung war daher ein Privileg weniger Wohlhabender, die sich Privatunterricht81 oder Auslandsstudien leisten konnten. Die einzigen Schulen, in denen Russen Deutsch lernen konnten, waren die Schulen der deutschen Gemeinden in der Moskauer Ausländervorstadt, wo nicht-deutsche Kinder vielleicht schon seit Anfang, erwiesenermaßen aber in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Deutschunterricht erhalten haben.
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Die wenigen schon im 17. Jahrhundert existierenden russischen Lehranstalten unterstanden der Kirche und dienten der Ausbildung des klerikalen Nachwuchses und der Staatsdiener. Als die wichtigsten dieser Einrichtungen sind die Kiever Akademie (gegr. 1632) und die Slavisch-Griechisch-Lateinische Akademie in Moskau (gegr. 1687) zu nennen. Adlige Familien engagierten fllr die Erziehung ihrer Kinder in der Regel Hauslehrer, unter denen schon im 17. Jahrhundert Deutsche waren. Vgl. Amburger (1961c), S. 159.
III. Domänen des Deutschen (18. Jahrhundert) Die von Peter I. in atemberaubendem Tempo vorangetriebene Modernisierung und Reformierung Rußlands, die nach dem Sieg im Großen Nordischen Krieg (1700-1721) außenpolitisch vom Aufstieg Rußlands in die Reihe der europäischen Großmächte flankiert wurde, veränderte das Gesicht Rußlands im 18. Jahrhundert grundlegend. Mit der Übernahme westlicher Ideen, Institutionen und Technologien bei der Reformierung des politischen Apparates, des Verwaltungssystems und des Militärwesens, beim Aufbau neuer Industrien und Wirtschaftszweige sowie bei der Schaffung eines weltlichen Bildungssystems kam es zu einer immer stärkeren Westeuropäisierung des offiziellen Rußlands und insbesondere der Oberschicht.1 Unterstützt und befördert wurde dieser Prozeß in wesentlichem Maße durch die in Rußland lebenden und arbeitenden westlichen Ausländer, unter denen die Deutschen „ein großes, wenn nicht das größte Kontingent" 2 stellten. Ihre Zahl stieg in der petrinischen Zeit sprunghaft an und wuchs im Laufe des 18. Jahrhunderts stetig weiter, was durch die sich während dieser Periode meistens friedlich entwickelnden politischen, dynastischen und wirtschaftlichen Verbindungen zwischen Rußland und den deutschen Ländern (Preußen, Sachsen, Württemberg, Baden, Holstein u. a.) begünstigt wurde.3 Deutsche waren in den wichtigsten russischen Wirtschaftszentren vor allem aber St. Petersburg und Moskau bald in fast allen Lebensbereichen anzutreffen. Dies führte nicht nur dazu, daß sie für Russen zu einer überaus alltäglichen Erscheinung wurden. Die allgegenwärtige Präsenz der Deutschen zog auch intensive sprachliche Kontakte nach sich, die in ihrem historischen Kontext in den folgenden Kapiteln beschrieben werden sollen. Allein in St. Petersburg, der neuen Metropole, die Peter ab 1703 errichten ließ, hatten sich bis Ende der 1780er Jahre zwischen 16000 und 17660 Eine zusammenfassende Charakterisierung der von Peter I. betriebenen Öffnung des Russischen Reiches nach Westen und insbesondere der Einstellung Peters I. zu Deutschland bietet Hübner (1992). Heller (1996), S. 78. Eine Ausnahme stellt der Siebenjährige Krieg (1756-1763) dar, in dem sich Rußland an der Seite von Österreich, Sachsen und Frankreich gegen Preußen stellte. Dabei wurde Ostpreußen dem russischen Reich eingegliedert und im Jahr 1760 Berlin für einige Tage von russischen und österreichischen Truppen besetzt.
III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
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Deutsche bzw. Deutschsprechende niedergelassen. Das waren ca. 8 % der Petersburger Gesamtbevölkerung. 4 In ganz Rußland lebten zu diesem Zeitpunkt bereits mehr als 160000 Deutsche. 5 Ihrer sozialen und geographischen Herkunft nach bildeten die Deutschen drei Gruppen: die sogenannten Stadtdeutschen, nämlich die in Petersburg, Moskau und einigen anderen wichtigen russischen Städten lebenden deutschen Offiziere, Soldaten, Handwerker, Kaufleute, Künstler, Wissenschaftler, Pastoren, Lehrer, Ärzte, Apotheker u. a., zweitens die Baltendeutschen, die seit der Eroberung der baltischen Provinzen im Nordischen Krieg Untertanen der russischen Krone waren, und drittens die Kolonialisten, die unter Katharina II. und Alexander I. (1801-1825) zur Bevölkerung der südrussischen Provinzen ins Land geholt wurden. Allein „zwischen 1788 und 1798 kamen mehr als 140000 deutsche Bauern nach Rußland, die sich im Süden am unteren Dnjepr und am Bug sowie an der Wolga ansiedelten". 6 Da die deutschen Siedler in Südrußland und an der Wolga aufgrund ihrer abgeschlossenen Lebensweise im 18. Jahrhundert im Unterschied zu den Stadtdeutschen und den Baltendeutschen kaum zur Verbreitung der deutschen Sprache beigetragen und in dieser Zeit auch für die Entwicklung des Bildungswesens keine maßgebliche Rolle gespielt haben, anders übrigens als im 19. Jahrhundert, 7 wird in dieser Arbeit nicht näher auf sie eingegangen. Die Stadtdeutschen und die Baltendeutschen, von denen im Laufe des 18. Jahrhunderts viele nach Petersburg und Moskau übersiedelten, übernahmen in den verschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens wichtige Aufgaben: bei Hofe, in Politik und Verwaltung, im Militär, im Gesundheits- und Bildungswesen sowie in Handel, Handwerk und Industrie. Infolgedessen gewann auch die deutsche Sprache immer mehr an Bedeutung. Da die Deutschen, des Russischen meist nicht mächtig, sich in der Regel weiterhin ihrer Muttersprache bedienten, entstanden deutschsprachige Domänen, 8 d. h. institutionalisierte Kontexte, in denen die Interaktion auch mit Nicht-Deutschen weitgehend von den sozialen und sprachlichen Verhaltensweisen der Deutschen bestimmt wurde. In multi- bzw. bilingualen Kommunikationssituationen wurde das Deutsche so Ko-Sprache zum Russischen oder ersetzte es sogar völlig.
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Vgl. Dahlmann (1999), S. 157; Amburger (1986), S. 194; Juchneva (1994), S. 1 lf. Vgl. Kabuzan (1989), S. 22. Gromeva/Kopelew (1994), S. 81. Vgl. hierzu Süß (1998). Domänen sind nach der klassischen Definition Fishmans „institutionalisierte Kontexte oder sozioökologische Kookurrenzen [...], die versuchen, die Hauptgruppen von Interaktionssituationen in multilingualen Gemeinschaften zu bestimmen". Metzler Lexikon Sprache [MLS] (2000), S. 168.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
Die Bildung fremdsprachiger Domänen wurde dadurch begünstigt, daß das Russische selbst bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts hauptsächlich als mündliche Umgangssprache fungiert hatte, eine nur begrenzte schriftsprachliche Tradition besaß (wegen der bis dahin fast ausschließlichen Verwendung des Kirchenslavischen als Schriftsprache) 9 und so auch noch keine literatursprachliche Standardvarietät10 herausgebildet hatte. Im Vergleich zu anderen Literatursprachen wie etwa dem Französischen wies es Anfang des 18. Jahrhunderts somit einen erheblichen Ausbaurückstand auf, d. h. es war weder normiert noch terminologisch differenziert genug, um die modernen Entwicklungen seiner Zeit angemessen darzustellen.11 So war es auch den völlig neuen kommunikativen Erfordernissen, die sich durch den von Peter I. abrupt vollzogenen Anschluß an Europa und die westeuropäische Zivilisation ergaben, nicht gewachsen: Für die Flut neuer Ideen und technischer Errungenschaften, die sich nun über Rußland ergoß, fehlte es im Russischen einfach an passenden Ausdrucksmitteln, insbesondere an fachsprachlicher Terminologie. Dieser Umstand sowie die starke Präsenz ausländischer Spezialisten führte in verschiedenen Funktionsbereichen vor der Verwendung des Russischen zu einem „fremdsprachigen Vorl a u f , gegen den sich die Landessprache erst behaupten mußte. 12 Diese Vorlaufsprachen waren das Deutsche, das Lateinische und Griechische (im Wissenschaftsbereich) sowie das Französische, das „vor allem in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Sprache des Salons und des gesellschaftlichen Verkehrs eine beträchtliche
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Neben dem kirchenslavischen Schrifttum konnte sich nur im Bereich des Verwaltungsschrifttums (Privaturkunden, Verordnungen, amtlicher Schriftwechsel u. ä.) eine eigenständige russische schriftsprachliche Tradition entwickeln. Vgl. Keipert (1984a), S. 457. Unter .Literatursprache' [wörtl. übersetzt von russ. literaturnyj jazyk], wird dem Konzept der Prager Schule zufolge die Standardvarietät einer Sprache verstanden, jene Existenzform der Sprache also, die verglichen mit Dialekt und Umgangssprache „einen größeren Vorrat an Ausdrucksmitteln und deren stilistischen Differenzierung" besitzt. MLS (1993), S. 481; vgl. auch MLS (2000), S. 415. Die Literatursprache ist „polyvalent" und kann so „nahezu alle denkbaren Kommunikationsbedürfnisse einer Nation" befriedigen. Sie besitzt „für solche Zwecke funktional bzw. stilistisch differenzierte Ausdrucksmittel" und verfügt „über eine Norm [...], die in Grammatiken, Wörterbüchern u. ä. kodifiziert und für alle Angehörigen der betreffenden Nation mehr oder weniger verpflichtend ist". Keipert (1984a), S. 444. Die erste russische Grammatik, die normative Wirkung entfaltete, war die Russische Grammatik Michail Lomonosovs von 1755/57. Vgl. Ebd., S. 468. Für die sprachgeschichtliche Entwicklung des Russischen war, wie Keipert (1984a), S. 452 gezeigt hat, dieser Vorlauf deswegen bedeutsam, weil er durch „Kommunikationskonflikte" und patriotisch motivierte „Emanzipationsprozesse" zu einem „immer deutlicheren Bewußtwerden der eigenen Sprache" führte und auf diese Weise „das für Literatursprachen charakteristische Stadium gezielter Normenfestlegung" vorbereitete. Das sprachpflegerische und sprachpolitische Engagement Michail Lomonosovs ist im Bereich des Bildungswesens das beste Beispiel für diesen Prozeß.
1. Hof und Politik
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Rolle spielte". 13 Alle drei Sprachen haben als Muster für die im Russischen neu zu schaffenden Ausdrucksmittel insbesondere bei der Bildung der fachsprachlichen Wortschätze gedient, wobei der Einfluß des Deutschen in den ersten vier Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts am größten war, was an der Vielzahl der in dieser Epoche ins Russische entlehnten Fremdwörter leicht zu erkennen ist. 14 Die frühe Entstehung deutschsprachiger Domänen und die Ausbreitung des Deutschen in den verschiedensten institutionellen, sozioökonomischen bzw. funktionalen Kontexten war einer der wesentlichen Gründe dafür, daß das Deutsche im Rußland des 18. Jahrhunderts zu einer der meist gelernten, wenn nicht überhaupt der meist gelernten Fremdsprache wurde: Für viele Russen, die in den deutsch geprägten Kontexten verkehrten, war die Erlernung des Deutschen einfach unumgänglich, besonders wenn sie beruflich aufsteigen wollten. In den folgenden Abschnitten soll daher erläutert werden, in welchen Funktionsbereichen das Deutsche als Ko-Sprache zum Russischen oder als dessen Vorlaufsprache eine zentrale Rolle gespielt hat.
1. Hof und Politik Eine wichtige Grundlage für die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen im 18. Jahrhundert war die Heiratspolitik der Romanovs, die zu überaus engen dynastischen Verflechtungen zwischen deutschen Fürstenhäusern und der Zarenfamilie führte. 15 Kaum ein Mitglied der kaiserlichen Familie war nicht durch Heirat mit Mitgliedern deutscher Adelsgeschlechter verbunden. Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht wunder, daß auch die deutsche Sprache am Zarenhofe und als Sprache der russischen Diplomatie eine nicht geringe Rolle spielte und zwar dies besonders in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, bevor sich anschließend, der europäischen Mode folgend, weitgehend das Französische als Hofsprache und schließlich auch in der Diplomatie durchsetzte. Obwohl Deutschland nach der Auffassung Hübners im Leben Peters des Großen keine „herausragende Bezugsgröße" darstellte, besaß der Zar zwei13 14
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Keipert (1984a), S. 463. Die meisten Entlehnungen aus dem Französischen stammen dagegen aus dem 19. Jahrhundert. Vgl. Haarmann (1984), S. 502; Hüttl-Worth (1956), S. 10. Auf Initiative Peters I. vermahlten sich: sein Sohn Aleksej mit Charlotte von Braunschweig-Wolfenbüttel, seine Nichte Ekaterina Ivanovna mit Herzog Karl Leopold von Mecklenburg-Schwerin, Anna Ivanovna, eine weitere Nichte, mit dem kurländischen Herzog Friedrich Wilhelm Kettler und schließlich seine Tochter Anna Petrovna mit Herzog Karl Friedrich von Holstein-Gottorp. Vgl. hierzu Hübner (1992), S. 95.
A b b . l : Peter I.
1. Hof und Politik
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felsohne „eine wohlwollende Einstellung gegenüber den Deutschen".16 Diese zeigt sich nicht nur in den von ihm initiierten dynastischen Verbindungen mit deutschen Adelshäusern, sondern spiegelt sich auch in Peters besonderer Wertschätzung deutscher Fachleute und seinem Interesse für deutsche Wissenschaftler und das deutsche Bildungswesen.17 Ganz besonders deutlich aber ist sie in den Bemühungen Peters um die Verbreitung der deutschen Sprache in Rußland zu erkennen, „deren Kenntnis er seinen Untertanen nahelegte, ja zum Teil anbefahl".18 Auch seine eigenen Kinder und Nichten ließ Peter I. in der deutschen Sprache unterrichten, ebenso wie die Kinder anderer hochrangiger Adliger.19 Der Zar selbst soll Zeitgenossen zufolge gute Deutschkenntnisse besessen haben,20 außerdem sprach er Niederländisch, verstand Latein und Französisch und beherrschte Kirchenslavisch.21 Das Deutsche hatte Peter wohl schon als junger Mann bei seinen häufigen Besuchen in der nemeckaja sloboda erlernt.22 Für diese Vermutung spricht, daß sein Idiom in etwa jener Mischung von hoch- und niederdeutschen Sprachelementen entsprach, die unter den Nicht-Deutschen in der Ausländervorstadt zur gegenseitigen Verständigung benutzt wurde.23 Welcher Art dieses Deutsch war, läßt eines der Gespräche des Zaren mit einem preußischen Obristen erkennen, welches im Wortlaut überliefert ist. Auf die Mitteilung des Obersten, der preußische König Friedrich Wilhelm I. sei der Auffassung, „es werde nicht eher besser in Russland werden, als bis man Schulen, Academien und 16 17
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Zum Deutschlandbild Peters des Großen vgl. Hübner (1992), hier S. 83. Der erste ausländische Erzieher des Zarewitsch Aleksej war ein Deutscher, nämlich der 1701 eingestellte Absolvent der Universität Leipzig Martin Neugebauer. Sein Nachfolger wurde 1702 der dem Pietismus nahestehende Absolvent der Utrechter Akademie Baron Heinrich Friedrich von Huyssen. Die Pietisten Ernst Glück und Johann Werner Paus wurden ab 1703 zum Unterricht des Zarewitsch mit herangezogen. Vgl. Kovrigina (2000), S. 46f. und in dieser Arbeit Kap. V, Punkt 2. Hübner (1992), S. 97. Die Nichten Peters I., Ekaterina, Anna und Praskov'ja, erhielten ab 1703 Deutschunterricht von Christoph Dietrich Ostermann, der zuvor in der zarischen Kanzlei fllr fremdsprachige Korrespondenz angestellt gewesen war. 1715 unterrichtete er dann auch die Töchter Peters I., Anna und Elisabeth, in Französisch. Ab 1716 lernten die beiden Deutsch bei einem gewissen Pauffler. In anderen Adelsfamilien ist Deutschunterricht belegt für die Kinder des Fürsten B. I. Kurakin, Aleksandr und Tat'jana, seit 1706 sowie die Söhne des Fürsten P. M. Golicyn im selben Jahr. Die Kinder von Vizekanzler P. P. Safirov unterrichtete seit 1714 ein gewisser Lorenz Braun im Deutschen. Vgl. Kovrigina (2000), S. 47. Vgl. Hübner (1992), S. 81f. Kopelew (1992a), S. 22. Zu Peters Beziehungen zur Ausländervorstadt vgl. Sommer (1957); Hübner (1992), S. 80ff. Vgl. Sommer (1990), S. 36.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
den wahren Gottesdienst einführen werde", antwortete Peter: „Det heb ik lang erkant, mar wo krieg ik die Lüde her?" 24 Peter verwendete diese hoch-/niederdeutsche Mischsprache auch in seinem persönlichen Umgang: In ihr kommunizierte er mündlich wie schriftlich mit seinem Vertrauten Franz Lefort, 25 enge Mitarbeiter redete er mit Freund an und seinen Günstling Aleksandr Menäikov titulierte er min Herz oder Herzenskind,26 Den Fürsten F. J. Romodanovskij, dem Peter die Regierung seines Reiches anvertraut hatte, titulierte der Zar in seinen Briefen min Her Kenig?1 Darüber hinaus bediente er sich ihrer im Verkehr mit ausländischen Gesandten. Ein Hofrat aus Wolfenbüttel bezeugte im Jahre 1709, Peter könne „alles in Teutsche [!] Sprache sagen [...] und sich vollkommen verstehen machen". Er habe ihn „mehr Teutsch alß Russisch sprechen hören". 28 Von einem englischen Gesandten wird berichtet, er habe 1714 bei einer Audienz beim Zaren bewußt die deutsche Sprache gewählt, um keinen Dolmetscher in Anspruch nehmen zu müssen. 29 So wie Peter selbst Fremdsprachen erlernte, forderte er auch vom Adel, seinem Hofstaat und seinen Beamten, daß sich diese mit den modernen Fremdsprachen vertraut machten. Dem Diplomaten und engen Vertrauten Peters P. P. Safirov (1669-1739) zufolge sollen damals schon 'einige Tausend Untertanen [...] männlichen und weiblichen Geschlechts' verschiedener europäischer Fremdsprachen mächtig gewesen sein.30 Ob Peter der Große, wie Brüggen andeutet, allerdings tatsächlich mit dem Gedanken gespielt hat, „die deutsche Sprache zur Staatssprache Russlands zu decretiren", 31 muß stark bezweifelt werden. Der Fremdsprachenerwerb verfolgte überaus pragmatische Ziele. So ermahnte schon 1719 das erste Lehrbuch für die Erziehung der adligen Jugend Junosti cestnoe zercalo ili pokazanie k zitejskomu obchozdeniju ['Der Jugend Ehrenspiegel oder Anweisung zum alltäglichen Umgang'] eben diese, sich stets der fremden Sprachen zu bedienen, sowohl um der Sprachpraxis willen als auch um zu verhindern, daß die Dienstboten ihre Gespräche belauschten. 32 Fremdsprachenkenntnisse waren zudem ein ge24 25 26 27 28
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Zit. nach Geissendoerfer (1939), S. 189. Vgl. Hübner (1992), S. 81. Stark (1995), S. 289. Brokgauz/Efron (1899), Bd. 27, S. 85. Georg Christoph von Braun, Relation [an die Kurfürstin Sophie von Hannover], Wolfenbüttel, 7.12.1709, zit. nach Hübner (1992), S. 81. Vgl. Hübner (1992), S. 83. „[...] neskol'ko tysjaSej poddannych [...] mu2skogo i ienskogo polu [...]." Krasnobaev (1983), S. 146. Brüggen (1885), S. 275. „Osobenno vainy, kak priznak choroSego tona, inostrannye jazyki. Na nich nado govorit' vsegda 'meidu soboju', vo-pervych, 'daby tem navyknut' mogli', vo-vtorych, 'ötoby slugi i sluianki doznat'sja ne mogli i itob moZno' bylo porjadoinogo ieloveka 'ot dru-
1. Hof und Politik
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seilschaftspolitisches Instrument, insofern nämlich als die fremdsprachige Kommunikation bei Hof und in Adelskreisen als Mittel der Sozialdifferenzierung fungierte. Dies hat Wortmann in seiner Arbeit über „Scenarios of Power" im zaristischen Rußland von Peter I. bis Nikolaus I. überzeugend dargelegt. Die Nachahmung von „foreign images of political power", 33 zu der auch der Gebrauch von Fremdsprachen gehört, war, so die Hauptthese Wortmanns, ein Mittel der Machtinszenierung. Es diente sowohl dem Herrscher als auch der staatstragenden Elite zum Erhalt ihrer Macht: B y d i s p l a y i n g t h e m s e l v e s as f o r e i g n e r s , or like f o r e i g n e r s , R u s s i a n m o n a r c h s and their servitors a f f i r m e d the p e r m a n e n c e and inevitability o f their separation f r o m the p o p u l a t i o n t h e y ruled. [...] In all c a s e s , the s o u r c e o f sacrality w a s distant f r o m R u s s i a w h e t h e r it w a s b e y o n d the sea, w h e n c e t h e original V i k i n g prince c a m e , or l o c a t e d in the i m a g e o f B y z a n t i u m , France, or G e r m a n y . 3 4
Fremdsprachenkenntnisse gehörten ebenso zum Instrumentarium der Imitation wie die neue Kleiderordnung (1700/1701) und das Verbot der Barttracht (1698), mit dem Peter auch äußerlich die Hinwendung zum Westen demonstrieren ließ: Männer sollten „ein sächsisches oder französisches Obergewand [anlegen] und darunter Jacke und Hose, Stiefel und Mütze nach deutscher Art tragen [...]. Frauen sollten sich ausschließlich deutsche Kleidung zum Vorbild nehmen". 35 Das 18. Jahrhundert war die Epoche, in der das Lateinische als lingua franca des diplomatischen Verkehrs allmählich in den Hintergrund trat. An seiner Statt wurden die Nationalsprachen der verhandelnden Partner, häufiger aber noch das Französische verwendet, das sich auf dem diplomatischen Parkett als lingua franca durchsetzte. In Rußland spielte das Französische als Sprache der Diplomatie bis zur Mitte des Jahrhunderts jedoch kaum eine Rolle. 36 Wie bereits angedeutet bedienten sich russische Diplomaten schon seit dem 16. Jahrhundert des Deutschen, welches in der petrinischen Zeit zur vorherrschenden Sprache im Umgang mit ausländischen Staaten anvancierte. Peter I. war der erste russische Herrscher, der ständige Vertretungen an ausländischen Höfen unterhielt und ausländische Gesandte gich neznajuSöich bolvanov raspoznat"." ['Besonders wichtig sind als Zeichen des guten Tons die Fremdsprachen. Sie muß man stets 'unter seinesgleichen' sprechen, erstens, 'damit man sich so an sie gewöhnen könne', zweitens, 'damit die Diener und Dienerinnen nichts ausforschen könnten und damit es [einem anständigen Menschen] möglich wäre', sich von anderen unwissenden Dummköpfen zu unterscheiden'. Zercalo zit. nach Miljukov (1995), S. 209. 33 34 35 36
Wortmann (1995), S. 5. Ebd. PSZ, Bd. 4, Nr. 1741, zit. nach Hübner (1992), S. 85. Zum folgenden vgl. Biräiakova u. a. (1972), S. 52; Moser (1750), S. 33, 259ff.; Ostrover (1965), S. 148.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
am eigenen Hof akkreditierte (seit 1699). Mit ihnen kommunizierte er vorzugsweise auf Deutsch. Der deutschen Sprache bedienten sich die Russen auch häufig im diplomatischen Schriftverkehr. So wurde die Korrespondenz mit Schweden, Dänemark und England (bis 1715) in der Regel auf Deutsch abgewickelt. Schriftstücke wurden häufig parallel zweisprachig verfaßt, d. h. in Schreiben an deutsche Fürsten wurde dem russischen Original eine deutsche Übersetzung beigefügt. Nur in solchen Manifesten, „welche einen angefangenen Krieg rechtfertigen, oder sonst ein anderes Recht dem Aug der Welt darlegen soll[t]en", 37 behauptete sich weiterhin das allen verständliche Latein. Das Französische fand in der Diplomatie zur Zeit Peters des Großen nur ganz vereinzelt Verwendung, etwa in „Tractaten" zwischen Rußland, Frankreich und Preußen sowie ab 1706 durch die russischen Gesandten am polnischen Hof. 38 Erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnte es sich als Sprache der Diplomatie durchsetzen. Zur offiziellen Sprache des russischen Außenministeriums wurde das Französische von Alexander I. ernannt. 39 Mit Blick auf Rußland ist Spillners Einschätzung, daß die „Bedeutung des Französischen als internationale Vertragssprache im 18. Jahrhundert" überschätzt worden sei, folglich zuzustimmen. 40 Unter der Herrschaft von Peters Nichte Anna (1730-1740), während derer „die Zahl der Ausländer, vor allem der Deutschen, in hohen Regierungsstellen und im Heer stark zu[nahm]", 41 erreichte der damalige Einfluß der Deutschen in der russischen Politik seinen Höhepunkt. 42 Nach Annas Favoriten, dem Deutschbalten Ernst Johann von Bühren (romanisiert zu Biron), haben russische Historiker dieses Jahrzehnt später abwertend Bironscina bzw. Bironovscina genannt. 43 Mit der exponierten Stellung der Deutschen bei Hofe und in der Politik gewann die deutsche Sprache noch an Gewicht. Ohne Deutschkenntnisse kamen zu dieser Zeit selbst ausländische Diplomaten am Zarenhof nicht mehr aus. So beklagte sich der englische Botschafter Lord George Forbes, daß er auf seine alten Tage noch gezwungen sei, Deutsch zu lernen. 44 Der deutsche Gelehrte Johann Georg
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Moser (1750), S. 37. Ebd., S. 247, 253; BirZakova u. a.(1972), S. 52. Ostrover (1965), S. 449. Spillner (1985), S. 134; zur Bedeutung des Französischen in Rußland vgl. auch Brunot (1967), S. 799-818. Kopelew (1992a), S. 29. Fenster (1999), S. 195. Zur Korrektur des lange Zeit vorherrschenden und zum wesentlichen Teil von nationalistischen Einstellungen bestimmten Negativurteils über diese Phase der ,Deutschenherrschaft' vgl. Torke (1985), S. 88. Ostrover (1965), S. 449.
1. Hof und Politik
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Lotter (1699-173 7),45 einer der ersten deutschen Professoren, die einem Ruf an die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg folgten, berichtete 1735 vom „Ansehen der deutschen Sprache in Rußland", sie sei „der Landessprache selbst an die Seite gesetzet worden". 46 Währenddessen verschärften sich bei vielen russischen Zeitgenossen die „Ressentiments [...] gegen die Rolle, die Deutsche während des genannten Zeitraumes in der Politik des Russischen Reiches spielten",47 woraufhin es sogar zu einer regelrechten „Welle des Deutschenhasses" kam.48 Diese setzte sich gepaart mit der Zunahme allgemeiner Fremdenfeindlichkeit während der Regierungszeit Elisabeths (1741-1762) noch fort, auch wenn sich die Tochter Peters des Großen dazu bekannte, „daß sie in allem ihrem Vater folgen und seine Tätigkeit fortsetzen wolle und schon deswegen keine Ausländerfeindlichkeit dulden werde".49 „Dennoch brachte die ausländerfeindliche Atmosphäre in den vierziger Jahren es mit sich, daß manche höhere Offiziere den Dienst quittierten und sich nach Preußen oder nach Österreich anwerben ließen. Aber die meisten Ausländer, auch die meisten Deutschen, blieben der Zarin treu."50 Bei Hofe büßte das Deutsche in dieser Zeit seine Sonderstellung ein. Elisabeth, die hauptsächlich von französischen Lehrern erzogen worden war, führte ihren Hof als „Liebhaberin der französischen Sprache"51 und begeisterte Anhängerin der französischen Kultur im französischen Stil und ließ ihre Hofdamen Französisch lernen.52 Daraufhin entwickelte sich das Französische - dem in Westeuropa vorherrschenden Muster folgend - allmählich zur lingua franca des russischen Adels. Französisch wurde mehr noch als das Deutsche zum
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Lotter hatte in Halle und Leipzig studiert, wo er Assessor der philosophischen Fakultät und 1731 Mitglied der Leipziger Deutschen Gesellschaft wurde und eng mit Gottsched zusammenarbeitete (u. a. gab er mit ihm die Beyträge zur critischen Historie der deutschen Sprache, Poesie und Beredsamkeit heraus). Den Ruf als Professor der Beredsamkeit und Altertumsforschung an die Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg erhielt er 1734. Bei der zitierten Abhandlung von dem heutigen Ansehen Der Deutschen Sprache in dem Rußischen Reiche handelt es sich um die Abschiedsrede, die Lotter bei seinem Wechsel von Leipzig nach Petersburg hielt. Vgl. Brekle u. a. (1997), Bd. 5, S. 379f..
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Lotter (1735), S. 35. Torke (1985), S. 88. Stökl (1982), S. 112f. Kopelew (1992a), S. 32. Ebd., S. 33. Fissahn (1987), S. 150. Dies betont auch die in Leipzig herausgegebene Europäische Fama, eine der erfolgreichsten deutschsprachigen historisch-politischen Zeitschriften des 18. Jahrhunderts, die ihre deutschen Leser regelmäßig und ausführlich über Rußland informierte. Vgl. hierzu ebd.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
'Zeichen von Bildung und Reife des Adligen'. 53 Daß bei den gebildeten Russen „trotz der zunehmenden Verbreitung der französischen Sprache und der französischen Mode, trotz der Vorliebe für italienische Bühnenkunst und Musik [...] deutsche Sprache, deutsche Lehranstalten und deutsche Privatlehrer bevorzugt [blieben]", 54 zeugt von dem hohen Ansehen, das sich diese bis zur Jahrhundertmitte in Rußland schon erworben hatten. Daran änderte sich auch unter der preußischen Prinzessin Sophie Friederike Auguste von Anhalt-Zerbst nichts, die als Katharina II. im Jahr 1762 den russischen Thron bestieg. Katharina war am Hof ihrer Eltern in Zerbst in einem überwiegend französisch sprechenden Milieu aufgewachsen und dort vermutlich wenig in Gebrauch und Pflege ihrer Muttersprache gefördert worden, allenfalls durch ihren in deutscher Sprache und die deutsche Sprache unterrichtenden Religionslehrer Friedrich Wagner, dem sie „ein beachtliches Repertoire altertümlicher moralisierender Redewendungen, die stark von Luther geprägt waren", 55 verdankte. 56 In Rußland lernte Katharina schnell und mit Fleiß Russisch und hat es auch gesprochen und geschrieben. 57 Die deutsche Zarin „identifizierte sich bedingungslos mit dem russischen Staat und der russischen Nation". 58 Diese Identifikation ging soweit, daß sie sogar „Anträge, Briefe und Grußreden ihrer deutschen Untertanen in den baltischen Provinzen, die meistens deutsch verfaßt waren [...] nur russisch [beantwortete]." 59 In ihrer russischen Umgebung mit deren französisch geprägten Hofkultur bediente sich Katharina in der Regel jedoch des Französischen, auch in den meisten Briefen an ihre deutschen Korrespondenten, in die sie allerdings gezielt deutschsprachige Zitate z. B. aus Luthers Bibelübersetzungen und Tischreden - sowie Sprichwörter, alltägliche Redewendungen, Beschwörungsformeln oder auch Flüche einfließen ließ. 60 Deutsch gesprochen hat Katharina den Beobachtungen Jacob von Stählins (1709-1785), 61 einem ihrer Vertrauten, zufolge eher selten,
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„[...] pokazatelem obrazovannosti i zrelosti dvorjanina." Biräakova u. a. (1972), S. 42. Kopelew (1992a), S. 33. Scharf (1995), S. 91. Nach der Einschätzung Karl Hillebrands erinnerte das Deutsch Katharinas an das der Mutter Goethes, das „bei allen altfränkischen Wendungen, grammatischen Fehlern und Vulgaritäten des Ausdrucks [...] ein sehr richtiges Sprachgefühl [...] und zwar ein bewußtes Sprachgefühl" besessen habe. Hillebrand (1880), S. 382, zit. nach Scharf (1995), S. 91. Russische Texte von ihrer Hand sind zahlreich in Form von Gesetzen, Anordnungen, autobiographischen Fragmenten, Briefen und Dramen überliefert. Vgl. Scharf (1995), S. 91. Kopelew (1992a), S. 43. Ebd. Beispiele bei Scharf (1995), S. 93. Zu Stählin vgl. unten Punkt 4, Anm. 128.
1. Hof und Politik
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„es sey denn mit einem ausländischen Minister eines deutschen Hofes" 62 oder aber mit deutschen Gesprächspartnern, wenn sie merkte, daß ihr Gegenüber sich im Französischen nicht sicher genug fühlte. 63 So wie an allen europäischen Höfen begann sich die französische Hofkultur in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts also auch in russischen Adelskreisen durchzusetzen. Dabei konnte sie sich zwar nicht immer gegen die „moskowitischen Sitten" behaupten, an welchen insbesondere die Alten festhielten. In jedem Fall aber überwog sie alsbald den sehr starken deutschen Einfluß der petrinischen und nachpetrinischen Zeit, der, wie die nachfolgende Äußerung Stählins belegt, selbst von den damals in Rußland lebenden Deutschen nicht immer positiv bewertet worden war. „Das deutsche Wesen hatte [...] das Nachsehen" resümierte Stählin, denn nach 1764 [...] sah man nur mehr Pariser oder Moskauer Manieren. Die Jugend nahm die einen an, die Greise kamen auf die anderen zurück, und die aus der Aufpfropfung des Deutschtums auf das Russentum entstandenen Karikaturen verschwanden ganz und gar. 64
Daß das Deutsche dennoch auch am Hofe keineswegs ganz außer Gebrauch kam, belegt ein Aufsatz über die Krönungsfeier Katharinas II. im Jahr 1762, der in der von Johann Christoph Gottsched in Leipzig herausgegebenen Zeitschrift Das Neueste aus der anmuthigen Gelehrsamkeit erschien. Dort heißt es: Die kaiserl. russische Residenz, die nächst London und Paris die dritte größte Stadt unsers Welttheiles ist, hat gelehrte Männer aufzuweisen, die ihrem Vaterlande auf diese Art Ehre machen können; daß sie nicht nur bey der Universität, an den größten Feyerlichkeiten des Hofes als lateinische Redner mit allgemeinem Beyfalle auftreten; sondern auch ihren in der gel. Zunftsprache, nur wenigen Zunftbrüdern verständlich gewesenen Vortrag, auf die vortheilhafteste art, in einer dem halben Hofe, und einem großen Theile der Residenz vernehmlichen Mundart liefern können. 65
Damit ist die deutsche Sprache gemeint und nicht nur auf die Verbreitung ihrer Kenntnis am Hofe und in der gebildeten Oberschicht verwiesen, sondern auch auf ihre Funktion als Sprache der Wissenschaften, auf die weiter unten noch näher einzugehen sein wird.
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Stählin (1926), S. 258f. Vgl. Scharf (1995), S. 95. Stähl in (1926), S. 258. Zit. nach Kopelew (1987), S. 353.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
2. Ämter und Verwaltung Als Amts- und Verwaltungssprache war das Deutsche in Rußland in erster Linie in der petrinischen Zeit und unter Kaiserin Anna von Bedeutung. In dieser Funktion gewann es infolge der von Peter dem Großen initiierten und 1717 durchgeführten Verwaltungsreform an Gewicht, die unter starker Beteiligung deutschsprachiger Verwaltungsbeamter stattfand. Der Zar modernisierte seine Administration nach deutschem und schwedischem Vorbild. Er gliederte Rußland in Gouvernements, etablierte einen .Regierenden Senat' mit verschiedenen Fachministerien, den so genannten ,Kollegien', führte das Dienstadelssystem 66 ein und schuf so insgesamt die Voraussetzungen für eine effektivere Verwaltung des Reichs. Ausländische Experten, vor allen Dingen aber Deutsche und Baltendeutsche, wurden systematisch angeworben und auf die neuen Verwaltungsbehörden verteilt. So sollten beispielsweise „alle Kollegien neben dem russischen Präsidenten einen deutschen Vizepräsidenten haben". 67 An den Deutschbalten, die als vormals schwedische Untertanen mit dem schwedischen Verwaltungsapparat bestens vertraut waren, war Peter besonders gelegen. Daher ließ er schon 1718 unter Kriegsgefangenen Verwaltungsfachleute für die Kollegien anwerben. 68 Eine Auflistung aller Ausländer in den Kollegien von 1719 zeigt, wie erfolgreich diese Bemühungen waren. Nach Wiegrefe befanden sich „unter den 66 Ausländern [...] 30 Deutsche (45,5 %) und 18 Deutschbalten (27,3 %)". 69 Schippan geht in seiner Monographie über die Einrichtung der Kollegien in der petrinischen Zeit von deutlich mehr dort beschäftigten Ausländern aus, nämlich von 134. Die „überwiegende Mehrzahl" 70 von ihnen seien Deutsche gewesen und demzufolge „Deutsch [...] die im russischen Staatsdienst am häufigsten gebrauchte Fremdsprache". 71 Daher wurden „für die in den Kollegien beschäftigten ausländischen Staatsdiener [...] deutsche Übersetzungen der wichtigsten petrinischen Gesetzeswerke, wie des Generalreglements, der Rangtabelle und der 66
Mit der 1722 erfolgten Einführung der Tabelle von den Rängen aller militärischen, zivilen und höfischen Dienstgrade ordnete Peter I. alle Dienstgrade und Ämter für Armee und Flotte, für den Zivil- und Hofdienst auf einer gemeinsamen Stufenleiter von 14 Rangklassen ein. Dieser Adelstabelle „lag ein rationelles Leistungsprinzip zugrunde, [deren] Hauptgedanke [darin] bestand, daß der erbliche Adel auch erdient werden konnte. [...] Die Adelsrangtabelle war der Maßstab, der den gesellschaftlichen Standort der Bürger des Russischen Kaiserreiches bestimmte." Donnert (1999c), S. 169f.
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Wiegrefe (1997), S. 19. Nach Biriakova u. a. soll Peter I. auch in Böhmen und Schlesien 150 erfahrene Juristen und Beamte haben anwerben lassen. Vgl. Biräakova u. a. (1972), S. 30. Wiegrefe (1997), S. 18. Über die Ausländer in den Kollegien vgl. Schippan (1996), S. 272-285, hier S. 275. Ebd., S. 276.
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2. Ämter und Verwaltung
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Kriegsartikel, gedruckt und verteilt".72 Peter I. warb allerdings nicht nur Experten im Ausland an, er ließ auch seine eigenen Beamten im Ausland ausbilden, z. B. in Königsberg, wo sie die deutsche Verwaltungsordnung kennenlernen sollten.73 Mit der Umgestaltung der Behörden veränderte sich die Verwaltungssprache, denn die neugeschaffenen Einrichtungen machten neue Bezeichnungen erforderlich. Diese waren in erster Linie deutscher Herkunft. 74 Die ersten Behörden und Ämter wurden noch in den 1690er Jahren umbenannt: der gubernator wurde 1693 eingeführt, seit 1698 gab es die komissija und im Jahr 1699 wurden die Amtsbezeichnungen burmistr (bzw. burgomistr) sowie ratuSa und prezident entlehnt. Die Kollegien erhielten nach deutschem Muster Bezeichnungen wie justic-kollegija, berg-kollegija (Bergbauministerium), krigs-kollegija und komerc-kollegija. In Ämtern und Behörden konnte man nunmehr auf den administrator, aktuarius, assesor, auditor, buchgalter, gerold'mejster, Inspektor, kancler, makler, ministr, landrichter, policejmejster, val'dmejster, prefekt, gitenverwalter, calkommissar oder einen ratman treffen. Bei Hofe dienten fortan der gofmarsal, ober-gofmejster, ceremonijmejster, garderobmejster, kamerger, lakaj, kamer-diner und tafel'deker. Der größte Teil dieser Termini ist aus dem Deutschen (bzw. bei den Wörtern lateinischer Herkunft über das Deutsche) ins Russische gelangt, wobei allerdings in vielen Fällen nicht direkt aus dem Deutschen, sondern auf dem Umweg über das Polnische entlehnt wurde.75 Am Beispiel der im Zuge der Reformen ebenfalls neugestalteten juristischen Terminologie hat dies im einzelnen Kaiser nachgewiesen. Bis zum Tod Peters im Jahr 1725 wurden allein in diesem Bereich knapp 1000 neuhochdeutsche Termini entlehnt. Das waren 52 % aller juristischen Termini insgesamt, die in dieser Periode aus verschiedenen Fremdsprachen ins Russische eingegangen sind. Damit war „das Neuhochdeutsche [...] die Sprache, welche am stärksten zur Umgestaltung und Entwicklung der juristischen Terminologie der petrinischen Zeit beigetragen hat".76 Die meisten Termini wurden im Bereich von Hofstaat und Hofverwaltung aufgenommen, außerdem in den Bereichen Militärverwaltung und Kriegsrecht sowie im Staats- und Verwaltungsrecht. Des weiteren wurden neuhochdeutsche Begriffe insbesondere in der Justizverwaltung, im Prozeß- und Strafrecht sowie im Steuer-, Zoll- und Gebührenwesen entlehnt. 72 73 74
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Schippan (1996), S. 276. Vgl. hierzu unten Punkt 4. Vgl. Otten (1985); Smirnov (1910), S. 4f.; Amburger (1966), S. 57; Kaiser (1965), S. 310; Stark (1995), S. 291; Hübner (1992), S. 85f. Smirnov (1910), S. 5. Kaiser (1965), S. 261.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
In den 1730er Jahren weitete sich der Funktionsbereich des Deutschen im russischen Behördenapparat noch aus, so daß Deutsch 'im Bereich des Schriftverkehrs und der Administration fast das Recht einer zweiten Staatssprache' erhielt. 77 Wichtige Reglements und Erlasse (Ustave) erschienen seit der petrinischen Zeit in der Regel zweisprachig deutsch und russisch. 78 Gleichermaßen wurden Dokumente des Militär- und Wechselwesens in deutsch-russischem Paralleldruck publiziert. 79 Wo in den Verwaltungsapparaten besonders viele deutsche Beamten tätig waren oder selbst die Leitung innehatten, lief die interne Kommunikation vielfach auf Deutsch ab. 80 Beispiele sind das Ressort der Briefpost, dessen Buchhaltung noch mehrere Jahrzehnte nach Einrichtung des Ressorts in deutscher Sprache geführt wurde, 81 oder die Administration des 1731 gegründeten und von B. Ch. von Münnich (1683-1767) geleiteten Landkadettenkorps, 82 die ihren internen Schriftverkehr vorzugsweise in deutscher Sprache abwickelte. 83 Dies war auch der Fall an der Akademie der Wissenschaften, deren Mitglieder im 18. Jahrhundert zu über 60 % Muttersprachler des Deutschen waren. Offensichtlich dominierte das Deutsche an der Akademie und der ihr angeschlossenen Einrichtungen, der Akademischen Universität und dem Akademischen Gymnasium, derart, daß die dieser Sprache nicht mächtigen Mitarbeiter mitunter ernsthafte Kommunikationsprobleme hatten, was zu Protesten führte. So beschwerte sich beispielsweise noch 1744 der Franzose und Inspektor des Gymnasiums Pierre Louis Le Roy bei der akademischen Kanzlei über die Tatsache, daß er und einige der Lateinlehrer, die weder Russisch noch Deutsch verstünden, sich nicht mit dem deutschen Kustoden des Gymnasiums verständigen könnten. 84 Die russischen Akademiemitglieder forderten seit Mitte des Jahrhunderts vermehrt eine stärke-
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„[...] pravo poCti vtorogo gosudarstvennogo jazyka v deloproizvodstve i administracii". BirZakovau. a. (1972), S. 51. Vgl. ebd., S. 53. Beispiele sind die bei Pekarskij (1862), Bd. 1, S. 681-684 genannten Titel: Artikuly suchoputnye (SPb., 1716, dt. und russ.); Kazanie Lopatinskago (SPb., 1722, dt. und russ.); Manivest o careviie (SPb., 1722, dt.) und der Ustav voinskij (SPb., 1722, russ. und dt.). Daher lernten dort auch Russen Deutsch. Noch für die 1760er Jahre berichtet A. L. Schlözer von seinem Bekannten Hofrath Siäkov, einem Mitglied des „deutschen oder livländischen Justiz-Collegii", er spräche „sehr gut deutsch, war zwar kein Studirter, hatte aber helle Ideen, und sog - fast allgemeiner Charakter aller, nicht durch Erziehung ganz verdorbner Russen - gelerte Kenntnisse wie ein Schwamm ein". Schlözer (1802), S. 111. Vgl. Brückner (1888), S. 403. Zu Münnich vgl. Kap. V, Punkt 4. Vgl. Luzanov (1907), S. 180. Vgl. Suchomlinov (1895), Bd. 7, S. 144f.
2. Ämter und Verwaltung
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re Berücksichtigung ihrer Muttersprache. In dem Akademiereglement von 1749 wurde daher in einem eigenen Paragraphen festgeschrieben: ' S o w o h l a l l e E r f i n d u n g e n als auch d i e Z e i t s c h r i f t u n d alles, w a s in d i e V e r s a m m l u n g der A k a d e m i k e r g e s c h i c k t wird, soll l a t e i n i s c h oder r u s s i s c h g e s c h r i e b e n sein, das F r a n z ö s i s c h e o d e r D e u t s c h e j e d o c h dürfen dort n i e m a l s verwendet werden.'85
Man darf allerdings bezweifeln, daß die Bestimmung in dieser strikten Form eingehalten wurde. Die Konferenzprotokolle der Akademie etwa wurden auch noch in der Folgezeit nicht nur auf Lateinisch, sondern auch auf Deutsch und Französisch abgefaßt. 86 Außerhalb des russischen Kernlandes besaß das Deutsche wie schon erwähnt auch in den baltischen Territorien einen besonderen Status als Amts- und Verwaltungssprache, und zwar in den Provinzen Estland und Livland, welche Peter I. im Jahr 1710 den Schweden abgenommen hatte, sowie in Kurland, das durch die dritte Teilung Polens 1795 an Rußland fiel. In diesen Gebieten mit ihrer mehrheitlich deutschsprachigen Oberschicht (d. h. dem städtischen Bürgertum und dem grundbesitzenden Adel) hatte sich im 14. Jahrhundert zunächst das Mittelniederdeutsche (,Hansische') etabliert, „wie es in Lübeck und anderen Handelsstädten während des 13. bis 17. Jahrhunderts von einer gewissen gebildeten Sozialschicht gesprochen und geschrieben wurde." 87 Im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts setzte sich dann das Hochdeutsche als Verwaltungssprache durch und wurde nach dem Zusammenbruch des alten Livlands und seiner Aufteilung unter die Ostseemächte Polen und Schweden vom polnischen König Sigismund II. August in den 1560er Jahren auch ausdrücklich als Amtssprache garantiert. Dieses Privilegium wurde von Peter I. bestätigt. Als Amtssprache war Deutsch auch Unterrichtssprache an den deutschen Schulen, die im Baltikum seit dem 14. Jahrhundert existierten. 88 „Jahrhundertelang mußte (Nieder-)Deutsch als Sprache der herrschenden Schicht von jedem Anderssprachigen gelernt werden, der eine Chance auf sozialen Aufstieg haben wollte." 89 Katharina II. schließlich ordnete für die baltischen Gouvernements offizielle Zweisprachigkeit im Schriftverkehr an. Aber auch das
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„Kak vse izobretenija, tak i Zumal, i vse, Cto v sobranii akademikami otpravljat'sja imeet, dolZno pisano byt' na latynskom ili rossijskom jazyke, a francuzskoj i nemcckoij nikogda upotreblen byt* tarn ne dolZen." Skrjabin (1974), S. 45. Im Einzelnen wurden sie von 1725 bis 1733 lateinisch, von November 1734 bis 1741 deutsch, von 1742 bis 1766 erneut lateinisch, von 1767 bis 1772 deutsch und seit April 1743 auch französisch geschrieben. Vgl. Veselovskij (1897), Vorwort, Anm. 1. Ureland (1986), S. XVI. Im Jahr 1319 war die Domschule in Reval, 1328 die Domschule in Riga gegründet worden. Glück (1997), S. 256f.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
änderte nichts daran, daß Deutsch im Baltikum weiter die unangefochtene Verkehrssprache blieb. Nur mit Zwang konnte die russische Sprache in den 1880er Jahren als zweite Verkehrssprache neben dem Deutschen durchgedrückt werden. 90
3. Militär, Wirtschaft, Industrie und Gesundheitswesen Für die Modernisierung Rußlands wurden in fast allen Bereichen des Staatswesens besonders aber für das Kriegswesen einschließlich der Rüstungsindustrie und für den Aufbau neuer Wirtschaftszweige eine riesige Zahl von Fachkräften benötigt, die in Rußland in so großer Menge nicht verfügbar waren und daher aus dem westlichen Ausland angeworben werden mußten. 91 Die ersten Massenanwerbungen westlicher Spezialisten fanden unter Peter I. statt, dessen Hauptaugenmerk zunächst dem Aufbau einer schlagkräftigen Flotte galt, und der daher schon bei seiner ersten Auslandsreise in den Jahren 1697/98 mehrere Hundert Schiffbauer und Seeleute vornehmlich aus den Niederlanden und England, aber auch aus Hamburg in seinen Dienst genommen hatte. Für die Armee wurden Militärexperten - Artilleristen, Ingenieure und Offiziere - vor allem in Österreich und den deutschen Territorien angeworben. 92 Während des Nordischen Krieges rief Peter I. in einem offiziellen Anwerbungsmanifest 1702 ein zweites Mal ausländische Militärpersonen auf, in den russischen Dienst zu treten, so daß das russische Offizierkorps bis zum Sieg über die Schweden in der Schlacht von Poltava (1709) bereits zu zwei Dritteln aus ausländischen Offizieren bestand. Unter ihnen fanden sich vor allen Dingen viele Baltendeutsche, um deren Anwerbung sich Peter I. besonders bemühte, auch noch durch spätere Anwerbungsmanifeste von 1721 und 1723.93 Peters Nachfolgerinnen warben weiter Deutschbalten für das Heer an, wobei der „Anteil der Deutschbalten in hohen militärischen Positionen [...] unter Anna Ivanovna noch zufnahm]". 94 Für das 18. Jahrhundert insgesamt ist nach Einschätzung Wiegrefes, der für diese Zeit Lebensläufe von Deutschbalten im Zarendienst untersucht hat, das „Kriegshandwerk der Bereich, in
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Vgl. zur historischen und aktuellen Situation der deutschen Sprache im Baltikum z. B. Biriakova u. a. (1972), S. 40; Peters (1987); Amburger (1991), S. 23; Henning (1993); Földes (1994), S. 6; Glück (2002), S. 263-276. Vgl. zum folgenden insbesondere Brandes (1997), S. 36-50; Heller (1996); Dahlmann (1999). Vgl. B l o m e ( 1 9 9 6 ) , S. 29. Zu den Baltendeutschen im russischen Staatsdienst vgl. Wiegrefe (1997), hier S. 17; auch Biriakova u. a. (1972), S. 27. Wiegrefe (1997), S. 17.
3. Militär, Wirtschaft, Industrie und Gesundheitswesen
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dem die Deutschbalten am stärksten nachgewiesen werden können". 95 Dies war auch noch im 19. Jahrhundert zu spüren, zu dessen Beginn noch 69 Generäle, 96 Obristen und 760 sonstige Offiziere deutscher Herkunft in der russischen Armee dienten. 96 Die starke Präsenz deutscher Militärs in der russischen Armee verschaffte der deutschen Sprache auch in diesem Bereich besondere Geltung. Dies bemerkten schon zeitgenössische Beobachter aus Deutschland - „[...] unsere [d. h. die deutschen - K.K.] Obristen exerciren die Soldaten tägliche auff Teutsch [,..]" 97 - und werteten es als Zeichen der ,Europäisierung' Rußlands. „Die aus Großbritannien stammenden petrinischen Generäle Gordon und Ogilvy benutzten das Deutsche nicht nur in ihrer dienstlichen Korrespondenz, sondern auch in ihren privaten Aufzeichnungen und Tagebüchern." 98 So setzten sich im Militärwesen die Entlehnungsprozesse aus dem Deutschen, die schon im 17. Jahrhundert begonnen hatten, in intensivierter Form fort. Die Leiter der militärischen Fachbehörden erhielten um 1700 deutsche Namen: generalfei 'dcejgmejster, generalkrigskomissar, generalproviantmejster." Die Dienstränge wurden ebenfalls nach deutschem Muster benannt, z. B.fligeladjudant, fel'dfebel, unteroficer, oberoficer. Weitere in der petrinischen Zeit aufgenommene militärische Ausdrücke deutscher Herkunft sind blokada, brustver, gaubica, generalitet, lajbgarde (später: lejb-gvardija), losung, Stab, abschnit, bedekter-weg, blendung, bolverk, vegebrejter, vagenbauer, vurst, kvartirger, fejerverker, cejgdiner, cejgsrejber, cejchgauz usw. 100 Militärische Fachausdrücke aus dem Französischen gelangten über das Polnische und Deutsche ins Russische. An den Kadettenkorps, deren Lehrpersonal sich zu einem sehr großen Teil aus (balten-)deutschen Offizieren rekrutierte, wurde vielfach auf Deutsch kommuniziert. Das Russische konnte sich als Kommandosprache erst im 19. Jahrhundert voll durchsetzen. Mit dem Anwerbungsmanifest von 1702 wurden auch zahlreiche deutsche Fachleute für den Aufbau der einheimischen Rüstungsindustrie sowie Bergleute und Hüttenspezialisten (vor allem aus Sachsen) gewonnen. Peter mußte sich von den Waffen- und Rohstofflieferungen der Hansestädte, Hollands und Englands unabhängig machen und trieb die Entwicklung des
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Ebd., S. 18. Vgl. Fleischhauer (1991), Freytagischer Nordischer Blome (1996), S. 32. Glück (2002), S. 283. Vgl. Amburger (1966), S. Vgl. Stark (1995), S. 291;
S. 144. Mercurius
(Hamburg), Nr. 131 vom 30.12.1698, zit. nach
57. Smirnov (1910), S. 8f.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
Bergbaus und der Rüstungsindustrie deswegen intensiv voran. 101 Als Beispiel für die Tatkraft der deutschen Spezialisten sei nur der während der .Großen Gesandtschaft' in Amsterdam angeworbene Georg Wilhelm Hennis aus Siegen angeführt, der 1712 in Petersburg ein Gießhaus erbaute, zum Chef der Hüttenwerke in Olonec avancierte, die Waffenfabrik von Sestroreck errichtete, Direktor der Bergwerke im Ural wurde und schließlich Jekaterinburg gründete. 102 In der nachpetrinischen Zeit blieben Deutsche die treibende Kraft bei der Weiterentwicklung des russischen Bergwesens. Sie leiteten die Reviere, arbeiteten in den Gruben und waren für die praktische Ausbildung des Nachwuchses verantwortlich. Für die russischen Bergleute war die Kenntnis der deutschen Sprache deswegen unabdingbar, weshalb ihnen an neu eingerichteten Bergbauschulen intensiver Deutschunterricht erteilt wurde. 103 Noch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörten Deutschkenntnisse zu den unverzichtbaren Qualifikationsvoraussetzungen für Russen, die es im Bergwesen zu etwas bringen wollten. 104 Aufgrund der engen Zusammenarbeit zwischen Deutschen und Russen im russischen Bergbau und in der metallverarbeitenden Industrie kam es auch in diesem Bereich zu intensiven sprachlichen Austauschprozessen, infolge derer die russische Bergbausprache im wesentlichen deutsch geprägt wurde. Im 18. Jahrhundert und hier besonders in der petrinischen Zeit wurden, wie Trebbin ermittelte, 361 fachsprachliche Lehnwörter und 154 Lehnübersetzungen aus dem Deutschen in die russische Bergmannssprache entlehnt, wobei der größte Teil der Lehnwörter direkt aus dem Neuhochdeutschen stammt. Besonders viele deutsche Lehnwörter wurden für die Bezeichnung von Metallen und Mineralen sowie für gruben- und hüttentechnische Begriffe übernommen, beispielsweise berkverk, Slam, borstanga, grubenjung, ferdersachta u. a.105 Außerdem warb Peter I. deutsche Handwerker für den Bau St. Petersburgs an. Bei der Errichtung dieser Stadt, die unter den größten technischen Schwierigkeiten erfolgte und Tausende das Leben kostete, war der Zar in besonderem Maße auf ausländische Hilfe angewiesen, denn eine repräsentative Hauptstadt mit steinernen Gebäuden konnten nur Baumeister aus dem Westen errichten, da in Rußland damals erst sehr wenig mit Stein gebaut wurde. Neben italienischen Architekten wie Bartolomeo Rastrelli, Antonio Rinaldi, Domenico Trezzini u. a., die in Petersburg die sichtbarsten Spuren hinterlassen haben, wurde „ein sehr großer, vermutlich der 101
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Bergbaufachleute wurden v. a. aus dem Erzgebirge angeworben. Vgl. Amburger (1991), S. 32. Brandes (1997), S. 49. Vgl. NeCaev (1944), S. 48f„ 58-63. Vgl. hierzu näher Kap. IV, Punkt 4. Vgl. Trebbin (1957), S. 47f.
3. Militär, Wirtschaft, Industrie und Gesundheitswesen
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größte Teil der Handwerker - Steinmetze, Bildhauer, Bronzegießer, Maurer, Zimmerleute und andere - in Deutschland angeworben". 106 Zu den renommierten Künstlern aus dem Westen, die Peter I. für den Aufbau seiner Metropole gewinnen konnte, gehörte neben anderen Deutschen auch Andreas Schlüter (1660-1714), der im Jahr 1713 durch die Sparpolitik des neuen preußischen Königs Friedrich Wilhelms I. arbeitslos geworden von der Spree an die Neva wechselte, wo er sofort zum Stadtbaumeister ernannt wurde und ungeachtet seines im nächsten Jahr erfolgten Todes „durch seine Gesamtplanung entscheidend zur Herausbildung des die Architektur Petersburg bestimmenden ,Petrinischen Barocks' beigetragen hat". 107 Während dieser Zeit wurden viele mit dem Bauhandwerk verbundene deutsche Bezeichnungen für Tätigkeiten und Materialien ins Russische aufgenommen, beispielsweise cement, gips, glasur, lakirovat', masstab, polirovat, spric, klinker und andere. 108 Die Zahl der deutschen Handwerker in Rußland wuchs schnell an, wobei sich der in solchen Dingen nicht zimperliche Peter I. auch den Praktiken seiner Vorgänger bediente und sich notwendige Arbeitskräfte zum Teil durch Zwangsumsiedlung gefangener livländischer und estländischer Handwerker und Kaufleute in den russischen Norden beschaffte. Weiterhin kamen deutsche Handwerker und Kaufleute (vor allem aus den norddeutschen Hansestädten) aber auch freiwillig nach Rußland und zwar in immer größerer Zahl, angelockt von zahlreichen Privilegien wie etwa steuerlichen Vergünstigungen und Religionsfreiheit. Sie versorgten ihre russischen Kunden mit alltäglichen Konsumgütern, die von Russen noch nicht selbst hergestellt wurden, beispielsweise Kleidern, Geräten und Möbeln im europäischen Stil, und gehörten häufig Berufen an, die im Russischen Reich noch nicht vertreten waren. Bereits 1720 waren 13 % aller zünftigen Handwerker Ausländer. In Petersburg entwickelte sich so ein paralleles Zunftwesen, wobei die Fremden in bestimmten Sparten dominierten. Deutsche waren besonders stark vertreten im Backgewerbe, unter Schneidern, Schustern sowie Juwelieren. Ebenfalls in deutscher Hand waren der Buchhandel und der Buchdruck. Die Franzosen dagegen gaben bei den Uhrmachern, Köchen und Friseuren den Ton an. 109 Deutsche waren schließlich 106 107 108 109
Stricker (1997c), S. 560. Ebd., S. 565. Vgl. Stark (1995), S. 291. Zum Ende des 18. Jahrhunderts hin waren in Petersburg die meisten Mediziner, Apotheker, Buchdrucker und Goldschmiede Deutsche. Im Jahr 1790 etwa lebten und arbeiteten dort: 210 Schneider, 77 Bäcker, 59 Sattler, 13 Dreher, 17 Uhrmacher und 19 Schornsteinfeger. In Moskau war der Anteil deutscher Handwerker und Ärzte geringer, aber dennoch bedeutsam. Vgl. Gromova/Kopelew (1994), S. 81; Dahlmann (1999), S. 158; Biriakova u. a. (1972), S. 39.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
auch beim Aufbau des russischen Manufakturwesens (z. B. im Textilbereich) in hohem Maße beteiligt und hielten auch im Außenhandel trotz der dortigen Vorrangstellung der Engländer und Holländer große Anteile am russischen Import- und Exportgeschäft. Besonders die zahlreichen deutschen Handwerker und Kaufleute trugen dazu bei, daß die Deutschen in den größeren Städten zum alltäglichen Erscheinungsbild gehörten. Da sie unter sich und in ihren Zünften und Gilden normalerweise Deutsch sprachen, kamen Russen hier auch regelmäßig mit der deutschen Sprache, Lebensweise und Alltagskultur in Berührung. Davon zeugen Begriffe, die in der petrinischen Zeit ins Russische aufgenommen wurden, wie etwa aus dem Bereich der Wirtschaft: buchgalter, cifra, fura ['Fuhre'], für man, furlejt, kassir, Stempel, stof, strich, veksel oder aus dem Bereich der Wohnkultur und der Kleidung: gardina, sirm ['Wandschirm'], kamerdiner, nachtcejch, frak, slafrok, galstuk ['Halstuch', 'Kravatte'], bostrog, mantel, slafmic, stiblety und andere. 110 Das Deutsche, das in Rußland als Sprache des Handels und Kommerzes seit dem Mittelalter immer eine wichtige Rolle gespielt hat, behielt somit auch im 18. Jahrhundert seine Bedeutung als Sprache der Wirtschaft bei, weshalb seine Kenntnis für russische Kaufleute weiterhin von großem Nutzen war. Dies belegen auch die hartnäckigen Bemühungen der Regierenden, russische Kaufmannskinder und Handelsschüler mit Blick auf den Ausbau der russischen Handelsbeziehungen zum Westen per Ukaz zum Deutschlernen zu verpflichten. 111 Als weiterer Bereich, in dem Deutsche überdurchschnittlich stark vertreten waren, sei abschließend das Gesundheitswesen angesprochen. Deutsche Ärzte wurden seit dem 17. Jahrhundert regelmäßig von den russischen Großfürsten und Zaren nach Rußland gerufen, wo sie dann häufig als deren Hof- und Leibärzte reüssierten. Insbesondere im 18. Jahrhundert gab es am kaiserlichen Hof hauptsächlich deutsche bzw. deutschstämmige Leibärzte. Viele von ihnen gelangten im Gefolge der deutschen Fürsten und Fürstinnen, die in die Romanov-Dynastie einheirateten, nach Rußland, andere entstammten den schon in Rußland seßhaft gewordenen deutschen Ärztefamilien. Wie groß der Anteil ausländischer Ärzte in Rußland im 18. Jahrhundert war, geht aus einer Statistik hervor, die zu dieser Zeit 274 Ärzte im Zarenreich nachweist. Von diesen Ärzten waren 236 Ausländer und dies zum größten Teil Deutsche. 112 Nicht wenige Mediziner machten im öffentlichen Gesundheitswesen und im Staatsdienst Karriere. Beispiele sind die aus einer der bekanntesten deutschen Ärztedynastien in Rußland stammenden Brüder Laurentius und 110 111 112
Smirnov (1910), S. 10. Vgl. Kap. IV, Punkt 4. Vgl. Stricker (1997c), S. 576.
4. Bildungswesen, Wissenschaften und Publikationen
65
Johann Deodat Blumentrost. 113 Laurentius Blumentrost d. J. (1692-1755) wurde 1718 zum Leibarzt an den Hof Peters des Großen berufen und nach dessen Tod zum ersten Präsidenten der Akademie der Wissenschaften ernannt, der er bis 1733 vorstand. Johann Deodat Blumentrost (geb. 1678) war ab 1707 Leibarzt der Gemahlin Peters des Großen Katharina und von 1721 bis 1730 Leiter des gesamten Medizinalwesens in Rußland. Deutsche bzw. deutschstämmige Ärzte waren im 18. Jahrhundert maßgeblich am Aufbau von Krankenhäusern beteiligt, leiteten diese und bildeten in den in dieser Zeit neu errichteten Hospitalschulen den russischen Ärztenachwuchs aus. Aufgrund dieser deutschen Präsenz im Gesundheitswesen war die deutsche Sprache auch in diesem Bereich von tragender Bedeutung. So gelangte die lateinische Fachterminologie in der petrinischen Zeit wiederum über das Deutsche ins Russische (doktor, gospital, medikament).xu Die deutsche Sprache war das Hauptkommunikationsmittel an den russischen Hospitalschulen und den chirurgischen Schulen, weswegen Grundkenntnisse dieser Sprache (sowie des Lateinischen) zu den Aufnahmebedingungen für diese Schulen gehörten. 115 Noch an der zur Zeit Katharinas II. in St. Petersburg gegründeten medizinischen sogenannten Kalinkin-Schule war Deutsch Unterrichtssprache. 116
4. Bildungswesen, Wissenschaften und Publikationen Von den genannten Funktionsbereichen hat die deutsche Sprache im 18. Jahrhundert in Rußland im Bereich von Kultur, Bildung und Wissenschaften wohl die größte und nachhaltigste Wirkung ausgeübt. Deutsch war als Wissenschafts- und Publikationssprache Ko-Sprache zum Lateinischen und in einem Großteil der wissenschaftlichen Einrichtungen und höheren Lehranstalten Vorlesungs- und Unterrichtssprache. Diese Entwicklung war vor allen Dingen eine Folge der überaus engen deutsch-russischen Beziehungen sowohl im Wissenschaftsbereich im engeren als auch im Bildungsbereich im weiteren Sinne, wie sie sich seit der petrinischen Zeit entfalteten und zu einem intensiven personalen und geistigen Austausch führten. Ein weiterer Faktor, der begünstigend auf diese Entwicklung einwirkte, war der beträchtliche Ausbaurückstand des Russischen, das den Erfordernissen 113
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Der Stammvater des russischen Zweiges der Familie Blumentrost, Dr. Laurentius Blumentrost d. Ä., war bereits im Jahr 1663 von Zar Aleksej Michajlovii als Leibarzt aus Sachsen nach Rußland berufen worden. Zur Ärztedynastie der Blumentrosts vgl. Stricker (1997c), S. 578. Vgl. Smirnov (1910), S. 9. Vgl. Kuljabko (1962), S. 24. Vgl. Brückner (1888), S. 404.
66
III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
einer Wissenschaftssprache anfangs nicht genügte und in dieser Funktion zunächst von Fremdsprachen ersetzt werden mußte. Daß sich das Deutsche noch vor dem Französischen neben dem Lateinischen als Wissenschafts- und Publikationssprache behauptete, scheint aus den in Rußland gegebenen Rahmenbedingungen heraus zwar plausibel, ist jedoch keineswegs so selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick scheinen mag. Tatsächlich nämlich hatte sich das Deutsche als Bildungs-, Wissenschafts- und Publikationssprache bis dahin kaum profilieren können. Ganz im Gegenteil war es im deutschsprachigen Raum als Gelehrtensprache bzw. als Unterrichtssprache oder Unterrichtsgegenstand an den höheren Schulen bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts eher selten verwendet worden. 117 Deutschsprachige Literatur war in der Regel Fachprosa, wie etwa Rezeptbücher, handwerkliche Hilfsbücher, populärwissenschaftliche Arzneibücher oder Kosmographien, also nicht eigentlich wissenschaftliche Literatur, wohingegen sich wissenschaftliche Abhandlungen ganz überwiegend des Lateinischen bedienten. 118 Auch richtiggehender Deutschunterricht war in deutschen Landen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch eine Ausnahme. 119 Er setzte sich erst allmählich und das auch nur an den fortschrittlichsten Lehranstalten dieser Zeit durch, z. B. am Pädagogium August Hermann Franckes (1663-1727) in Halle, auf dessen Beziehungen zu Rußland in Kapitel V, Punkt 2 eingegangen wird, oder am Grauen Kloster in Berlin, wo Johann Leonhard Frisch (1666-1743) vermutlich ab 1698 Deutschunterricht erteilte, u. a. auch jungen russischen Aristokraten. 120 Fest etablieren konnte sich der Deutschunterricht an den Schulen in Deutschland erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Als Unterrichts- bzw. Vorlesungssprache begann das Deutsche im deutschsprachigen Raum eine
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An den Grundschulen gab es freilich schon lange vorher Schreib- und Leseunterricht im Deutschen. Zum Verhältnis von Latein und Deutsch als Wissenschaftssprachen im deutschsprachigen Raum vgl. v. Polenz (1994), S. 49-76, 347-359. Vereinzelte Ansätze von Deutschunterricht, und zwar Unterricht in deutscher Rhetorik, hatte es an den höheren Schulen in den deutschen Fürstentümern seit Ende des 17. Jahrhunderts gegeben. Reformpädagogen wie Johann Balthasar Schupp und Christian Weise, Wolfgang Ratke und August Hermann Francke empfahlen in ihren Traktaten „teutsche Oratorie" und „feinen deutschen Stylum" oder setzten dies in Lehrplänen und Unterrichtspraxis gleich um, wie etwa in den Franckeschen Stiftungen in Halle. Tatsächlich jedoch war diese .teutsche Oratorie' eher eine auf die deutsche Sprache übertragene lateinische Stilistik und hatte mit Deutschunterricht im heutigen Sinn wenig gemein. Zu den Anfängen des Deutschunterrichts in Deutschland vgl. Paulsen (1919), S. 474ff.; Müller (1969); Frank (1975), bes. S. 54-115; Gessinger (1980), S. 69; v. Polenz (1994), S. 28, 56. Vgl. Heidemann (1874), 201f.; Matthias weist Deutschunterricht am Grauen Kloster erst für 1734 nach. Vgl. Matthias (1907), S. 97. Zu Frisch vgl. ausführlicher Kap. VI, Punkt
2.
4.1 Akademischer Austausch
67
Rolle zu spielen, nachdem Christian Thomasius 1687 in Leipzig erstmals versucht hatte, das alte Gelehrtenlatein durch Deutsch als Vorlesungs- und Wissenschaftssprache zu substituieren. 121 An der Mehrzahl der deutschen Schulen und Universitäten blieb die Hauptunterrichtssprache jedoch weiterhin Latein. Lediglich als „pädagogisches Hilfsmittel", also etwa zur Einführung in die lateinische Grammatik und Rhetorik sowie bei Übersetzungen, fand Deutsch immer häufiger Verwendung. Als Unterrichtssprache konnte es sich in den deutschen Staaten erst zum Ende des 18. Jahrhunderts durchsetzen. Wenn Deutschunterricht, deutschsprachige Vorlesungen und der Druck deutschsprachiger wissenschaftlicher Literatur in den deutschen Ländern im 18. Jahrhundert also noch keineswegs an der Tagesordnung waren, so kann man für Rußland fast das Gegenteil konstatieren. Welche Bedeutung das Deutsche dort als Bildungs-, Wissenschafts- und Publikationssprache besaß, wird im folgenden zu zeigen sein. 4.1 Akademischer Austausch Daß die deutsche Sprache in Rußland im Bereich von Kultur, Bildung und Wissenschaften ein besonderes Profil gewann, war in erheblichem Maße eine Folge des intensiven akademischen Austausches, wie er sich zwischen deutschen und russischen Wissenschaftseinrichtungen im Zeitalter der Aufklärung entspann und für diese Epoche und den europäischen Raum wohl einzigartig ist. In keinem anderen Land außerhalb der zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation gehörenden Territorien wirkten damals mehr deutsche Gelehrte als in Rußland. Marc Raeff spricht in diesem Zusammenhang sogar von einem „german intellectual and scholarly imperialstic drive": 122 Am Ende des 18. Jahrhunderts gehörten diese Akademiker und ihre Familien zum .festen Inventar' der gesellschaftlichen Elite beider Hauptstädte, besonders in St. Petersburg. Sie dienten als Brücke zwischen zwei Kulturwelten: Sie stellten die wissenschaftliche und technisch ausgebildete Elite, die der russischen Regierung als Experten in verschiedenen Bereichen zur Hand ging; andererseits standen sie mit den aufkommenden schöpferischen Zirkeln der russischen Literaten, Künstler, Musiker und Denker in Verbindung und konnten auf 121
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Von der Leipziger Universität verwiesen setzte Thomasius seine deutschsprachigen Vorlesungen, zu denen bald auch Übungen im deutschen Stil traten, an der Universität Halle fort. Unter dem Konkurrenzdruck aus Halle führte 1711 auch Leipzig offiziell Deutsch als Vorlesungssprache ein. Francke folgte Thomasius nach, indem er die Wissenschaften am Pädagogium vorwiegend auf Deutsch unterrichten ließ. Vgl. Gessinger (1980), S. 70. Raeff (1973), S. 34, zit. nach Hübner (1992), S. 92, Anm. 2. Diesbezügliche Gründe nennt Grau (1992), S. 124.
68
III. Domänen des Deutschen (18. Jh.) diese Weise Elemente aus ihrer heimatlichen deutschen Kulturtradition sowie zeitgenössische Erkenntnisse (besonders auf den Gebieten der Musik, der Wissenschaft und der Technik) in das russische Kulturleben einbringen. 1 2 3
Im Gegenzug zog es auch russische Studenten in zunehmender Zahl an deutsche Universitäten, wo sie ihre Ausbildung zu vervollkommnen suchten. Wer nicht persönlich an diesem personellen Austausch partizipierte, konnte in seiner Heimat die kulturellen und wissenschaftlichen Entwicklungen im jeweils anderen Land verfolgen. In Deutschland war es namentlich der Schriftsteller, Philologe, Literaturkritiker und Verleger Johann Christoph Gottsched (1700-1766), 124 einer der führenden Köpfe der deutschen Frühaufklärung, der in seinen zahlreichen Zeitschriften regelmäßig Informationen über das geistige und akademische Leben in Rußland bereitstellte und daher nach Ansicht Lev Kopelews gemeinsam mit seinen Kollegen als erster ,^ielbewußte[r] Vermittler der russischen Literatur in Deutschland und im Westen schlechthin" zu gelten hat. 125 Gottscheds Hoffnung, eine „feste Verbindung eines aufgeklärten Rußland mit einem aufgeklärten Deutschland" 126 herbeiführen zu können, teilten viele deutsche Gelehrte. Nicht wenige - gerade auch aus Gottscheds unmittelbarer Umgebung - siedelten diesem Ziel verpflichtet ganz nach Rußland über. Da über die deutsch-russischen wissenschaftlichen Beziehungen bereits viel gesagt und geschrieben worden ist,127 soll an dieser Stelle eine ganz kurze Skizze genügen. Im folgenden interessiert vor allem die Frage, auf welche Weise deutsche Gelehrte in Rußland zur Profilierung des Deutschen als Wissenschafts- und Publikationssprache beitrugen und welchen Stellenwert die deutsche Sprache im 18. Jahrhundert als Wissenschaftssprache für die russischen Studenten und damit auch die ersten Generationen russischer Wissenschaftler hatte. Deutsche Gelehrte in Rußland Wie schon aus dem Gesagten hervorging, hatte es deutsche Gelehrte schon seit dem 16. Jahrhundert immer wieder nach Rußland verschlagen, wobei es sich vor allem um Mediziner und Apotheker gehandelt hatte, die von den Zaren als Leibärzte vorzugsweise aus Deutschland berufen wurden. Die erste größere Gruppe deutscher Wissenschaftler kam allerdings erst 123 124
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Raeff (1992), S. 71. Gottsched, der Leipziger „Literaturpapst", gewann im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts weitreichenden Einfluß. Zu dieser Zeit bezeichnet er den Höhepunkt der rationalaufklärerischen Sprach-, Literatur- und Kunsttheorie in ganz Mitteleuropa. Zu Gottscheds engem Verhältnis zu Rußland vgl. Kopelew (1987). Kopelew (1987), S. 356. (Hervorhebung im Original). Ebd., S. 344. Vgl. Kap. I, Punkt 2.
4.1 Akademischer Austausch
69
1725 anläßlich der Gründung der Petersburger Akademie der Wissenschaften nach Rußland. Nachdem Bildungs- und Ausbildungsangelegenheiten zuvor fast ausschließlich in der Hand der orthodoxen Kirche gelegen hatten, gehörte der Aufbau eines weltlichen Bildungssystems zu den vorrangigen Reformvorhaben Peters des Großen. In diesen Fragen beriet er sich mit Leibniz, der außerordentliches Interesse an der Zukunft Rußlands zeigte und mit dem Zaren seit 1697 in Kontakt stand.128 Die Gründung der Akademie der Wissenschaften, zu der Leibniz einen Anstoß gegeben hatte, bildete den ersten Höhepunkt der bildungspolitischen Maßnahmen. Mit Laurentius Blumentrost d. J. erhielt die Akademie einen in Rußland geborenen Deutschen als ersten Präsidenten. Auch die ersten 16 Mitglieder der Akademie waren Ausländer, 13 davon Deutsche. Durch die Vermittlung des Philosophen und Leibnizschülers Christian Wolff, den Peter gerne selbst an der Spitze seiner Akademie gesehen hätte - ein Angebot, welches jener nach mehrjährigen Verhandlungen ablehnte - , konnten namhafte deutsche Wissenschaftler zur Übersiedlung nach Rußland bewogen werden.129 Doch auch für junge Magister, die ihr Studium gerade erst absolviert hatten, bot die neue Akademie vielversprechende Arbeits- und Verdienstmöglichkeiten. Nicht wenige von ihnen haben später eine glänzende Karriere gemacht, z. B. der berühmt gewordene Mathematiker Leonhard Euler (1707-1783), die Historiker August Ludwig Schlözer (1735-1809)130 und Gerhard Friedrich Müller (1705-1783),131 ein Kommilitone Gottscheds, sowie der schon erwähnte Jakob Stählin (1709-1785),132 ein Schü128
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Zu „Gottfried Wilhelm Leibniz' Wirken fllr Peter den Großen und sein Reich" vgl. den gleichnamigen Beitrag von Keller (1985b); außerdem Benz (1947). Vgl. Hübner (1992), S. 92. Ein komplettes Verzeichnis der Akademiemitglieder des 18. Jahrhunderts bietet Amburger (1961b), S. 45-52. Der Historiker, Statistiker und Publizist A. L. Schlözer war ab 1762 Adjunkt und von 1765 bis 1769 Professor der Geschichte an der Akademie der Wissenschaften zu St. Petersburg. 1769 ging er als Professor für Geschichte an die Universität Göttingen, blieb aber Ehrenmitglied der Petersburger Akademie. Zu Schlözer als Historiograph Rußlands vgl. Hecker (1987), S. 197-213; zu seinem sprachwissenschaftlichen Werk vgl. Brekle u. a. (2001), Bd. 7, S. 344-349. G. F. Müller, Historiker, Archivar, Forschungsreisender, wirklicher Staatsrat, Sekretär und Mitglied der Petersburger Akademie der Wissenschaften, wurde 1725 zum Adjunkten der Akademie ernannt und war von 1730 bis 1783 dortselbst Professor der Geschichte. Von 1728 bis 1730 und von 1754 bis 1765 war er Konferenzsekretär. Seit 1765 lebte und arbeitete er ständig in Moskau. Vgl. Amburger (1961b), S. 46. Zu Müllers geschichtswissenschaftlichem Werk vgl. Hecker (1987), S. 192ff., zu Müller als Sprachwissenschaftler vgl. Brekle u. a. (1998), Bd. 6, S. 264-267. Mehrere Beiträge, die Müllers Wirken als Akademiemitglied, Ethnographen der Völker Sibiriens, als Astronomen, als Historiker und Pädagogen würdigen, liegen jetzt auch in Smagina (1999a), S. 475517 vor.
70
III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
ler Gottscheds. Von den 111 Mitgliedern, die zwischen 1725 und 1799 der Petersburger Akademie angehörten, stammten allein 55 aus deutschen Ländern. 133 Insgesamt 68 Mitglieder sprachen Deutsch als Muttersprache, zwei weitere nahmen diese Sprache später als Umgangs- und Fachsprache an. Die Verwaltungsangestellten und sonstigen Mitglieder der Akademie waren in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ebenfalls überwiegend Deutsche. In der Zeit von 1803 bis 1917 waren unter den 212 ordentlichen Mitgliedern der Akademie immerhin noch 30 Gelehrte aus Deutschland und 15 aus den baltischen Provinzen. 134 Ebenso wie bei der Gründung der Akademie der Wissenschaften wurden auch bei der Eröffnung der Moskauer Universität im Jahr 1755 viele Lehrstühle mit deutschen Professoren besetzt. 135 Und auch anläßlich der Hochschulreform von Alexander I., der gleich zu Beginn seiner Regierungszeit mehrere neue Universitäten einrichtete (die deutschsprachige Universität Dorpat sowie Charkov, Kazan' und Wilna), wurden vorzüglich deutsche Professoren berufen. 136 Die deutschen Gelehrten sowie die zahlreichen Lehrer und Pädagogen, die an russischen Bildungseinrichtungen, den deutschen Schulen oder im Bereich der Privaterziehung wirkten, leisteten einen enormen Beitrag zur Entwicklung des russischen Bildungs- und Wissenschaftssystems, der, was das Schulwesen betrifft, bislang nur wenig erforscht wurde. 137 Deutsche partizipierten am Aufbau der wissenschaftlichen Institutionen, trieben die Forschung voran und bildeten die ersten Generationen russischer Gelehrter aus. Sie entwarfen Pläne für das zu gründende Schulsystem, 138 hatten Anteil an der Gründung und Organisation neuer Lehranstalten, unterrichteten dort und schrieben Lehrbücher. Sie übersetzten wissenschaftliche Literatur, gaben populärwissenschaftliche Zeitschriften heraus, leiteten Bibliotheken, beförderten den Buchhandel und forcierten die Einfuhr und Verbreitung deutschsprachiger wissenschaftlicher Literatur und Belletristik. Sie publizierten auf Deutsch, hielten in dieser Sprache Vorlesungen und Unterrichtsveranstaltungen ab und stärkten so den Status der deutschen Sprache als Wissenschaftssprache und Unterrichtssprache an Hochschulen und 132
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Der Staatsrat Jakob von Stählin war ab 1735 Adjunkt und von 1737 bis 1785 Professor der Eloquenz und Poesie an der Akademie der Wissenschaften. Von 1765 bis 1769 war er auch Konferenzsekretär. Vgl. Amburger (1961b), S. 47. Dazu kamen drei Deutsche aus Westpreußen und Danzig, drei aus dem Baltikum und zwei, die in deutschen beziehungsweise deutschsprachigen Familien in Rußland geboren waren. Sieben Professoren stammten aus der Schweiz. Vgl. Amburger (1961b), S. 45f. Maier (1984), S. 28 weist daraufhin, daß es im selben Zeitraum 25 russische Akademiemitglieder gegeben hat. Michail Lomonosov war 1745 der erste Russe, der Aufnahme in den Kreis der Akademiker fand. Zu den deutschen Professoren an der Moskauer Universität vgl. Petrov (1997). Im Detail hierzu Amburger (1961b), S. 40f. Vgl. Kap. I, Punkt 2, Anm. 75-80. Vgl. Smagina (1998b), S. 16-21.
4.1 Akademischer Austausch
71
Schulen. All dies forderte die Verbreitung der deutschen Sprache und Literatur - nicht nur in Petersburg und Moskau, sondern auch in „Kiov und Smolensko", wie Gottsched in Deutschland erfreut zur Kenntnis nahm. 139 All dies läßt sich konkret bemessen, zum Beispiel an der Zahl der in Rußland gedruckten deutschsprachigen Schriften bzw. an der Verbreitung deutschsprachiger Bücher überhaupt, auf die weiter unten eingegangen wird. 140 Russische Studenten in Deutschland Das hohe Renommee, das deutsche Erzieher und Lehrer in Rußland genossen, war sicherlich mit ein Grund dafür, daß Deutschland und die deutschen Universitäten im 18. Jahrhundert eine immer größere Anziehung auf junge Russen auszuüben begannen. Peter I. und später vor allem Katharina II. waren nicht nur um die Schaffung von Bildungsstätten im eigenen Lande bemüht, sie nutzten auch die sich im Ausland bietenden Bildungsmöglichkeiten und schickten begabte junge Männer systematisch zum Studium nach Westeuropa, wobei die deutschen Universitäten und allen voran Leipzig, Göttingen, Königsberg sowie die deutschsprachige Universität Straßburg im französischen Elsaß und das holländische Leiden besonderen Vorzug genossen. 141 Die Studenten aus Rußland, zu denen auch viele Baltendeutsche und andere in Rußland geborene Deutsche zählten, lassen sich mit Amburger drei Kategorien zuordnen. Zur ersten Gruppe gehören die „Söhne von Staatsmännern und anderen Edelleuten, die ins Ausland geschickt wurden, 139 140
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Kopelew (1987), S. 344. Auf beide Aspekte geht Punkt 4.2 dieses Kapitels naher ein; zur Rolle des Deutschen als Unterrichtssprache vgl. Kap. IV, Punkt 6. In Leipzig, Göttingen und Königsberg haben im 18. Jahrhundert jeweils mehrere Dutzend Russen und Ukrainer studiert. Des weiteren wurden in Deutschland die Universitäten Kiel, Halle, Wittenberg, Erlangen, Jena, Marburg und Tübingen von russischen Studenten besucht. Außerhalb des deutschsprachigen Raumes studierten Russen an den Universitäten in Paris, Oxford, an schottischen und italienischen Universitäten sowie schließlich an den Universitäten in Kopenhagen und Uppsala. Einen sehr guten Oberblick über die russischen Studenten an deutschsprachigen Universitäten im 18. Jahrhundert gibt Amburger (1961d) mit weiterer Literatur; zu den russischen Studenten in Halle (dort auch an den Franckeschen Stiftungen) vgl. Winter (1953), S. 98-106; Tetzner (1956), S. 198f.; zu den Leipziger Studenten vgl. Hoffmann (1956); Boden (1992), S. 461-467; Busch (1992a), S. 358ff. mit einem Namensverzeichnis aller russischen Studenten in Leipzig von 1562-1806; Hillert (1997), S. 61-77; zu den Göttinger Studenten vgl. Lauer (1973). Vgl. außerdem Mühlpfordt (1976), S. 121; (1997), S. 8 7 f f ; KostjaSov/Kretinin (1994). Zu den 23 im Laufe des 18. Jahrhunderts von der Akademie der Wissenschaften nach Deutschland entsandten russischen Stipendiaten vgl. Osipov (1995), S. 92-135.
72
III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
um ihre allgemeine Bildung und Erziehung zu vervollständigen und sich für eine Laufbahn im Staatsdienst vorzubereiten". Zur zweiten zählen Theologen, die zumeist von der geistlichen Akademie in Kiev kamen, und zur dritten schließlich Staatsstipendiaten, d. h. „auf Staatskosten entsandte [...] Studenten, die einen akademischen Beruf ergreifen sollten, meist Söhne armer Edelleute oder kleiner Beamten, aber auch Seminaristen bäuerlicher Herkunft", wie beispielsweise Michail Lomonosov. 142 Da über die russischen Studenten in Deutschland ebenfalls ausführlich publiziert worden ist, 143 will ich mich hier auf die Frage konzentrieren, welche Bedeutung deutsche Sprachkenntnisse für russische Studenten hatten, die zum Studium nach Deutschland gingen. Besaßen sie bereits Deutschkenntnisse oder erwarben sie sie vor oder während ihres Studiums in Deutschland? Mußten sie diese Sprache überhaupt beherrschen, um an einer deutschen Universität studieren zu können? Welche Rolle spielte die deutsche Sprache für sie nach der Rückkehr nach Rußland? Die Frage der sprachlichen Verständigung war ein Problem, das sich den jungen Russen im Ausland in aller Dringlichkeit stellte, weswegen es in den Quellen, die weiterführende Informationen über das Auslandsstudium von Russen enthalten, auch gelegentlich thematisiert wird. In der petrinischen Zeit verfolgte der Deutschlandaufenthalt junger Russen primär ein Ziel, nämlich Deutsch und Latein zu lernen, was ganz dem Pragmatismus Peters des Großen entsprach, dem vor allem an der praktischen Ausbildung seiner Untertanen gelegen war. So entsandte der Zar schon in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts junge Edelleute zur Erlernung der deutschen Sprache nach Deutschland. An der 1687 gegründeten fürstlichen Akademie von Wolfenbüttel lernten beispielsweise die Moskauer Michail Pavloviö Safirov und Sergej Borisoviö Golicyn ein halbes bzw. ein Vierteljahr. 144 Ebenfalls nach Wolfenbüttel führte es die Brüder Aleksandr und Ivan Gavriloviö Golovkin, die von dort nach Halle und Leipzig weiterzogen. In Leipzig immatrikulierten sie sich im Sommersemester 1704, wechselten im Juli 1705 jedoch an die neu errichtete Berliner Fürsten- und Ritterakademie über, um dort ihre Studien fortzusetzen. In Berlin wurden sie mit einigen anderen jungen russischen Adligen von dem schon erwähnten J. L. Frisch unterrichtet. Beide Brüder schlugen später die diplomatische Laufbahn ein: Aleksandr von 1711 bis 1727 als Gesandter in Berlin, Ivan als Gesandter in Holland. 145 Fedor KoSyrin wurde 1702 mit zehn Kameraden nach Sachsen geschickt, um dort Bergwesen, »Sächsisch', Latein und Französisch zu
142 143 144 145
Amburger (1961d), S. 225. Zur Forschungsliteratur vgl. Kap. I, Punkt 2, Anm. 53. Vgl. Conrads (1982), S. 309. Vgl. Doerris (1939), S. 78; vgl. auch Brückner (1879), S. 177.
4.1 Akademischer Austausch
73
lernen.146 Ein anderer junger Russe, der sich in Deutschland aufhielt, um Deutsch zu lernen, war Aleksandr Petrov. Er lernte Deutsch in Hannover, was aus einem Brief an Leibniz hervorgeht, der den Aufenthalt junger Russen in Deutschland mit Interesse verfolgte. Dort heißt es, der junge Russe habe „die deutsche Sprache sich so ziemlich angeeignet" und beschäftige sich daher jetzt mit der lateinischen Sprache.147 Während der russische Adel solchen Kavalierstouren westeuropäischen Vorbilds anfangs höchst ablehnend gegenüberstand und Peter seine Gefolgsleute vielfach zu solchen zwingen mußte, scheint sich bei vielen Russen von Stand nach und nach doch die Einsicht in die Notwendigkeit solcher Bildungsreisen eingestellt zu haben. So berichtet Brückner über einen Brief eines russischen Adligen an seinen auf Befehl Peters im Jahr 1708 zu Studienzwecken nach Holland entsandten Sohn folgendes: Der Vater ertheilt dem jungen Manne allerlei gute Lehre. Er stellt ihm vor, er solle es nicht als eine Benachtheiligung oder als eine schwer zu erfüllende Pflicht ansehen, daß der Zar ihn ins Ausland geschickt habe, die Reise habe im Gegentheil den Zweck, den Sohn zu einem tüchtigen und fähigen Diener des Zaren zu machen, es sei eine ungeheure Schranke zwischen dem Wissen und dem nicht Wissen, daher solle der Sohn jede Stunde gewissenhaft benutzen und eifrig und unermüdlich den Wissenschaften obliegen; es folgt dann der dringende Rath die deutsche und die französische Sprache zu erlernen [...]. Nicht eigentlich um Ingenieur oder Seemann zu werden, solle der Sohn diese Fächer studieren, sondern nur für den Fall, daß der Zar ihm eine Anstellung geben werde, bei welcher derartige Kenntnisse erforderlich seien. 1 4 8
Die erste größere Gruppe von Studenten, und zwar 33 junge Amtsschreiber [pod'jacie] aus Moskau, Petersburg, verschiedenen anderen und sogar sibirischen Städten,149 schickte Peter 1717 zum Studium nach Königsberg, wo sie, wie in einem diesbezüglichen Ukaz eigens festgelegt wurde, Deutsch lernen sollten, damit sie später erfolgreich in den neuen Kollegien wirken könnten.150 Während die Studenten der petrinischen Zeit wegen der schlechten Bildungssituation in ihrer Heimat oftmals ohne jegliche sprachliche Vorbereitung ins Ausland aufbrachen, hatten die Studenten seit Mitte der 1720er Jahre zumindest theoretisch die Möglichkeit, an den neu geschaffenen Schulen Deutschkenntnisse zu erwerben. Den Quellen nach zu urteilen 146 147
148 149 150
Vgl. Belokurov (1907), S. 102. Zit. nach Brückner (1879), S. 177. Bei diesem jungen Mann handelt es sich vermutlich um den bei Doerris erwähnten A l e k s e j PetroviC ( 1 6 9 3 - 1 7 6 8 ) , der später auch an der Berliner Ritterakademie lernte und ab 1712 an der Berliner Gesandtschaft tätig war. Vgl. Doerris (1939), S. 79. Brückner (1879), S. 179. Und zwar A r c h a n g e l s k , Azov, Smolensk, Kiev, Kazan' und N i i n i j Novgorod. PSZ, Bd. 5, Nr. 2 9 8 6 . Vgl. KostjaSov /Kretinin (1994).
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
hatten sie dabei jedoch unterschiedlichen Erfolg. Mit schon recht guten Deutschkenntnissen scheint der ukrainische Theologe, spätere Bischof von Pskov und enge Vertraute Katharinas II. Simeon Todorskij (1699-1754) im Jahr 1729 seine Bibelstudien bei den Pietisten in Halle aufgenommen zu haben. 151 Todorskij war nach seiner Ausbildung an der geistlichen Akademie in Kiev 1727 nach St. Petersburg gekommen und dort ausdrücklich mit dem Ziel Deutsch zu lernen in das Akademische Gymnasium eingetreten. 152 In Halle, einem unter Russen und Ukrainern zu dieser Zeit besonders beliebten Studienort, wo Todorskij 1729 bis 1735 seine Theologiestudien fortsetzte, beherrschte er das Deutsche dann schon so perfekt, daß er die deutsche Bibel und pietistische Literatur mühelos verstand. 153 Von der Wichtigkeit der Kenntnis moderner Fremdsprachen überzeugt führte Todorskij nach seiner Rückkehr aus Halle im Jahr 1738 an der geistlichen Akademie in Kiev Deutsch- und Französischunterricht ein und hat das Deutsche einige Jahre lang auch selbst unterrichtet. In späteren Jahren dürften ihm seine Deutschkenntnisse zugute gekommen sein, als er der jungen Großfürstin Katharina vor ihrer Konvertierung zum orthodoxen Glauben in religiösen Fragen beistand. Ebenfalls am Akademischen Gymnasium in Petersburg machte sich Michail VasileviC Lomonosov (1711-1765), 154 der berühmteste russische Gelehrte des 18. Jahrhunderts, mit den „Anfangsgründen" der deutschen Sprache vertraut, doch scheint er hierin in den acht Monaten, die er am Gymnasium verbrachte, nicht eben weit gekommen zu sein. Als er im September 1736 gemeinsam mit seinen zwei Kommilitonen Dmitrij Ivanoviö Vinogradov (1720-1758) und Georg U. Reiser von der Akademie der Wissenschaften nach Marburg zum Studium der Naturwissenschaften bei Christian Wolff abkommandiert wurde, gab ihm Akademiepräsident Baron Korff die ausdrückliche Order mit auf den Weg, auch die deutsche Sprache sowie das Lateinische und das Französische in Marburg so weit zu erler-
151
152
153 154
Zu Todorskij und seinen Bezügen zum deutschen Pietismus vgl. Hecker (1992a), S. 119130. So wurde es in der Gymnasialmatrikel ausdrücklich vermerkt. Vgl. Suchomlinov (1885), Bd. 1, S. 329. Warum sich Todorskij speziell filr die deutsche Sprache interessierte, geht aus den Quellen nicht hervor. Hecker vermutet, daß dieses Interesse noch nicht mit dem von Todorskij erst später ins Auge gefaßten Studienaufenthalt in Halle in Zusammenhang steht, sondern durch den Umstand erweckt wurde, daß Deutsch in Rußland damals überhaupt immer mehr an Ansehen gewann. Vgl. Winter (1956); Hecker (1992a). Vgl. Hecker (1992a), S. 122. Zu Lomonosovs Vita vgl. RBS, Bd. 10, S. 592-629; speziell zu seiner Einstellung zu Deutschland und den Deutschen vgl. Kopelew (1992b); zu Lomonosovs Sprachstudien vgl. RBS, Bd. 1, S. 79; Biljarskij (1865), S. 641; Lotman (1958); Makeeva (1961), S. 25; Morosov (1962), S. 196, 207, 446; Poiepcov (1964); Amburger (1961d), S. 217; Auburger (1985), S. 49.
Abb.2: M. V. Lomonosov
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
nen, daß er frei schreiben und sprechen könne. 155 Einer Äußerung Wolffs zufolge, der sich fürsorglich und verständnisvoll der ihm anvertrauten Russen annahm, müssen Lomonosovs Deutschkenntnisse anfangs unzureichend gewesen sein. So berichtet Wolff, der seine Vorlesungen auf Deutsch hielt und sich der Schwierigkeiten, welche die jungen Russen zu überwinden hatten, durchaus bewußt war: „Es wil freylich Zeit haben, biß sich ein Russe, der gar nichts von der deutschen Sprache kan, darinnen perfectioniret". 156 Nach einem Jahr konnte Wolff jedoch an die Akademie melden, daß Lomonosov und Vinogradov nun auf Deutsch zu sprechen begönnen und recht gut verstünden, worüber man spreche. 157 Wie vorzüglich sich Lomonosov das Deutsche in Marburg tatsächlich angeeignet hat, belegen die Rechenschaftsberichte, die er in deutscher Sprache verfaßte und an die Akademie schickte. 158 Als Lomonosov 1741 nach Rußland zurückkehrte, besaß er hervorragende Deutsch- und Lateinkenntnisse, wegen derer ihn die Akademie gleich zu Übersetzungsarbeiten heranzog. 159 Auch das Französische hatte er einigermaßen gelernt. Diese Leistung anerkennend bemerkte der russische Aufklärer und Verleger N. I. Novikov: 'Er [Lomonosov - K.K.], der erst in einem solchen Alter begann, Fremdsprachen zu lernen, in dem es viele für unmöglich halten, sich in jenen zu üben, erreichte eine große Vollkommenheit. Er schrieb und sprach die deutsche Sprache fast so wie seine eigene, das Lateinische beherrschte er sehr gut und schrieb es auch, Französisch und Griechisch verstand er nicht schlecht, und in der Kenntnis der russischen Sprache, seiner Muttersprache, die von ihm stark gereinigt und bereichert wurde, wurde er seinerzeit als einer der ersten verehrt.' 1 6 3
Lomonosov blieb nicht zuletzt aufgrund seiner persönlichen Bindungen er hatte in Marburg eine Deutsche geheiratet - der deutschen Sprache und Kultur verbunden. Er bediente sich des Deutschen nicht nur passiv, etwa bei der Rezeption wissenschaftlicher Literatur, sondern pflegte es aktiv mündlich wie schriftlich als Ko-Sprache zum Russischen: im Gespräch mit den deutschsprachigen Kollegen in der Akademie oder zu Hause mit seiner 155 156 157 158 159 160
Vgl. Makeeva (1961), S. 25. Christian Wolff zit. nach Amburger (1961d), S. 217. Pofiepcov (1964), S. 108. Vgl. Lomonosov (1955), Bd. 10, Nr. 500, S. 361ff., Nr. 501, S. 363ff„ Nr. 502, S. 368ff. Vgl. Pofiepcov (1964), S. 108. „NaCav uCit'sja inostrannym jazykam v takich u i letach, v koich mnogie za nevozmoinost' pofiitajut v nich uprainjatsja, dostig on do velikogo soveräenstva. Na nemeckom jazyke pisal i govoril, kak pofiti na svoem prirodnom; latinskij znal ofien' choroSo i pisal na nem; francuzskij i grefieskij razumel ne chudo, a v znanii rossijskogo jazyka jako ego prirodnogo i im mnogo vyfiiäfiennogo i obogaSiennogo, pofiitalsja on v svoe vremja v Cisle pervych." N. I. Novikov zit. nach Pofiepcov (1964), S. 106. Zu Novikov vgl. unten Punkt 4.3.
4.1 Akademischer Austausch
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Frau, beim Anfertigen von Notizen sowie beim Abfassen einiger Aufsätze.161 Welchen Stellenwert die deutsche Sprache im Leben Lomonosovs besaß, läßt sich zudem an seinem wissenschaftlichen Schaffen ablesen. So war das Deutsche die in Lomonosovs Russischer Grammatik am häufigsten zu Vergleichen mit dem Russischen herangezogene Sprache, was im übrigen auch bezeichnend für seinen breiten Verwendungsgrad in Rußland überhaupt sein dürfte. Darüber hinaus wirkten sich Lomonosovs Sprachkenntnisse auf seine wortschöpferische Tätigkeit aus. Hüttl-Worth konnte nachweisen, daß Lomonosov, der insbesondere zum Ausbau des wissenschaftlich-technischen Wortschatzes des Russischen beigetragen hat, „Fachausdrücke nach lateinischen und deutschen Vorbildern" schuf. Lomonosovs „ausgezeichnete Deutschkenntnisse [wirkten fühlbar] auf seine russische Ausdrucksweise [ein]".162 Außer Lomonosov und seinen zwei Kommilitonen schickte die Petersburger Akademie im Laufe des 18. Jahrhunderts noch 20 weitere Studenten auf Staatskosten zum Studium an deutsche Universitäten: 'Zur Erlangung einer vollwertigen europäischen Ausbildung'. 163 Die Studenten wurden von einer Professoren-Kommission ausgewählt und mußten nicht nur besondere wissenschaftliche Befähigungen, sondern auch Fremdsprachenkenntnisse nachweisen. 164 Einen Hinweis auf deren Qualität gibt das Beispiel von V. P. Svetov, den die Akademie gemeinsam mit seinen Studienkollegen V. Venediktov, P. B. Inochodcev und I. Judin im Mai 1765 für sechs Semester zum Studium nach Göttingen schickte.165 Noch während seines Studiums übersetzte Svetov, der mit seinen Kollegen auch noch in Göttingen Deutschunterricht erhielt, das Lehrbuch seines Professors Gottfried Achenwall Geschichte der heutigen vornehmsten Europäischen Staaten im Grundrisse vom Deutschen ins Lateinische. Nach seiner Rückkehr nach Petersburg, wo Svetov in den Übersetzerstab der Akademie aufgenommen wurde, übersetzte er dieses Werk auch noch ins Russische, ebenso wie eine 161 162
163 164
165
Vgl. Hillert (1997), S. 62; Auburger (1985), S. 49. Hüttl-Worth (1956), S. 25f. Deutsche Vorbilder sind ferner auch im wortschöpferischen Schaffen Novikovs und N. M. Karamzins (1766-1828) nachzuweisen. Vgl. dazu HüttlWorth (1956), S. 38ff„ 60ff. „[...] dlja poluienija polnocennogo evropejskogo obrazovanija." Osipov (1995), S. 95. Osipov (1995), S. 112. Als Beispiel sei auch noch der Jurist Aleksej Jakovleviö Polenov (1738-1816) angeführt, der sich mit Unterstützung Lomonosovs mühsam die Delegation zum Studium erkämpfte und schließlich ab 1763 zuerst in Straßburg, von November 1766 bis Mai 1767 dann in Göttingen studierte und nach seiner Rückkehr 22 Jahre lang als Jurist und Übersetzer im Senat arbeitete. Schließlich wurde er Staatsrat und Mitglied einer Gesetzeskommission. Von Polenov wissen wir sicher, daß er vor seinem Auslandsstudium in Petersburg schon Deutschunterricht erhalten hat. Vgl. Busch (1992a), S. 362364, ebd. Anm. 50. Zu den Göttinger Stipendiaten vgl. Osipov (1998).
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
Reihe anderer Werke deutscher Autoren, wie z. B. geographische Arbeiten A. F. Büschings sowie einen Teil der ,Expeditionsaufzeichnungen' von J. G. Gmelin. 166 Daß russische Studenten, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Studium nach Deutschland bzw. an eine deutschsprachige Universität gingen, über ausreichende Deutschkenntnisse verfugten, war keine Selbstverständlichkeit. Von einer im Jahre 1758 zum Studium an die Königsberger Universität gesandten Gruppe von Studenten der Moskauer Universität weiß man beispielsweise, daß sie wegen Unkenntnis des Deutschen nicht immatrikuliert werden konnten und mit einem Privatlehrer zuerst das Notwendige nachholen mußten. Einer von ihnen, M. I. Afonin (1739-1810), später Professor für Landwirtschaft in Moskau, berichtete hierüber: '[...] da wir die deutsche Sprache nicht beherrschten, in der dort die Vorlesungen abgehalten wurden, konnte uns die Königsberger Universität nicht in die Zahl der Studenten aufnehmen. U m uns im Deutschen zu vervollkommnen und im Lateinischen zu üben, lernten wir deshalb auf den Rat des Gouverneurs hin ein ganzes Jahr beim Rektor Nadrovskij; nach Verlauf dieses Zeitraums wurden wir auf unsere Bitte hin in der deutschen und der lateinischen Sprache v o m Dekan der philologischen Fakultät Teske geprüft und nach der üblichen Art und Weise in die Universität immatrikuliert.' 1 ®'
Ähnliches ist aus Leipzig bekannt, wohin Katharina II. größere Gruppen von Staatsstipendiaten entsandte. Diese Studenten sollten in Leipzig Sprachunterricht in Deutsch, Französisch und Latein erhalten und Vorlesungen in Staats- und Rechtswissenschaften hören. Da ihre Sprachkenntnisse dazu anfangs nicht genügten, mußten sie sich von Repetitoren beim Sprachstudium helfen lassen. 168 Einer dieser jungen Russen in Leipzig war Aleksandr NikolaeviC Radi§öev (1749-1802), 169 der als bedeutender russischer Aufklärer und Verfasser der 1790 erschienenen Reise von Petersburg nach Moskau (1790) in die russische Literatur- und Geistesgeschichte eingegangen ist. Nach Lomonosov war er der zweite prominente russische Schriftsteller, der einen wesentlichen Teil seiner Ausbildung in Deutschland absolvierte. RadiSöev 166
167
168 169
Naöertanie istorii nyneSnich znatnejsich gosudarstv (SPb., 1779). Vgl. Osipov (1995), S. 118, Anm. 3, 123; außerdem ders. (1998), S. 62. „[...] tak kak my ne znali nemeckogo jazyka, na kotorom tarn iitalis' lekcii, to Kenigsbergskij universitet ne mog prinjat' nas v Cislo studentov. Poetomu dlja usoveräenstvovanija v nemeckom jazyke i uprjainenija v latinskom my zanimalis' celyj god u rektora Nadrovskogo po sovetu gubernatora, po isteCenii ze etogo sroka, po naäej pros'be, nas proekzamenoval po nemeckomu i latinskomu jazykam dekan filosofskogo fakul'teta Teske, i my byli prinjaty obyCnym porjadkom v Cislo studentov universiteta [...]." PenCko (1956), S. 179. Vgl. Amburger (1961d); Boden (1992), S. 461-466; Hoffmann (1956). Zu RadiäCevs Studium in Leipzig und den nachhaltigen Einflüssen, die die dort gemachten Erfahrungen auf sein weiteres Leben ausübten, vgl. Boden (1992), S. 460-472.
4.1 Akademischer Austausch
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hatte zunächst die Schule des Petersburger Pagenkorps besucht und war aufgrund seiner hervorragenden Leistungen von Katharina II. mit 12 weiteren jungen Russen zum Studium nach Leipzig geschickt worden, wo er sich von Mitte Februar 1767 bis Ende Oktober 1771 fast durchgehend aufhielt. Das Studium bei so namhaften Professoren wie Karl Ferdinand Hommel, Johann August Ernesti, Christian Fürchtegott Geliert, Ernst A. Platner u. a., die intensive Rezeption der Ideen der westeuropäischen, vor allem der französischen Aufklärung, für die das liberale Leipzig ein wichtiger .Umschlagplatz' war, aber auch das mehr als entbehrungsreiche studentische Dasein - RadiäCev und seine Kollegen lebten in Leipzig „unter zum Teil entwürdigenden Existenzverhältnissen"170 - diese Erfahrungen haben Radiäöev nachhaltig geprägt und „vieles spricht für die Annahme, daß sie sein Denken, ja seine ganze Persönlichkeit entscheidend geformt haben". 171 An dieser Stelle sei nur auf seine „lebenslange Verbundenheit mit deutscher Sprache, Literatur und Kultur" eingegangen, die ebenfalls ein „Ausfluß der Leipziger Erfahrungen" war.172 Nach Boden ist anzunehmen, daß RadiSCev das Deutsche - ebenso wie das Französische - nach Abschluß der Leipziger Studienzeit perfekt beherrscht hat. Es hatte sogar als Muttersprache nahezu das Russische verdrängt, das er nach eigenem Bekunden bei der Rückkehr weitgehend verlernt hatte und mühsam wieder auffrischen mußte. 1 7 3
Ebenso soll auch ein Studienkollege Radiäöevs, Vasilij Nikolaeviö Zinov'ev (1754-1816?) bei seiner Rückkehr aus Deutschland „besser Deutsch als Russisch gesprochen" haben.174 Radiäöev betätigte sich, zurück in Rußland, bald als Übersetzer im Umfeld Novikovs,175 hat aber auch später immer wieder aus dem Deutschen übersetzt.176 Die Rezeption deutscher Literatur setzte er zeitlebens fort, sogar in der sibirischen Verbannung, die er als Folge der Reise zu erdulden hatte, wo er belegtermaßen „geradezu ängstlich darum besorgt gewesen ist, nicht von der Versorgung mit aktuellen deutschen Literaturzeitschriften, wie der .Berlinischen Monatsschrift', abgeschnitten zu werden".177 Radiäöev war „ein vorzüglicher Kenner deut170
Boden (1992), S. 463. Ebd., S. 466. 172 Ebd., S. 467. 173 Ebd. 174 Busch (1992a), S. 354. 175 Yg| u n t e n ¡ n diesem Kapitel. 176 Als Beispiele nennt Boden RadiSCevs Übertragung des Gelähmten Kranich von Ewald von Kleist, sowie in der Reise ein Kapitel mit Ausführungen zur Entstehung und Geschichte der Zensur in Europa, die vermutlich Übersetzungen aus den ab 1780 in Leipzig erschienenen Beiträgen zur Geschichte der Erfindungen des Göttinger Professors Johann Beckmann darstellen. Vgl. Boden (1992), S. 467ff., 470. 177 Boden (1992), S. 468. 171
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
scher Philosophie", interessierte sich aber auch für Geschichte, Naturwissenschaften, Staatslehre und Pädagogik. 178 Die Erkenntnisse, die er aus dieser weitgespannten Beschäftigung mit dem deutschen Geistesleben zog, hat er in seinem literarischen Werk verarbeitet und so Ideen der deutschen Aufklärung nach Rußland vermittelt. Zusammenfassend ist folgendes festzuhalten: Die meisten russischen Studenten mußten, wie die Beispiele zeigten, an ihren Gastuniversitäten in aller Regel erst einmal gründlich Deutsch lernen, um dann weitere Fächer studieren zu können. Nicht anders als heute war es ein wichtiges, mitunter das primäre Ziel des Auslandsstudiums, Fremdsprachen zu lernen, bzw. die vorhandenen Kenntnisse zu vertiefen. Studenten sollten möglichst früh ins Ausland gehen, da man annahm, daß sie „in jungen Jahren die Fremdsprachen leichter lernen". 179 Dafür suchte man auch entsprechende Bedingungen zu schaffen, beispielsweise indem man die Studenten getrennt in deutschen Familien unterbrachte, 'damit sie sich mehr an den Umgang mit den Ausländern gewöhnten'. 180 Auch wenn wir nicht in jedem Einzelfall darüber unterrichtet sind, scheint es doch so zu sein, daß die meisten der Studenten recht erfolgreich Deutsch lernten und mit ordentlichen oder sogar ausgezeichneten Sprachkenntnissen nach Rußland zurückkehrten. Einige Beispiele hierfür wurden bereits angeführt. Auch in vielen anderen Fällen lassen sich solche Kenntnisse konkret nachweisen, gelangte doch ein beträchtlicher Teil jener Studenten in Rußland später zu Rang und Namen. So weist Berkov ausdrücklich darauf hin, daß die hervorragendsten russischen Gelehrten des 18. Jahrhunderts an deutschen Universitäten studiert hatten. 181 Ebenso finden sich unter den russischen Theologen, Staatsmännern, Diplomaten, hohen Verwaltungsbeamten, Generälen, Schriftstellern und Übersetzern etliche ehemalige Studenten deutscher Universitäten, 182 von denen Zeugnisse ihrer Verbundenheit zu Deutschland, deutscher Literatur, Kultur und Wissenschaft vorliegen. Der Leipziger Freund und Kommilitone Radiäöevs und spätere Minister O. P. Kozodavlev zum Beispiel brachte Übersetzungen von Goethes Clavigo (1780) und Werther (1781) heraus,
178 179 180
181
182
Ebd., S. 469f. Lomonosov, zit. nach Biljarskij (1865), S. 641. (Übers. - K.K.). „[...] daby bol'äe privykali k obchoZdeniju s inostrannymi." Anweisung der Kanzlei der Akademie der Wissenschaften anläßlich der Entsendung der Studenten Svetov und Venediktov vom Mai 1765, zit. nach Osipov (1995), S. 115. Das geht aus den Biographien der Akademiemitglieder in Suchomlinovs Istorija Rossijskoj akademii hervor. Berkov nennt in diesem Zusammenhang N. J. Ozereckovskij, P. B. Inochodcev, I. I. Lepechin, V. M. Severgin, I. Judin, S. J. Rumovskij, A. P. Protasov, N. P. Sokolov, S. G. Zybelin, V. N. Nikitin u. a. Vgl. Berkov (1958), S. 81. Amburger (1961d), S. 229 nennt außerdem den Mathematiker S. K. Kotel'nikov, der in Leipzig und Berlin studierte. Beispiele bei Amburger (1961d), S. 226f.
4.2 Deutschsprachige Bücher
81
während A. M. Kutuzov, der dritte in diesem Freundeskreis, Klopstocks Messias ins Russische übersetzte (1785-1787). 183 P. B. Inochodcev übersetzte ein Mathematik-Lehrwerk seines Göttinger Professors Abraham Gotthelf Kestner Nacalnye osnovartija matematiki (SPb., 1792-1794). 184 A. J. Polenov (1738-1816) arbeitete nach seiner Rückkehr nach Petersburg 22 Jahre lang als Jurist und Übersetzer im Senat. Die Rückkehrer trugen also in vielfältigem Maße zur Förderung der deutschen Sprache, Literatur, Kultur und Wissenschaften in Rußland bei. Sie pflegten die einmal geknüpften Kontakte zu Deutschland und den Deutschen, übersetzten deren Literatur, rezipierten deutschsprachige Bücher, verbreiteten diese in Rußland und bedienten sich mitunter auch im russischen Alltag der deutschen Sprache. Manch einer erteilte selbst Deutschunterricht und forderte so die Verbreitung der Kenntnis dieser Sprache. 4.2 Deutschsprachige Bücher Welche Bedeutung dem Deutschen als Wissenschafts- und Publikationssprache sowie im Bildungsbereich allgemein zukam, läßt sich konkret an der Verbreitung und Rezeption deutscher bzw. deutschsprachiger Bücher und Publikationen in Rußland ablesen. 185 Um das für die Modernisierung Rußlands unerläßliche westliche Wissen zu verbreiten, wurde seit Peter I. nicht nur eine große Menge ausländischer Fachliteratur eingeführt und systematisch verbreitet, man begann in Rußland in nicht geringem Maße auch selbst, in deutscher Sprache zu drucken. An Schulen und höheren Lehranstalten bildeten deutsch- oder lateinischsprachige Lehrbücher die Grundlage des Unterrichts, da besonders in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts noch sehr wenig russischsprachige Lehrbücher zur Verfügung standen. Russische und deutsche Buchhistoriker haben der Geschichte des ,deutschen' bzw. .deutschsprachigen' Buches in Rußland große Aufmerk183
184 185
Vgl. Hillert (1997), S. 69; Boden (1992), S. 468; Amburger (1961d), S. 231 mit weiteren Beispielen. Vgl. Smagina (1998b), S. 15. Der Begriff ,deutsches' Buch, russ. nemeckaja kniga, wird in der russischen Forschungsliteratur nicht immer ganz trennscharf verwendet. Einige zählen zu dieser Kategorie ausschließlich die in deutscher Sprache in Rußland gedruckten Werke, andere auch oder nur deutschsprachige Druckwerke, die Uber den Buchhandel oder andere Wege nach Rußland gelangten. Nurgaliev (1992) bezeichnet sogar solche Bücher als .deutsche Bücher', die zwar nicht in deutscher Sprache abgefaßt sind, aber von Autoren stammen, deren Muttersprache Deutsch ist (er zählt also z. B. auch russische Übersetzungen aus dem Deutschen zur Kategorie des .deutschen Buchs'). Um Mißverständnisse zu vermeiden, wird in dieser Arbeit i. d. R. vom .deutschsprachigen' Buch gesprochen. Wenn die Bezeichnung .deutsches Buch' verwendet wird, sind damit ebenfalls deutschsprachige Werke gemeint. Dasselbe gilt für französische' bzw. .französischsprachige', .russische' bzw. .russischsprachige' Bücher usw.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
samkeit geschenkt und insbesondere für das 18. Jahrhundert umfangreiches Datenmaterial zusammengetragen. Es gibt Auskunft über den Anteil deutschsprachiger Werke an den in Rußland im 18. Jahrhundert insgesamt produzierten Drucken, belegt das Vorhandensein und die Verbreitung deutschsprachiger Werke in öffentlichen und privaten Büchersammlungen und informiert über die Verkaufserfolge dieser deutschsprachigen Literatur und ihre Leser. 186 Den umfassendsten Überblick gibt der Petersburger Buchhistoriker Pavl Choteev in seinem Buch „Nemeckaja Kniga i russkij Citatel' v pervoj polovine XVIII veka" ['Das deutsche Buch und der russische Leser in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts'], das zum Druck vorbereitet wird. Im folgenden wird zunächst eine Übersicht über die Verbreitung deutschsprachiger Bücher in russischen Bibliotheken gegeben und anschließend auf den Druck deutschsprachiger Schriften eingegangen. Danach werden Daten über deren Verkauf vorgestellt. Deutschsprachige Bücher in russischen Bibliotheken Die wenigen großen Büchersammlungen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts weisen alle große Bestände fremdsprachiger Literatur auf. Schon die Bibliothek des ersten russischen Gymnasiums, der 1704 von dem deutschen Pastor Johann Ernst Glück in Moskau gegründeten Fremdsprachenschule, 187 soll 'Tausende von deutschen, hebräischen, französischen und anderen Büchern' besessen haben. 188 Ein großer Teil der fremdsprachigen Literatur kam in der petrinischen Zeit als Kriegsbeute nach Rußland. Die deutschsprachigen Bücherbestände (ca. 2000 Bände) der 1714 gegründeten ersten öffentlichen Bibliothek Rußlands, deren Aufbau Johann Daniel Schumacher (1690-1761) 189 leitete, stammten im wesentlichen aus Mitau und Riga und waren im Zuge des Nordischen Krieges nach 186
Als erste Gesamtstatistik der deutschsprachigen Drucke der Moskauer und Petersburger Verlage für das 18. Jahrhundert vgl. Kratz (1995), S. 1-12; zur Verbreitung deutschsprachiger Bücher allgemein vgl. Choteev (1995); zum deutschsprachigen Bücherbestand öffentlicher und privater Bibliotheken finden sich Informationen z. B. bei Trofimova/Choteev (1988); Choteev (1989); (1990); (1993); (1995); (1999); Luppov (1973); (1976); Fundaminskij (1982); Korovin (1961); Saverkina/Somov (1988); zum Verkauf deutschsprachiger Bücher vgl. Tjuliöev (1983); (1984); (1988); (1989); zum Druck deutschsprachiger Bücher vgl. Luppov (1976); (1982); Savel'eva (1976); (1999); Kopanev (1983); zur Verbreitung deutschsprachiger Bücher und Zeitungen im Rußland des 17. Jahrhunderts vgl. Sapunov (1994).
187
Vgl. hierzu Kap. V, Punkt 2. „[...] tysjaöi knig nemeckich, evrejskich, francuzskich i proi. [...]." Luppov (1973), S. 314. Schumacher war seit 1714 Bibliothekar in Petersburg und leitete von 1728 an die Kanzlei der Akademie der Wissenschaften. 1740 übernahm er als Kanzleirat ohne Präsidententitel die Funktion des Akademieleiters. Zu Schumacher, der von seinen Zeitgenossen als „Zerstörer der Akademie" bezeichnet wurde, vgl. Kopelew (1992b), S. 163f.
188
189
4.2 Deutschsprachige Bücher
83
Petersburg gelangt. Die Bibliothek der Akademie der Wissenschaften, die aus jener Bibliothek hervorging, besaß dann um die Jahrhundertmitte schon nicht weniger als 4000 deutschsprachige Bücher und damit die größte Sammlung deutscher Bücher im damaligen Rußland. 190 Die Bestände der Bibliothek wurden systematisch ausgebaut, wobei im wesentlichen wissenschaftliche Literatur aus dem Ausland angeschafft wurde, teils durch den Buchhandel, teils durch Tausch gegen die eigenen Veröffentlichungen der Akademie sowie schließlich durch Ankauf privater Sammlungen. Die russischen Bestände waren in den ersten Jahrzehnten eher unbedeutend. Über die zweitgrößte Sammlung deutscher Bücher verfügte die Bibliothek des 1731 gegründeten Landkadettenkorps in St. Petersburg, die neben der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften zu den am besten ausgestatteten Büchersammlungen im Zarenreich gehörte. 191 Von dem 1750 erreichten Gesamtbestand der Bibliothek mit 497 Titeln (in insgesamt 2355 Exemplaren) entfielen auf deutsche und lateinische Bücher je 32 %, auf französische 22 % und auf russische 7 %. 192 Wie fast alle Bibliotheken dieser Zeit besaß auch die Bibliothek des Landkadettenkorps eine gut ausgestattete Abteilung philologischer Literatur (also Sprachlehrwerke, Wörterbücher, Grammatiken, Schreibvorlagen usw.). Sie stellten gut 10 % des Gesamtbestandes. 193 Mit 82 deutschen neben 51 französischen und 26 lateinischen Grammatiken (Angaben in Exemplaren) bildeten Lehrwerke der deutschen Sprache den Schwerpunkt dieser Sammlung. 194 Außer den großen öffentlichen Bibliotheken gab es auch in privaten Büchersammlungen vor allem aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts große deutschsprachige Bücherbestände. Nicht weniger als 300 deutschsprachige Bücher und Handschriften besaß Zar Peter I. selbst, der sich für Baukunst, Fortifikation, Kriegskunst, Seefahrerkunst, Geschichte und Naturwissenschaften interessierte. 195 In der Bibliothek Aleksandr Menäikovs 190
191 192
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195
Eine genaue Beschreibung des deutschsprachigen Bücherbestands dieser Bibliothek gibt Choteev (1999), S. 25. Zum deutschsprachigen Bücherbestand der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften vgl. außerdem Choteev (1995), S. 107; Luppov (1973), S. 324; Luppov (1976), S. 340, 346ff.; Choteev (1993), S. 102-111. Zu dieser Bibliothek vgl. Choteev (1990); (1993), S. 78-92; (1999). Konkret waren dies bei den deutschsprachigen Büchern 163 Titel mit 860 Exemplaren, bei den lateinischen 159 Titel mit 604 Exemplaren, den französischen 113 Titel mit 568 Exemplaren und den russischen 34 Titel mit 197 Exemplaren. Außerdem gab es noch einige wenige italienische, niederländische und griechische Werke. Vgl. Choteev (1990), S. 124; (1995), S. 107; (1999), S. 24. Es waren 53 Titel in 804 Exemplaren. Vgl. Choteev (1990), S. 124. Nur bei den Fibeln überwog die Anzahl der französischsprachigen die der anderssprachigen Titel. Es gab 233 Fibeln in französischer Sprache und 91 Fibeln in lateinischer, 33 in russischer und 26 in deutscher Sprache (Angabe in Exemplaren). Vgl. ebd. Vgl. Choteev (1999), S. 25.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
(1673-1729) waren einem von Saverkina und Somov ausgewerteten Bücherverzeichnis zufolge 127 (41 %) der Bücher deutsch- und 116 (37 %) französischsprachig, darunter mehrere Deutsch- und Französisch-Lehrbücher. 196 In der Bibliothek von Peters Vize-Kanzler Peter Pavloviö Safirov (1669-1739) waren 117 (24 %) von insgesamt 484 Büchern deutschund 183 (38 %) französischsprachig.197 Die Bibliothek des in Rußland geborenen adligen Schotten Jakob Bruce (1670-1735) umfaßte über 400 deutsche Bücher. 198 Artemij PetroviC Volynskij (geb. 1689), ab 1725 Gouverneur von Kazan' und später Minister im Kabinett von Kaiserin Anna, nannte eine 545 Bücher zählende Bibliothek sein eigen, in der Bücher in deutscher Sprache mit 68 Exemplaren (12,4 %) den größten Anteil unter der fremdsprachigen Literatur hatten. 199 Der Staatsmann, Wissenschaftler und Verwaltungsbeamte Vasilij NikitiC Tatiäöev (1685-1750), 200 eine der herausragenden Figuren der russischen Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts, legte zwei Bibliotheken an.201 Die erste, die Tatiäöev als Begründer der Bergbauschulen im Ural im Jahr 1737 eben diesen Schulen stiftete, zählte über 1000 Bücher, von denen gut 60 % russische Titel, der Rest aber fast ausschließlich deutschsprachige Literatur darstellten. 202 Diese Bücher hat Tatiäöev, der Deutsch als Dragoner während der Feldzüge des Nordischen Krieges in den deutschsprachigen Gebieten erlernt hatte, zum Teil während seines Aufenthaltes in Deutschland erworben, wo er sich von 1712-1716 im Auftrag Peters mit dem deutschen Artillerie- und Ingenieurwesen bekannt machte. Während der Jahre 1713-1714 weilte Tatiäöev u. a. in Berlin und nutzte diesen Aufenthalt „wahrscheinlich [...] zu Kontakten mit deutschen Wissenschaftlern". 203 Tatiäöev arbeitete auch in der Königlichen Bibliothek zu Berlin, wo er sich vermutlich „historische, geographische, naturwissenschaftliche, pädagogische und philologische Arbeiten
196
197 198 199
200
201 202
203
Der restliche Teil waren vor allem lateinischsprachige Bücher, es gab aber auch Bücher in italienischer, niederländischer, englischer und polnischer Sprache. Vgl. Saverkina/ Somov (1988), S. 152-160. Vgl. Trofimova/Choteev (1988), S. 161-169. Vgl. Choteev (1999), S. 25. Zu den fremdsprachigen Büchern Volynskijs gehörten u. a. außerdem 9 % Bücher in lateinischer, 6,1 % in polnischer und 4,6 % in französischer Sprache. Vgl. Luppov (1976), S. 172. Zum Staatsmann und Historiker Vasilij TatiSiev vgl. das Standardwerk von Grau (1963); speziell zu Tatiäievs Verhältnis zu Deutschland vgl. Hecker (1992b). Zum folgenden vgl. Luppov (1976), S. 206-220. Tatiäöev selbst berichtet zu dieser Bibliothek: „An Büchern habe ich deutsche und polnische gesammelt, weil ich mir diese Sprachen angeeignet habe, und Übersetzungen von den antiken Autoren; von einer Anzahl in lateinischer, französischer und tatarischer Sprache ließ ich mir Übersetzungen machen, und so sammelte ich mehr als 1000 Bücher." Zit. nach Hecker (1992b), S. 152. Hecker (1992b), S. 141.
4.2 Deutschsprachige Bücher
85
[ansah]", 204 und erwarb zahlreiche Bücher, die er mit zurück nach Rußland führte. Möglicherweise war unter diesen Büchern die in Berlin im Jahr 1713 für das Sprachstudium der in Berlin studierenden Russen herausgebrachte Deutsche Grammatica, die für die Entwicklung der russischen Grammatikographie des Deutschen von größter Wichtigkeit werden sollte. 205 Schließlich sei noch auf den Architekten Peter Michajloviö Eropkin (1689-1740) hingewiesen, der von Peter von 1717-1724 zur Weiterbildung nach Italien geschickt worden war, Französisch, Deutsch und Italienisch sprach und eine gut ausgestattete Bibliothek besaß, die „aus vielen Büchern in französischer, deutscher und italienischer Sprache bestand". 206 Zu eifrigen Rezipienten deutschsprachiger Literatur gehörten ferner die russischen Wissenschaftler, vor allem diejenigen, die in Deutschland studiert hatten. Der Theologe Simeon Todorskij besaß fast 300 deutsche Bücher und Broschüren. 207 In der Bibliothek Lomonosovs machten deutschsprachige Titel nach den altsprachlichen und deutlich vor den russischen die zweitgrößte Gruppe aus, etwa ebenso viele französischsprachige Werke gab es.208 Lomonosovs Studienkollege aus Marburg, D. I. Vinogradov, der nach seiner Rückkehr in die Heimat die ersten russischen Porzellanmanufakturen errichtete, besaß eine für die Verhältnisse der Zeit mittelgroße Bibliothek von 251 Büchern, von denen 99 Werke, die er zum Teil aus Deutschland mitgebracht hatte, deutschsprachig waren. 209 Der Anatom und Physiologe Aleksej Protas'eviö Protasov (1725-1796), der von 1751 bis 1758 in Leyden und Straßburg studiert hatte, verfügte über eine 338 Bücher umfassende Bibliothek, die zu 20 % aus deutschsprachigen Titeln bestand. 210 204
Grau (1963), S. 22. 205 Ygj h j e r z u ¡¿ a p v i , Punkt 2. Leider konnte ich diese Annahme nicht näher überprüfen, da mir die von Grau genannten Bücherverzeichnisse der Büchersammlung Tatiäöevs nicht zugänglich waren. Grau (1963), S. 22 bezieht sich auf N. K. Cupin, Biblioteka V. N. TatiSCeva v Ekaterinburge, in: Moskovskie Vedomosti, Jg. 101, Nr. 203, 20. Sept. 1860, S. 1609-1610. 206 207 208
209
2,0
Luppov (1976), S. 221. (Übers. - K.K.). Choteev (1995), S. 108. Im einzelnen setzte sich der von Korovin (leider nicht vollständig) ermittelte 670 Titel zählende Bestand der Bibliothek Lomonosovs aus 290 lateinischen und griechischen, 125 deutschen, 123 französischen, 102 russischen sowie ferner 21 englischen, 7 italienischen und 2 polnischen Titeln zusammen. Vgl. Korovin (1961), S. 43. Von den übrigen Werken waren 88 lateinisch-, 36 russisch-, 18 französischsprachig sowie j e ein Buch in englischer und eines in italienischer Sprache, die restlichen zweisprachig verfaßt. Vgl. Choteev (1989), S. 67ff. Die deutschen Bücher waren vor allem Fachwerke über Mineralogie, Bergwesen, Metallurgie und Chemie. Von den restlichen Titeln waren 44 % lateinisch-, 17 % französisch-, 15 % russisch- und 2 % englischsprachig. Vgl. Fundaminskij (1982), S. 58, 62.
86
III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
Deutschsprachige Drucke aus russischer Produktion Deutschsprachige Bücher gelangten also über den Buchhandel, durch Ankauf privater Bibliotheken, als Kriegsbeute, durch Tauschgeschäfte oder im Gepäck von Deutschlandreisenden nach Rußland. In zunehmendem Maße begann man sie jedoch auch in Rußland selbst zu drucken. Einen ersten statistischen Überblick über die deutschsprachigen Drucke aus Rußland hat Gottfried Kratz vorgelegt. Sie bilden etwa 18 % aller von 1701-1800 in Rußland veröffentlichten monographischen Titel. 211 Der Anteil deutschsprachiger Publikationen an den fremdsprachigen Drucken insgesamt, die während dieser Periode in Rußland gut 28 % der gesamten monographischen Literatur ausmachten, betrug 62,9 %. 212 Als Publikationssprache war das Deutsche in Rußland somit wichtiger als alle andere Fremdsprachen. monographische Literatur insgesamt (1701-1800): russischsprachige Titel (1725-1800):
12481 8956 (71,75 %)
fremdsprachige Titel insgesamt (1701-1800):
3525 (28,2 %)
davon deutsch:
2218(62,9%)
lateinisch:
555 (15,7 %)
französisch:
526 (14,9 %)
englisch:
6 ( 0 , 1 %)
Tab. 1: Fremdsprachige und russischsprachige Drucke (1701-1800) 213
Die große Zahl deutschsprachiger Publikationen in Rußland erklärt sich u. a. daraus, daß in Rußlands baltischen Provinzen Estland und Livland hauptsächlich deutschsprachige Bücher gedruckt wurden. So stammte fast die Hälfte der in Rußland im 18. Jahrhundert erschienenen deutschsprachigen Drucke aus Riga (1053 Exemplare) und Reval (206 Exemplare), ein knappes Drittel (31,9 %) erschien in Petersburg (637 Exemplare) und Moskau (71 Exemplare). 214 Wie in vielen anderen Bereichen auch betrat Peter I. mit dem Druck fremdsprachiger Bücher und Texte in Rußland Neuland. Er förderte ihn besonders, u. a. um das Ausland über die Entwicklungen im neuen Rußland zu informieren. 215 Im Jahr 1714 erschien in Petersburg der erste deutsch211 212 213 214 215
Kratz (1995), S. 9. Ebd. Vgl. ebd., S. 2, 9. Ebd. So etwa über die russischen außenpolitischen und militärischen Erfolge im 1721 auf Deutsch publizierten Nystadter Friedensvertrag sowie in der Schrift Ihro Großzarischen
4.2 Deutschsprachige Bücher
87
sprachige Titel, bezeichnenderweise eine kleine Fibel zur Erlernung der deutschen Sprache. 216 Unter Peter wurden zunächst vor allem Schriftstücke offiziell-politischen Charakters wie die schon erwähnten Gesetzestexte, Kriegsartikel und Manifeste auf Deutsch oder zweisprachig russisch und deutsch gedruckt. 217 An diesem Usus hielt gleichfalls Anna fest, doch begann unter ihrer Herrschaft auch der Druck deutschsprachiger Fachliteratur größeren Umfang anzunehmen, eine Entwicklung, die durch die Einrichtung der Typographie der Akademie der Wissenschaften im Jahr 1727 ermöglicht worden war. Dort hatte der deutschsprachige Druck in nur zwei Jahren solche Ausmaße erreicht, daß die Typographie 1729 in zwei Abteilungen geteilt werden mußte, eine „deutsche" und eine „russische", wobei in der deutschen Abteilung, die anfangs deutlich kleiner gewesen war als die russische, nach einigen Jahren genauso viele Drucker und Setzer arbeiteten wie in der russischen. 218 Zu den von der Akademie herausgegebenen deutschsprachigen Schriften zählen die Reden und wissenschaftlichen Abhandlungen ihrer Mitglieder, die, damit man sie auch im Ausland zur Kenntnis nähme, in aller Regel deutsch oder lateinisch publizierten, 219 des weiteren Lehrbücher für die im Aufbau begriffenen Bildungseinrichtungen, verschiedene Periodika, Gelegenheitsdichtungen und sogar deutschsprachige Opernlibretti. 220 Der Umstand, daß der überwiegende Teil der in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Rußland gedruckten Lehrbücher auf Deutsch erschien und russischsprachige Lehrbücher kaum existierten, hatte zur Folge, daß an den meisten höheren Schulen auch der Unterricht anfangs vielfach in deutscher Sprache stattfand. Und dies betraf nicht nur die philologischen Fächer (auf die Sprachlehrwerke und Wörterbücher des Deutschen geht Kapitel VI näher ein), sondern auch solche Fächer wie Geschichte, Geographie und Mathematik. Weit verbreitete Unterrichtswerke, die zunächst in deutschen oder zweisprachig deutsch-russischen Fassungen erschienen und zum Teil
Majestät Universale an die gesamten Untertanen des Königreichs Schweden vom Juli 1714. Über städtebauliche Entwicklungen in Rußland konnte sich das Ausland in der Schrift Eigentliche Beschreibung der an der Spitze der Ostsee neuerbauten russischen Residenzstadt St. Petersburg von 1718 informieren. Vgl. Donnert (1986), S. 244; Kratz (1995), S. 1. 216
217
218 219 220
In den baltischen Ländern waren auch schon früher deutschsprachige Drucke, u. a. Zeitungen, erschienen, vgl. Glück (2002), S. 268, 273f. Zu der deutschen Fibel ausführlicher in Kap. VI, Punkt 2. Vgl. die Verzeichnisse deutschsprachiger und zweisprachig deutsch-russischer Titel aus der Zeit von 1715-1722 bei Pekarskij (1862), Bd. 1, S. 681-694. Vgl. Luppov (1976), S. 40. Vgl. Marker (1977), S. 95. Vgl. Savel'eva (1999), S. 17.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
später ins Russische übersetzt wurden, 221 waren beispielsweise die von der Akademie herausgegebenen Mathematiklehrbücher von Leonhard Euler, 222 die Lehrwerke zu Mathematik, Maschinenbau und Geographie von Georg Wolfgang Krafft (1701-1754) sowie die Sammlung zur russischen Geschichte223 in neun Bänden von G. F. Müller. Letztere war nicht eigentlich als Lehrbuch konzipiert (obwohl sie auch als solches Verwendung fand). 224 Sie sollte vor allem deutsche Leser und ausländische Gelehrte mit Originalquellen zur russischen Geschichte bekanntmachen. Interessanterweise bot sie gleichzeitig auch den russischen Gelehrten die einzige Möglichkeit zur Rezeption der alten Chroniken, da der Druck dieser Quellen in russischer Sprache durch den Synod im Jahr 1734 verboten worden war. 225 Während sich die deutschsprachigen Fachbücher eher an ein begrenztes Fachpublikum richteten, sprachen die von der Akademie herausgegebenen deutschen Periodika schon früh einen sehr breiten Leserkreis an, der nicht nur aus den in Petersburg ansässigen Deutschen bestanden haben dürfte. 226 Diese Periodika waren die St. Petersburgische Zeitung, inhaltlich eine Fortsetzung der petrinischen Vedomosti,227 deren erste Nummer am 3./14. Januar 1727 erschien, die Historische, genealogische und geographische Anmerckungen über die Zeitungen, die in russischer Sprache ab 1728 und in deutscher Sprache ab 1729 erschienen, sowie die deutschen Kalender, die die Akademie seit 1726 herausgab. 228 Die St. Petersburgische Zeitung, die bis 1917 existieren sollte, erschien anfangs einmal, ab 1728 zweimal wöchentlich und hatte in ihren Anfangszeiten eine Auflage von etwa 500 Exemplaren. Ihr Original war, da von den Mitgliedern der Akademie zusammengestellt, deutschsprachig, ab 1728 gab es eine russische Übersetzung. Die Anmerckungen - die erste russische Zeitschrift - waren eine Art
221 222
223 224 225 226
227
228
Zu den Übersetzungen siehe unten. Euler interessierte sich sehr für die Entwicklung des russischen Schulwesens und hat selbst aktiv dazu beigetragen. So verfaßte er nicht nur Lehrbücher, sondern hat während seines ersten Aufenthaltes in Rußland auch nicht nur an der mit der Akademie verbundenen Petersburger Universität, sondern auch am Akademischen Gymnasium unterrichtet sowie am Kadettenkorps und in der Marineschule Vorlesungen über Mathematik gehalten. Später war er Lomonosov beim Aufbau der Universität in Moskau behilflich. Vgl. Winter (1958c), S. 9. SPb., 1732-37. Vgl. SKin, Bd. II, Nr. 2015. PF ANN, F. 3, op. 9, Nr. 323, Bl. lf. Vgl. Luppov (1976), S. 76. Zu den deutschsprachigen Periodika vgl. Berkov (1952), S. 56f., 64f.; Lübke (1992); Smirnova (1999). Die St. Petersburgische Zeitung war quasi die Nachfolgerin von Peters im Jahre 1702 gegründeten ersten öffentlichen Zeitung Rußlands, die nach seinem Tod eingegangen war. Die auf Deutsch zusammengestellten Kalender wurden häufig ins Russische übersetzt. Vgl. SK, Bd. IV, Nr. 351, 353, 354, 360, 365-371, 373, 393.
4.2 Deutschsprachige Bücher
89
populärwissenschaftliches Journal, in der die Akademiemitglieder Kommentare zu den aktuellen Nachrichten veröffentlichten. Sie erschienen ab 1729 zweimal wöchentlich und existierten bis 1742. Die Kalender gab es ebenfalls in deutscher und russischer Fassung. Sie enthielten neben kalendarischen Angaben, allgemeineren Informationen und Horoskopen populärwissenschaftlich gehaltene Artikel zu Themen wie Astronomie, Geschichte, Geographie, Ethnographie u. a., deren Autoren wiederum die Professoren der Akademie waren. Die Kalender waren überaus beliebt und hatten stets hohe Auflagen (im Jahr 1735 z. B. 4200 Exemplare für die russische und 1600 für die deutsche Ausgabe),229 die sich auch verkauften. So fand in den Jahren 1750-1753 in Petersburg die für die damalige Zeit beachtlich hohe Zahl von 7098 deutschsprachigen Kalendern einen Käufer, bei den russischen waren es sogar noch knapp zweimal mehr.230 Damit waren die deutschsprachigen Kalender der meistverkaufte Publikationstyp unter den deutschsprachigen Publikationen. Während die Druckerei der Akademie der Wissenschaften in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts den größten Anteil an den deutschsprachigen Drucken hatte (läßt man die aus dem Baltikum stammenden Werke außer acht), trugen ab 1757 vor allem auch die Druckerei der Moskauer Universität sowie die nach der Freigabe des Buchdrucks im Jahr 1783 zahlreich von Deutschen gegründeten Privatdruckereien wesentlich zur Verbreitung deutschsprachiger Publikationen in Rußland bei. An der Moskauer Universität (wie übrigens auch an den Druckereien anderer Lehranstalten) erschienen weiterhin deutschsprachige Lehrbücher, vielfach Adaptionen deutscher Vorlagen. Ein Beispiel ist das vielbenutzte Schulbuch von Jean Henri Samuel Formey Kurzer Inbegriff aller Wissenschaften zum Gebrauch der Jugend,231 das 1764 in einer deutsch-russischen Version erschien. Von den Privatdruckereien sei die Buchhandelsunternehmung von Weitbrecht und Schnoor erwähnt, die einen Schwerpunkt in der Herausgabe deutschsprachiger Freimaurerliteratur hatte.232 Ebenfalls von privater Hand wurden in Petersburg verschiedene deutschsprachige Zeitschriften verlegt, so z. B. die Literaturzeitschriften Journal von Rußland und das St. Petersburgische Journal, sowie das von August Witzmann herausgegebene Sankt229 230 231
232
Vgl. Luppov (1976), S. 65. Vgl. TjuliCev (1989), S. 23, 32. Vgl. SK, Bd. III, Nr. 7870f.; eine nur deutschsprachige Fassung erschien 1773 bei Hartknoch in Riga. Vgl. SKin, Bd. I, Nr. 979. Das „Berliner Original" ist so im Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1700-1910 (GV) nicht verzeichnet. Dieses belegt lediglich eine achtbändige Ausgabe von Formeys Entwurf alter Wissenschaften (Berlin, 1765-1778), die von der zwei Jahre früher in Druck gebrachten französischen Ausgabe übersetzt wurde. Vgl. GV, Bd. 39, S. 281. Vgl. Savel 'eva (1999), S. 19.
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
Petersburgische Wochenblatt zur Aufnahme der Ökonomie und zur Ausbreitung anderer gemeinnütziger Kenntnisse, das im Jahr 1778 mit 25 Nummern in deutscher und russischer Sprache und dann wieder ab 1780 erschien. Als eine der wichtigsten deutschsprachigen Publikationen der Akademie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Russische Bibliothek Hartwig Ludwig Christian Bacmeisters (1730-1806) zu nennen, der als Lehrer, Übersetzer, Sprachwissenschaftler, Historiker und Inspektor des Akademischen Gymnasiums (1766-1778) seit 1762 in St. Petersburg wirkte. 233 Die Russische Bibliothek war die erste speziell Rußland gewidmete bibliographische Literaturzeitschrift und der Beginn der Geschichte der russischen Bibliographie. Sie fand wie viele andere deutschsprachige Fachbücher und wissenschaftliche Werke aus Rußland auch in Deutschland Verbreitung und wurde dort sogar nachgedruckt. 234 Verkauf deutschsprachiger Bücher Aufschluß über die wichtige Frage, welchen Absatz die deutschsprachigen Bücher auf dem erst im Aufbau befindlichen russischen Buchmarkt fanden und welche Resonanz sie in einer Gesellschaft hatten, in der sich ein Lesepublikum erst zum Ende des 18. Jahrhunderts hin ganz allmählich formierte, verdanken wir in erster Linie den Untersuchungen der Gruppe von Buchhistorikern um Luppov und insbesondere Dmitrij Tjuliöev. 235 Leider konzentrieren sich diese Studien im wesentlichen auf die erste Hälfte und die Mitte des 18. Jahrhunderts, während die spätere Zeit bislang weniger untersucht wurde. Eine Schlüsselfunktion bei der Verbreitung deutschsprachiger Bücher in Rußland besaß in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts der Buchladen der Petersburger Akademie der Wissenschaften. Ihm oblag Verkauf und Versand der Bücher in ganz Rußland. Sogar Sibirien und China wurden von Petersburg aus beliefert. Das von der Akademie 1732 herausgegebene dreisprachige Teutsch-Lateinische und Rußische Lexicon, samt denen Anfangsgründen der Rußischen Sprache236 gelangte so 1735 bis nach Peking. 237 Enge Buchhandelsbeziehungen unterhielt die Akademie aber auch zu deutschen Partnern, besonders zur Bücherstadt Leipzig, von wo sie die meisten deutschen und lateinischen Bücher bezog. 238 Verbindungen bestanden außerdem nach England, wohin die Petersburger Typographie 233
234 235 236 237 238
Zu Bacmeister am Akademischen Gymnasium vgl. Kap. V, Punkt 3 mit weiterer Literatur. Vgl. Lauch (1969), S. 93; Kratz (1995), S. 11. Vgl. TjuliCev (1983); (1984); (1988); (1989). Vgl. hierzu Kap. VI, Punkt 3. Vgl. Suchomlinov (1886), Bd. 2, S. 566f. Vgl. Kopanev (1983), S. 43; Mühlpfordt (1976), S. 116.
4.2 Deutschsprachige Bücher
91
schon 1720 einige ihrer deutschen Drucke geschickt hatte und im Austausch dafür Bücher aus England erhielt. Bücher fungierten also als internationales Zahlungsmittel. Offensichtlich wurde ein solcher Austausch auch mit anderen Ländern betrieben. 239 Über die im akademischen Buchladen zum Verkauf angebotenen Bücher sind wir durch seine Verkaufskataloge informiert, deren erster, das Verzeichnis Allerhand Lateinischer, Frantzösischer, Italienischer, Holländischer und Teutscher auserlesenen neuen Bücher, welche im Buchladen bey der Academie der Wissenschaften zu bekommen sind, 1731 erschien. 240 Deutsche Bücher stellten von den 1730er bis Anfang der 1750er Jahre mindestens die Hälfte des Repertoires aller vom akademischen Buchladen verkauften ausländischen Bücher. 241 Detaillierte Angaben zur Zahl der im akademischen Buchladen angebotenen fremdsprachigen Bücher bieten Kopanev und TjuliCev.242 Nach Kopanev machte der Anteil deutschsprachiger Bücher in den 1730er Jahren zwischen 46 und 54 % aller fremdsprachigen Bücher aus. Die Zahl der Exemplare (nicht der verschiedenen Titel) schwankte zwischen 483 Stück im Jahr 1731 und 1757 Stück in den Jahren 1738/39.243 Im Jahr 1750 standen im akademischen Buchladen 1642 deutschsprachige Bücher zum Verkauf, das waren 52,7 % des gesamten fremdsprachigen Bestands. 244 Das Angebot deutschsprachiger Bücher war also verhältnismäßig groß, doch wurden bei weitem nicht alle dieser Bücher verkauft. Tjuliöev, der den Verkauf von Büchern in bürgerlicher Schrift 245 im akademischen Buchladen von 1749 bis 1753 untersucht hat, kommt zu dem Schluß, daß die Lesernachfrage nach fremdsprachigen Büchern in Petersburg im ganzen nicht groß war, aber im Vergleich zu der entsprechenden Nachfrage in Moskau doch um ein Vielfaches größer. 246 Ein Grund dürfte sein, daß in Petersburg zu dieser Zeit mehr Ausländer und vor allem Deutsche lebten, die unter den Käufern fremdsprachiger Literatur zweifelsohne einen großen, wenn nicht den größten Anteil hat239 240 241 242 243
244
245
246
Vgl. Luppov (1973), S. 343. Vgl. SKin, Bd. III, Nr. 3182. Vgl. Choteev (1995), S. 106ff. Vgl. Kopanev (1983), S. 40; Tjulifiev (1989). Die französischen Bucher hatten demgegenüber einen Anteil von 17 bis 26,5 %, bzw. in Exemplaren zwischen 274 im Jahr 1731 und 807 in den Jahren 1738/39. Die Anzahl der lateinischen Titel bewegte sich zwischen 242 Exemplaren (23,4 %) im Jahr 1731 und 1013 Exemplaren (28,1 %) in den Jahren 1738/39. Vgl. Kopanev (1983), S. 40. Der Anteil der lateinischen Titel belief sich auf 618 Exemplare (19,9 %), der der französischen auf 851 (27,3 %). Vgl. Kopanev (1983). S. 40. Mit bürgerlicher Schrift wird das von Peter I. 1708 eingeführte neue kyrillische Alphabet bezeichnet, welches das alte kyrillische Alphabet mit seinem komplizierten Schnitt ersetzte. Vgl. hierzu Kap. VI, Punkt 1, Anm. 5. Vgl. TjuliCev (1989), S. 23.
92
III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
ten. 247 So wurden von den 42 deutschen Titeln, die der Petersburger Buchladen von 1750 bis 1753 anbot, 1065 Exemplare verkauft, im Schnitt pro Jahr also 224.248 Dauerhafte Nachfrage bestand nach fremdsprachigen Schreib- und Leselehren, allein von einer deutschen Fibel verkauften sich im akademischen Buchladen im Jahr 1752 118 Stück, etwas weniger, nämlich 99 Stück von einer französischen Fibel.249 Diese Zahlen weisen darauf hin, daß das Interesse am Deutschen auch noch um die Jahrhundertmitte nicht hinter dem am Französischen zurückstand, wenn es jenes nicht noch überwog. Im Laufe der 1750er Jahre kam es dann jedoch zu einem abrupten Umbruch, infolgedessen die Nachfrage nach französischsprachigen Büchern spürbar anstieg.250 Hatten französische Bücher im Jahr 1750 noch 27,3 % aller im akademischen Buchladen verkauften Bücher ausgemacht, so waren es zwei Jahre später schon 59 %.251 Daß sich der Einfluß der französischen Sprache und Kultur seit den 1750er Jahren verstärkte, geht auch aus einer Untersuchung Luppovs über die Produktion und den Lehrbuchverkauf der Typographie des Landkadettenkorps im Zeitraum von 1757-1763 hervor. Eine Aufgabe dieser Druckerei bestand darin, Lehrbücher für den eigenen Unterrichtsbedarf herzustellen. Luppovs Analyse ist deshalb auch ein Indikator für die damalige Unterrichtssituation am Kadettenkorps.252 Es wird deutlich, daß der Bedarf an Lehrwerken für Französisch Ende der 1750er Jahre rapide anstieg: In den sechs erfaßten Jahren erschienen allein am Kadettenkorps drei Französischgrammatiken mit einer Auflage von insgesamt 4202 Exemplaren. Ihnen stand nur eine einzige Grammatik des Deutschen mit einer Auflage von 1500 Exemplaren gegenüber.253
247
248
249 250
251 252
253
Daß die Petersburger Deutschen viel lasen, ist auch daran zu erkennen, daß die deutschsprachigen Bücher unter den Ausleihen der Bibliothek der Akademie der Wissenschaften den größten Teil ausmachten. Vgl. Choteev (1995), S. 107. Zum Vergleich die Zahl der verkauften französischsprachigen Bücher: In den Jahren 1750-1753 bot der Petersburger Buchladen 11 französischsprachige Titel zum Verkauf, davon wurden 379 Exemplare verkauft, pro Jahr im Schnitt also 88,25 Bücher. Vgl. Tjulifiev (1989), S. 32. TjuliCev (1989), S. 32. Im Jahr 1752 waren bereits 59 % aller im akademischen Buchladen verkauften Bücher französischsprachige. Vgl. Kopanev (1983), S. 43. Vgl. ebd. Entsprechende Auswertungen zur Lehrbuchproduktion anderer Typographien versprachen weitgehende Erkenntnisse Uber das sich verändernde gesellschaftliche Bildungsinteresse. Leider liegen sie bislang nicht vor, und auch ich mußte im Rahmen des hier Möglichen auf vergleichende Untersuchungen weitestgehend verzichten. Es handelt sich hierbei um die Grammatiken von Bunin (1758), Bu2o (1761), Bule (1763) und Gretsch (1760). Zu den Verkaufszahlen von Sprachlehrwerken und Wörterbüchern vgl. Kap. VI.
4.3 Übersetzungen aus dem Deutschen
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4.3 Übersetzungen aus dem Deutschen Der starke Einfluß der deutschen Kultur und Wissenschaften offenbart sich im Rußland des 18. Jahrhunderts schließlich auch im Anteil deutschsprachiger Originale an der Übersetzungsliteratur. Diese machten etwa ein Viertel der übersetzten Werke aus, zum Teil auch mehr. Aus diesem Grund hatte das Übersetzungswesen ständig hohen Bedarf an des Deutschen kundigen Fachleuten, ein Umstand der den Deutschunterricht wesentlich gefördert haben dürfte. Die ersten Übersetzungen aus dem Deutschen wurden wie gesagt schon Ende des 15. Jahrhunderts angefertigt. 254 Seit dem 16. Jahrhundert traten neben Übersetzungen von religiösen Schriften zunehmend Übersetzungen von Arzneibüchern, Kosmographien, Astrologiebüchern, vorwiegend aus dem Lateinischen und Polnischen, aber auch aus dem Deutschen. 255 Erst unter Peter I. begann man, in größerem Umfang zu übersetzen: Zu seiner Zeit war etwa ein Viertel aller in Rußland gedruckten Bücher Übersetzungsliteratur. 256 Dabei lag 24,2 % aller ins Russische übersetzten Werke ein deutschsprachiges Original zugrunde, noch mehr wurde nur aus dem Lateinischen übersetzt (28,2 %). 257 Das Übersetzungswesen voranzubringen war Peter I. ein besonderes Anliegen, um das er sich persönlich kümmerte, da es ein schnell wirksames Mittel zur Verbreitung von Kenntnissen aller Wissenszweige war. Der Zar schuf Voraussetzungen für die Ausbildung qualifizierter Übersetzer, für die er die erste Fremdsprachenschule in Moskau einrichten ließ, mahnte stets zur Eile und überwachte persönlich die Korrektheit der Übersetzungen insbesondere bei den Übersetzungen aus dem Niederländischen und Deutschen, den Sprachen, die er selber beherrschte. Mitunter legte er sogar selbst Hand an, wenn ihn die Arbeit der Übersetzer nicht zufriedenstellte. Peter kam es vor allem auf die Klarheit und die Verständlichkeit der Übersetzungen an, weshalb er gelegentlich das, was ihm in den Originalen als überflüssig erschien, in den russischen Übersetzungen streichen ließ. Ein Brief Peters I. an den Übersetzer Ivan InkitiC bezeugt dies: Das Buch über die Befestigungslehre, das Sie übersetzt haben, ist von uns gelesen worden. D i e Gespräche sind sehr gut und klar übersetzt. Wie man aber den Bau von Fortifikationen lehren soll, ist sehr unklar und unverständlich übersetzt. Auch sind in der Tabelle die Maße nicht angegeben; das betreffende Blatt 254 255 256 257
Vgl. Kap. II. Vgl. Lichaöev (1946/1967), S. 47; Barenbaum (1991), S. 31. Vgl. Marker (1977), S. 55. Die Angaben beziehen außer den gedruckten Übersetzungen auch handschriftliche Übersetzungen ein und basieren auf einer Auswertung von Biriakova u. a. (1972), S. 51.
94
III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
haben wir in korrigierter Fassung eingeklebt, und das alte, herausgeschnittene Blatt schicken wir Ihnen nach, so daß Sie, was falsch und unverständlich war, selbst sehen können. Und was das Buch betrifft, das Sie jetzt übersetzen, so müssen Sie sich bemühen, verständlicher zu übersetzen, insbesondere jene Abschnitte, die darlegen, wie man es [d. h. praktisch - Anm. v. E. Donnert] machen soll. Und man soll sich bei der Übersetzung nicht Wort für Wort an den Text halten, sondern nachdem man den Inhalt verstanden hat, ihn in der eigenen Sprache so ausdrücken, wie er am ehesten begreiflich wird. 25 8
Peters I. Aufforderung, sinngemäß, aber nicht unbedingt wortgetreu zu übersetzen, zeugt vom Sachverstand des Zaren in diesen Dingen, ebenso wie sein Ukaz von 1724, in dem er das Qualifikationsprofil der Übersetzer bestimmte und forderte, daß Übersetzer außer ihren Sprachkenntnissen auch unbedingt Sach- und Fachkenntnisse über die Gegenstände, die sie übersetzen, haben müßten: Wer Sprachen kann, aber nicht sachverständig ist, soll die Künste erlernen, wer die Künste versteht, aber nicht sprachkundig ist, soll zum Erlernen der Sprache beordert werden. 259
Gemessen an den schwierigen Anfängen des Buchdrucks unter Peter I. am Ende seiner Regierungszeit erschienen in Rußland jährlich im Durchschnitt 116 Bücher in bürgerlicher Schrift 260 - dehnte sich das Spektrum weltlicher Bücher in der Zeit von 1725 bis 1755 merklich aus. Dies war vor allem eine Folge der Professionalisierung des Übersetzerwesens, das 1735 durch die Einberufung einer Gruppe hauptamtlicher Übersetzer an der Akademie, der sogenannten Rossijskoje Sobranie, einen wesentlichen Schritt voran gebracht worden war. Im zweiten Viertel des 18. Jahrhunderts konnte der Anteil von Übersetzungen daher weiter gesteigert werden und stellte an der Akademie weit mehr als die Hälfte der Neuerscheinungen in den Bereichen Naturwissenschaft, Technik, Geschichte, Philosophie, Literatur und Militärwissenschaften dar. 261 Da an der Akademie der Wissenschaften im wesentlichen deutsche Gelehrte tätig waren, überrascht es wenig, daß ein Großteil dieser Werke Übersetzungen aus dem Deutschen waren (27,9 %). BirZakova u. a. weisen jedoch darauf hin, daß es sich hierbei zu einem erheblichen Teil auch um 'interne Übersetzungen für den Schriftverkehr mit der eigenen Administration und der Gelehrtenwelt' handelte, 262 die Übersetzungen aus dem Deutschen also gewissermaßen einen Sonderstatus hatten. Noch mehr Übersetzungen wurden aus dem 258
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Brief Peters I. vom Februar 1709 an den Übersetzer Ivan InkitiC, zit. nach Donnert (1986), S. 242, im Original bei Solovev (1962), S. 334. Vgl. Wittram (1964), S. 216. Zu den Anfängen des Buchdrucks in Rußland vgl. Kap. VI, Punkt 1. Vgl. Marker (1985), S. 54. „[•••] vnutrenny[e] perevod[y] dlja snoäenij s sobstvennoj administraciej i uöenym mirom." BirZakova u. a. (1972), S. 51.
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Italienischen angefertigt (36 %), doch waren dies vor allen Dingen Opernlibretti. Deutlich geringer war die Zahl der Übersetzungen aus dem Französischen (19 %), weit abgeschlagen die Übersetzungen aus dem Lateinischen, das gegenüber der petrinischen Zeit einen rasanten Bedeutungsverlust erlitt.263 An der Akademie wurde im 18. Jahrhundert besonders Fachliteratur übersetzt, darunter eine Vielzahl deutschsprachiger Lehrbücher und wissenschaftlicher Abhandlungen.264 Zum Teil waren es die Lehrwerke der an der Akademie tätigen deutschen Gelehrten wie Euler oder Krafft, die zuerst auf Deutsch publiziert und dann ins Russische übersetzt wurden. Eulers Einleitung zur Rechen-Kunst265 und Kraffts Kurtze Einleitung zur Erkänntnüss der einfachen Maschinen und derselben Zusammensetzung266 Kurtze Einleitung zur mathematischen und natürlichen Geographie, nebst dem Gebrauch der Erd-Kugeln und Land-Charten261 sowie die Kurtze Einleitung zur theoretischen Geometrie268 wurden am Akademischen Gymnasium und am Landkadettenkorps sowohl im deutschsprachigen Original als auch in der russischen Übersetzung eingesetzt. Des weiteren wurden zahlreiche Lehrwerke berühmter Gelehrter aus Deutschland übersetzt, exemplarisch seien nur genannt: die von Lomonosov übersetzte Experimentelle Physik von Christian Wolff 269 sowie dessen (von Boris Volkov übersetzte) Theoretische Physik,210 außerdem zwei in Rußland damals überaus populäre deutsche Geschichtslehrwerke, die von Sergej VolCkov übersetzte Einleitung zur Universal-Historie271 von Hilmar Curas (gest. 1747)272 sowie
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Vgl. Marker (1977), S. 123; (1985), S. 54; auf ähnliche Ergebnisse kommen Biriakova u. a. (1972), S. 51. Einen Überblick gibt Smagina (1998), hier besonders. S. 15f. Dt. 1738-1740, Teil 1 und 2. Vgl. SKin, Bd. I, Nr. 906. Russ. 1740 (Teil 1), 1760 (Teil 2). Vgl. SK, Bd. III, Nr. 8567. Dt. 1738. Vgl. SKin, Bd. II, Nr. 1614. Russ. 1738. Vgl. SK, Bd. II, Nr. 3282. Dt. 1738. Vgl. SKin, Bd. II, Nr. 1615. Russ. 1739. Vgl. SK, Bd. II, Nr. 3281. Dt. 1740. Vgl. SKin, Bd. II, Nr. 1617. Russ. 1748, 2. Aufl. 1762. Vgl. SK, Bd. II, Nr. 3283-84. Zu den Lehrbüchern der Akademiker vgl. auch Smagina (1996), S. 13. Experimenta physica oder allerhand nüzliche Versuche, dadurch zu genauer Erkenntniß der Natur und Kunst der Weg gebahnet wird, Halle, 1721-1723. Russ. 1746, 2. Aufl. 1760. Vgl. SK, Bd. I, Nr. 1159, 1160. Wolffehphysic, Halle. Russ. 1760. Vgl. SK, Bd. I, Nr. 1158. Dt., Berlin, 1723. Russ. 1747, weitere Ausgaben: 1762, 1778, 1793. Vgl. SK, Bd. II, Nr. 3355-3358. Zum Gebrauch des Buches am Akademischen Gymnasium im Jahr 1739 vgl. Suchomlinov (1887), Bd. 4, S. 19. Auch 1748 wurde das Buch noch im deutschsprachigen Original verwendet. Vgl. Suchomlinov (1897), Bd. 9, S. 404. Hilmar Curas war Sprachlehrer am Königl. Joachimsthaler Gymnasium zu Berlin, auch Autor französischer Sprachlehrbücher. Vgl. Boerner/Stieler (1906), S. 400.
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die Einleitung zu der Historie der Vornehmsten Reiche und Staaten von Samuel Pufendorf (1631-1694), 273 die von Boris Volkov übersetzt wurde. Mit der Weiterentwicklung der Wissenschaften, dem Ausbau des Bildungssystem und nicht zuletzt auch der allmählich wachsenden Nachfrage nach westlicher Literatur seitens des sich nach und nach formierenden Bildungspublikums nahm der Bedarf an übersetzten Fachbüchern und schöngeistiger Literatur um die Mitte des 18. Jahrhunderts rapide zu. Da der Bedarf offensichtlich die Möglichkeiten der an der Akademie beschäftigten Übersetzer überstieg, versuchte die akademische Kanzlei auch in der Öffentlichkeit geeignete Personen zu finden, die Bücher übersetzen und für ihre Arbeit mit einem Teil der gedruckten Werke entlohnt werden sollten. So hieß es in einer Ausschreibung, die die Akademie Anfang 1748 in den St. Petersburger Nachrichten abdrucken ließ: 'Heute finden sich viele in den Fremdsprachen gewandte Russen sowohl aus dem Adel als auch aus den verschiedenen anderen Rängen: Aus diesem Grund macht die Kanzlei der Akademie der Wissenschaften kraft Erlasses Ihrer Majestät allen [Fremdsprachen-]liebhabern bekannt: falls jemand wünscht, irgendein Buch aus der lateinischen, französischen, deutschen, italienischen, englischen oder einer anderen Sprache zu übersetzen, so möge er sich mit dieser Absicht an die Akademie der Wissenschaften wenden, damit von ihm zuerst eine Probe seiner Übersetzungen genommen wird und dann, so seine Kunstfertigkeit für die Übersetzung von Büchern für ausreichend befunden wird, ihm ein Buch zur Übersetzung gegeben wird. Und sobald es übersetzt, ins Reine geschrieben und in die Kanzlei gebracht sein wird, so werden ihm für diese Arbeit, wenn er es wünscht gedruckt auf seinen Namen, einhundert gedruckte Exemplare eben dieses Buches als Geschenk ausgehändigt. ' 2 7 4
In den 1770er Jahren, als der Bedarf an Übersetzungen noch größer wurde, versuchte man die Studenten der Akademischen Universität per Reglement zum Übersetzen zu verpflichten. So legte der Direktor der Akademie der Wissenschaften S. G. DomaSnev fest, daß man nur drei Jahre lang Student sein dürfe, nach Ablauf dieser Zeit würde man zum Übersetzer oder Lehrer bestellt, j e nach den Bedürfnissen der Akademie und den Fähigkeiten der
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Dt., Frankfurt/M., 1682. Russ. 1767-1777. Vgl. SK, Bd. II, Nr. 5768. „Ponyne mnogie iz rossijskich kak dvorjan, tak i drugich raznych Cinov ljudej nachodjatsja iskusny v Cuiestrannych jazykach: togo radi po ukazu ee i. v-stva kanceljarija Akademii Nauk öres sie ochotnikam ob'javljaet, eieli kto poielaet kakuju knigu perevest' s latinskogo, francuzskogo, nemeckogo, ital'janskogo, anglijskogo ili s drugich kakich jazykov, to b javilis' v kanceljariju Akademii Nauk s tem namereniem, Cto ot nich sperva budut proby vsjaty ich perevodov, a potom, bude naidetsja ich iskustvo dovol'no k perevodu knig, to dana budet kniga dlja perevodu, a kak skoro onaja budet perevedena, perepisav na öisto, prinesena v kanceljariju, to za trudy onomu, po napeiatanii s ego imenem, eieli on poZelaet, vydano emu budet v podarok sto peiatnych eksempljarov toj 2e knige." St. Peterburgskye vedomosti vom 1./12.2.1748, No. 10, S. 78f. zit. nach Solov'ev (1963), S. 577f.
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Studenten.275 Jeder Student sei verpflichtet, jedes Jahr ein ihm zu diesem Zweck tlbergebenes Buch zu übersetzen. Damit hiermit kein Mißbrauch betrieben würde, solle der Umfang der Bücher auf 100 Druckbögen in Oktav festgelegt werden.276 Das dritte Viertel des 18. Jahrhunderts wurde zur „Ära der Übersetzer".277 Mehr als ein Drittel der in der Zeit von 1756-1775 gedruckten Bücher in bürgerlicher Schrift waren Übersetzungen (765 Titel). Anders als in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts dominierten nun französischsprachige Originale, die mit 52,5 % gut die Hälfte aller übersetzten Werke ausmachten, weit vor den deutschen, die einen Anteil von 22,9 % hatten.278 Von 1775 bis 1800 stieg die Zahl der Übersetzungen aus dem Französischen sogar weiter auf 63 % aller Übersetzungen, während der Anteil an deutschen Originalen bei 22 % stagnierte.279 So war es vor allen Dingen der literarische Bereich, in dem der Einfluß der französischen Kultur in Rußland besonders groß war: T h e French i n f l u e n c e w a s primarily a literary one. French literature w a s translated and read, particularly in t h e capital and in court circles, but it w a s m a i n l y a s o u r c e o f entertainment ( w h i c h did not e x c l u d e a b r o a d e n i n g o f the m e n t a l and cultural h o r i z o n o f the readers). T h r o u g h this literature, i n f o r m a t i o n o n t h e l i f e o f E u r o p e a n h i g h s o c i e t y penetrated into R u s s i a and g e n e r a t e d a d e s i r e to e m u l a t e its e l e g a n c e , a m u s e m e n t s , and l e i s u r e . 2 8 0
Obzwar Frankophilia im Bereich der Übersetzungsliteratur statistisch am stärksten ins Gewicht fielen, blieb der Anteil Deutscher unter den übersetzten Autoren doch beträchtlich. So wurden nach Voltaire und Molière vorzüglich August von Kotzebue, Christoph Martin Wieland, Salomon Geßner, Gotthold Ephraim Lessing und Johann Wolfgang von Goethe übersetzt.281 Bemerkenswert ist, wie schnell diese Literatur Rußland erreichte. Während in den 1740er und 1750er Jahren nicht selten bis zu 50 Jahre vom Erscheinen eines Werkes in Westeuropa bis zu seiner Übersetzung ins Russische verstrichen, wurden die Arbeiten der führenden franzö275
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„Studentami doliny byt' tri goda, po proäestvii kotorych opredeljat' ich v perevodöiki ili v uiiteli, smotrja po nuidam akademii i ich sposobnosti". Suchomlinov (1876), Bd. 3, S. 269. „Student' kaìdyj god dolien perevesti knigu, kakaja emù dana budet'. N o ¿tob ne proizoSlo v sem zloupotreblenija, to naznaCaetja veliéin knig predel, a imjano do 100 listov peCatnych v os'muäku. [...]." Suchomlinov (1876), Bd. 3, S. 269. Vgl. Marker (1977), S. 218. Vgl. Marker (1977), S. 219; (1985), S. 88. Englischsprachige Werke spielten unter der Übersetzungliteratur, die fast 45 % aller in dieser Zeit gedruckten Bücher ausmachte (in Zahlen: 3275 von 7342 Titeln) mit nur 7 % eine noch unbedeutende Rolle. Vgl. Marker (1977), S. 289f. Raeff (1971), S. 143. Vgl. Amburger (1977), S. 210.
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sischen Philosophen seit den 1770er Jahren innerhalb von zehn bis zwanzig Jahren nach ihrem Erscheinen in Frankreich übersetzt. In den 1780er Jahren verkürzte sich diese Spanne noch weiter. Goethes Leiden des jungen Werther (dt. 1774) lagen schon sieben Jahre nach ihrem Erscheinen in russischer Sprache vor, ebenso schnell wurden mehrere Werke Wielands übersetzt. 282 Vor allem dem Wirken eines Mannes ist es geschuldet, wenn die deutsche schöngeistige Literatur zum Ende des 18. Jahrhunderts hin in Rußland weiterhin „einen Gegenakzent gegen den mächtigen französischen Einfluß [setzte]". 283 Dieser Mann war Nikolaj Ivanoviö Novikov (1744-1818), Schriftsteller, Verleger, Publizist, führender Kopf der Moskauer Freimaurer und Rußlands erster „professioneller homme de lettres". 284 Er hatte seine Ausbildung, wie manch anderer namhafte russische Literat, z. B. Karamzin, in der Adelspension der Moskauer Universität, einer „Bastion deutscher akademischer Erziehung", erhalten und dort „Zugang zu deutschen Geistestraditionen [gefunden], der richtungsweisend für seine spätere Tätigkeit wurde". 285 Von 1779 bis 1792 war Novikov der fuhrende Verleger Rußlands; er allein bestritt in dieser Zeit etwa ein Drittel der gesamten russischen Buchproduktion. Ein Großteil der von Novikov verlegten Bücher waren Übersetzungen, nämlich 520 Titel, und von diesen wiederum stammten 135 aus dem Deutschen. Mit seinen Veröffentlichungen, Büchern wie Zeitschriften, vermittelte Novikov dem russischen Lesepublikum „ein umfassendes Bild des deutschen Geisteslebens". 286 Das besondere Interesse Novikovs galt der „deutschefn] literarischefn] Szene, die er umfassend überschaut" und dem russischen Publikum in ungewöhnlich breiter Auswahl bekannt gemacht hat. 287 So veranlaßte er nicht nur Übersetzungen solcher Koryphäen wie Wieland, Geßner, Geliert, Goethe und Lessing, sondern hat auch heute fast vergessenen Autoren wie Johann Jakob Dusch oder Heinrich Wolfgang Berisch berücksichtigt. 282 283 284 285
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Vgl. Marker (1977), S. 441. Boden (1992), S. 456. Ebd., S. 451. Zu Novikov vgl. auch Bakounine (1967), S. 371f. Boden (1992), S. 452. Und dies obwohl Novikov, „vor die Wahl zwischen dem Deutschen und dem Französischen gestellt, für das Französische optiert hat", das er später freilich ebensowenig aktiv beherrscht zu haben scheint wie das Deutsche. Vgl. ebd., S. 452. Ebd., S. 454. Die von Novikov herausgebrachten Ausgaben deutscher Bücher umspannten „thematisch einen Bogen, der von Campes Entdeckung Amerikas (1787/88) über ein Botanisches Wörterbuch von A. Maier (1781-1783), eine europäische Geschichte Reichels (1788), Bruckers Kurze Geschichte der Philosophie (1785) bis zu mehreren Lehrbüchern über Jurisprudenz, Erdkunde sowie das Kaufmannshandwerk reicht". Ebd., S. 455. Ebd., S. 456.
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In erheblichem Maße vorangetrieben hat Novikov auch das Übersetzerwesen, denn seine Pläne ließen sich nur mit Hilfe qualifizierter Übersetzer in die Tat umsetzen, und so war es der Organisator Novikov, der „das Übersetzen aus Fremdsprachen [erstmals in Rußland] gleichsam zu einer Industrie entwickelt" hat. Er beschäftigte bis zu 110 haupt- oder nebenberufliche Übersetzer und förderte besonders die „systematische Ausbildung von Fachleuten für deutsche Literatur". So gründete er 1782 beispielsweise die Gelehrte Freundesgesellschaft [Druzesko ucenoe obscestvo], der ein von ihr unterhaltenes Übersetzerseminar mit 16 dauerhaften Mitarbeitern angegliedert war, das „sachkundige und engagierte Vermittler" hervorgebracht hat, beispielsweise den kaum bekannten Fedor IsaeviC SapoZnikov (geb. 1749) „ein bemerkenswert talentiertes Mitglied", 288 der am Moskauer Gymnasium auch Deutschlehrer war und 1780 eine Sammlung literarischer Texte für Unterrichtszwecke veröffentlichte, sowie den herausragenden N. M. Karamzin, Novikovs berühmtesten „Schüler", der später in besonderem Maße verstanden hat, „die Bewunderung seiner Landsleute auf das Deutschland des Geistes [zu lenken]". 289 Einen zweiten Schwerpunkt in Novikovs verlegerischem Schaffen bildete die Übersetzung und Herausgabe mystischer und theosophischer Literatur aus Deutschland, die von den russischen Freimaurern intensiv studiert wurde. Vor allem im Kreis der Moskauer Freimaurer und Rosenkreuzer, die sich in den 1770er und 1780er Jahren um Persönlichkeiten wie Novikov, RadiSöev und den deutschen Professor für Philosophie und Literatur Johann Georg Schwarz (1751-1784) 290 formierten, fanden die Schriften deutscher Mystiker wie Jakob Böhme und Johannes Arndt begeisterte Aufnahme und wurden von den Rosenkreuzern sogar „unmittelbar nach der Lektüre der Heiligen Schrift" empfohlen. 291 Wenn möglich las man sie im Original, doch war man auch bemüht, die Werke dieser Mystiker durch Übersetzungen „denen nahezubringen, die kein Deutsch verstanden oder deren Deutschkenntnisse für die Lektüre dieser schwierigen mystischen Texte nicht ausreichten" 292 Nach Ansicht der russischen Sprachhistorike288 289 290 291
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Zu Sapoinikov als Deutschlehrer vgl. Kap. V, Punkt 5. Alle Zitate Boden (1992), S. 456-459. Zu Schwarz vgl. Kap. V, Punkt 5. Bryner (1992), S. 392. Ebendort vgl. auch allgemein zu den Beziehungen der russischen und speziell Moskauer Freimaurer und Rosenkreuzer zu deutschen Logen. Bryner (1992), S. 383. So übersetzte der „aus der Gegend von Poltava stammende sprachgewandte Rosenkreuzer Semen Hamalja (Gamaleja, 1743-1822) [...] in langjähriger Arbeit das ganze Werk Böhmes ins Russische", wobei diese Übersetzung allerdings nicht gedruckt, sondern nur handschriftlich verbreitet wurde. Die Vier Bücher vom wahren Christentum (1610) von Johannes Arndt waren von Simon Todorskij schon 1735 ins Ukrainisch-Kirchenslavische Ubersetzt und in Halle gedruckt worden. Wegen ihrer überaus großen Bedeutung für das russische Rosenkreuzertum wurden sie vom Kreis um N o -
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III. Domänen des Deutschen (18. Jh.)
rin BirZakova ist es u. a. auf dieses Interesse am deutschen Freimaurertum und dessen Literatur zurückzuführen, daß die deutsche Sprache in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gerade in Moskau besondere Bedeutung besaß: 'Petersburg mit seiner Hofgesellschaft und der höheren Aristokratie war in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts in Rußland Sammelbecken der französischen Sprache; Moskau hingegen, das Zentrum der demokratischen Intelligenz und des Freimaurertums (des Rosenkreuzertums), zog es zur deutschen Sprache.' 293 * *
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Aufgabe des III. Kapitels war es, die Bedeutung und Funktionen der deutschen Sprache in den verschiedenen Bereichen von Politik, Administration, Wirtschaft, Industrie, Kultur und Wissenschaft zu charakterisieren, um so die Hintergründe für das Deutschlernen zu beleuchten. Der selbst des Deutschen mächtige Zar Peter machte Fremdsprachenkenntnisse (und das hieß in der petrinischen Zeit: Deutschkenntnisse) zur Aufstiegsvoraussetzung für seine Beamten und Hofleute, denn diese waren nicht nur für die praktische Durchführung der Reformen vonnöten, sondern demonstrierten auch symbolisch die Hinwendung Rußlands zum Westen. Aufgrund der einflußreichen Stellung Deutscher bei Hofe und in den Behörden war das Deutsche in den 1730er Jahren an den Schnittstellen der Macht so gebräuchlich, daß es fast den Status einer zweiten Staatssprache besaß. Dieser Entwicklung setzte die frankophile Elisabeth ein Ende, seit deren Regierungszeit der russische Hof und die adlige Oberschicht das Französische als Konversationssprache präferierten. Der in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wachsende französische Kultureinfluß blieb in Rußland jedoch primär ein literarischer und war zweifellos auch eine Frage der Mode. Die Erlernung des Deutschen war demgegenüber stets eine Frage praktischer Notwendigkeiten. Durch die Bildung bilingualer Domänen wie beispielsweise der russischen Armee, wo Deutsch aufgrund des hohen Anteils deutscher bzw. baltendeutscher Offiziere Kommandosprache war, des russischen Bergwesens, das unter Anleitung deutscher Bergbauspezialisten ausgebaut wurde, des russischen Gesundheitswesens, in dem schon seit dem 16. Jahrhundert deutsche Mediziner den Ton angaben, und nicht zuletzt dem Bildungs- und Wissenschaftsbereich, der praktisch von deutschen
vikov 1784 nochmals ins Russische Ubersetzt und in Moskau gedruckt. Vgl. Bryner (1992), S. 383ff. „Peterburg vtoroj poloviny veka - s ego pridvornym obäiestvom i vysäöej aristokratiej byl sredotoiiem francuzskogo jazyka v Rossii; Moskva ie - centr demokratiiekoj intelligencii i masonstva (rozenkrejcerstva) - tjagotela k jazyku nemeckomu." Biräakova u. a. (1972), S. 42.
4.3 Übersetzungen aus dem Deutschen
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Gelehrten und Pädagogen aufgebaut wurde, waren Deutschkenntnisse für die in diesen Domänen verkehrenden Russen und anderen Ausländer, die mit den mehrheitlich nicht russischsprechenden Deutschen kommunizieren wollten, unabdingbar. Für die gebildeten Russen war das Deutsche seit Anfang des 18. Jahrhunderts als Bildungs-, Wissenschafts- und Publikationssprache von größter Bedeutung. Dies wurde bereits durch die Ausführungen zu den russischen Studenten an deutschen Universitäten sowie zur Verbreitung deutschsprachiger Bücher in Rußland belegt und soll im folgenden Kapitel, das den Stellenwert des Deutschen als Unterrichtsfach und als Unterrichtssprache an den russischen Bildungseinrichtungen untersucht, weiter begründet werden.
IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten „Ucilis' by jazykam" ['Mögen sie Sprachen lernen'] 1 : Peter I. war der erste Zar, der erwartete, daß seine Untertanen Fremdsprachen lernten und es einem Teil von ihnen sogar unmittelbar anbefahl. Ebenso ließ er als erster russischer Herrscher Schulen einrichten, an denen moderne Fremdsprachen erlernt werden konnten. In institutionalisierter Form existierte der Unterricht des Deutschen als Fremdsprache 2 in Rußland somit seit Anfang des 18. Jahrhunderts. Der Ausbau des Schul- und Bildungssystems bis zum Ende der Regierungszeit Katharinas II. gab das Tempo vor, mit dem sich der Deutschunterricht entfaltete. Um die Entwicklungsgeschichte des Deutschlernens an den russischen Schulen und Universitäten adäquat beschreiben zu können, ist es daher notwendig, zunächst auf die allgemeine russische Schulgeschichte einzugehen. Die folgenden Ausführungen geben einen kurzen Überblick über die Entwicklung des russischen Bildungssystems jener Periode, wobei auch auf die Petersburger deutschen Schulen eingegangen wird. Anschließend wird die Entwicklung des Deutschunterrichts und die Rolle des Deutschen als Unterrichtssprache an russischen Schulen untersucht.
1. Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts Die zentrale Voraussetzung für die von Peter I. eingeleitete Modernisierung Rußlands war der Aufbau eines säkularen Schulsystems, welches bis dahin in Rußland praktisch nicht existiert hatte. Hatte der Bedarf an Fachleuten in der vorpetrinischen Zeit noch fast ausschließlich durch ausländische Spezialisten gedeckt werden können, so reichte dieses Potential trotz systematischer Anwerbungsmaßnahmen für die Realisierung der petrinischen Reformpolitik nicht mehr aus. Für die Flotte, das Heer, die Verwaltungsreformen, die im Aufbau befindliche Manufakturwirtschaft und den
Reglement für die Akademie der Wissenschaften von 1725, zit. nach Skrjabin (1974), S. 32. In dieser Arbeit wird i. d. R. einfach von Deutschunterricht gesprochen, womit jedoch ausgehend von der primären Zielgruppe der nicht-deutschen Schüler implizit der Unterricht des Deutschen als Fremdsprache gemeint ist.
1. Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts
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prosperierenden Handel wurden so viele Fachkräfte benötigt, daß man diese nur aus den Reihen der eigenen Bevölkerung gewinnen konnte. Das Problem der Volksbildung rückte so unter Peter dem Großen erstmals in das Blickfeld staatlichen Interesses, blieb aber zunächst noch weitgehend auf den Moskauer und Petersburger Adel sowie die städtischen Oberschichten beschränkt. In rascher Folge ließ der Zar in Moskau und St. Petersburg fachspezifische Ausbildungsstätten gründen, die dem Staat die erforderlichen Experten liefern sollten. Eine der ersten Fachschulen war die Mathematik- und Navigationsschule in Moskau (1701). Artillerieschulen, Schulen für Militäringenieure, medizinisch-chirurgische Schulen, die Marine-Akademie in St. Petersburg (1715) und Bergbauschulen in dem nördlich von Petersburg gelegenen Olonec (1716) und im Ural (ab 1721) folgten. 3 Der Versuch, mit der Einrichtung von Ziffernschulen, einer Art mathematischer Elementarschulen, ab 1714 die allgemeine Schulpflicht einzuführen - wer sich dem Schulbesuch verweigerte, durfte nicht heiraten -, scheiterte an deren mangelhaften Organisation und ihrem den Bedürfhissen der Schulpflichtigen nur unzureichend entsprechenden Bildungsprofil. 4 Fremdsprachen wurden an diesen Fachschulen mit primär technischmilitärischer Ausrichtung nur selten unterrichtet. 5 Der Umstand, daß viele Lehrer Ausländer waren - an der Navigationsschule Engländer, an anderen Schulen meist Deutsche, mitunter auch Holländer - und meist kein Russisch sprachen, führte jedoch dazu, daß der Unterricht oft selbst in einer Fremdsprache abgehalten wurde. 6 Außer den genannten Fachschulen entstand unter Peter I. ein weiterer Unterrichtszweig: die Fremdsprachenschulen. Sie sollten den wachsenden Bedarf an Übersetzern und Dolmetschern decken, der aufgrund der sich intensivierenden internationalen Kontakte Rußlands entstanden war. Das erste derartige Schulprojekt war die Übersetzerschule am Gesandtschafitsprikaz, die im November 1701 gegründet und von dem Sachsen Nicolaus
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Vgl. hierzu Donnert (1984), S. 39-50; Beljavskij (1987), S. 258-293; zu den Bergbauschulen Sabaeva (1973), S. 55f. Wittram (1964), S. 202. Eine Fachschule, deren Lehrplan offenbar auch Deutschunterricht vorsah, ist die Moskauer Ingenieursschule. Dokumente belegen, daß für diese Schule im Dezember 1711 Deutschlehrbücher bestellt wurden. In einem Ersuchen an den Zaren erbat der Direktor der Ingenieursschule, Peter de Lembken, aus dem Prikaz Knig peöatnogo dela ['Amt für Bücher- und Druckwesen'] 15 deutsch-lateinische Orbis Picti und 15 deutsch-lateinische Grammatiken. Da diese Behörde solche Bücher nicht vorrätig hatte, sollte das Fremdsprachengymnasium diese zur Verfügung stellen. Es lieferte daraufhin drei Orbis picti, denn die restlichen Exemplare wurden für den eigenen Unterricht benötigt. Vgl. Belokurov (1907), S. 219, Kovrigina (2000), S. 42. Zur Rolle des Deutschen als Unterrichtssprache vgl. unten Punkt 6.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an rassischen Lehranstalten
Schwimmer geleitet wurde. Schwimmers Unterricht anbefohlen waren sechs russische Knaben, alles Kinder von Sekretären des Amtes. 7 Da Schwimmer jedoch kein Russisch sprach, wurden diese Schüler und drei weitere im Februar 1703 einem anderen Lehrer anvertraut, und zwar dem lutherischen Probst Johann Ernst Glück, der über die notwendigen Sprachkenntnisse verfügte. Glücks Unterrichtstätigkeit führte alsbald dazu, daß er dem Zaren vorschlug, in Moskau ein Gymnasium einzurichten. Der Zar willigte ein und wies Glück im April 1704 auf dem Grundstück des Bojaren V. F. NarySkin in der Pokrovskaja-Straße Räumlichkeiten für diese Schule zu. Der offizielle Gründungsukaz dieses ersten russischen Gymnasiums datiert vom 25.02.1705. 8 Die Anstalt zählte zu den privilegiertesten Bildungseinrichtungen ihrer Zeit: Sie wurde fast ausschließlich von Söhnen der engsten Mitarbeiter Peters I. und des herrschenden Adels besucht, darunter die späteren Diplomaten Avraam, Isaak und Fedor Veselovskij, Jakov und Petr Volkov, Ivan Gramotkin, Laurentius Blumentrost d. J., dem späteren Präsidenten der Akademie der Wissenschaften, und Kinder so angesehener Familien wie der Boratynskijs, Meäöerskijs, ChruSöevs und Buturlins. 9 Für den Schulbesuch wurden sie sogar vom Militärdienst befreit, was zu den damaligen Kriegszeiten eine außerordentliche Vergünstigung darstellte. 10 Den Unterrichtsschwerpunkt des Gymnasiums bildeten die Fremdsprachen Latein und Deutsch, nach deren Erlernung „die großen Herren" Glück zufolge „sehr begierig" waren." Die meisten Schüler zählte das Gymnasium in den Jahren 1706 bis 1710, als in den drei
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Troiskij (1974), S. 237, Kovrigina (2000), S. 34f. Vgl. Kovrigina (2000), S. 34f. Nach Winter soll Peter I. das Gymnasium als Vorstufe der spater zu errichtenden wissenschaftlichen Akademie geplant haben. Da das frühzeitige Ableben Glücks die planmäßige Entwicklung der Schule verhinderte und kein direkter Zusammenhang zwischen ihr und der 1725 eröffneten Akademie der Wissenschaften besteht, läßt sich die Richtigkeit dieser These jedoch nicht nachweisen. Zur Entwicklungsgeschichte dieser Schule, die auch als .Akademisches Gymnasium', ,Zarisches Deutsches Gymnasium', ,gymnasio illustre' und .Gymnasium Petrinum' bezeichnet wurde, vgl. ausführlicher Winter (1953), S. 161-175 sowie jetzt Kovrigina (2000), S. 33ff. Die Ernennung Glücks zum Leiter der Schule ging auf die Fürsprache des für die auswärtigen Angelegenheiten zuständigen F. A. Golovins zurück, dem Glück bereits mit seiner russischen Bibelübersetzung aufgefallen war. Vgl. hierzu Keipert/Uspenskij/2ivov (1994), S. 17. Vgl. Schmücker-Breloer (2001), S. 27. Auch die ungewöhnliche Höhe der Gehälter von Glück und seinen Professoren signalisiert, daß es sich um keine gewöhnliche Schule handelte. Ihr Jahresgehalt betrug 600 Rubel, was später dem Gehalt eines ordentlichen Mitglieds der Akademie der Wissenschaften entsprach. Vgl. Winter (1953), S. 164. Glück 1704 in einem Brief an den Pietisten A. H. Francke in Halle. Zit. nach Winter (1953), S. 375. Zur Rolle der Pietisten beim Aufbau des Schulsystems in der petrinischen Zeit vgl. Kap. V, Punkt 2.
1. Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts
105
Klassen der Schule mehr als 100 Jungen unterrichtet wurden. 12 Nach dem Tod Ernst Glücks am 5. Mai 1705 sank das Niveau des Gymnasiums herab. Seine Hauptaufgabe blieb aber der Fremdsprachenunterricht, dazu kam Unterricht in den Fächern Geschichte, Geographie, Philosophie und Mathematik. Ab 1711 wurde das Gymnasium in eine reine Fremdsprachenschule mit den Sprachen Latein, Deutsch, Französisch, Schwedisch und Italienisch verwandelt, „Deutsche Schulen" genannt und die Zahl der Lehrer von zwölf auf sechs halbiert. Im Jahr 1715 wurde es endgültig geschlossen und der Unterricht an den deutschen Gemeindeschulen weitergeführt. 13 Die Schulen von Schwimmer und Glück waren die ersten staatlichen Bildungsanstalten in Rußland, an denen institutionell organisierter Unterricht in den modernen Fremdsprachen angeboten wurde. Die Akademie der Wissenschaften und ihre Lehranstalten Mit der Gründung der Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg, deren Eröffnung Ende Dezember 1725 Peter der Große schon nicht mehr erlebte, fand die petrinische Bildungspolitik ihren Höhepunkt. Die Einrichtung der Akademie stellte den wichtigsten Schritt für die weitere Entwicklung des russischen Bildungswesens im allgemeinen und die Verbreitung deutscher Sprachkenntnisse im besonderen dar. Peters I. Pläne zur Errichtung eines Wissenschaftszentrums gehen auf Anregungen von Leibniz sowie persönliche Eindrücke zurück, die der Zar während seiner Besuche der Londoner Royal Society (1698) und der Pariser Académie des sciences (1717) empfangen hatte. 14 Die Aufgaben der zukünftigen Akademie hatte Peter I. im Gründungsukaz persönlich festgelegt; sie unterschieden sich grundlegend von denen vergleichbarer Institutionen in Westeuropa. Den spezifischen Bedingungen Rußlands Rechnung tragend, wo ein originärer Gelehrtenstand völlig fehlte, sollte die Petersburger Akademie keine reine Forschungsstätte sein, sondern vor allem zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse und der Heranbildung junger russischer Wissenschaftler beitragen. Zu diesem Zweck wurde der eigentlichen Akademie eine in drei Fakultäten (Medizin, Jurisprudenz und Philosophie) gegliederte Universität und ein Gymnasium zur Seite gestellt. Die Professoren berief man zunächst aus dem Ausland, insbesondere von deutschen Universitäten. Aber nicht nur russische Professoren, auch einheimische Studenten für die neugegründete Universität fehlten anfangs. Die ersten neun Studenten mußten deshalb aus Deutschland angeworben werden. Für die Vorberei-
12 13 14
Vgl. Kovrigina (2000), S. 35. Vgl. ebd., S. 35f. Vgl. KopeleviC (1977), S. 32.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
tung potentieller russischer Studenten war das 1726 gegründete Akademische Gymnasium zuständig. Wie alle bildungspolitischen Maßnahmen Peters des Großen war die Gründung der Akademie und der ihr angeschlossenen Einrichtungen von reinen Nützlichkeitserwägungen geleitet. Mehr noch als um die wissenschaftliche Forschung ging es dem Zaren um die Vermittlung praktischen Wissens, von dessen Anwendung der Staat unmittelbar profitieren sollte. Unter dieser Prämisse hatte die Erlernung von Fremdsprachen oberste Priorität. Der Sprachunterricht hatte ersten Plänen aus dem Jahr 1724 zufolge an einer dem Akademischen Gymnasium vorangestellten ,Grundschule' erteilt werden sollen. Neben dem Lateinischen als der akademischen Vorlesungssprache hatte man Deutsch, Französisch und Griechisch vorgesehen. Dieser Plan wurde 1726 jedoch verworfen und der Sprachunterricht in den Aufgabenbereich des Gymnasiums überfuhrt. Dort stellte die Ausbildung in den Sprachen bis zur Schließung des Gymnasiums im Jahre 1805 die zentrale Komponente des gesamten Gymnasialkursus dar.
Abb.3: Akademie der Wissenschaften mit Akademischem Gymnasium. Gravur nach einer Zeichnung von M. I. Machaev, Mitte 18. Jh.
1. Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts
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Man kann sogar sagen, daß Deutsch und Latein die wichtigsten Fächer überhaupt waren. Für die systematische Entwicklung des öffentlichen Fremdsprachenunterrichts hat das Gymnasium, dessen grundsätzliche Bedeutung von der Forschung lange Zeit unterschätzt worden ist,15 über seine eigenen Grenzen hinaus eine tonangebende Rolle gespielt. Im Rahmen dieser Arbeit findet es daher besondere Beachtung. An der Universität, die nur halb so lang wie das Gymnasium, nämlich rund 40 Jahre, funktionierte, kam der Lehre der modernen Sprachen demgegenüber weniger Bedeutung zu.16 Die Eliteschulen des Adels Die in der petrinischen Zeit geschaffenen Bildungseinrichtungen standen prinzipiell allen Ständen mit Ausnahme der Leibeigenen offen. Das galt auch für das Akademische Gymnasium, in dem Kinder adliger Herkunft gemeinsam mit solchen des Mittelstandes (Angestellte der Akademieeinrichtungen, Söhne von Kaufleuten, Handwerkern, Offizieren und Beamten) und selbst Dienstboten- und Soldatenkindern lernten.17 Die erste nicht öf15
Die Bedeutung des Gymnasiums ist vor allem in den früheren Arbeiten zur russischen Schulgeschichte zu gering bewertet worden, bzw. scheint es Versuche gegeben zu haben, diese durch Nennung extrem niedriger Schalerzahlen weniger wichtig erscheinen zu lassen, als sie de facto war. Ein Beispiel hierfür sind die Arbeiten D. A. Tolstojs, v. a. Tolstoj (1970a), der seine Angaben über die Schülerzahl des Gymnasiums auf die Zahl der neuaufgenommenen Schüler beschränkt, dies aber nicht explizit kennzeichnet, so daß der falsche Eindruck entsteht, es handele sich hierbei um die Gesamtschülerzahl. Auf die nicht ganz korrekte Darstellungsweise Tolstojs haben auch die Autoren Margolic/Tiäkin (1988) in ihrer Arbeit Uber die Bedeutung der Akademischen Universität hingewiesen. Jüngere Untersuchungen haben solche irreführenden Angaben bedauerlicherweise oft ungeprüft übernommen, z. B. SimkoviC (1907), S. 500; Sabaeva (1973), S. 63; PanaCin (1979), S. 11; Black (1979), S. 45; Madariaga (1979), S. 371. Daß die Schülerzahlen den Verhältnissen der Zeit entsprechend durchaus keine quantité négligable waren, zeigen die bei Suchomlinov (Bd. 1-10) dokumentierten Gymnasialmatrikeln für den Zeitabschnitt von 1726-1750, die alle pro Jahr neu aufgenommenen Schüler, deren Alter, Herkunft, Klassenzugehörigkeit, Versetzungen in andere Klassen, ab 1736 meistens auch den Zeitpunkt des Schulaustritts verzeichnen. Im Zusammenhang mit der Frage nach der konkreten Anzahl der Deutschlerner komme ich auf diesen Aspekt unter Punkt 5 noch zurück.
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Kopelevii weist auf eine Universitätsvorlesung im deutschen Stil in den 1730er Jahren hin, ftlr die sich allerdings nur drei Studenten interessierten, von denen zwei Deutsche waren. Vgl. Kopelevii (1996), S. 9. Kuljabko erwähnt, Professor G. F. FedoroviC habe an der Universität 1766 vier Wochenstunden Deutsch unterrichtet. Vgl. Kuljabko (1962), S. 127. Deutschunterricht dieser Art scheint an der Universität aber eine Ausnahme gewesen zu sein. Dies kann man den Matrikeln des Akademischen Gymnasiums für die Periode 17261750 bei Suchomlinov (Bd. 1-10) entnehmen, die genaue Angaben über die soziale Herkunft der Schüler geben.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
fentliche Standesschule, das für Adelssöhne reservierte Korps der adligen Landkadetten [suchoputnyj sljachetskij kadetskij korpus], wurde 1731 unter Anna Ivanovna eingerichtet. 18 Da das Landkadettenkorps im Unterschied zum Akademischen Gymnasium mit dem Recht ausgestattet war, die für die Karriere im Staatsdienst unentbehrlichen Ränge zu verleihen, gab ihm der Adel in aller Regel den Vorzug. 19 Das Korps „orientierte sich an dem preußischen Vorbild, das der Soldatenkönig Friedrich Wilhelm I. geschaffen hatte, sowie an den deutschen Ritterakademien". 20 Außer der militärischen bot es eine exklusive allgemeine Erziehung, die ganz den Anforderungen universalistischer Aufklärungskultur entsprach und Zöglingen, die nicht an einer militärischen Laufbahn interessiert waren, die Möglichkeit einer zivilen Karriere eröffnete. 21 The founding of the Corps of Cadets marked a departure from the strictly utilitarian orientation not so much by its curriculum [...] as by the new atmosphere that prevailed in it. A privileged school for the selected nobility, located in the capital, its students were eagerly received in good society and at court. The cadets developed new cultural aspirations - to be leaders of an elegant and stimulating social and intellectual life. They acquired a keen interest in things of the mind of Western origin, especially the more graceful and beautiful ones, such as literature, drama, music. The Corps o f Cadets thus served as an early center for the translation of Western literature; its students put on the first literary circles. More and more, the development o f the individuals spirit and the opening up of his intellectual potential became the goal of education. Not only was schooling to prepare the young nobleman for an active life in the service of the state, but it was also to develop him into a more valuable individual, intellectually active and spiritually alive. 2 2
Aus dem Kadettenkorps sind außer angesehenen Generälen und hohen Zivilbeamten bedeutende Pädagogen, Künstler und Literaten hervorgegangen, beispielsweise die Schriftsteller A. P. Sumarokov (1717-1777) und M. M. Cheraskov (1733-1807). 23 Mit seinem eigenen Verlag und der überaus produktiven Übersetzungswerkstatt stellte das Kadettenkorps - neben der gut zwanzig Jahre später errichteten Moskauer Universität - eine der wichtigsten Vermittlungsinstanzen für westeuropäische Kulturleistungen dar. 18 19
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PSZ, Bd. 8, Nr. 5881. Bis zum Ende der Regierungszeit Katharinas II. hatten hier mehr als 4000 Jünglinge eine Ausbildung erhalten; das waren mehr als doppelt so viele wie am Akademischen Gymnasium. Vgl. Georgi (1996), S. 294. Schon kurz nach der Gründung, als zunächst nur 200 Kadetten vorgesehen waren, wurde die Schülerzahl auf 360, und im Jahre 1762 im Zusammenhang mit der vollständigen Aufhebung der Dienstpflicht für den Adel nochmals auf 600 erhöht. Vgl. Epp (1984), S. 57. Scharf (1995), S. 132. Zur Vorbildfunktion deutscher Bildungsanstalten für die Gründung russischer Schulen vgl. unten Punkt 3. Luzanov (1907), S. 15. Raeff (1971), S. 136f. Zu den Ausbildungsleistungen des Landkadettenkorps vgl. auch Raeff (1971), S. 136f.
1. Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts
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Dem Unterricht in den Sprachen Latein, Russisch, Deutsch und Französisch galt entsprechendes Augenmerk. Sogar auf die Entscheidung, wo die neue Anstalt am günstigsten einzurichten sei, hatten Fragen des Fremdsprachenerwerbs Einfluß genommen. So war die Wahl unter anderem deshalb auf St. Petersburg gefallen, weil man glaubte, den Kadetten aufgrund des hohen Ausländeranteils dieser Stadt dort die beste Möglichkeit bieten zu können, durch alltägliche Kontakte mit den Ausländern ihre Sprachkenntnisse zu vertiefen. 24 Nach dem Muster des Landkadettenkorps entstanden unter Zarin Elisabeth weitere Eliteschulen: das in der Nachfolge der Marine-Akademie stehende Seekadettenkorps (1752), das Pagenkorps zur Ausbildung der Hofpagen (1759) sowie das Artillerie- und Ingenieur-Kadettenkorps (unter diesem Namen ab 1762), das aus einem Zusammenschluß der vorherigen Ingenieur- und Artillerieschulen hervorging. Fremdsprachenunterricht war an all diesen Institutionen obligatorisch, die Sprachauswahl den Erfordernissen der jeweiligen Laufbahn angepaßt. Die Moskauer Universität und ihr Gymnasium Die militärischen Eliteschulen hatten weitaus stärker als die akademischen Lehreinrichtungen zur Heranbildung einer vornehmlich adligen Bildungsschicht beigetragen und dadurch der „Rezeption der westlichen Aufklärung als gesellschaftlichem Prozeß" den Weg bereitet. 25 Die Gründung der Moskauer Universität (1755) und der Akademie der Künste (1757) stellte einen Versuch dar, diese Entwicklung nun im zweiten und dritten Stand voranzutreiben. Nachdem die wegen minimaler Studentenzahlen im ewigen Existenzkampf begriffene Akademische Universität die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllt hatte, 26 sollte die Moskauer Universität für die Ausbildung junger russischer Wissenschaftler und Pädagogen sorgen. Nach dem Projekt von Lomonosov, auf dessen Initiative die Universitätsgründung zurückgeht, gab es - genau wie an der Akademischen Universität drei Fakultäten, die juristische, die medizinische und die philosophische. An letzterer waren auch die philologischen Disziplinen angesiedelt, dar-
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Reglament o soderzanii Korpusa kadetskogo, 1731, S. 1. Röbel (1995), S. 362. A. F. Büsching schreibt diesbezüglich in seinen Beyträgen zu der Geschichte des Unterrichts der Jugend in Rußland: „Die Universität zu S. Petersburg wurde von sehr wenigen jungen Leuten besucht, die noch dazu gröBtentheils keine freywilligen Zuhörer waren; es hatten auch die Mitglieder der Akademie wenig Lust, sich mit dem Unterricht der Jünglinge, welche studiren wollten oder sollten, abzugeben." Büsching (1783), 39. Stück, S. 305.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
unter eine Professur für deutsche Redekunst und Literatur.27 Eine theologische Fakultät gab es im Gegensatz zu den westeuropäischen Universitäten weder an der Akademischen Universität noch an der Moskauer Universität. Wie in St. Petersburg war der Universität in Moskau ein Gymnasium zur Seite gestellt, das die russische Jugend in den Anfangsgründen' der Wissenschaften zu unterweisen hatte, um sie auf diese Weise auf das Hören der Vorlesungen der Professoren an der Universität vorzubereiten. Knaben, die nicht für eine wissenschaftliche Laufbahn bestimmt waren, bot sich auch die Möglichkeit des ausschließlichen Fremdsprachenlernens.28 Das Gymnasium teilte sich in zwei Abteilungen, eine für adlige Kinder und eine für nicht-adlige, die sogenannten raznocincy. De facto handelte es sich um zwei selbständige Einheiten, die übereinstimmend organisiert waren, weswegen in der Literatur auch häufig pluralisch von den .Moskauer Gymnasien' gesprochen wird. Beide Abteilungen gliederten sich in vier ,Schulen', jeweils eine lateinische, eine russische, eine für die europäischen Sprachen (Deutsch und Französisch) und eine für die „Anfange der Wissenschaften".29 Sie nahmen zunächst jeweils 50 auf Kronkosten unterhaltene Stipendiaten auf sowie eine nicht näher festgelegte Anzahl von Freischülern,30 die wegen der großen Popularität des Gymnasiums rasch auf mehrere Hundert anstieg.31 Seine höchste Schülerzahl erreichte das Gymnasium 1787 mit 1010 Schülern.32 Im Vergleich zu seinem Petersburger Pendant war das Moskauer Gymnasium deutlich erfolgreicher, was teils an seiner den russischen Bedürfhissen besser gerecht werdenden Organisation (z. B. der hervorgehobenen Stellung des Russischunterrichts), teils an den sich seit den 1750er Jahren allmählich verbessernden Bedingungen im Bildungsbereich generell lag.33 Am Ende der Regierungszeit Elisabeths verfügte Rußland somit über eine Reihe höherer Lehranstalten. Allerdings konzentrierten sich diese fast ausschließlich auf die Residenz und Moskau. Probleme bereitete der Aufbau eines Schulwesens in der Provinz. Die erste höhere weltliche Schule außerhalb der beiden russischen Metropolen wurde erst 1758 eingerichtet: 27
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Diese Professur wurde ab 1764 mehrere Jahre von Prof. Johann Gottfried Reichel und von 1780 bis 1782 von dem schon erwähnten Prof. Johann Georg Schwarz vertreten. Zu Reichel und Schwarz vgl. Kap. V, Punkt 5. Vgl. Reglament moskovskoj gimnazii, abgedruckt bei Beljavskij (1955), S. 293. Vgl. Lomonosov (1955), Bd. 9, S. 451. Zur Unterscheidung von ,Kronsch(llern' vs. .Freischülern' vgl. unten Punkt 3. 1762 wurde die Zahl der adligen Stipendiaten nochmals verdoppelt und die der nichtadligen auf 60 angehoben. Vgl. Strange (1965), S. 51. Vgl. z. B. SyCev-Michajlov (1960), S. 74. Dies lag an einer besseren Versorgung mit Lehrkräften und Lehrmitteln sowie der allmählichen Verbesserung der Unterrichtsmethoden. Vgl. zu den genannten Aspekten die folgenden Kapitel.
1. Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts
111
das Gymnasium in der Wolgastadt Kazan', das als Außenstelle des Moskauer Gymnasiums fungierte und als einzige höhere Bildungsanstalt dieser Gegend das gesamte Gebiet bis hin zum Ural und sogar auch Sibirien versorgen mußte. 34 Seine Blütezeit erlebte das Gymnasium unter dem Direktorat von Julius von Canitz (1737-1781), einem Baltendeutschen und Zögling des Petersburger Landkadettenkorps, der Karriere im Staatsdienst machte und 1764 die Leitung des Kazan'er Gymnasiums übertragen bekommen hatte, welche er bis zu seinem Tod innehatte.35 Die meisten Schüler (125) hatte die Schule im Jahr 1773. Als sie 1786 geschlossen wurde, lernten hier nur noch 52 Schüler, davon 41 Staatsstipendiaten. 36 Das Problem der Volksbildung war angesichts dieser immer noch verschwindend geringen Anzahl von höheren Schulen Anfang der 1760er Jahre alles andere als gelöst. 37 Erste Schulprojekte Katharinas II. Von den vielen Reformen, die Katharina die Große während ihrer langen Regierungszeit initiierte, gilt die Bildungsreform als die einzig mehr oder weniger geglückte. 38 Für die von den Idealen der Aufklärung begeisterte Kaiserin verstand sich, daß „der aufgeklärte Absolutismus im Prinzip [...] 34
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In der Provinz waren bis dahin Uberhaupt keine höheren Schulen vorhanden gewesen, weshalb Eltern für die Erziehung ihrer Kinder zumeist ganz auf den Privatunterricht angewiesen waren. Zu Canitz vgl. Bartlett (1980), S. 341. Vgl. ebd., S. 343. Dieser Auffassung war auch der Kurator der Moskauer Universität Suvalov, der Ende 1760 dem Senat ein Projekt vorlegte, das anregte, im gesamten Reich Gymnasien und Elementarschulen zu eröffnen: „Nadleiit' neobchodimo v znatnych gorodach uiredit' Gimnazii, v kotorych by obuCali nuinye Evropejskie jazyki i pervyja osnovanie naukam." ['In den wichtigen Städten müssen unbedingt Gymnasien eingerichtet werden, in denen die notwendigen europäischen Sprachen unterrichtet würden und die Anfangsgründe der Wissenschaften.'] Vgl. PSZ, Bd. 15, Nr. 11144. Suvalovs Plan sollte insbesondere die Bildungssituation des Provinzadels verbessern. Die von neun Akademikern daraufhin eingebrachten Vorschläge gingen noch weiter und zogen alle Stände in ihre Überlegungen mit ein. Auf die letztendlich nicht verwirklichten Pläne muß hier nicht weiter eingegangen werden, sie sind in unserem Kontext aber insofern einer Erwähnung wert, als sie demonstrieren, welchen grundsätzlichen Stellenwert der Fremdsprachenunterricht bis zur Jahrhundertmitte gewonnen hatte. Der Mehrzahl der Reformvorschläge zufolge waren Grundkenntnisse in den modernen Fremdsprachen (Deutsch und Französisch) fllr Kinder aus allen Ständen unentbehrlich, d. h. der Fremdsprachenunterricht sollte schon in den einfachen Schulen beginnen. Hierzu Näheres bei Smagina (1996a), S. 37-75. Solche Forderungen waren ihrer Zeit zweifelsohne weit voraus, entbehrten im Hinblick auf ihre Umsetzung in die Praxis jedoch jeglicher Realität. Auch die Volksschulreform Katharinas II. hat sie 20 Jahre später nicht einlösen können. Vgl. z. B. Scharf (1992), S. 288.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
ein aufklärender Absolutismus" zu sein habe. 39 Das Erbe Peters antretend erklärte sie die Ausbreitung von Aufklärung und Bildung erneut zur Staatsangelegenheit. Spiegeln die Erziehungsprojekte der 1760er Jahre noch den Einfluß der englischen und französischen Aufklärer (Locke, Fénélon, Rousseau) wider, so erhielten die in einem zweiten Anlauf nach dem russisch-türkischen Krieg (1768-1774) und dem Pugaßev-Aufstand (17731775) wieder aufgenommenen Reformbestrebungen ihre Impulse primär aus der deutschen Aufklärung. Daß sich die Aufklärungspädagogik deutscher Prägung letztlich stärker auf Rußland auswirkte als die französische Richtung, lag, wie Black betont hat, schon in der petrinischen Zeit begründet: The writings o f Pufendorf, Leibniz, Wolff, and other representatives of the German Aufklärung were especially well suited to Russia's intellectual and social needs for at least two thirds o f the eighteenth century. The Germanic conception o f natural law stressed man's duties and obligations to society. Thus, the Russian tradition of autocracy and service found a ready-made philosophy with which its thinkers could feel comfortable [...]. It was Prokopoviö „who used the assumptions of Aufklärung to give Russian autocracy a systematic justification. These were the ideas which were to be built into the curricula of Russian school systems. The philosophes whom Catherine II. cultivated during the decades before the French Revolution were not likely to find an enthusiastic audience in academic circles so fully grounded in the Germanic Weltanschauung. 4 0
Katharina II. ging es nicht mehr wie ihrem Vorbild Peter I. vorrangig um die Ausbildung von Fachkräften, sie strebte höhere Ziele an: die Erziehung eines neuen Menschentyps, des aufgeklärten Staatsbürgers. Wiederum aber war die Erziehungsaufgabe damit nicht „den individuellen Bedürfnissen der Kinder und Jugendlichen, sondern dem Anspruch des Staates auf nützliche Untertanen" verpflichtet. 41 Der Direktor des Landkadettenkorps und Präsident der Akademie der Künste, I. I. Beckoj (1704-1795), war der eigentliche Kopf der Bildungsreformen in den 1760er Jahren. 42 Deren Grundzüge beschrieb er 1764 in seinem Memorandum Über die Erziehung der Jugend beiderlei Geschlechts [General'noe ucrezdenie o vospitanii oboego pola junosestva], an dem die Zarin vermutlich auch persönlich mitgewirkt hat. 43 Die neue Erziehungskonzeption ging von der Überzeugung aus, daß Kinder vor allen Dingen gänzlich von den verderblichen Einflüssen des Elternhauses und des sozialen Umfeldes fernzuhalten seien. Zu diesem Zweck eröffnete Beckoj Erziehungshäuser, in denen die 39 40 41 42 43
Schneiders (1987), S. 49. Black (1979), S. 36. Scharf (1995), S. 132. Vgl. dazu z. B. Smagina (1996a), S. 54-75. Vgl. Madariaga (1979), S. 376.
1. Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts
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Schützlinge vom fünften bis etwa zwanzigsten Lebensjahr mehr oder weniger streng interniert waren - z. B. die Internate der Akademie der Künste (1764) und der Akademie der Wissenschaften (1765) sowie das Waisenhaus in Moskau (1767). Der Fremdsprachenunterricht war an allen Beckojschen Institutionen unabhängig vom sozialen Hintergrund der Schüler integraler Bestandteil des Lehrprogramms. 44 Bestehende Institutionen wurden dem neuen Plan entsprechend transformiert, darunter 1766 das Landkadettenkorps. 45 Nach Beckojs Entwürfen ließ Katharina II. 1764 die erste höhere Bildungsanstalt für Mädchen errichten, die Kaiserliche Erziehungsgesellschaft für adlige Fräulein, kurz Smol'nyj-Institut, das dem renommierten französischen Mädcheninstitut St. Cyr nachempfunden war. 46 Das Smol'nyjInstitut bereitete adlige und in seiner im Folgejahr gegründeten zweiten Abteilung auch bürgerliche Mädchen auf ihre gesellschaftlichen und familiären Aufgaben vor. Manche der Absolventinnen wurden Hofdamen, andere Gouvernanten. Dem selbstauferlegten hohen Erziehungsanspruch wurde das Institut Lotman zufolge gleichwohl nicht gerecht: 'Die Ausbildung [...] war oberflächlich, die einzige Ausnahme bildeten die Sprachen. Hier blieben die Anforderungen sehr ernst und die Schülerinnen erzielten tatsächlich große Erfolge. ' 4 7
Katharina II. hatte von Anfang an auch die Breitenwirkung der Reformen im Auge. Sie wollte im ganzen Land Schulen gründen und berief deshalb verschiedene Sonderkommissionen ein, die sie mit der Ausarbeitung entsprechender Pläne beauftragte. Es würde zu weit führen, die Projekte hier im einzelnen vorzustellen, betont sei nur, daß der Fremdsprachenunterricht an allen mittleren Schulen (d. h. Fachschulen und Gymnasien) als zentrales Element vorgesehen war. 48 Von den in den 1760er Jahren vorgebrachten Schulprojekten erschien Katharina II. kein einziges für die Schaffung eines mehrstufigen Volksschulsystems geeignet. Als sie sich nach Ende des Türkischen Krieges wieder der Schulfrage zuwandte, suchte sie Rat in Westeuropa, besonders in Preußen und Österreich, wo gerade die ersten Versuche mit der Einführung nationaler Schulsysteme unternommen wurden 49 und 44 45 46 47
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Vgl. Vitiin (1959), S. 50f. PSZ, Bd. 8, Nr. 12741. Zur Mädchenschulbildung im 18. Jahrhundert vgl. Schmale/Dodde (1991), S. 34. „Obuienie v Smol'nom institute, nesmotrja na äirokie zamysly, bylo poverchnostnym. IskljuCenie sostavljali liä' jazyki. Zdes' trebovanija prodoliali ostavatsja oCen' ser'eznymi, i vospitannicy dejstviteFno dostigali bol'Sich uspechov." Lotman (1994), S. 79. Vgl. dazu Smagina (1996a), S. 58-75; Roidestvenskij (1907), S. 175-181; (1908), S. 160-182; (1910), S. 144f.; Tolstoj (1969), S. 77-93. In Preußen 1763 und in Österreich 1774.
114
IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
die Debatte um pädagogische Reformen kulminierte. Vorübergehend schien die philanthropische Pädagogik Johann Bernhard Basedows (17241790)50 Katharinas Zielen am nächsten zu kommen. Vor allem seine Forderung nach staatlicher Kontrolle aller Erziehungsbelange entsprach ihren eigenen Vorstellungen. 51 Zum wichtigsten Berater Katharinas II. wurde dann aber nicht Basedow - was Katharina II., die erwogen haben soll, den Dessauer Philanthropen zum Präsidenten der Akademie der Wissenschaften zu machen, eine Zeitlang wohl nicht ungerne gesehen hätte - sondern Friedrich Melchior Grimm (1723-1807). Dieser hat die Zarin in regelmäßigem Briefwechsel über die aktuellen Entwicklungen des Bildungswesens in Westeuropa informiert und ihr verschiedene Vorschläge für eine Bildungsreform unterbreitet (darunter solche von Diderot und Sulzer, die beide ausdrücklich das Beispiel der deutschen protestantischen Staaten zur Nachahmung empfahlen). 52 Ein erster Schritt zur Etablierung von Volksschulen in den Provinzen war die im Zuge der Reform der Reichsverwaltung von 1775 erfolgte Einberufung von 'Kollegien der allgemeinen Fürsorge' [Kollegii obscestvennogo prizrenija], die den Auftrag erhielten, in den neugeordneten Gouvernements Schulen zu eröffnen. 53 Im Zuge dieser Maßnahme erfolgte u. a. 1781 in Archangel'sk die Gründung einer Seefahrerschule, in der auch Fremdsprachen gelehrt wurden. 54 In der Residenz und Moskau wurden weitere höhere Schulen eingerichtet: 1774 die in der Tradition der Bergschulen im Ural stehende Bergschule am Petersburger Bergkollegium, 55 1775 das sogenannte ,Griechische' Gymnasium am Artillerie- und Ingenieur-Kadettenkorps, 1777 die erste staatliche Kommerzschule, 1779 das Internat für adlige Schüler des Moskauer Gymnasiums, 1782 eine Seefahrtsschule in Petersburg 56 sowie einige medizinisch-chirurgische Schulen, um nur die wichtigsten zu nennen. Allmählich fanden die staatlichen Bemühungen um das Bildungswesen auch gesellschaftlichen Widerhall, der sich in einer Welle privater Schulgründungen niederschlug, so etwa die nach den Beckoj sehen Richtlinien eingerichtete Kommerzschule von P. A. Demidov (1772) und zwei freimaurerisch geprägte Schulen von Novikov in Petersburg (1777/78). Etliche 50
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Zur Biographie sowie zum sprachwissenschaftlichen Werk Basedows vgl. Breide u. a. (1992), Bd. 1,S. 151-157. Vgl. Hans (1957), S. 378. Vgl. Epp (1984), S. 87; Scharf (1995), S. 136f. Vgl. Hartley (1989), S. 211-227. Vgl. Voronov (1849), S. 49. Ihre Gründung ging auf eine Anregung des preußischen Bergrates und Mitglieds der Petersburger Akademie der Wissenschaften Johann Gottlieb Lehmann (1700-1767) zurück. Vgl. Smagina (1998b), S. 14. Vgl. Georgi (1996), S. 313.
1. Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts
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Professoren und Lehrer staatlicher Bildungseinrichtungen unterhielten zum Zuverdienst private Pensionen, z. B. der Professor der Moskauer Universität Johann Matthias Schaden (1731-1797). 57 Das Unterrichtsniveau der fast ausschließlich von Ausländern betriebenen Privatschulen ließ - mit Ausnahme einiger weniger Pensionen wie der von Schaden oder der von August Friedrich Witzmann (1740-1820) in St. Petersburg - in der Regel jedoch zu wünschen übrig. 58 Da im Rahmen dieser Arbeit nicht näher auf die privaten Schulen eingegangen werden kann, seien hier nur ein paar Zahlen genannt, um die eminente Bedeutung dieser Schulen insbesondere im Bereich der Elementarbildung anzudeuten: Im Jahr 1780 existierten in Petersburg 26 private Pensionen mit einer Schülerzahl von 447 Jungen und Mädchen. Die 31 russischen Elementarschulen hatten hingegen 320 Schüler. Dieses Mißverhältnis spitzte sich bis 1784 noch zu. In diesem Jahr standen 720 Zöglingen privater Pensionen 159 Schüler der russischen Schulen gegenüber. 59 Das Hauptproblem war jedoch weder mit den staatlichen noch den privaten Schulgründungen aus der Welt geschaffen: Zu Beginn der 1780er Jahre gab es allein in Petersburg immer noch 21000 Kinder im Alter von vier bis vierzehn Jahren, die wegen des Defizits an Bildungseinrichtungen überhaupt nicht zur Schule gehen konnten. 60 Die Volksschulreform Katharinas II. Im Mai 1780 traf Katharina II. erstmals mit dem österreichischen Kaiser Joseph II. zusammen und erfuhr dabei Näheres über die erfolgreiche Einführung von Volksschulen in der Donaumonarchie. Das österreichische Schulsystem erschien auch für Rußland applikabel, weil sich im Vielvölkerstaat Österreich, in dem es eine orthodoxe Minderheit gab, ähnliche Integrationsprobleme gestellt hatten wie im Zarenreich. Katharina II. ließ das Habsburger Modell von dem ehemaligen Berliner Mathematiker, Phy57
Die Pension Schadens gehörte zu den erfolgreichsten Privatschulen ihrer Zeit. Schaden, der besonderen Wert auf den Sprachunterricht und die moralische Erziehung seiner Schüler legte, erteilte den Deutschunterricht persönlich, seine Frau unterrichtete das Französische. Weitere Fächer waren Geographie, Statistik, Geschichte, Russisch, Mathematik und Religion. Einer der berühmtesten Schüler Schadens war der schon erwähnte N. M. Karamzin, der als vierzehnjähriger in Schadens Schule eintrat und in den etwa vier Jahren, die er sie besuchte, besonders in seinen fremdsprachlichen und literarischen Neigungen gefördert wurde. Zu Karamzin als Schüler Schadens vgl. Bartel/Lindemann (1992), S. 484ff.; Pokrovskij (1912), S. 26ff.; über den Unterrichtsalltag an der Pension vgl. die Erinnerungen des Schülers Stepanov (1881), S. 18-22. Zu Schadens Biographie vgl. Kap. V, Punkt 5 mit weiterer Literatur.
58
Zu Witzmann und seiner Schule vgl. Kap. VI, Punkt 5. Smagina (1996a), S. 88f. 1786 gab es in Moskau acht private Pensionen und die beiden deutschen Kirchenschulen. Vgl. Amburger (1961c), S. 170. Smagina (1996a), S. 88f. Zu den Privatschulen vgl. auch Ceßulin (1920).
59
60
116
IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
siker und Astronomen Ulrich Theodor Aepinus (1724-1802) prüfen, der seit 1757 im Dienst der russischen Akademie der Wissenschaften stand und ab 1760 Direktor der Lehreinrichtungen des Landkadettenkorps war. 61 Nachdem sich Aepinus und andere ihrer Berater einstimmig für das östereichische Modell ausgesprochen hatten, erbat sie von Joseph II. die Entsendung erfahrener Pädagogen, die den Aufbau des russischen Volksschulsystems nach österreichischem Muster leiten sollten. Nach Rußland kam „einer der besten Schulleute" 62 Österreichs, der Serbe F. JankoviC de Mirievo (1741-1814), der zum Motor der russischen Volksschulreform werden sollte. Der geistige Vater des österreichischen Volksschulsystems war der Augustiner-Mönch Johann Ignaz Felbiger (1724-1788) 63 aus dem schlesischen Sagan, der im Auftrag Friedrichs II. schon die katholischen Schulen in Schlesien in Anlehnung an das preußische Generalschulreglement von 1763 erfolgreich reformiert hatte. Das Felbigersche System, das als ,Sagansche Lehrart' berühmt wurde, war seinerseits aus der pädagogischen Konzeption der 1747 gegründeten Berliner Realschule hervorgegangen. Auf dem Umweg über Österreich wurde somit ein preußisches Modell zum Vorbild der russischen Volksschulen erkoren. Unmittelbar nach der Ankunft von JankoviC de Mirievo trat 1782 unter Leitung des Staatsrates Aepinus eine .Kommission zur Einrichtung von Lehranstalten' [Komissija ob ucrezdenii ucilisc] zusammen, zu deren Berater Jankoviö berufen wurde. 64 Als wichtigste Voraussetzung für das Gelingen der Reform galt es, das Felbigersche System den russischen Gegebenheiten anzupassen, die nicht vorhandenen Lehrer auszubilden und die ebenfalls fehlenden Lehrbücher zu schreiben. Diese Aufgaben nahm die Kommission unverzüglich in Angriff und erarbeitete einen ,Plan zur Einrichtung von Volksschulen im russischen Reich' [Plan k usianovleniju narodnych ucilisc v Rossijskoj imperii], den Katharina II. am 27.9./8.10. 1782 bestätigte. 65 Jankoviö richtete noch im selben Jahr die ersten Versuchslehranstalten ein. Das dreigliedrige österreichische System wurde auf ein zweistufiges reduziert, das aus ,Hauptvolksschulen' [glavnye narodnye skoly\ und ,Klein-schulen' [malye skoly] bestand. Erstere waren in den Gouvernementshauptstädten, letztere in den größeren Bezirksstädten einzurichten. Fremdsprachenunterricht fand nur an den Hauptvolksschulen statt.
61
62 63 64 65
Ab 1763 war Aepinus auch Lehrer des Thronfolgers Paul. Zu Aepinus vgl. Brekle u. a. (1992), Bd. 1, S. 367. Polz (1972), S. 125. Zu Felbiger vgl. Brekle u. a. (1994), Bd. 3, S. 34-41. Vgl. zum folgenden Polz (1972). PSZ, Bd. 21, Nr. 15523. Der Plan ist abgedruckt bei Tolstoj (1970b), S. 336-350.
1. Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts
117
118
IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
In den Kleinschulen beschränkte sich der Unterricht auf die Fächer Lesen, Schreiben, Arithmetik und Religion. Die erste in Petersburg Ende 1783 eröffnete Hauptvolksschule diente als Lehrerseminar, wo unter Leitung von Jankoviö die ersten Lehrer ausgebildet wurden. Große Verdienste erwarb sich der Serbe auf dem Gebiet der Schulbuchliteratur. Polz geht sogar so weit, ihn als den „Begründer der russischen Pädagogik im weitesten Sinne des Wortes" zu bezeichnen. 66 Das mag etwas hoch gegriffen sein, fest steht aber, daß unter der Redaktion von Jankoviö innerhalb kürzester Zeit mehr neue Schulbücher erschienen als in Jahrzehnten zuvor. In nur fünf Jahren gab er über zwanzig Lehrwerke heraus, die meisten davon überarbeitete Übersetzungen der österreichischen Vorlagen. JankoviC brachte schließlich eine neue Unterrichtsmethode, die Normalmethode, nach Rußland, nach der fortan an allen Lehranstalten zu unterrichten war. Die absolute Einheitlichkeit aller Schulen war das zentrale Prinzip der Schulreform. Überall mußten die gleichen Bücher und Methoden verwendet werden. Die Kontrolle darüber lag bei der Schulkommission, die in einer großen Revision im Jahr 1784 alle staatlichen und privaten Lehrstätten in den Metropolen inspizierte und die den neuen Anforderungen nicht gerecht werdenden Schulen schließen ließ. Zu diesen gehörte auch das Kazan'er Gymnasium (geschl. 1786), dessen Niveau nach Ansicht der Kommission unter dem einer Hauptvolksschule lag.67 Von den in Petersburg unterhaltenen 23 privaten und 17 öffentlichen Schulen wurden eine Pension und alle öffentlichen Schulen geschlossen. 68 Auch so renommierte Anstalten wie das Smol'nyj-Institut, das Artillerie- und IngenieurKadettenkorps sowie das Pagenkorps hatten sich einer Reorganisation zu unterziehen, die Moskauer Universität blieb hingegen unversehrt. 69 Daß sich das Normalsystem recht bald einen guten Ruf erwarb, zeigt u. a. die Tatsache, daß selbst die nicht direkt unter staatlicher Kontrolle stehenden Priesterseminare die Normalmethode und die Volksschullehrbücher einführten (1785). Widerstand leisteten die deutschen Schulen, die ihre Unabhängigkeit nicht verlieren wollten. Der Erfolg der katharinäischen Bildungsreform ist in der Literatur sehr unterschiedlich bewertet worden. 70 Ihr Ziel, „die Aufklärung über ein flächendeckendes Schulsystem in alle Provinzen zu tragen", 71 hat Katharina II. nicht erreicht. Das lag auch daran, daß - wie viele Kritiker bemängelt 66 67 68 69 70 71
Polz (1972), S. 138. Vgl. ebd., S. 152f. Vgl. Smagina (1996a), S. 89. Vgl. Roidestvenskij (1912), S. 675; PSZ, Bd. 22, Nr. 16149. Vgl. dazu z. B. Madariaga (1996), S. 199-207. Scharf (1995), S. 146.
1. Institutionalisierung des Fremdsprachenunterrichts
119
haben - das Statut über die Volksschulen (1786) im Gegensatz zu seiner österreichischen Vorlage Elementarschulen auf dem Land gar nicht vorgesehen und darüber hinaus auf die Einführung der allgemeinen Schulpflicht verzichtet hatte. Ob solche Maßnahmen wirksam gewesen wären, darf angesichts der Geldknappheit in den Gouvernements, die ihre Schulen aus eigenen Mitteln zu unterhalten hatten, und des allgemeinen Lehrermangels gleichwohl bezweifelt werden. Finanziell abgesichert waren nur die Eliteschulen in Petersburg. 72 Die Resultate der Schulrefom in den Provinzen hat Hartley treffend zusammengefaßt: The scheme foundered on two countes. First it assumed a financial sophistication in the provinces, which did not exist, so that the initial capital of the boards could not grow as envisaged. Secondly, it failed to overcome the fundamental problems involved in the development of a school system in Russia, namely, the lack o f trained staff, and provision for training teachers, the poverty of provincial society, and (in many cases) that society's lack of interest in the provision o f education, and above all, the lack o f a tradition of private church schools on which to build. Given these conditions, the limited success achieved by the boards theirs obligations is perhaps more remarkable than this failures. 73
Trotz all dem bleibt zu betonen, daß sich die Bildungssituation zumindest der Bevölkerung in den bedeutenderen Städten gegen Ende des 18. Jahrhunderts merklich verbessert hatte: Die Schulkommission hatte 288 Volksschulen eingerichtet, davon 239 ,Kleinschulen' und 49 ,Hauptvolksschulen', die von über 22000 Schülern besucht wurden, davon etwa 2000 Mädchen. 74 Die Gesamtschülerzahl im Russischen Reich lag nach Angaben Beljavskijs sogar noch erheblich höher. Beljavskij faßt alle Lehranstalten ausgehend von den Garnisonsschulen bis hin zu den Universitäten zusammen (die Volksschulen haben einen Anteil von 50 %, private Einrichtungen nimmt er aus) und kommt so auf eine Gesamtschulzahl von rund 550 mit insgesamt knapp 62000 Schülern. 75
72
73 74 75
Schmale spricht in diesem Zusammenhang von der im Vergleich zu Westeuropa „ausge^ prägten Kopflastigkeit" des russischen Schulwesens. Vgl. Schmale/Dodde (1991), S. 26. Hartley (1989), S. 226. Vgl. Beljavskij (1959), S. 110. Ebd., S. 119.
120
IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
Schultyp
Schulzahl
Schüler
Universitäten und Gymnasien
3
1338
Hauptvolksschulen
49
7011
Kleine Volksschulen
239
15209
Soldatenschulen
116
12000
Privatschulen
48
1125
Kadettenkorps
5
1980
Internate/Schulen für Adlige
8
1360
Geistliche Seminare/Schulen
66
20393
Medizinische Schulen
3
270
Bergschulen
2
167
Akademie der Künste
1
348
sonstige Schulen
9
765
Gesamtzahl
549
61966
Tab. 2: Bildungseinrichtungen im Russischen Reich (Ende 18. Jh.)
Angesichts einer Bevölkerung von etwa 37 Millionen erscheint diese Zahl zwar noch relativ gering; bedenkt man aber, daß noch in der petrinischen Zeit lediglich einige hundert Privilegierte die Möglichkeit zum Schulbesuch hatten, so wird deutlich, welche Entwicklungen sich im Bildungsbereich im Laufe des 18. Jahrhunderts vollzogen hatten.
2. Deutsche Schulen Deutsch konnten russische Schüler im Rußland des 18. Jahrhunderts nicht nur an den neu eingerichteten russischen Schulen erlernen, auch die Schulen der deutschen Gemeinden boten ihnen dazu Gelegenheit. Die Schularbeit der deutschen Gemeinden kann man im Rahmen dessen ansiedeln, was heute als auswärtige Kulturpolitik bezeichnet wird. Seit Ende des 17./Anfang des 18. Jahrhunderts waren es pietistisch gesonnene Männer, die das Unterrichtswesen in der Diaspora voranbrachten. Die meisten der Beteiligten werden zwar kaum ein diesbezügliches Selbstverständnis besessen haben - die Gründung von Schulen erfolgte auch im ureigenen Interesse, denn der muttersprachliche Unterricht war schon immer eine der zentralen Voraussetzungen zur Wahrung und Pflege der nationalen Identität in der Fremde. Nichtsdestoweniger standen die deutschen Schulen auch
2. Deutsche Schulen
121
den Kindern des gastgebenden Landes offen. Solche - heute würde man sagen - .Begegnungsschulen' existierten, wie in Kapitel II. schon gezeigt, in Moskau seit den Zeiten Ivans IV., in Petersburg seit 1710. Die Schulen der deutschen Siedler im Wolgagebiet und Südrußland gehören nicht zu dieser Kategorie von Schulen, da sie in der Regel nur von Kolonistenkindern besucht wurden. 76 Auch die deutschen Schulen im Baltikum haben wegen der spezifischen historischen Situation in diesem Gebiet einen anderen Status als die deutschen Schulen in Petersburg und Moskau und werden in dieser Arbeit daher nicht eingehender besprochen. Die protestantischen Gemeindeschulen und die von 1684 bis 1719, dem Jahr der Ausweisung der Jesuiten aus Moskau, bestehende katholische Schule in Moskau waren die ersten Bildungseinrichtungen in Rußland, an denen Deutsch gelehrt und gelernt wurde. 77 Mit der Gründung der ersten staatlichen Fremdsprachenschule unter Peter I. und der einige Jahre später erfolgten Verlegung der Residenz nach St. Petersburg gerieten die deutschen Kirchenschulen in Moskau jedoch vorläufig ins Abseits. 78 Die deutsche Bildungsarbeit spielte sich von nun an primär in der neuen Hauptstadt ab. Die älteste und angesehenste der deutschen Schulen in St. Petersburg war die 1710 gegründete Schule der St. Petri-Gemeinde. Zwei weitere Gemeindeschulen, die St. Annen-Schule und die St. Katharinen-Schule, wurden 1736 infolge des raschen Anwachsens der evangelischen Gemeinde errichtet. Während die Katharinen-Schule im Laufe des 18. Jahrhunderts in stetigem Existenzkampf begriffen über das Niveau einer Elementarschule nie hinauswuchs und 1786 im Zuge der Bildungsreform Katharinas II. ihren Betrieb vorübergehend ganz einstellen mußte, 79 blühten die beiden anderen auf. Am Ende des 18. Jahrhunderts standen sie als mehrstufige höhere Schulen da, die Petri-Schule mit einem erheblichen Anteil nichtdeutscher Schüler, der nach Angaben I. G. Georgis, dem Verfasser einer 76
77
78
79
Vgl. dazu Koch (1995); Stricker (1988); Woltner (1937). Als Vorbild für das absolut rückständige russische Schulwesen im Wolgagebiet und Südrußland haben die dortigen deutschen Schulen gleichwohl einen gewissen Einfluß ausgeübt. Vgl. Woltner (1937), S. 50f. Auch in der Provinz boten vereinzelt kirchliche Orden Schulunterricht, z. B. die Kapuziner in Astrachan, bei denen V. K. Tredjakovskij Fremdsprachenkenntnisse erwarb. Vgl. Grau (1966), S . 6 1 f f . Winter verweist noch auf ein Internat, das in den 1720er Jahren an der Schule der Neuen Gemeinde bestand und von 24 Schülern, darunter Söhne so einflußreicher russischer Familien wie der NarySkins, besucht wurde. Allerdings hatte auch diese Anstalt ab 1724 einen kontinuierlichen Rückgang der Schülerzahlen zu verzeichnen. Vgl. Winter (1953), S. 175. Da die Katharinen-Schule vornehmlich von Kindern aus deutschen Familien besucht worden zu sein scheint, gehe ich nicht weiter auf sie ein.
122
IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
zeitgenössischen statistischen Beschreibung St. Petersburgs, etwa ein Drittel der Gesamtschülerschaft ausmachte. 80 Die Petri-Schule hatte sich von ihrem ursprünglichen Status als Elementarschule schnell zu einer Lateinschule entwickelt und verfügte ab 1736 schon über vier Klassen, in denen Lesen, Schreiben, Rechnen und Latein unterrichtet wurde. 81 Bereits in dieser Zeit gab es russische Schüler, wie eine von Amburger ausgewertete Aufstellung über ausstehendes Schulgeld von 1737 zeigt. Demnach waren von den dort verzeichneten 36 Knaben und Mädchen fünf Russen, darunter der Sohn eines kaiserlichen Kabinettsekretärs. 82 Bezogen auf die nach Angaben Lemmerichs schon Ende 1736 erreichte Gesamtzahl von 133 Schülern und Schülerinnen dürfte der Anteil russischer Schüler noch deutlich größer gewesen sein. 83 Ähnlich wie alle russischen Bildungseinrichtungen durchlief die PetriSchule in den 1740er und 1750er Jahren eine Phase der Stagnation, so daß eine grundlegende Umgestaltung erforderlich wurde. Für deren Durchführung konnte der als Theologe, Pädagoge und Geograph bereits damals weithin bekannte Professor der Göttinger Universität Anton Friedrich Büsching (1724-1793) 84 gewonnen werden. Mit der 1762 erfolgten Reorganisation der Schule, die fortan den langen Namen Schule der Sprachen, Künste und Wissenschaften der Gemeinde zu St. Petri führte, schuf Büsching, der 1761 nach Petersburg gekommen war und außer dem Amt des Schulleiters der Petri-Schule auch das Pastorat der St. Petri-Gemeinde übernommen hatte, die Voraussetzungen für den späteren Erfolg der Schule. Büsching war von Anfang an daran gelegen, den Anteil russischer Schüler zu erhöhen: Die Petri-Schule stünde, so betont er in seiner ersten Nachricht von der neuen Schulanstalt, „vornämlich auch der Russischen Nation offen". 85 Angesichts der mißlichen Situation des staatlichen Schulwesens fand diese Konzeption bei den Russen starken Zuspruch. Davon zeugt die außerordentlich große Nachfrage nach den regelmäßig in deutscher und russischer Sprache veröffentlichten Schulnachrichten und Lekti80 81
82 83 84
85
Vgl. Georgi (1996), S. 311. Nach Steinberg (1912), S. 18 wurden ab 1735/36 auch Französisch, Geschichte und Geographie unterrichtet, nach Lemmerich (1862), S. 41 war das erst ab 1758 der Fall. Vgl. Amburger (1984), S. 5. Vgl. Lemmerich (1862), S. 23. Büsching hatte in Halle studiert und war im Jahr 1750 als Hauslehrer der Familie Lynar erstmals für einige Monate nach St. Petersburg gekommen, bevor er 1754 zum Professor in Göttingen berufen wurde. Sein zweiter Petersburger Aufenthalt währte ebenfalls nur kurze Zeit. 1766 übernahm Büsching das Direktorat des Berlinischen Gymnasiums zum Grauen Kloster, dem er vierzehn Jahre vorstand. Zu Büsching vgl. ADB, Bd. III, S. 644ff.; Brekle u. a. (1993), Bd. 3, S. 22-26; Lemmerich (1862); Steinberg (1912); Hoffmann (1995); Amburger (1961c), S. 176f. Büsching (1762a), zit. nach Lemmerich (1862), S. 66f.
2. Deutsche Schulen
123
onsverzeichnissen: Er werde „fast täglich von Russen geplagt, ihnen dieselbe [die dritte Schulnachricht - K.K.] russisch zu verschaffen", berichtet Büsching Anfang Dezember 1762 an G. F. Müller und bittet diesen, sich mit dem Druck zu beeilen. 86 Zwei Wochen später schreibt Büsching an seinen Briefpartner Johann David Michaelis in Göttingen: „Sie [die Schule - K.K.] hat bisher wöchentlich neuen Zuwachs an Schülern, insonderheit russischen gehabt." 87 Und die jungen Russen lernten an der Petri-Schule offensichtlich mit großem Erfolg. So betont Büsching gegenüber Michaelis voller Zufriedenheit: D i e russischen Kinder übertreffen die deutschen sehr merklich. Die meisten russischen Kinder haben, wenn sie keinen russischen Buchstaben gekannt, in 8 Tagen schon ziemlich Buchstabiren und in 6 Wochen ziemlich fertig lesen gelernt [...]. Sie müssen unsrer Methode auch einen guten Teil dieses guten Fortgangs zuschreiben. 8 8
Büsching erwähnt hier zwar nicht explizit, in welcher Sprache die jungen Russen zu lesen begannen, es dürfte aber wohl die deutsche gemeint sein, denn alle nicht-deutschen Schüler mußten, so Büsching, erst die deutsche Sprache lernen, ehe sie eine Wissenschaft lernen können, weil die Wissenschaften nur von den deutschen Lehrern und in deutscher Sprache gelehret werden. 8 9
Zu diesem Zweck wurde im Oktober 1764 sogar eine spezielle „deutsche Sprachclasse für Russen" eingerichtet. Auch in sonstiger Hinsicht trug der Lehrplan der Petri-Schule den Bedürfhissen ihrer nicht-deutschen Klientel Rechnung. Damit „die Russen alles bei uns lernen können", 90 sorgte Büsching beispielsweise für orthodoxen Religionsunterricht, was für die deutschen Schulen ein absolutes Novum war. Diese besondere Rücksichtnahme auf russische Schüler war freilich nicht ganz uneigennützig, denn sie zahlte sich für die Petri-Schule auch in finanzieller Hinsicht aus. Die russischen Kinder mußten, solange sie „besondere Stunden und besondere Lehrer" in Anspruch nahmen, nämlich ein erhöhtes Schulgeld entrichten. 91 Sobald sie „die deutsche Sprache hinlänglich [verstanden] und [...] allen Stunden in 86
87
88 89 90 91
Brief Büschings an G. F. Müller vom 2./13.12.1762, abgedruckt bei Hoffmann (1995), S. 222. Brief Büschings an J. D. Michaelis vom 19./30.12.1762, zit. nach Hoffmann (1997), S. 99. Der Aufsatz Hoffmanns enthalt einige neue Details über die Entwicklung der PetriSchule nach 1762 aus den bisher unveröffentlichten und noch nicht systematisch ausgewerteten Briefen Büschings an Michaelis, die sich im Archiv der Universität Göttingen befinden. Ebd., S. 100. Lemmerich (1862), S. 63; Büsching (1764a), zit. nach Lemmerich (1862), S. 125. Brief Büschings an G. F. Müller vom 30.3./10.4.1763, ebd., S. 232. Büsching (1762b), zit. nach Lemmerich (1862), S. 81f.
124
IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
Gemeinschaft der deutschen Kinder beywohnen" konnten, bezahlten sie wieder das gleiche Schulgeld wie ihre deutschen Mitschüler. 92 Büschings Konzept ging auf. Hatte die Schule im ersten Jahr nach der Umstrukturierung noch 162 Schüler und Schülerinnen gezählt, so stieg deren Zahl im zweiten Jahr auf ca. 300 an, unter denen „vielerley Nationen waren, als Deutsche, Rußen, Kaimucken, Armenier, Italiäner, Franzosen, Engländer, Schweizer, Schweden, Finnen, Esthen, Letten". 93 Amburger beziffert diesen Anteil auf etwa 20 %. 94 Als BUsching die Schule Anfang 1765 wieder verließ, zählte sie rund 200 Schüler, von denen gut ein Viertel nicht-deutscher Herkunft waren. 95 Die St. Annen-Schule durchlief eine prinzipiell ähnliche Entwicklung wie ihre größere Schwester von der Elementarschule (1736-1762) über den Status einer Art Lateinschule (1762-1780) bis hin zur Realschule (17801833) mit einer speziellen Abteilung für Mädchen. Für das Jahr 1768 liegen erste Hinweise darauf vor, daß auch Kinder russisch-orthodoxer Konfession aufgenommen wurden. 96 In welchem Umfang dies geschah, ließ sich aufgrund der für diese Zeit fehlenden Schülerlisten leider nicht überprüfen. Insgesamt betrachtet blieb die St. Annen-Schule im 18. Jahrhundert sowohl hinsichtlich ihrer Schülerzahlen als auch des Unterrichtsniveaus noch deutlich hinter der Petri-Schule zurück. 97 Als letzte Etappe auf dem Weg der Entwicklungsgeschichte der deutschen Schulen im 18. Jahrhundert sind die Bildungsreformen Katharinas II. zu erwähnen, die das deutsche Schulwesen nicht unberührt ließen. Ebenso wie die russischen Lehranstalten sollten auch alle auf dem Territorium des Russischen Reichs befindlichen deutschen Schulen vereinheitlicht werden. Die Kontrolle darüber übertrug man der Petri-Schule, die ab August 1783 als deutsche Hauptnormalschule allen anderen deutschen Schulen als Muster dienen sollte. 98 Das Direktorium der Schule - nunmehr staatliche 92 93 94 95
96 97
98
Ebd. Büsching (1764b), S. 137; auch bei Hoffmann (1997), S. lOlf. Vgl. Amburger (1961c), S. 177. Vgl. Lemmerich (1862), S. 143. Der Anteil der russischen Schüler war jedoch rückläufig. So schreibt Büsching am 28.3./8.4.1765 an Müller: „Unsere bisherigen russischen Pensionärs verlassen uns fast alle. Sie sind unwillig, daß wir den Trichter, vermittels dessen man einem die Wissenschaft in 1 Jahr beibringt, noch nicht erfunden haben. Habeant sibi. Es ist eine Vorbedeutung, wie es mit den kaiserl. Schulanstalten gehen werde, gegen welche die vornehmen Russen, wie ich bemerke, ganz widrig gesinnt sind. Hier ist Zeit, Ernst und Geduld nötig." Zit. nach Hoffmann (1995), S. 271. Vgl. Lemmerich (1889), S. 14. Bei Steinberg sind für das Jahr 1765 270 Schülerinnen und Schüler angegeben, der Anteil der russischen Kinder macht aber auch hier etwa ein Viertel aus. Vgl. Steinberg (1912), S. 169. Im Jahr 1789 wurde die St. Annen-Schule von 110 Knaben und 26 Mädchen besucht. Vgl. Lemmerich (1889), S. 18. PSZ, Bd. 21, Nr. 15826.
2. Deutsche Schulen
125
Behörde - hatte für die landesweite Umsetzung der Reformen, die Lehrerausbildung und vor allem die Herausgabe neuer Lehrbücher zu sorgen, die ganz genau den russischen zu entsprechen hatten. Bei den deutschen Schulen stießen diese Bevormundungsversuche auf schärfsten Widerstand, so daß die Reformierung der deutschen Schulen letztendlich nur in den baltischen Gouvernements Livland und Estland und dem russischen Teil Finnlands glückte." Die Schulreform sollte als sprachpolitisches Instrument auch dazu dienen, die Position des Russischen zu festigen, denn Russisch hatte in Estland und Livland, wo die im Frieden von Nystad (1721) festgelegten Privilegien der deutschen Schulen stets unangetastet geblieben waren und diese ihren nationalen Charakter bewahrt hatten, traditionell einen schwachen Stand. Um diesen aufzuwerten, wurde es nun an allen Schulen einschließlich der deutschen als obligatorisches Fach in den Lehrplänen verankert. Ungeachtet dieser Maßnahme bleibt festzuhalten, daß sich der Einfluß des Deutschen im Baltikum und im russischen Teil Finnlands durch die Schulreform eher noch verstärkt als abgeschwächt hat. Ab Februar 1785 wurden zahlreiche zusätzliche deutsche Schulen eröffnet, an denen das Deutsche, das im Baltikum nach wie vor Amtssprache war, als Unterrichtssprache fungierte. .Kleine' Volksschulen entstanden in Weißenstein, Wesenberg, Hasal, Wenden, Wolmar, Lemsal, Walk, Werro, Felin und Arensburg, Hauptvolksschulen in den größeren Städten Reval, Riga, Pernau und Dorpat. 100 In Dorpat wurde 1802 außerdem die deutschsprachige Universität (wieder-)errichtet, der die Aufgabe zufiel, Lehrer für die deutschen Schulen im ganzen Zarenreich auszubilden. 101 Im Gouvernement Wiborg, dem ehemaligen schwedischen Teil Finnlands, hatte es schon seit dem 17. Jahrhundert einfache Stadtschulen gegeben, an denen die Unterrichtssprache Schwedisch gewesen war. Auch hier wurde ab 1787 Deutsch zur Schulsprache, was es bis zur finnischen Schulreform in den 1840er Jahren auch blieb. 102
99
100 101 102
Die Annen-Schule widersetzte sich der Reform erfolgreich, die Katharinen-Schule zog es vor, ihre Pforten vorübergehend zu schließen. Die Schulen der Wolgakolonisten blieben aufgrund ihrer abgelegenen Lage unbehelligt. Vgl. Smagina (1996a), S. 143; Lemmerich (1862), S. 235f. Zur Geschichte der Dorpater Universität vgl. Glück (2002), S. 267f. Amburger weist darauf hin, daß das Deutsche in dieser Region bis zum zweiten Weltkrieg einen wichtigen Platz im gesellschaftlichen Leben behalten hat. Vgl. Amburger (1984), S. 6; Lemmerich (1862), S. 274.
126
IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
3. Fremdsprachenunterricht und Ausbildungskonzeptionen Einer der wichtigsten Gründe für das Erlernen moderner Fremdsprachen war im Rußland des 18. Jahrhunderts - ganz im Sinne des Utilitaritätsdenkens, das sich mit der von Peter I. betriebenen Modernisierung Rußlands durchsetzte - ihr praktischer Nutzen für Alltag und Berufsleben: „Auf dem Papier der Neuerer stand das Wort Nützlichkeit', und dieser Begriff, der auch der deutschen Aufklärung sehr am Herzen lag, bestimmte das kulturelle Leben des neugestalteten Rußlands." 103 Das Nützlichkeitskriterium war verbindendes Element für die aufklärerischen Bestrebungen in Deutschland und Rußland. Daher wurden die Vorbilder für die zu schaffenden russischen Bildungseinrichtungen auch vorzugsweise in Deutschland gesucht. Im folgenden Kapitel sollen die Bezüge zwischen den russischen und deutschen bzw. westeuropäischen Ausbildungskonzepten anhand einiger Beispiele aufgezeigt werden. Anschließend wird die besondere Bedeutung des Fremdsprachenunterrichts im Rahmen russischer Bildungspläne erläutert, wobei auch Unterschiede zu den deutschen Konzepten deutlich gemacht werden sollen. Die stärksten Impulse empfing Rußland beim Aufbau seines Bildungssystems im 18. Jahrhundert aus Deutschland, insbesondere aus Nord- und Mitteldeutschland, wo verstärkt nach dem Dreißigjährigen Krieg an Ritterakademien und den pietistischen Bildungsanstalten A. H. Franckes neue, pragmatische Erziehungsformen entwickelt wurden. 104 Oberster Leitsatz war dort die unmittelbare Nützlichkeit des Erlernten für das praktische Leben, die ,Nützlichkeitspädagogik' - auch und gerade im Hinblick auf staatliche Interessen. Unter dem Gesichtspunkt der Staatsdienlichkeit wurden vermehrt Realienfächer in den Unterricht eingeführt: moderne Fremdsprachen und anwendungsorientierte Wissenschaften wie Mathematik und Naturwissenschaften sowie Geschichte, Geographie und Kameralwissenschaften. 105 103 104
105
Danilevskij (1997), S. 55. Vgl. z. B. Paulsen (1919), S. 519-524, 567-575; zu den Ritterakademien speziell Conrads (1982). Einen Überblick über die Entwicklung des Schulwesens in ganz Europa im Zeitalter der Aufklärung gibt der Sammelband von Schmale und Dodde (1991). Erste Reformvorstellungen entwickelten schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts der böhmische Pädagoge und Sprachdidaktiker Jan Arnos Komensky (1592-1670) und der Holsteiner Wolfgang Ratke (1571-1635). Sie hatten erstmals die Abkehr von der alten Lateinschule und eine Hinwendung zu lebensnaheren Unterrichtsgegenständen wie der Muttersprache und der Vermittlung von Sachwissen gefordert. Zu Ratkes und Komenskys Reformvorschlägen vgl. Frank (1975), S. 54-73. Auf ihren Ideen aufbauend bildete sich in den deutschen Ländern nach dem Dreißigjährigen Krieg zunächst innerhalb der adligen, in Nachahmung dieser bald auch in der bürgerlichen Oberschicht ein neues Bildungsideal heraus, das an der französischen Hofkultur orientiert war. Neben die
3. Fremdsprachenunterricht und Ausbildungskonzeptionen
127
Mit ihren Schwerpunkten im Unterricht der Realia boten die deutschen Ritterakademien, Fürstenschulen und vor allem die Erziehungsanstalten Franckes ein ideales Modell für die zu gründenden russischen Bildungseinrichtungen, die dann auch häufig nach deutschem Vorbild eingerichtet wurden. So vereinigte beispielsweise der von Pastor Glück erstellte Lehrplan des Moskauer Fremdsprachengymnasiums Elemente der pietistischen Erziehung mit denen der Ausbildung an den Ritterakademien, indem er Bibelstunden, das Studium alter und neuer Sprachen, Unterricht in den modernen Wissenschaften und körperliche Ertüchtigung miteinander verknüpfte. 106 Der Lehrplan des Landkadettenkorps war vollständig den Lehrplänen der Ritterakademien nachgebildet, die dortigen Unterrichtsklassen trugen sogar diesen Namen. 107 Auch das Akademische Gymnasium, in dem sich junge Russen - für ein Gymnasium nicht eben typisch - in den westeuropäischen Tanzmoden üben konnten, folgte in seinen Lehrplänen dem Muster der deutschen Ritterakademien. 108 In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts blieb das deutsche Bildungssystem das maßgebliche Vorbild für Rußland. Epp betont, daß es wie vordem namentlich deutsche und nicht französische Aufklärer und Pädagogen waren, die russische Bildungsreformer und ganz besonders die Zarin selbst inspirierten und Aufmerksamkeit auf sich zogen. The philosophers and the French Enligthenment gradually lost influence in Russia, while the German enlighteners attracted more and more attention. The German enlighteners appeared to be more practical - they established schools. 1 0 9
alte Lateinschule, deren Ausbildung weder „den künftigen Funktionen eines Beamten in den im Aufbau begriffenen Verwaltungsapparaten, noch dem Bestreben bürgerlicher Kreise, durch Anpassung an höfische Kulturformen gesellschaftsfähig zu werden" entsprach [Gessinger (1985), S. 108], trat als neuer Schultyp die Ritterakademie, die die privilegierte Jugend „in den höfischen Sitten und Künsten und in den ihrem Stande nötigen Wissenschaften und Sprachen" ausbilden sollte. Vgl. Paulsen (1919), S. 521. Französisch als neue Bildungssprache wurde zur wichtigsten Fremdsprache. Von den alten Sprachen blieb allein das Lateinische, dafür kamen weitere lebende Sprachen wie Italienisch, Spanisch und Englisch hinzu. Für die Entwicklung des Schulwesens in Preußen wirkte A. H. Francke wegbereitend, an dessen Bildungsanstalten das praktische, auf den unmittelbaren Alltagsnutzen hin ausgerichtete Lernen oberste Priorität genoß. Der Unterricht in den Fremdsprachen (Latein und Französisch) nahm dort den größten Raum ein. Vgl. Paulsen (1919), S. 567-577. 106 107 108 109
Vgl. Perete (1902), S. 156f. Suchomlinov (1886), Bd. 3, S. 464. Vgl. Kap. VII, Punkt 2. Epp (1984), S. 86. Französische Schulen sind in Rußland nur selten zum Vorbild genommen worden, eine der Ausnahmen bildet das Smol'nyj-Institut.
128
IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
Als Beispiel sind vor allem die deutschen Reformpädagogen zu nennen, deren Schulen in Rußland einige direkte Nachahmungen fanden. So folgte Büsching bei der Reformierung der St. Petri-Schule in St. Petersburg 1762 dem Vorbild der 1747 von Johann Julius Hecker in Berlin eröffneten Oeconomisch-Mathematischen Realschule, die ihrerseits der Tradition Franckes verpflichtet war und das berufspraktische Lernen ins Zentrum stellte. 110 Durch BUschings Reform erhielt die St. Petri-Schule den Charakter einer „Realschule mit humanistischer Färbung". 111 Bei den in den 1760er und frühen 1770er Jahren realisierten Schulprojekten von Katharinas Bildungsbeauftragten Beckoj wurden wie schon erwähnt Ideen der deutschen Philanthropen, namentlich J. B. Basedows, aufgegriffen, der in Dessau mit dem Philanthropin eine philanthropische Musterschule errichtet hatte, für die sich auch die Zarin begeisterte. 112 Protegiert von Katharina II. kamen Mitarbeiter von Basedow nach Rußland und gründeten dort eigene philanthropische Schulen oder wirkten an der Modernisierung bestehender russischer Einrichtungen mit. 113 Bei aller Ähnlichkeit der deutschen und russischen Ausbildungskonzeptionen gab es jedoch auch signifikante Unterschiede. So trug die schulische Erziehung in Rußland von Anfang an ausdrücklich berufspraktischen Erfordernissen Rechnung, weshalb die Trennung des gelehrten und bürgerlichen Unterrichts in Rußland schon längst vollzogen war, als sie in Deutschland von Neuhumanisten, Philanthropisten und Staatsmännern im Zuge der Reformbewegung der zweiten Jahrhunderthälfte noch eingefordert wurde. Das beste Beispiel hierfür sind die Gymnasien an der Akademie der Wissenschaften und der Moskauer Universität, wo es altsprachliche und neusprachliche Zweige gab, an denen die für das Studium vorgesehenen Schüler und solche, die nicht studieren wollten, getrennt unterrichtet wurden. 114 Daß die Ausbildung an den russischen Schulen in noch viel stärkerem Maße als an den deutschen Schulen dem Utilitaritätsprinzip verpflichtet war, zeigt auch der Stundenanteil des Unterrichts in den rao110
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Dies bestätigt Büsching selbst in seinem Sendschreiben an das Berliner Wochenblatt, in dem er über die reformierte Petri-Schule berichtet. Vgl. Büsching (1764c), S. 14. Amburger (1984), S. 4. Deutsch, Russisch und Französisch wurden im Hauptfach unterrichtet, der Umfang des Lateinunterrichts (und der des Griechischen und Hebräischen) dagegen drastisch reduziert. Außerdem wurden Geschichte und Geographie, Naturgeschichte, Physik und Mathematik, sowie Tanz, Musik, Zeichnen, fllr die Mädchen auch Handarbeit und Hauswirtschaft betrieben. Demkov (1910), S. 43. Beispiele sind Christian Heinrich Wolke, der 1786 eine Privatschule in Petersburg eröffnete, und sein Kollege Johann Eberhard Friedrich Schall, der wie auch Wolke vorübergehend am Landkadettenkorps unterrichtete. Vgl. zu Schall und Wolke Kap. V, Punkt 4. Schmales These, nach der „die für die einzelnen Schulebenen entworfenen Lehrpläne [...] europaweit geradezu austauschbar" gewesen wären, ist deshalb in Bezug auf Rußland nicht zuzustimmen. Vgl. Schmale/Dodde (1991), S. 8.
3. Fremdsprachenunterricht und Ausbildungskonzeptionen
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dernen Fremdsprachen, der in Rußland eine erheblich größere Rolle spielte als in den deutschen Ländern, ganz besonders in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.115 Waren dem Französischunterricht am Pädagogium A. H. Franckes, wo der Unterricht der modernen Fremdsprachen einen für die damaligen deutschen Verhältnisse breiten Raum einnahm,116 in den 1720er Jahren täglich zwei Stunden gewidmet,117 so hatten sich russische Schüler nicht selten drei bis vier, in den unteren Klassenstufen sogar bis zu sechs Stunden täglich mit dem Deutschen und/oder Französischen zu beschäftigen.118 Allein an den im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Deutschland entstehenden Handelsschulen wurden die lebenden Fremdsprachen in ähnlichem Umfang unterrichtet wie in Rußland.119 Wo die Fremdsprachen so viel Raum beanspruchten, blieb für den Sachunterricht wenig Zeit. Bis in die 1730er Jahre machte der Unterricht der neuen Fremdsprachen an den russischen Schulen oft mehr als zwei Drittel des Gesamtunterrichts aus. Dieses Verhältnis verschob sich später zugunsten des Sachunterrichts, so daß die Fremdsprachen und die Wissenschaften (Mathematik, Geographie und Geschichte) ebenbürtig wurden.120 In den Volksschulen der 1780er Jahre hatte der neusprachliche Fremdsprachenunterricht nur noch einen Stundenanteil von 10 - 20 %. Die relative Bedeutung der Fremdsprachen nahm in dem Maße ab, wie das Russische
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Wenn im folgenden allgemein von den .neuen', .modernen' oder .lebenden' Fremdsprachen die Rede ist, sind damit vor allen Dingen Deutsch und Französisch gemeint. Die aufgezeigten generellen Entwicklungslinien betreffen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts primär das Deutsche, in der zweiten Hälfte auch das Französische. Sofern sie auch für weitere lebende Fremdsprachen (Englisch, Italienisch, Niederländisch) zutreffen, wird dies ausdrücklich vermerkt. An den deutschen Ritterakademien scheint das für die lebenden Fremdsprachen vorgesehene Stundendeputat noch niedriger gewesen zu sein. Dies zeigt z. B. die von 1687 stammende Schulordnung der Ritterakademie in Wolfenbüttel, die wöchentlich nur vier Stunden Unterricht der ,,fremde[n] Sprachen" vorsah. Paulsen (1919), S. 522. Vgl. Christ/Rang (1985), Bd. 3, S.10. Das war z. B. der Fall am Landkadettenkorps [vgl. dessen Lehrplan von 1737, abgedruckt bei Suchomlinov (1886), Bd. 3, S. 446-450], am Akademischen Gymnasium und der ihm angeschlossenen Pension [vgl. die Lehrpläne der deutschen Abteilung von 1735, Suchomlinov (1886), Bd. 2, S. 672-674, und von 1748, Suchomlinov (1897), Bd. 9, S. 185-187, in leicht modifizierter Form auch abgedruckt bei Tolstoj (1970a), S. 122f.] sowie am Moskauer Universitätsgymnasium [vgl. den Lehrplan von 1758 im Reglament Moskovskoj gimnasii, abgedruckt bei Beljavskij (1955), S. 297ff.]. An der Nürnberger Handelsschule etwa hatte der Fremdsprachenunterricht einen Anteil von 33 Wochenstunden (WS), davon Französisch 19 WS, Englisch 8 WS und Italienisch 6 WS. Vgl. Klippel (1994), S. 283; zum Curriculum der Handelsschulen vgl. auch Gessinger (1980), S. 70f. Vgl. beispielsweise den Lehrplan des Moskauer Gymnasiums, Beljavskij (1955), S. 297ff.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
an Bedeutung im Bildungswesen gewann und Fremdsprachenkenntnisse nicht mehr den alleinigen Schlüssel zum Wissen der Zeit darstellten. Daß der Fremdsprachenunterricht an russischen Schulen eine herausragende Stellung innehatte, belegen nicht nur die Stundenzahlen. Von der ihm beigemessenen Bedeutung zeugt auch der Umstand, daß die lebenden Fremdsprachen zu den wenigen Unterrichtsgegenständen zählten, deren Erlernung für die Schüler höherer Schulen in Abhängigkeit von Schultyp und Bildungsziel nicht selten obligatorisch war. 121 Gerade dieser Aspekt zeichnet den russischen Fremdsprachenunterricht vor dem deutschen aus, wo moderne Fremdsprachen an den Ritterakademien und auch den Universitäten zwar verbreitet waren, 122 sich an den bürgerlichen Stadtschulen aber nur zögerlich und spät durchsetzten und, wie im Fall des Englischen, häufig nur in Form von Privatstunden angeboten wurden. 123 Selbst Französisch als populärste Fremdsprache konnte sich in Deutschland an den Gymnasien erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts vollständig etablieren. 124 In diesem Zusammenhang sei abschließend noch kurz die Frage angeschnitten, ob, und wenn ja inwiefern, die Lehrpläne in Rußland überhaupt obligatorischen Charakter hatten. Zunächst existierte ein für alle Schüler einheitlich vorgeschriebener Kursus nämlich nicht. Das Studium der Einzelfächer war kaum aneinander gekoppelt, jedes Fach wurde in einer speziellen ,Klasse' bei einem Fachlehrer in einem in der Regel ein- bis dreijährigen Kurs gelehrt. Ein und derselbe Schüler konnte deshalb in einem Fach die obere, in einem anderen die mittlere und im dritten schließlich die niedrigste Klasse besuchen. Erst in den 1760er Jahren wurde der Unterricht 121
Vgl. für das Akademische Gymnasium z. B. Suchomlinov (1886), Bd. 3, S. 282. Zum obligatorischen Deutschunterricht für die Kadetten vgl. z. B. Suchomlinov (1886), Bd. 3, S. 455, sowie unten Punkt 6. Wie peinlich genau man an der Akademie der Wissenschaften darauf achtete, daß die offensichtlich nicht sehr pflichtbewußten Gymnasiasten regelmäßig zum Unterricht erschienen, illustriert eine von der akademischen Kanzlei im Dezember 1735 erlassene Order, derzufolge „diejenige pursche, welche von der academie in die teutsche classe zur lehre geschicket werden, sich daselbst sehr saumseelig, oder wohl zum theil gar nicht einfinden, und also sich im lernen gänzlich versaümen; als (soll) wird dem rector der teutschen classe Martin Schwanewiz eine specification aller dererjenigen, welche bey ihme frequentiren sollen, hierbey zugestehet, und ihme anbefohlen werden, darauf zu sehen, dass dieselbe samt und sonders täglich des vormittags um 8 uhr sich in der teutschen classe einfinden, und biss um 11 uhr daselbst verbleiben. Welcher nun von denselben auch nur einen tag oder stunde versäumet, oder eine offenbare Widersetzlichkeit und faulheit an sich blicken lasset, von demselben soll der rector der teutschen classe Martin Schwanewiz einen rapport in die canzley der k. a. d. w. unverzügl. eingeben, und demselben nur durch das, so denen in u. mit folgener specification begriffenen namen beygefüget ist, anzeigen; da solcher denn empfindlich geztlchtiget werden soll". Suchomlinov (1886), Bd. 2, S. 836.
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Für das Englische vgl. z. B. die Übersicht bei Klippel (1994), S. 458-466. Vgl. Klippel (1994), S. 280. Vgl. Lehberger (1988), S. 476.
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3. Fremdsprachenunterricht und Ausbildungskonzeptionen
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infolge der Beckoj sehen Erziehungsreformen stärker reglementiert. An den Adelsschulen und Erziehungshäusern der katharinäischen Zeit waren die Schüler in drei bis fünf Altersstufen gruppiert, in denen ein vorgegebenes Lehrpensum zu absolvieren war. Eine Mindestanzahl von Fremdsprachen war dabei ebenso obligatorisch wie Russisch; die Auswahl der zu erlernenden Fremdsprache(n) stand allerdings häufig frei. Daß, wie am Griechischen Gymnasium, sechs (!) Fremdsprachen zum obligatorischen Programm gehörten, war auch für Rußland ungewöhnlich. Erst die nach der großen Schulreform eingerichteten Volksschulen waren mit verbindlichen Einheitslehrplänen ausgestattet. Wichtig ist schließlich noch, daß es an fast allen höheren staatlichen Schulen in Rußland zwei Kategorien von Schülern gab: die schon erwähnten ,Kronschüler', die für ihren Lebensunterhalt ein staatliches Stipendium bezogen, und die ,Freyschüler', die ihren Schulbesuch selbst finanzierten. Mit der obrigkeitlichen Unterstützung ging deren Anspruch auf Reglementierung der Unterrichtsinhalte einher: die Kronschüler hatten einen vorgeschriebenen Kurs zu durchlaufen. Die Freischüler - das waren oft dreioder viermal soviel wie die Kronschüler - hingegen konnten „von den sprachen und künsten [...] lernen, was sie wollen", 125 es sei denn, sie wollten studieren. Dann galten für sie dieselben Regeln wie für die Kronschüler. 126 Infolgedessen belegte die Mehrheit der Freischüler oft allein Deutsch und Französisch, da dies die Sprachen waren, an denen sie, so die Beobachtung des Rektors des Akademischen Gymnasiums Johann Eberhard Fischer (1697-1771) 127 im Jahr 1748, am ehesten „einen geschmack [fanden] und sich zur erlernung derselben resolviren" konnten. 128 Verbindlich, d. h. durch spezifische Richtlinien geregelt, war die Absolvierung bestimmter Fächer somit nur für Kronschüler und studierwillige Freischüler. Am Akademischen Gymnasium war Deutsch für sie stets obligatorisch und mußte auch unbedingt dem Französischunterricht vorangehen. Nur unter Lomonosov wurde diese Verpflichtung vorübergehend aufgehoben: mit Deutsch und Französisch sollten erst diejenigen beginnen, die bis zu ihrem 15. Lebensjahr die russischen und lateinischen Klassen sowie die 125 126 127
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Suchomlinov (1897), Bd. 9, S. 182. Für das Moskauer Gymnasium vgl. Lomonosov (1955), Bd. 9, S. 451. Fischer war seit 1732 Adjunkt und seit 1747 Professor der Geschichte an der Petersburger Akademie. Vgl. Scharf (1995), S. 230. Zu Fischer vgl. auch Brekle u. a. (1994), Bd. 3, S. 78-82. Fischer 1748, zit. nach Suchomlinov (1897), Bd. 9, S. 184. Entsprechend konstatiert Beljavskij fllr das Moskauer Gymnasium, es habe „Hunderte" von adligen Freischülern gegeben, die selten länger als zwei bis drei Jahre ausharrten und ihren Dienst in der Armee oder einem der Kollegien antraten, sobald sie „Französisch oder Deutsch, Arithmetik, Tanzen und Fechten gelernt hatten". Beljavskij (1955), S. 170. (Übers. - K.K.).
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
„Anfangs-Gründe der nöthigsten Wissenschaften" absolviert hatten. Diejenigen hingegen, die zu diesem Zeitpunkt schon „in einem Alter von ohngefehr 20 Jahren" waren, sollten sich gleich auf das Studium einer Wissenschaft verlegen, durch die man „dem Vaterlande nützliche Dienste leisten könne, ohne die gemeldeten Sprachen zu verstehen". 129 Für das Moskauer Gymnasium galt eine analoge Regelung. 130
4. Begründungen für das Fremdsprachenlernen Wie der Überblick über die Entwicklung des russischen Schulwesens zeigte, wurden Fremdsprachen an fast allen höheren Schulen unterrichtet. Meistens waren dies Deutsch und Französisch, an den Gymnasien auch das Lateinische, seltener Griechisch. Andere lebende Fremdsprachen wie Englisch, Italienisch, Türkisch oder Tatarisch 131 wurden nur an wenigen Schulen in den Lehrplan aufgenommen. Die Auswahl der zu unterrichtenden Fremdsprachen erfolgte zumeist aufgrund von Nützlichkeitserwägungen, d. h. sie war an praktischen Ausbildungszielen und alltags- und berufsbezogenen Erfordernissen orientiert. Gründe, Fremdsprachen und insonderheit das Deutsche zu lernen, gab es in Rußland, wie Kapitel III schon zeigte, genügend. Wie aber schätzten die Zeitgenossen selbst diese Notwendigkeit ein? Welche Ziele und Funktionen besaß das Fremdsprachenlernen in ihren Augen? Im folgenden Kapitel werden die zeitgenössischen Quellen auf die in ihnen enthaltenen Argumente für das Fremdsprachenlernen allgemein und fiir die Einfuhrung der verschiedenen Fremdsprachen an diversen Schulen im besonderen untersucht. Auf diese Weise sollen die Motive für das Erlernen der deutschen Sprache näher spezifiziert und ihr Stellenwert im Vergleich zu dem anderer Fremdsprachen genauer verortet werden. Der folgende Auszug aus einem Brief einiger Schüler des Akademischen Gymnasiums an die Kanzlei der Akademie der Wissenschaften aus dem Jahre 1757 nennt zwei wesentliche Argumente, die für die Erlernung des Deutschen sprachen: Die teutsche Sprache ist eine der Vornehmsten, nicht allein, weil sie zum Theil in ganz Teutschland, Preussen, Curland, Liefland, Schweden, und Dänemark üblich, sondern auch, weil viele nützliche Bücher in selbiger geschrieben sich befinden. Man glaubte zwar anfänglich, die teutsche Mundart sey zum Ausdruck lateinischer Kunstwörter, in Gelehrten Abhandlungen ganz unbequem. Es war aber nur ein bloßes Vorurtheil. Um nur einige wenige Beyspiele zum Be129 130 131
Lomonosov (1955), Bd. 9, S. 490, 502. Ebd., S. 451. Tatarisch wurde am Moskauer Gymnasium von 1773 mit Unterbrechung im Schuljahr 1775/76 bis 1779 unterrichtet. Vgl. Bacmeister (1773), Bd. 2, S. 230; (1775), Bd. 4, S. 175; (1778), Bd. 5, S. 230.
4. Begründungen für das Fremdsprachenlernen
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weis anzuführen; so haben Weise, Rüdiger, Wulff und Gottscheid das gegen Theil dargethan, wie solche ihre Schriften bezeigen. Folglich ist die Kenntniß der teutschen Sprache, wie überhaupt, also auch in Rußland überaus nützlich. 1 3 2
Kenntnisse des Deutschen waren nach Ansicht der Verfasser einerseits aufgrund seiner weiten Verbreitung für die Alltagskommunikation, andererseits wegen seiner zunehmenden Bedeutung als Schrift- und Wissenschaftssprache förderlich bzw. unverzichtbar. Diese Begründung findet sich sinngemäß in zahlreichen Dokumenten aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Schon in den ersten Entwürfen für das bei der Akademie der Wissenschaften einzurichtende Gymnasium heißt es, außer dem Lateinischen, das zukünftige Studenten lernen müßten, weil es die Vorlesungssprache sei, sollten die Gymnasiasten Griechisch, Deutsch und Französisch lernen, weil 'viele Bücher diese [Sprachen] benutzen, in denen alle Nachrichten der Wissenschaft abgefaßt sind und außerdem Deutsch und Französisch im allgemeinen Leben und Umgang große Möglichkeiten eröffnen'. 133
In den Gymnasiallehrplan aufgenommen wurden dann 1727 jedoch erst Latein und Deutsch, als die „zu erlangung der wissenschafften nöthige" Sprachen.134 Systematischen Französischunterricht gab es ab 173 5.135 Graf Ostermann, der Lehrer Peters II., begründete 1739 in der Erziehungsinstruktion für seinen Schützling das Fremdsprachenlernen folgendermaßen: Alles Studiren bestehet in Erlernung der Wissenschaften, Künste und Sprachen. Die neuere oder so genante lebendige Sprachen sind in dem menschlichen Umgange so nöthig als anständig, und Petrus primus hat aus Erlernung derselben einen unsäglichen Nuzen gezogen. Die Teutsche und Französische Sprachen haben wegen ihres allgemeinen Gebrauchs einen grossen Vorzug. Die Lateinische wird allezeit als ein Kennzeichen eines gelehrten und wohlerzogenen Herren angesehen. 136
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PF AAN, F. 3, op. 9, Nr. 78, Bl. 25 ob. „Meidu inymi jazykami ves'ma nuiny: Nemeckij, francuzskij i greCeskij: vo pervych, öto na sich mnogija obraäCajutsja knigi, v kotorych vse vedomyja nauki obretajutsja, da tomu 2e eäie, i t o nemeckij i francuzskij v obäCem iitij i obchoZdenij velikija daet sposobija. Togo radi i sim jazykam molodye ljudi budut obuüatisja." Suchomlinov (1885), Bd. 1, S. 75. Suchomlinov (1885), Bd. 1, S. 319. Das Reglement fand zwar keine offizielle Bestätigung, galt aber nichtsdestoweniger bis zum Inkrafttreten eines neuen Reglements im Jahr 1747 als Richtlinie des Gymnasiallehrplans. Vgl. Kuljabko (1962), S. 32. Vgl. Keipert (1989), S. 472. Allerdings wurde diese Sprache bis in die 1770er Jahre hinein fakultativ unterrichtet und erst dann zu einer der Voraussetzungen ftlr den Zugang zur Akademischen Universität. Ostermann zit. nach Weber (1739), S. 194.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
Tatiäöev erklärte in seinem Razgovor dvuch prijatelej o pol 'ze nauki i uciliscach ['Gespräch zweier Freunde über den Nutzen der Wissenschaft und über das Schulwesen'] von 1733: Besonders für den angesehenen groß- und weißrussischen Adligen ist die deutsche Sprache nötig und nützlich, weil sie [dort] die Sprache vieler Untertanen Rußlands ist, auch wird sie in Preußen, in Deutschland und in weiteren uns benachbarten Staaten verwendet. Etwas weniger nötig ist die französische Sprache [...]. 137
Der Erwerb von Deutschkenntnissen war nicht nur für Studienzwecke (im In- oder Ausland) erforderlich, er war auch im Rahmen der Ausbildung von praktischen Lehrberufen vorgesehen. So erhielten beispielsweise die Handwerks- und Kunsthandwerkslehrlinge, die seit Ende der 1730er Jahre an den der Akademie zugehörenden Werkstätten ausgebildet wurden, nebst Unterricht in Arithmetik und Geometrie am Akademischen Gymnasium auch Fremdsprachenunterricht. 138 Mehrere offizielle Ukaze versuchten, russische Kaufmannskinder und Handelslehrlinge zum Deutschlernen zu verpflichten. Ziel dieser Bemühungen war es, Rußlands Handelsbeziehungen mit dem westlichen Ausland auszubauen. So sah ein Erlaß von 1723 vor, 43 Kaufmannskinder auf Staatskosten zur kaufmännischen Ausbildung nach Riga und Reval zu verschicken. Sie hatten zuerst Deutsch und Arithmetik zu erlernen und sollten diese Studien vor Ort fortsetzen. 139 Einem Senatsukaz von 1755 entsprechend sollten Junker, die in der Schule des Handelskollegiums bzw. am Petersburger Zollamt ausgebildet wurden, 'zum besseren Verständnis der Handelsgeschäfte' 1 4 0 an vier Vormittagen in der Woche zusätzlich Deutsch- und Französischunterricht an der Akademie der Wissenschaften erhalten. Kozlova zufolge, die das Ausbildungsniveau der russischen Kaufmannschaft im 18. Jahrhundert untersucht hat, waren die staatlichen Versuche, junge Russen an ausländischen Handelskontoren ausbilden zu lassen, nur in wenigen Fällen von Erfolg gekrönt, denn dem Staat fehlten die hierfür notwendigen finanziellen Mittel, und private Sponsoren gab es nur selten. Die Kaufleute ließen ihre Kinder in den Fremdsprachen lieber von den an Ort und Stelle lebenden Ausländern unterrichten, und solche fanden sie nicht nur in Moskau und St. Petersburg, sondern auch in Hafen- bzw. Handelsstädten wie Archangelsk, Astrachan
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Tatiäfiev zit. und übersetzt bei Hecker (1992b), S. 152, Quellennachweis S. 148, Anm. 18. Vgl. Smagina (1999b), S. 542. PSZ, Bd. 7, Nr. 4731. „[...] dlja luCäago ponjatija kommercii [...]." PSZ, Bd. 14, Nr. 10389. Die so erworbenen Sprachkenntnisse kamen den Junkern beispielsweise zugute, wenn sie, wie einige im Jahr 1761, im Rahmen ihrer praktischen Ausbildung in die Ostseegouvernements entsandt wurden. Vgl. Troiskij (1974), S. 274.
4. Begründungen für das Fremdsprachenlernen
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oder Vologda. 141 Erst Ende der 1770er Jahre wurden in Rußland spezielle Handelsschulen eröffnet, an denen die Schüler neben den für den Handel notwendigen Disziplinen auch moderne Fremdsprachen erlernen konnten. Von großem Nutzen waren Deutschkenntnisse im russischen Bergwesen mit seinem hohen Anteil deutschsprachiger Fachleute. Schon an den in der petrinischen Zeit im Ural eingerichteten Bergbauschulen hatte der Deutschunterricht eine besondere Rolle gespielt, da hier die für die Leitung der Bergwerke erforderlichen Dolmetscher ausgebildet wurden. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gehörten Deutschkenntnisse zu den unverzichtbaren Qualifikationsvoraussetzungen für Russen, die im Bergwesen Karriere machen wollten. So mußten beispielsweise junge Adlige, die in den Bergwerken von Kolyvano-Voskresenskoe zu ,Bergoffizieren' ausgebildet werden sollten, nachweisen, daß sie 'im Deutschen und ebenso Lateinischen gut unterwiesen' seien. 142 Dies war nicht nur dafür erforderlich, daß sie mit den in den russischen Bergwerken tätigen deutschen Experten kommunizieren konnten, sondern auch um sie für ,Fortbildungsmaßnahmen' in den sächsischen Bergwerken zu rüsten. 143 Am Bergkollegium in Petersburg wurden in den 1770er Jahren Latein-, Deutsch- und Französischkenntnisse gefordert, da die Fachliteratur 'der besten Autoren [...] zum größten Teil in diesen Sprachen abgefaßt' war. 144 Für russische Studenten waren Deutsch- und Französischkenntnisse in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von unterschiedlicher Bedeutung. An der Petersburger Akademie und ihrer Universität spielte das Deutsche weiterhin eine wichtige Rolle als Publikationssprache und wurde auch in Vorlesungen genutzt, wenngleich diese mehrheitlich lateinisch gehalten wurden. Deutsch war sowohl für die Gymnasiasten als auch für die Studenten obligatorisches Unterrichtsfach. 145 Um vom Gymnasium in die Universität überwechseln zu können, mußten die Kandidaten in den 1770er Jahren ihre Fähigkeit nachweisen, richtig vom Deutschen und Französischen übersetzen zu können. 146 An der Moskauer Universität, wo neben das Lateinische ganz allmählich Russisch als Vorlesungssprache trat, gehörten Deutsch- und/oder Französischkenntnisse nicht mehr zu den Studienvoraussetzungen. Daß sich die Beschränkung auf das Lateinische als falsch erweisen konnte, illustriert der schon zitierte Fall des Studenten 141 142
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Vgl. Kozlova (1989), S. 40ff. „[...] dovol'no obußennych Nemeckomu, a pa£e Latinskomu jazyku." PSZ, Bd. 15, Nr. 11185. Ebd. „[...] ibo luöäie avtory [...] pisali bol'Seju Castiju na onych jazykach." PSZ, Bd. 19, Nr. 14048. Vgl. Kuljabko (1962), S. 127. Suchomlinov (1876), Bd. 3, S. 269.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
Afonin und dessen Kommilitonen, die sich wegen Unkenntnis der deutschen Sprache 1758 nicht an der Königsberger Universität immatrikulieren konnten. Das Argument des Alltagsnutzens blieb weiterhin relevant und gewann angesichts der wachsenden Anzahl der in Rußland lebenden Ausländer noch an Stärke. So betonte J. E. Fischer in seinem Schulprojekt von 1761, das Deutsche sei für den Adel noch notwendiger als das Französische, da zwar in jener Sprache mehr erbauliche Bücher geschrieben seien, man dafür aber in vielen Provinzen des Russischen Reiches Deutsch spräche. 147 Diese Auffassung vertrat auch G. F. Müller in seinem 1764 verfaßten Projekt zur Gründung von Schulen im Russischen Reich: für Russen sei Deutsch außer der Muttersprache die bedeutsamste Sprache, da „viele Deutsche in Rußland leben und diese Sprache wichtig für den Handel in Europa ist". 148 Seit den 1750er Jahren gaben in erster Linie berufspraktische Belange den Ausschlag für die Entscheidung, die eine oder andere Fremdsprache zu erlernen bzw. in Lehrpläne und Bildungsprogramme aufzunehmen. Am Moskauer Universitätsgymnasium lernten zum Beispiel viele Schüler Deutsch und Französisch, weil dies die Voraussetzung für die Erlangung eines Ranges war. Auch die unter Katharina II. ausgearbeiteten Reformvorschläge der 1760er Jahre begründen Forderungen nach Fremdsprachenunterricht vorwiegend pragmatisch. 149 Die russischen Handelsschulen hatten ähnlich wie die deutschen ein besonders umfangreiches Fremdsprachenprogramm, das meist Deutsch und Französisch, für den Seehandel oft auch noch Englisch und manchmal Niederländisch vorsah. Angehende Kaufleute mußten die Buchhaltung auf Russisch und in einer Fremdsprache abwickeln können, u. a. weil sie Praktika in ausländischen Handelskontoren oder auf ausländischen Handelsschiffen abzuleisten hatten. 150 An der 1794 gegründeten privaten Kom147 148
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Vgl. Smagina (1996a), S. 48. Maller zit. nach Smagina (1996a), S. 67. Smagina geht erstmals näher auf die bislang weitgehend unberücksichtigt gebliebenen pädagogischen Projekte G. F. Müllers ein. Vgl. Smagina (1996a), S. 60-71. Der Generalplan für Gymnasien oder staatliche Lehranstalten (1765/66) sah vier Schultypen vor. Erstens, Schulen für 'gelehrte Leute' mit Latein, Griechisch, Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch. Zweitens, Schulen filr künftige Offiziere, die Latein, Deutsch und Französisch lernen sollten, drittens, 'Bürgerschulen' für den Beamtenstand, für den Latein, Deutsch- und Französischkenntnisse 'überaus nötig' waren, sowie viertens, Handelsschulen, an denen Latein, Deutsch, Französisch, Englisch und Niederländisch unterrichtet werden sollte. Russisch als Pflichtfach war filr alle Schultypen vorgesehen. Der Generalplan blieb zwar Makulatur, die in ihm formulierten Richtlinien wurden zu dieser Zeit de facto aber schon in vielen Schulordnungen umgesetzt. Vgl. dazu Smagina (1996a), S. 4 3 f f , 60-71; Roidestvenskij (1910), S. 106ff. PSZ, Bd. 19, Nr. 13916; Bd. 22, Nr. 16316.
4. Begründungen für das Fremdsprachenlernen
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merzschule von August Witzmann, einem Anhänger der Basedowschen Pädagogik, galt: ' [ . . . ] V o r d e m B e g i n n d e s e i g e n t l i c h e n Handelsunterrichts, m u ß m a n b e r e i t s e i n i g e W i s s e n s c h a f t e n k e n n e n ; s o ist e s n o t w e n d i g a u s r e i c h e n d e K e n n t n i s der drei in R u ß l a n d g e b r ä u c h l i c h s t e n Sprachen, n ä m l i c h d e s R u s s i s c h e n , D e u t s c h e n und F r a n z ö s i s c h e n z u haben, w e l c h e j e n e , d i e den H a n d e l z u erlernen w ü n s c h e n , s o beherrschen m ü s s e n , daß s i e nicht nur frei aus der e i n e n in d i e andere übersetzen, sondern auch e t w a s in ihnen v e r f a s s e n k ö n n e n . ' 1 5 1
Englisch hat im Rußland der Aufklärungszeit vor allem als Sprache der Seefahrt eine gewisse Verbreitung gefunden: es gehörte schon zum Kursus der ersten Marineschulen. Diese Tradition setzte sich später fort. Am Seekadettenkorps ist Englischunterricht seit 1753 belegt. 152 An dieser Anstalt wurden in Ansehung der berufspraktischen Erfordernisse ab 1764 weitere, sonst im institutionellen Kontext weitgehend vernachlässigte Fremdsprachen wie Schwedisch und Dänisch gelehrt, ab 1783 noch das Italienische und das Lateinische. 153 An einer 1781 gegründeten Seefahrerschule in Archangel'sk, die Schiffskapitäne ausbildete, gehörten Englisch, das für die Seefahrt traditionell wichtige Niederländisch und Deutsch zum Programm. 154 An der Petersburger Seefahrtsschule (gegr. 1782) lernte man Deutsch und Englisch. 155 Für Schüler der Schulen für Steuerleute und Schiffbauer (gegr. 1798) war Englisch sogar die einzige Fremdsprache. 156 An den allgemeinbildenden Schulen Rußlands blieb Englisch in der uns interessierenden Epoche im Vergleich zum Deutschen und Französischen marginal. Erste Forderungen nach Einführung des Englischen waren am Akademischen Gymnasium zwar schon 1737 laut geworden: diese Sprache sei für Schüler, die in der Flotte dienen würden oder beabsichtigten, sich den mathematischen Wissenschaften zu widmen, fast unverzichtbar. 157 In den Gymnasialkursus ging es aber erst in den 1790er Jahren ein, mögli151
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„Cto do pristuplenija k obuieniju samoj torgovl, nadleiit predvaritel'no u i e znat' nekotoryja nauki, a imenno: nadobno imeet dostatoCnoe znanie trech naibolee v Rossii upotrebitel'nych jazykov, kak to: Rossijskago, Nemeckago, Francuzskago, kotorye ielajuäiim obuCat'sja torgovle do!2no znat' tak, £tob ne tol'ko umeli svobodno s odnogo na drugoj perevodit', no mogli neskol'ko na onych i soòinat'." Izvestie o uireidennom v Sanktpeterburge kommerieskom uCiliSCe (1794), S. lff. Englisch, Italienisch, Spanisch und Niederländisch konnte man an Witzmanns Schule gegen ein zusätzliches Entgelt in Privatstunden erlernen. Stai [...] Morskago sljachetnago kadetskago korpusa (1753), S. 10. PSZ, Bd. 44, Teil 1, S. 102, 191. Vgl. Voronov (1849), S. 49. Vgl. Georgi (1996), S. 313. PSZ, Bd. 25, Nr. 18634. „[...] pri flöte sluiit' budet, ili nameren uprainjat'sja naibol'Se v matematiieskich naukach, nadoben on poiti neobchodimo." Suchomlinov (1886), Bd. 3, S. 406.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
cherweise aufgrund der persönlichen Wertschätzung, die die damalige Präsidentin der Akademie, Fürstin DaSkova, dieser Sprache entgegenbrachte. 158 In Moskau fand Englischunterricht alternierend an der Moskauer Universität, ihrem Gymnasium und dem ihr angeschlossenen Internat, der Adligen Erziehungsanstalt, statt. Das dokumentieren die Vorlesungsund Lektionsverzeichnisse dieser Einrichtungen in der Zeitspanne von 1757 bis 1800. 159 In den von mir ausgewerteten Verzeichnissen ist Englischunterricht von 1775 bis 1790 an der Universität mit einem Anteil von vier Wochenstunden (WS) belegt. 1790 ging er ans Gymnasium über, wo er acht WS ausmachte. 160 Eine wichtigere Rolle als Englisch spielte das Italienische, das sich bis ins 18. Jahrhundert hinein im europäischen Adel großer Popularität erfreute und auch in Rußland eine gewisse Bedeutung als Bildungssprache erlangte. 161 In Moskau fand Italienischunterricht am Universitätsgymnasium von Anfang an statt, die mir vorliegenden Dokumente belegen ihn von 1757 bis 1790 mit einem durchschnittlichen Wochenstundenanteil von acht WS. 162 Der Lehrplan des Akademischen Gymnasiums nahm Italienisch ebenfalls um die Jahrhundertmitte auf. 163 Italienisch gehörte mit zum Programm der Beckoj sehen Erziehungshäuser und wurde an manchen Privat-
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Der erste Englischlehrer wurde 1791 eingestellt. Vgl. PF AAN, F. 3, op. 9, Nr. 485. Zur Einführung des Englischen unter DaSkova vgl. Komkov/LevSin/Semenov (1981), S. 154. Leider waren mir in St. Petersburg nicht alle Verzeichnisse zugänglich, so daß die Auswertung als Stichprobe zu verstehen ist. Erfaßt wurden die Verzeichnisse (im folgenden kurz Ob"javlenie) der Jahre 1757, 1762, 1774, 1775, 1783-1787, 1789-1791, 1794, 1799. Ergänzende Informationen liefern die bei Bacmeister wiedergegebenen Nachrichten vom Unterricht an der Moskauer Universität und deren Gymnasium für die Jahre 1773-1785, die meine Daten bestätigen. Vgl. Bacmeister (1773), Bd. 2, S. 229; (1775), Bd. 3, S. 85; (1776), Bd. 4, S. 173, 499; (1778), Bd. 5, S. 229; (1781), Bd. 7, S. 205, 552; (1784), Bd. 9, S. 533. Vgl. Sevyrev (1855), S. 238. Am Gymnasium hatte man schon 1757 Englischunterricht erteilt. Vgl. Ob"javlenie (1757). Dann wurde er an die Universität verlegt, vermutlich schon vor 1775. Belege hierfür könnten die Vorlesungsverzeichnisse, die mir nicht zugänglich waren, enthalten. Zur Rolle des Italienischen in Deutschland vgl. Christmann (1992), S. 50. Vgl. Beljavskij (1955), S. 283; Of'javlenie (1757); (1775); (1783-87); (1789-91); (1794); (1799); Bacmeister (1778), Bd. 5, S. 230; (1781), Bd. 7, S. 207; PenCko (1962), Bd. 2, S. 129f„ 258f.; (1963), Bd. 3, S. 45f„ 145f„ 202f„ 343f. Nach Tolstoj (1970a), S. 32 ist das Italienische eher zufällig in den Lehrplan geraten. 1748 hatte man den Italiener Godendi als Französischlehrer engagiert. Er sollte, so sich dafür Schüler fänden, auch einige Stunden in der Woche Italienisch unterrichten. Diese Regelung ist offensichtlich bis zum Jahrhundertende beibehalten worden. Die von mir durchgesehenen Archivmaterialien weisen Italienischunterricht bei Godendi z. B. für 1754 nach. Vgl. PF AAN, F. 3, op. 9, Nr. 57, Bl. 2ob.
4. Begründungen für das Fremdsprachenlernen
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schulen unterrichtet. 164 Außerdem war es am Marinekorps (siehe oben) und am Griechischen Gymnasium vertreten. Die Tatsache, daß am Griechischen Gymnasium sechs Pflichtfremdsprachen (Russisch, Deutsch, Französisch, Italienisch, Türkisch und Neugriechisch) gelehrt wurden, war politisch motiviert: Errichtet nach dem ersten russischen Sieg über das Osmanische Reich (Frieden von Kü?ük Kaynarca 10./21.7.1774) diente das Griechische Gymnasium dazu, junge Griechen für den russischen Staatsdienst auszubilden - daher auch der Name - um so die russischen Machtansprüche in Südrußland und auf dem Balkan zu sichern. 165 Politisch-militärische Überlegungen dürften sich ebenso bei der Lehrplankonzeption einer 1763 gegründeten Artillerieschule in Astrachan ausgewirkt haben, an der Soldaten- und Waisenkinder außer Deutsch alle für diese geographische Region nützlichen Fremdsprachen erlernen sollten, nämlich Armenisch, Persisch, Türkisch und Kalmykisch. 166 Doch zurück zu den zwei wichtigsten Schulfremdsprachen, dem Deutschen und Französischen. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts beherrschten Deutsch und Französisch das fremdsprachliche Programm aller höheren Schulen: der Eliteschulen für adlige Söhne („die nöthigsten Sprachen für einen russischen Cavalier sind die deutsche und französische"167), des Smol'nyj-Instituts für höhere Töchter, bei denen insbesondere die Lust am Lesen erweckt werden sollte, 168 sowie der Gymnasien, da man die Erlernung der deutschen und französischen Sprache gegenwärtig als einen nöthigen Theil der Erziehung der rußischen Jugend betrachtet.169 Fremdsprachenkenntnisse galten nunmehr also auch als „nöthiger Theil der Erziehung", als Voraussetzung zur Rezeption der fremdsprachlichen nunmehr in erster Linie schöngeistigen - Literatur. Diese Begründungsmotive unterschieden sich deutlich von den bis dahin vorherrschenden Nützlichkeitserwägungen. Im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts erhielt der Fremdsprachenunterricht damit eine weitere Funktion: Fremdsprachen 164
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So etwa 1776 an Witzmanns Privatschule. Englisch und Latein wurden auf speziellen Wunsch gegen Sonderbezahlung unterrichtet. Vgl. PF AAN, F. 3, op. 9, Nr. 922, Bl. 2; zu Beckojs Schulen vgl. Bacmeister (1775), Bd. 3, 88f. Zum sog. .Griechischen Projekt' vgl. Torke (1985), S. 137f.; Epp (1984), S. 96f.; PSZ, Bd. 20, Nr. 14299. PSZ, Bd. 43, Nr. 12174. Ab 1785 lernten die Pagen außerdem noch Latein und Griechisch. Vgl. PSZ, Bd. 22, Nr. 16158. Auch wenn Deutsch und Französisch hier nicht explizit genannt werden, handelt es sich doch um diese beiden Sprachen, da andere Fremdsprachen am Smol'nyj Institut nicht vorgesehen waren. Vgl. Ustav vospitanija dvuch sot blagorodnych devic (1764), S. 11. Arndt (1779), S. 2.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
wurden nicht mehr ausschließlich als Gebrauchsinstrumente verstanden, sondern nun auch in Rußland, analog zu den neuhumanistischen Auffassungen in Deutschland, als Mittel der formalen Geistesbildung angesehen. 170 Die Herausbildung intellektueller Persönlichkeitsmerkmale sollte Hand in Hand mit dem Fremdsprachenerwerb vonstatten gehen, zum Beispiel durch die Lektüre „der vorzüglichen Schriftsteller". Diese brachte man den Schülern in einer neuen Lehrbuchgattung, den Chrestomatien bzw. Lesebüchern,171 nahe, deren Intention u. a. war - so der Autor eines 1780 erschienenen Lesebuchs - den Schülern „mit angenehmen Stücken, besonders leichten Poesien [...] den Geschmack" zu bilden. 172 In vergleichbarer Absicht verfaßte der Deutschlehrer Franz Hölterhof 1776 für die Moskauer Gymnasien ein viersprachiges Wörterbuch, um die Jugend zu befähigen, sich die in den Schriftstellern benachbarter Europäischer Völker enthaltenden Einsichten zu Nutze zu machen, und daß zu dem Ende die Kenntniß fremder Sprachen, die bisher nur in Moskau und St. Petersburg eingeschränkt gewesen, sich im ganzen Reich verbreiten möge. 1 7 3
Sowohl das Deutsche als auch das Französische galten mithin als Bildungssprachen, besaßen als solche aber unterschiedliche Konnotationen. Während das Deutschlernen eher dem aufklärerisch-bürgerlichen Bildungsideal verpflichtet war, folgte die Erlernung der französischen Sprache einem höfischen Bildungsanspruch. 174 Für das Deutschlernen sprachen aber auch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts weiterhin praktische Gründe, auch wenn diese den Lernern gelegentlich in Erinnerung gerufen werden mußten. In den 1770er Jahren war das Interesse der adligen Jugend am Deutschen offensichtlich etwas abgeflaut. Deswegen sah sich der Senat 1773 genötigt, in einem Ukaz auf den Nutzen 'vollkommener Deutschkenntnisse' für eine Karriere im Staatsdienst hinzuweisen: 'Die deutsche Sprache wird von vielen völlig geringgeschätzt, die womöglich annehmen, daß deren vollkommene Kenntnis ihnen im Dienst nicht jenen Vorteil bringen kann, den sie von anderen erwarten. Da jedoch in einigen Rußland zugehörenden Provinzen die Amtsgeschäfte in deutscher Sprache abgewickelt werden, j a und auch aus anderen sich manchmal ergebenden Notwendigkeiten, können jene, die Deutsch vollkommen beherrschen, Verwendung finden sowohl zum Wohle des Dienstes als auch für sich selbst mit nicht geringen Vorteilen; 170
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Zu den Zielen des Fremdsprachenunterrichts in Deutschland zu dieser Zeit vgl. z. B. Macht (1988). Zum Unterschied zwischen Chrestomatie und Lesebuch vgl. Kap. VI, Punkt 5. Sapoinikov (1780), Vorwort. Hölterhof (1776), Widmung. Zu dieser Unterscheidung vgl. Kap. VII, das konkret die Lernziele des Unterrichts behandelt.
4. Begründungen für das Fremdsprachenlemen
141
deswegen hielt es der Regierende Senat für notwendig mit Ihrer Majestät Ukaz bekanntzumachen, daß die rußländische adelige Jugend wisse, daß die vollkommene Kenntnis der deutschen Sprache einer vorrangigen Anstellung mehr dient und daß sie ihren Fleiß deswegen auf die vollkommene Erlernung dieser Sprache richten sollen.' 1 7 5
Der Status des Deutschen als Amts- und Verwaltungssprache in den Ostseeprovinzen Rußlands war auch ein Grund dafür, daß es in den Fremdsprachenkanon der Hauptvolksschulen einging, in denen immer diejenige Fremdsprache unterrichtet werden sollte, die 'in der Nähe jeder Statthalterschaft, wo sich eine Hauptvolksschule befindet, nützlich sein kann für den Gebrauch im Alltagsleben'. 1 7 "
Deutsch lernten die Volksschüler aufgrund dieses Ukazes in Petersburg 177 und Moskau, im Baltikum und dem heute weißrussischen Territorium, zum Teil auch in den ukrainischen Gouvernements. 178 In den Hauptvolksschulen der mittelasiatischen und sibirischen Provinzen sollten Arabisch (in Mittelasien) und Chinesisch (in Sibirien) eingeführt werden. 179 Ob diese Pläne zur Ausführung kamen, ist fraglich, denn in der Regel dürfte es zu wenig Lehrer für diese damals selten gelernten Sprachen gegeben haben. Hartley weist darauf hin, daß der Fremdsprachenunterricht oftmals an der Geldknappheit scheiterte, aufgrund derer manche Hauptvolksschulen überhaupt keinen Fremdsprachenlehrer einstellen konnten, selbst wenn solche vorhanden gewesen wären. 180 Das Französische hatte Katharina II. ausdrücklich vom Lehrplan der Volksschulen ausgeschlossen und dem Privatunterricht überantwortet: 175
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„Nemeckij jazyk u mnogich ostaetsja v soverSennom nebereienii, poiitaja, moiet byt', öto i soverSennoe znanie sego jazyka ne moiet' im dostavit' tech vygod v slu2be, kakovych ot prodich oiidajut. A kak v nekotorych prinadleiaäiich Rossii Provincijach dela proizvodjatsja na Nemeckom jazyke, da i po drugim inogda sluiajuäiimsja nadobnostjam znajuäiie soveräenno Nemeckij jazyk, mogut upotrebleny byt kak dlja pol'zy sluiby, tak i dlja ich samich s nemalymi vygodami, togo dlja Pravitel'stvujuSöij Senat za nuino priznal sim Eja Im. Veliiestva ukazom obnarodovat, daby rossijskoe blagorodnoe junoäestvo znalo, Cto soverSennoe znanie Nemeckago jazyka bolee posluZit' preimuäiestvennago opredelenija, i dlja togo obraäiali by prileianie svoe i na soverSennoe poznanie sego jazyka." PSZ, Bd. 19, Nr. 14036. „[...] po sosedstvu kaidago NamestniCestva, gde Glavnoe uCiliSCe nachoditsja, byt' moZet poleznee, po upotrebleniju ego v obäieiitii". Ustav narodnym uciliscam (1786), S. 10, Neudruck in: PSZ, Bd. 22, Nr. 16421. Vgl. Voronov (1849), S. 32f. Außer dem Deutschen war an den Hauptvolksschulen in diesen Gebieten auch noch das Polnische als Schulfremdsprache verbreitet, so 1791 und 1797 in Mogilev und 1797 ebenfalls in Vitebsk. Vgl. Sbornik materialov dlja istorii prosvescenija v Rossii (1893), S. 98f„ 145f. PSZ, Bd. 21, Nr. 15523. Hartley (1989), S. 222.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
'Der Unterricht des Französischen soll der Hauserziehung überlassen werden, nach dem Willen eines jeden, aber in den Volksschulen ist es nicht zu unterrichten.' 181
Diese Maßnahme ging sehr wahrscheinlich auf eine Empfehlung von Aepinus zurück, der die Zarin gewarnt hatte, Französisch in den Lehrplan der Volksschulen aufzunehmen: Diejenige fremde Sprache, so in einer Nation am meisten ausgebreitet ist, bringt durch eine natürliche Folge eine mer ausgebreitete Lecture in dieser Sprache hervor. Unvermeidlich geht aber beim Lesen etwas aus dem Charakter, den Gesinnungen, und der Denkungs-Art des schreibenden Volkes, in den Charakter des lesenden über. [ ...] Was hat der Monarch des Russischen Reiches vorzuziehen: daß sein Volk eine Nuance vom deutschen, oder französischen National-Charakter annehme? 182
Die bemerkenswerte, weil so plötzlich erfolgte Abkehr vom Französischen zum Ende der Regierungszeit Katharinas II. ist von den Historikern unterschiedlich interpretiert worden. Vor allem politische Gründe sind für den Ausschluß des Französischen geltend gemacht worden. Die Entscheidung der Zarin sei im Kontext einer Politik zu sehen, die im Laufe der 1780er Jahre immer stärker frankophobe Züge annahm. 183 Madariaga vermutete, Katharina II. sei davon ausgegangen, „that those who wanted it [d. h. Französisch lernen - K.K.] could afford to pay for it". 184 Daß sich Katharina II. im letzten Jahrzehnt ihrer Herrschaft unter dem Eindruck der französischen Revolution von allem Französischen distanzierte, ist nachgewiesen. Ihren Höhepunkt erreichte diese Politik in den 1790er Jahren, als die Zensur die Einfuhr aller französischen Bücher und sogar solcher Druckerzeugnisse verbot, in denen Frankreich nur erwähnt wurde. 185 In dieser Situation hätte sich die Zarin kaum gleichzeitig für eine weitere Verbreitung einer so .subversiven' Sprache wie des Französischen einsetzen können und tat es ja auch nicht, wie das Beispiel der Volksschulen zeigt. Sogar an einer Schule wie dem Smol'nyj-Institut, wo Französisch immer dominiert hatte, wurde die Position des Deutschen gestärkt. 186 Andererseits hatte das Französische im Laufe des 18. Jahrhunderts zunächst in der höfischen und von dort ausgehend allmählich auch in der bürgerlichen Oberschicht ein solches Ansehen gewonnen, daß es selbst kaiserlichen Erlassen schwer gefallen sein dürfte, die Verbreitung des Französischen einzuschränken. Es ist deshalb nur folgerichtig, daß Katharina II. der Elite 181
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„UCenie Francuzskago jazyka ostavit' domaänemu vospitaniju, po sobstvennoj kaZdago voli, a v narodnych uCiliäöach onago ne prepodavat." PSZ, Bd. 21, Nr. 15523. Aepinus zit. nach Tolstoj (1970b), S. 329. Vgl. z. B. MatF (1975), S. 80. Madariaga (1979), S. 385, Anm. 58. Vgl. Marker (1985), S. 226. Vgl. unten Punkt 5.
4. Begründungen für das Fremdsprachenlernen
143
des Landes, die sie kaum vom Französischlernen hätte abbringen können, selbiges überließ, allen anderen weniger bemittelten Untertanen aber diese Möglichkeit verwehrte. Der restriktive Charakter, den die katharinäische Bildungspolitik bezüglich des Französischen schließlich annahm, ist m. E. nicht allein mit den Ereignissen in Frankreich zu erklären. Der Ausschluß des Französischen vom Lehrplan der Volksschulen besitzt eindeutig soziale Implikationen und ist nur der Kulminationspunkt einer Sprachenpolitik, die mehr als bislang deutlich wurde auch gesellschaftspolitisch motiviert war. Sieht man von den zahlreichen Sachzwängen und pragmatisch-praxisbezogenen Erwägungen ab, die mal die eine, mal die andere Fremdsprache in den Vordergrund treten ließen, zeigt sich, daß der Sprachenpolitik in Rußland seit der petrinischen Zeit, als Fremdsprachenkenntnisse gesellschaftlich relevant wurden, auch ideologische Züge anhafteten. Welchen politisch-ideologischen Wert Fremdsprachen in Rußland besaßen, deutet Wortmann in seiner schon zitierten Arbeit über „Scenarios of Power" im zaristischen Rußland an: Fremdsprachenkenntnisse gehören zu den Instrumenten der Machterhaltung. 187 Damit stellen sie - so Gessinger ein Mittel der Sozialdifferenzierung dar. 188 Das Sprachstudium diene als Instrument, soziale Barrieren aufzubauen (als Abgrenzung gegen sozial niedriger stehende Schichten) bzw. abzubauen (zur Anpassung an die höheren Schichten). Gessinger untersucht das Phänomen der „Dialektik von Anpassung und Abgrenzung nach ,unten'" 189 im Hinblick auf die Funktionen des Latein- und Französischlernens bei der Formierung des Bürgertums im 18. Jahrhundert in Deutschland: „Der Aufstiegswunsch der Mittelschichten implizierte die Adaption von Kulturelementen der Oberklasse und die Abgrenzung gegenüber den unteren Schichten." 190 Zunächst erfüllte das Französische diesen Zweck, gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als es schon zu allgemein geworden war, das von den Neuhumanisten als Kennzeichen der gelehrten bürgerlichen Bildung wiederentdeckte Latein, das damit nicht mehr seine „ursprüngliche ausbildende und formal qualifizierende Funktion" hatte, sondern „ideologisch überhöht zur Bildungsfiinktion" wurde. 191 In Rußland verlief die Entwicklung trotz gänzlich anderer Gesellschafitsstruktur nach dem gleichen Prinzip: Neben dem Lateinischen als formal qualifizierender Bildungssprache stand in Rußland von Anfang an 187 188 189 190 191
Vgl. Wortmann (1995). Vgl. Gessinger (1980); (1985). Ders. (1985), S. 109. Ders. (1980), S. 11. Ders. (1985), S. 112. (Hervorhebung im Original).
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
das Deutsche. Beide Sprachen behielten diese Funktion bis zum Ende des 18. Jahrhunderts bei. Als Instrument der Sozialdifferenzierung fungierte Latein in Rußland nicht 192 und Deutsch in viel geringerem Maß als Französisch: Mit Deutschkenntnissen war stets auch ein praktischer Nutzen verbunden, mit Französisch eher das soziale Prestige. Charakteristisch für diese Entwicklung war die Unterrichtspraxis einiger Schulen in der zweiten Jahrhunderthälfte, an denen bürgerliche Schüler zwar in der für ihren beruflichen Werdegang zweckdienlichen deutschen Sprache unterwiesen, vom Studium der französischen hingegen ferngehalten wurden. So galt am Ingenieur-Kadettenkorps eine Sprachregelung, nach der Offiziersanwärter Deutsch und Französisch lernten, die bürgerlichen Unter-Offiziere und Techniker hingegen nur Deutsch, das bis in die 1790er Jahre hinein auch als Unterrichtssprache in den mathematischen und militärtechnischen Fächern verwendet wurde. 193 Am Kazan'er Gymnasium sollen dem Dichter Deriavin, einem seiner Schüler, zufolge nur die adligen Zöglinge Französischunterricht erhalten haben. 194 Am Akademischen Gymnasium, das zum größten Teil von bürgerlichen Schülern besucht wurde, erlangte Französisch erst in den 1770er Jahren eine dem Deutschen prinzipiell ebenbürtige Stellung. An einer 1798 gegründeten Militärschule für bürgerliche Waisenkinder war Deutsch die einzige Fremdsprache. 195 Wo Französisch vom Lehrplan der öffentlichen Schulen ausgeschlossen war, blieb sein Studium dem eigenen Betreiben anheimgestellt. Deshalb spielte Französisch an Privatschulen und im Hausunterricht eine so herausragende Rolle. Da der Privatunterricht aber teuer war 196 und bei weitem nicht alle Bildungswilligen die dafür nötigen Mittel aufbringen konnten, blieb Französisch weitestgehend ein Privileg der Oberschicht, die sich durch die Gleichsetzung von Geld und Bildungsmöglichkeiten ihre kultu192
Deshalb taucht Latein auch kaum in Lehrplänen von Adelsschulen und Privatpensionen auf, höchstens als fakultatives Fach: Am Landkadettenkorps hatte es 1737 den verschwindend geringen Anteil von 4 % der Gesamtwochenstunden, wohingegen die lebenden Fremdsprachen mit einem Anteil von 32 % zu Buche schlugen (Deutsch 21 %, Französisch 11 %). Am Pagenkorps wurde Latein erst 1785 in den Lehrplan integriert. Die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neugegründeten militärisch ausgerichteten Kadettenkorps führten Latein spät (am Marinekorps 1783) oder überhaupt nicht ein, ebenso das Smol'nyj-Institut. Die wenigen von Privatschulen erhaltenen gedruckten Nachrichten verzeichnen Latein als Fach, das auf speziellen Wunsch der Zöglinge (zum Teil gegen entsprechende Sondervergütung) belegt werden konnte.
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Stat Artillerijskogo i inzenernago kadetskago korpusa (1784), S. 3, 9; Georgi (1996), S. 295; PSZ, Bd. 43, Nr. 17051. Vgl. DerZavin (1880), Bd. 8, S. 43. PSZ, Bd. 43, Nr. 18773. Schon in den 1750er Jahren konnte ein Privatfremdsprachenlehrer bis zu 650 Rubel verdienen, das war mehr als das Doppelte als an den öffentlichen Schulen. Vgl. Troiskij (1974), S. 288ff.
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5. Schülerzahlen und Umfang des Deutschunterrichts
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relle Hegemonie sicherte. 197 Daß Katharina die Erlernung des Französischen dem Privatengagement überließ, ist nur ein Beispiel für diese Politik. Auch an der Petrischule mußte, wer Französisch lernen wollte, das doppelte Schulgeld bezahlen. 198 Wie unmittelbar der Anspruch auf französische Bildung an den sozialen Stand und das damit verbundene gesellschaftliche Ansehen und die Finanzkraft gekoppelt war, hat Schlözer in den Anmerkungen zu seinem Rußlandaufenthalt (1761-1765) treffend beschrieben: Die Großen und Reichen der Nation wünschten inbrünstig, ihre Kinder in hoher Cultur, die ihnen nicht zu Teil geworden war, aufwachsen zu sehen; aus vollen Händen warfen sie die Kosten dazu her, und bezalten und betonten, nicht blos gerecht und freigebig, sondern mit einer Grosmut, von der wol selten ein Fürst in andern Ländern ein Beispiel gab. Aber in der Wal der Leute, die sie zu ihren edlen Zwecken suchten und brauchten, verunglückten sie: die Hauslerer mußten Franzosen seyn, gleich viel ob Bediente, oder Handwerker, oder cassirte Offeriere (die gewöhnlich, d. i. vorgeblich, wegen einer affaire d'honneur ihr Vaterland verlassen hatten), wenn sie nur einen guten äußeren Anstand hatten, woran es freilich den sonst geschickteren Deutschen meist feite.199
5. Schülerzahlen und Umfang des Deutschunterrichts Die vorhergehenden Kapitel hatten die Aufgabe zu bestimmen, welchen Stellenwert der Fremdsprachenunterricht im Rahmen der russischen Ausbildungskonzepte besaß und welche Bedeutung speziell dem Deutschunterricht im Vergleich zum Unterricht anderer moderner Fremdsprachen, insbesondere des Französischen, zukam. Nach dieser relationalen Einschätzung soll im folgenden versucht werden, die Bedeutung des Deutschunterrichts auch an absoluten Zahlen zu bemessen. Zu diesem Zweck werden Lektionsverzeichnisse, Schülerlisten, Stellenpläne und Besoldungslisten im Hinblick auf Angaben über den Stundenanteil des Deutschunterrichts, über Deutschlernerzahlen sowie über die Anzahl der beschäftigten Fremdsprachenlehrer ausgewertet. Leider sind quantitative Angaben dieser Art rar und beziehen sich selten auf längere Zeiträume, wodurch sich die Entwicklung des Faches besser hätte darstellen lassen. So können die folgenden Ausführungen nur Einblicke in die Situation des Deutschunterrichts an bestimmten Einrichtungen zu bestimmten Zeitpunkten vermitteln. Tendenzen lassen sich auf diese Weise aber gleichwohl aufzeigen.
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Vgl. zum selben Phänomen in Deutschland Gessinger (1985), S. 112f. Vgl. BUsching (1762a), S. 23; Lemmerich (1862), S. 125. Schlözer (1802), S. 140.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts war das Deutsche in Rußland die wichtigste und in den Schulen am häufigsten gelernte Fremdsprache. Die bedeutendsten Einrichtungen, an denen man diese Sprache erlernen konnten, waren das Akademische Gymnasium und das Landkadettenkorps. Wie zentral der Deutschunterricht am Gymnasium war, ist schon an der Einrichtung einer speziellen deutschen Abteilung zu erkennen. Hier wurden zwar alle damals gängigen Fächer unterrichtet, doch lag der Unterrichtsschwerpunkt eindeutig auf der deutschen Sprache. Dem Lehrplan von 1735 zufolge entfielen in den beiden unteren Klassenstufen 20 von insgesamt 26 WS auf den Deutschunterricht. In der oberen Klasse waren bei gleicher Wochenstundengesamtzahl 18 WS Deutsch vorgesehen. 200 Um die Jahrhundertmitte wurde der Deutschunterricht leicht reduziert: Nach dem Reglement von 1748 waren bei einer Gesamtwochenstundenzahl von 42 WS in der unteren Klasse noch 24 WS dem Deutschunterricht vorbehalten, in der oberen 12 WS, hier wurden zudem vier WS Französischunterricht erteilt. 201 Wieviele Gymnasiasten in Petersburg Deutsch lernten, läßt sich nur annäherungsweise bestimmen, ohne Frage war ihre Zahl für die damaligen Verhältnisse aber ausgesprochen hoch. Bis zur Jahrhundertmitte hatten rund 820 Schüler das Gymnasium besucht. Von diesen dürften mindestens zwei Drittel Deutschunterricht erhalten haben. 202 Bedauerlicherweise gibt es nur sehr wenige präzise Angaben über die Größe der deutschen Gymnasialklassen. Die exakteste Übersicht bietet eine von Martin Schwanwitz, dem damaligen Rektor der deutschen Abteilung, aufgestellte Schülerliste 200 201 202
Suchomlinov (1886), Bd. 2, S. 672-674. Suchomlinov (1897), Bd. 9, S. 183f. Dieser Wert ergibt sich aus einer Auszählung der Gymnasialmatrikeln von 1726 bis 1750. Demnach waren 728 Gymnasiasten (d. h. 90 % aller Schüler) in die ,untere' Klasse eingeschrieben. In den mehrsprachig (russisch-deutsch/lateinisch) abgefaßten Matrikeln sind die Bezeichnungen der Klassenstufen nicht immer deckungsgleich. In der russischen Variante wird zwischen der .unteren', .mittleren' und .oberen' Klasse unterschieden, in den deutsch/lateinischen Listen zwischen Quinta, Quarta, Tertia, Secunda und Prima. In den Matrikeln der Jahre 1726-1742 entspricht der unteren Klasse meist Quinta, selten Quarta oder Tertia. Da die Quinta nun diejenige Klassenstufe war, in der Deutsch gelernt wurde, muß es sich bei den Schülern der unteren Klasse um Deutschschüler handeln. In der Matrikel von 1734 wird die Bezeichnung deutsche classe' eindeutig synonym zu Quinta verwendet. Vgl. Suchomlinov (1886), Bd. 2, S. 565-564. In den Matrikeln von 1743-1750 entspricht der russischen Angabe untere Klasse in der deutsch/lateinischen Fassung in 76 % der Fälle die Bezeichnung untere teutsche classe. Bei 20 % der Nennungen ist dagegen die untere lateinische Klasse gemeint. Bei den restlichen 4 % entspricht der Angabe untere Klasse die obere deutsche Klasse oder Fälle, bei denen es sich um Schüler handelte, die nur einzelne Fächer lernen. Die Bezeichnung mittlere Klasse bezieht sich in diesen Jahren in 80 % der Fälle auf die untere lateinische Klasse und bei 20 % auf die untere deutsche Klasse. Bei der oberen Klasse ist das Verhältnis genau umgekehrt. Zu 80 % ist die obere deutsche Klasse gemeint, zu 20 % die obere lateinische.
5. Schülerzahlen und Umfang des Deutschunterrichts
147
vom November 1736, die alle in der deutschen Abteilung eingeschriebenen Frei- und Kronschüler verzeichnet.203 Zu der ersten Gruppe gehören 78 Knaben (54 adlige und 24 bürgerliche), zur zweiten 57 (darunter 42 externe' Kronschüler, d. h. Kinder, die von der Admiralität und Armeeeinheiten unterhalten wurden und am Gymnasium wahrscheinlich nur die deutschen Klassen besuchten). Insgesamt lernten in diesem Monat 135 Kinder Deutsch.204 Französisch lernten nach Angaben von Schwanwitz lediglich 15 Gymnasiasten, hiervon waren alle bis auf einen adlig.205 Zwar dürfte die Zahl der Deutschlerner nicht immer so hoch gewesen sein wie im Spätherbst des Jahres 1736, denn die Gesamtschülerzahl des Gymnasiums verringerte sich in der Folgezeit merklich.206 Die deutschen Klassen wurden aber offenbar weiterhin gut besucht. Diesen Eindruck erweckt ein zweiter Bericht von Martin Schwanwitz vom April 1739, in dem dieser mitteilt, daß seine beiden Kollegen „wegen der Vielheit der scholairen" größte Mühe hätten, „die arbeit in den classen, insonderheit aber in media und majori wegen vielen corrigirens der übersetzten lectionum gehöriger massen zu bestreiten".207 Auch noch 1750 war es dem Lehrer der unteren deutschen Klasse Oestermann allein „unmöglich, mit allen der in dieser Klasse lernenden Schüler, deren Anzahl nicht gering ist, zurechtzukommen".208
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Suchomlinov (1886), Bd. 3, S. 258-274. Kuljabko nennt filr das Jahr 1736 eine Gesamtzahl von 52 Gymnasiasten. Vgl. Kuljabko (1962), S. 58. Sie bezieht sich auf ein Schülerverzeichnis von Schwanwitz vom September 1736, in dem dieser allerdings nur die adligen Schüler aufgeführt hatte. Vgl. Suchomlinov (1886), Bd. 2, S. 174-180. Genau dieselbe Gruppe wird in dem von mir zitierten Verzeichnis vom November 1736 auch angeführt, außerdem auch die bürgerlichen Freischüler sowie die Stipendiaten, so daß man insgesamt (abzüglich der 42 Externen) immer noch auf 93 Gymnasiasten kommt. Tolstoj hatte für das Jahr 1736 von 28 Schülern gesprochen, was zeigt, daß er sich nur auf die Anzahl der neuaufgenommenen Schüler beziehen kann - laut Matrikel [Suchomlinov (1886), Bd. 2, S. 298-300] waren es 23. In Bezug auf das Jahr 1737 behauptet Tolstoj sogar, „das Gymnasium [bestand] im Ganzen aus 19 Schülern, von denen viele nicht in die Classen gingen; es kamen Tage vor, an denen sich nur ein einziger Schüler im Gymnasium befand, und einmal kam es vor, dass auch kein einziger da war". Tolstoj (1970a), S. 12. Daß auch die lateinische Abteilung des Gymnasiums eher schwach besucht wurde (sie hatte im gleichen Jahr 43 Schüler), führte der Rektor der lateinischen Abteilung J. E. Fischer darauf zurück, daß unter der russischen Jugend gezielt „schädliche Vorurteile" darüber verbreitet würden, daß „die lateinische spräche und andere gute künste [...] wenig nutzen [brächten], und man [...] derselben leichtlich entbehren [könne]". Suchomlinov (1886), Bd. 3, S. 283. Den wenigen Berichten zufolge, die die genaue Zahl nennen, schwankt sie zwischen 57 Schülern im September 1748 und 89 Schülern im August 1750. Vgl. Suchomlinov (1897), Bd. 9, S. 403; (1900), Bd. 10, S. 241. Suchomlinov (1887), Bd. 4, S. 19. Suchomlinov (1900), Bd. 10, S. 645.
148
IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
Der Hauptgrund für den Zustrom in die deutschen Klassen bildete die am Akademischen Gymnasium getroffene Regelung der Sprachenfolge, der zufolge die ein Universitätsstudium anstrebenden Krön- und Freischüler zunächst Deutsch und/oder Latein lernen mußten und erst dann zum Französischen schreiten konnten. 1735 galt die Regel: 'In die französische Schule wird nur derjenige aufgenommen, der Lateinisch oder Deutsch schon ausreichend erlernt hat'. 209 Diese Fremdsprachenhierarchie spiegelt sich in den Stellenplänen des Gymnasiums wider: Zwischen 1730 und 1750 beschäftigte die Akademie kontinuierlich zwei bis vier Informatoren für die deutsche Sprache, für das Französische kam man dagegen mit einem aus. 210 Für das Jahr 1754 sind erstmals zwei Französischlehrer (gegenüber vier Deutschlehrern) nachgewiesen. 211 An der einzigen Adelsschule der ersten Jahrhunderthälfte, dem Landkadettenkorps, hatte das Deutsche eine vergleichbare Priorität, obwohl es hier nicht durch explizite Vorschriften dem Französischen vorangestellt war und die Kadetten die Möglichkeit hatten, mehrere Sprachen gleichzeitig zu erlernen. 1732 erhielten von 223 russischen Kadetten 163 Deutschunterricht. Latein lernten 64 und Französisch 45 Kadetten. 212 1737 hatten von den insgesamt 371 Kadetten fast alle Deutschunterricht, nämlich 367. Unterricht im Französischen hatten etwa 200 Schüler und im Lateinischen 40. Etwa 120 Kadetten erhielten Unterricht im Russischen. 213 Ihrem Stundenanteil nach verteilten sich die Sprachen in jenem Jahr wie folgt: Deutsch wurde vormittags in sechs Parallelklassen mit je 22 WS unterrichtet, Französisch mit ebenso vielen Stunden in vier Parallelklassen (für Russisch und Latein gab es jeweils zwei Klassen mit 22 bzw. 20 WS). Einmal wöchentlich bekamen die Kadetten zusätzlich nachmittags vier Stunden Deutschunterricht, und zwar in 11 Parallelklassen. Für Französisch war an drei Nachmittagen eine Klasse mit vier Unterrichtsstunden vorgesehen. 214 Wenn sich die Zahl der Deutsch lernenden Kadetten innerhalb von nur fünf Jahren mehr als verdoppelte, so illustriert dies, wie eminent wichtig Deutschkenntnisse in den 1730er Jahren für den Staatsdienst waren. Diese Ent209
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„V Skoly francuzskija tot tol'ko prinjat' budet', kotoryj ili latinskago jazyka ili nemeckago dovol'no u i e obuöilsja." Suchomlinov (1886), Bd. 2, S. 689. Selbst wenn ein Freischüler nur Französisch lernen wollte, konnte es sein, daß er doch erst in die deutsche Schule kam. Vgl. Suchomlinov (1895), Bd. 8, S. 161. Suchomlinov (1885), Bd. 1, S. 650; (1886), Bd. 3, S. 580; (1897), Bd. 9, S. 167; (1900), Bd. 10, S. 279. PF AAN, F. 3, op. 9, Nr. 57, Bl. lob.- 2ob. Luzanov (1907), S. 31. Suchomlinov (1886), Bd. 3, S. 447-449. In den Relationen entsprechende Zahlen nennt Tolstoj für die Periode kurz nach der Gründung des Korps: Von 245 Kadetten lernten nach Tolstoj 237 Deutsch, 15 Latein und 51 Französisch. Russischunterricht hatten 18 Kadetten. Vgl. Tolstoj (1969), S. 37. Vgl. Suchomlinov (1886), Bd. 3, S. 446-450.
5. Schülerzahlen und Umfang des Deutschunterrichts
149
wicklung hatte man allem Anschein nach nicht vorausgesehen, denn das Gründungsreglement des Kadettenkorps von 1731 hatte nur drei Deutschlehrer, zwei Französischlehrer und je einen Russisch- und Lateinlehrer eingeplant.215 Bis 1737 wuchs deren Anzahl auf 12 (!) Deutsch-, vier Französisch*, drei Russisch- und zwei Lateinlehrer.2,6 Bis 1741 waren am Kadettenkorps insgesamt 20 Deutschlehrer und sechs Französischlehrer beschäftigt gewesen. 217 Trotz der diversen Reformversuche der Lomonosovschen Periode218 blieben die Akademie der Wissenschaften und ihr Gymnasium auch in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein Hort der deutschen Sprache. Gleichzeitig wurde der Französischunterricht intensiviert. Freischüler hatten die Wahl zwischen Deutsch und Französisch (ein paar wenige mögen auch Italienisch gelernt haben). Für die Kronschüler hingegen war das Französischlernen zunächst immer noch nicht selbstverständlich. Hatten Anfang der 1770er Jahre noch Sondergenehmigungen für Kronschüler eingeholt werden müssen, die Französisch lernen wollten, 219 so mußten spätestens ab 1773 „auf Befehl der Commission alle kronschüler in die französische Klasse gehen".220 Ab 1775 lernten auch die jüngsten Schüler, die drei- bis siebenjährigen Zöglinge der ,Pflanzschule', einem dem Gymnasium angeschlossenen Internat, Französisch. Dem Internatslehrplan von
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Reglement (1731), S. 12. Im Folgejahr waren auch noch je ein Englisch - und Italienischlehrer vorgesehen, späteren Stundenplanen zufolge scheinen diese Sprachen aber nicht unterrichtet worden zu sein. Vgl. PSZ, Bd. 43, Nr. 6050. Suchomlinov (1886), Bd. 3, S. 447-449. Luzanov (1907), S. 177-188. Vgl. hierzu unten Punkt 6. Das geht aus einem Schriftwechsel hervor, den der Inspektor des Gymnasiums Bacmeister im FrUhsommer 1771 diesbezüglich mit der akademischen Leitung führte. Auf die Anfrage Bacmeisters, „ob diejenigen Gymnasiasten, welche nach der Verordnung der Academie in der französischen Sprache noch keinen Anfang gemacht haben, selbige gar nicht lernen sollen, oder wann der Anfang damit zu machen ist", antwortete diese: „Cto ie kasaetsja do obuienija francuzskomu jazyku neobuCaväiesja eäie onomu proCich gimnazistov, Cto velet' emu onomu obuòat' tech iz nich, kotorye priobreli uie dovol'noe znanie v nemeckom a osoblivo v latinskom jazyke." ['Was die Lehre der französischen Sprache für die anderen, diese noch nicht lernenden Gymnasiasten betrifft, so wird befohlen, diese diejenigen von ihnen zu lehren, die schon eine genügende Kenntnis der deutschen und besonders der lateinischen Sprache erlangt haben.'] Daraufhin gab Bacmeister zu Bedenken, er sehe nicht „wie die gegebene Regul jemals gebraucht werden könnte [...], da [...] noch kein einziger von allen Gymnasiasten im Lateinischen stark genug" wäre. PF AAN, F. 3, op. 9, Nr. 223, Bl. lob., 4; F. 3, op. 9, Nr. 187, Bl. 7. 27.3./7.4.1773 Rapport Bacmeisters an die Commission, PF AAN, F. 3, op. 9, Nr. 235, Bl. 81.
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IV. Deutsch und Deutschunterricht an russischen Lehranstalten
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Abb. 10 a: Titelblatt von Chr. H. Wolkes Hundert Kupferstiche
Abb. 10 b: Illustrationen aus Chr. H. Wolkes Hundert
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3.S Fremdsprachendidaktik an russischen Volksschulen
307
[...] Welcher Handwerker hat ihn gemacht? Was für ein Holz kann man dafür verwenden? Was muß der Tischler tun, um so einen Tisch zu machen? [...].' 1 3 6
Sie dienten zur Einfuhrung von Grundwortschatz, boten darüber hinaus aber auch Anlaß zur Vermittlung allgemeinerer Erziehungsinhalte: 'Zu welchem Zweck sind diese beiden Menschen hier beisammen? Worüber spricht er mit ihr, sie mit ihm? Sprechen sie vielleicht über etwas Angenehmes oder etwas Langweiliges? Dieses Mädchen sollte diesem Mann für ihr ganzes Leben Weggefährtin und Gehilfin im Haushalt sein oder seine Ehefrau werden
Eindeutig von philanthropischen Ideen durchdrungen waren auch die von der Volksschulkommission erlassenen Methodenvorschriften aus den 1780er Jahren, die im folgenden vorgestellt werden sollen. 3.5 Fremdsprachendidaktik an russischen Volksschulen Durch die Volksschulreform wurde ab 1783 an den russischen Volksschulen und mehreren anderen Schulformen die österreichische ,Normal-methode' eingeführt. Zu diesen Schulen gehörten das Smol'nyj-Institut, das Artillerie- und Ingenieur-Kadettenkorps, die Privatschulen, die geistlichen Seminare, das Pagenkorps, die Petri-Schule und andere deutsche Bildungsanstalten.138 Die deutschen Schulen haben sich zum Teil heftig gegen diese Maßnahme gewehrt und das System auch nicht lange beibehalten.139
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„Vot sidjat dva Celoveka, molodoj mu2£ina i devica. Gde oni sidjat? Na otkrytom Ii pole? V lesu Ii? Pod drevom Ii? Na ulice Ii? V karete Ii? Na korable Ii? Net! Ja vi2u, Cto oni sidjat v dorne, v pokoe, kotorago stena obita obojami, raznyja izobraZenija predstavljajuSCimi. Na £em oni sidjat? [...] On sidit na stule, i ona na kanape. [...] Kak sdelan pol? [...] Ja ne viiu ne zerkala, ni kartiny, ni iacov i proie, no eä£e dva stulja iz koich odin zdes' stoit s pravoj, a drugoj s levoj storony. [...] Kakoj remeslennik ego sdelal? Kakoe derevo moino k tomu upotrebljat'? Cto dolien stoljar' predprinimat' dlja sdelanija takovago stola?" Ebd. 107 „Dlja Cego sii oba Celoveka zdes' nachodjatsja vmeste? O Cem govorit on s neju, ona s nimi? Ne govorjat' Ii oni meidu soboju Cto nibud' prijatnoe ili skuCnoe? Sija devica dolino byla semu mu2Cinu byt' vo vsju eja iisn' soputniceju i pomoSCniceju v domaänych potrebach, ili zdelat'sja ego suprugoju [...]." Ebd. 138 Vgl. Polz (1972), S. 147-156. 139 So wurde das Normalsystem (mit den aus dem Russischen übersetzten Lehrbüchern) an der Petri-Schule im Mai 1785 eingeführt. Doch schon unter dem Direktorat von Johann Philipp Weisse (ab Februar 1788) kam man wieder von dieser Methode ab, die als „drükkender Lehrmechanismus" empfunden wurde und „die Schule in den spanischen Stiefel einer alles nivellierenden Form der Norm [schnürte]." Unter Weisse hatte die Schule dann den Lehrplan einer Realschule, wobei die modernen Fremdsprachen das wichtigste Fach darstellten. Deutsch war im gesamten Lehrkursus mit ca. 46, Russisch mit 38 und Französisch mit 29 WS bedacht. Vgl. Steinberg (1912), S. 43, 48.
308
VII. Ziele, Inhalte und Methoden des Unterrichts
In der Sekundärliteratur hat man die .Normalmethode' - wie auch Katharinas Reform insgesamt - im allgemeinen als .aufgeklärt' beschrieben. 140 Dem ist insofern zuzustimmen, als sie viele Ideen der Philanthropen aufgriff (z. B. die Liebe zum und den Respekt vor dem Schüler, das Verbot von Körperstrafen, das Anschaulichkeits- und das Nützlichkeitsprinzip) und zu deren weiteren Verbreitung in Rußland beitrug. Deutschen Zeitgenossen galt die ,Normalmethode' zum Zeitpunkt ihrer Einführung in Rußland jedoch schon als überholt: Einer der anerkanntesten Pädagogen jener Zeit, A. F. BUsching, der sowohl das russische als auch das deutsche Schulwesen gut kannte, konnte sich über die Übernahme des österreichischen Systems nur wundern: Die zu Berlin im jetzigen Jahr [1783 - K.K.] gedruckte freymüthige Beurtheilung der österreichischen Normalschulen und aller zum Behuf derselben gedruckten Schriften redet von den Fehlern und Mängeln des österreichischen Schulplans, der Lehrart desselben, der Lehrer und Lehrbücher, so stark, auch größtenthelis [!] so richtig, daß man für wahrscheinlich halten muß, Herr Aepinus würde seinen der Kaiserin überreichten Schul-Reformations-Plan, ganz anders eingerichtet haben, wenn er dieses Buch vorher hätte lesen können.141
Doch selbst wenn sich Katharina II. mit der Übernahme des österreichischen Modells für die Einführung einer letztlich umstrittenen Unterrichtsmethode entschied, so stellte allein die Tatsache, daß überhaupt eine einheitliche Unterrichtsmethode durchgesetzt werden sollte, für das russische Bildungswesen und die Entwicklung der russischen Pädagogik doch einen gewissen Fortschritt dar, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen wollte man auf diese Weise der an vielen Schulen des Zarenreiches (vor allem den zahlreichen Privatschulen) herrschenden methodischen Willkür ein Ende setzen, 142 um so bis in die entlegendsten Provinzen hinein ein einheitliches Unterrichts- und Ausbildungsniveau zu schaffen. Wenigstens im Hinblick auf die Elementarschulen scheint das den Schulreformern auch gelungen zu
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So z. B. von Polz, der schreibt: „Durch diese Schulreform wurden also die Ideen der modernen österreichischen und mitteleuropäischen Aufklärungspädagogik nach Rußland getragen und dort zu einem Bestandteil einer staatlich geförderten Erziehung." Polz (1972), S. 165. Büsching (1783), 41. Stück, S. 323f. (Hervorhebung im Original). Aepinus, der bildungspolitische Berater Katharinas II., reagierte auf diesen Einwurf Büschings, indem er die erwähnte Beurtheilung las und anschließend antwortete, daß er „nach Lesung derselben, noch immer fest der Meynung [sei], der österreichische Normalische Schul-Plan, oder ein anderer, mit ihm in der Hauptsache gleichgültiger, sey der einzige, durch den in Rußland etwas Fruchtbarliches ausgerichtet werden kann, und daß [er] auch noch heute, [s]einen Schul-Errichtungs- nicht Reformationsplan, im wesentlichen genau eben so, als vor 2 Jahren einrichten würde." Büsching (1783), 44. Stück, S. 383. Vgl. Ustav narodnym udiliSöam (1786), S. 10, 115. Neudruck in: PSZ, Bd. 22, Nr. 16421.
3.5 Fremdsprachendidaktik an russischen Volksschulen
309
sein.143 Zum anderen mußte nun endlich das seit der petrinischen Zeit ungelöst im Raum stehende Problem der systematischen Lehrerausbildung bzw. Lehrerqualifizierung angegangen werden, denn für das Gelingen der Reform brauchte man vor allen Dingen eine ausreichend große Anzahl qualifizierter und mit den neuen Methoden vertrauter Lehrer. Für die Ausbildung neuer Lehrer bzw. die Umschulung der vorhandenen richtete die Volksschulkommission 1783 das erste staatliche Lehrerseminar an der St. Petersburger Hauptschule ein und gab mehrere methodische Richtlinien für die Lehrer heraus, die jenen Leitfaden für ihren täglichen Unterricht waren und uns heute sehr genaue Vorstellung von der ,Normalmethode' vermitteln. Das wichtigste dieser Handbücher war die vermutlich 1783 (vielleicht aber auch erst 1785)144 erschienene Anleitung für die Lehrer der ersten und zweiten Klasse in den Volksschulen des Russischen Reichs [Rukovodstvo uciteljam pervago i vtorago klassa narodnych ucilisc Rossijskoj imperii], in der Jankovii die .Normalmethode' erläuterte. Dieses Buch war eine getreue Übersetzung des von J. I. Felbiger für die österreichischen Schulen verfaßten Methodenbuchs für Lehrer der deutschen Schulen in den Kaiserlich-Königlichen Erbländern (Wien, 1776). Da die ,Normalmethode' grundsätzlich auch im Fremdsprachenunterricht anzuwenden war, sollen ihre Hauptprinzipien, die sogenannte gemeinsame Unterweisung', die ,Buchstabenmethode' und die ,Tabellarmethode' kurz erklärt werden. Die ,Normalmethode' hatte zum Ziel, den Schulunterricht natürlicher, anschaulicher, angenehmer und auf diese Weise lerneffektiver zu gestalten. Ein Mittel, dieses hochgesteckte Ziel zu erreichen, war eine neue Art der Unterrichtsführung, die sogenannte .gemeinsame Unterweisung'. Sie wird in der Anleitung für die Lehrer der ersten und zweiten Klasse in den Volksschulen folgendermaßen erklärt: Unter gemeinsamem Unterricht ist das zu verstehen, dass die Lehrer [...] die Schüler nicht einzeln, einen nach dem andern unterrichten, sondern allen denen, die ein und dasselbe lernen, zugleich Anweisung geben; dadurch werden 143
So berichtete das Hauptschuldirektorium um die Jahrhundertwende über den Zustand der russischen Elementarschulen: „Alle [...] Schulen befinden sich überall im Zustand vollkommener Einheitlichkeit. Alle Schüler, in welcher Schule sie auch sein mögen, lesen die gleichen Lehrbücher, die Lehrer aber bedienen sich der gleichen Lehrmethode und achten auf die gleiche Einteilung der Lehrstunden [...], so daß in diesen Schulen die Wissenschaften im entferntesten Teil Rußlands zu ein und derselben Zeit und auf einheitlicher Grundlage vorgetragen werden, wie dies in der Hauptstadt der Fall ist." Ro2destvenskij (1902), Istoriceskij obzor dejatel'nosti ministerstva narodnago prosvescenija 1802-1902, S. 43ff., 49fT„ zit. nach Polz (1972), S. 164.
144
Nach Tolstoj erschien die erste Ausgabe dieses Handbuchs 1783, also rechtzeitig zur Einrichtung der ersten Volksschulen. Im SKin wird die erste Ausgabe auf 1785 datiert. Vgl. Tolstoj (1970b), S. 216; SKin, Bd. 1, Nr. 951.
310
VII. Ziele, Inhalte und Methoden des Unterrichts
sie alle darauf aufmerksam, was der Lehrer spricht, abfragt oder schreibt. Wenn z. B. in der Schule viele Schüler buchstabiren oder lesen, so müssen alle, welche buchstabiren oder lesen lernen, dasselbe buchstabiren und zusammen lesen, entweder laut oder leise für sich; und wenn der Lehrer plötzlich einen oder mehrere fragt, so müssen sie alle im Stande sein dort fortzufahren, wo die anderen stehen geblieben. 145
Da alle Kinder die gleichen Bücher besaßen, stellte das gemeinsame Lesen an und für sich kein Problem dar, nur mußte es „ohne Geschrei und mit gemässigter Stimme von Staaten [!] gehen". 146 Der Unterrichtsstoff sollte nicht aus dem Buch gelernt, sondern zwecks größerer Anschaulichkeit und leichterer Einprägung an der Tafel präsentiert werden. Hierbei kamen die beiden wesentlichen - und auch umstrittensten - Prinzipien der ,Normalmethode' zum Tragen: die ,Buchstabenmethode' und die ,Tabellarmethode'. Hierzu erklärt die Anleitung: Die Darstellung durch Anfangsbuchstaben besteht im Aufschreiben von Worten oder Sätzen, die auswendig gelernt werden sollen, an der schwarzen Tafel, aber nur mit den ersten Buchstaben jedes Wortes. Davon, was auf der Tafel aufgeschrieben werden soll, sind den Kindern 5 oder 6 Worte zu sagen [...]. Das Gesagte muss noch wiederholt werden, und dann sind nur die ersten Buchstaben jedes Wortes auf die Tafel zu schreiben [...]. Eine Tabelle ist nichts Anderes, als ein Auszug oder eine kurze Inhaltsangabe irgend eines Werkes oder Buches, in welcher alle Haupttheile, Abtheilungen und Unterabtheilungen derselben so dargestellt sind, dass man alle in ihrem gehörigen Zusammenhang leicht und bequem übersehen kann. 147
Eine Tabelle mochte vielleicht übersichtlicher sein als ein Buch, doch mußte der Inhalt so oder so stur auswendig gelernt werden. Durch die ,Normalmethode' gelangte übrigens auch die Form des Sich-zu-WortMeldens durch Handzeichen in den russischen Schulunterricht. Wo und inwiefern spielte die ,Normalmethode' nun im Fremdsprachenunterricht eine Rolle? Der Anleitung für die Fremdsprachenlehrer an den Hauptvolksschulen [Nastavlenie Glavnych narodnych ucilisc uciteljam Inostrannych jazykov] zufolge sollten die Fremdsprachen an den Hauptvolksschulen in den ersten beiden Klassen grundsätzlich nach derselben Methode unterrichtet werden wie die Anfänge des Russischen, d. h. also nach der ,Normalmethode'. 148 Eine ähnliche Regelung galt für das Smol'nyj-Institut. Dort waren die Lehrer des Deutschen und des Französischen angehalten, „eben die Gleichförmigkeit und Methode [zu] beobach-
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Anleitung für die Lehrer der ersten und zweiten Klasse in den Volksschulen, zit. nach Tolstoj (1970b), S. 217. Ebd. Ebd., S. 218. Ustav narodnym uciliscam (1786), S. 67.
3.5 Fremdsprachendidaktik an russischen Volksschulen
311
ten, nach welcher die Russischen Lehrer 149 schon unterrichten", denn unterschiedliche Methoden, so glaubte man, würden „die Kinder nur in Verwirrung [bringen] und [seien] für den guten Fortgang nichts als Hindernis." 150 Folglich legte der 1783 verabschiedete neue Lehrplan für das Smol'nyj-Institut fest, daß die Mädchen in den ersten beiden Klassen die Tabellen 'von der Erkenntnis der Buchstaben, vom Buchstabieren, vom Lesen und von der Rechtschreibung' durchzunehmen hätten. 151 Diese Tabellen lagen in russischer Übersetzung auch dem russischen Lese- und Schreibunterricht zugrunde und stammten aus einer für die österreichischen Volksschulen verfaßten deutschen Grammatik, der Verbesserten anleitung zur deutschen Sprachlehre. Zum gebrauch der deutschen schulen in den kaiserlichen königlichen Staaten (Wien, 1779). Für kurze Zeit, nämlich von 1783 bis 1786, fanden die Tabellen auch im Deutschunterricht des Moskauer Gymnasiums Verwendung. Dies ist den Lektionsverzeichnissen dieser Anstalt zu entnehmen, die für diesen Zeitraum explizit darauf hinweisen, daß in den Lese- und Schreibklassen und in der ,etymologischen' Klasse unter Zuhilfenahme von Tabellen 'unter häufigem Wiederholen der Tabellen der deutschen Deklination und Konjugation' unterrichtet werden sollte. 152 Da die späteren Lektionsverzeichnisse an keiner Stelle mehr vom Gebrauch von Tabellen sprechen und zudem 1790 eine zweite Auflage des Sposob ucenija erschien, wird man wohl davon ausgehen dürfen, daß sich die Tabellenmethode am Gymnasium nicht durchsetzte und man wieder auf die altbewährten Methoden zurückgriff. Welche Methoden außer der ,Normalmethode' im Fremdsprachenunterricht in den 1780er und 1790er Jahren des 18. Jahrhunderts angewandt werden sollten, legten zwei fast zeitgleich von der Volksschulkommission erarbeitete speziellere Richtlinien fest: die 1786 publizierte Anleitung für die Fremdsprachenlehrer der Hauptvolksschulen und die Anweisung für die Lehrer der deutschen und französischen Sprache in dem adeligen Fräuleinstifte, die 1783 erschien und nicht nur für das Smol'nyj-Institut, sondern auch für den Deutsch- und Französischunterricht an der Petri-
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Mit dieser leicht mißverständlichen Formulierung sind die Lehrer des Faches Russisch, nicht aber alle Lehrer russischer Herkunft gemeint. Auszug aus der Anweisung für die Lehrer der deutschen und französischen Sprache in dem adeligen Fräuleinstifte, zit. nach Lemmerich (1862), S. 257. „[...] tablic o poznanii bukv, o skladach, o Ctenii i pravopisanii [...]". Raspolozenie Ucenija v ObSöestve Blagorodnych i mesöanskich devic po vvedennomu v narodnych ucilisöach Rossijskoj Imperii primeru (1783), abgedruckt bei Cerepnin (1915), S. 129139, hierS. 133. ..[•••] P r ' Castom povtorenii tablic Nemeckich sklonenij i sprjaienij." (1784), S. 5; ähnlich in Ofjavlenie (1785), o. P.; Ofjavlenie (1786), o. P.
Ob'j'avlenie
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VII. Ziele, Inhalte und Methoden des Unterrichts
Schule galt. 153 Die hier entwickelten fremdsprachendidaktischen Konzeptionen sollen abschließend vorgestellt und miteinander verglichen werden. Aus der Anleitung für die Fremdsprachenlehrer der Hauptvolksschulen geht hervor, daß sich die Methodik des Fremdsprachenunterrichts an den Hauptvolksschulen - wie überhaupt die gesamte Volksschuldidaktik - eng an philanthropischen Ideen orientierte. Dementsprechend sollten fremdsprachliche Kenntnisse weniger durch das Lernen der Grammatik als durch intensive Übung im Sprechen und Lesen erworben werden. Speziell für den Fremdsprachenunterricht an den Volksschulen hatte Jankoviö 1788 unter dem Titel Zrelisce Vselennyja eine überarbeitete lateinisch-russischdeutsche Ausgabe des Orbis pictus herausgebracht. 154 Dieses Buch, das im Unterschied zu der fünfsprachigen Ausgabe des Orbis pictus von 1768 mit Illustrationen versehen war, bildete an den Volksschulen die Grundlage fast des gesamten Fremdsprachenunterrichts. 155 Sobald die Schüler das deutsche Alphabet beherrschten, etwas lesen konnten und sich eine korrekte Aussprache angeeignet hatten, begann die Arbeit mit der Zrelisce, die Artikel für Artikel durchgenommen wurde. Jeder Artikel war zunächst mehrmals zu lesen. Anhand der Bilder sollte anschließend die Bedeutung der neuen Wörter erschlossen werden, indem die Schüler von Lehrerfragen geleitet die durchnumerierten Wörter den entsprechenden Gegenständen in den Illustrationen, bzw. andersherum die Abbildungen den Lexemen zuzuordnen hatten. Der solchermaßen erarbeitete Wortschatz wurde an der Tafel festgehalten und durch wiederholte und stets neu zu variierende Bildbeschreibungen gefestigt. Nach dieser Methode ging der Unterricht in den ersten beiden Jahren vonstatten. Anknüpfend an Komensky und die Philanthropen basierte sie auf dem Prinzip der Anschauung, doch vor allzu übertriebenen Bemühungen, das zu Erlernende ,sinnlich' zu machen, wurden die Fremdsprachenlehrer gewarnt: ' M a n hüte s i c h v o r allen D i n g e n davor, vor d e n Schülern l ä c h e r l i c h e Körperb e w e g u n g e n z u vollführen, w i e b e i s p i e l s w e i s e zu z e i g e n , w i e d i e V ö g e l f l i e g e n oder die S t i m m e n v o n V ö g e l n , Pferden oder H u n d e n n a c h z u a h m e n , d e n n w e n n
153
Vgl. Lemmerich (1862), S. 253. 154 Y g j K a p v i , Punkt 5. Die Ausgabe mit französischen statt der lateinischen Äquivalente war ein Jahr zuvor erschienen. 155 Die Bearbeitung von Jankoviö war außerdem kürzer und praxisbezogener als die Ausgabe von 1768. Die 300 Artikel der 1768er Ausgabe reduzierte Jankoviö auf 80 und ließ dabei alle abstrakteren Themenbereiche, insbesondere die religiösen und philosophischen Charakters, weg. Dafür nahm er einige berufsbezogene Artikel auf, die die Schüler beispielsweise mit neuen Entwicklungen im Handwerk, z. B. im Bereich der Glasmanufaktur oder des Gravurwesens, bekannt machen sollten. Vgl. hierzu auch Dodon (1955), S. 203.
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3.5 Fremdsprachendidaktik an russischen Volksschulen
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