Design & Philosophie: Schnittstellen und Wahlverwandtschaften 9783839433256

In what respects can philosophy, with its clarifying methodology and thematic approaches make a contribution to the theo

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German Pages 162 [160] Year 2016

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Table of contents :
Inhalt
Philosophie und Design. Eine Einleitung
Design und Philosophie. Auf der Suche nach dem guten Leben
Die visuelle Sprache der Moral. Überlegungen zu einer Ethik des Kommunikationsdesigns
Vom Dasein zum Design. Heideggers »Zuhandenheit« und »Mitsein« als philosophische Grundlagen des Social Design
Zu einer kritischen Theorie des Social Design
Wann ist Design?. Design zwischen Funktion und Kunst
Autodesign lesen. Eine philosophisch und metaphorologisch erhellende Kultur technik
Phänomenologie und Architektur
Autorinnen und Autoren
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Design & Philosophie: Schnittstellen und Wahlverwandtschaften
 9783839433256

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Julia-Constance Dissel (Hg.) Design & Philosophie

Design | Band 32

Julia-Constance Dissel (Hg.)

Design & Philosophie Schnittstellen und Wahlverwandtschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2016 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Ferdinand Schwieger Umschlagabbildung: fotolia Lektorat: Julia-Constance Dissel, Luisa Döderlein Korrektorat: Maria-Elisabeth Rudolf, Lektorat Schusterjunge Satz: Julia-Constance Dissel, Ferdinand Schwieger Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-3325-2 PDF-ISBN 978-3-8394-3325-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Philosophie und Design Eine Einleitung Julia-Constance Dissel | 7

Design und Philosophie Auf der Suche nach dem guten Leben Kai Buchholz | 17

Die visuelle Sprache der Moral Überlegungen zu einer Ethik des Kommunikationsdesigns Gerhard Schweppenhäuser | 31

Vom Dasein zum Design Heideggers »Zuhandenheit« und »Mitsein« als philosophische Grundlagen des Social Design Hyun Kang Kim | 59

Zu einer kritischen Theorie des Social Design Anke Haarmann | 75

Wann ist Design? Design zwischen Funktion und Kunst Jakob Steinbrenner | 89

Autodesign lesen Eine philosophisch und metaphorologisch erhellende Kultur technik Niklaus Schefer | 107

Phänomenologie und Architektur Irene Breuer | 135

Autorinnen und Autoren  | 155

­P hilosophie und Design Eine Einleitung Julia-Constance Dissel Um die Motivation für diesen Band zu skizzieren, scheint ein Rückgriff auf die Worte Wittgensteins in den Philosophischen Untersuchungen angebracht. Dort schreibt dieser: »Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen. (Man kann es nicht bemerken, – weil man es immer vor Augen hat.)«1

Man darf den Eindruck gewinnen, dass die Dinge, auf die sich Wittgenstein hier bezieht, die designten Artefakte meinen, mit denen wir uns im Alltag umgeben, also die mal mehr, mal weniger künstlerisch gestalteten und mit symbolischem Gehalt aufgeladenen Gebrauchsgegenstände, etwa Kleidungsstücke, Spielzeuge, Möbel, Handys, Autos, aber auch das Internet, die Werbung und vieles mehr, das sich dem Raum der materiell greifbaren Dinge entzieht, beispielsweise Infrastrukturen und Verhaltensweisen.2 Kaum etwas in unserem Leben wird heutzutage nicht designt, wenige unserer täglichen Aktivitäten sind nicht von Interaktionen mit Design begleitet. Das Design stellt einen essentiellen Ausgangspunkt der menschlichen Lebenspraxis und -qualität dar. So sehr das Design für das Menschsein als charakteristisch gelten darf 3, so sehr rückt es im Kontext täglicher Routinen jedoch in den 1 | Wittgenstein, Ludwig: Philosophische Untersuchungen, in: Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, 225–580, hier 129. Zitiert wird nach Nummern der Abschnitte. 2 | Vgl. Mareis, Claudia: Theorien des Designs, Hamburg: Junius 2014, S. 11. 3 | Vgl. Heskett, John: Toothpicks and Logos. Design in Everyday Life, New York: Oxford University Press 2002, S. 4.

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Randbereich unserer Aufmerksamkeiten. Es scheint sich insofern tatsächlich so zu verhalten, wie Wittgenstein es bemerkt hatte, je mehr sich die Dinge in unseren Alltag integrieren, sich uns annähern, desto stiller bleiben sie im Hintergrund unseres reflexiven Engagements verborgen. Auch für die akademische Landschaft und besonders für die Philosophie scheint diese Diagnose Geltung beanspruchen zu können,4 denn gerade im Kontext der systematischen Philosophie scheint das Design, mit wenigen Ausnahmen, eine Art »Schattendasein« gefristet zu haben. Diesen Sachverhalt möchte ich in dieser Einleitung etwas genauer beleuchten und ich möchte dabei schon gleich darauf hinweisen, dass sich bei näherer Betrachtung philosophiehistorisch durchaus Ansätze auffinden lassen, die nur darauf warten, für ein besseres Verständnis von Design auf dieses hin bezogen und in ihrer Relevanz für den zeitgenössischen Designdiskurs erschlossen zu werden. Die Beiträge in diesem Buch stellen derartige Bezugnahmen vor. Indem sie Schnittstellen offenlegen und Verknüpfungspunkte suchen, geben sie Impulse nicht nur für ein philosophisches Verstehen von Design im Allgemeinen, sondern auch für eine mögliche Philosophie des Designs, die es bisher in systematischer Hinsicht tatsächlich nicht zu geben scheint.

D as »S chat tendasein « des D esigns im Z eichen der P hilosophie : K unstphilosophie , Ä sthe tik und E thik Was wir herkömmlich unter Design verstehen, steht in spezifischer Verbindung zur Entwicklung der Industrialisierung, die im ausgehenden 18. Jh. in England ihren Anfang nimmt. Insbesondere im Verlauf des 20. Jh.s avancierte das Design dabei zum Inbegriff einer Verknüpfung von Technik und Form beziehungsweise Ästhetik. Was noch bis in die 1920er-Jahre unter Walter Gropius am staatlichen Bauhaus Weimar unter der Absicht des »Baus der Zukunft als einem Gesamtkunstwerk« firmierte, nämlich die Verbindung von 4 | Folgt man der Designwissenschaft, so gilt diese Annahme für die gesamte akademische Landschaft noch im 20. Jahrhundert. Vgl. z. B. Rittel, Horst: The Reasoning of Designers, Schriftenreihe des Instituts für Grundlagen der Planung, Universität Stuttgart 1988, S. 1–9, insb. S. 1. In den letzten Jahren und Jahrzehnten läßt sich gleichwohl ein gestiegenes Interesse an den theoretischen und methodischen Grundlagen des Designs, besonders in den Design-, Sozial- und Kulturwissenschaften, ausmachen.

Philosophie und Design

materieller Produktion als einem Handwerk und der selbstständigen künstlerischen Gestaltung (individuelle kunstgewerbliche Arbeit), entwickelte sich zunehmend, schon mit dem Umzug des Bauhauses in die Industriestadt Dessau, in Richtung eines Zusammenwirkens von industrieller Fertigungstechnik und zweckrationaler Gestaltung. Technik und Kunst sollten zunächst zusammengedacht und als Einheit praktiziert werden,5 wobei die Qualität der in erster Linie technisch zu gewährleistenden Gebrauchsfunktionalität sowie die der Ökonomie und der Reproduzierbarkeit gegenüber dem gestalterischen Ausdruck mehr und mehr an Relevanz zu gewinnen schienen, was sich nicht zuletzt in dem berühmten Gestaltungsleitsatz Form Follows Function manifestierte, bevor sich diese funktionalistische Auffassung in den 1970er-Jahren einer vehementen Kritik ausgesetzt sah. Das ehemalige »Kulturerneuerungsprojekt«6 des Bauhauses versam­ melte von Beginn an – wie auch noch die Ulmer Hochschule, die als Nachfolgeinstitution des Bauhauses in dessen Geist in Westdeutschland ab den 1950er-Jahren wirkte – neben Gestaltern jeglicher Art auch eine Reihe von Theoretikern, darunter Philosophen wie Rudolf Carnap, Helmuth Plessner oder Carl August Emge, die oft in Vorträgen das Modernisierungsprojekt in seinem größeren geisteswissenschaftlichen und gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang erhellen sollten. Auch die späteren Kritiker des durch die Ulmer Hochschule forcierten Funktionalismus wurden durch Protagonisten aus dem Umfeld der Philosophie bestätigt und mitgetragen, so etwa durch die Kritische Theorie oder den Poststrukturalismus. Beide Strömungen formulieren eine Kritik an der Dialektik der Moderne und somit auch an der Uniformierung des Lebens, hervorgerufen durch ein Design und eine Architektur, die im Zuge von Serienproduktionen und dem Glauben an die vereinheitlichende gute Form, all zu versachlicht und moralisch unbewohnbar geworden waren. Vor diesem Hintergrund wurde die Forderung nach Subjektivierung als Ausdruck einer kreativen Neuorientierung im Design immer lauter. 5 | So zumindest die Idee von Walter Gropius. Dessen Kollege Johannes Itten stellte vielmehr die Forderung auf, man solle sich entweder für individuelle Einzelarbeit entscheiden oder die Fühlung mit der Industrie suchen. Vgl. Wingler, Hans: Das Bauhaus 1919-1933. Weimar Dessau Berlin, Bramsche: Rasch 1962, S. 62. 6 | Ich beziehe mich hier auf einen Vortrag von Peter Erlanger, den dieser am 11. Deutschen Kongress für Philosophie über das Thema Philosophie und Design präsentierte.

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So läßt sich als eine Folge der Funktionalismuskritik ab den 1970er-Jahren eine deutliche Neuorientierung des Designs in Richtung Kunst vermerken und mit dieser in gewisser Hinsicht auch ein Bruch zwischen Philosophie und Design. Die Idee einer Einheit von Kunst und Technik im Design wie sie von Gropius imaginiert wurde, konnte sich jedenfalls nicht durchsetzen, vielmehr differenzierte es sich weiter in diese beiden Bereiche aus und auch die Philosophie folgte dieser Dichotomisierung im Zusammenhang der Etablierung einer fortschreitenden Kunstphilosophie auf der einen Seite und einer Technikphilosophie auf der anderen.7 Letztere bemüht sich heute um die materiellen und ideellen Grundlagen der Technisierung sowie ihrer normativen Folgen. Der Kunstphilosophie geht es demgegenüber primär um kunstimmanente Fragestellungen. Das Design wird dabei zumeist »nur« als Grenz- oder Sonderfall der »freien« Künste und somit im Theoriemodell der Kunst thematisiert oder wie im Kontext jüngerer ästhetischer Untersuchungen als Teilbereich einer sogenannten Alltagsästhetik: Der wohl prominenteste kunstphilosophische Versuch des 20. Jh.s Unterschiede zwischen Kunst und Alltags-, beziehungsweise Gebrauchsobjekten herauszuarbeiten, stammt von Arthur C. Danto.8 Anstoß für seine Überlegungen, die er in seinem Essay The Artworld und seiner Schrift The Transfiguration of the Commonplace kundtut, gaben die Brilloboxen Andy Warhols, die sich, zumindest rein äußerlich, von normalen Gebrauchsgegenständen so gut wie nicht unterscheiden lassen. Nach Danto habe die Kunst ihren Platz im institutionellen Rahmen, zu dem neben dem Kunstmarkt, den Kunstkritikern, Museen und Galerien auch die individuellen künstlerischen Theorien und die Geschichte selbst gehörten. Vor allem mit Bezug auf die letzten beiden Aspekte verstand Danto das Kunstwerk als interpretationsbedürftiges Phänomen, die »Metapher« als abweichende Äußerung oder Bedeutung wurde für ihn zum

7 | Stellvertretend für diese Sicht könnte folgender Reader stehen: Vermaas, Peter E./Kroes, Peter/Light, Andrew/Moore, Stephen A.: Philosophy and Design – From Engineering to Architecture, Dordrecht: Springer Science 2008. Der Reader bezeugt das philosophische Interesse an der Technik des Designs und ihren Problemstellungen, die Ästhetik als solche und die Verknüpfung von technischem Design und Ästhetik werden jedoch kaum diskutiert. 8 | Vgl. Danto, Arthur C.: The Transfiguration of the Commonplace. A Philosophy of Art, Harvard University Press 1981. Danto, Arthur C.: The Artworld, in: Journal of Philosophy. Vol. 61/1964, S. 571-584.

Philosophie und Design

Bürgen der Einzigartigkeit von Kunst gegenüber dem Alltäglichen.9 So war mit Danto eine kategoriale Differenzierung zwischen Kunst und Nicht-Kunst möglich,10 wenn auch nur vor dem Hintergrund der Einsicht, dass grundsätzlich alles des täglichen Lebens zur Kunst transformiert werden könne. George Dickies Institutionentheorie radikalisierte die Sicht Dantos, insofern er konstatierte, dass Kunst gänzlich durch den Kontext zu dem werde was sie ist, unabhängig von jeglichen Inhalten.11 Vor diesem Hintergrund konnte sich die osmotische Durchdringung von Kunst und Alltag, d.h. von Kunst und Design, immer weiter zuspitzen. Die Annäherung der Alltagsdinge an die »Regeln der Kunst« wurde nicht nur durch die »freien« Künste provoziert und im Kontext diverser Modifizierungen (Konzeptkunst, Fluxus, Raumkunst, Medienkunst) unterstützt, sondern besonders auch vom Designfeld vorgenommen, das bis heute unter dem Stichwort »Autorendesign« und durch Museumspräsentationen von Designikonen auf den von Danto und Dickie hingewiesenenen Legitimationsmechanismus der Kunst zurückgreift.12 Unser heutiges Verständnis von Design ist komplex, wir sprechen nicht mehr »nur« von Objekten, sondern von Prozessabläufen, Praktiken und Organisationen. Das gilt auch für die Kunst. Im Hinblick auf die Existenz der sich wechselseitig durchdringenden Praktiken und vor allem von Autorendesignern, scheint daher die Kunstphilosophie sich weitestgehend von der Frage des 20. Jh.s nach möglichen Gattungsunterschieden und disziplinären Grenzziehungen zwischen Kunst und Nicht-Kunst gelöst zu haben. Vielmehr scheint sie den Geltungsbereich Kunst, den Kunstbegriff, kontinuierlich auf neue Kreativitätsbereiche auszudehnen, was nicht zuletzt den stets wachsenden technischen Möglichkeiten und sich verändernden Ausdrucksformen geschuldet ist.13

9 | Vgl. Liessmann, Konrad Paul: Philosophie der modernen Kunst, Wien: Facultas 1999, S. 155. 10 | Gegenstände die nicht zur Interpretation aufrufen, die nur gebraucht oder lediglich missachtet werden, konnten nach Danto keine Kunstwerke sein. 11 | Vgl. Dickie, George: Art and the Aesthetic. An Institutional Analysis, London: Ithaca 1974; sowie Dickie, George: The Art Circle. A Theory of Art, Haven 1984. 12 | Vgl. Moebius, Stephan/Prinz, Sophia (Hg.): Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 19. 13 | Vgl. Zinsmeister, Annett (Hg.): Kunst und/ oder Design, Berlin: jovis 2013, S. 25.

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Nichtsdestotrotz oder gerade deshalb etabliert sich in der jüngeren Geschichte der Ästhetik eine Bewegung, die ihren Fokus auf gezielt jene Phänomene richtet, die von der Kunstphilosophie im Großen und Ganzen eher vernachläßigt wurden, die Phänomene des Alltäglichen. Zu diesen zählen neben Gebrauchsgegenständen auch der Umgang mit den Objekten sowie vieles mehr, wie zum Beispiel zwischenmenschliche Beziehungen und Tätigkeiten vom Essen bishin zum Putzen oder dem Baseballspielen. Derlei Theorien verweisen vor allem auf pragmatische Implikationen des Alltäglichen und auf das darin enthaltene ästhetische Potential.14 Sie sollten jedoch eher vorsichtig mit einer ästhetischen Erschließung des Designs gleichgesetzt werden. Mit ihren ästhetischen Theorien fokussieren die Verfechter nämlich eine Bedeutung von Ästhetik als rein sinnliche Erfahrung (Lusterfahrung). Hier stellt sich die Frage, inwiefern das Design dann noch als spezieller Artefakt- und Erfahrungsbereich von sämtlichen anderen täglichen Erfahrungsbereichen distinguiert werden könnte. Nicht zuletzt auch, weil durch die Rückbesinnung auf die sinnliche als körperliche Erfahrung die traditionell gewachsene Distinktion zwischen der ästhetischen Erfahrung (als Kunsterfahrung) und den körperlichen Gefühlen verloren geht, die für eine solche Differenzierung relevant scheint.15 Die von Alltagsästhetiken vorgenommene Betonung des Pragmatischen, auch des Nützlichen im Kontext der Ästhetik, 14 | Vgl. beispielsweise Haapala, Arto: On the Aesthetics of the Everyday oder auch Leddy, Thomas: The Nature of Everyday Aesthetics, beides in: Light, Andrew/ Smith, Jonathan (Hg.), The Aesthetics of Everyday Life, New York 2005, S. 39–55 und S. 3–22. Ebenso Yuriko, Saito: Everyday Aesthetics, in: Philosophy and Literature 25, Nr. 1, 2001, S. 87–95 sowie Crispin Sartwell: Aesthetics of the Everyday, in: Levinson, Jerrold (Hg.): The Oxford Handbook of Aesthetics, Oxford 2003, S: 761–770. Siehe auch: Leddy, Thomas: The Extraordinary in the Ordinary: The Aesthetics of Everyday Life, Peterborough: Broadview Press 2012. 15 | Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass in der Tradition, der ästhetischen Erfahrung als Kunsterfahrung auch reflexive Momente zugesprochen werden. Kunsterfahrung und in bedingter Analogie hierzu auch Designerfahrung, lässt sich damit nicht auf das Sinnliche beschränken. Obgleich sie im Sinnlichen verankert ist, drängt sie zur reflexiven Verarbeitung und bindet jede neue Erfahrung an diese zurück. Vgl. hierzu auch Parson, Glenn/Carlson, Allen: Functional Beauty, New York: Oxford University Press 2008, S. 180, 185. Zur Kritik an dieser Position siehe Forsey, Jane: The Aesthetics of Design, New York: Oxford University Press 2013, S. 214.

Philosophie und Design

lässt sich jedoch als eine deutliche Tendenz feststellen, die bei vereinzelten Autoren auch in die erneut aufgekommene Diskussion um potentielle Gattungsunterschiede zwischen Kunst und Design und um spezielle Eigenschaften von Design eingeholt wird.16 Einen solchen Versuch, der sozusagen in einer »vergleichenden Perspektive von Kunst und Design« an das »Charakteristische« des Designs heranzutreten sucht, stellt auch der Beitrag von Jakob Steinbrenner über das Thema »Wann ist Design – Design zwischen Funktion und Kunst« in diesem Band dar. Steinbrenner, der sich im Kern seiner Ausführungen auf das Industriedesign bezieht, macht u. a. Dantos Theorem der perzeptuell ununterscheidbaren Paare fruchtbar und er weist die Gebrauchsfunktionalität als Kernbestand der ästhetischen Reflexion über Design nach, was eine mehr oder weniger durchlässige Differenzierung von Kunst und Design ermöglicht. Was Design letztlich in einer »ontologischen« Perspektive aus Sicht der Ästhetik sein oder in welchen Weisen es bedeuten kann, wird allgemein und so auch in diesem Band nur eingeschränkt und als ein herantastender Versuch beantwortet werden können. Nicht zuletzt stellt die fortschreitende Globalästhetisierung und auch Technisierung beziehungsweise Digitalisierung unserer Lebenswelt, in der Design längst nicht mehr nur in den Grenzen der industriellen Produktion gedacht werden kann, die Philosophie vor Herausforderungen. Vor dem Hintergrund der skizzierten philosophischen Entwicklung erscheint es aber durchaus gerechtfertigt, dass manche der in diesem Band publizierten Beiträge das Produkt- beziehungsweise Industriedesign zum Kernbestand des Designs und ihrer Untersuchungen machen. Es sind nach wie vor auch gerade die industriell gefertigten Dinge, die neben Phänomenen der Architektur und der Werbung sowie der Massenmedien unseren Alltag am meisten mitbestimmen. Einer bedeutungsmäßigen Erschließung des Designs vor dem Hinter­ grund einer Untersuchung des Autodesigns als einer speziellen Form des Industriedesigns widmet sich Niklaus Schefer in diesem Band. Er schließt an die Revitalisierung der Rhetorik an und hierbei im Speziellen an die Metapherntheorie. Schefer spürt so einer Lesetechnik der Gebrauchsgegenstände 16 | Vgl. J. Forsey: The Aesthetics of Design. Siehe auch zum Begriff der Funktionalität: G. Parson/A. Carlson: Functional Beauty. Den Gattungsunterschied zwischen Kunst und Design thematisiert auch Dillworth, wenn auch primär im Hinblick auf die Rolle der Intentionalität: Vgl. Dillworth, John: Artworks versus Designs, in: British Journal of Aesthetics, Vol. 41, No. 2, April 2001.

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nach, die er zur Grundlage seines Aufweises der Zusammenhänge zwischen Philosophie und Design macht. Der Nachweis der Metapher im Design gewinnt bei Schefer als ästhetischer Grundbestand einer humanen Gesellschaft an konstitutiver Bedeutung. Nicht mit Formen des Produktdesigns, sondern vielmehr mit designerisch-künstlerischen und architektonischen Strategien befasst sich Irene Breuer in ihrem Beitrag. Dieser zielt auf eine phänomenologische Erschließung des für jede Art von Designerfahrung essentiellen Leib-Ort-Ding-Zusammenhangs. Breuers Ausführungen richten sich dabei im Kern auf den Begriff des architektonischen Raumes und hierbei im Besonderen auf die Feststellung des atopischen Raumes, mit dem, bedingt durch veränderte designerische Strategien, das Konzept der ästhetischen Erfahrung selbst als different gefasst werden muss. Design, das machen die versammelten Beiträge ersichtlich, strukturiert, formt und verändert durch seine symbolische und leiblich-erfahrbare Faktizität und Widerständigkeit die Lebenswelt und mit dieser auch den Menschen selbst. Es nimmt Bezug auf Befindlichkeiten, die es in Alltagssituationen bedient oder für spätere Erfahrungen erweitert. Derartige Befindlichkeiten sind jedoch selbstverständlich nicht nur ästhetischer Natur; das Ethische, also das Moral- und Sozialethische, formen ebenso fundamentale Ansprüche des Menschen an das Design der Artefakt- und Lebenswelt. Im Folgenden möchte ich nun auf den Bereich der Ethik zu sprechen kommen und auch hier kurz die Situation der philosophischen Reflexion auf das Design kommentieren. Ich beginne mit einem Blick auf die Lage in den Designwissenschaften selbst. Hier diskutiert man schon seit längerem darüber, dass das Design eine »primär […] wertsetzende Funktion« habe, »d.h. das Aushandeln und Festsetzen anzustrebender Ziele und Werte, das Festlegen eines Wertmaßstabes«17 im obersten Interesse von Designern stehen müsse. Der Designer als »Moralist«, das ist eine nicht ganz ungerechtfertigte Gleichsetzung, die allerdings, so weiß man heute, mit Vorsicht zu genießen ist, nimmt man beispielsweise die dogmatischen Züge der modernen Bestrebungen um die gute Form ernst. Die Frage nach dem guten Design erfährt trotz allem nach wie vor oder gerade wieder, nämlich als eine Folge der postmodernen Entwicklung zur ästhetischen Beliebigkeit und überinszenierten Rhetorik der künstlerischen Form, die zu einer gewissen Vernachläßigung der ökologischen 17 | Maser, Siegfried: Theorie ohne Praxis ist leer, Praxis ohne Theorie ist blind, in: Form, Heft 73, 1976, S. 40–42, hier S. 41.

Philosophie und Design

Verantwortlichkeiten geführt hat, große Beachtung.18 Gerade heute stehen Wertfragen hinsichtlich der Begriffe Nachhaltigkeit, Human Centeredness, Social Design und Gerechtigkeit und in diesen Zusammenhängen auch der Notwendigkeit ethischer Codes im Fokus designerischer Überlegungen. Was dabei auffällt, ist jedoch vor allem eines: Die Philosophie selbst als akademische Disziplin stellt nur einen eher geringen Anteil der Hauptakteure dieser Debatten. Formuliert in der Dimension der diagnostizierten Kunst-TechnikDichotomie, bleiben nämlich gerade im Bereich des gestalterisch geprägten Designs, gegenüber dem des technischen Designs, philosophische Analysen zur Ethik zurück. Während es z.B. in den Ingenieurwissenschaften und in der Architektur ausgefeilte Ethik-Codes gibt und Themen der Moral und Verantwortlichkeit im Umfeld von Robotik, Kybernetik und Gendesign die philosophische Aufmerksamkeit durchaus auf sich ziehen, existiert auf der »anderen« Seite des Designs, das gilt besonders für das Kommunikationsdesign, aber auch für das Produktdesign, kein philosophisch fundierter Diskurs über die begrifflichen wie konzeptuellen Grundlagen der moralischen und sozialen Verantwortlichkeiten,19 geschweige denn ein Konsens über ethische Kategorien zur Handlungsorientierung. Dieser Mangel an systematischer Grundlagenforschung scheint zumindest erst in jüngerer Zeit aufgearbeitet zu werden.20 Der Beitrag von Gerhard Schweppenhäuser »Die visuelle Sprache der Moral« in diesem Band ist in diesen speziellen Zusammenhang einzuordnen. Der Autor stellt darin die fundamentale Frage nach der Bewertung der Zwecke und Legitimationen der im Kommunikationsdesign eingesetzten Mittel auf der Basis philosophischer Theorieanwendung. Weiterhin stehen auch die Überlegungen von Kai Buchholz einerseits und von Hyun Kang Kim wie auch Anke Haarmann andererseits im Kontext der moralischen und sozialen Dimension des Designs. Während Buchholz dem Verweisungszusammenhang von Design und gutem Leben im Durchgang einer 18 | Vgl. z.B. Rummel-Suhrcke, Ralf: Gesellschaftliche Designrepräsentanz im Diskurs der sozial-ästhetischen Form, in: S. Moebius/S. Prinz, Das Design der Gesellschaft, S. 393f. 19 | Vgl. auch die Kritik an bestehenden Ethik-Codes bei Fideli, Allen: Ethics, Aesthetics, and Design, in: Design Issues, Vol. 10, Nr. 2 1994, S. 49-68, besonders S. 18. 20 | Hier sticht besonders folgende Publikation hervor: Bauer, Christian/Nolte, Gertrud/Schweppenhäuser, Gerhard: Ethik und Moral in Kommunikation und Gestaltung, Würzburg: Königshausen und Neumann 2012. Siehe auch den Beitrag von Gerhard Schweppenhäuser im vorliegenden Band.

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Verknüpfung philosophischer Ansichten und gestalterischer Umsetzungen nachgeht, beschäftigen sich die Beiträge von Kim und Haarmann auf ganz unterschiedliche Weise aus philosophischer Perspektive mit dem Begriff des Sozialen im Design. Kim spürt den philosophischen Fundamenten des Verantwortungsbegriffs im Design anhand einer systematischen Untersuchung der einschlägigen heideggerschen Begriffswelt und der Konzepte von Nancy Merleau-Ponty und Lévinas nach, während sich der Beitrag von Haarmann im Ausgang der Kritischen Theorie mit der Frage nach der Legitimation des ethischen Anspruchs im Begriff des »Social Design« auseinandersetzt. Die Beiträge dieses Bandes stehen für ein faktisches Interesse der deutschen Philosophie am Design und ihre Ergebnisse auch für eine Relevanz der philosophischen Reflexion des Designs. Auch wenn sich aus diesen keine »homogene« Philosophie des Designs im engeren Sinne ableiten lässt, so zeigen die Beiträge doch vielleicht in eine solche Richtung, mit der sich die Philosophie in ihrer ästhetischen und ethischen Dimension in Zukunft einmal mehr emanzipieren und ihre historisch gewachsenen Potentiale mobilisieren können wird. Die Grundlage zur vorliegenden Publikation bildet die interdisziplinäre Tagung Philosophical Perspectives on Design, welche im Januar 2015 an der Hochschule für Kunst, Design und Musik in Freiburg (Brsg.) stattfand. Besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang der Stiftung Deutsches Design Museum sowie der Landesbank Baden-Württemberg, ohne deren Förderungen weder die Tagung noch diese Publikation möglich gewesen wären. Zu danken ist außerdem den Autorinnen und Autoren und des Weiteren Stephan Rümpler, Jessica Bühler, Ferdinand Schwieger, Maria-Elisabeth Rudolf sowie Luisa Döderlein für die freundliche Unterstützung auch bei der Herstellung des Manuskripts und letztendlich auch dem transcript Verlag für die redaktionelle Begleitung des Projekts.

Design und Philosophie Auf der Suche nach dem guten Leben Kai Buchholz Auf den ersten Blick gibt es zwischen Philosophie und Design kaum Verbindungen. Vergleicht man spontan typische Vertreter der beiden Disziplinen miteinander, scheint sich dieses Vorurteil eher zu bestätigen. Beispielsweise: Henry van de Velde, Walter Gropius, Norman Bel Geddes und Alvar Aalto einerseits; Aristoteles, Blaise Pascal, Ludwig Wittgenstein und Jean-Paul Sartre andererseits. Völlig unterschiedliche Tätigkeitsformen stehen plötzlich vor unserem geistigen Auge – bei den Gestaltern die Arbeit am Zeichentisch, die Gespräche mit Ingenieuren und Auftraggebern, das Interesse für Formen, Farbnuancen und Materialeigenschaften; bei den Philosophen die Arbeit am Schreibtisch, das Lesen, Nachdenken und Schreiben, Vorträge vor mehr oder weniger intellektuellem Publikum. Auch die Resultate dieser Tätigkeitsformen unterscheiden sich voneinander. Designer greifen unmittelbar in unsere Lebenswirklichkeit ein. Sie interpretieren die Welt nicht nur, sondern verändern sie. Allerdings haben auch die kommunikativen Handlungen der Philosophen unsere Kultur entscheidend geprägt. Wer hat die Welt am Ende stärker beeinflusst? Bruno Paul, Le Corbusier und Ettore Sottsass oder Platon, Kant und Marx? Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten. Auf den zweiten Blick ergeben sich zwischen Design und Philosophie dennoch intime Berührungspunkte. Walter Kaufmann hat die Qualität philosophischer Arbeit sehr treffend davon abhängig gemacht, in welchem Maße es gelingt, klares, logisches Denken mit einem Gespür für die existenziellen, menschlichen Fragen zu verbinden.1 Und genau diesen Anspruch, methodische Strenge und menschliche Gefühlstiefe gleichbe1 | Vgl. Kaufmann, Walter: Critique of Religion and Philosophy, Princeton: Princeton University Press 51990, S. 20-61. Zum selben Punkt vgl. auch Schmitz,

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rechtigt zu verwirklichen, teilt der ideale Designer mit dem idealen Philosophen. Gute Gestaltung erfordert nämlich nicht nur eine klar strukturierte Durchdringung menschlicher Lebens- und Handlungsabläufe, sondern auch ein außergewöhnlich hohes Einfühlungsvermögen.2 Gerade im Unterschied zu den Wissenschaften geht es der Philosophie nicht darum, Theorien aufzustellen.3 Vielmehr fragt sie letztlich nach dem guten Leben, nach dem, was die antiken Philosophen das εὖ ζῆν nannten. Genau diese Frage treibt auch die Designer an.4 Zumindest dann, wenn sie ihren Beruf ernst nehmen und sich nicht daran beteiligen, die Konsumspirale mit oberflächenkosmetischem Flitter weiter anzuheizen.5

D esigner über das gute L eben Das lässt sich an konkreten Fällen nachweisen. Zum Beispiel an Philippe Starck, einem Designer, bei dem man nicht unbedingt philosophischen Tiefgang vermuten würde. Unter dem Titel Starck explications erscheint zur großen Starck-Ausstellung 2003 im Pariser Centre Pompidou ein kleiner rosafarbener Katalog, in dem Starck Rechenschaft über seine verschiedenen Arbeiten ablegt. Dort erklärt er auch, was es mit seinem Stofftier TeddyBearBand auf sich hat. Er schreibt: »J’aime l’amour unique, j’aime la fidélité […]. Si vous voulez rester toute votre vie avec votre femme ou avec votre mari, eh bien, il faut être riche de possibilités et ne pas être ennuyeux. D’où TeddyBear, le nounours aux multiples têtes : une tête d’âne, une tête de chien, une tête de lapin, une tête de chameau, que sais-je ! La Hermann: Der unerschöpfliche Gegenstand. Grundzüge der Philosophie, Bonn: Bouvier 32007, S. 5-16. 2 | Vgl. z.B. Aicher, Otl: »Design und Philosophie«, in: Ders., Analog und digital, Berlin: Ernst & Sohn 1991, S. 73-91. 3  |  Vgl. z.B. Buchholz, Kai/Hemmati, Minu: »Vom Nutzen der Geisteswissenschaften«, in: Universitas 53 (1998), S. 1082-1086. 4 | Vgl. dazu auch Buchholz, Kai: »Design«, in: Ralf Konersmann (Hg.), Handbuch Kulturphilosophie, Stuttgart/Weimar: J. B. Metzler 2012, S. 200-206. 5 | Vgl. Buchholz, Kai: »Der mündige Konsument«, in: Gernot Böhme (Hg.), Der mündige Mensch, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2009, S. 140/141.

Design und Philosophie

même personne offrant de multiples facettes, on ne s’ennuie pas avec elle… on ne s’ennuie pas avec ce nounours.« 6

Abbildung 1: Philippe Starck, TeddyBearBand

Quelle: © Philippe Starck

Dieses Stofftier soll dem Kind also die Fähigkeit zu treuer Liebe beibringen, indem es mit seinen verschiedenen Köpfen viele Reize bietet und so niemals langweilig wird. Starcks Entwurf liegt fraglos eine Wertsetzung zugrunde – nämlich die, dass treue Liebe ein menschliches Gut sei. Aber ist diese Norm wirklich wertvoll? Oder ist sie vielleicht nur Ausdruck einer bestimmten Ideologie? Speist sie sich vielleicht aus einer katholisch-dogmatischen Konzeption von Ehe? Beruht sie auf einem romantischen Vorurteil? Oder sogar auf dem modernen Individualismus, der letztlich eine problematische Ausgeburt der arbeitsteiligen kapitalistischen Gesellschaft ist?7 Erich Fromm jedenfalls vertritt in seinem Bestseller The Art of Loving (1956) die Auffassung, dass unser individualistisches, besitzorientiertes Liebesverständnis wesentlich von der kapitalistischen Wirtschaftsform geprägt sei und potenzielle Liebespartner wie Waren mit einem bestimmten Cluster an positiven und negativen Eigenschaften beurteile. Und schließlich sei daran erinnert, dass Platon, der mit Abstand einflussreichste Liebesphilosoph, überzeugend darlegt, dass wahre Liebe sich nicht für das Individuelle begeistere, sondern für das Gute – das ἀγαθόν. Wie dem auch sei, eins ist klar: Die gestalterische Qualität

6 | Starck, Philippe: Starck explications, Paris: Editions du Centre Pompidou 2003, S. 224/225. 7 | Vgl. dazu vor allem Theunissen, Michael: Selbstverwirklichung und Allgemeinheit. Zur Kritik des gegenwärtigen Bewußtseins, Berlin/New York: de Gruyter 1982, S. 2-11.

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Kai Buchholz

von Starcks Stofftier lässt sich erst beurteilen, wenn wichtige Fragen das gute Leben betreffend beantwortet sind. Ein Designer, der sich sehr intensiv und direkt mit philosophischen Problemen beschäftigt hat, ist Otl Aicher. Er entwirft unter anderem das Erscheinungsbild der Olympischen Spiele 1972 in München. Es geht ihm vor allem darum, einen Gegensatz zu den nationalistisch geprägten Spielen 1936 in Berlin zu schaffen. Demokratisch und weltoffen, als freundlicher Gastgeber auf Völkerverständigung bedacht – so soll sich Deutschland diesmal präsentieren. Das sind die Werte, an denen Aicher sein gestalterisches Konzept ausrichtet. Die fröhlichen Regenbogenfarben, die er der oberbayerischen Landschaft ablauscht, werden diesem Ansinnen auf ideale Weise gerecht. Auch Aichers berühmte Piktogramme, die einer Verständigung über die Sprachgrenzen hinweg dienen, entsprechen dieser Zielsetzung voll und ganz. Sein Maskottchen, der Olympia-Waldi, bringt das noch einmal ironisch auf den Punkt: Den Dackel – Sinnbild des bösen, engstirnigen Deutschen – überzieht Aicher mit genau der Farbpalette, die er in Plakaten, Infoheften, Kleidungsstücken usw. verwendet und die für eine demokratische Vielfalt von Lebensauffassungen steht. Abbildung 2: Grafische Darstellung des Olympia-Waldi von Otl Aicher

Quelle: HfG-Archiv Ulm; © Florian Aicher

Dieselben demokratischen Wertvorstellungen verfolgt Aicher auch mit seinem Bilderbogen für die Ausstellung Wilhelm von Ockham – das Risiko modern zu denken, die 1986 von der Bayerischen Rückversicherung in München ausgerichtet wird. Aicher gestaltet farbige Plakate, die das Leben des Philosophen und die gesellschaftlichen Verhältnisse seiner Zeit illustrieren. Ockham hat im Universalienstreit die Position des Nominalismus vertreten. Er ist für Aicher deshalb so etwas wie der Erfinder des modernen Denkens. Theologisch habe das zur Konsequenz, das Verständnis von Gott nicht den Dogmen der Kirche zu überlassen, sondern als etwas zu begreifen, das im konkreten Lebensvollzug gewonnen und verwirklicht werden müsse.

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Deshalb wählt Aicher auch eine nicht-perspektivische, nicht-naturalistische Darstellungsform. Diese mache – ganz im Sinne Ockhams – von sich aus deutlich, dass die begrifflichen Werkzeuge, mit denen wir operieren, keine ewigen Realitäten, sondern Produkte unseres Denkens seien.8 In seinem Aufsatz Lebensform und Ideologie beleuchtet Aicher die politische Dimension dieser Auffassung. Er schreibt: »[Jesus] wollte keine Schriftgelehrten. Er ließ nichts aufschreiben. Er predigte für das Volk, er lebte unterm Volk. […] Jesus brachte den Menschen selbst ins Gespräch mit Gott, er vermied den Umweg über eine Vertreterinstitution. […] Und im Wesentlichen blieb das so, bis am Ende des Römischen Reiches das Christentum zur Staatsreligion erhoben wurde und die bestehenden Rituale als eine ideologische Stützung des Staates verstanden wurden.« 9

Aichers Design wird insgesamt von einer pragmatisch-nominalistischen Anthropologie10 und demokratischen Werten getragen, die sich für ihn aus seinen eigenen Erfahrungen mit der Nazidiktatur ergeben. Ganz analog verdankt sich die Lebensauffassung der niederländischen Konstruktivisten ihren Erfahrungen des Ersten Weltkriegs, der flächendeckend als menschliche Tragödie empfunden wurde. In ihrem ersten, 1918 verfassten Manifest erklären sie, dass die bisherige hierarchische, aufTraditionen, Dogmen und dem Individualismus aufbauende Gesellschaftsordnung überwunden werden müsse. Dagegen solle ein »gleichmäßiges Verhältnis des Universellen und des Individuellen«11 geschaffen werden: die

8  |  Vgl. Aicher, Otl: »Architektur und Erkenntnistheorie«, in: O. Aicher: Analog und digital, S. 93. 9 | Aicher, Otl: »Lebensform und Ideologie«, in: O. Aicher: Analog und digital, S. 174/175. 10  |  Vgl. O. Aicher: Design und Philosophie, S. 91: »Philosophie und Design gehen auf einen gemeinsamen Punkt zu, Philosophie im Denken, Design im Machen. Dieser Punkt ist, daß unsere Welt im Zustand ihrer Herstellung ist. Sie ist entworfen, sie ist gemacht, wir müssen im Gebrauch sehen, wie gut, wie schlecht wir sind.« 11 | Doesburg, Theo van/Hoff, Robert van ‘t/Huszár, Vilmos/Kok, Antony/Mondrian, Piet/Vantongerloo, Georges/Wils, Jan: »Manifest I von ›Der Stil‹, 1918«, in: Hagen Bächler/Herbert Letsch (Hg.), De Stijl. Schriften und Manifeste, Leipzig/ Weimar: Gustav Kiepenheuer Verlag 1984, S. 49.

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»Bildung einer internationalen Einheit in Leben, Kunst, Kultur«12. Wie Theo van Doesburg es in De grondbegrippen der nieuwe beeldende kunst (1919) darlegt, müsse man sich dafür den elementaren Ausdrucksmitteln wie den Grundfarben Rot, Blau, Gelb oder den Nichtfarben Schwarz, Weiß, Grau zuwenden und diese für die neue Gestaltung der menschlichen Umwelt nutzbar machen.13 Aber was bedeutet das genau? Darüber gibt wiederum Piet Mondrian – der Kopf der Bewegung – in seinem Buch Neue Gestaltung, Neoplastizismus, nieuwe beelding (1923) Auskunft. Die elementaren Ausdrucksmittel sollen, so Mondrian, in Kunst und Umweltgestaltung dafür sorgen, dass sich die Menschen von der mimetischen Wiedergabe der physischen Welt oder des Gefühlslebens abwenden und eine Harmonie von beidem anstreben. Wirklich verstehen lässt sich dieses Anliegen nur, wenn man den theosophischen Hintergrund von Mondrians Weltanschauung mit einbezieht. Mondrian tritt 1909 der Theosophischen Gesellschaft in Amsterdam bei – ein Vortrag von Rudolf Steiner hatte ihn dazu bewogen. Sein Triptychon Evolutie von 1911 ist der Versuch, die theosophische Vision der Menschheitsentwicklung vom Physischen über das Seelische zum Geistigen zu visualisieren.14 Diesen drei Stadien entsprechen die auf den drei Tafelbildern dargestellten Frauenfiguren. Die linke symbolisiert das dem Physischen verhaftete Leben – dadurch zum Ausdruck gebracht, dass ihre Brustwarzen und ihr Bauchnabel nach unten, zur Erde hin zeigen. Die geschlossenen Augen verdeutlichen, dass menschliches Leben hier noch nicht zu vollem Bewusstsein gelangt ist. Darauf folgt, in der rechten Figur dargestellt, eine Lebensweise, die vornehmlich um die innere Welt kreist. Die gleichzeitig nach oben und nach unten weisenden Brustwarzen und der ebenso geformte Bauchnabel zeigen an, dass es sich um einen Zustand der Zerrissenheit handelt: Äußere Welt und menschliche Seele werden als Widerspruch empfunden. Und auch hier wieder die geschlossenen Augen als Zeichen für das noch nicht voll erwachte Bewusstsein. Erst der Bezug zum Universellen – wie er auch 1918 im von Mondrian unterzeichneten Manifest gefordert wird – öffnet dem Menschen die Augen. Dieses letzte Stadium, Mondrian spricht hier auch vom »Voll12 | Ebd. 13  |  Vgl. Doesburg, Theo van: Grundbegriffe der neuen gestaltenden Kunst, München: Langen 1925, S. 15. 14 | Vgl. Welsh, Robert P.: »Mondrian and theosophy«, in: Piet Mondrian 18721944. Centennial Exhibition, New York: Solomon R. Guggenheim Museum 1971, S. 35-51.

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menschentum«15, soll die mittlere Frauengestalt mit dem höheren Bildrahmen veranschaulichen. Sie lebt in Harmonie mit ihrer Umgebung, da sie ihre Aufmerksamkeit nicht auf die individuelle Erscheinung der Dinge in der Welt oder auf die inneren Gefühle richtet, sondern auf das Universelle. Die nach oben weisenden Brustwarzen und der nach oben weisende Nabel sollen das symbolisieren. Abbildung 3: Piet Mondrian, Evolutie

Quelle: Wikipedia

Die von Elena Blavatskaja Ende des 19. Jahrhunderts gegründete theosophische Bewegung will dem menschlichen Orientierungsbedürfnis eine neue Grundlage geben. Der christliche Glaube war durch die Evolutionstheorie massiv in Frage gestellt worden und hatte seine Sinn stiftende Kraft weitgehend eingebüßt. Deshalb versucht Blavatskaja in ihrem Buch The Secret Doctrine (1888), evolutionstheoretisches Denken mit allen bisherigen religiösen und esoterischen Traditionen zu verbinden. Dadurch soll der gemeinsame, lebensorientierende Kern dieser verschiedenen Weltanschauungen herausgeschält und die objektive Basis für die richtige menschliche Lebensweise geschaffen werden. Die drei Phasen des Materiellen, des Seelischen und des Geistigen übernimmt Mondrian direkt aus der Theosophie.16 Wie immer man diesen Lösungsvorschlag beurteilen mag, 15 | Vgl. Mondrian, Piet: Neue Gestaltung, Neoplastizismus, nieuwe beelding, München: Langen 1923, S. 5-7; 54-58. 16 | Vgl. Steiner, Rudolf: Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung, Dornach: Rudolf Steiner Verlag 322009 [1904], S. 23-53.

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fruchtbar ist sicher Mondrians Einsicht, dass die Frage nach gelungener Umweltgestaltung mit den letzten Lebensfragen zusammenhängt. Genau dieser Gedanke ist das wirklich Interessante und Wichtige am International Style. Nicht etwa die platte Verehrung bestimmter »Designklassiker« und auch nicht die plumpe Rede von schlichter, einfacher oder funktionaler Gestaltung. Funktionalität einzufordern, ist im Übrigen gar keine Erfindung der sogenannten »Moderne«, sondern ein Anliegen, das bereits vom Jugendstil formuliert wird. So zum Beispiel von Emile Gallé, dem Präsidenten der französischen Ecole de Nancy. In seinem 1900 veröffentlichten Aufsatz Le mobilier contemporain orné d’après la nature schreibt Gallé klar und deutlich: »Un meuble doit être fait pour servir, une chaise […] est faite pour procurer repos et assiette à une humanité qui a des reins, des jambes et des dos.«17 Ein Möbelstück ist ein Gebrauchsgegenstand; ein Stuhl muss menschlichen Körpern mit Beinen und Rücken angepasst sein. Im selben Text spricht sich Gallé aber auch dafür aus, Formen von Pflanzen und Tieren in die Gestaltung von Gebrauchsgegenständen einzubinden. Dabei sollten diese Formen in symbolischer Weise mit der Funktion der jeweiligen Gegenstände verknüpft werden. Ein Zigarrenschränkchen etwa könne vorzüglich mit Stängeln, Blüten und Blättern der Tabakpflanze verziert werden.18 Was genau steckt hinter dieser Idee? Ihr Sinn lässt sich an Gallés Entwurf Aube et crépuscule nachvollziehen. Dieses von Henri Hirsch anlässlich seiner Hochzeit in Auftrag gegebene Bett wird 1904, im Todesjahr Gallés, ausgeführt. Die Themen »Morgengrauen« (aube) und »Abenddämmerung« (crépuscule) sind in Form opulenter Schnitz- und Intarsienarbeiten am Fuß- und Kopfende des Bettes dargestellt. Das Fußende zeigt im Vordergrund ein Falterpaar, dessen symmetrisch gegeneinander geschwungen Flügel nahezu die gesamte Fläche einnehmen. Die beiden Falter sitzen auf einem milchigen Opalglas-Ei, in das kleine Nachtfalterkinder eingraviert sind. Das Kopfende bedeckt ein Schmetterling, der vor einer dunklen Landschaft die Flügel ausbreitet und auf den Betrachter zufliegt. Diese Insektenbilder verweisen symbolisch auf den ewigen Lebenskreislauf von Zeugung, Geburt und Tod. Offensichtlich eine Anspielung auf das Ehebett als Ort des Kinderzeugens. Gallés Insektenmotivik ist aber 17 | Gallé, Emile: »Le mobilier contemporain orné d’après la nature«, in: Revue des arts décoratifs 20 (1900), S. 340. 18 | Vgl. ebd., S. 365.

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noch auf andere Weise mit dem Gebrauchswert des Bettes verwoben. Morgengrauen und Abenddämmerung stehen ja in engem funktionalen Zusammenhang mit diesem Möbel, da sie die Zeiten des Aufstehens und des Zubettgehens sind. Das Motiv der Abenddämmerung am Kopfende hilft dem zu Bett Gehenden, die Gedanken, die ihm noch durch den Kopf gehen, fahren zu lassen und die nötige geistige Ruhe und Entspannung zu finden. Das Morgengrauen auf der Vorderseite des Fußendes spornt dagegen morgens dazu an, von den Füßen her den noch müden Körper in Bewegung zu setzen und aufzustehen. Im selben Jahr wie dieses Bett entsteht eine Arbeit, die die philosophische Seite an Gallés Entwurfstätigkeit noch eindringlicher hervortreten lässt: die Glasskulptur La main aux algues et aux coquillages. Sie zeigt eine von algenartigen Strukturen durchzogene menschliche Hand, die sich aus blaugrünen Meereswellen emporstreckt und an deren Fingern verschiedene Muscheln wie schmückende Ringe haften. Versinnbildlicht wird hier die evolutionsbiologische Entwicklung des Menschen: von den ersten Meereslebewesen über Algen und Wassertiere bis zu den Hominiden, deren Hände durch den abspreizbaren Daumen zu Werkzeugen werden, mit denen sich die Welt nach den eigenen Bedürfnissen umgestalten lässt.19 Die gläserne Hand steht also für das Wunder Mensch, das sich aus den Grenzen der Natur befreit hat. Dieses faszinierende Wunder, das menschliche Leben, gilt es für Gallé zu bewahren. Und genau dazu will er mit seinen kunstgewerblichen Entwürfen beitragen. In einer Tischrede vor lothringischen Künstlern im Februar 1901 stellt er das unmissverständlich klar: Die Gestalter der menschlichen Lebenswelt sollen seiner Ansicht nach Anwälte der Linie, der Farbe, kurz: der Schönheit sein. Inmitten der durch die Industrialisierung hässlich gewordenen Städte sollen sie dafür sorgen, dass die Menschen wieder natürliche Schönheit umgibt. Damit würden sie auch zur ethischen Verbesserung der Menschheit beitragen:

19 | Vgl. Tacon, François Le: Emile Gallé ou le mariage de l’art et de la science, Paris/Chennevières-sur-Marne: Editions Messene/Jean de Cousance, Editeur 1995, S. 138/139.

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»La beauté naturelle des choses est, en effet, dans un ordre inférieur sans doute, assimilable à la bonté morale, et ces émotions innocentes sont des degrés vers la vertu et la justice qui, dans l’ordre spirituel, sont aussi des beautés excellentes.«20

Alle vier Beispiele belegen eindrucksvoll: Designer, die an einer menschengerechten Gestaltung unserer Umwelt interessiert sind, richten ihre Entwürfe an Wertvorstellungen aus, die letztlich die Frage nach dem guten Leben betreffen. Bei Starck ist es die treue Liebe, bei Aicher das undogmatische, demokratisch verfasste Zusammenleben, bei Mondrian der Einklang von Materie, Seele und Geist, bei Gallé sind es Gerechtigkeit und natürliche Schönheit. An diesem Punkt besitzt die gestalterische Arbeit eine genuin philosophische Dimension.

P hilosophische P erspek tiven Doch was hat die Philosophie selbst zur Frage nach dem guten Leben beziehungsweise – anders ausgedrückt – nach dem Sinn des Lebens zu sagen? Leider wird die Frage vom Durchschnittsbürger heute nur noch selten gestellt. Und auch in der öffentlichen Diskussion spielt sie kaum eine Rolle. Allenfalls hört man Dinge wie »Diese Frage lässt sich nicht beantworten« oder »Was sinnvolles Leben ist, muss jeder für sich selbst entscheiden«. Diese Ansichten sind wenig überzeugend: Ob sich eine Frage beantworten lässt, kann man doch wohl nur dann herausfinden, wenn man ausgiebig nach der Antwort gesucht hat. Und wenn jeder ohnehin schon weiß, worin der Sinn des eigenen Lebens besteht, müsste es doch auch jeder sagen können. Die Philosophie hat hier jedenfalls in ihrer mehr als 2000-jährigen Geschichte Anstrengungen unternommen, die es wert sind, zur Kenntnis genommen zu werden. Aristoteles beschäftigt sich mit den letzten Lebenszielen des Menschen im ersten Buch seiner Nikomachischen Ethik.21 Er macht zunächst deutlich, dass es oberste Güter geben muss, da sonst alles Handeln ein sinnloses Streben wäre. Wenn wir beispielsweise Handlungen des Essens ausführen, um zu überleben, so ist dieses Handeln erst dann sinnvoll, wenn wir auch wis20 | Gallé, Emile: »Toast prononcé au banquet des artistes lorrains le 16 février 1901«, in: Ders., Ecrits pour l’art, Paris: Librairie Renouard/H. Laurens, Editeur 1908, S. 279. 21 | Vgl. Aristoteles: Nikomachische Ethik. 1094a-1096a.

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sen, was wir aus unserem Leben machen wollen. Wir können von Aristoteles vielleicht nicht lernen, worin ein sinnvolles Leben positiv besteht, sehr wohl aber – und das ist mindestens genauso wichtig – welche Ziele sich nicht als oberste Lebensziele eignen, wenn das Leben gelingen soll. Die von ihm als sinnlos erwiesenen Lebensziele gehören wohl auch heute noch zum von den meisten Menschen letztlich Erstrebten: Geld, Lustgewinn und Ehre. Sehr klar und überzeugend legt Aristoteles dar, warum sich diese Dinge nicht als höchste Güter oder oberste Werte eignen: Das Leben des Geldmenschen sei deshalb sinnlos, weil Geld ein Mittel sei, um andere Güter zu erwerben. Wer aber ein Mittel zum Selbstzweck erhebe, handele in höchstem Maße pervers. Auch Lustgewinn könne nicht das oberste Gut sein. Zwar stelle er sich als Folge der richtigen Lebensweise automatisch ein, wer ihn aber zur Triebfeder des eigenen Handelns mache, dessen Leben versinke objektiv in Bedeutungslosigkeit, da Lustgefühle immer temporär, also vergänglich seien. Und auch das Streben nach Ehre und Anerkennung erweist sich als sinnlos. Der wahre Wert liege hier nämlich in demjenigen, der die Ehre spende, und nicht in demjenigen, der sie empfange. Wer nach Ehre strebe, sei sich des eigenen Wertes nicht sicher und suche deshalb die Anerkennung urteilsfähigerer Menschen. Aus den Pensées von Blaise Pascal geht ergänzend hervor, dass sich die Sinnfrage nicht losgelöst von der menschlichen Sterblichkeit beantworten lässt. In seinen mathematischen und physikalischen Forschungen beschäftigt sich Pascal mit dem Unendlichen in Raum, Zeit, Zahl und Begriff. Dadurch erscheint ihm der einzelne Mensch – zwischen Geburt und Tod in ein relativ kurzes Leben eingespannt – wie ein Schilfrohr im Sturm oder ein Tropfen im Ozean. Der Durchschnittsmensch tendiere nun dazu, diese eigene Sterblichkeit zu verdrängen. Er suche nach ständiger Zerstreuung und habe Angst, allein und ohne besondere Beschäftigung in einem Zimmer zu sitzen. Pascal stellt klar, dass wenn menschliches Leben überhaupt sinnvoll sein könne, dann nur unter der Bedingung, dass wir uns der eigenen Sterblichkeit stellten und diese nicht durch Zerstreuung (divertissement) zu verdecken versuchten.22 Die pessimistische Sicht Pascals greift wiederum Arthur Schopenhauer auf. Er unterscheidet eine Welt des Willens und eine Welt der Vorstellung. Die Welt des Willens ist die Welt des Handelns, die Welt der Vorstellung die 22 | Vgl. Pascal, Blaise: »Pensées«, in: Ders., Œuvres complètes, Paris: Editions du Seuil 1963, S. 516-518.

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der interesselosen Betrachtung der Welt. Schopenhauer geht davon aus, dass die Welt des Willens Ursache allen menschlichen Leids sei, da erst durch das mit dem Handeln verbundene Wünschen die Möglichkeit der Frustration entstehe. Abhilfe könne die Schönheit schaffen. Sie banne den Menschen nämlich in der Welt der Vorstellung. Im Sinne Kants setze die Wahrnehmung des Schönen eine interesselose Einstellung der Welt gegenüber voraus und löse damit auch die Frage nach dem Sinn des Lebens.23 In seinem 1927 publizierten Aufsatz Vom Sinn des Lebens setzt Moritz Schlick, der Begründer des Wiener Kreises, direkt bei Schopenhauer an, den er wie folgt paraphrasiert: »Woher kommt der sonderbare Widerspruch, daß Vollbringen und Genießen sich nicht zu einem rechten Sinn zusammenschließen wollen? […] Der Mensch setzt sich Ziele, und während er ihnen zufliegt, beflügelt ihn zwar die Hoffnung, zugleich aber zehrt an ihm die Unlust des unbefriedigten Verlangens. Ist aber das Ziel erreicht, so folgt, nachdem das erste Triumphgefühl verrauscht ist, unausweichlich eine Stimmung der Öde. Eine Leere bleibt zurück, die […] erst durch das schmerzvolle Auftauchen neuen Verlangens, durch die Setzung neuer Ziele ein Ende finden kann. So beginnt das Spiel von neuem, und das Dasein scheint ein rastloses Hin- und Herpendeln zwischen Schmerz und Langeweile sein zu müssen, das schließlich im Nichts des Todes endet. – Dies ist der berühmte Gedankengang, den Schopenhauer zur Grundlage seiner pessimistischen Lebensauffassung gemacht hat. Ist es nicht möglich, ihm auf irgendeine Weise zu entrinnen?«24

Schlick folgt dann nicht Schopenhauer, sondern beharrt darauf, dass menschliches Leben im Kern Bewegung und Handeln bedeute. So gelangt er zu der Einsicht, dass diejenigen Handlungen, die dem Leben seinen Sinn verliehen, Selbstzweckhandlungen sein müssten – Handlungen, die um ihrer selbst willen ausgeführt würden. Solche Handlungen sieht Schlick paradigmatisch in den Spielhandlungen verkörpert, weshalb er folgert: »nur im Spiel erschließt sich der Sinn des Daseins«. Diese Einsicht bezieht Schlick dann auf drei unterschiedliche Arten des Handelns: das ästhetische, das ethische und das wissenschaftliche Handeln. Nur, wenn diese im Modus des Spielens, d.h. selbstvergessen und rein um des entsprechend Schönen, Guten und Wahren 23 | Vgl. Schopenhauer, Arthur: »Zur Metaphysik des Schönen und Ästhetik«, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 490-532. 24 | Schlick, Moritz: »Vom Sinn des Lebens«, in: Symposion 1 (1927), S. 332.

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willen ausgeführt würden, verliehen sie dem Leben des Handelnden einen Sinn. Schönes hervorbringen, um Geld zu verdienen, Gutes tun um der Ehre willen oder nach wissenschaftlicher Wahrheit streben, um sich mit technischen Mitteln einen Lustgewinn zu verschaffen, das könne dagegen letztlich nicht zur Erfüllung führen. Schlicks Überlegungen verweisen auf den unübertroffenen Großmeister der Philosophie: auf Platon, der das Gute, Schöne und Wahre als dasselbe in verschiedenem Gewand ansieht. Das richtige Leben führt er uns in der Figur des Sokrates vor, der diejenige Liebe verteidigt, der es wirklich um das Schöne geht, der in seinem Reden und Handeln für das Gute streitet, der sich nicht von den Scheinargumenten der Sophisten blenden lässt, sondern immer Argumentationsformen verfolgt, die zum unumstößlich Wahren führen und der – das muss man leider hinzufügen – von seinen Mitmenschen zum Tode verurteilt wird.25

F a zit Für das Design folgt daraus: Die Frage nach guter Gestaltung zielt nicht nur darauf ab, ob ein Gebrauchsgegenstand seine eng abgezirkelte Zweckfunktion erfüllt, sondern ob er sich hilfreich in die übergeordneten Lebensziele seiner Benutzer einfügt beziehungsweise ob er, anders ausgedrückt, eine günstige Rolle im Gesamtgewebe der Lebensgeschichten und des Lebensteppichs der ihn gebrauchenden Menschen spielt.26 Diesen übergeordneten Standpunkt muss der Designer im Auge behalten, wenn er menschengerechte Gebrauchsgegenstände entwerfen will. Was der Designer letztlich zu gestalten hat, sind eben nicht Dinge, sondern gelingende Zusammenhänge menschlichen Lebens. Und hierin sind Designer und Philosophen einander wesensverwandt. Dabei können Designer von den allgemeinen Einsichten und Gedankengängen der Philosophen lernen, während umgekehrt Philosophen ein vertieftes Verständnis konkret gelungenen menschlichen Le25 | Vgl. vor allem Schrastetter, Rudolf: Der Weg des Menschen bei Plato, Phil. Diss. München 1966. 26 | Vgl. auch Buchholz, Kai: »Brauchbarkeit, Lebensformen und unsichtbares Design«, in: Kai Buchholz/Klaus Wolbert (Hg.), Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten, Darmstadt: Häusser-Media 2004, S. 96-105; K. Buchholz: Der mündige Konsument, S. 141/142.

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bens erlangen, wenn sie die Entwürfe anspruchsvoller Designer auf deren lebensorientierende Wirkung hin befragen und studieren.

Die visuelle Sprache der Moral Überlegungen zu einer Ethik des Kommunikationsdesigns1 Gerhard Schweppenhäuser

Z wei S eiten des E thos Gibt es ein ethos der Kommunikationsdesigner? Das Wort »Ethos« steht in der griechischen Philosophie für Herkommen und Gewohnheit, für Sitte und Brauch in Gemeinschaften, aber auch für den Charakter, also für Überle­ gung, Einsicht und Urteilsfähigkeit. Früher sagte man: für den Charakter eines tugend­haften Menschen. Heute wird man das Wort »Tugend« eher vermeiden und, in der Termino­logie moderner Psycho­lo­gie, von einer Verhaltensdisposition sprechen, also von einer stabilen Charaktereigen­schaft. Der Sachgehalt des Begriffs ist deshalb jedoch nicht überholt. Heraklit lehrte: »ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων«.2 Sein Begriff ēthos wird klassischerweise mit »Wesen«, »Eigenart« oder »Indivi­ duali­ tät« übersetzt: »Das Wesen eines Menschen ist sein Schicksal«, oder »Die Eigenart eines Menschen ist sein Schicksal«.3 Die Rede vom Schicksal scheint für heutige Überlegungen zur 1 | Überarbeitete Fassung eines Vortrags auf der Tagung »Philosophical Perspectives On Design« an der Fachhochschule für Kunst, Design und Musik in Freiburg am 16. Januar 2015. Der Text ist im Kontext meines Forschungsprojekts »Kommunikationsdesign und Ethik – Ethik des Kommunikationsdesigns« entstanden, das von 2012 bis 2014 von der Fritz-Thyssen-Stiftung gefördert wurde. 2 | »Ἦθος ἀνθρώπῳ δαίμων«; zitiert nach: Kranz, Walter: Vorsokratische Denker. Auswahl aus dem Überlieferten, Berlin: Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 1959, S. 80. 3 | Textnah und mythisch-schlicht konnotiert heißt es bei Kranz: »Seine Eigenart dem Menschen der Dämon« (a.a.O., S. 81). Capelle übersetzt korrekt, doch etwas ungelenk: »Dem Menschen ist sein Wesen sein Schicksal.« (Capelle, Wilhelm:

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Ethik wenig ge­eignet; aber Heraklits Intention ist nach­voll­ziehbar, denn ob wir auch nur in die Nähe dessen gelangen, was man ein »gelingendes Leben« nennt, hängt nicht nur davon ab, was man früher »Glücksgüter« nannte – also Einkommen, Erfolg, Gesundheit und dergleichen – sondern maßgeblich davon, ob wir imstande sind, im Einklang mit morali­schen Grundsätzen zu handeln. Und das gilt selbstverständlich auch für Kommunikationsdesigner. Sie be­einflussen Verhalten und Einstellungen ihrer Mitmen­schen durch Inter­ventionen und Inszenierungen im öffentlichen Raum. Daher tun sie gut da­ran, nicht bloß strategisch über die Mittel nachzudenken, mit denen man das effekt­voll ins Werk setzen kann, sondern auch über die Zwecke, die erreicht werden sollen. Aristoteles hat den Zusammenhang zwischen morali­scher Integrität des Individuums und seinem Wir­ken in der Gemein­schaft nicht nur in seinen Überlegungen zur Ethik und deren Verbindun­gen zur politischen Theorie untersucht, die für viele bis heute maßgeb­lich sind, sondern auch in seiner Theorie der Redekunst. Rhetorik ist bei ihm das Bindeglied zwischen Ethik und Politik, zwischen den »Privatverhält­nissen« und dem »Staatswohl«4. »Von den Überzeugungs­mitteln, die durch die Rede zustande gebracht werden, gibt es drei Arten«, schrieb Aristoteles. »Sie sind nämlich entweder im Charakter des Redners begründet oder darin, den Hörer in eine gewisse Stimmung zu ver­setzen, oder schließlich in der Rede selbst, d.h. durch Beweisen oder scheinbares Beweisen.«5 Eine Rede kann dem­­nach persuasiv Die Vorsokratiker. Die Fragment- und Quellenberichte, Stuttgart: Kröner 1968, S. 156.) 4 | Aristoteles: Rhetorik, 1354 b zit. nach der Übersetzung von Sieveke, Franz G., München: Fink 1995, S. 9. 5 | Ebd., 1356 a (S. 13; 2. Kapitel, 3. Absatz). »Durch den Charakter geschieht dies, wenn die Rede so dargeboten wird, daß sie den Redner glaubwürdig erscheinen läßt. Den Anständigen glauben wir nämlich eher und schneller, grundsätzlich in allem, ganz besonders aber, wo es eine Gewißheit nicht gibt, sondern Zweifel bestehen bleiben. Doch auch das muß sich aus der Rede ergeben und nicht aus einer vorgefaßten Meinung über die Person des Redners. Nicht trifft zu, wie manche der Fachtheoretiker behaupten, daß in der Redekunst auch die Integrität des Redners zur Überzeugungsfähigkeit nichts beitrage, sondern fast die bedeutendste Überzeu­g ungskraft hat sozusagen der Charakter. Mittels der Zuhörer überzeugt man, wenn die durch die Rede zu Emotionen gelockt werden. Denn ganz unterschiedlich treffen wir Entscheidungen, je nachdem, ob wir traurig oder fröhlich

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wirken, wenn 1. der Charakter, also das per­for­ma­tive ethos des Vortragenden als glaubwürdig empfunden wird; wenn 2. die Affekte des Publikums durch das pathos des Vortrags richtig einge­stimmt werden und wenn 3. »Wahres oder Wahrscheinliches« über die Sache, von der die Rede ist, auf rationalem, logischem Wege vermittelt wird. Daran hat sich im Zeitalter der audio­ visuellen, digitalen Massen­medien wenig geändert. Über­zeugungsfeldzüge im öffentlichen Raum bedienen sich nach wie vor der auf Logik und Inhalt bezogenen logos-Strategie, der emotional orientierten pathos-Strate­gie und der Glaub­w ürdigkeit sugge­r ierenden ethos-Strategie.6 Hanno Ehses hat in seinen wertvollen Überlegungen zur visuellen Rhe­­­to­ rik eine aristotelische Typologie der Handlungsaufforderungen durch Design auf­ge­stellt. Sie hilft dabei, den ethischen Aspekt visueller Kommunikation zu klären.7 Beim logos-Appell konzentriert sich die visuelle Sprache auf den Ge­genstand. Die Betrachter sollen durch rationale Argumente über­zeugt werden: Im »logos-Kontext« geht es insbesondere um typo­g ra­fische und andere grafische Mittel, mit denen man Informationen glie­dert und hierar­chi­ siert, damit sie ver­ständlich und nachvollzieh­bar werden.8 Der logos-Appell wird häufig mit Zeichen artikuliert, die auf kognitiven Wegen wir­ken und sachlich konno­tieren – also Diagramme, Listen und Bilder mit hohem Infor­ mations­gehalt. Dieser Appell übernimmt nor­malerweise in »[a]kade­mischen sind, ob wir lieben oder hassen. […] Durch die Rede endlich überzeugt man, wenn man Wahres oder Wahrscheinliches aus jeweils glaubwürdigen Argumenten darstellt.« (Aristoteles: Rhetorik, übersetzt von Krapinger, Gernot, Stuttgart: Reclam 1999, S. 12.) 6 | Siehe dazu auch Pfister, Manfred: Das Drama, München: Fink 1994, S. 213 f. 7 | Ehses, Hanno: »Rhetorik im Kommunikationsdesign«, in: Gesche Joost/Arne Scheuermann (Hg.), Design als Rhetorik, Grundlagen, Positionen, Fallstudien, Basel/Boston/Berlin: Birkhäuser 2008, S. 107-122. Ein verwandter Bereich ist das Arbeitsfeld der »Visual Literacy«; dort widmet man sich seit den 1970er Jahren der Untersuchung »visueller Bildung« auf Seiten der Rezipienten, d.h. der Ausbildung kritisch-analytischer, aber auch gestalterischer Bildkompetenz. Dies ist auch eine Reaktion auf die Macht und Allgegenwart suggestiver Botschaften in der visuellen Kommunikation (für den Hinweis danke ich Anke Haarmann). Siehe auch die Debatten zum sogenannten »pictorial turn«, etwa bei Holert, Tom: »Kulturwissenschaft/Visual Culture«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft, Disziplinen, Themen, Methoden, Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, S. 226-235. 8 | H. Ehses: Rhetorik im Kommunikationsdesign, S. 112 f.

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Schriften, Gebrauchsanweisungen und [L]eitsystemen«9 die Führungs­rolle. Zur rational-kognitiven Ansprache kommt die Arbeit »mit den Gefühlen des Publikums«10: Der pathos-Appell wirkt über Farben und For­men sowie über Bilder, die affektive Reaktionen hervorrufen. Emotionen werden mit Hilfe von visuellen Symbolen »in materieller, technologischer oder künst­le­r i­scher Form«11 und durch visuell inszenierte ›rhetorische Figuren‹ sti­mu­­liert. Reklame für Verbrauchsgüter und Versicherungen verwenden mit Vor­liebe die Mittel des »pathosbestimmten Designs«12. Und beim ethos-Appell hört man sozusagen »die Stimme des Desig­ners«13. Hier, schreibt Ehses, setzt man »auf Glaub­­würdig­keit, Mitgefühl und Verlässlichkeit, um ein Publikum zu über­zeugen.«14 Hier zählen das gehaltvolle, klare Konzept und die markante Ästhetik. Und zwar, um die Persönlichkeit des Designers zu artikulieren: Man setzt »kraftvolle Zeichen« ein, »die auf Integrität […], Vorlie­ben und Empfindlichkeiten […] hinweisen.« »Poster und Medienkampagnen« zu sozialen, politi­schen oder gesund­heit­lichen Themen »sind oft ethos­bestimmt«, schreibt Ehses.15 Ein Aspekt wäre freilich hinzuzufügen: Der Horizont des ethos-Appells ist insofern etwas weiter zu fassen, als hier nicht ausschließlich nur die Haltung des Designers ihren Ausdruck finden und Wirkung entfalten kann, sondern ebenso auch die des Auftraggebers.16 Man kann dann auch »die Stimme des Absenders« hören. Die muss freilich nicht immer vernehmlich hervortreten, und wenn sie es tut, muss die Stimme des Designers nicht notwendigerweise in derselben Tonlage erklingen. Die wirkungsvollsten Mitteilungen dürften in der Regel diejenigen sein, in der beide Stimmen harmonieren. Mitunter mögen aber auch diejenigen besonders auffallen, deren Stimmführungen auseinanderlaufen; letzteres ist aber vermutlich eher etwas für Spezialisten, die sehr reflektiert bzw. professionell rezipieren.

9 | Ebd., S. 113. 10 | Ebd. 11 | Ebd. 12 | Ebd. 13 | Ebd., S. 114. 14 | Ebd., S. 113. 15 | Ebd. 16 | Für den Hinweis darauf danke ich Volker Friedrich, dessen in diesem Punkt abweichende Ehses-Lesart mir einleuchtet.

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Wie dem auch sei – wenn man »die Stimme des Desig­ners« hört, lebt das Diktum des Heraklit wieder auf und man kann durchaus in Anlehnung daran sagen: »Das Wesen, der Charakter eines Gestal­ters ist sein Schicksal.« Von ihm hängt es letzten Endes ab, ob die Kampagne ein Er­folg wird. Schon Cicero wusste: Wenn Rhetorik wirken soll, muss der Redner selbst die Einstellung ver­körpern, die er bei den Hörern auslösen möchte. Der Horizont der Themen lässt erkennen, dass das »Ethos« der Ge­stalter nicht allein individualethisch verstanden werden darf. Wir müssen uns auch an den anderen, den weiteren Sinn des grie­chischen Wortes erin­nern. Er ver­ weist auf die moralischen Grundlagen des Gemein­­wesens. Nicht nur Individuen haben ein ethos, sondern auch Gemein­schaften und Gesellschaften; deren gelebtes Ethos wird seit Hegel als »Sittlichkeit« bezeichnet.17 Die Grund­­frage der philosophischen Ethik lautet: »Wie soll ich leben?« Gibt es Kriterien, wie wir uns ver­hal­ten sollen, wofür wir uns ent­scheiden sollen, um gut oder richtig zu leben? Solche Kriterien müssen überindi­ vidueller, allge­meiner Art sein. Also nicht nur »Wie soll ich handeln, damit es mir gut geht?«, sondern auch: »Wie soll ich anderen gegenüber angemessen handeln?« Ethik ist eine Theorie, die einerseits klärt, was persönlich zuträg­ lich und zweckmäßig ist, und andererseits, wozu man im sozialen Sinne verpflichtet ist, was gerecht und was allgemein notwendig ist. Mit ande­ren Worten: Jede Ethik hat partikulare und universale Aspekte. Lebensformen haben sich in der Moderne bekanntlich ausdifferenziert, Wertorien­tie­r un­­­gen sind vielfältig geworden. Individuelle Vorstellungen vom Glück und die Plu­ ra­lität der Lebensstile haben zu gegensätzlichen Be­g rün­dun­gen von Moral­ konzep­ten geführt. Wo­ran kann sich jemand orientieren, der Wertkonflikte und Interessenkonflikte nicht den Gesetzen des Marktes oder dem Recht des Stärkeren überlassen will, sondern auf gerechte Weise schlichten möch­te? Mit einer Formulierung von Gunzelin Schmid Noerr: Es geht darum herauszufinden, was die »allgemeinen, grundlegenden Prinzipien« sind, »aus denen sich besondere moralische Urteile begründen lassen«18. Allgemein gespro­chen, sind es die Werte und die Normen, die in einer Gemeinschaft, zu­mindest im Grundsatz, anerkannt werden. Mora­lische Werte sind Hinter­ 17 | Hegel, Georg W. F.: »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, in: Eva Moldenhauer/Karl M. Michel (Hg.), Georg W. F. Hegel, Werke in 20 Bd., Bd. 7, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1970, S. 292-512. 18 | Schmid Noerr, Gunzelin: Ethik in der sozialen Arbeit, Stuttgart: W. Kohlhammer 2012, S. 36.

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grund­annahmen darüber, was zum gelingenden Leben gehört und was eine vernünftig eingerichte­te Gesellschaft aus­macht; moralische Normen sind »handlungsleitende Anweisungen, die dazu dienen, Werte zu realisieren oder gegenüber anderen Ziel­setzungen zu schützen«19. Das »Ethos« der Kommunikationsdesigner ist also nicht nur die indi­vi­ du­elle »Haltung«. Die Charakterdisposition des Einzelnen ist eine Seite, aber zur individual­ethischen Perspektive muss die sozialethische hin­z u­kommen. Das Zwischenreich zwischen Individual­- und Sozialethik sind die berufsethischen Standards. Allerdings – dies sei hier nur am Rande vermerkt – gibt es so etwas wie einen Ethikkodex der Kommunika­tions­designer nicht (oder: noch nicht). Was es gibt, sind »die Wirk­sam­keiten des gelebten Ethos«20 auf diesem soziokulturellen und wirt­schaft­lichen Feld; also nicht nur die pragmatischen »Üblichkeiten« in der Bran­che, sondern auch praktische Vernunft, die sich in Über­lie­ferung und All­tags­praxis manifestiert. Ich möchte nun einige Beispiele im Hinblick auf die drei »Appelle« der visuellen Rhetorik untersuchen, die aus Kam­pagnen gegen female genital mutilation, kurz: »FGM«, stammen.21 In der unterschiedli­chen Akzentuierung von Vernunft, Emotion und Haltung treten Konturen eines universalisti­ schen Ethos der Gestaltung vor Augen.

19 | Ebd. 20 | Fleischer, Helmut: »Notizen über Ethik und Ethos«, in: Martin Endreß (Hg.), Zur Grundlegung einer integrativen Ethik. Für Hans Krämer, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995. 21 | Siehe zu diesem Thema Mende, Janne: Begründungsmuster weibli­c her Genitalverstümmelung. Zur Vermittlung von Kulturrelativismus und Universalismus, Bielefeld: transcript 2011. Siehe auch Ihring, Isabelle: Weibliche Genitalbeschneidung, Münster: Unrast 2015).

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Abbildung 1: Medizinisch

Quelle: Wikipedia

Zunächst eine Darstellung, die aussieht wie aus dem medizinischen Lehrbuch. Sie demonstriert Varianten der Genitalverstümmelung. Die anatomische Präsentation kann als Anleitung zur Durchführung der Eingriffe dienen, sie kann aber auch als Dokumentation der physischen Beschädigung gelesen werden. Abbildung 2: Statistisch

Quelle: http://salfordwomensaid.org/wp-content/uploads/2014/09/fgminfographic.jpeg (aufgerufen am 26.01.2015)

Eine klassische Informationsgrafik aus dem Jahre 2012 präsentiert in sachlicher Auf machung gesichertes Wissen über die Verbreitung dieses Initiationsritus. Wo Menschen mit abendländischen »Wertgefühlen« (um es mit Nietzsche zu sagen) zumeist empört reagieren, präsentiert ein logos-Appell nüchtern und statistisch Fakten. Die visuelle Sprache wirkt wissenschaftlich, seriös und informativ. Der Text weist in ruhiger Tonlage auf den soziokultu-

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rellen Sinn des Rituals und mögliche Gefahren hin: Es handele sich »häufig« um die Vorbedingung für eine Heirat, »aber« es könne »körperliche und seelische Probleme verursa­chen«. Wohlge­merkt: kann, muss aber nicht ... Zu Risi­ken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Medizinmann oder Schama­ nen: Das wäre eine Assoziation, die sich hier aufdrängen könnte – wobei freilich bekannt ist, dass die Pro­zedur in der Regel nicht von Männern, sondern von kundigen Frauen ausgeführt wird. Abbildung 3: Gesellschaftlich

Quelle: http://www.28toomany.org/media/uploads/fgm-final-poster-3.jpg (aufgerufen am 12.07.2015)

Dieses Fotoplakat aus der britischen Kampagne »nspcc.org.uk/fgm« visualisiert den pathos-Appell. Wir sehen große Augen, der Kopf eines Kindes stützt sich auf Holz; man weiß nicht, ob es sich geborgen fühlt oder Schutz sucht. Der Text gibt einen Hinweis: Es könnte das Kind der Mutter sein, die end­lich Schluss macht mit der schrecklichen Tradition. Oder steht ihm die Traumatisierung noch bevor? Ein­deutig ist die Auf­forde­r ung, die an die Betrachterinnen ergeht. Im Kleingedruckten wird das Brauch­tum ohne Wenn und Aber, wenn auch in sachlichem Ton, als Kindesmiss­hand­lung bezeichnet. Der Hinweis, dass es gegen königlich britische Gesetze verstößt, verstärkt den verbalen logos-Appell. Der feine Riss, der durch die Worte »Genital Mutilation« verläuft, indiziert auf sehr zurückhaltende Weise das gestalterische ethos: eine seriöse Ästhetik, die »Glaub­­würdig­keit« und »Mitgefühl« signalisiert.

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Abbildung 4 und 5: Künstlerisch

Quelle: https://voxafro.wordpress.com/2013/02/08/la-mutilacion-femenina-m gf/ (aufgerufen am 12.07.2015)

Quelle: http://cdn2-b.examiner.com/sites/default/files/styles/image_content_ width/hash/1d/45/1d45048a8a1c72a5b3ebd038bd2e490f.jpg?itok=T VUM QB-6o (aufgerufen am 12.07.2015)

Weitere Spielarten des pathos-Appells bearbeiten das Thema künst­le­risch: Zunächst Variationen einer figuralen Darstellung als kolorierte Zeichnung oder Farbfotografie, in die das stilisierte Bild einer Rasier­klinge eingearbeitet ist. Dieses steht als metonymisches Zeichen stellvertre­tend für die ganze Prozedur, die offenbar nicht mit medizinischen Spezialinstrumenten durchge­ führt wird. Die Farbe Rot konnotiert Blut; ein Beispiel lässt traditionelle Gewänder und Schmuck als Attri­bute der Weiblichkeit fungieren, während ein anderes verschie­de­ne Stufen der Kindheit zur Erscheinung kommen lässt. Die bildrhetorischen Tropen rufen somit unterschiedlich gestufte Affekte hervor, die auf der Textebene suggestiv (»Stop«, »Stop«, »Stop«; »Basta ...«) und in­for­mativ (durch den Hinweis auf den »Internationa­len Tag der Null-Toleranz gegen Beschneidung«) gelenkt werden.

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Abbildung 6 und 7: Künstlerisch

Quelle: © Linda May Kallestein, www.thecutdocumentary.org/

Quelle: © Ina Mar

Auch in den nächsten beiden Beispielen wird das ikonische Zeichen »Rasierklinge« als pars pro toto eingesetzt, allerdings ist der ethos-Appell jetzt stärker zu vernehmen: Der Hinweis auf einen Dokumentarfilm kombi­niert es mit Fotografie, Typografie und Text; das Plakat der »Stop«-Kampagne verbindet es mit dem grafisch verfremdeten biologischen Zeichen für Weiblichkeit, das bekanntlich von der Frauenbewegung als kämpferisches Symbol umkodiert worden ist. Im Film-Hinweis spielen realistisch reproduzierte Kinderaugen noch eine gewisse Rolle; beim Stop-Plakat dominiert das ästhetisch weitgehend autonome Spiel von Formen und Farben. Dabei wird das symbolische Zeichen für den Feminismus als – freilich stark stilisiertes – ikonisches Zeichen eines Frauenkörpers lesbar, der verletzt wird. Abbildung 8: Sprecherisch

Quelle: © Ina Mar

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Im diesem Beispiel kommt ein Text in der ersten Person Singular dazu: Das »Ich« kann Benutzer, aber auch Gestalter des Posters sein. Abbildung 9: Reißerisch

Quelle: © Heymann Brandt de Gelmini

Im diesem Beispiel steht der ethos-Appell, die Stimme der Gestal­ter, im Vordergrund. Der Text ist markant formuliert: Hier werden keine Nach­­rich­ten vorgelesen, sondern ein Misstand ange­pran­gert. »300 Mädchen jede Stunde« – anschauli­cher geht es kaum. Keine Umschrei­bung, keine Bemühung um Rück­sicht auf schwache Gemüter oder politisch korrekte Kritiker; es heißt forciert konkret: Den Mädchen »wer­den mit einer Glas­scherbe die Ge­ni­talien abgeschnitten«. Der Ge­dan­ke daran sei »unerträglich«. Und mit der zupackenden Kürze werblicher Sprache geht es im nächsten Satz elliptisch wei­ ter: »Genau wie die Schmerzen, die sie ein Leben lang begleiten.« Hier wird auf dem pathos-Register gespielt, doch die dominierende Tonlage entstammt dem ethos-Appell – dem kompromisslosen Engagement gegen das Böse und der gestalterischen Kreativität. Der Ton ist das Gegenstück zur eingangs betrachteten Info-Grafik: Empörung und Zorn statt betonter Sachlichkeit. Die Pressemeldung zur Kampagne zeigt, wie dies aufgenommen wurde: »Das Plakat zeigt eine junge Frau mit dunkler Haut, schwarzen Haaren. Obwohl unbekleidet und schutzlos wirkend, blickt sie entschlossen in die Augen des Betrachters. Das Plakat ist eingerissen. Ein Stück Schulter fehlt der Frau. Erst beim zweiten Blick wird deutlich, dass der angebliche Riss im Plakat Absicht ist. [...] Das Plakat ist Teil der heute zum Frauentag startenden Kampagne ›Gewalt gegen Frauen ist Alltag‹ von Terres des Femmes. Ziel der Kampagne ist es, Aufmerksamkeit für ein Thema zu schaffen, das in Vergessenheit zu geraten droht. [...] Die Gelder für die Kampagne kommen deswegen nicht von Terres des Femmes. Die Werbeagentur Heymann Schnell zahlt die Rech-

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nung. Gut für den Geldbeutel von Terre des Femmes und gut fürs Image der Agentur.«22 Das augentäuschende Detail, der Riss im Bild als Sinnbild für die Zerstörung phy­sischer Identität – darauf muss man erst einmal kommen; wer das ge­sehen und verstanden hat, wird es nicht so schnell wieder vergessen. Das lässt sich die Werbe­agentur etwas kosten; es ist ja für den guten Zweck und für das eigene Image. Abbildung 10: Sarkastisch

Quelle: © Heymann Brandt de Gelmini

Das letzte Beispiel geht noch einen Schritt weiter: Der ethos-Appell erlaubt sich ein kontrolliert-zynisches Rollenspiel. »Jetzt noch die Klitoris heraus­ schnei­­den, und sie ist perfekt«, sagt eine fiktive Person, die gleichsam als Ver­körpe­r ung eines menschenverachtenden Frauenbildes auftritt. Hier wird das rhetori­sche Stilmittel des Sarkasmus im Text eingesetzt und in die visuelle Spra­che über­setzt. Wir sehen ein hellhäutiges model, das gewiss nicht den afrikanisch-asiatischen Kulturraum konnotiert. Wird das demnächst auch bei uns eingeführt? So könnte eine nahe liegende Assoziation lauten. Im klein­gedruck­ten Text wird erläutert, was rückständige Menschen »in vielen Teilen der Welt« denken, und ihre Tat wird als »grausames Ver­brechen« gebrand­markt. Keine Frage: die Gestalter stehen voll hinter der Botschaft, die sie in die zivilisierte Welt hinaus schicken.

22 | »Im Auge der Gewalt«, taz.de, 07. 03. 2007 (http://www.taz.de/1/archiv/ print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=bl&dig=2007%2F03%2F07%2F a0194&cHash=5385c597a177ceed165c373b502a0fb9 aufgerufen am 26.01. 2015).

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Ü berse t zung e thischer I mplik ationen Nach der Beispielanalyse nun eine methodi­sche Be­t rach­t ung. Forschung über Ethik und Kommunika­tions­design hat mehre­re Aspekte: zunächst die Untersuchung der Praxis im Hinblick auf Kriterien aus der Moral­philosophie, also die beschrei­bende – oder auch kritisch-prüfende – Untersuchung gestalte­ rischer Pro­ble­me und Ent­schei­dungen aus ethischer Perspektive. Dazu kommt die Rekonstruk­tion der morali­schen Posi­tio­nen, die dem Kommunikations­ design inhä­rent sind. Oder sagen wir besser: die Übersetzung impliziter moralischer Haltungen, die im Entwur­f mehr oder weniger artikuliert zum Ausdruck kommen, in die explizite Sprache der Moraltheorie. Letzteres ist sozu­sagen die ethische Re­flexions­theorie der Moral des Gestaltens.23 Es dürfte Konsens bestehen, dass Kommunikations­designer nicht nur Stra­tegien für ihre Auftraggeber entwickeln sollten, sondern auch fragen, wie deren kommu­ni­ka­ti­ve Zwecke zu be­werten und welche Mittel dafür legitim sind. Wir leben zwar in einer Welt – so könnte man mit Karl Kraus sagen –, in der der »Lebenszweck den Lebensmitteln sub­ordi­niert«24 wird. Das heißt, wir leben in einer Welt, die sich »im Labyrinth der Öko­no­mie ver­irrt«25 23 | Nach Luhmann ist »Ethik« die »Reflexionstheorie der Moral« (Luhmann, Niklas: »Ethik als Reflexionstheorie der Moral«, in: Ders., Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd.3, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1989, S358-448.). Bei dieser Definition unterstellte Luhmann allerdings, dass Ethik sinnvollerweise ausschließlich deskriptive Ethik sein kann. Sie könne das Handeln der Menschen gleichsam nur wie ein Spiegel »reflektieren«, also bloß (in Begriffen) abbilden. Luhmanns Definition ist falsch, weil sie die Möglichkeit normativer Moralphilosophie leugnet. Wenn man Reflexion hingegen nicht nur im physikalischen Sinne versteht, sondern mit einem philosophischen Konzept der Reflexion arbeitet, lässt sich »Reflexionstheorie der Moral« durchaus als Synonym für eine Moralphilosophie verwenden, die das Handeln nicht nur widerspiegelt. Philosophische »Reflexionen« der Moral bestehen darin, über Handlungen und ihre Grundlagen ›nachzudenken‹ (Kluges Etymologisches Wörterbuch) und sie ›prüfend‹ zu ›betrachten‹ (Duden). Daher kann eine philosophische »Reflexionstheorie der Moral« mit guten Gründen normativ-kritisch Stellung nehmen. 24 | Kraus, Karl:«In dieser großen Zeit«, in: Ders., Weltgericht, Bd. 1, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988, S. 9-24, hier S. 13. 25 | Ebd., S. 14.

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hat, wie Kraus schon vor 100 Jahren mit Schaudern fest­stellte. Aber vielen Menschen, vermutlich den meisten, ist bewusst, dass das Le­ben anders sein könnte und sollte. Und darunter sind eben auch zahl­reiche Kommunikations­ designer. Für Otl Aicher, den guten Geist von Ulm, stand sogar fest: »der desig­ner ist eine art moralist. […] Seine tägliche arbeit besteht aus wer­tun­gen.«26 Ich würde nicht so weit gehen wie Aicher. Moralisten wollen die herrschenden Sitten be­ein­flussen, durch Kritik, Praxis, Entwurf und Vor­bild. Das wollen Kommu­ni­­ka­tions­designer nicht unbedingt. Aber ich stimme Aichers Intention – wenn ich sie denn richtig ver­standen habe – insofern zu, als Design moralische Haltungen aus­d rücken und die Welt bewerten kann. Und zwar auch dann, wenn die »Wert­gefüh­le« und »Wert­unterscheidun­gen« (um es nochmals mit Nietzsche zu sagen) nicht oder nicht ausdrücklich re­flektiert werden. Hier gilt es also zu übersetzen und die impliziten Wert­­haltungen expli­zit zu machen. Darin sehe ich aber nicht nur die Auf­gabe des philo­ sophischen Interpreten. Wenn Gestalter Ent­schei­­dungen treffen, die moralisch zu begründen sind, sind ihre Selbstrefle­xion und ihre eigene Über­ setzungskompetenz gefordert.

I ntrinsische E thik und mor alfreie Z onen 27 Es gibt Felder des Kommunikationsdesigns, die gleichsam von innen heraus moralisch motiviert sind, und Felder ohne keine intrinsische Moral. Letzteres gilt für Werbung und Public Relations. Deren strategischer Zweck ist Überredung; ihr taktisches Mittel ist die Suggestion. Erich Kästner ging noch davon aus, dass es eine »ethische Fundierung des Reklamebegriffs«28 geben würde. Er phantasierte vor 80 Jahren auf 26 | Aicher, Otl: Die Welt als Entwurf, Berlin: Ernst und Sohn 1981, S. 67. 27 | Einige Überlegungen und Formulierungen in diesem und dem folgenden Abschnitt (»Mitleid und ›moralischer Impuls‹«) habe ich aus meinem Aufsatz »Moralphilosophie im Kommunikationsdesign. Eine thematische Einführung« übernommen; er ist erschienen in: Bauer, Christian/Nolte, Gertrud/Schweppenhäuser, Gerhard (Hg.), Ethik und Moral in Kommunikation und Gestaltung, Würzburg: Königshausen und Neumann 2015, S. 39-59. 28 | Kästner, Erich: »Reklame und Weltrevolution«, in: Franz Görtz (Hg.), Erich Kästner. Werke, Bd. VI, München: Hanser 2004, hier S. 235. – Für den Hinweis auf

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den Spuren von H. G. Wells über eine weltweite ethi­sche Erneuerung der Menschheit durch Wer­bung als Mittel der Volks­erziehung. »Propaganda«, schrieb Kästner, »ist das Medium aller Werte geworden«29. Sie solle sich daher auf mora­lisch relevante Fragen konzentrieren. Kästners Artikel für die Zeitschrift Gebrauchsgraphik trug den pro­g ram­matischen Titel »Reklame und Weltrevolution«. Doch diese ver­meintliche Revolution krankt an einem Wider­spruch. Der tritt bei Edward Bernays, dem Begründer der Lehre von den public relations, deutlich hervor. »Die bewuss­te und zielgerich­tete Mani­ pu­lation der Ver­hal­tens­wei­­­sen und Einstellun­gen der Massen ist ein we­sent­ licher Be­stand­teil de­mokratischer Gesell­schaften«30, schrieb Bernays etwa zur glei­chen Zeit, als Kästner seine Utopie der moralischen Aufklä­rung durch Reklame publizierte. Denn ohne Manipu­lation, stellte Bernays nüchtern fest, würden die Märkte nicht funktionie­ren. Er ignorierte je­doch, dass die normative Grund­lage jeder Demokra­tie die freie Selbst­bestim­mung aller ist.31 Es ist para­dox, wenn man demokratische Ge­­sell­schaften mit Manipulation durch Public Relations am Leben erhal­ten will. Und es ist vor allem ethisch nicht legitim, weil Menschen zu bloßen Mitteln degra­­diert und nicht – im Sinne von Immanuel Kant – als »Zwecke an sich selbst«32 geachtet werden. Das »Medium aller Werte«, das Kästner beschworen hat, zehrt also die Kästners Roman Fabian in diesem Zusammenhang (der Werbetexter als »Moralist«) danke ich Christian Bauer, Mitarbeiter im Forschungsprojekt »Kommunikationsdesign und Ethik – Ethik des Kommunikationsdesigns«. 29 | Ebd., S. 237. 30 | Bernays, Edward: Propganda. Die Kunst der Public Relations, Berlin: Orange Press 2007, S. 19. 31 | Unter der dünnen Schicht des Bekenntnisses zur Demokratie kommt beim Theore­tiker der modernen Propaganda denn auch immer wieder der alte Topos autoritärer Massenverachtung zum Vorschein: »Steht kein Vorbild eines Führers zur Verfügung, muss die Herde für sich selbst denken. Dabei greift sie zurück auf Klischees, Schlag­w orte oder Bilder« (ebd., S. 51). 32 | »Nun sage ich: der Mensch […] existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauche für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen, sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden.« (Kant, Immanuel: »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten«, in: Wilhelm Weischedel [Hg.], Immanuel Kant – Werke in sechs Bänden, Bd. IV, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, BA 64 f.)

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Werte auf – sofern es sich denn um ethi­sche handelt. Von einem kantiani­ schen Standpunkt aus betrach­tet ist das ein Beleg für die Schwie­rigkei­ten, in die sich Wertethiken rasch ver­stricken, weil sie sich per definitio­nem weigern, die oben ange­spro­che­ne Vielfalt partikularer moralischer Werte auf die universale Form des mora­lischen Urteils zu reduzieren und dabei mit guten Gründen auszuwählen. Zurück zum Thema. Im Unter­schied zu Werbung und Public Relations, die der ethischen Reflexion und Kontrolle von außen bedürfen (was freilich nicht heißen soll, dass sie nicht von den Menschen ausgeübt werden kann, die in diesen Branchen gestalterisch tätig sind), im Unterschied dazu also sind soziale Kam­pag­­nen häufig ange­wandte Ethik in visuell präg­nan­ter Form: beispielsweise Warnun­gen vor Raserei auf Autobah­nen, Hinweise auf die Gefahren des Rauchens, Mobi­lisie­run­gen gegen Alkohol­missbrauch oder, wie gesehen, gegen rituelle Genital­ver­stüm­me­­lungen. Solche Kampagnen zielen auf Ver­haltensänderung bei den Adressa­ten im Sinne von moralischen Handlungs­g rund­sätzen. Selbstverständlich spielen individualethische Kriterien hier eine Rolle. Ob man bei der Entwicklung einer Werbekampagne für eine Bank mit­macht, die Gewinnmitnahmen bei der Spekulation auf hohe Preise für Grund­ nahrungsmittel anbietet, oder ob man sich aus ethischen Erwä­g un­­­gen heraus weigert – das ist für das gestalterische Ethos natürlich rele­vant. Abbildung 11: Gierig

Quelle: http://myhead.soup.io/post/2801478/Deutsche-Bank-wirbt-mit-der-hu ngerkriseFreuen-Sie (aufgerufen am 12.07.2015)

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Auch ein parodistisches Umfunktionieren mit den Mitteln des Kommunikationsdesigns wäre eine Option, die sich in die Tradition politischer Aufklärung von Heartfield und Brecht stellen würde.33 Abbildung 12: Zornig

Quelle: © Pantoffelpunk, http://blog.pantoffelpunk.de/wp-content/uploads/20 08/05/hunger4.jpg (aufgerufen am 12.07.2015)

Aber meine These ist, wie gesagt: Eine Ethik des Kommunika­tions­designs, die lediglich bei den individuellen Konflikten und Hand­lungs­­­­entschei­dungen der Designer ansetzen würde, wäre verkürzt, ja gerade­z u halbiert. Es gilt, auch sozialethische An­sprüche zu formu­lie­ren, die als kriti­sches Korrektiv gegenüber vorherr­schenden Formen des Für-Richtig-Haltens gelten können. Als reflexives Korrek­tiv kann die Ethik des Kommu­ni­ka­tions­designs eine Normativität mit sozial­­utopi­schem Charak­ter begrün­den und Handlungsalternativen aufzeigen.34 33 | Brecht hat das Verfahren des Umfunktionierens visueller Botschaften durch Neuvertextung und Veränderung des Dekodierungszusammenhangs in seinem Buch Kriegsfibel von 1955 paradigmatisch mit propagandistisch-kulturindustriellem Bildmaterial demonstriert. Im Unterschied zu unserem Bildbeispiel, in dem der Text unverändert bleibt und das Bild ausgetauscht wird, lässt die Kriegsfibel aber, »da sie auf das Erlernen eines ›Neuen Sehens‹ von Fotos hin angelegt ist, […] das Objekt dieser Befragung, die Fotos, weitgehend unverändert, muss es aber von seinem ursprünglichen (Publikations-)Zusammenhang […] trennen und neu kontextualisieren.« (Seibert, Peter: »Bertolt Brechts Kriegsfibel als Bildbeschreibung«, in: Bilder beSchreiben. Intersemiotische Transformationen, hrsg. v. W. Nöth u. P. Seibert, Kassel 2009 [Intervalle. Schriften zur Kulturforschung, Bd. 12], S. 61-82, hier: S. 67.) 34 | Diese Formulierung geht auf eine Anregung von Christian Bauer zurück.

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In der Praxis gelingt das insbesondere dann, wenn logos-, pathos- und ethos-Appell sozusagen im harmonischen Dreiklang auftreten können. Und damit meine ich nicht nur die Gesinnung, die dem Entwurf zugrunde liegt und rationale und emotionale Aspekte ebenso zusammenbringt wie individual- und sozialethische. Nein, ich meine auch die Sache selbst, also den Gegenstand der Kommunikation: Häufig kommen hier die Objek­te den subjektiven Haltungen der Entwerfer entgegen. Die Moti­ ve sozialer Kampagnen lassen sich auf drei normative Be­ gründungs­typen zurück­führen: Hilfe zur Selbstbestimmung, Mitleid oder Gemein­wohl. Das Gemein­wohl steht im Mittelpunkt der utilitaristischen Ethik. Rase­rei, Rauchen und übermäßiger Alkoholkonsum schaffen in volkswirtschaftlicher Hinsicht Probleme. Genitalverstümmelungen verstoßen gegen die Maxi­me des negativen Utilitarismus, soviel Leid zu vermeiden wie möglich. Andere mögliche Bezugspunkte sind Schopenhauers Moralprinzip des Mitleids und der Solidarität oder Kants Prinzip der rational begründeten Würde des auto­nomen Menschen. Kommen wir daher noch einmal zurück auf die Aufklärungs­kampagnen gegen die kultu­relle Praxis der Genital­verstümmelung. Wir haben gesehen, dass Desig­nerinnen und Designer sich mo­ra­lisch zur Intervention aufgerufen fühlen. Mit der Freiheit und Autonomie junger Menschen stehen hohe Werte auf dem Spiel. Frei­heit und Selbstbestimmung sind nach Kant Grund­ lage der Menschen­w ürde, also Kernbestand von Moral. Für Kant hieß richtiges Handeln, dass Menschen sich aus Freiheit selbst be­stimmen. Freiheit kann nur wirklich werden, wenn Menschen »niemals bloß […] Mittel« sind, sondern »jederzeit zugleich […] Zweck an sich selbst«35. Genitalverstümmelungen verstoßen gegen die Menschenwürde, weil sie Freiheit und Selbstbestimmung einschränken. In der Vorstellung, dass es unveräußerliche Menschenrechte gibt, hat sich der Gedanke der Menschen­w ürde im Kampf gegen Sklaverei und Unterdrückung bewährt. Doch was tun, wenn die Betroffenen der­artige Unter­stützung gar nicht wollen? Wenn sie es als Einschrän­k ung ihrer Selbst­be­stimmung auf­fassen, dass man sie daran hindert, vollwerti­ges Mitglied ihrer Gemein­schaft zu werden, indem sie an einem alt­ehrwür­di­gen Ritual teilnehmen? Oder weil 35 | I. Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 66 f.; vgl. Kant, Immanuel: »Kritik der praktischen Vernunft«, in: Wilhelm Weischedel (Hg.), Immanuel Kant – Werke in sechs Bänden, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1983, Bd. IV, A 155 f.

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man ihnen die Frei­heit nimmt, sich aktiv zu den Grund­werten ihrer Kultur zu be­kennen, die wir für un­moralisch halten? Vielleicht fürch­ten sie sich davor, dass sie ausge­stoßen werden, nicht geheiratet wer­den können und im Elend ver­sinken. Was tun, wenn ihnen all diese Elemente ihres »le­ben­digen Ethos«36 wichtiger sind als das Konzept der Menschen­w ürde? Das Problem besteht dann – aus entwurfsmethodischer Sicht – darin, dass der ethos-Appell der Gestalter, ihr Engagement für die Werte der okzidentalen Rationalität, aus der vermeintlichen Harmonie mit dem logos- und dem pathos-Appell heraus­f ällt. Freiheit und Selbstbestimmung sind offenbar zwiespältige Werte. Für die Moralphilosophie der Aufklärung ist die Überlegung zentral, dass Individuelles und Allgemeines nicht auseinanderfallen dürfen. Aber wie lassen sich diese Pole der Moral vermitteln? Im Geiste Kants wird man folgendermaßen argumentieren: Alle Menschen möchten glücklich sein; aber was sie darunter verstehen, ist individu­ell höchst verschieden. Moral muss also die Bedingungen dafür schaffen, dass alle ihre Vor­stellun­­­gen vom gelingenden Leben verwirklichen können. Man muss nicht allen vor­schrei­­ben, wie gelingendes Leben aussieht, aber freie und gerechte Lebens­bedingun­gen für alle schaffen. Wenn die Menschheit in jedem einzelnen nicht nur mental, sondern auch real »Zweck an sich selbst« wäre, dann müssten die besonderen Einzel­inter­essen und das allgemei­ne Interesse nicht mehr auseinanderfallen; dann müsste es keinen Widerspruch zwi­schen den Ritualen einer Gemein­schaft und dem individuellen Bedürfnis nach Selbst­bestimmung geben. Junge, unmündige Menschen müssten nicht mit Hilfe althergebrachter Bräuche für fragwürdige Gemeinschaftswerte instrumentalisiert werden. Der ethos-appell könnte auf diesem Terrain zugunsten des logos-Appells zurück­treten, weil die sozialethischen Intentionen der Gestalter wirkungsvoller zum Ausdruck kommen, wenn vernünftige Argumente für einen politischen Diskurs über ethische Werte und zivili­sa­torische Standards vermittelt werden.

M itleid und › mor alischer I mpuls ‹ Man könnte in unserem Beispiel aber auch schlicht Mitleid empfinden und deshalb aktiv werden. Dann wäre der logos-Appell die Grundlage eines pa36 | H. Fleischer: Notizen über Ethik und Ethos, S. 42.

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thos-Appells, also sozusagen der primäre Inhalt der Sprache der Dinge, oder besser gesagt: der stumme Aus­d rucks­charakter einer Sach­lage, die Gestalter und Betrachter ver­neh­men und durch die sie gestimmt werden. Das Moralprinzip des Mitleids und der Solidarität lautet: »Verletze niemanden, sondern hilf allen, soviel du kannst.«37 Schopenhauer setzte damit nicht primär auf die ver­nünf­tige Urteilskraft, sondern auf das moralische Gefühl. Er argumen­tierte gegen Kant, dass Mitleid das einzig rational erkennbare, wenngleich selbst nicht rationale Moralprinzip ist. Es ist »die alleinige Quelle uneigen­nützi­ger Handlun­gen«, »die wahre Basis der Moralität«38. Freilich wollen nicht alle Menschen bemitleidet werden. Pater­nalistisches Mitleid kann gegen das Recht zur Selbstbestim­mung verstoßen. Aber wenn Mitleid und Solidarität die eigene Haltung bestim­men, wird man tun, was man kann, um gegen die Praxis der Genital­verstümme­lung zu kämpfen. Moralisches Handeln wird nicht nur rational, aus ethischen Werten oder Prinzipien, abgeleitet. Es entsteht immer auch impulsiv, ange­sichts von konkreten Herausforderungen des moralischen Gefühls. Theodor W. Adorno hat gezeigt, dass der moralische Impuls, der sich regt, wenn wir vom Leid anderer erfahren, ein ganz wesentlicher Bestandteil des Handelns ist. Aristoteles hat die ethos-Ethik begründet; Schopen­hauer vertrat so­z u­sagen eine Ethik des pathos, während Kant eine Ethik des logos formu­liert hat. Die meisten Moralphilosophen setzen heute entweder auf die Urteilskraft, wie Kant, oder auf das moralische Gefühl, wie Schopen­hauer. Adornos Theorie des moralischen Impulses vermittelt zwischen rationaler und emo­tionaler Ethik.39 Der moralische Impuls ist mehr als Rationalität, mehr als die ver­pflichten­de Vernunft im Sinne Kants. Wenn wir aber, wie Schopen­hauer, nur gefühls­ethisch argumen­tie­ren und alles auf den moralischen Impuls setzen, haben wir keine Instanz für norma­tive Kritik. Doch diese ist nötig – besonders dann, wenn moralische Im­pul­se ausbleiben. Dann geht es nicht ohne Ratio­nalität, nicht ohne den logos. Aber auch wenn derartige Impulse vorhanden sind, kann die moralische Ansprache nur überzeugen, sofern logos- und pathos-Appell nachvollziehbar vermittelt sind. 37 | Schopenhauer, Arthur: »Preisschrift über die Grundlage der Moral«, in: Ders., Züricher Ausgabe. Werke in zehn Bänden, Zürich: Diogenes Verlag, 1977 Bd. VI, S. 177. 38 | Ebd., S. 285. 39 | Siehe dazu Adorno, Theodor W.: »Negative Dialektik«, in Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, S. 281.

Die visuelle Sprache der Moral

Im Anschluss an Schopenhauer hat Jürgen Habermas betont: Keine Gerech­tig­keit ohne Menschenliebe und Mitleid. Wer humane Lebens­ver­hält­ nisse erreichen möch­te, muss die Verletzlichkeit menschli­cher Subjekte beachten. Denn weil wir ver­letzliche Individuen sind, brauchen wir Auto­nomie und Gleich­berech­tigung; müssen wir moralische Subjekte wer­den.40 Aber schützen können wir uns letztlich nur in gemeinschaft­licher, inter­sub­jektiver Praxis – und das heißt: in einer solidarischen Lebens­praxis. Heinz Paetzold hat das Prinzip der Dis­k ursethik von Apel und Habermas einmal so zusammengefasst: »Mora­lisch [...] handelt ein Mensch dann, wenn er« – erstens – »den Bestand der realen Kommu­ni­ka­tionsgemeinschaft nicht gefährdet« und darüber hinaus – zweitens – in der realen Kommunikationsr ung zur idealen Gemeinschaft angemeinschaft »zugleich ihre Erweite­ bahnt.«41 Dabei ist mit dem Wort »ideal« nichts anderes gemeint als die normative Grund­ lage des menschlichen Zusammenlebens, die in seiner faktischen Reali­tät zwar oft schwer zu erkennen, aber gleichwohl immer als Anlage und Möglichkeit vorhan­den ist. Sie lautet: Kein menschenwürdiges Zusammenleben ohne Kommunikation. Nicht nur im Sinne von Mitteilung! Kommunikation sollte auch nie nur strategisch sein, sondern immer zugleich verständigungs­orientiert, und das heißt: an der Möglichkeit solidarischer Praxis orientiert. Abbildung 13-15: Realistisch

40 | Habermas, Jürgen: »Moralität und Sittlichkeit. Treffen Hegels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik zu?«, in: Ders., Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 9-30. 41 | Paetzold, Heinz: Ästhetik der neueren Moderne. Sinnlichkeit und Reflexion in der konzeptionellen Kunst der Gegenwart, Stuttgart: Steiner 1990, S. 15.

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Quelle Abb. 13-15: © Tostan

Von hier aus zeichnet sich vielleicht eine Lösung des Di­lemmas bei der Haltung zur Kampagne gegen Genital­verstümme­­lung ab. Man sollte Menschen­ würde und Menschenrechte nicht von außen als überlegene moralische Werte verkünden. Man sollte dort ansetzen, wo die Betroffe­nen selbst artikulie­ren, dass Leidfrei­heit und Selbst­bestim­mung auch für sie zu ei­nem ge­lingen­den Leben gehören. Selbst dann, wenn sie dafür nicht den Begriff »Men­schen­ würde« benutzen. Und auch dann, wenn sie nicht der Ansicht sind, dass individu­elle Selbst­bestim­mung der oberste Wert ist. In diesem Fall heißt das: Man sollte nicht leugnen, dass Genital­ verstümmelung eine soziale Norm ist; man sollte also mit den Menschen sprechen, die daran beteiligt sind; man sollte fragen, ob wirklich alle, die von dieser Norm betroffen sind, allen Folgen und allen Nebenfolgen zu­stimmen können. Die Kam­pagne Tostan in Afri­ka geht so vor42 – bislang noch mit relativ wenig Kommuni­ka­tionsdesign, aber das kann sich ja ändern. Beim Twitter-Auftritt der Kam­pagne wird bereits etwas mehr gestaltet.

Z ur A mbivalenz des V er ant wortungs -D iskurses Hervorzuheben bleibt, dass der ethos-Appell im Kommunikationsdesign keineswegs nur da zum Tragen kommt, wo explizit moralische oder ethi-

42 | http://de.wikipedia.org/wiki/Tostan#Die_ Abschaf fung _der_Beschneid ung_am_Beispiel_des_Senegals aufgerufen am 26. 01. 2015. Für den Hinweis danke ich Janne Mende.

Die visuelle Sprache der Moral

sche Inhalte behandelt werden.43 Die Haltung, das Ethos einer Gestalterin oder eines Gestalters kommt auch dort zur Geltung, wo es beispielsweise um typografische Entscheidungen beim Setzen von lyrischen, narrativen oder non-fiktionalen Texten geht. Tritt die Gestaltung dabei in den Vordergrund oder eher zurück? Welche Formen sind dem jeweiligen Inhalt angemessen?44 Ist ästhetischer Ausdruck, also ein »subjektiver Faktor«, adäquat, oder sollte besser der Gestus funktionaler Neutralität gewählt werden? Wie Kommunikationsdesigner sich an solchen und vielen anderen ähnlichen Punkten entscheiden, hängt sicher immer auch von ihren »Vorlie­ben und Empfindlichkeiten« ab, und es kann durchaus als Indikator für ihre »Glaubwürdigkeit« und »Integrität« gelten – insbesondere im Hinblick auf ihre Bereitschaft, darüber zu reflektieren und überzeugende Gründe angeben zu können. Im letzten Teil dieses Aufsatzes möchte ich dennoch weiterhin auf dem Gebiet der Analyse von ethos-Appellen mit ethischer Thematik verweilen und ein weiteres Beispiel für eine visuelle Sprache der Moral diskutieren, das deren Möglichkeiten und Risiken aufschlussreich repräsentiert. »Verantwortung« ist in den letzten Jahren zu einem der zentralen Be­ griffe im Diskurs über moralische Fragen geworden. Mit den Worten von Hans-Ernst Schiller: »Verant­wortung heißt […] Antwort zu geben auf die Anklage, dass man etwas getan hat, was religiösen und moralischen Geboten oder staatlichen Gesetzen wider­spricht.«45 Es kann sich auch um etwas handeln, was man nicht getan hat oder tut, also um eine Unterlassung. Mitunter wird das Konzept »Verantwortung« zur Psychologisie­rung sozialer Phänomene verwendet. Der Appell an die indi­viduelle Verantwortung kann ein schlechtes Gewissen installieren. Und auf dem Weg, der vom Sozialstaat mit öffent­licher Gesund­heitsfürsorge zu Verhältnissen geführt hat, in denen sich jeder allein darum kümmern muss, wo er bleibt und was im Konkurrenz­

43 | Für diesen Hinweis danke ich Kai Buchholz. 44 | Angemessenheit im Sinne von adaequatio ist in formaler Hinsicht nicht weit entfernt vom aptum der klassischen Rhetorik; allerdings geht es, wenn nach adaequatio gefragt ist, nicht um die Konsistenz und Schlüssigkeit der Darstellung im Ganzen, sondern darum, was dem Gegenstand inhaltlich angemessen ist, der in Rede steht. 45 | Schiller, Hans-Ernst: »Die Modernität der Verantwortung«, in: Ders., Ethik in der Welt des Kapitals. Zu den Grundbegriffen der Moral, Springe: zu Klampen 2011, S. 160-191, hier S. 160.

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kampf aus ihm wird, ist »Eigenverant wortung« sogar zu einem neoliberalen Kampfbegriff geworden.46 Aber auch wenn die Verantwortung des Individuums nicht vom Gemeinwohl abgekoppelt werden soll, sondern wenn im Gegenteil betont wird, dass jeder Einzelne sich für die Allgemeinheit einsetzen soll, kann die Beschwörung von Verantwortung problematische Züge annehmen. An der Kampagne »BIS DU WAS DAGEGEN TUST« von Amnesty International lässt sich die Ambivalenz moralischer Kommunikation studieren. Abbildung 16: Drastisch

Quelle: https://www.amnesty.de/files/images/ai_elektroden_150x190.gif (aufgerufen am 12.07.2015)

In einem gelb unterlegten Fenster der Homepage baut sich, Satz für Satz, der folgende Text auf:

46 | Schiller spricht in diesem Zusammenhang von »Selbstverantwortung als Zuschreibung und Überforderung« (ebd., S. 183-187).

Die visuelle Sprache der Moral

»2 Elektroden Die eine am Finger befestigt Die andere am Genital Die Stromspannung wird erhöht Die Stromspannung wird erhöht Die Stromspannung wird erhöht Bis Du was dagegen tust. Auf amnesty.de/stopfolter Amnesty International«

Dazu ist am Ende der Bildfolge das AI-Logo zu sehen. Die Leserinnen und Leser sollen sich als moralische Akteure wahrnehmen – auch wenn sie nicht unmittelbar involviert sind. Passivität wird als verachtenswerte Unterlassung dar­gestellt. Die Kampagne übt Druck aus, der im pulsie­ren­den Takt der auftauchenden und verschwinden­den Sätze und im cres­cen­­do der Wiederholung visuell wahrnehm­bar, also gleichsam spürbar wird. Die affektorientierte Pathos-Strate­gie ist dabei zwar untergeordnet, aber sie ist unter­schwellig wirksam. Die imaginäre Einfühlung in das Leid der Opfer grundiert mein Schuldbewusstsein als Be­trach­­­­­ter. Als solchem bleibt mir zwar im visuellen Sinne erspart, was Susan Sontag47 »regarding the pain of others« nennt; aber »regarding« hat ja vor allem die Bedeutung »im Hinblick auf«, und die kommt natürlich auch dann mit voller Wucht zur Geltung, wenn im buchstäblichen Sinne nichts zu sehen ist. Auf die inhaltsbezogene Logos-Strategie wird hier ver­zichtet. Im Kreise der Auftraggeber und Betrachter der Kam­pagne wäre es überflüssig, rationale Argumente gegen die Folter vorzubringen. Folter ist eine Metho­­de der Herrschaftsausübung, der man nicht den Anschein von Legitimierbarkeit zubilligen sollte, indem man sich auf einen Austausch von Argumenten pro und contra einlässt.48 47 | Vgl. Susan Sontag: Das Leiden anderer betrachten, München: Hanser 2003. 48 | Und schon gar nicht auf den pseudo-staatsphilosophischen Diskurs darüber, wann die Folter »sittlich geboten sein kann«, in den sich der CDU-Ministerpräsident von Niedersachsen, Ernst Albrecht, vor knapp 40 Jahren verstieg. Siehe dazu

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In dieser bilderlosen, konsequent typografi­schen Dar­stellung dominiert der ethos-Appell: Ein imaginärer Sprecher, der durch sein Enga­ ge­ ment für die Menschen­rechte moralisch unangreifbar ist, wendet sich mit einer Schuld­z uweisung an sein Gegenüber. Hier geht es nicht darum, Mit­gefühl zu erzeugen; hier soll das Bewusstsein einer Mitschuld ge­weckt werden. Absolution kann nur erhoffen, wer, gemäß der rigorosen Auf­for­de­rung, aktiv wird. Ein Mensch, lautet die An­klage, wird solange gefol­tert, bis ich etwas dagegen tue. Aber was kann ich denn dagegen tun? Habe ich die Möglichkeit zur Intervention? Ich kann doch allenfalls etwas sehr Indirektes, Mittelbares tun. Das heißt, ich kann per Mausklick eine Petition unter­zeichnen. Dass die Folter darauf­hin endet, ist unwahrscheinlich. Aber ich kann mir immerhin sagen, dass ich mich vor den Kampagnen­machern gerecht­fertigt habe, die mich für meine ignorante Taten­losigkeit zur Rechen­schaft gezogen haben. Hier scheint mir die Metapher der »Moralkeule« ausnahmsweise einmal angebracht, die Martin Walser um die Jahrtausendwende, gänzlich unpassend, in der Debatte über das Holocaust-Mahnmal in Berlin verwendet hat. Aber vielleicht ist eine Keule in diesem Fall ja das geeignete Instrument? Jede Minute, die verstreicht, ohne dass jemand die Folterknechte der Herr­schen­ den in aller Welt hindert, Menschen leiden zu lassen, um ihnen Ge­ständ­nisse abzupressen oder sie sonstwie zu erniedrigen, ist verlorene Zeit. Ich fürchte nur, dass mit der »Moralkeule« der morali­sche »Impuls« eher gehemmt oder gar blockiert wird, der sich regen soll­te, »wenn ge­mel­det wird, irgendwo sei gefoltert worden«49, wie Adorno das vor 50 Jahren formulierte. Kommt der morali­sche Impuls noch ausreichend zum Tragen, wenn ich mich in der Sicherheit wiege, dass ich das Richtige tue, indem ich eine Petition unterzeichne? Ich kann noch einen Schritt weiter gehen und Geld spenden. Beides ist selbstverständlich besser, als wenn gar nichts geschieht. Aber mögli­cher­ weise sehen wir hier die Kehrseite der Über­forde­r ung des Betrach­ters: nämlich die Überschätzung seiner Interventionsmöglichkeiten. den historischen Rückblick im Spiegel vom 21. Februar 2003 (http://www.spiegel. de/panorama/folteraffaere-psychoterror-mit-zwei-grossen-negern-a-237100-2. html aufgerufen am 27.01.2015) und die politische Aktualisierung von Hermann L. Gremliza in konkret vom Januar 2015 (»The very last exit«, konkret I/2015, S. 9). Zum Thema Folter siehe Kramer, Sven: Die Folter in der Literatur. Ihre Darstellung in der deutschsprachigen Erzählprosa von 1740 bis »nach Auschwitz«, München: Fink 2004. 49 | T. W. Adorno: Negative Dialektik, S. 281.

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Ich möchte niemandem etwas unterstellen, aber aus der Psychologie der Moral weiß man, dass Rigorismus und Zerknir­schung in Größen­wahn um­ schlagen können. Kein Kampf gegen die Folter ohne symbolische Praxis – doch es sollte nicht bei Scheinaktivität bleiben, die das Gewissen beruhigt. Es kommt noch etwas hinzu, nämlich die Gefahr der Abwehrhaltung bei den Adressaten. Dieser Effekt ist aus der empirischen Psychologie bekannt: Wer beim Publikum Einstellungs- oder Verhaltensänderung bewirken möchte, tut gut daran, direkte Schuldzuweisungen an die Adressaten zu unterlassen. Sie können dazu motivieren, dass die Angesprochenen die Opfer schlecht machen, um ihr eigenes Tun oder Unterlassen zu rechtfertigen.50 Nehmen wir beispiels­weise an, die Botschaft lautet: »Du bist schuld an der Massentierhaltung; denn du bist geizig und willst keine angemessene Fleischpreise bezahlen«. Das kann zu einer inneren Flucht nach vorn führen, zu Gedanken wie diesen: »Ein paar Schweine und Hühner mehr im Stall – das wird wohl nicht so schlimm sein. Die bekommen doch reichlich zu fressen, und sie werden ja sowieso nur für den Markt gezüchtet.« Die Vorstellung, dass der Gedanke an Folteropfer statt Mit­gefühl Abwehrreaktionen wecken könnte (nach der Devise: »Die werden schon ihren Teil dazu beigetragen haben, dass es überhaupt so weit gekommen ist«) – diese Vorstellung wäre schmerzhaft. Daher ist es aus meiner Sicht auch bei der Anti-Folter-Werbung rat­sam, den logos-Appell zu verstärken und den Ball beim ethos-Appell etwas flacher zu halten. Im Übrigen ist zu bedenken, dass uns der Kampf gegen die Folter nötigt, das Gebiet der Ethik zu verlassen und das der Poli­tik zu betreten. Man könnte beispielsweise zum Nachdenken darüber anregen, wie man hiesige politischen Entscheidungs­träger dazu bringen könnte, aus einem Militärbündnis auszutreten, dessen führen­der Staat Folter­gefäng­nisse betreibt und sich dabei von anderen Mitgliedsstaaten unterstützen lässt. Das wäre eine politische Strategie, für die ich mich vor Ort einsetzen könnte. Ich schließe mich Helmut Fleischer an, der vor 20 Jahren schrieb: »das sittliche Sein der Menschen« besteht in einer Verbindung, in der »das je spezifische Können […] mit dem Wollen und dem Sollen« zusammenfindet und »in ein […] qualifiziertes Wirken« einmündet. Alles zusammen bildet erst »die Wirklichkeit des Ethos«51. Der Nor­ma­ti­vismus der kantianischen Moral­ philosophie, die aristotelische Ethos-Ethik und Scho­pen­­hauers Gefühlsethik: 50 | Siehe dazu Cooney, Nick: Change of Heart. What Psychology can teach us about spreading social change, New York: Lantern Books 2011, S. 41 f. 51 | H. Fleischer, Notizen über Ethik und Ethos, S. 44.

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Diese Positionen markieren Punkte auf einer ethi­schen Land­karte. Wir sollten sie in einer permanenten Such­bewegung durch­laufen.52 Es sind nicht die Gebiete verfeindeter Stämme; so treten ihre jeweiligen Fachvertreter zwar häufig auf, aber darum müssen sich Kommunikationsdesigner glücklicherweise nicht kümmern.

52 | So, wie Adorno das in seiner kritischen Theorie der Moral getan hat (siehe dazu Schweppenhäuser, Gerhard: Ethik nach Auschwitz. Adornos negative Moralphilosophie, Hamburg: Argument 1993 (Neuausgabe, Wiesbaden 2015).

Vom Dasein zum Design Heideggers »Zuhandenheit« und »Mitsein« als philosophische Grundlagen des Social Design Hyun Kang Kim

S ocial D esign und H eidegger Social Design ist eine Designbewegung, die die Rolle und Verantwortung des Designers in der Gesellschaft in den Mittelpunkt stellt. Designprozesse und -produkte bringen demnach soziale Veränderungen hervor und tragen zur Verbesserung des menschlichen Wohlergehens bei. Diese Studie geht von der These aus, dass Heideggers Begriffe der »Zuhandenheit« und des »Mitseins« aus Sein und Zeit als philosophische Grundlagen des Social Design angesehen werden können. Da Social Design Design innerhalb des sozialen Kontextes betrachtet, liegt die Rolle des Designers nicht nur im Entwerfen der Dinge, sondern auch im Entwerfen der sozialen Welt, in der die »wahren Bedürfnisse der Menschen«1 erfüllt werden. Die Prämisse des Social Design ist die fundamentale Eingebettetheit der Menschen und der Dinge in den sozialen Kontext. Sie findet ihr philosophisches Pendant in der Philosophie Heideggers, die den Begriff des Daseins als In-der-Welt-sein und Mitsein sowie den des Zeugs als Zuhandenes geprägt hat. Der Kern der Konzeption der Zuhandenheit ist ihre Entgegensetzung zur Vorhandenheit. Anders als das Ding, das bloß da ist, ist das »Zeug« für Heidegger »zur Hand«, zum Gebrauch verwendbar. Mit seiner Konzeption der Zuhandenheit wendet sich Heidegger von der Möglichkeit einer objektiven theoretischen Erkenntnis ab. Die Zuhandenheit ist die vorsemantische 1 | Papanek, Victor: Design for the Real World. Human Ecology and Social Change, New York: Thames & Hudson 1971, hier S. 3.

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Struktur des Verweisungszusammenhangs, die der Vorhandenheit stets vorausgeht. Das Zeug bezeichnet Dinge, die in unser In-der-Welt-sein involviert sind und die Welt, in der wir uns befinden, mitgestalten. Sie sind primär Dinge, die dem Leben dienen und von Menschen produziert sind. Sie sind aber vor uns als Individuum bereits da und haben die Welt mitgestaltet, die auch ohne uns weiter existieren würde. Nun stellt sich die Frage, ob das Zeug von uns abhängt oder umgekehrt. Eine angemessene Lösung scheint zu sein, von der Zusammengehörigkeit und Gleichursprünglichkeit von beiden auszugehen. Es ist nicht zu leugnen, dass wir Produzenten diverser Zeuge sind. Dennoch ist es primär das In-der-Welt-sein, das immer schon in einem Relationszusammenhang aufgespannt ist und unsere Bedürfnisse der Herstellung der Zeuge überhaupt erst erzeugt. Mit anderen Worten: Die Relation geht dem Subjekt und dem Objekt voraus. Das Dasein geht daher immer in seinem primären Umgang mit alltäglichen Gegenständen auf. Der Dienlichkeitszusammenhang des Zuhandenen impliziert einen Verweisungszusammenhang, in dem Dinge nah zu uns heranrücken. Dieser Verweisungszusammenhang ist uns Heidegger zufolge fast unbewusst und so nahe, dass nur die »Störung der Verweisung« (SZ 74)2 uns darauf aufmerksam macht. Überlegungen zum Design betreffen gerade diese Dinge, mit denen wir so unmittelbar umgehen, dass wir nur auf sie aufmerksam werden, wenn sie fehlen. Heideggers Philosophie eröffnet den Blick auf die Tatsache, dass wir in eine Welt hineingeworfen sind, in der Dinge und andere Menschen einen »Bewandtniszusammenhang« bilden, längst bevor wir als Produzenten Dinge entwerfen. Dies ist die konkrete Bedeutung des In-der-Welt-seins. Die Dinge existieren demnach nicht an sich, sondern sind immer schon in alltägliche Praktiken eingebunden. Dinge wirken sogar in der sozialen Konstruktion der Welt mit.3 Sie erfüllen daher nicht bloß eine Funktion innerhalb 2 | Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1993, hier S. 74. Es wird im Text mit der Sigle »SZ« unter Angabe der Seitenzahl zitiert. 3 | Hörning schreibt: »Als Gegenstände, Werkzeuge, Computer, Einrichtungen, Architekturen mischen so die Dinge kräftig in den menschlichen Angelegenheiten mit, veranlassen oder verhindern, legen nahe oder irritieren, decken auf, erweitern Kommunikationsformen, rufen Affekte hervor. Aus solcher Sicht sind die Artefakte viel mehr als der bloß materielle bzw. technisch-funktionale Ausdruck des ›eigentlich‹ Sozialen, das sich ausschließlich zwischenmenschlich konstituiert.« Hörning, Karl H.: »Praxis und Ästhetik. Das Ding im Fadenkreuz sozialer und

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der Gesellschaft, sondern gestalten diese aktiv mit. Für Bruno Latour sind sie sogar »Beteiligte« am Handlungsverlauf und »Akteure«, die »andere dazu bringen, Dinge zu tun«.4 Heideggers Bedeutung für die Designtheorie liegt darin, deutlich herausgestellt zu haben, dass Artefakte nicht nur technische, sondern auch »soziale Konstrukte« sind: »Wir konstruieren Artefakte nämlich nicht nur handwerklich-technisch, sondern auch als soziale Kategorie.«5 Das »Mitsein« ist Heidegger zufolge »ein existenziales Konstituens des In-der-Welt-seins« (SZ 125). Das Zeug im alltäglichen Umgang weist bereits auf andere hin, die es hergestellt haben bzw. die es ebenfalls gebrauchen können. Heidegger stellt somit die soziale Konstitution der Welt in den Mittelpunkt, die im cartesianischen Paradigma verdrängt wurde. Heideggers Konzeption des Mitseins weist jedoch einige Schwachpunkte auf, die im Rahmen dieser Studie kritisch zu überprüfen sind. Sie schließt zunächst die Möglichkeit einer eigentlichen bzw. authentischen Öffentlichkeit aus, weil die Öffentlichkeit von Heidegger als Ort des uneigentlichen »Man« disqualifiziert wird. Dasein weist Heidegger zufolge die dreiteiligen Strukturmomente »Existenzialität«, »Faktizität« und »Verfallen« auf. Faktizität steht dabei für die ursprüngliche »Geworfenheit« des Daseins in die Welt, Existenzialität hingegen für den Entwurfs-Charakter des Daseins. Dasein wird daher als »geworfener Entwurf« aufgefasst. Es ist folglich passiv und aktiv gleichzeitig. Das dritte Strukturmoment »Verfallen« verdeutlicht die Tatsache, dass Dasein »an die Welt verfallen« ist: an die Alltäglichkeit des »Man«. Diese negative Konnotation des »Verfallens« und des »Man« lässt sich als Ursache für die Nicht-Entwicklung der Ethik und Politik bei Heidegger deuten. Daher schlage ich vor, die Konzeption des Mitseins anhand der Philosophie Nancys kultureller Praktiken«, in: Stephan Moebius/Sophia Prinz (Hg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 36. 4 | Vgl. Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2007, S. 86. 5 | Zoglauer, Thomas: »Zur Ontologie der Artefakte«, in: Maus Friesen u.a. (Hg.), Ding und Verdinglichung. Technik- und Sozialphilosophie nach Heidegger und der Kritischen Theorie, München: Fink 2012, hier S. 29. Hörning schreibt: »Das alltägliche Handeln, der umsichtige, hantierende, gebrauchende Umgang in der Welt und mit der Welt enthält in Heideggers anti-kognitivistischer Kritik der Bewusstseinsphilosophie einen dem Erkennen vorgeordneten Status. Die Artefakte in ihrer ›Dienlichkeit‹, ›Verwendbarkeit‹, ›Handlichkeit‹ stehen im Vordergrund.« K.H. Hörning: Praxis und Ästhetik, S. 33.

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korrigierend zu ergänzen, die das Ethische und das Politische im Rahmen seiner dekonstruktivistischen Philosophie neu zu gründen versucht und im Zuge der er den Begriff einer authentischen Gemeinschaft entwickelt. Ein weiteres Problem der Existenzialphilosophie Heideggers ist ihre Vernachlässigung der Thematik von Leiblichkeit. Dieses Manko in seiner Konzeption des Daseins soll durch die Ergänzung der Phänomenologie Merleau-Pontys und Lévinas’ kritisch überprüft werden. Victor Papanek, der prominente Vertreter des Social Design, definiert Design als »the primary underlying matrix of life«.6 Die Nähe seiner Auffassung zu Heideggers Konzeption von »Verweisungszusammenhang« bzw. »Bewandtniszusammenhang« ist deutlich einsehbar. Darüber hinaus stellt er die These auf: »All men are designers. All that we do, almost all the time, is design, for design is basic to all human activity.«7 Nach seiner Definition hat Design den größtmöglichen Umfang, der alle menschlichen Tätigkeiten umfasst. Alle Menschen sind demnach von ihrer Grundbestimmung her Entwerfer. Heideggers Begriff des Daseins als »geworfener Entwurf« (SZ 285) liefert ein hervorragendes Instrument, um die zentralen Thesen des Social Design auf den Punkt zu bringen. Einerseits ist der Mensch in die Welt geworfen und wird so von kulturellen und gesellschaftlichen Normen bestimmt. Andererseits ist er im Stande, eine neue soziale Welt zu entwerfen, für die er die Verantwortung trägt. Social Design ist nichts anderes als die Konsequenz unseres In-der-Welt-seins, welches die Passivität der Geworfenheit mit der Spontaneität des Entwurfs in Verbindung bringt. Darum ist es wertvoll, die Bedeutung der Daseinsanalyse Heideggers für das Social Design fruchtbar zu machen. Dennoch gibt es zumindest zwei Aspekte des Social Design, die innerhalb der Philosophie Heideggers unterbelichtet sind: der Aspekt der Gemeinschaft und der der Sinnlichkeit bzw. Materialität. Social Design stellt von vornherein die Konzeption einer Gemeinschaft in den Mittelpunkt. Denn es versteht sich als Angelegenheit einer Gruppe von Menschen. Es ist zum einen eine Intervention in die kommunalen Angelegenheiten. Der lokale Aspekt steht daher im Zentrum der Konzeption des Social Design. Wichtig ist dabei, dass nicht nur Designer, sondern auch potentielle Nutzer als Mitglieder der Gemeinschaft im Prozess der Intervention involviert sind. Social Design ist zum anderen immer Produkt einer Teamarbeit, d.h. eine Angelegenheit 6 | V. Papanek: Design for the Real World, S. 3. 7 | Ebd.

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in einer Arbeits- und Lebensgemeinschaft. Denn Social Design kennzeichnet u. a. einen Paradigmenwechsel vom individuell arbeitenden Spezialisten zum gemeinschaftlich kooperierenden Generalisten. Letztlich ist nur ein Design-System, in dem verschiedene Menschen interdisziplinär zusammen arbeiten, in der Lage, die global erzeugten komplexen Probleme unserer Welt zu lösen und dadurch das Leben vieler Menschen zu verbessern. Die Sinnlichkeit bzw. die Materialität der Artefakte ist ein weiterer Aspekt, der in der Philosophie Heideggers kaum berücksichtigt wurde. Der Grund ist wohl darin zu suchen, dass Heidegger das Zeug von der Dienlichkeit und dem Verweisungszusammenhang her bestimmt und somit seine Eigenständigkeit negiert. Das Zeug ist keine eigenständige Substanz, welcher eine eigene dinghafte Materialität zusteht. Es kann überhaupt nicht an sich aufgefasst werden, sondern tritt erst in der Abhängigkeit zu anderen Dingen und Menschen in Erscheinung. Für Social Design sind die Artefakte immer schon soziale Konstrukte. Sie sind Stoffe, die in den sozialen Kontext eingebettet sind und einen wesentlichen Bestandteil des Sozialen bilden. Sie stehen daher dem Zeugsein Heideggers nahe, sind nicht nur strukturiert, sondern auch strukturierend. Man könnte sie daher im Sinne von Bourdieu als »eine strukturierte und strukturierende Struktur« auffassen.8 Das strukturierende Potential der Artefakte rührt jedoch von ihrer Materialität her, die nicht einfach passiv geformt werden soll, sondern auch aktiv neue Praktiken und soziale Effekte evozieren kann. Im Unterschied zu Heidegger versuchen Merleau-Ponty und Lévinas, die Welt in ihrer sinnlichen Ganzheit aufzufassen und bieten daher eine sinnvolle Ergänzung für die Designforschung.

8 | Vgl. Prinz, Sophia/Moebius, Stephan: »Zur Kultursoziologie des Designs. Eine Einleitung«, in: Ders. (Hg.), Das Design der Gesellschaft. Zur Kultursoziologie des Designs, Bielefeld: transcript 2012, S. 15.

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Z uhandenheit Heidegger entwickelt in Sein und Zeit eine Phänomenologie der Dinge, die er in seiner späteren Schaffensphase weiter verfolgt. Parallel zur Bemühung, Dasein nicht von seinem Bewusstsein, sondern von seinem Bezug zur Welt, d.h. seinem In-der-Welt-sein ausgehend zu untersuchen, betrachtet er Dinge nicht einfach als Gegenstände der theoretischen Untersuchung, sondern nimmt sie als »das innerhalb der Welt vorhandene Seiende« ernst, welches »innerhalb der Welt begegnet und auf verschiedenen Wegen und Stufen entdeckbar wird« (SZ 63). Mit dieser Blickwendung distanziert Heidegger sich von seinem Lehrer Husserl, dessen Phänomenologie zwar eine Wendung »zu den Sachen selbst« fordert, aber dennoch die Gegenstandswelt als Konstitutionsleistung eines transzendentalen Ichs erklärt. Das transzendentale Ich ist Husserl zufolge kein menschliches Individuum mit psychischen Zuständen, sondern die Gesamtheit der intentionalen Prozesse, die unserer Wahrnehmung zugrunde liegen. Heidegger stellt die Möglichkeit dieses transzendentalen Ichs in Frage. Eine voraussetzungslose, urteilsfreie Wahrnehmung, die Husserl dem transzendentalen Ich zuschreibt, ist seiner Meinung nach unmöglich. Er zeigt hingegen, wie das Dasein von vornherein in seinem Lebenskontext eingebettet ist und insofern die Welt gar nicht voraussetzungslos wahrnehmen kann. In seinen Augen überspringt Husserl »das Umwelterlebnis zugunsten der Dingwahrnehmung«9. Er will mit diesem Vorrang der theoretischen Erkenntnis, die Husserls Phänomenologie noch so sehr prägt, endgültig brechen und geht stattdessen von der Identität von Theoretischem und Praktischem aus. Heidegger sagt deshalb, »das Betrachten ist so ursprünglich ein Besorgen, wie das Handeln seine Sicht hat« (SZ 69). Das theoretische Betrachten und das praktische Handeln sind demnach untrennbar miteinander verwoben. Die Praxis kann daher der Theorie nicht bloß entgegengestellt werden. Der Begriff der Zuhandenheit steht gerade für diese Untrennbarkeit von theoretischem und praktischem Aspekt des innerweltlich Seienden. Wir haben primär mit Gegenständen zu tun, die nicht bloß vorhanden sind, sondern zuhanden, d.h. uns zur Hand gegeben sind. Die Intentionalität, die bei Husserl die Struktur des Bewusstseins kennzeichnet, wird somit bei Heidegger »an die Gegebenheitsweise der 9 | Jamme, Christoph: »Stichwort: Phänomenologie. Heidegger und Husserl«, in: Dieter Thomä (Hg.), Heidegger-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung, Stuttgart/Weimar: Metzler 2003, hier S. 39.

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Dinge selbst angeschlossen«10. Sie ist mit anderen Worten nicht mehr dem Bewusstsein des Subjekts zugeschrieben, sondern bestimmt die Seinsweise des Zeugs. Was ist nun ein Zeug? Heidegger schreibt: »Ein Zeug ›ist‹ strenggenommen nie. Zum Sein von Zeug gehört je immer ein Zeugganzes, darin es dieses Zeug sein kann, das es ist. Zeug ist wesenhaft ›etwas, um zu…‹. Die verschiedenen Weisen des ›Um-zu‹ wie Dienlichkeit, Beiträglichkeit, Verwendbarkeit, Handlichkeit konstituieren eine Zeugganzheit. In der Struktur ›Umzu‹ liegt eine Verweisung von etwas auf etwas.« (SZ 68)

Ein Zeug ist demnach keine Substanz. Es ist immer schon in einer »Zeugganzheit« bzw. einem Verweisungszusammenhang eingebettet. Seine Seinsweise ist untrennbar von dem »Zeugganzen«. Es kommt daher niemals einzeln und isoliert vor. Es ist jedoch nicht ein Teil des Ganzen, das zu einem Ganzen gehört, sondern umgekehrt gehört zu seinem Sein immer ein Ganzes. Mit anderen Worten: Es ist ein Singuläres, auf das eine Ganzheit immer schon Bezug nimmt. Hier kehrt sich das metaphysische Verhältnis zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen um. Das Einzelne wird nicht mehr dem Allgemeinen subsumiert, sondern es avanciert zum konstitutiven Ort, an dem das Allgemeine sich erst herstellt und das Einzelne als dieses in einem Ganzen begreifbar macht. (Genau die gleiche Logik begleitet auch den Begriff des Daseins. Dasein ist kein Individuum, das dem Rest der Welt gegenübersteht, sondern ist immer schon in der Welt. Es ist nicht eine Substanz, die in der Welt vorkommt, sondern dessen Bestimmung ist das In-derWelt-sein: Es ist überhaupt nur als Mitsein und In-der-Welt-sein erschließbar. Mit anderen Worten: Seine Beziehung in und mit der Welt macht es erst aus, wobei nicht eine Beziehung zwischen zwei Substanzen gemeint ist, sondern eine Beziehung, die alles andere erst sein lässt.) Heidegger sagt: »Zuhandenheit ist die ontologisch-kategoriale Bestimmung von Seiendem, wie es ›an-sich‹ ist« (SZ 71). Somit stellt er klar dar, dass er nicht nur die Seinsweise des Zeugs als Zuhandenheit begreift, sondern die Seinsweise des innerweltlich Seienden überhaupt. Er ersetzt somit den herkömmlichen Dualismus zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Welt durch die Relation von Dasein und Zeug, wobei bei diesen die Eingebettetheit 10 | Bedorf, Thomas: Andere. Eine Einführung in die Sozialphilosophie, Bielefeld: transcript 2011, hier S. 95.

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in die Verweisungsganzheit bzw. die »Bewandtnisganzheit« (SZ 84) und die Existenz Anderer von zentraler Bedeutung ist. Der Verweisungszusammenhang als Relation bzw. »Relationssystem« ist für Heidegger keineswegs ein bloß »Gedachtes«, ein »in einem ›Denken‹ erst Gesetztes«, sondern besteht aus echten »Bezügen«, die die Welt konstituieren (SZ 88). Die Welt besteht demnach nicht aus dem Subjekt, das von seiner transzendentalen Warte aus auf die Welt Bezug nimmt, auf der einen Seite und der objektiven Welt auf der anderen Seite. Es geht Heidegger vielmehr um die Begegnung zwischen Dasein und Zuhandenem. Das Dasein, so Heidegger, »läßt je immer schon, sofern es ist, Seiendes als Zuhandenes begegnen« (SZ 86). »Dasein hat sich, sofern es ist, je schon auf eine begegnende ›Welt‹ angewiesen, zu seinem Sein gehört wesenhaft diese Angewiesenheit« (SZ 87).

M itsein Der Verweisungszusammenhang, der zur Zuhandenheit des Zeugs gehört, verweist nicht nur auf Dinge und Zeuge, sondern auch auf die Anderen, die diese Dinge und Zeuge hergestellt haben oder nutzen. Im Unterschied zu den Dingen sind diese Anderen weder vorhanden noch zuhanden, sondern »auch und mit da« (SZ 118). Für Heidegger ist die Welt »je schon immer die, die ich mit dem Anderen teile. Die Welt des Daseins ist Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen« (SZ 118). Dabei ist das »Mitsein mit Anderen« nicht bloß ein Zusatz für das Dasein, sondern geradezu konstitutiv für dieses. »Dieses Mitdasein der Anderen ist nur innerweltlich für ein Dasein und so auch für die Mitdaseienden erschlossen, weil das Dasein wesenhaft an ihm selbst Mitsein ist« (SZ 120). Da Dasein wesenhaft Mitsein ist, »bestimmt [… es das Mitsein] existential auch dann, wenn ein Anderer faktisch nicht vorhanden und wahrgenommen ist« (SZ 120). Unabhängig davon, ob Andere empirisch gegenwärtig sind, ist Dasein strukturell durch den Bezug zu den Anderen bedingt. Daher sagt Heidegger: »Mitsein ist eine Bestimmtheit des je eigenen Daseins […]. Das eigene Dasein ist nur, sofern es die Wesensstruktur des Mitseins hat, als für Andere begegnend Mitdasein« (SZ 121). »Sofern Dasein überhaupt ist, hat es die Seinsart des Miteinanderseins« (SZ 125). Es klingt bisher so, als würde Heidegger von hier aus eine Theorie des Miteinanderseins entwickeln. Das tut er aber nicht. Die Frage ist nun: Warum vollzieht Heidegger nicht den Übergang von der »existential-ontologischen« Analyse des Daseins zu einer Theorie der Gemeinschaft, die im Begriff des

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Daseins als Mitsein angelegt zu sein scheint? Der Grund liegt darin, dass die Anderen bei Heidegger nicht nur in Form der Seinsweise des Mitseins, sondern auch in Form des Man auftreten.11 Mit dem Terminus »Man« bezeichnet Heidegger die »Seinsart der Alltäglichkeit«, die durch die »Abständigkeit«, »Durchschnittlichkeit« und »Einebnung« gekennzeichnet ist (SZ 127). Das Man entlastet demzufolge das Dasein in seiner Alltäglichkeit und überlässt es der »Unselbständigkeit und Uneigentlichkeit« (SZ 128). Das Man steht folglich für die Verflachung des eigentlichen »Seinkönnens« des Daseins und tritt bezeichnenderweise im Modus der Anderen auf. Denn Heidegger identifiziert die Anderen, die im alltäglichen Miteinandersein dem Dasein das Sein abnehmen und »über die alltäglichen Seinsmöglichkeiten des Daseins« verfügen (SZ 126), als das Man. Die Anderen erscheinen daher als eine Bedrohung, als ein Feindbild. Diese negative Konnotation der Anderen, die im Begriff des Man impliziert ist, hindert Heidegger daran, die Öffentlichkeit positiv zu bewerten und eine Theorie der authentischen Öffentlichkeit zu konstruieren. Die negative Einschätzung der Anderen geht des Weiteren mit der Bestimmung des Daseins selbst einher. Heidegger fasst das Dasein nicht nur als »Mitsein mit Anderen und Sein bei Zuhandenem und Vorhandenem«, sondern gleichzeitig als »Zu-sich-sein« auf.12 Das Dasein ist zunächst geworfen in die Uneigentlichkeit des Man und muss durch die bewusste »Vereinzelung« (SZ 191) zur Eigentlichkeit, d.h. der authentischen Möglichkeit der Existenz zurück finden. Die Tatsache, dass es »faktisch mit Anderen [existiert]« (SZ 383), soll durch die »Entschlossenheit«, auf sich selbst zurückzukommen, überwunden werden. Die Grundlage des Daseins ist letztlich ein »existentialer Solipsismus« (SZ 188), auf dem man keine Ethik und soziale Theorie bauen kann. Obwohl das Dasein als Mitsein eine grundlegende Alterität in sich trägt, wird diese rein negativ gedacht. Mit anderen Worten: Auch wenn Heidegger Dasein als Mitsein bestimmt, ist die Existenz Anderer letztlich »vom Dasein her gedacht«13. Aufgrund dieses Solipsismus versäumt Heideg11 | Thomas Bedorf sagt treffend, dass die Anderen bei Heidegger »zugleich in Form der selbstverständlichen Seinsweise des Mitseins wie auch der zudringlichen Niveaulosigkeit der Man« auftreten. Ebd., S. 99. 12 | Heidegger, Martin: Die Grundprobleme der Phänomenologie, Marburger Vorlesung Sommersemester 1927, Gesamtausgabe, Bd. 24, hg. v. Friedrich-Wilhelm von Hermann, Frankfurt a.M.: Klostermann 1989, S. 427f. 13 | T. Bedorf: Andere, S. 99.

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ger, den Anderen eine eigenständige Existenz einzuräumen und als andere mitseiende Daseine ernst zu nehmen.

N ancys G emeinschaf t Nancys Theorie der Gemeinschaft setzt genau dort an, wo Heidegger endet. Er versucht, eine Ontologie des Mitseins zu entwickeln. Er versteht dabei das Mitsein bzw. Zusammensein im ekstatischen Sinne als geteiltes Sein. Die Bedeutung des »Mit« des Mitseins liegt demzufolge in einem »Zusammen«, das weder äußerlich noch innerlich ist. Das Mitsein tritt für Nancy schließlich als ursprüngliche ontologische Bedingung hervor. Nancys Ausganspunkt ist kein Subjekt, sondern sind Singularitäten. Im Gegensatz zum modernen Subjekt, das als unteilbares Individuum erscheint, sind Singularitäten dem Zwischen in ihrem Verhältnis der Teilung ausgesetzt. Denn sie entstehen durch den Akt des Teilens selbst. Sie setzen dabei nicht das Ganze der Gemeinschaft voraus, auf welches sie Bezug nehmen, sondern beziehen sich lediglich auf den Entzug der Gemeinschaft. D.h., Gemeinschaft ist nicht, sondern ereignet sich: Sie ist nicht substantiell, sondern akzidentell. Nancy weist darauf hin, dass Heideggers Man als Annäherung an die existentielle Alltäglichkeit nicht hinreichend ist, da »[e]s bewirkt, dass das Alltägliche mit dem Indifferenten, Anonymen und Statistik verwechselt wird«14.Heidegger habe zwar das Mitsein als wesentliches Moment für die Konstitution des Daseins angesehen, führe aber »die Mit-Ursprünglichkeit des Mitseins erst ein, nachdem er die Ursprünglichkeit des Daseins etabliert hat«.15 Im Gegensatz zu Heidegger, der Mitsein vom Dasein ausgehend denkt, räumt Nancy dem Mitsein einen ontologischen Vorrang ein. Er hebt daher deutlich hervor, dass »das Mit im Zentrum des Seins«16 steht. Für ihn gilt: »Mitsein geht Dasein voraus.«17 Das Zwischen und das Mit sind demnach irreduzible Aspekte des Seins, welche dieses konstituieren. 14 | Nancy, Jean-Luc: Singulär plural sein, Zürich: Diaphanes 2012, hier S. 29. 15 | Ebd., S. 59f. 16 | Ebd., S. 59. 17 | Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2010, hier S. 112.

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Trotz des sinnvollen Versuchs, die Bedeutung des Mitseins ins Zentrum zu rücken und dadurch eine Theorie der authentischen Gemeinschaft zu initiieren, bleibt Nancys Konzeption des Mitseins jedoch im Rahmen seiner Ontologie. Denn er versucht Mitsein ausschließlich von der Ontologie her zu bestimmen und fasst es nicht als Gegenstand der politischen Philosophie auf. Sein Versuch liegt lediglich darin, »Mitsein als solches« begreiflich zu machen, ohne es zugleich als »eine Form der politischen Institution« zu verstehen.18 Sein Projekt der Untersuchung einer authentischen Gemeinschaft bleibt daher lediglich ein ontologischer Entwurf ohne Erweiterung zur konkreten Sozialtheorie.

M erle au -P ont ys L eiblichkeit Im Zentrum der Philosophie Merleau-Pontys steht die Alterität im Selbst. Das Selbst ist demzufolge nicht mit sich selbst identisch, da es in sich bereits Alterität enthält. Merleau-Ponty schreibt: »[H]abe ich selbst kein Außer-mir, so haben die Anderen kein In-sich. Habe ich ein absolutes Bewusstsein meiner Selbst, so ist eine Mehrheit von Bewußtseinssubjekten unmöglich.«19 Merleau-Ponty geht nicht wie Husserl vom Primat des Bewusstseins aus, sondern vom Primat der Wahrnehmung und betont die Sinnlichkeit und die Leiblichkeit. In seiner Leiblichkeit tritt das wahrnehmende Subjekt immer schon mit Anderen in Beziehung. Der Leib bildet demnach »eine dritte Seinsweise« »zwischen reinem Subjekt und Objekt«.20 Daher treten die Welt und der Andere sich nicht als Objekte gegenüber, sondern stehen stets in Beziehung zum Selbst. Waldenfels fasst die Beziehung zwischen dem Ich und dem Anderen bei Merleau-Ponty wie folgt zusammen: »Ich bin nie rein ich selbst, alles andere ist nie rein das andere. […] Ich bin niemals so sehr bei mir, dass mir der Andere völlig fremd wäre.«21 Da der Leib weder reines Subjekt noch reines Objekt ist und ich und die Welt nicht wirklich getrennte Substanzen sind, sind die Dinge in der Welt 18 | Vgl. J.-L. Nancy: Singulär plural sein, S. 61. 19 | Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1974, hier S. 425. 20 | Vgl. Ebd., S. 401. 21 | Waldenfels, Bernhard: »Das Problem der Leiblichkeit bei Merleau-Ponty«, in: Ders., Der Spielraum des Verhaltens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1980, hier S. 43f.

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für ein leibliches Subjekt keine bloßen Gegenstände. Sie sind vielmehr in der leibhaften Welt miteinander verwoben. Diese Verschmelzung nennt Merleau-Ponty »Chiasmus«. Die Beziehung im Modus des Chiasmus geht demnach dem Subjekt und dem Objekt stets voraus. Meleau-Ponty sagt daher, dass »weder der Leib des Anderen noch die Gegenstände, auf die sich dieser richtet, für mich je reine Objekte waren, denn sie waren meinem Gesichtsfeld und meiner Welt inhärent, sie sind also von Anfang an Spielarten dieses fundamentalen Bezugs«22.

L é vinas ’ A lterität Lévinas weist darauf hin, dass Heidegger dem Wort Sein einen neuen, verbalen Klang gegeben hat. Er habe es nicht mehr als Substantiv für etwas Bestehendes, sondern als Geschehen, Ereignis verstanden, in dem es zur Sprache kommt.23 Diese Bedeutung des Seins als Verb, als Ereignis muss im Begriff des Mitseins mitgedacht werden. Das Dasein ist Mitsein, d.h. es ist nicht etwas substantiell Bestehendes, sondern etwas Werdendes. Es gestaltet sich mit der Welt und in der Welt mit. Lévinas kritisiert jedoch Heidegger dafür, dass er aufgrund seiner Konzeption des Daseins als Sorge um sein Sein dem totalisierenden Seins-Denken verhaftet bleibt. Er habe dabei den anderen Menschen als Anfang des Denkens vergessen. Darüber hinaus weist Lévinas darauf hin, dass Heidegger entgangen sei, dass »die Welt, bevor sie ein System von Werkzeugen ist«, die im Dienst der Sorge stehen, »eine Sammlung von Nahrungsmitteln« ist, die sich dem Genuss anbieten.24 Mit diesem Argument versucht Lévinas, die Sinnlichkeit in die Philosophie Heideggers nachzutragen. Der Genuss ermöglicht dem Dasein, über sich hinauszugehen und sich der sinnlichen Welt auszusetzen. Er fordert somit die Selbsttranszendierung des Daseins heraus.25 22 | Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt, München: Fink 1993, hier S. 153. 23 | Vgl. Lévinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg (Brsg.)/München: Alber 1992, S. 96-106. 24 | Vgl. Lévinas, Emmanuel: Die Zeit und der Andere, Hamburg: Meiner 1984, S. 36. 25 | Insofern steht der Genuss dem Exzess Batailles nahe. Die Frage ist nun: Ist dieses Moment des Exzesses nicht in Heideggers Konzeption des Daseins als Ek-

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Dennoch greift diese Kritik Lévinas’ zu kurz. Denn sie basiert auf dem Verständnis des Zeugseins als Zweck-Mittel-Verhältnis. Es geht aber Heidegger nicht um die Funktionalität des Zeugs, sondern um eine inhärente Ganzheit, einen »Verweisungszusammenhang«, in dem die Zeuge sinnhaft aufeinander verweisen. Dieser Verweisungszusammenhang durch die Zuhandenheit geht über das praktische und instrumentelle Verhältnis weit hinaus. Er bildet vielmehr für das menschliche Dasein die Basis zum Verständnis der Welt. Denn das Dasein versteht die Welt insofern, als es sich in ihr tätig orientiert. Diese alltägliche, tätige Orientierung in der Welt nennt Heidegger »Sorge«. Sie ist für ihn die primäre Art und Weise, in der Welt zu sein. Sorge als praktischer Umgang mit etwas steht daher primär für die interne strukturale Ganzheit von Welt und Dasein. In der Sorgestruktur geht es nicht primär um die Sorge des Daseins um sich selbst, sondern um die Struktur seiner Ganzheit, des Involviertseins. Lévinas hat dennoch Recht, wenn er hervorhebt, Heidegger habe ethische Überlegungen versäumt. Insofern das Dasein kein solipsistisches Individuum, sondern ein Mitsein ist, liegt es nahe, eine Ethik und Politik ausgehend von der Grundstruktur des Daseins zu entwickeln. Im Unterschied zu Heidegger entwickelt Lévinas ausgehend von dessen Daseinsanalyse eine Ethik der »asymmetrischen Intersubjektivität«26. Er geht vom absoluten Vorrang des Anderen gegenüber dem Ich aus. Andere können demnach weder Gegenstände des Wissens noch Subjekte in wechselseitiger Anerkennung sein. Wir stehen mit ihnen in einer Beziehung, in welcher wir auf den Appell des Anderen antworten und dadurch uns selbst erst konstituieren. Ausgehend von diesem Konzept des Anderen, der dem Ich immer schon vorausgeht, entwickelt Lévinas eine Ethik der radikalen Alterität, in

sistenz im Sinne von Außer-sich-sein bereits angelegt? Ist das Dasein lediglich ein Selbstbezug, wie Lévinas behauptet, oder ist es etwas, das immer schon sich selbst transzendiert? Ich plädiere dafür, Dasein als Selbsttranszendierung und Exzess aufzufassen, da es als »geworfener Entwurf« immer schon in den Prozess der Transformation und Neugestaltung involviert ist. Das Dasein als Mitsein steht letztlich für seine ontologische Unabgeschlossenheit, welche mit derselben der Welt korreliert. 26 | Lévinas, Emmanuel: Vom Sein zum Seienden, Freiburg (Brsg.)/München: Alber 1997, hier S. 119.

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der der Begriff der Verantwortung eine grundlegende Bedeutung hat.27 Sein Begriff der Verantwortung differenziert sich jedoch von gängigen Begriffen der Verantwortung, »weil er weder juridisch, noch kausal, sondern ethisch konzipiert wird. Die Verantwortung, die das Ich dem Anderen schuldet, ist prinzipiell unerfüllbar und erfordert Antworten, die das Subjekt zu erfinden hat«.28

F a zit Heideggers Begriffe der Zuhandenheit und des Mitseins sind für die Theorie des Social Design von grundlegender Bedeutung. Der Begriff der Zuhandenheit erschließt die fundamentale Bedeutung des sozio-kulturellen Kontexts, in dem Dinge und Menschen immer schon involviert sind. Der Begriff des Mitseins legt nahe, unsere Seinsweise prinzipiell als Miteinandersein zu verstehen. Dabei geht es aber nicht um die Beziehung zwischen verschiedenen Individuen, welche aus heterogenen Elementen ein homogenes Ganzes macht, sondern um die uneinholbare Beziehung, die Einzelnen immer schon vorausgeht. Nancy schließt sich diesem antimetaphysischen Begriff des Mitseins an, um daraus eine Theorie der Gemeinschaft zu entwickeln. Gegenüber Heideggers Gleichursprünglichkeit von Dasein und Mitsein mit der Akzentuierung auf das Dasein proklamiert Nancy den Vorrang des Mitseins gegenüber dem Dasein. Für ihn ist das Mitsein primär und geht dem Dasein voraus. Seine Konzeption der Gemeinschaft, die auf dem Begriff des Mitseins als Teilung des Ganzen basiert, bleibt dennoch unvorstellbar und undarstellbar, da er lediglich eine Ontologie des Mitseins als unvorhersehbares Ereignis entwirft und eine konkrete Ausführung für eine Sozialtheorie bewusst auslässt. 27 | Mein Vorschlag ist nicht, wie Lévinas eine Ethik ausgehend von der irreduziblen Alterität zu entwickeln, sondern, mit Heidegger über Heidegger hinauszugehen, d.h. innerhalb seiner Konzeption des Daseins als Mitsein eine nicht-substantielle Ethik und Politik zu gründen. Denn sofern das Dasein ein Mitsein ist und immer schon auf den Verweisungszusammenhang angewiesen ist, den es seinerseits zu seinem eigenen Zentrum macht, ist es substanzlos. Es wird von der Welt mitgeprägt, während diese ihrerseits von ihm mitgestaltet wird. Diesem wechselseitigen Verweisungszusammenhang gilt es gründlich nachzugehen. 28 | T. Bedorf: Andere, S. 177.

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Merleau-Ponty trägt der Unterbeleuchtung der Leiblichkeit in Heideggers Konzeption des Daseins Rechnung und erklärt das Verhältnis zwischen Ich und Welt als leibhafte Verwobenheit, als »Chiasmus«. Die Dinge treten demnach nicht als objektive Gegenstände dem Subjekt entgegen, sondern sind mit dem leibhaften Subjekt verwoben. Bei Merleau-Ponty stellt sich die Leiblichkeit als eine fundamentale Beziehung heraus, welche weder ein reines Subjekt noch ein reines Objekt kennt. Lévinas macht mit seiner Konzeption des Genusses auf die Bedeutung der Sinnlichkeit und des sinnlichen Umgangs mit der Welt aufmerksam. Er stellt seine Theorie der radikalen Alterität dem »existentialen Solipsismus« Heideggers entgegen und kritisiert dessen Tendenz zur Rückkehr zur Eigentlichkeit, die er als einen Rückfall in die Metaphysik kritisiert. Stattdessen besteht er auf dem Primat des Anderen gegenüber dem Ich und dessen uneingeschränkte Verantwortung dem Anderen gegenüber. Diese von mir untersuchten Autoren entwickeln jeweils eine phänomenologische Analyse der Dingwelt und Mitmenschen, in der Dinge und Menschen konstitutiv miteinander in Beziehung treten. Die Hervorhebung des lebensweltlichen Kontexts, der Dingen und Menschen immer schon vorausgeht, ist in ihren Thesen von zentraler Bedeutung. Jedoch hat keiner der genannten Autoren von dort aus eine konkrete soziale Theorie entwickelt, die den alltäglichen Umgang mit Dingen und Mitmenschen umfasst. Es bleibt daher die Aufgabe einer Theorie und Praxis des Social Design, die ontologische Erkenntnis der Dinge und der Welt in die Praxis der sozialen Veränderung zu transformieren. Denn Social Design beginnt dort, wo Dasein als »geworfener Entwurf« aufgefasst wird, welcher sich nicht in passiver Faktizität erschöpft, sondern stets auch im Begriff ist, die Welt neu zu gestalten.

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Zu einer kritischen Theorie des Social Design Anke Haarmann Beginnen wir mit zwei Beispielen, um eine kritische Differenz zwischen Social Design und Social Design zu erkennen. Gleichgeschrieben das eine wie das andere und doch mit Unterschieden in der emanzipatorischen Dimension des Gestaltens und der Wirkung im Sozialen. Ein Lastenrad auf der einen Seite und ein Stadtgarten auf der anderen.

D as L astenr ad für selbstbestimmte B ürger N55 ist ein Designerkollektiv und versteht sich als offene non-profit Kooperations-Plattform. Die Gruppe arbeitet seit dem Ende der 1990er Jahre in unterschiedlichen Besetzungen zusammen.1 Begonnen hat N55 in Kopenhagen. Seit kurzem gibt es einen zweiten Standort im Hamburger Gängeviertel. Die Designer von N55 entwickeln und entwerfen Mikro-Hygienesysteme für Ateliers ohne Badezimmer, innerstädtische Gemüseproduktionsstätten oder mobile Wohneinheiten für temporäre Orte im öffentlichen Raum. Eines der bekanntesten Projekte von N55 ist das »Walking House«, das sich als mobile Wohneinheit auf beweglichen Stelzen fortbewegen und an unterschiedlichen Plätzen niederlassen kann. Lastenfahrräder sind eine der jüngeren Entwicklungen von N55 und sie folgen einer neuen Logik des sozialen Gestaltens. Während das laufende Haus auf der Seite von Gestaltung und Produktion noch mit einem hohen technologischen Aufwand und exklusivem Spezialwissen realisiert wurde, um auf der Seite der Nutzer einen möglichst großen Bewegungsradius und Freiraum zu erschaffen, sind die Lastenradmodelle 1 | Vgl. http://n55.dk bzw. http://www.n55.dk/MANUALS/N55/N55.html (aufgerufen am 27.07.2015).

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von N55 so entworfen, dass sie ohne besonderen technischen Aufwand von den Nutzenden selber hergestellt werden können. Reclaim the Production ist der Slogan, unter dem jeder zum Produzenten seiner Waren werden soll.2 Die Produktion des sozialen Designprodukts selber wird Teil des Gestaltungsprozesses, so dass Selbstbestimmung und damit Freiräume für die Nutzenden möglich werden, die dabei ihre Rolle von Konsumenten in Produzenten verwandeln. Grundlage der Lastenradkonstruktion von N55 sind handelsübliche Aluminiumkantstangen, die mit einfachen Werkzeugen gesägt und gebohrt werden, um das Rad nach einer frei zugänglichen Bauanleitung zusammenzubauen. Es geht N55 darum, Menschen überall auf der Welt zu befähigen, ihre eigenen und dabei nachhaltigen Transport- und Fortbewegungsmittel ohne Spezialwissen zu bauen und mit diesen den öffentlichen Raum zu erobern, sich selbstständig zu machen oder die Autos zu verdrängen. N55 sieht seine gestalterische Aufgabe darin, eine lebenswertere Welt zu antizipieren, um konkrete Situationen als utopische Vorschläge zu entwerfen. Es geht der Gruppe darum, soziale, politische und ökonomische Systeme zu entwickeln, die es uns ermöglichen, ein hohes Maß an Selbstbestimmung über unsere eigene Lebensumwelt zu erlangen. Die Nutzer und Nutzerinnen der Gestaltungsobjekte von N55 werden, dem Anspruch nach, zur Mündigkeit befähigt. Sie sollen ermächtigt werden, sich die Strukturen und Objekte ihrer Alltagsumgebung anzueignen und vor allem auch deren Herstellung und Modifikation selber zu betreiben. Für den Grad der Selbstbestimmung der Designergruppe selber ist dabei von zentraler Bedeutung, dass N55 aus einem Zustand der Selbstbeauftragung heraus agiert und nicht als Agentur oder Büro aufgrund von Kundenaufträgen tätig wird. In dieser Hinsicht kann N55 als freie Gestaltung mit gesellschaftlichem Anspruch verstanden werden. Die Gruppe finanziert sich – und diese Ebene ist bei der Beantwortung der Frage nach der Notwendigkeit einer Kritischen Theorie des Social Design keineswegs irrelevant – über Zuwendungen, Ausstellungsprojekte oder Stipendien im Rahmen des Kulturbetriebs – nicht über den freien Markt und die Veräußerung ihrer Objekte als Produkte.

2 | Vgl. http://www.n55.dk/MANUALS/SPACEFRAMEVEHICLES/spaceframevehi cles.html (aufgerufen am 27.07.2015).

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D er D achgarten für I nvestorenpl äne Ein Dachgarten ist ein anderes soziales Designprojekt, das im Hamburger Stadtteil St. Pauli seit Herbst 2014 aufgetaucht ist. Es versteht sich als »Anwohner-Beteiligungsprojekt zur partizipativen Gestaltung und Nutzung« eines Stadtgartens und positioniert sich weniger im Feld des sozialen Produktdesigns wie N55, als vielmehr im Feld des Urban Designs. Es geht dem Projekt darum, einen innerstädtischen Flakbunker aus der Nazizeit um die Hälfte seiner bestehenden Höhe pyramidal aufzustocken und diesen Aufbau mit verschiedenen Gartenelementen wie urban gardening, Grünrampen und Parkhügellandschaften zu versehen, deren Gestaltung in Teilen mit Anwohnerhilfe durchgeführt wird. Die Anwohnerplanung hat dabei allerdings einiges an diesem Bauprojekt nicht zum Gegenstand: die gesamte Aufstockung des Gebäudes sowie deren Form und Nutzung, darüber hinaus auch nicht ein Großteil der Außenrampe als Zuwegung für das Pyramidendach und ebenso wenig weite Teile der Dachfläche, die als Fluchtweg genutzt werden müssen. Eingeschränkt werden die Gestaltungsmöglichkeiten der Nachbarn an der verbleibenden Bunkerdachgartenfläche außerdem durch die halbseitige Verschattung des Gebäudes und die Witterungsbedingungen in 35-50 m Höhe, welche die pflanzlichen Maßnahmen auf einige, widerständige Sorten reduzieren. »Am Anfang war der Garten«3, so beginnen gleichwohl die Projektorganisatoren die Geschichte der Entstehung ihres Gestaltungsprojekts. Ihnen gehe es um die Umsetzung einer Idee aus der Nachbarschaft und die Verwirklichung einer grünen Oase. Es wird die Erzählung einer kooperativen Stadtentwicklung nach den Wünschen der Menschen kommuniziert, denen im Projekt involvierte Designer dazu verhelfen, ihre Bedürfnisse zu artikulieren und zu realisieren. Den ursprünglichen Wunsch nach Grün auf dem Bunker hatte in diesem Social Urban Design Projekt ein besonderer Bewohner des Stadtteils, der zugleich Geschäftsführer einer großen Kommunikationsagentur ist. Diese Agentur hat die Planung, Bewerbung und Organisation des Bunkerprojekts in allen architektonischen, medialen und gestalterischen Dimensionen übernommen. Dabei geht es nicht nur um den Garten als Wunsch, sondern auch um den Ausbau des Bunkerdachs als Investition. Gemeinsam mit dem Investor, dem der Bunker in Erbpacht gehört, wurde von der Agentur nicht nur die Gartenidee entwickelt, sondern auch die bauliche 3 | Vgl. http://www.hilldegarden.org/entstehungsgeschichte/ (aufgerufen am 27.07.15).

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Erweiterung des Bauwerks geplant, welche die Nutzfläche des Gebäudes im lukrativen innerstädtischen Bereich um etwa ein Drittel erhöht. Um diesen baulichen Teil des Vorhabens durchführen zu können und politisch zu legitimieren, wird mit der Grünfläche auf dessen Dach und der Anwohnerbeteiligung argumentiert. Die Dachbegrünung und der mit ihr verbundene soziale Gestaltungsprozess sind wesentlicher Bestandteil des Bauantrags und dessen Begründungsarchitektur. Die Agentur, die nicht nur hinter der Anwohner-Garten-Gruppe steht und deren Prozesse lanciert, sondern das ganze Investitionsvorhaben organisiert und kommuniziert, versteht sich als Schöpfer von Inhalten, nicht als Werber für Produkte. Mit dem Bunker-Projekt erschafft und vermittelt die Agentur, ihrem Selbstverständnis nach, die Idee von einer sozialen und grünen Stadt, die nach wahren Bedürfnissen der Menschen gestaltet ist.

W as also ist S ocial D esign ? Zwei Beispiele, die dem Bereich des Social Design zugerechnet werden können. Zwei Beispiele, denen es um die Gestaltung der Lebenswelt mittels der Gestaltung von Dingen und sozialen Prozessen geht. Zwei Beispiele, bei denen soziale Bedürfnisse und partizipative Prozesse eine Rolle im Gestaltungverfahren spielen. Was aber macht Design zu Social Design und Social Design zu Design. Anders formuliert, wie unterscheidet sich das Phänomen von sozialer Plastik in der Kunst oder Sozialarbeit auf der einen Seite und wann wird es auf der anderen Seite zu einer instrumentellen Sozialtechnologie? Im Social Design überkreuzen sich Praktiken, Ansprüche und Dinge. Zu klären ist in allen diesen Feldern, inwiefern die Praktiken tatsächlich Gestaltungverfahren sind, inwiefern die Dinge als Designprodukte verstanden werden müssen und inwiefern die sozialen Ansprüche in den Praktiken und Dingen tatsächlich realisiert werden? Denn »aktuell wird Social Design geradezu inflationär als eine Art ›greenwashing-Begriff‹ für einen Großteil unspezifischer designerischer Aktivitäten und Produktion disqualifiziert«, stellt die Designtheoretikerin Claudia Banz fest und dieser Satz könnte tatsächlich auf das Bunkerdachgarten-Projekt angewendet werden. Manches Social Design, so Banz, »scheint einen kulturellen Mehrwert zu bieten, aus dem sich zugleich ein ökonomischer Gewinn abschöpfen lässt.« Aus diesem kritischen Verdacht heraus wehrt die Designtheoretikerin allerdings nicht kategorisch das Social Design generell ab, sondern fragt vor allem systematisch: »Was

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macht die soziale Dimension im Design aus? Welches Potenzial besitzt Social Design?«4 Diese Grundsatzfrage ist immer noch relevant. Zwar existieren schon Institute für Social Design an Hochschulen, von denen anzunehmen ist, dass sie ein Grundverständnis über ihren Gegenstand haben, und weltweit wird eine Modifikation des Designbetriebs in Richtung Social Design diagnostiziert. Obwohl sich also die Faktizität von Social Design allenthalben durchgesetzt hat, scheint ein kritischer Abgleich zwischen dem regulativen Ideal des Sozialen, der intrinsischen Logik der Designgestaltung und den Kontexten ihrer Realisierung notwendig. Man möchte sich daher der Frage von Banz anschließen und das Phänomen des Social Design in seinem Potential verstehen, um die damit zusammenhängende, kritisch theoretische Frage zu stellen, was Social Design im gesellschaftlichen Kontext, in dem es in Erscheinung tritt, überhaupt zu sein in der Lage ist? Welche »Wahrheit« realisiert das Social Design im Kontext seines recht jungen Erscheinens und inwiefern kann und muss die gesellschaftliche Rolle des angewandten Designs in der Theorie aber auch in der Praxis mitbedacht werden?

D ie G eschichte einer I dee »Social Design« ist ein junger Begriff und zugleich ein altes Phänomen. Lars Bang Larsen, dänischer Kurator, der maßgeblich zur Positionierung von sozial engagierten Kulturprojekten in Skandinavien beigetragen hat, nennt die Arbeit der Gruppe N55 in einem Aufsatz aus dem Jahr 1999 »soziale Ästhetik«5. Für Larsen manifestiert sich in den Projekten von N55 der Sachverhalt, dass das Ästhetische immer auch sozial sei und das Soziale immer auch ästhetisch – beide »informieren« sich gegenseitig in jenem mehrdeutigen Sinne, in dem informare bedeutet, zu unterrichten, zu bilden und eine Gestalt zu geben. Formend handelt das Soziale und beinhaltet dabei zugleich eine gesellschaftlich relevante Nachricht. Sozial wirkt das Ästhetische, inso4 | Banz, Claudia: »Social Design: Geschichte, Praxis, Perspektiven«, Ankündigungstext zur Tagung am Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg 23-24. Mai 2014. 5 | Larsen, Lars Bang: »Social Aesthetics«, in: Claire Bishop (Hg.): Participation. Documents of Contemporary Art, Cambridge/Massachusetts: MIT Press 2006, S. 172-183.

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fern das Gestalten eine konstruktiv humane Aktivität ist. Soziale Ästhetik fokussiert, so Larsen, auf die Welt der Handlungen. Projekte einer von ihm so genannten »sozialen Ästhetik« setzen den sozio-ästhetischen Chiasmus des handelnden Gestaltens provokativ und ostentativ ins Werk. Doch obwohl Larsen die unterschiedliche Herkunft der Projekte einer sozialen Ästhetik aus den Bereichen der politischen Arbeit, der kulturellen Handlung oder dem künstlerischen Aktivismus anerkennt und obwohl sie mitunter anmuten wie industrielles Produktdesign oder politische Sozialarbeit – so verortet Larsen das Phänomen doch wesentlich im Kontext der freien Künste. In deren Institutionen entdeckt, untersucht und präsentiert er die Projekte einer sozialen Ästhetik. Ausdrücklich von »Social Design« und damit von Design in Abgrenzung zur Kunst wird erst zu Beginn des 21. Jahrhunderts gesprochen. Geprägt hat diesen neuen Begriff des Designs als einem sozialen Phänomen unter anderem das »Utrecht Manifest« – eine niederländische Biennale, die sich seit 2005 zeitgenössischen Architektur- und Designpraktiken unter Überschriften wie »Engagement als Leitbild der Erneuerung« oder »Nachhaltigkeit im Design als Strategie der Transformation« widmet und eine neue »Werklandschaft« diagnostiziert, in der die sozialen Aspekte des Gestaltens eine wesentliche Rolle spielen.6 Die Biennale stellt sich erklärtermaßen der Frage, wo das Soziale fabriziert wird und fokussiert damit den Aspekt der Herstellung und Formung des Sozialen, das auf diese Weise ebenso zwingend mit der Sphäre der Gestaltung als kultureller Praxis verknüpft wird, wie sich umgekehrt die Sphäre des Designs in Richtung umfassender gestalterischer Aktivitäten erweitert. Auf der Utrecht Manifest Biennale werden entsprechend dieses erweiterten Designbegriffs partizipative Stadtplanungsprozesse ebenso reflektiert, wie die winterliche Gestaltung der Alpen durch Schneekanonen oder Piktogramme für Sammelplätze im Katastrophenfall. Der Begriff des Social Design löst mit der Utrecht Manifest Biennale die soziale Gestaltungspraxis von der Sphäre der freien, multimedialen Kunst, um zugleich einen multidisziplinären, erweiterten Designbegriff einzuführen. Gleichwohl wird diese begriffliche Verschiebung – von sozialer Ästhetik zu Social Design und damit von Kunst zu Design – von zentraler Bedeutung sein, wenn es darum geht, die gesellschaftliche Dimension des Social Design zu denken. Sehr viel deutlicher als die Ästhetik im Feld der Kunst – ver6 | Vgl. Die Website der Biennale http://www.utrechtmanifest.nl bzw. Bruinsma, Max (Hg.): Design for the Good Society, Utrecht Manifest 2005-2015, NAI 2015.

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standen als eine Kategorie, die sich auf sinnlich wahrnehmbar Geformtes richtet – impliziert das Design neben dem Aspekt der Formungsarbeit und der sinnlichen Wahrnehmungsebene auch eine Ökonomie der Beauftragung. Anders formuliert: Mit dem Social Design ist eine Überkreuzung von Design und Sozialem adressiert, bei der es wesentlich auch um die Bedürfnisse der Menschen als Konsumenten geht. Bedürfnisse, die für Gestalterinnen und Gestalter ausgelotet, fruchtbar gemacht und in den Designprozess integriert werden sollen. Der partizipative Rezipient einer sozialen Ästhetik wird zum partizipativen Konsumenten im Social Design. Angesichts dieser neuen Begriffsmarkierung erinnert aber die Designtheoretikerin Banz berechtigterweise auch an die lange Geschichte, die das Soziale im Feld des Design seit der Industrialisierung und dem Aufkommen der Konsumgesellschaft schon hat, auch ohne dass es den Namen des Social Design schon trug.7 Denn um die sozialen Bedürfnisse der Menschen als Konsumenten oder als Stadtbewohner ging es auch den Gartenstadtgestaltern seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts oder Produktdesignern in den 1970er Jahren. Der Architekt und Designer Victor Papanek stellt 1971 fest, dass Design keine Frage der Schönheit von Dingen alleine sei, sondern eine Frage der Verantwortung. Für Papanek entspringt das Verhältnis von Verantwortung und Design zwei unterschiedlichen Ebenen – einer fundamental anthropologischen und einer konkret handelnden. »Alle Menschen sind Designer«, so lässt er seine bekannteste Publikation »Design für eine reale Welt«8 beginnen. Alle Menschen sind Designer, weil das Planende und Ordnende eines jeden Handlungsaktes in Hinblick auf ein gewünschtes Ziel einen Gestaltungsprozess inauguriere. Design – verstanden in jenem umfassenden Sinne, in dem im Deutschen auch das Wort Gestaltung verwendet wird – sei die dem menschlichen Leben zugrundeliegende Matrix. Gestaltung sei das Dichten eines Reimes, das Worte arrangiert, ebenso wie das ordnende Säubern eines Schreibtisches, das Dinge positioniert, das Nahrungsmittel kombinierende Backen eines Apfelkuchens oder das formende Erziehen eines Kindes. Gleichsam unterhalb dieser anthropologischen Dimension der Gestaltung als Welt formender Praxis ist das Design für Papanek daher auch im konkreten Sinne der speziellen Tätigkeit der professionellen Gestalter eine verantwor7 | Vgl. Banz, Claudia: »Social Design«, in: Kunstforum International, Band 207, 2011. 8 | Papanek, Victor: Design for a real World. Human Ecology and Social Change, London: Thames und Hudson 1985, hier S. 3 [Übersetzung A.H.].

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tungsvolle Angelegenheit. Professionelle Designer und Planer seien verantwortlich für alle uns umgebenden Produkte und entsprechend auch verantwortlich für fast alle Umweltprobleme, entweder direkt durch ihr schlechtes Design oder indem sie ihre verantwortungsvolle Kreativität vernachlässigten und sich nicht einmischten – »not getting involved«9. Papanek polemisierte gegen die »kleenex culture« des Wegwerfdesigns und gegen »Spielzeuge für Erwachsene«, welche die Welt nicht brauche, wie elektrische Möhrenschäler, beheizte Schuhhalter oder Säckchen voller Nägel aus 18 karätigem Gold«10. Er entwirft demgegenüber ein selbstzubauendes Radio, bestehend aus einfachen Dingen des Alltags wie Dosen, Draht, Paraffin und alten Nägeln, oder er verweist auf den erfolgreichen finnischen Designer Björn Weckström, der neben skulpturalen Schmuckstücken in den 1970er Jahren auch Notunterkünfte für Ostafrika gestaltete.11 Zu dieser sowohl politisch wie anthropologisch motivierten Kritik von Papanek am sinnlosen oder ignoranten Charakter vieler Designprodukte gesellte sich seit den 1970er Jahren zunehmend im Selbstverständnis mancher Designer auch eine Methodenkritik, welche das Machen selber – parallel zu den künstlerischen Positionen der sozialen Plastik oder der partizipativen Praxis – als kollektiven Prozess hervorzuheben begann. Design wurde nicht mehr nur als eine Sache für einzelne Genies angesehen, sondern – ausgerichtet an den Bedürfnissen der Menschen – als ein Prozess unter Einbeziehung seiner potentiellen Nutzer und Nutzerinnen. Der Anspruch, mittels der Gestaltung eine bessere Welt zu erschaffen, lässt Designerinnen und Designer mithin spätestens seit den 1970er Jahren das explizite und implizite Wissen ihres Umfelds ernst nehmen und zum integrativen Teil des Gestaltungsprozesses werden. Die Vorläufer des gegenwärtigen Social Design verfolgten die Idee, gesellschaftliche Werte und menschliche Bedürfnisse zu den Parametern des Gestaltens zu machen sowie das Gestalten selber auf kooperative oder kollektive Prozesse auszurichten. Dieses Designverständnis setzt auf die Gestaltung der menschlichen Lebensverhältnisse. »Living Labs« als kooperative Foren der Gestaltung und »commoning« als Prozesse der Vergemeinschaftung gehören in der Folge dieses historischen Reflektionsprozesses zu den aktuellen Praxisfeldern und Werkzeugen der Designerinnen und Designern. Humane Lebensverhältnisse als Gegenstand und Aufgabe der Gestaltungs9 | Ebd. S. 56. 10 | Ebd. S. 94. 11 | Vgl. ebd. S. 69.

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arbeit ernst zu nehmen, bedeutet entsprechend dieses Designverständnisses auch, das Soziale und die Menschen in ihren Handlungsweisen zu formen oder in den Formungsprozess zu integrieren. Dem Material der Produkte und dem Papier der Bilder haben sich die Menschen als Formungsmasse hinzugesellt. Designer, die mit diesen interaktiven »Rohstoffen« operieren, verstehen sich als Sozialgestalter, denen es um die Lösung gesellschaftlicher Probleme geht. Im Social Design wird nicht mehr nur an Produkten und am Aussehen einer besseren Welt gearbeitet, sondern auch an den Menschen und mit den Menschen. Das menschliche Handeln ist nicht mehr nur der Gestaltungsprozess, sondern wird auch selber zum Gegenstand des Gestaltungsprozesses. Papanek aufgreifend kann konstatiert werden: Jeder Mensch ist ein Designer – und designt den Menschen.

V on D esign zu D asein Vor dem Hintergrund des sozialen – eigentlich anthropologischen – Anspruchs an Designprodukte und Designverfahren stellt der französische Theoretiker der Dinge Bruno Latour 2009 die Frage, ob sich nicht vor allem der Gehalt des Begriffs vom »Design« in den letzten Jahrzehnten vor dem Hintergrund eines veränderten epistemischen Selbstverständnisses der gegenwärtigen Kultur verändert habe. Das Design wurde von einer Vokabel, die das Aufhübschen der Oberfläche von Dingen meinte, zu einem Fundamentalbegriff des Gestaltens der Welt in einem noch radikaleren Sinne als Papanek es im Sinn hatte: Denn – so Latours Diagnose – weil wir nicht mehr trennen zwischen Materie und Oberfläche, zwischen gegebener Natur und künstlicher Kultur, meinen wir mit dem Begriff des Designs auch die Gestaltung der Materie und der Natur.12 Wir gestalten nicht mehr nur Stühle, um deren profane Physis zu verschönern, sondern wir gestalten die ganze Natur als Kultur, weil die Natur als re-designbar erkannt wurde. »Da-sein wird zum Design«. Das Gestalten avanciert damit zur welterschaffenden Tätigkeit. Oder genauer: es ist das neue Verständnis vom Begriff des Designs, welches diese 12 | Vgl. Latour, Bruno: »Ein Vorsichtiger Prometheus. Einige Schritte hin zu einer Philosophie des Designs, unter besonderer Berücksichtigung von Peter Sloterdijk«, in: Marc Jongen/Sjoerd van Tuinen/Koenraad Hemelsoe (Hg), Die Vermessung des Ungeheuren. Philosophie nach Peter Sloterdijk, München: Fink 2009, S. 356-373.

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prometheushafte Dimension erhalten hat. Für Latour liegt in diesem erweiterten Verständnis vom Design schon jene soziale Dimension eingebettet, die mit dem ausdrücklichen Begriff des »Social Design« nur eigens betont wird. Denn das Designen habe besondere Qualitäten, die es auch in seiner neuen Aufgabe als Daseinsgestaltung auszeichne. Im Gegensatz zu einem bloß instrumentellen oder pragmatischen Konstruieren oder Erbauen von Welt mit den Mitteln der Ingenieure ist das Designen für Latour eine Tätigkeit, die nicht zurichtet, sondern sich mit ausgeprägter Aufmerksamkeit gegenüber dem Detail der Dinge dem Gestaltungsprozess widmet. Design sei, so Latour, bescheiden und tue den Sachen keine Gewalt an, sondern füge ihnen eine Ebene des Symbolischen hinzu. Es statte Objekte der Gestaltung mit Sinngehalt aus. Ein, wie Latour schreibt »entscheidender Vorteil« dieses erweiterten Design-Begriffs sei, dass er je schon eine ethische Dimension beinhalte, die verbunden sei mit der Frage nach gutem oder schlechtem Design. Ob wir die Gene gut oder schlecht re-designen, die Landschaft gut oder schlecht modellieren oder unsere Autos gut oder schlecht entwerfen, sei Gegenstand einer ethischen Fragestellung und das Design bringe nicht nur Bedeutung, sondern auch Moral in unser Verhältnis zu den natürlichen und künstlichen Dingen. Kein Designer und keine Designerin wird für sich beanspruchen dürfen, er oder sie stelle nur fest, was existiere, er oder sie rechne nur aus, was vorliege. Der Sachverhalt des Gestaltens impliziere eine über das deskriptive Konstatieren hinausgehende Ebene des normativen Projektierens. Diese Beschreibung der ethischen Dimension des Designs fokussiert die dem Machen innewohnende grundsätzliche Normativität. Diese Normativität liegt in der Variabilität eines Tuns, das so oder anders kann, weil – wie Latour betont – das Gestalten keinem Automatismus von Naturgesetzen folgt, auch wenn es sich der Natur, der Lebenswelt, den Menschen oder den Dingen widmet. Diese Beschreibung von der Normativität des Gestaltungsprozesses legt aber auch nahe, dass das Design tatsächlich ein verhandelbarer Gegenstand ethischer Bewertungsarbeit ist – und nicht je schon gut oder sozial. Man kann die Frage nach gutem oder schlechtem Design stellen, so Latour. Sie ist nicht je schon beantwortet. Man muss die Frage nach gutem oder schlechtem Design sogar stellen vor dem Hintergrund der Optionalität des Gestaltens. Das aber bedeutet auch, dass das Social Design nicht je schon gutes Design sein kann, sondern immer wieder neu überprüft werden muss, inwiefern seine Produkte oder Aktivitäten ethisch gut sind. Das Problem mit dem Begriff des Social Design ist das in ihm eingebaute Attribut sozialer Qualität. Eine Qualität, die aber im Sinne der ethischen Dimension des Designs ein

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verhandelbarer Sachverhalt ist und keine stabile Zuschreibung sein kann. Die Benennung des Sozialen im Begriff des Social Design liegt auf einer anderen Ebene als die Erkenntnis des Ethischen im Design als einer Tätigkeit. Eine einfache Zuschreibung das eine, ein formales Charakteristikum das andere. Formal ist die ethische Dimension im Design, weil mit ihr der Sachverhalt der ethischen Relevanz angesprochen wird, nicht aber die Beurteilung des Sozialem als einem Guten vorweggenommen. Das Gute im Sinne des Sozialen im Design wäre mithin ein Sachverhalt der kontinuierlichen Überprüfung und keine feststehende Eigenschaft eines als Social Design benannten Bereichs. Man könnte vielleicht sogar behaupten, dass das »Social Design« die ethische Dimension des Designs tatsächlich verschleiert, indem es das Soziale im Namen schon festschreibt.

Z u einer kritischen D esigntheorie Mit Blick auf Projekte wie den beschrieben Bunkerdachgarten und dessen Einbettung in ökonomische Interessen drängt sich nun also die Frage auf, inwiefern das Social Design durch die Festschreibung des Sozialen in seiner Benennung tatsächlich einer kritischen und kontinuierlichen Überprüfung der Gestaltungsarbeit entgegenläuft und dadurch zum Vehikel einer instrumentellen Vernunft wird. Aus der Perspektive einer kritischen Theorie des Design muss darüber hinaus die Frage gestellt werden, inwiefern das Erscheinen des Social Design auf dem Markt der Begriffe und dem Terrain der kulturellen Praktiken einer historischen Situation entspricht, in der sich das Soziale als strategische Komponente des Ökonomischen durchzusetzen scheint und gut tatsächlich nicht für die Menschen ist, die es in partizipative Prozesse involviert, sondern für die Auftraggeber, die es als Instrument eines ökonomischen Kalküls einsetzen. »Die Kategorien des Besseren, Nützlichen, Zweckmäßigen, Produktiven, Wertvollen« sind der kritischen Theorie gerade deswegen »verdächtig«13, weil sie die nützliche Wechselwirkung verschleiern, die zwischen gesellschaftlicher Realität, kulturellen Praktiken und dem Erkennen von Welt bestehen, merkt der Sozialtheoretiker Max Horkheimer schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kritisch über die Rolle von gut gemeinten Begriffen an. Will man das »Social Design« in seiner gesell13 | Horkheimer, Max: Traditionelle und kritische Theorie, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968, S. 27.

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schaftlich relevanten Dimension erkennen, so müsste man mithin – aus der Perspektive einer kritischen Theorie des Designs – die produktive Dynamik in den Blick nehmen, innerhalb derer ein konstatierendes Wissen über das Soziale im Design sowie über das Soziale als ökonomischen Faktor und das Gestalten als menschliche Praxis solchermaßen zusammenwirken, dass die Welt tatsächlich erzeugt wird, in der das Social Design als gute Designpraxis unhinterfragt auftreten kann. »Dieselbe Welt, die für den Einzelnen etwas an sich vorhandenes ist, das er aufnehmen muß und berücksichtigt, ist in der Gestalt, wie sie da ist und fortbesteht, ebenso sehr Produkt der allgemeinen gesellschaftlichen Praxis«14 diagnostiziert Horkheimer, um deutlich zu machen, dass die Art, wie wir Sachverhalte theoretisch, wissenschaftlich und alltäglich sehen, erleben und verstehen, eingebettet ist in die gesellschaftliche Praxis, die diese Sachverhalte zugleich erzeugt. Ein bloß »traditionelles« und nicht kritisch-theoretisches Nachdenken über das Social Design könnte mithin übersehen, dass die Art der Bestimmung des Designs als einem Sozialen an einer spezifisch instrumentellen Realität des Social Design mitarbeitet. Es könnte übersehen, dass das Aufkommen des Social Design als Begriff und als Praxis einer gesellschaftlichen Logik entgegenkommt, die als »Kapitalisierung des Sozialen« bezeichnet werden kann. Auch Bruno Latours Diagnose vom erweiterten Designbegriff vor dem Hintergrund eines veränderten epistemischen Selbstverständnisses im 21. Jahrhundert enthüllt kritisch eine wirksame Beziehung zwischen Denken und Praxis. Er stellt fest, dass sich unser Verständnis von den Dingen – als re-designbar – solchermaßen gewandelt habe, dass sich unser Verständnis vom Gestalten notwendig aufs Grundsätzliche beziehen müsse. Alles wird zum Objekt der Gestaltung – die Natur, das Soziale, die Menschen – und damit die Gestaltung zum Werkzeug von Welt oder, wie Latour es nennt, von Dasein. Der Franzose diagnostiziert daran eine prometheushafte Dimension – eine Anmaßung – die zugleich aber einen phantastischen Funken enthält. Die Einsicht in die totale Gestaltbarkeit impliziert das Bewusstsein von der Welt als Produkt – und damit den ethischen Auftrag es gut zu machen. Dieser Denkbewegung unterliegt jene kritisch-theoretische Grundannahme, dass die Produkthaftigkeit des Seienden einer kritischen Reflexion bedarf, die zugleich eine konstruktive Dimension impliziert. Denn die kritische Theorie positioniert nicht alleine das Denken im Kontext, wo die Selbsterkenntnis des Denkens bloß auf die Enthüllung 14 | Ebd. S. 21.

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von Beziehungen zwischen geistigen Positionen und sozialen Standorten reduziert würde, so Horkheimer.15 In der kritischen Theorie spielt das »konstruktive Denken« eine bedeutende Rolle und der »Eigensinn der Phantasie« wirkt in Hinblick auf eine »künftige Gesellschaft als Gemeinschaft freier Menschen«. In dieser kritischen Theorie liegt also selbst eine gestalterische Dimension, die ein phantasievolles Potential freilegen will, in dem Maße, wie sich die Zusammenhänge von Denken und Praktiken entlarven. Eine kritische Theorie des Designs tritt mithin an, nicht nur die Kontexte zu reflektieren, in denen sich das Social Design als neue Antwort auf alte Fragen der gesellschaftlichen Gestaltung anzubieten scheint, um darzulegen, wie Anspruch und Praxis zueinander in Beziehung stehen, sondern auch, um die Theorie selber als gestaltende zu reflektieren und einzusetzen. Trotz dieser gestalterischen Dimension der kritischen Theorie, die auf dem ersten Blick in dieser Hinsicht dem Social Design gleichkommt, das gestaltend für bessere Lebensverhältnisse eintritt und den Menschen in den Fokus seines Denkens und Tuns stellt, nennt sich die kritische Theorie aus guten Gründen allerdings nicht Soziale Theorie. Es wäre Anmaßung, das Ziel der kritischen Theorie im Namen schon vorwegzunehmen und dessen Verwirklichung im Gegenwärtigen zu suggerieren. Mit dieser Anmaßung aber würde die kritische Theorie zur Ideologie ihrer selbst. Ein Design, dem es um die ethische Verantwortung der Gestaltung als gesellschaftlich relevanter Praxis ginge, müsste wohl eher Kritisches Design heißen.

G utes D esign für wen ? Die eingangs beschriebenen Beispiele legen also eine Reihe von Fragen nahe: Wie wollen wir das Design nennen, das der ethischen Dimension in der Gestaltungspraxis gerecht werden will? Welche traditionelle und affirmative oder aber kritische Rolle kann die humane Tätigkeit der Gestaltung im gesellschaftlichen Kontext der Gegenwart spielen? Ist die ethische Frage nach dem guten oder schlechten Design vor allem als eine Frage nach dem Gut oder Schlecht für wen? Die beiden Beispiele weisen eine je andere Positionierung auf. N55 ist Kritisches Design, hat keine Auftraggeber, die Produkte sind aus Fragen entworfen, nicht dem Markt angepasst und richten sich auf die Emanzipation der Nutzerinnen und Nutzer. Der Bunkerdachgarten 15 | Vgl. ebd. S. 29.

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ist angewandtes Social Design im Rahmen einer Agentur als Wirtschaftsunternehmen und eingebettet in ein Bauvorhaben, dessen Anmutung es sozial und ästhetisch aufwerten will. In diesem Kontext generieren die Muster des Social Design als Pastiche einen kulturellen Mehrwert, aus dem sich ein ökonomischer Nutzen gewinnen lässt. Diese Kontextualisierung von Social Design als gleichsam kritischer Gestaltung oder aber angewandter Dienstleistung scheint nicht nur geboten, weil Design als Gestaltungstätigkeit je schon eine ethische Dimension hat, sondern insbesondere beim Label »Social Design« angemessen, weil dieses ausdrücklich in Methode, Inhalt und Namen beansprucht, gesellschaftliche Werte zu generieren. Dieses Label selber aber scheint im Sinn eines ethischen Anspruchs an Gestaltung in die Irre zu führen und vielleicht ginge es nicht nur darum, eine kritische Theorie des Designs zu pflegen, sondern auch darum, das Design selber anders zu nennen, um jener gesellschaftlichen Praxis entgegenzuwirken, die es instrumentalisiert.

Wann ist Design? Design zwischen Funktion und Kunst 1 Jakob Steinbrenner Ziel der folgenden Überlegungen ist es, ein tieferes Verständnis zu bekommen, wie wir den Ausdruck »Design« verwenden. Dass diese Fragestellung nicht von rein akademischem Interesse ist, wird spätestens klar, wenn man sich im Museen befindet, in denen sowohl Design- wie Kunstgegenstände ausgestellt sind. Denn offensichtlich ist es nicht immer ein leichtes Unterfangen, festzustellen, ob es sich bei einem Gegenstand um ein bloßes Artefakt, einen Designgegenstand, einen im Museum ausgestellten Designgegenstand oder gar um ein Kunstwerk handelt. Um dies zu klären, werde ich in einem ersten Schritt versuchen, die Frage »Was ist Design?« zu beantworten. Dies wird prinzipielle Schwierigkeiten aufwerfen, die dazu führen, dass ich mich stattdessen der Frage »Wann ist Design?« zuwenden werde. Eine Antwort wird weiter zur Frage »Wann ist gutes Design?« führen. Diese zu beantworten, ist eine schwierige Aufgabe, da sich fast jeder von uns für einen Geschmacksexperten hält und sich daher immer wieder wundert, was für einen schlechten Geschmack unser Gegenüber hat, dem es bei unserem Anblick vermutlich nicht anders geht. Ungeachtet dieser Problematik werde ich zu guter Letzt für die These argumentieren, dass Design ungleich Kunst ist – eine These, die heutzutage weniger sexy denn je klingt.

1 | Dieser Text ist die modifizierte Fassung meines gleichnamigen Aufsatzes in: Nida-Rümelin, Julian/Steinbrenner, Jakob (Hg.): Ästhetische Werte und Design, Stuttgart: Hatje-Cantz 2010, S. 11-30.

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W as ist D esign ? Versucht man diese Frage zu beantworten, ist vorneweg erst einmal zu klären, was wir überhaupt als Design bezeichnen, beziehungsweise wann wir davon sprechen wollen, dass ein Gegenstand Design besitzt. Erinnert man sich an Ausdrücke wie »Application Design«, »Axiomatic Design«, »Corporate Design«, »Interaction Design«, »Food Design« »Designerdroge«, »Mind Design«, »Social Design« »Design der Natur« oder »Bodydesign«, fällt auf, dass scheinbar nichts gibt, das man nicht als Design bezeichnen könnte. Eine Frage lautet, ob all diese unterschiedlichen Verwendungen von »Design« so etwas wie einen gemeinsamen Kern enthalten. In Anbetracht der Vielzahl der Verwendungen von »Design« liegt die Vermutung nahe, dass die Gemeinsamkeit im Gebrauch letztlich in einem bestimmten intellektuellen Modetrend liegt, alles erst einmal – vielleicht aus Verkaufsgründen – Design zu nennen. Gilt dies aber beispielsweise auch für den Ausdruck »Mind Design«? Sprechen Wissenschaftler, und in diesem Fall speziell Kognitionswissenschaftler, nicht deshalb vom Mind Design, weil sie das modellhafte ihrer Rekonstruktion der Hirn- und Denkfunktionen unterstreichen wollen? Aber trifft dies nicht für die meisten Verwendungen des Ausdrucks »Design« zu? Geht man bei seinem Gebrauch nicht immer davon aus, dass den bezeichneten Gegenständen das Entworfensein zukommt? Liegt hier also der gemeinsame Kern all der verschiedenen Verwendungen von »Design«? Hiergegen spricht, dass nicht jedes Entwerfen notwendig einen Designgegenstand zur Folge hat. Auch der Schüler entwirft einen Plan, wie er seine Ferien zu verbringen gedenkt, aber seine Ferien haben kein Design, auch wenn Marketingexperten uns vielleicht davon überzeugen wollen, dass es sich hier um »Holiday Design« handeln würde. Aber könnte man nicht sagen, dass das Entwerfen zwar nicht notwendigerweise zu einem Designgegenstand führt, aber dass zumindest alle Designgegenstände die Eigenschaft »Entworfensein« teilen? Wie sieht es aber mit Fundstücken wie einem Ast aus, den wir als Spazierstock benutzen? Hat dieser nicht auch Design, obwohl er nicht von Menschen entworfen wurde? Nehmen wir einmal für das Erste an, dass Fundstücke dieser Art deshalb kein Design besitzen, weil sie nicht von Menschen angefertig-

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te Gegenstände sind. Diese Annahme führt somit zur Artefaktthese, nämlich dass nur von Menschen angefertigte Gegenstände Design besitzen können.2 Mit dieser These wird gleichwohl nicht behauptet, dass jedes Artefakt sogleich ein Designgegenstand ist. Man denke beispielsweise an einen Traktorreifen, der als Sitzgelegenheit benutzt wird oder an einen Bierkasten, der als Tisch dient. Für beide gilt, dass sie von Menschen produziert und überdies entworfen sind. Aber deshalb handelt es sich erst einmal weder um eine Designersitzgelegenheit, noch um einen Designertisch. Der Traktorreifen und der Bierkasten mögen zwar von Designern entworfen sein und es mögen daher Designertraktorreifen und Designerbierkästen sein, aber deshalb ist es weder eine Designercouch, noch ein Designertisch. Anders gesagt, der Traktorreifen mag als Traktorreifen und der Bierkasten als Bierkasten Design besitzen, wenn wir sie aber als Couch und Tisch benutzen, müssen wir ihnen deshalb nicht notwendig Design zusprechen. Sind wir hier aber nicht schon an der Lösung angelangt, nämlich einer Definition, was Design ist? Erster Definitionsversuch: Ein Gegenstand (Artefakt) besitzt genau dann Design, wenn er (1) von einer Person (oder Personen) zu einem bestimmten Zweck entworfen ist und (2) zu diesem Zweck auch gebraucht wird. Hiergegen lassen sich zumindest zwei Einwände erheben. Der erste wendet sich gegen (1), denn es gibt Artefakte, von denen wir nicht mehr wissen, was für einen Zweck sie hatten. Artefakte dieser Art mögen zwar einmal Designobjekte gewesen sein und auch zu ihrem Zweck gebraucht worden sein, aber sie müssen es nicht mehr heute für uns sein.3 Gegen (2) sprechen Designobjekte, die nie zu ihrem erdachten Zweck benutzt werden und trotzdem Designobjekte sind. Man denke beispielsweise an Designmodelle ohne Gebrauch.4

2 | Dass es alles andere als ein Leichtes ist, zu definieren, was ein Artefakt ist, sei einmal beiseite gestellt (vgl. Risto Hilpinen, »Artifact“, in: Stanford Encyclopedia of Philosophy 2015 (http://plato.stanford.edu/entries/artifact/). 3 | In gewissem Sinn gehören hierzu auch Kunstwerke, die dem ersten Anschein nach für einen praktischen Zweck gedacht sind, bei genauerem Hinsehen aber keinen besitzen, dazu später mehr. 4 | Ob letzter Einwand tatsächlich zwingend ist s.u.

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Ungeachtet der Ergebnislosigkeit meiner bisherigen Überlegungen zeigen die Beispiele an, dass weder das Merkmal des Entworfenseins, noch das explizitere von einer Person zu einem bestimmten Zweck entworfen zu sein und zu diesem Zweck auch gebraucht zu werden, dazu ausreicht, einem Gegenstand Design zuzuschreiben. Wie lässt sich aber dann bestimmen, was ein Designgegenstand ist? Nimmt man überdies Ausdrücke wie »Mind Design« ernst, dann lässt sich nicht einmal mehr behaupten, dass Designgegenstände notwendigerweise von Personen erfunden werden müssen. Was lässt uns aber dann noch hoffen, überhaupt zu erfassen, was unter »Design« zu verstehen ist? Aufgrund meiner bisherigen Schwierigkeiten bei der Bestimmung was Design ist oder wie eine Definition von »Design« aussehen könnte, möchte ich vorerst die Suche abbrechen. Deutlich sollte gleichwohl geworden sein, dass die sprachlichen Intuitionen, was als Design bezeichnet wird, höchst unterschiedlich sind. Ich wende mich deshalb einem Gebiet zu, das unstrittig als ein Kernbereich des Designs gilt, nämlich dem Industriedesign. Mein Ziel hierbei ist es, in diesem weniger strittigen Bereich nach Merkmalen zu suchen, die weiterhelfen zu klären, was einen Gegenstand zu einem Designgegenstand macht.

I ndustriedesign Selbst im Bereich Industriedesign tut man sich schwer, Einigung darüber zu erzielen, was man heute als Design bezeichnen soll. Ich glaube aber, dass sich dieses Terrain durch bestimmte Koordinaten vermessen lässt. Betrachtet man dazu auf der einen Seite eine Ralph-Lauren-Unterhose, die sich in Schnitt und Material nicht von anderen Unterhosen unterscheidet, sondern alleine durch den Gummizug mit der Aufschrift »Ralph Lauren«, und auf der anderen Seite ein Industriekugellager, bei dem alleine die Funktion von Interesse ist, lässt sich feststellen, dass in beiden Fällen die Designleistung gegen null tendiert. Im ersten Fall manifestiert sie sich alleine im Schriftzug auf dem Gummizug und im anderen Fall löst sie sich in einer reinen Ingenieursleistung auf. Beide Gegenstände liegen somit an der Grenze des Bereichs Industriedesign. Als Kernbereich des Industriedesigns können dagegen sicherlich technische Massenprodukte wie Kameras, Stereoanlagen, Pkws et cetera gezählt werden.

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Stellen wir also angesichts ihrer die Frage: »Was ist Design?« Klar ist, dass Industriedesigngegenstände Artefakte sind. Wie gesehen, reicht der Artefakt-Charakter jedoch alleine dafür nicht aus, dass etwas ein Designgegenstand ist. Was muss noch hinzukommen? Was ist das geheimnisvolle X? Eine erste Antwort könnte lauten, dass das X die ästhetische Einstellung ist, mit der wir ein Artefakt betrachten, die dieses zu einem Designgegenstand macht. Stimmt das aber? Abbildung 1: Antenne

Betrachten wir dazu folgendes Beispiel: Ich schaue aus meinem Arbeitszimmer auf das gegenüber liegende Dach, dort steht eine alte Fernsehantenne (siehe Abb.1). Wir können offensichtlich problemlos die Antenne als Skulptur betrachten und einen bestimmten ästhetischen Reiz bei ihrem Anblick verspüren. Dies alleine macht die Fernsehantenne jedoch noch nicht zu einem Designobjekt.5 Was aber fehlt noch? Eine Antwort könnte lauten, dass Designgegenstände im Gegensatz zu bloßen Artefakten zudem Zeichen sind, die – wie auch Kunstwerke – eine bestimmte Bedeutung haben.6

5 | Ich möchte hiermit gar nicht abstreiten, dass Antennen dieser Art, wären sie noch im Gebrauch, als Abschlussprüfung für jeden Designstudenten zu einer Herausforderung werden könnten. Gleichwohl besitzt die Antenne kein Design, sie ist oder war ein reines Nutzgerät ohne Design. 6 | Fasst man »ästhetische Erfahrung« so weit wie Catrin Misselhorn, dann kann die ästhetische Erfahrung den zeichenhaften Charakter bereits einschließen. Vgl. Misselhorn, Catrin: »Die symbolische Dimension der ästhetischen Erfahrung von Kunst und Design«, in: Julian Nida-Rümelin/Jakob Steinbrenner (Hg.), Ästhetische Werte und Desig, Stuttgart: Hatje-Cantz, 2010, S. 75-95.

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S ind D esignobjek te Z eichen ? Unleugbar sind zahlreiche Designgegenstände wie Schrifttypen, Uhren und andere Anzeigegeräte Zeichen.7 Aber daraus folgt nicht, dass beispielsweise ein Essbesteck ein Zeichen ist. Wenn ich mit meinem Löffel Suppe esse, ist der Löffel erst einmal kein Zeichen, sondern ein Werkzeug, wie für den Neandertaler der Knüppel, mit dem er gegeben falls seinem Nachbarn eins über den Kopf zieht. Damit sie zu Designobjekten werden, reicht es, wie angedeutet, auch nicht aus, dass der Neandertaler oder ich unsere Werkzeuge mit ästhetischem Interesse mustern. Unstrittig scheint dagegen zu sein, dass der WMF-Löffel Design besitzt, auch wenn er kein Zeichen ist. Stimmt es aber überhaupt, dass der Löffel Design besitzt? Besitzt der Löffel etwa auch für einen Vierjährigen Design? Nein, denn der Vierjährige hat noch nie etwas von Design gehört und weiß gar nicht, was das sein soll. Er kann zwar Löffel im Besteckkasten einteilen, in diejenigen, die er mag und die er nicht mag, und zu letzteren mögen auch die gehören, mit denen er schlecht essen kann, ungeachtet dessen, weiß er weder was, noch wann etwas Design besitzt. Aber zeigt das Beispiel meines Suppenlöffels nicht auch, dass dieser unter Umstände sehr wohl als Zeichen für bestimmte ästhetische Merkmale stehen kann? Das Material, die Oberflächenbehandlung, die Form scheinen doch zuerst einmal ästhetisch ähnlich relevant zu sein, wie die Form, die Farbpigmente und der Farbauftrag beispielsweise eines monochromen Gemäldes von Yves Klein. Wenn wir jedoch dem Löffel ähnliche ästhetische Merkmale wie einem gewöhnlichen Kunstwerk zuschreiben können, dann liegt folgende Definition nahe: Zweiter Definitionsversuch: Ein Gebrauchsobjekt besitzt Design, solange es als Zeichen innerhalb eines ästhetischen Zeichensystems funktioniert.

7 | Es geht im Folgenden nicht um die Frage, inwieweit die Zeichenmerkmale eines Designgegenstandes seine Funktion erklären und ihn damit funktionstauglicher machen, wie z.B. im Fall eines Handys, die Anordnung der Tasten etc. Vgl. hierzu Schönhammer, Rainer: »Design=Kitsch«, in: Julian Nida-Rümelin/Jakob Steinbrenner (Hg.), Ästhetische Werte und Design, Stuttgart: Hatje-Cantz, 2010, S. 97-118.

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Unter einem ästhetischen Zeichensystem ist dabei ein System zu verstehen, das festlegt, welche Merkmale eines Gegenstandes ästhetisch relevant sind.8 Im Falle des Bilds von Yves Klein sind die ästhetischen Merkmale unter anderem der Farbauftrag (versus Abstrakter Expressionismus), das Format und die Rahmung beziehungsweise Nichtrahmung, die Ultramarin-Farbpigmente, die Klein verwendete (dies ging ja bekanntermaßen so weit, dass er sein Blau patentieren ließ). Was der Vergleich von WMF-Löffel und Yves-Klein-Bild veranschaulicht, ist, dass kein Gegenstand per se ein Designgegenstand oder Kunstwerk ist, sondern er nur dann zu einem Kunstwerk oder Designgegenstand wird, wenn wir seine Merkmale innerhalb eines ästhetischen Zeichensystems deuten. Für den Vierjährigen und andere Kunstkenntnisslose ist dagegen der Löffel nur ein Löffel und Yves Kleins Bilder sind nur blaue Flächen. Dieser Vergleich zeigt zudem, dass man sinnvollerweise die Frage »Was ist Kunst« durch »Wann ist Kunst?« ersetzen sollte. Denn ein Designgegenstand oder ein Kunstwerk ist nur ein Designgegenstand oder Kunstwerk, solange er oder es als Zeichen innerhalb eines ästhetischen Zeichensystems funktioniert. Diese Einsicht verdanken wir Nelson Goodman, einem der Väter der Analytischen Philosophie.9

W ann ist D esign ? Beantwortet zumindest mein zweiter Definitionsversuch die Frage »Wann ist Design«? Hiergegen sprechen dem ersten Anschein nach zwei Typen von Kunstwerken. Auf der einen Seite Readymades, also Kunstwerke, die von üblichen Gebrauchsobjekten ununterscheidbar sind, wie beispielsweise Duchamps Flaschentrockner, der zudem ein schönes Beispiel dafür ist, dass Kunstwerke nicht per se Kunstwerke sind, sondern unter Umständen reine Gebrauchsobjekte. Auf der anderen Seite können Kunstwerke ins Feld geführt werden, die als Kunstwerke und Gebrauchsgegenstände funktionieren, wie beispielsweise kleine bronzene Figuren, die als Briefbeschwerer verwendet werden. Diese Kunstwerke sind Gebrauchsgegenstände und können zu8 | Vgl. Steinbrenner, Jakob: Kognitivismus in der Ästhetik, Würzburg: Königshausen und Neumann 1996. 9 | Goodman, Nelson: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1984, Kap. 4.

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dem als Zeichen innerhalb eines ästhetischen Zeichensystems funktionieren. Aber es sind keine Designgegenstände. Wir dürfen also vorläufig festhalten, dass ein Kunstwerk, das zu einem praktischen Zweck verwendet wird, deshalb noch lange nicht zu einem Designgegenstand wird. (Die heiklere Frage, auf die ich später noch zurückkommen werde, ist jedoch vielmehr die: Ist es möglich, dass ein Kunstwerk, das zu einem praktischen Zweck verwendet wird, zu einem Designgegenstand wird?) Gegen meinen zweiten Definitionsversuch lassen sich schließlich Designobjekte anführen, die mehr zum Ansehen und nicht zum Gebrauchen gedacht sind, zum Beispiel fahruntüchtige Automodelle in Originalgröße. Meine bisherigen Versuche, die Fragen »Was ist Design?« beziehungsweise »Wann ist Design?« zu beantworten, zeigen hoffentlich mehr als dass sich Philosophen im Allgemeinen schwer mit dem Design tun. Sie zeigen hoffentlich überdies auch, dass ein Designobjekt nicht einfach die Summe aus Gebrauchsobjekt und Kunstwerk ist. Meine These lautet daher: Designobjekte sind Gegenstände, die zwischen den Polen der reinen Gebrauchsgegenstände auf der einen Seite (erinnert sei an die Fernsehantenne oder auch an Kugeln aus Kugellagern) und Kunstwerken auf der anderen Seite anzusiedeln sind. Besagt diese aber mehr als meine beiden bisherigen Definitionsversuche? Ich glaube in einer bestimmten Lesart schon. Doch dazu ist es sinnvoll, sich der Frage »Wann ist gutes Design?« zuzuwenden. Nur unter Rückgriff auf diese sie lässt sich mit Einschränkungen die vorhergehende »Wann ist Design?« beantworten.10

W ann ist gutes D esign ? Erinnert sei erneut an typische Fälle von Industriedesign, wie Kameras, Autos und Küchenmixer. Diese Geräte funktionieren dann als Gebrauchsgegenstände optimal, wenn wir bei ihrer Benutzung nicht durch bestimmte ihrer Details gestört sind. In diesem Punkt gleichen sie gewöhnlichen Gebrauchs10 | Ich bin mir im Klaren darüber, dass man bei dem Versuch diese Frage zu beantworten, unweigerlich in das eine oder andere Fettnäpfchen tappt. Vgl. Demand, Christian: »Haltung! Wieviel Ethos braucht Desgn?«, in: Julian Nida-Rümelin/Jakob Steinbrenner (Hg.): Ästhetische Werte und Design, Stuttgart: Hatje-Cantz, 2010, S. 31-52.

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gegenständen. Diese schätzen wir, wenn ihre Technik gut funktioniert. Im Fall der Kugel im Kugellager kann dies allein daran liegen, dass sie aus einem sehr widerstandsfähigen Material ist und gute Rolleigenschaften besitzt. Betrachtet man dazu noch ein Kugellager als Ganzes, seinen Aufbau und die Art seiner Herstellung, dann ist klar, dass hier höchste Ingenieurskunst vorliegen kann. Aber ungeachtet dessen handelt es sich in meinen Augen nicht um Design. Zu einem Designobjekt wird dagegen ein Gebrauchsobjekt dadurch, dass wir seine Funktionsweise ästhetisch bewerten.11 Wir betrachten also den Gegenstand qua Gegenstand nicht als Kunstwerk, sondern wir betrachten ihn als funktionales Objekt unter ästhetischen Gesichtspunkten. Ein Beispiel hierfür sind Korkenzieher. Jeder der häufiger Weinflaschen öffnet, hat eine ziemlich klare Vorstellung davon, wann ein Korkenzieher gut funktioniert, wie er in der Hand liegen soll et cetera. Hinzu kommen Unterschiede, in welchem Kontext der Korkenzieher gebraucht werden soll. Also ob er beispielsweise in der Hosentasche des Kellners Platz finden muss oder fest installiert an der Bar. Das Design bemisst sich gleichwohl bei all diesen verschiedenen Korkenziehern daran, wie technische Vorgaben unter ästhetischen Gesichtspunkten umgesetzt sind. Der Unterschied zwischen Kunstwerken und Designobjekten besteht daher darin, dass wir bei Designobjekten ihre praktische Funktion – und nicht alleine ihr Äußeres – unter ästhetischen Gesichtspunkten bemessen, während wir bei Kunstwerken nur ihren künstlerischen Ausdruck werten, den sie als Zeichen innerhalb eines Kunstzeichensystems besitzen. In diesem Sinne ist eine kleine bronzene Figur Giacomettis große Kunst, aber sie besitzt, wenn sie als Briefbeschwerer verwendet werden sollte, nur mittelmäßiges Design (für ein kleines Kind, das die Giacometti-Figur wie eine Playmobilfigur verwendet, ist sie weder ein Kunstwerk noch ein Designobjekt). Wenn wir aber die Funktionalität eines Gebrauchsobjekts betrachten und dafür die ästhetische Umsetzung bewundern oder auch nur bewerten, dann erheben wir dieses Objekt durch unsere Bewertung der ästhetischen Umsetzung seiner funktionalen Aspekte zu einem Designobjekt.12 Dabei ist das Design eines Gegenstandes je höher zu bewerten, umso deutlicher seine 11 | Vgl. zur Frage, was die die wesentlichen Funktionen von Artefakten sind Hilpinen, Risto : »Authors and Artifacts«, in: Proceedings of the Aristotelian Society, New Series Vol. XCIII. 1993, S. 155-178. 12 | Hier besteht eine Parallele zu eleganten Beweisen in der Mathematik und schönen Spielzügen beim Schach.

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funktionalen Eigenschaften Merkmale tragen, die als zeichenhafte Merkmale innerhalb eines ästhetischen Zeichensystems funktionieren. In dem Sinne besteht gutes Design nicht nur in gelungener Funktionalität, sondern das Designobjekt als funktional-ästhetisch-zeichenhafter Gebrauchsgegenstand ist Ausdruck einer künstlerischen Auffassung. Dabei steht der Designer vor dem altbekannten Problem, ein Gleichgewicht zu finden, zwischen Funktionalität und künstlerischem Ausdruck. Großes Design besteht daher in großer Funktionalität gepaart mit großem künstlerischen Ausdruck. Meine Antwort auf die Ausgangsfrage lautet somit: Definition D: Design besitzen Gegenstände genau dann, wenn sie funktionale Artefakte sind und ihre funktionalen Merkmale unter ästhetischem Gesichtspunkt, das heißt innerhalb eines ästhetischen Zeichensystems, bewertet werden. Ein Designobjekt kann also nie nur für sich alleine als Designobjekt betrachtet werden, sondern nur wenn es als Zeichen eines bereits etablierten ästhetischen Systems betrachtet wird. Zwei Strategien sind hierbei besonders wirksam: (1) Design als Weiterführung von oder Auseinandersetzung mit bestimmten künstlerischen Strömungen. (2) Design als Fortsetzung historischer Designkultur. Die erste Strategie ist beispielsweise in Yves Saint Laurents Mondrian-Kleidern aus dem Jahre 1965 verwirklicht. Die zweite findet sich im Beetle als Fortentwicklung des klassischen VW Käfers oder auch in der Porsche-911-Serie. Gerade hier lässt sich die Gratwanderung zwischen Funktionalität und Design beobachten. So soll eine neue 911er-Generation nicht nur sogleich als 911er erkannt werden, sondern sie muss zudem auf dem neuesten Stand der Sportwagentechnik sein. Bei beiden Strategien kommt es dadurch zur Zeichenhaftigkeit der Designobjekte, dass bestimmte seiner Merkmale auf Kunstwerke oder vorhergehende Designgegenstände verweisen. Gegen solch eine intellektuelle Bestimmung von Design steht der Einwand, dass wir an einem Designobjekt einfach seine Schönheit, sein angenehmes Anfühlen et cetera schätzen und ihm deshalb gutes Design zu sprechen. Dies alles hat aber mit dem Erfassen

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von bedeutungstragenden Merkmalen erst einmal nichts zu tun. Auf diesen Einwand lässt sich zumindest auf zweifache Weise antworten. Das Sehen von Schönheit ist ein höchst kulturspezifischer Vorgang, der meiner Auffassung nach durch Kunstwerke, Beschreibungen, Artefakte et cetera erlernt wird. Das heißt, wenn wir ein Artefakt als schön empfinden, dann tun wir dies, weil wir dieses Empfinden auf eine Weise erlernt haben, in der Kunstwerke eine entscheidende Rolle spielen (erinnert sei an Strategie (1)). Kurzum, meine Auffassung steht einer biologistischen entgegen, die das Erfassen von Schönheit als mehr oder minder angeborene Fähigkeit bestimmt. Damit will ich nicht leugnen, dass wir an Designgegenständen ihre Wohlfühleigenschaften häufig positiv bewerten. Aber eine solche Eigenschaft besitzt auch eine Kastanie in der Hand, ohne deshalb Design zu besitzen. Gleiches gilt für die Federung eines Autos, die wir zu schätzen wissen. Aber die Federung besitzt kein Design, auch wenn sie Teil eines Designgegenstandes, nämlich eines Autos ist. Wir schätzen eben unter anderem das Design eines Autos deshalb, weil es funktional ist und dazu gehört der Federungskomfort. Aber der Federungskomfort ist normalerweise kein Merkmal des Autos, dem wir eine ästhetische oder künstlerische Bedeutung zuschreiben wie etwa dem Kühlergrill. Wie bereits bemerkt, ich vertrete die konservative Auffassung, dass gutes Design in einer gelungenen Mischung zwischen Funktionalität und ästhetischer oder künstlerischer Qualität besteht.13 Kurze Zusammenfassung: Was Design ist, lässt sich allgemein nicht klar definieren. Gleichwohl lassen sich der Kernbereich des Designs und seine Grenzen zumindest grob bestimmen. Dieser Bereich ist das Industriedesign und dieses lässt sich von bloß technisch-funktionalen Gegenständen (zum Beispiel Kugellager) und Pseudodesign (Unterhosen, bei denen die Designleistung in der Schrift auf dem Gummizug besteht) abgrenzen. Weitere Grenzlinien bestehen zwischen bloßen Artefakten (zum Beispiel einer Antenne) und Designobjekten und zwischen reinen Kunst- und Designgegenständen. Mit Kunstwerken teilen Designgegenstände, dass sie Zeichen sind, die unter ästhetischen Gesichtspunkten, das heißt innerhalb eines ästhetischen Zeichensystems, bewertet werden. Verengt man den Bereich von »Design« auf das Industriedesign, so gelangt man zur Definition D. 13 | Erinnert sei hier an die Futuristen und ihre Liebe zu technischen Gerätschaften, die Ausdruck einer solchen Designauffassung ist – sie bewunderten das Äußere von technischen Gegenständen, das Ergebnis ihrer Funktion ist.

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Eine weitere Strategie, die gerade in der aktuellen Designdiskussion einen wichtigen Platz einnimmt und in gewisser Hinsicht meinen Thesen widerspricht ist zudem folgende: (3) Kunst als Fortsetzung von (historischer) Designkultur Bekanntermaßen sind heutzutage Legionen von Künstlern im Grenzbereich zwischen Kunst und Design bei ihrem Kampf anzutreffen, diese Grenze niederzureißen. Zwei ihrer Helden und Väter im Geiste sind Donald Judd und Claes Oldenburg. Einer unserer aktuellen Helden ist sicherlich Tobias Rehberger und sehr deutlich wird diese Strategie durch den »Sessel« Dommage à Corbu, cran confort, sans confort aus dem Jahre 1980 von Stefan Zwicky vor Augen geführt (siehe Abb.2). Abbildung 2: Stefan Zwicky, Dommage à Corbu, Grand confort, Sans confort

Quelle: © Stefan Zwicky

Handelt es sich bei all diesen Werken aber überhaupt um Design? Will man diese Frage beantworten, muss man zumindest grob die verschiedenen künstlerischen Herangehensweisen unterscheiden. Auf der einen Seite stehen Künstler wie Judd, die sowohl als Künstler wie auch Designer arbeiten und in ihrer Arbeit die Grenze ausloten zwischen Design und Kunst. Auf der anderen Seite haben wir es, wie im Falle von Oldenburg mit einer gegenständlichen Kunst zu tun, in der Designgegenstände dargestellt werden. Erinnert sei beispielweise an Oldenburgs Bedroom Ensemble – Replica I im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt oder auch seine Großskulptur mit Löffel und Kirsche. Oldenburgs Darstellungen sind vergleichbar mit jenen von fiktiven Gegenständen; so ist sein Bedroom keine Darstellung eines realen Schlafzimmers, sondern eines fiktiven. In diesem Sinne sind viele andere Arbeiten Ol-

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denburgs Darstellungen von fiktivem Design. Eine Herangehensweise, wie sie Oldenburg und zahlreiche andere wählen, würde ich als Nonsensesdesign bezeichnen. Normalerweise würde niemand auf die Idee kommen, es sich in Oldenburgs Schlafzimmer bequem zu machen und auch der Betonsessel lädt nur bedingt zum Sitzen ein. Anders sieht es bei Judd aus. Seine Stühle mögen nicht besonders bequem sein, aber sie sind zum Sitzen gedacht. Bei Judds Stühlen handelt es sich um Stühle und nicht um Darstellungen von Stühlen oder Modelle für Stühle. Arbeiten wie die von Judd sind daher bei genauerer Betrachtung nicht der dritten Strategie (3) Kunst als Fortsetzung von Designkultur, sondern der Strategie (1) Design als Weiterführung oder Auseinandersetzung mit bestimmten künstlerischen Strömungen zuzuordnen. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden verschiedenen künstlerischen Vorgehensweisen ist wichtige, denn sie zeigt, dass ein großer Unterschied zwischen einem Designgegenstand und einem Modell für einen solchen besteht. Meiner Auffassung nach produzieren die meisten Künstler Modelle für Designgegenstände oder Darstellungen von Designgegenständen, aber keine Designgegenstände. Ähnliches trifft zwar auch auf Designer zu, aber ihre Modelle oder Darstellungen zielen im Normalfall darauf, verwirklicht zu werden, was im Falle des Industriedesigns eine höchst komplexe Technik und Logistik erfordert. Mein Vorschlag ist also, möglichst scharf zwischen Modellen für Designgegenstände oder Bildern von Designobjekten und wirklichen Designgegenständen zu unterscheiden. Ein Kunstwerk, ein Naturgegenstand oder ein beliebiges Artefakt kann zwar Modell für ein Designobjekt sein, aber daraus folgt natürlich nicht, dass diese Objekte selbst Designobjekte sind. Diese Unterscheidung wird in der Diskussion bei der Frage »Was ist Design?« häufig übersehen. Was also Künstler wie Oldenburg, aber auch Artschwager oder zuweilen Rehberger machen, sind keine Designgegenstände, sondern Modelle oder Bilder für Designgegenstände. Gleiches gilt meiner Auffassung nach auch für die Modelle aus der Hand von Designern. Wir betrachten sie als Modelle, aber nicht als Design. In manchen Fällen ist die Unterscheidung zwischen Design und Modell sicherlich nicht leicht zu treffen. Dies gilt insbesondere für Fälle, in denen Modell und Designgegenstand eins sind. Aber ob daraus folgt, dass Designgegenstände immer reproduzierbar sein müssen, während dies für Werke der bildenden Kunst nicht zutrifft, ist eine höchst komplexe Frage, der ich hier nicht nachgehen kann. Für den Kernbereich des Designs, nämlich das Industriedesign, aber gilt, dass jedes Designobjekt ver-

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vielfältigbar ist. Wichtig ist mir, festzuhalten, dass man zwischen Designmodell und Designgegenstand unterscheiden kann und sich damit auch eine Unterscheidung zwischen Kunst und Design zeigt. Mit meiner Unterscheidung zwischen Design und Kunst will ich ungeachtet aller tatsächlichen und möglichen Unterschiede zwischen diesen Bereichen natürlich nicht ausschließen, dass eine Person sowohl Designer wie auch Künstler sein kann und wir manchmal nicht genau wissen, ob wir seine Arbeit als künstlerische oder Designerarbeit bezeichnen wollen, gleichwohl besteht dieser Unterschied, auch wenn er nicht immer eindeutig festzumachen ist. Die Sache ist vergleichbar mit dem Gehen und dem Laufen. Die meisten Menschen können gehen und laufen und in den meisten Fällen können wir erkennen, ob eine Person läuft oder geht. Dessen ungeachtet kann eine Person eine Bewegung machen, bei der unklar ist, ob es sich noch um ein Gehen oder schon um ein Laufen handelt.14 Auf die Kunst und das Design übertragen bedeutet dies: Es gibt heutzutage eine Vielzahl von Designern und Künstlern, die versuchen eine Lauf-Geh-Bewegung zu machen. Voraussetzung dafür, dass sie die Grenze zwischen Design und Kunst thematisieren, ist aber die Tatsache, dass wir im Allgemeinen ganz unstrittig wissen, was Kunst und was Design ist. Dass es eine grundlegende Unterscheidung zwischen Kunst und Design gibt, möchte ich an zwei Gegenständen deutlich machen, an denen sich Künstler und Theoretiker seit beinahe hundert Jahren abarbeiten, nämlich an einem gewöhnlichen Urinal und Duchamps Fontaine, zwei Gegenständen, die visuell ununterscheidbar sind. Zitiert sei hierzu aus Arthur Dantos Verklärung des Gewöhnlichen, einem Klassiker der Analytischen Ästhetik: »›Warum‹ sagt Dickie, ›können nicht die gewöhnlichen Eigenschaften von Fontaine – seine glänzende weiße Oberfläche, die Tiefe, die sich zeigt, wenn es Bilder von Objekten aus der Umgebung spiegelt, seine gefällige Form ovale Form – gewürdigt werden? Es hat Eigenschaften, die denjenigen von Werken Brancusis und Moore ähneln, denen viele Menschen ohne Zögern einen Wert zusprechen würden.‹ Es sind Eigenschaften des entsprechenden Urinals, so wie es Eigenschaften jedes 14 | Diese Unsicherheit trifft auch auf einige höchst komplizierte physiologische Theorien zu, die uns den Unterschied zwischen Laufen und Gehen erklären wollen. Man denke aber auch an die Schwierigkeiten von Schiedsrichtern der sportlichen Disziplin »Gehen« festzustellen, ob der Sportler noch geht oder schon läuft.

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beliebigen Urinals aus weißem Porzellan sind, die bestimmten Eigenschaften des Vogels von Brancusi ähnlich sind. Die Frage ist jedoch, ob das Kunstwerk Fontaine tatsächlich mit jenem Urinal identisch ist und ob demnach diese glänzenden Oberflächen und räumlich Spieglungen tatsächlich Eigenschaften des Kunstwerks sind.«15

Für Danto ist klar, dass Eigenschaften wie »spiegelnd« oder »gefällige Form« zwar von großer Bedeutung für die Arbeiten von Brancusi und Moore sind, nicht aber für die Fontaine und er fährt fort: »Doch das Werk [Fontaine] besitzt Eigenschaften, die dem Urinal fehlen: es ist gewagt, unverschämt, respektlos, witzig und geistreich. Ich glaube, was Duchamp zum Wahnsinn oder Mord getrieben hätte, wäre der Anblick von Ästheten gewesen, die geistesabwesend über die glänzenden Oberflächen des Objekts brüten, das er in den Ausstellungsraum geschafft hat. […] die Eigenschaften, die das in die Kunstwelt gestellte Objekt besitzt, hat es mit den meisten Stücken der industriellen porcelainerie gemeinsam; die Eigenschaften, die Fontaine als Kunstwerk besitzt, hat es mit dem Grabmal für Julius II. von Michelangelo und der Bronzestatue des Perseus von Cellini gemeinsam.«16

Der entscheidende Punkt für Danto ist also, dass die Eigenschaften, die das Urinal als Industriedesignobjekt besitzt, grundverschieden von denen sind, die das Kunstwerk Fontaine hat. Wir achten eben beim Urinaldesign auf andere Merkmale wie bei Fontaine. Kurzum, je nach Kontext besitzen andere Merkmale der visuell ununterscheidbaren Gegenstände Bedeutung. Dieser Unterschied zwischen Urinal und Fontaine stützt die These, dass kein Gegenstand von sich aus Design besitzt, sondern immer nur dann, wenn bestimmte Merkmale des Gegenstandes bestimmte Bedeutungen zugeschrieben bekommen.17 Gleichzeitig zeigen Dantos Überlegungen:

15 | Danto, Arthur: Verklärung des Gewöhnlichen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1982, hier S. 147. 16 | Ebd., S. 147 f. 17 | Designgegenstände können unter Umständen durch das Ausstellen im Museum zu Kunstwerken werden, dies geschieht vielleicht gerade in Museen, die sowohl Kunst- wie Designgegenstände ausstellen.

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D esign ≠ K unst Duchamps Readymades, aber auch Warhols Brilliokisten, Jeff Koons Staubsauger und viele andere Werke zeigen, dass Kunstwerke keine Designgegenstände sind. Damit will ich nicht leugnen, dass wir zuweilen Designobjekte und Kunstwerke nur schwer voneinander unterscheiden können. Ein Grund hierfür ist, dass wir die Eigenschaften von Designobjekten häufig mit Eigenschaften von Kunstwerken vergleichen und umgekehrt. Aber daraus folgt natürlich nicht, dass Kunstwerke Designobjekte sind oder umgekehrt.18 Das oder ein Unglück der gegenwärtigen Kunsttheorie ist, dass zahlreiche ihrer Protagonisten aus der Unschärfe der Ausdrücke einen allgemeinen Sprachskeptizismus folgern. Man denke nur an die Fragen »Was ist Kunst und was Design?« oder »Was ist ein Original und was eine Kopie oder Fälschung?« Diese Fragen sind nicht zuletzt deshalb schwer zu klären, weil die Ausdrücke, die in ihnen auftauchen unscharf sind. Aber diese Fragen sind für uns überhaupt nur deshalb verständlich, weil wir gemeinhin wissen, wie »Kunstwerk«, »Designobjekt«, »Original«, oder »Fälschung« verwendet werden. Dieses Wissen, wie Ausdrücke gewöhnlicher Weise gebraucht werden, ist Voraussetzung für die Fragen, die uns Künstler durch ihre Werke und Theoretiker durch ihre Texte oder Vorträge stellen. Würde es aber nicht zumindest einige unstrittige Designobjekte und Kunstwerke geben, die wir 18 | Der Vergleich zwischen einem Urinal und Fontaine zeigt, dass durch die unterschiedlichen Zuschreibungspraxen die Merkmale eines Gegenstandes festgelegt werden, die bedeutungsrelevant und somit ausschlaggebend dafür sind, ob ein Artefakt ein bloßes Artefakt ist oder ein Designgegenstand oder Kunstwerk. Die unterschiedlichen Zuschreibungspraxen, auf der die zeichenhaften Merkmale eines Gegenstandes beruhen, gründen sich dabei auf unterschiedliche sprachliche Subsysteme. Unter einem sprachlichen Subsystem sind grob gesagt Ausdrücke, Formulierungen und die Art ihrer Verwendung zu verstehen. Diese Subsysteme wiederum sind nur möglich, weil wir die ihnen zugehörigen Ausdrücke im Allgemeinen problemlos zu verwenden gelernt haben. Damit will ich natürlich nicht leugnen, dass Ausdrücke in ihren Grenzbereichen unscharf sind. Man denke beispielsweise nur an den Ausdruck »Glatze« Auch wenn wir manchmal nicht wissen, ob wir die Haartracht einer Person als Glatze bezeichnen können, bereitet es uns gewöhnlich keine Probleme, Glatzenträger von Nicht-Glatzenträgern zu unterscheiden. Gleiches trifft für Ausdrücke im Bereich Kunst und Design zu, bzw. für »Kunst« und »Design« selbst zu.

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auch problemlos als solche bezeichnen können, dann wäre das skeptische Spiel aus Kunst Design und aus Design Kunst zu machen, das heutzutage gleichermaßen in der Kunstpraxis wie auch in der Kunsttheorie so leidenschaftlich gespielt wird, unmöglich.

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Autodesign lesen Eine philosophisch und metaphorologisch erhellende Kulturtechnik Niklaus Schefer Mein Beitrag Autodesign lesen besteht aus vier Teilen: Die Einleitung beginnt mit exemplarischen Beispielen der Designlektüre, d.h. einer rezeptionsästhetischen Tätigkeit. Anschließend kläre ich die historischen und theoretischen Grundlagen dieser Lesetechnik von Gebrauchsgegenständen anhand des Automobildesigns. Kern dieser Analyse bildet die Theorie der Metapher. Mit ihrer Hilfe versuche ich Zusammenhänge zwischen der Design- und Philosophiegeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts herzustellen. Der Überblick über die Designentwicklung führt nicht unbedingt zu einem befriedigenden Fazit. So möchte ich im dritten Teil einen alternativen Ansatz skizzieren und den Beitrag mit Gedanken zur modernen Konsumkultur abrunden.

P oesie und A utodesign Schriften lesen wir; Codes können wir dechiffrieren. Aber banale Alltagsgegenstände? Solch eine Tätigkeit gehört nicht unbedingt zum Inventar unserer Kulturtechniken. Gewiss, die physikalischen Eigenschaften lassen sich beobachten, messen und in der Informationsbroschüre des Produkts ablesen. So erscheinen in einem Hochglanzprospekt eines Automodells Abmessungen, Motorstärke und Verbrauch. Auf den Ständen der Autosalons lassen sich die CO2-Emissions- und Energieeffizienzwerte, in der Regel in leicht frisierten Zahlen und einfachen Buchstaben ausgedrückt, ablesen. Aber – so wird man denken – das hat mit richtiger, schöngeistiger Lektüre nichts zu tun. Ein Au-

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tomobil wie ein Gedicht zu lesen hat etwas Anstößiges. Wir behandeln solche Industrieprodukte ja nicht als etwas Künstlerisches. Im Gegenteil, wir schätzen deren Zweckdienlichkeit, den Komfort, oder bemerken die Schattenseiten: Lärm, Abgase, Feinstaubpartikel, Warten im Stau. Doch das subversive Wagnis gehe ich ein. Denn wir leben in einer Konsumkultur, in der die persönliche Identität mitunter über die Produkte, die wir konsumieren und besitzen, konstruiert wird.1 Unsere Gebrauchsgegenstände stammen meistens aus industrieller Massenproduktion. Damit sie den Weg zu uns finden, werden sie reizvoll beworben und ansprechend verpackt. Eine attraktive Hülle bzw. Verhüllung ist eine wichtige Marketingstrategie. Dies unterstreicht die Wichtigkeit des Designs. Es gehört aber zu den Pflichten von Bürgerinnen und Bürgern innerhalb einer freien Gesellschaft, dass sie ihre Handlungen bewusst vollziehen, reflektieren und verantworten können. Nebst ethischen Aspekten umfasst diese Arbeit auch eine ästhetische Dimension bzw. die Überwindung einer ästhetischen Gedankenlosigkeit angesichts des Verführungspotentials der Konsumkultur. Beginnen wir die rezeptionsästhetische Übung mit Designstudien. Solche Entwürfe haben etwas Museales. Sie sind nicht zum Verkauf bestimmt. Die Praktikabilität ist Nebensache. Es sind oft wertvolle, unerreichbare Unikate. Jenseits von jeder seichten Mobilität scheinen solche Werke bereits nach ihrer Herstellung in die ruhigen Hallen eines Museums entschwunden zu sein. In diesen Skulpturen entfalten Designer waghalsige Formen und visuelle Metaphern. Das Blechkleid wirkt wie ein Haute-Couture-Gewand mit dramatisch inszenierten Faltenwürfen und Lichtkanten. Einem lyrischen Text gleich dreht es sich um eine Idee, einen genialen Wurf, um reizvolle Anspielungen und Metaphern, die in ihrer Mehrdeutigkeit einen schillernden ästhetischen Reiz ausüben. Aber wer sieht außer beim Besuch eines Automobilsalons oder –museums solch einen Wagen wie z.B. einen BMW Gina (vgl. Abb. 1)? Gehen wir deshalb zum Serienfahrzeug über. Was lässt sich dort deuten wie ein Kunstwerk?

1 | Vgl. Ullrich, Wolfgang: Habenwollen. Wie funktioniert die Konsumkultur?, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 53 ff.

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Abbildung 1: BMW Gina (2008)

Quelle: http://www.netcarshow.com/bmw/2008-gina_light_visionary_model_conc ept/1600x1200/wallpaper_06.htm (aufgerufen am 12.07.2015) Abbildung 2: BMW Z4 (2009)

Quelle: http://www.netcarshow.com/bmw/2010-z4/1600x1200/wallpaper_1c.htm (aufgerufen am 12.07.2015)

Immerhin rettet der BMW Z4 (vgl. Abb. 2) als reguläres Modell viele Charakterzüge der oben genannten Studie und trägt eine faszinierende Karosserie mit speziell drapierten Kanten. Warum also nicht auch ein gewöhnliches Fahrzeug wie ein Gedicht lesen? Ein Modell lässt sich als ein Werk in der Werkgeschichte einer Marke deuten. Die Gestaltung kann der geübte Betrachter kunst- und stilgeschichtlich in einen größeren Zusammenhang stellen. Nehmen wir z.B. den Cadillac ELR (2014). Die klaren und keilförmigen Linien der Silhouette werden mit Zitaten aus der ehrwürdigen Markengeschichte vereint. Die Heckleuchten ragen aus der Karosserie hervor und lehnen sich damit an die berühmten barocken Heckflossen aus den 1950er und 1960er Jahren an. In sie ist zudem ein verschnörkelter Markenschriftzug eingraviert. Das in ein V eingebettete Markenlogo schließlich dient als interessantes Dekorelement. Es deutet den statusbewussten V8-Motor an und taucht in verschiedenen Variationen auf: im V-förmigen Kühlergrill und auf dem Lenkrad, in deren Mitte das Logo prangt. So drängt sich der Eindruck

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auf, dass hier ein Objekt konzipiert und komponiert wurde, worin Grundmotive wiederholt auftauchen wie ein musikalisches Thema in einer Symphonie, wie Reime in einem Gedicht. Wer mit diesem Blick andere Modelle zu betrachten beginnt, bemerkt beispielsweise das Bumerang-Motiv beim Citroën C5 (vgl. Abb. 3 und 4). Abbildung 3: Citroën C5 - Front (2008) mit bumerang-förmigen Scheinwerfern und Nebelleuchten

Quelle: http://www.netcarshow.com/citroen/2008-c5/1600x1200/wallpaper _13.htm (aufgerufen am 12.07.2015)

Abbildung 4: Citroën C5 - Heck (2008) mit bumerang-förmigen Heckleuchten

Quelle: http://www.netcarshow.com/citroen/2008-c5/1600x1200/ wallpaper_10.htm (aufgerufen am 12.07.2015)

Neben stilistischen Motiven, ihren Wiederholungen und Variationen, sprich Reimen, gehört zur Kunst der Poesie auch die bildhafte Sprache. Ein Beispiel dafür im Automobildesign ist die Frontgestaltung, die bewusst Gesichtszüge nachempfindet und einen charaktervollen Ausdruck sucht. Als Ende der 1990er Jahre die Klarglasoptik das Scheinwerferdesign bestimmt, kann man den Autos richtig »in die Augen schauen«. Luftöffnun-

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gen im unteren Bereich der Front sind oft nach oben abgerundet (vgl. Abb. 5), so dass sich ein freundliches Lächeln ablesen lässt. Die prägnante Gestaltung der Front mit markentypischen Accessoires kann sich so leicht ins Gedächtnis der Verkehrsgänger schleichen und ein Gefühl des Vertrautseins und eine emotionale Bindung zu den Konsumentinnen und Konsumenten schaffen.2 Die Designer nutzen hier wahrnehmungspsychologische Erkenntnisse, sprich die menschliche Fähigkeit, Gesichter und deren emotionalen Ausdruck behände lesen zu können.3 Abbildung 5: Mazda 3 (2010)

Quelle: http://www.netcarshow.com/mazda/2010-3/1600x1200/wallpaper_3f. htm (aufgerufen am 12.07.2015)

Abbildung 6: Hüftknick beim Pferd

Quelle: http://www.fanpop.com/clubs/horses/images/35203702/title/white-h orse-photo (aufgerufen am 12.07.2015) 2 | Vgl. Goldstein, E. Bruce: Wahrnehmungspsychologie, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2002, S.129 f. 3 | Vgl. z.B. Ekman, Paul: Gefühle lesen. Wie Sie Emotionen erkennen und richtig interpretieren, Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag 2009.

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Abbildung 7: Alfa Romeo Giulietta (2011) mit Hüftschwung über der Hinterachse

Quelle: http://www.netcarshow.com/alfa_romeo/2011-giulietta/1600x1200/w allpaper_7e.htm (aufgerufen am 12.07.2015)

Ein zweites Beispiel ist die Gestaltung der Flanken des Autos um die Hinterachse, die so skulpturiert werden, dass das Mobil wie ein vierbeiniges Tier – oft muskulös trainiert – mit Hüftknick erscheint (vgl. Abb. 6), jederzeit bereit, sich auf den Weg mit dem Herrn oder der Herrin zu machen. Solche visuelle Metaphern verharmlosen das Objekt und suggerieren Unschuldigkeit. Der abgebildete Alfa Romeo (vgl. Abb. 7) wurde statt der zuvor üblichen numerischen Bezeichnung mit einem richtigen Namen getauft: Giulietta. So wird den Käuferinnen und Käufern ermöglicht, dass sie das Fahrzeug wie ein Haustier mit ihrem quasi-persönlichen Namen nennen können. Reime, Strophen, Metaphern, Anspielungen, Zitate: eine kleine Kompositions- und Stillehre lässt sich unverzüglich herbeizaubern. Und bereits ist man daran, Autodesign gleichsam lyrisch zu lesen.4 Was ist mit einer solchen Lektüreweise nun gewonnen? Der Gegenstand Automobil erscheint in ästhetischer Distanz, nicht als Nutzfahrzeug mit Emissionen, nicht als Mobilitätsinstrument, welches Verkehrsinfarkte provoziert, sondern als deutbares Kulturphänomen einer bestimmten Epoche, wie exemplarisch bei der documenta in Kassel 1987, als der französische Künstler Ange Leccia unter dem Titel La Séduction das aktuelle Modell eines Mercedes 300 CE in der Orangerie präsentierte.5 Eine solche Lesart, die 4 | Diese Lesekunst könnte auch als ein Kapitel der Visual Literacy gezählt werden, vgl. z.B. Elkin, James (Hg.): Visual literacy, New York: Taylor & Francis 2009. 5 | Vgl. von Oppeln, Tido: »Von der Verführung des Designs durch Kunst«, in: Passagen 2 (2013), S.18.

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die Grenzen zwischen Kunst und designtem Konsumgut aufzuheben scheint, soll das Auto nicht verklären, sondern einen reflektierteren und bewussteren Gebrauch ermöglichen. Insofern erscheint mir mein auf den ersten Blick anstößig anmutendes Projekt gerade heute durchaus sinnvoll.

M e taphorik – Ä sthe tik – D esign und zurück Wenn ein solcher Wahrnehmungs- und Leseschritt getan ist und die Augen des Betrachters wach sind, wird Ästhetik zu einer praktischen Erfahrung und Tätigkeit: ein Denken und Debattieren über die gelungene Gestaltung unserer Umgebung mitsamt den Produkten, die wir uns aneignen können/wollen. Im zweiten Abschnitt versuche ich nun, diese praktische Ästhetik in einen philosophie- und kunsthistorischen Kontext einzubetten. Ausgangspunkt ist die Haltung, unsere Lebenswelt (ästhetisch) verantwortungsvoll mitzugestalten. Er gehört zum Vermächtnis der Philosophie der Aufklärung, in dem laut Kants Kritik der Urteilskraft die Ästhetik das notwendige Bindeglied zwischen theoretischer und praktischer Philosophie darstellt. Als solche dient sie der Begründung der modernen liberalen Demokratie im Sinne Friedrich Schillers Ästhetischer Erziehung des Menschen. Im Projekt der Moderne, das zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Kunst und Architektur Ausdruck findet, wird das Ringen um die gute Gestalt spürbar. Der Pomp des großbürgerlichen oder aristokratischen Dekors, historistischer Ballast, weicht in dieser ästhetischen Revolution einem demokratischeren und schlichteren Stil (vgl. A. Loos, Le Corbusier). So kristallisiert sich der Zeitgeist in der Architektur, exemplarisch in der Idee des Bauhaus‘, aber auch in den Positionen der Sprachphilosophie, insbesondere bezüglich des Umgangs mit der Metapher als sprachlichem ›Dekorelement‹.6 Die anderen poetischen Techniken wie Reime und Rhythmen, die ich in der vorangegangenen Lektüre auf das Autodesign übertragen habe, möchte ich im folgenden Abschnitt bewusst außer Acht lassen.

6 | In einer anderen Funktion nutzt der ZMET (Zaltman Metaphor-Elicitation-Technique) die Metapher als Instrument der Design- und Markenforschung. Vgl. W. Ullrich: Habenwollen, S.155 ff.

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B egriff der M e tapher und G eschichte der M e taphorologie 7 Versuchen wir zunächst, uns über die Metapher und die diesbezüglichen Positionen der Sprachphilosophie bis ins 20. Jahrhundert einen Überblick zu verschaffen. Ich will auf das Phänomen der Metapher nicht als einzelnen Tropus innerhalb der Tropenlehre eingehen, sondern mit ›metaphorischer Aussage‹ auch verwandte Formen wie Metonymie, Allegorie, Symbol, Katachrese, Synekdoche, Ironie etc. im weiten Sinne verstehen.8 Historisch gründet die Metaphorologie auf Aristoteles‘ Werken Rhetorik und Poetik.9 Schon die griechische Bezeichnung weist auf einen wichtigen Wesenszug hin: metaphérein bedeutet ›hinübertragen‹ und zeigt ein Moment der Bewegung an. Sie ist in gewisser Weise sprachliche bzw. geistige Bewegung, eine epijora10, wie Aristoteles sie in seiner Poetik nennt. Dank ihr gelingt es, eine Idee aus einem Bereich unverzüglich und ohne Umwege in einen anderen hinüber zu tragen, hinüber zu bewegen.11 Insofern stellt Metaphorik unweigerlich ein zentrales Phänomen einer Ästhetik der (sprachlichen und geistigen) Bewegung und Verdichtung zweier Bedeutungsfelder dar. Diese Verdichtung führt zu einer weiteren relevanten Eigenschaft der Metapher. Im Gegensatz zur exakten Begrifflichkeit scheint sie bereits in den Augen Aristoteles‘ eine stärkere Verbindung zur Emotionalität als zur Rationalität zu besitzen;12 dies ist wohl ein Grund für ihre lange Missbilligung und Ächtung in der Philosophie. Ihr historischer Platz innerhalb der Wissenschaften ist ein verschwommener. Die Disziplin, der sie hauptsächlich angehörte, die Rhetorik, existiert 7 | Vgl. für die folgenden Abschnitte: Schefer, Niklaus: Philosophie des Automobils. Ästhetik der Bewegung und Kritik des automobilen Designs, München: Wilhelm Fink 2008, Kap. 5 und 6. 8 | Vgl. Strub, Christian: Kalkulierte Absurditäten, München: Alber 1991, S.58. 9 | Hauptsächlich finden sich diese Stellen im dritten Buch der Rhetorik und im 21. Kapitel der Poetik. 10 | Vgl. Aristoteles: Poetik, Stuttgart: Reclam 1993, 1457b 7; vgl. Ricoeur, Paul: Die lebendige Metapher, München: Wilhelm Fink 2004, S.22. 11 | Vgl. P. Ricoeur: Die lebendige Metapher, S.22, 44. 12 | Vgl. Aristoteles: Rhetorik, München: Wilhelm Fink 1995, III. Buch, 11. 2. (1411b).

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nicht mehr. Die Poetik, einstmals Schwester der Rhetorik, löste sich in Linguistik und Literaturwissenschaft auf. Die Metapher wurde in der römischen Rhetorik als Ornament der Rede gesehen13 und lange Zeit nur als rhetorische Figur, als sprachliches Schmuckwerk gedeutet. Bezeichnenderweise wurde sie erst mit dem Licht der Aufklärung zu einem intensiven Forschungsgegenstand. Das heißt, erst nachdem sich nach dem berühmten Metaphorologen Hans Blumenberg die Metaphorik vom Mantel der Metaphysik, die einen sicheren Deutungsrahmen vorgab, entblößt hatte,14 wurde ihr Wesen richtig erforschbar. Nutzen wir einen metaphorischen Ausdruck, um verschiedene Deutungen der Metapher zu illustrieren. In der Verszeile von Pablo Neruda »Der Mond bringt sein Räderwerk der Träume nun in Gang.«15 werden die Bereiche Mond, Traum und Maschine in einem Satz miteinander verbunden, ohne dass die Beziehung explizit thematisiert würde. In Max Blacks berühmtem Aufsatz ›Die Metapher‹ von 1954, der für die moderne Metapherntheorie wegweisend ist, unterscheidet er drei Arten von Erklärungen dieser Figur, wobei sich zwei der drei Ansätze bereits bei Aristoteles finden: Substitutionsthese:16 Sie geht davon aus, dass die Metapher einen gewöhnlichen Begriff ersetzt. Statt des Bildes könnte auch – ohne Informationsverlust – das ursprüngliche Wort stehen. Bezogen auf das Beispiel von Neruda ersetzen wir den Mond durch die Nacht und das Räderwerk durch den Beginn. Sinngemäß lautet Nerudas Zeile: Es ist Nacht. Die Menschen beginnen zu träumen.

13 | Vgl. Blumenberg, Hans: Schiffbruch mit Zuschauer, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, S.77. 14 | Vgl. Blumenberg, Hans: »Paradigmen zu einer Metaphorologie«, in: Archiv für Begriffsgeschichte Bd. 6, Bonn: Bouvier Verlag 1960, S.142: »Metaphysik erwies sich als beim Wort genommene Metaphorik; der Schwund der Metaphysik ruft die Metaphorik wieder an ihren Platz.« 15 | Neruda, Pablo: Gedicht XVIII, aus: »Die 20 Gedichte«, in: Pablo Neruda, Liebesgedichte, München: DtV 2000, hier S.173. 16 | Vgl. Black, Max: »Die Metapher«, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Theorie der Metapher, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S. 60 ff.

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Vergleichstheorie:17 Sie deutet die Metapher als einen verkürzten (elliptischen) Vergleich, in dem das ›wie‹ und allenfalls ein Teil des Vergleichs fehlt. Diese Theorie ist ein Sonderfall der Substitutionstheorie.18 Sinngemäß lautet Nerudas Zeile: Wenn es Nacht ist, und die Menschen im Schlaf zu träumen beginnen, ist es, wie wenn der Mond sein Räderwerk der Träume in Gang bringt. Interaktionstheorie:19 Laut ihr besteht eine Wechselwirkung in der Bedeutung und Deutung zwischen dem ersten, eigentlichen Aussagebereich (Nacht, Traum, Schlaf) und dem zweiten bildlichen (Mond, Räderwerk). Diese Wechselwirkung verändert beide Bereiche, so dass durch die metaphorische Ausdrucksweise etwas Neues entsteht, welches nicht durch die Paraphrasierungen im Sinne der ersten beiden Erklärungsansätze kognitiv erschöpfend dargelegt werden könnte.20 Nur diese Auffassung über die Funktionsweise von Metaphern ist für die Philosophie interessant, sie ist aber auch die komplexeste.

M oderne und M e taphernverzicht Nach Ricoeur war von den aristotelischen Metapher-Interpretationen die Substitutionsthese die folgenreichste: »[I]st nämlich der metaphorische Begriff ein substituierter, so ist der Informationsgehalt der Metapher gleich Null, da der abwesende Begriff […] an seine Stelle gesetzt werden kann; und wenn der Informationsgehalt gleich Null ist, dann hat die Metapher nur einen schmückenden, verzierenden Wert.«21

17 | Vgl. M. Black: Die Metapher, S.65ff; vgl. P. Ricoeur: Die lebendige Metapher, S.22, 44. 18 | Vgl. Black, Max: »Mehr über die Metapher«, in: A. Haverkamp, (Hg.): Theorie der Metapher, S. 391. 19 | Vgl. M. Black: Die Metapher, S.68 ff. 20 | An dieser Interaktionstheorie arbeitet Black weiter. So revidiert er im Aufsatz »Mehr über die Metapher« (1977) seine Interaktionstheorie. Vgl. insbesondere S.391-393. 21 | P. Ricoeur: Die lebendige Metapher, S.25f.

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Die rhetorische Metapher hat laut dieser Haltung keinen Eigenwert. Sie wird instrumentalisierbar und lediglich zu einer Funktion innerhalb der Verkaufsstrategie. In diesem Sinne versteht auch der Kunsttheoretiker Arthur Danto die Metapher. Ihre Hauptfunktion ist es, die Extension eines zu beschreibenden Objekts auf wenige auffällige, in der Werbung positive Aspekte krass zu reduzieren. Darum teilen uns solche Metaphern kaum mehr mit, als wir ohnehin schon wissen.22 In der Konsequenz prägt die Vorstellung, dass Wahrheit nackt sein müsse, ohne jegliche Umhüllung, die philosophische Forschung vor allem zu Beginn des 20. Jh.s. Auf der Suche nach den Grundelementen einer universalen (Ideal-)Sprache und des Denkens mit dem neuen Instrument der Aussagenlogik ist der logische Positivismus ein Vorreiter. Anhand der zentralen Werke (L. Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus und R. Carnaps Scheinprobleme der Philosophie) können wir gut beobachten, welche logischen und sprachlichen Phänomene zur Grundstruktur gehören und welche ausgeschlossen oder überflüssig sind. Zu den ausgeschlossenen zählen unter anderem Paradoxa, Selbstbezüglichkeiten, Metaphern, mehrdeutige Wendungen. Ja, die Metapher, das heißt der übertragene Sprachgebrauch, will gar nicht zur erstrebten geschichtslosen Klarheit der analytischen Philosophie (als wissenschaftstheoretische Grundlage für die übrigen Wissenschaften) passen. Die Ablehnung dieser sprachlichen Figur ist eine logische Folge einer fortschrittlichen wissenschaftlichen Weltauffassung. Sie kann ohne Sinnverlust eliminiert werden, ja, der Verzicht schafft begriffliche Klarheit und schont die knappen Ressourcen, ermöglicht eine demokratische Verteilung der bestehenden Güter. Dieses Prinzip beherzigt auch die moderne Architektur. Zudem lässt sich die Entwicklung hin zur abstrakten Kunst ähnlich deuten. Soviel zur Skizze des sprachphilosophischen Projekts der Moderne. Um nun wieder zur Designlektüre zurück zu kehren, findet sich ebendiese Bewegung auch in der Gestaltung der Automobile, sichtbar seit den 1960er Jahren, mit einem stark ausgeprägten modernen Autodesign. Es besteht aus einer funktionalen, schnörkellosen, ahistorischen und schlichten Gestaltung (vgl. Abb. 8: VW Golf, 1. Generation von 1974 nach dem Designer G. Giugiaro). So verschwindet beispielsweise der verchromte Kühlergrill als Symbol einer althergebrachten Markentradition. Im rational und klar gezeichneten Wagen lassen sich die Prinzipien der Bauhaus-Bewegung wieder erkennen (vgl. Abb. 9 als exemplarisches und philosophiegeschichtlich aufschlussrei22 | Vgl. P. Ricoeur: Die lebendige Metapher, S. 108.

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ches Beispiel, in dem sich der Philosoph Wittgenstein als moderner Architekt betätigte). Abbildung 8: VW Golf (1974)

Quelle: http://www.netcarshow.com/volkswagen/1974-golf_i/1600x1200/wall paper_02.htm (aufgerufen am 12.07.2015)

Abbildung 9: Haus Wittgenstein in Wien

Quelle: Wikipedia

Doch was bedeuten Klarheit, Einfachheit und Exaktheit aus philosophischer Sicht? Trotz des Glaubens, es sei klar und eindeutig bestimmt, wenn ich auf den Träger des Namens, also den Gegenstand in der Welt verweise23, bleibt eine solche Bestimmung in gewissem Maße immer unscharf. Im alltäglichen Leben stört diese Unschärfe selten, in den meisten Situationen genügen ungefähre und vage Erklärungen.24 Die Exaktheit des sprachlichen Ausdrucks 23 | Vgl. Wittgenstein, Ludwig: »Philosophische Untersuchungen«, in: Werkausgabe Bd. 1, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1990, § 64 – 71, S. 276 – 281. 24 | Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 88, S. 290 f.

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ist folglich gemäß dem späten Wittgenstein eine relative. Die von der Wissenschaft geforderte Exaktheit ist darum je nach Fall eine unnötige bzw. illusorische, entspringt lediglich einem falschen Trieb nach Genauigkeit, einer Verhexung gleich.25

K ritik an der M oderne – R enaissance der M e taphorologie Es stellt sich also berechtigt die Frage, ob die Metapher tatsächlich ihrem Wesen nach so beschrieben und brutal behandelt werden darf. Mit Beginn der modernen Metapherntheorien setzt sich allmählich die so genannte Unersetzbarkeitsthese durch. Anselm Haverkamp, Herausgeber einer Textsammlung zur Metaphorologie, formuliert diesen Wandel folgendermaßen: »An die Stelle des im Bild transportierten ›Gehalts‹ tritt die Technik des sprachlichen Transports; die Metapher als Terminus des Transports ersetzt das Bild als Metapher der ›Gestalt‹ (›Figur‹). Das entspricht der allmählichen Verlagerung des literaturwissenschaftlichen Interesses vom ontologischen Status des ›literarischen Kunstwerks‹ zur kommunikativen Funktion literarischer Texte und zur Dynamik literarischer Kommunikation.«26

Mit dieser Grundlage arbeiten verschiedene Philosophinnen und Philosophen und entwickelten die Theorie der Metapher weiter. Ich fasse zunächst wichtige Beiträge aus der analytischen Philosophie zusammen: Eine aufschlussreiche Theorie von Goodman bzw. Strub definiert die ›metaphorische Auss-

25 | Vgl. L. Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, § 109, S. 299. 26 | A. Haverkamp: Theorie der Metapher, S. 2.

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ge‹27 als kalkulierten Kategorienfehler28 bzw. als kalkulierte Absurdität.29 Ein Wort, egal ob Substantiv oder Verb, wird in einer falschen bzw. unüblichen Kategorie verwendet, welche nicht innerhalb des Konnotationsfeldes der ursprünglichen Bedeutung liegt. Der Fehler bewirkt, dass in den meisten Fällen die wörtliche Bedeutung der Aussage logisch falsch ist, was den Unterschied zum Vergleich ausmacht, wie z.B. im folgenden Satz: ›Der Würfel ist fröhlich.‹ Wenn man vom Sprechenden ausgeht, der etwas intendiert bzw. kalkuliert, ist es nahe liegend, nicht allein auf Bedeutungsfelder der Semantik zu verweisen, sondern die Pragmatik einzubeziehen. So könnten andererseits metaphorische Aussagen einfach auch ein besonderer Redemodus oder eine besondere Sprechhandlung sein, nämlich diejenige, eine Veränderung der Sichtweise auf unsere Welt zu erwirken, im Gegensatz zu der semantischen Deutung, die versucht, eine andere Sichtweise darzustellen. So jedenfalls lautet die Position von Davidson und Rorty.30 Statt von einem Kategorienfehler könnte man von einem pragmatischen Sprung reden, der auftritt, wenn wir von der Behauptungs- auf die metaphorische Ausdrucksebene wechseln. Beim Lügen oder bei der Ironie bereitet uns dieser Sprung in der Regel auch keine Probleme.31 Dann ist eine metaphorische Aussage nicht eine semantische, sondern eine pragmatische Regelverletzung, eine Verletzung im korrekten Gebrauch eines Wortes. Und wenn sich ein metaphorischer Gebrauch eingebürgert hat, hat sich das semantische Feld erweitert. Die Metapher stirbt und der tote Ausdruck ist zu einem geläufigen Begriff, zu einer Floskel ge-

27 | Der Begriff ›metaphorische Aussage‹ betrifft einen ganzen Satz, in dem ein metaphorischer Ausdruck vorkommt. Die ganze Aussage als Grundlage für die Analyse zu nehmen erlaubt ein exakteres Erfassen des Phänomens. Vgl. M. Black: Die Metapher, S. 386. 28 | Vgl. Goodman, Nelson: Sprachen der Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, S. 77. Goodman übernimmt den Begriff ›Kategorienverwechslung‹ von G. Ryle (vgl. Ryle, Gilbert: Der Begriff des Geistes, Stuttgart: Reclam 1986). 29 | Vgl. Strub, Christian: Kalkulierte Absurditäten, S.134 f. 30 | Vgl. Rorty, Richard: »Ungewohnte Geräusche: Hesse und Davidson über Metaphern«, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Die paradoxe Metapher, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1998, S. 108. 31 | Vgl. Davidson, Donald: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 362 f.

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worden.32 In der Alltagssprache erscheint sie unscheinbar auf Schritt und Tritt. So ist auch das Wort ›Begriff‹ selbst eine tote Metapher.33 Man könnte sogar so weit gehen, dass die Abnutzung von Metaphern konstitutiv für das philosophische und wissenschaftliche Denken ist. Erst durch die Überwindung der Doppelbödigkeit und Bildhaftigkeit kann sich die abstrakte Spekulation entfalten.34 Doch jedes Wort trägt seine Geschichte mit sich. Insofern ist jedes Wort potentiell metaphorisch oder mehrdeutig. Und die Beachtung der Etymologie kann das gleiche wie eine Metapher bewirken. Wenn ich eine Wortgeschichte, die Etymologie eines Wortes belebe, belebe ich gleichsam eine tote Metapher. Solche Deutungsansätze der analytischen Philosophie möchte ich noch mit Überlegungen aus der hermeneutischen Tradition ergänzen: Hans Blumenberg argumentiert in seinen Paradigmen zu einer Metaphorologie: Neben solchen Metaphern, die sich zwar mit einem gewissen Aufwand, aber letztlich ohne Bedeutungsverlust in eine terminologische Sprache übersetzen lassen, existiert ein Grundbestand von Metaphern,35 bei dem diese Transformation nicht gelingt. Blumenberg nennt diese Metaphern pragmatisch,36 weil sie grundlegend für unsere praktische Lebensausrichtung sind. Solche Metaphern wären in diesem Fall konstitutiv für unser Weltverständnis.37 Ich glaube, genauso konstitutiv ist eine gewisse Schmuckhaftigkeit in der Gestaltung unserer Alltagswelt. – Eine originelle These? Nein, schon Ernst Cassirer beschäftigt sich ausgiebig mit symbolischen, sprich metaphorischen Formen in der Kultur und dazu gehören die verglichenen Bereiche der Sprache und 32 | Vgl. D. Davidson: Wahrheit und Interpretation, S.353 f. und R. Rorty: Ungewohnte Geräusche: Hesse und Davidson über Metaphern, S.115 f. 33 | Mit der toten Metapher beschäftigen sich die Metapherntheoretiker natürlich häufig. Besonders zu erwähnen ist die »Weisse Mythologie« von J. Derrida, in der er untersucht, wie ursprüngliche Metaphern weiss gewaschen werden (vgl. Derrida, Jacque: »Die weisse Mythologie – Die Metapher im philosophischen Text«, in: Peter Engelmann (Hg.): Randgänge der Philosophie, Wien: Passagen Verlag 1988, S. 205-258). Vgl. auch N. Goodman: Sprachen der Kunst, S. 83; M. Black: Die Metapher, S. 389. 34 | Vgl. P. Ricoeur: Die lebendige Metapher, S.270 f. und auch Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes, München: Piper 2002, S.113 f. 35 | Vgl. H. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 9. 36 | Vgl. H. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 20. 37 | Vgl. H. Blumenberg: Paradigmen zu einer Metaphorologie, S. 20.

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der Kunst.38 In seinem Hauptwerk verweist er u.a. auf den Neukantianer Hermann Cohen und dessen Ästhetik des reinen Gefühls. Dort ist bereits zu Beginn des 20. Jh.s die Brücke zwischen Metapher und bildnerischem Gestalten gebaut.39 Soviel als kurzer Überblick über moderne Metapherntheorien, die dieses sprachliche Phänomen nicht mehr wie im logischen Positivismus als unwesentlich betrachten, sondern einen erkenntnistheoretischen Gewinn darin sehen.40 Wenn wir diesen differenzierten, grundsätzlich positiven Umgang mit (poetischen und erkenntnistheoretisch ergiebigen) Metaphern und gestalterischen Formen auf die Kunst und das Design übertragen, lassen sich rasch Kernelemente einer postmodernen Architektur erkennen: das Spielerische, Doppelbödige, die Vermischung von Tradition und Moderne (vgl. z.B. den Kapellenbau von Mario Botta im Tessin, Abb. 10). Und so finden wir uns bei manchen Beispielen wieder, die ich zu Beginn dieses Aufsatzes unter dem Stichwort ›Designlektüre‹ erwähnt habe. Im Automobildesign fällt so seit den 1990er Jahren die Wiederentdeckung der Markenidentität auf. Der Kühlergrill und traditionelle Logos ergänzen ein emotionaleres Design mit Bögen, dynamischen Spannungen und Chromdekor (vgl. Abb. 11: das viertürige Coupé Mercedes CLS). Versuche

38 | Vgl. z.B. Cassirer, Ernst: »Philosophie der symbolischen Formen«, Bd. 1, in: Gesammelte Werke Band 11, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 10. 39 | Hermann Cohen schreibt darin: »Es ist falsch, dass die Metapher nur ein angemasster, nur ein rhetorischer Schmuck wäre, ein Ballast, der in dem poetischen Gedankenfluge auch abgeworfen werden könnte. Wir haben erwogen, dass dieser vermeintliche Schmuck ebenso instrumental ist, wie der Schmuck im bildnerischen Mal. Wir haben erkannt dass der Bedeutung des Mals die zweite innere Sprachform durchaus entspricht.« (Cohen, Hermann: Ästhetik des reinen Gefühls, Hildesheim: Georg Olms Verlag 2005, hier S. 385). Die innere Sprachform bestimmt er als »eine zweite Ursprache«, in der das Erleben und die Gefühle ihren Ausdruck finden (H. Cohen: Ästheik des reinen Gefühls, S.383f). 40 | Weitere philosophisch interessante Metapherntheorien aus der Tradition der Rhetorik lasse ich hier explizit weg.

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ich, Autos metaphorisch zu betrachten, sehe ich beispielsweise die Front als kätzisches oder lächelndes Gesicht.41 Abbildung 10: Kapelle in Mogno TI/CH (1995)

Quelle: http://designspiration.net/image/609835790912/ (aufgerufen am 12. 07.2015)

Abbildung 11: Mercedes CLS (2012)

Quelle: http://www.netcarshow.com/mercedes-benz/2012-cls-class/1600x120 0/wallpaper_47.htm (aufgerufen am 12.07.2015)

Und Abbildung 12 veranschaulicht eine kalkulierte Absurdität oder bewusste Regelverletzungen: Das witzige Design des Nissan Juke kann nicht ganz ernst genommen werden. Solche Trends lassen sich mit dem Konzept der Postmoderne à la Wolfgang Welsch oder Charles Jencks vergleichen.

41 | Dies nennt V. C. Aldrich in seinem gleichnamigen Aufsatz eine »visuelle Metapher«, in: Anselm Haverkamp (Hg.): Theorie der Metapher, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1996, S.146.

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Einen besonderen Aspekt der Metaphorik möchte ich noch hervorheben: das Zitat oder die Reminiszenz. Es ist ein Paradebeispiel des Metaphorischen.42 Ein Detail, eine Formspielerei wird aus dem traditionellen Zusammenhang herausgelöst und in einen zeitgemäßen Kontext kopiert. Die Kunst besteht darin, das zitierte Alte möglichst sorgfältig mit den neuen Bestandteilen zu vereinen.43 Betrachten wir dazu eine weitere Illustration aus der automobilen Gegenwart, in der Anspielungen auf das historische Erbe einer Marke gemacht werden und ein alter Mythos neu interpretiert wird (vgl. Abb. 13).44 Abbildung 12: Nissan Juke (2011)

Quelle: http://www.netcarshow.com/nissan/2011-juke/1600x1200/wallpaper_ 10.htm vom 12.07.2015 (aufgerufen am 12.07.2015)

42 | Vgl. Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne, Berlin: Akademie Verlag 2002, S.105 und 120. 43 | Davidson führt in seinem Aufsatz »Zitieren« aus, dass Zitieren irreführend, unklar und konfus sei (vgl. Davidson, Donald: Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S.123–140). So ähnelt das Zitat den Eigenschaften metaphorischer Ausdrücke. Was beide zudem verbindet, ist der »reflexive Dreh«, wie es Davidson nennt (D. Davidson: Wahrheit und Interpretation, S.123). 44 | In diesem Sinne setzt ein Design wie der Fiat 500, Mini oder VW Beetle auf die Strategie des storytelling (vgl. Brandes Uta/Erlhoff, Michael/Schemmann, Nadine: Designtheorie und Designforschung, München: Wilhelm Fink 2009, S.187 f.)

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Abbildung 13: Fiat 500 (1957 und 2007)

Quelle: http://www.autobild.de/bilder/test-fiat-500-1.4-16v-und-weitere-retrod esign-vertreter-434502.html#bild24 (aufgerufen am 12.07.2015)

K ulturelle A nomalien Im Rückblick auf die philosophie- und kunstgeschichtliche Entwicklung der vergangenen 150 Jahre im westlichen Kulturkreis lässt sich festhalten: Auch die Metapher und mit ihr der Umgang mit Schmuck gerieten in die Dialektik der Aufklärung:45 Metaphern und Schmuck wurden zu einem zu eliminierenden Kampfobjekt einer positivistisch-szientistischen Wissenschaftsauffassung. Sie wurden andererseits zum dienstbaren Instrument rhetorischer Werbestrategien und Marketingverpackungen und schliesslich zum gefeierten Sprach- und Gestaltungstopos in der historisch-hermeneutisch ausgerichteten Philosophie und in der Postmoderne. In der Designgeschichte von Gebrauchsgegenständen wie z.B. dem Automobil lässt sich diese Dialektik mit einer gewissen Verzögerung nachlesen. Dies gleichsam als These einer Metadesignlektüre. Und so können wir zum zweiten Mal feststellen, dass Designlektüre eine erhellende Kulturtechnik ist. Diese grobe Parallele zwischen Design-, Architektur- und Philosophiegeschichte des 20. Jahrhunderts stimmt allerdings bei einer detaillierteren Analyse nicht genau. Beim Vergleich des Designs zwischen der amerikanischen und europäischen Automobilindustrie stelle ich ab Ende der 1960er Jahre ein stilistisches Auseinanderdriften fest. Während Europas Mo45 | Vgl. C. Strub: Kalkulierte Absurditäten, S.480. Er versucht »klarzumachen, warum gerade die Metapher als zentraler Ausdruck dieser ›Dialektik der Moderne‹ aufgefasst werden kann. Es ist eine bekannte These, es gebe seit dem 18. Jahrhundert eine Bewegung, die ›der Verachtung der Metapher eine Hochschätzung der Metapher als originaler Denkform‹ entgegensetzt.

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delle immer radikaler, moderner, ja futuristischer gestaltet sind (vgl. Abb. 14), werden amerikanische Fahrzeuge wieder länger, schwerer, barocker (vgl. Abb. 15).46 Erst die zweite Ölkrise läutet einen Wandel ein. Eine erste Erklärung dieses Phänomens verweist auf den Unterschied zwischen europäischem Design und amerikanischem Styling, wobei sich das Styling insofern vom Design unterscheidet, dass es stärker auf die kurzlebige, modische Hülle und Verpackung als auf die grundsätzliche Suche nach der gelungenen Gestalt des gesamten Objekts (im Sinne von »Form follows function«) fokussiert. So gab es in den 1950er und 1960er Jahren bei den amerikanischen Produkten praktisch jedes Jahr ein sichtbares Facelift. Mich interessiert aber die philosophische Deutung dieser »Anomalie«. Abbildung 14: Maserati Indy (1972)

Quelle: http://www.automobilrevue.ch/uploads/tx_adb/img-004_03.jpg (aufgerufen am 12.07.2015)

Abbildung 15: Cadillac Eldorado (1972)

Quelle: Wikipedia

46 | Vgl. Tumminelli, Paolo: Car Design America, Myths, Brands, People, Kempen: teNeues 2012, S.5. Er schreibt dort: »Die Vorbildfunktion amerikanischen Automobildesigns endet zwar um 1970, als die Europäer die Keilform erfinden, während die Amerikaner ein Revival ihrer eigenen Tradition feiern.«

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Bereits im ersten Teil habe ich auf die aufschlussreiche Verbindung zwischen Design/Gestaltung auf der einen Seite und den Umgang mit metaphorischen Sprachelementen auf der anderen Seite hingewiesen. Angesichts dieser interkontinentalen Divergenz stellt sich die Frage, in wieweit dies mit einem unterschiedlichen Verständnis von Metaphern zusammen hängen könnte. Die lange Geschichte des Abendlandes mit vielen Irrungen und Wirrungen könnte ein Grund für ein Streben nach dem gründlichen Abwerfen des historischen Ballasts sein. Dem gegenüber ist die Konzeption Amerikas als die neue Welt viel mehr eine Projektionsfolie für Träume und Visionen. Herrscht eine Krisenstimmung aufgrund politischer Unruhen und Attentaten (Stichwort: Attentate auf Mitglieder der Kennedy-Familie (1963/1968), Martin Luther King (1968)), erscheint ein attraktives Verpacken neuer Gegenstände, die ein Mittel zur Verwirklichung dieses Traumes darstellen, als vielversprechende rhetorische Strategie.47 Ein Zitat aus Jürgen Habermas‘ neuer Unübersichtlichkeit gibt einen weiteren Hinweis: »Dieser Traditionalismus ordnet sich dem Muster des politischen Neukonservativismus insofern ein, als er Probleme, die auf einer anderen Ebene liegen, in Stilfragen umdefiniert und damit dem öffentlichen Bewusstsein entzieht.«48 So entpuppt sich das amerikanische Entschwinden der Moderne Ende der 1960er Jahre als ein Erstarken traditionalistischer Politik oder gar als eine Form vorzeitiger Postmoderne. Damit materialisieren sich in dieser Designströmung also auch gesellschaftliche Machtverhältnisse und soziologischer Wandel.49

F a zit der L eere Was ergibt sich aus dieser Analyse des Automobildesigns? Eine oberflächliche Leere, die nach gekünsteltem und entfremdetem Überschwang übrig 47 | Bezogen auf die postmoderne Architektur belegt Charles Jencks meine These des Rhetorischen. Vgl. Jencks, Charles: »Die Sprache der postmodernen Architektur«, in: Wolfgang Welsch (Hg.): Wege aus der Moderne – Schlüsseltexte der Postmoderne-Diskussion, Weinheim: VCH Verlagsgesellschaft 1988, S.94. 48 | Habermas, Jürgen: Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, hier S. 26. 49 | Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 497 ff.

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bleibt. Wenn man sich z.B. die Muße nimmt, die Frontpartie des Lancia Musa (2004) zu studieren, bemerkt man mit Erstaunen, dass der prächtige Chromgrill gar keinen Lufteinlass besitzt und damit die ihm angestammte Funktion nicht übernehmen kann. Der identitätsstiftende Grill ist zur reinen Fassade geworden. Es ist die Leere einer weit reichenden Ökonomisierung, die wesentliche Bereiche des menschlichen Lebens quantifizieren und kalkulieren will. Die postmodern inszenierte und überstülpte Gegenbewegung entlarvt sich als geheime Fortsetzung der modernen Fortschrittsbewegung und schenkt ihr den verlorenen ästhetischen Ausdruck von Dynamik und Lebendigkeit zurück.50 In der anheimelnd stilvoll und wohnlich eingerichteten Hülle des Gefährts ist der Mensch des 21. Jahrhunderts weiterhin entfremdet von den ursprünglichen Orts- und Sinnzusammenhängen. Ja, die so elegant gestaltete postmoderne Mobilität immunisiert sich durch eine erfolgreiche Matrix der betörenden Bewegung und veranschaulicht aufs Neue Marx‘ Thesen vom Fetischcharakter der Ware und der kapitalistischen Entfremdung.51 So komme ich zum Schluss, dass ich trotz einiger Sympathie für die postmoderne Gegenbewegung gleichwohl nicht hinter ihr stehen kann. Aber trotz aller Kritik an der Postmoderne muss ich festhalten, dass sie im Automobilbau immer noch erstaunlich lebendig ist, während der Stil in der zeitgenössischen Architekturtheorie oft nur belächelt wird. So möchte ich einen alternativen Ansatz skizzieren.

S kizze eines alternativen D esignansat zes Versuchen wir, uns aufs Wesen der Ästhetik zurück zu besinnen. In der ästhetischen Betrachtungsweise sind wir sensibilisiert auf das Spiel von Formen, Hüllen, Verkleidungen, Gestaltungen, Dekorationen und Ornamenten.52 Es gibt hier keine abstrakte, pure positivistische oder neorealistische Nacktheit des Stoffes, sondern mehr oder weniger stabile Konstruktionen, 50 | Auch Welsch betont das Inklusionsverhältnis von Postmoderne und Moderne (Vgl. W. Welsch: Wege aus der Moderne, S.83). 51 | Vgl. Marx, Karl: »Das Kapital«, in: Marx/Engels: Werke (MEW), Band 23, Berlin: Dietz Verlag 1968, S.85 ff. 52 | Vgl. z.B. Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997, B 42f, S.141f.: Gedanken zu Zierat, Spiel und Gestalt.

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in denen die aristotelischen Prinzipien von Stoff und Form unzertrennlich sind. Dabei ist jede Konstruktion potentiell dekorativ, jedes Wort potentiell metaphorisch, so dass auch ein notwendiger Zusammenhang zwischen ästhetischer Wahrnehmung und dekorativer Gestaltung besteht. Wichtig ist m. E. die Feststellung, dass es zwischen funktionalistischer Grundform und aufgesetztem Dekor keinen absoluten, qualitativen Sprung gibt, sondern nur fließende Übergänge, die zudem von der Sichtweise des Interpreten abhängen. Jede noch so karge Form kann als Zierde gesehen werden, welche sich als Metapher deuten lässt. Damit entfällt auch das Argument, dass Schmuckhaftigkeit automatisch mit Aufpreis verbunden und teuer sein müsste. Falls die Analogie zwischen Metapher, Ästhetik und Dekoration überzeugt, gehört das Dekorative zum ästhetischen Grundbestand einer humanen Welt. Dem radikalen modernen Designverständnis gegen jede Art von Ornament liegt demnach ein Denkfehler zugrunde, mit dem eine postkulturelle Revolution eingeläutet wird, gleich bedeutend mit einer Transformation und Zerstörung des menschlichen Selbstverständnisses.53 Daraus folgere ich, dass ein sinnvolles Kriterium zur Beurteilung der Angemessenheit von Dekorationen ihre Lebendigkeit ist.54 Eine ästhetische Unterscheidung zieht also nicht die Grenze zwischen (traditioneller) Zierde und (moderner, funktionalistischer) Zierlosigkeit, sondern zwischen toter und lebendiger Dekoration. Der Überdruss an repetitivem Dekor im Historismus führte zu einer logischen Abwehrreaktion in der aufkommenden Moderne. Doch die nachfolgende Tendenz bis hin zur aktuellen Neomoderne bedeutete das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ein aussagekräftiges und interessantes Beispiel in dieser Übergangszeit könnte der Jugendstil oder ›Art nouveau‹ darstellen. In ihm befreite sich die naturwüchsige, wilde Kraft 53 | Kambartel schreibt zu dieser These mit Bezug zum oben ebenfalls erwähnten Wittgenstein: »Es ist die Perspektive des späten Wittgenstein, dass die Vorstellung, uns müssten oder könnten über eine situationsinvariant verfügbare Semantik kulturwissenschaftliche Erklärungen unserer alltäglichen Sprache und der mit ihr (in ihr) möglichen Verständnisse gelingen, entweder eine Illusion darstellt oder auf eine wesentliche Veränderung, ja Elimination der humanen Welt hinausläuft, wie sie uns bekannt ist.« (Kambartel, Friedrich: Philosophie der humanen Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, hier S. 154). 54 | Susanne Langer verwendet als Kriterium, um Kunst zu beurteilen, ihre Ausdruckskraft, ihre Vitalität (vgl. Langer, Susanne: Philosophie auf neuem Wege, Frankfurt a.M.: Fischer 1992, S. 258).

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der Ornamente, angelehnt an die berauschende Energie der Natur, von den sturen Vorgaben der Tradition. Für ästhetische Erfahrungen ist Metaphorizität, sei es in Sprache oder Gestaltung, in Semantik oder Pragmatik, konstitutiv. So kann unsere Kultur darin bestehen, bei einer Dichterlesung oder beim Poetry Slam Texten Leben einzuhauchen oder Häuser, Gärten, Automobile auf einem Spaziergang durch Szenen unserer Lebenswelt als readymade-Skulpturen zu betrachten. Und eine verwandte Kraft ist wirksam, wenn in der Wissenschaft und Philosophie relevante Phänomene und Einsichten mit prägnanten neuen Wortgebilden auf den Punkt gebracht werden, poetische Metaphern, die in ihrer Kräftigkeit und Kürze vielleicht bald den Status eines neuen Begriffs erhalten, wie z.B. Byung-Chul Hans »Müdigkeitsgesellschaft«, Baudrillards »Jede Tatsache wird zum Atom, wird nuklear.« oder Judith Butlers »Bodies that matter«.55 So wird wahrscheinlich nachvollziehbar, weshalb ich lieber für eine poetisch-ästhetische Pragmatik als für einen so genannten Neorealismus plädiere.

W illkommen in der K onsumkultur Jetzt aber zurück zur Gegenwart! In den letzten 20 Jahren hat sich das Design entlang der fortschreitenden Globalisierung des Marktes über die verschiedenen »Kulturkreise« der maßgebenden Automobilnationen hinweg angeglichen. Dabei stehen Kultur und Globalisierung in einem dezenten Gegensatz zueinander56: Das Gedeihen einer Kultur im Sinne des lateinischen ›colere‹ (hegen, pflegen) bedarf eines gewissen Schutzes und der Abschottung, der Differenz gegenüber dem Außen. Auf dem je eigenen Humus können Lebewesen mit ähnlichen Werten gepflegt und »gezogen« werden. Entsprechend haben sich in den Jahrhunderten der menschlichen Zivilisation kulturelle Typisierungen entwickelt, deren Wert heutzutage mit UNESCO- oder AOC/ AOP/DOC etc. ‒ Labels in einer globalen Welt sichtbar gemacht wird. 55 | Vgl. Han, Byung-Chul: Müdigkeitsgesellschaft, Berlin: Matthes & Seitz 2012; Baudrillard, Jean: Die Illusion des Endes oder der Streik der Ereignisse, Berlin: Merve 1994, S. 10 f.; Butler, Judith: Körper von Gewicht [Bodies that matter], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993. 56 | Vgl. Rieger, Elmar/Leibfried, Stephan: Kultur versus Globalisierung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2004, S. 13 ff.

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Logischerweise umfasst die Kultur auch Design, Technik und Kunst. In den vergangenen 15 Jahren hat sich ein Großteil der deutschen Automobilindustrie im Premium-Segment erfolgreich etabliert und eine Dominanz erarbeitet. Sie verbindet Eigenschaften wie Sportlichkeit und Sachlichkeit, Präzision und Zuverlässigkeit. Dieser deutsche Siegeszug ist erstaunlich global, muss aber tunlichst darauf achten, dass die kulturellen Werte und Mythen nicht verraten werden. Ob das Fahrzeug in China oder Mexiko hergestellt wird, spielt letztlich keine Rolle. Wichtig ist, dass der Geist der in eine spezifische Kultur eingebetteten Marke spürbar und erlebbar bleibt, Klassiker wie ein hehrer Mythos weiter gepflegt werden. Diese Unverwechselbarkeit erwarten wir in bestimmtem Maße auch von einem französischen Renault, einem britischen Jaguar, einem italienischen Alfa Romeo oder einem schwedischen Volvo, auch wenn das Unternehmen mittlerweile chinesische Besitzer hat. Das Fehlen solch charaktervoller Designmerkmale einzelner Marken kann mitunter deren lediglich beschränkten Erfolg erklären. Spannend wird es sein, die Abspaltung der DS-Modelle von der Muttermarke Citroën zu verfolgen. Diese Modelle sind eine nominelle, nicht unbedingt eine formale Hommage an die göttliche DS aus den 1950er und 1960er Jahren. Das Ziel der neuen Edelmarke ist es, französische Eleganz, Avantgarde und Raffinesse im Premiumsegment weltweit zu verankern. Auch hier sehen wir, wie die Gegensätze Kultur und Globalisierung sich in der zeitgenössischen Konsumkultur eng verflechten: Das Design der Marke soll eine möglichst attraktive und wertvolle kulturelle Abstammung inszenieren, der Markterfolg möglichst global sein. Eine ähnliche Entwicklung zeigt sich im Bereich der Automobilmuseen: Im letzten Jahrzehnt wuchs das Bewusstsein um die eigene Markengeschichte, so dass namhafte traditionelle Automobilmarken die Wertschätzung ihrer Geschichte in Museen zeigen und Klassiker der Öffentlichkeit zugänglich machen. Gleichzeitig wird durch diese Zurschaustellung das Objekt zu einem kulturhistorischen Zeugen und bewusster Teil des kulturellen Erbes. Dementsprechend wird versucht, die Entwicklungssprünge und Designspezialitäten im geschichtlichen Kontext zu situieren, um ein differenzierteres Verständnis der Marke und ihres gesellschaftlichen Umfelds zu erreichen.57 Wie in einem modernen Museum üblich erscheinen diese Informationen neben den 57 | Vgl. Diez, Willi: »Die Musealisierung des Automobils als modernes Kulturgut«, in: Willi Dietz/Peter Tauch (Hg.), Tradition und Marke, Bielefeld: Delius Klasing 2008, S.21 ff.

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Ausstellungsobjekten. Ein eigenartiger Sprung geschieht jedoch, wenn der Besucher von den Museumsräumen hinüber in den benachbarten Schauraum wechselt, wo aktuelle Modelle ausgestellt werden. Hier sind neben Preis und technischen Daten keinerlei Informationen über kulturhistorische oder ästhetische Zusammenhänge ersichtlich. Genau an dieser Stelle wird deutlich, dass die Automobilindustrie den Paradigmenwechsel zur kritisch aufgeklärten Konsumkultur noch nicht richtig vollzogen hat und in der Gegenwart wieder auf die Logik der Rhetorik setzt. Strategien der Verharmlosung und Zerstreuung können wir beobachten, wenn Konzerne ihre Modelle wahllos personalisieren lassen (vgl. Abb. 16) oder ihre Produktpalette in immer weitere Nischenerzeugnisse aufsplittern (vgl. Abb. 17), um die Aufmerksamkeit von den eigentlichen Mobilitäts- und Konsumproblemen abzulenken. Abbildung 16: Personalisierter Citroën DS3

Quelle: http://www.netcarshow.com/citroen/2011-ds3/1600x1200/wallpaper_ 6b.htm vom 12.07.2015 (aufgerufen am 12.07.2015)

Abbildung 17: Viertüriges SUV-Coupé Mercedes GLE (2011); Coupe (2015)

Quelle: http://www.netcarshow.com/mercedes-benz/2016-gle_coupe/1600x12 00/wallpaper_05.htm vom 12.07.2015 (aufgerufen am 12.07.2015)

Mit dem Paradigmenwechsel vom klassisch liberalen Kapitalismus über die soziale Marktwirtschaft zur globalen Konsumkultur muss Aufklärung neu

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gedeutet werden, indem die Bürgerinnen und Bürger im Bereich des Kaufs, Gebrauchs und Verbrauchs unterrichtet und erzogen werden müssen: Nicht nur: Wie teuer ist das Produkt? Wurde es ökologisch hergestellt? Wurden Arbeiter fair entlohnt? Sondern auch: Was ist die Bedeutung des Konsums für die Persönlichkeitsentwicklung? Welche Konsumtypen und –schichten haben sich in den letzten Jahrzehnten entwickelt?58 Welche Marken entsprechen welchen Segmenten? Welche sozialen Distinktionsmittel gibt es? Wie bewirbt Werbung welches Publikum? etc. Erst wenn wir als mündige Menschen kritisch konsumieren (können), verdient Konsumkultur auch den Namen ›KonsumKULTUR‹.59 So hoffe ich, dass durch diese ›Erzählung‹ nachvollziehbar wurde, wie erhellend und aufklärend es für unser (Konsum-)Kulturverständnis sein kann, einen so kommunen Alltagsgegenstand wie das Automobil im ästhetischen Sinn zu ›lesen‹. Es ging in meinem Aufsatz nicht darum, Schuldige zu suchen oder zu benennen. Aber zu den Herausforderungen der Gegenwart gehört mitunter eine neue Form der Mündigkeit, die die alte Kulturtechnik des Lesens (und sich durch Lesen Bildens) neu deutet: Wir müssen unsere Gebrauchsgegenstände (neu) lesen, erzählen und deuten lernen. Wenn es gelingt, die Achtlosigkeit des gewohnheitsmäßigen Konsums kritisch zu beleuchten und gleichzeitig ästhetische Tiefen in den gestalteten Objekten zu erkennen, bzw. bewusst anspruchsvolles Design auszuwählen, könnte ein bedenklicher Aspekt der Konsumkultur, die Obsoleszenz und Verbrauchsmentalität,60 durch einen bewussteren achtsamen Gebrauch statt unbewussten, achtlosen Verbrauch abgeschwächt werden.

58 | Vgl. z.B. Hellmann, Kai-Uwe: Soziologie der Marke, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S.377 ff. 59 | Vgl. W. Ullrich: Habenwollen, S. 193 ff. 60 | Vgl. z.B. Reuß, Jürgen/Dannoritzer, Cosima: Kaufen für die Müllhalde – Das Prinzip der geplanten Obsoleszenz, Freiburg: Orange Press 2013, S. 43-66.

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Phänomenologie und Architektur Irene Breuer Das Thema »Phänomenologie und Architektur« ist sehr weitreichend und vielschichtig. Mich interessiert an dem Thema vor allem, wie die Philosophie nicht nur eine theoretische Erschließung der Disziplin Design leistet, sondern, wie sie zur Schöpfung des architektonischen Raumes beitragen kann. Denn die Befragung der philosophischen Grundlagen, die die Sichtbarkeit der Architektur ausmachen, impliziert die Forschung nicht nur über das bestehende Designwissen, sondern über die Entstehung des architektonischen Sinnes. In diesem Zusammenhang ist die Phänomenologie an der Konstruktion des Sichtbaren beteiligt, noch bevor die Architektur diese Konstruktion in die Sichtbarkeit überführt. In dieser Verwindung von Phänomenologie und Architektur liegt die Möglichkeit eines schöpferischen Ausdrucks des Raumes. Hier kommt möglicherweise die Frage auf, inwiefern unsere heutige Raumwahrnehmung und Raumvorstellung sich von früheren unterscheidet. Dabei entsteht eine weitere Frage: Was qualifiziert einen Ort, einen Raum, was bedeutet es, einen Raum einzuwohnen? Ist die Erfahrung des Raumes durch eine bloß harmonische, statisch-passive Wahrnehmung oder durch eine ereignishafte und dynamische Interaktion von Leib, Dingen und Orten gekennzeichnet? Es ist für die Klärung dieser Fragen sinnvoll, die phänomenologische Auffassung des Raumes als qualifizierten Ort und dabei den konstitutiven Zusammenhang von Leib, Ort und Ding zu erläutern. In einem zweiten Schritt wird auf die Beziehung zwischen Ort, Wiedererinnerung und Typus eingegangen, um die Rolle der künstlerischen Objekte im öffentlichen Raum zu erfassen: Sie besteht darin, Anhaltspunkte zu liefern, die die Entstehung eines identifizierenden Ortes und einer lokalen Identität ermöglichen. Im zentralen Teil wird von einem Paradigmenwechsel die Rede sein: Von der symbolischen, repräsentativen Rolle von Architektur und Kunst im öffentli-

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chen Raum als lebensweltlicher Topos oder Ort zur ereignishaften Erfahrung handelnder Personen im atopischen Raum, d.h. in einem Raum, der sich der lebensweltlichen Bestimmungen und ihrer Repräsentation entzieht. Denn ein Wandel im Denksystem ist immer begleitet von einem Wandel nicht nur in der Struktur dessen, was man wahrnimmt, sondern auch in der Weise, wie erfahren wird. Dieser Wandel wird am Beispiel architektonischer und künstlerischer Entwürfe des öffentlichen Raumes verbildlicht. Als Einführung möchte ich kurz die Hauptthesen des Beitrages zusammenfassen: Entgegen der in der postmodernen Medientheorie verbreiteten Postulate des »Verschwinden des Raumes« (P. Virilio), der »Ortlosigkeit« (M. Auge) und der »time-space compression« (D. Harvey) möchte ich die These aufstellen, dass statt Kompression und Ortlosigkeit eine regelrechte Implosion des Raumes im Zuge des digitalen Medienumbruchs stattgefunden hat. Denn bei aller Deterritorialisierung der Netzwerkgesellschaft sind es die Orte der Lebenswelt, die verharren: Sie sind – so lautet die zweite These dieser Arbeit – nicht länger als Repräsentationsräume, sondern als Erfahrungsräume zu verstehen, die als medialisiert zu denken sind. Denn der Raum wird nicht repräsentiert, sondern wird erlebt bzw. erfahren: Der Raum ist kein Behälter, keine einfache Umschließung, in der sich etwas ereignet, sondern es handelt sich hier um einen Raum, der mit den Ereignissen interagiert, der sie sogar hervorruft, so, dass neuartige Erfahrungen entstehen können.

D ie phänomenologische K onstitution des R aumes und der Toposbegriff Der Mensch erfährt den Raum nicht nur, sondern ist vielmehr existential mit ihm verbunden. Denn er unterhält mit der Welt eine Beziehung der Zugehörigkeit; er hat einen eigentümlichen Ort, der sich nur durch seine Beziehung zur Welt verstehen lässt: Mein Ort ist derjenige, den ich zwischen Erde und Himmel als meinen »eigenen« und einzigen erkenne. Von dem »hier« aus ersehe ich, dass es dieselbe Welt ist; sie ist mir »vertraut«1, weil sie in ihrer Beharrlichkeit eine Beständigkeit der in ihr stattfindenden Phänomene (Son-

1 | Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Dritter Teil: 1929-1935, Husserliana XV, I. Kern (Hrsg.), Den Haag: J. Nijhoff 1973, S. 430.

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nenuntergang bzw. -aufgang, usw.) und einen »empirischen Gesamtstil«2 im Sinne des gewohnten Umfeldes aufweist. Das »Hier« ist als der mich tragende und von mir bewohnte Ort zu verstehen, aus dem nicht nur das Ortssystem, sondern die ganze Weltordnung entspringt. Von eben dieser Erfahrung gehen die Raumanalysen von Edmund Husserl aus: Der Raum ist primär tópos, Ort nicht nur eines beweglichen Seienden, d.h. Ort eines konkreten Naturdinges, sondern er ist allererst existential zu interpretieren. Er ist ›mein‹ privater Ort, mein ›heimischer Ort‹ in dem ich »zuhause«3 als Teil einer gemeinsam bewohnten Welt bin. Diese zentralen Einsichten nehmen zum Ausgangspunkt die Frage nach der leiblichen Erfahrbarkeit der Welt. Dabei gehen die zentralen Thesen Husserls von der Bewegung des menschlichen Leibes aus, allerdings tritt er einen Schritt zurück, um sich die Frage der Konstitution, d.h. der Genesis der Räumlichkeit und Dingheit zu stellen,4 d.h. wie das Bewusstsein diesem Phänomen einen Sinn verleiht. Diese Konstitution als Sinngebung erfolgt in Schichten. Ausgegangen wird von dem, was ursprünglich erfahren ist: das Reale an seinem Ort, die Gestalt in der räumlichen Gegenwart im Hier und Dort. Das heißt jedoch nicht, dass die Welt oder dieses »Reale« von dem Ich erschaffen wird, sondern, dass ihr Sinn nur von mir aus und für mich zukommen kann. Hier geht es nicht um die Beschreibung vorliegender Sachverhalte oder bestimmter Erscheinungsformen mit denen jedermann aus den alltäglichen Erfahrungssituationen seines Lebens vertraut ist. Denn wenn wir in einer Erfahrungssituation stehen, verlassen wir uns darauf, dass das Erscheinende das ist, als was es sich jeweils darbietet oder zeigt.5 Dieser Schritt zurück, von dem soeben die Rede war, bedeutet eine Änderung der Einstellung, die 2 | Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie, Husserliana VI, Walter Biemel, (Hg.), Den Haag: Nijhoff 1952, S. 28. 3 | Husserl: Hua XV, S. 342. 4 | Vgl. Husserl, Edmund: Ding und Raum. Vorlesungen 1907, Husserliana XVI, Ulrich Claesges (Hg.), Den Haag: Nijhoff 1973, S. 154. »Alle Räumlichkeit konstituiert sich, kommt zur Gegebenheit, in der Bewegung, in der Bewegung des Objektes selbst und in der Bewegung des ›Ich‹ mit dem dadurch gegebenen Wechsel der Orientierung.« 5 | Vgl. Held, Klaus: »Husserls Rückgang auf das phainómenon und die geschichtliche Stellung der Phänomenologie«, in: Phänomenologische Forschungen 10 (1980), S. 89-145, S. 91.

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Husserl »Epoché« nennt. Diese Änderung ist notwendig, weil wir normalerweise, in unserem alltäglichen Leben, dem Gegenstand ein selbständiges Sein über die jeweilige Weise seines Erscheinens für uns zuschreiben. Diese Epoché bedeutet die »Rückführung dessen, was sich [in unserer Alltagserfahrung] zeigt, auf die Art und Weise, wie es sich zeigt«6. Etwas erscheint mir immer »als etwas«, es ist in einer bestimmten Weise gegeben, es kommt zur Erscheinung als es selbst, als Bild, als Phantasie; diese Weise des Erscheinens, das jeweilige Wie, verleiht der Sache erst ihren Sinn. Welchen Sinn jegliches Seiende haben mag, er muss sich aufklären lassen im Rückgang auf die Erfahrungen und die Erlebnisse, in denen dieses Etwas zur Gegebenheit kommt. Denn »[w]as die Dinge sind, die Dinge, von denen wir allein Aussagen machen, […] das sind sie als Dinge der Erfahrung«7. Die Epoché stellt sich als eine Besinnung auf das Ich als Vollzieher dieses Erscheinens dar, d.h. das Ich ermöglicht dem Seienden, sich als Seiendes dieser oder jener Art zu bekunden oder auszuweisen. Dieser Bezug vom »Ich« zur »Welt« heißt »Intentionalität«: jedes Seiende ist mir in einer bestimmten Weise gegeben, d.h. es ist mir »intentional« in meinem Bewusstsein gegeben und als solches heißt es Phänomen. Die Reflexion auf die Art und Weise, wie sich die Erscheinungen zeigen, lehrt, dass in der visuellen Wahrnehmung eines Dings nur gewisse »Seiten« bzw. »Aspekte« wirklich gesehen werden, dass andere Seiten desselben Gegenstandes hingegen außerhalb des Gesichtsfeldes bleiben, d.h. die Gegenstände sind perspektivisch gegeben. Der wahrgenommene, identische Raumkörper kann sich deshalb nur in einem kontinuierlichen Wahrnehmungsablauf ausweisen, in welchem sich seine verschiedenen Seiten in einer Einheit synthetisieren. Dieser Wahrnehmungsablauf ist ein kinetischer, d.h. eine durch Leib-Bewegungen ermöglichte Wahrnehmungsreihe, die beim Gehen entsteht.8 Augen-, Kopf- und Handbewegungen haben eine konstitutive Funktion: Nicht nur das Ding baut sich progressiv in einer Einheit auf,

6 | Waldenfels, Bernhard: Einführung in die Phänomenologie, München: Fink 1992, hier S. 30. 7 | Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phäno-menologischen Philosophie. Erstes Buch, Husserliana III/I, neu hg. v. Karl Schuhmann, Den Haag: Nijhoff 1976, hier S. 100. 8 | Vgl. Landgrebe, Ludwig: Einleitung zu Hua XVI, S. XXV.

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sondern auch der es umgebende Raum.9 Auch die Konstitution der Einheit der Leibglieder, die Einheit des Leibes wird ermöglicht durch die »Kinästhesen« oder Empfindnisse, die die in den Leibgliedern lokalisierten Verläufe parallel zu den äußeren räumlichen Bewegungen assoziativ verbinden.10 Dies bedeutet, dass Dingheit, Leiblichkeit und Räumlichkeit konstitutiv verbunden sind, und dass sie sich gegenseitig ermöglichen. Abbildung 1: Fr. di Giorgio, Kirchengrundriss

Quelle: Wikipedia

Ferner ist jeder Ort als Nah- oder Fernort bestimmt nicht nur in Relation zu der Erreichbarkeit des ruhenden Dinges für meinen beweglichen Leib11, sondern auch perspektivisch orientiert um den ruhenden Leib, nach hier und dort, nach rechts und links usw. Wenn also mein Leib ein »fester Nullpunkt der Orientierung« und die Konstitution von Räumlichkeit, Dingheit und Leib9 | Vgl. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänome-nologischen Philosophie. Zweites Buch. Phänomenologische Untersuchungen zur Konstitution, Husserliana IV, Marly Biemel (Hg.), Den Haag: Nijhoff 1952, S. 253: »Das Ich als Einheit ist ein System des ›Ich kann‹«, d.h. ich kann bei entsprechender Bewegung die Einstellungen und Perspektiven, in denen Gegenstände wahrgenommen werden, wechseln, so dass ich sie in unterschiedlicher Weise, in unterschiedlichen Abschattungen, erfahren kann. 10 | Vgl. Husserl, Edmund: »Notizen zur Raumkonstitution«, in: Marvin Farber, Philosophy and Phenomenological Research, Volume I, September 1940-June 1941, S. 23-25 und S. 217-226, hier S. 339-340. 11 | Vgl. Husserl, Edmund: Zur Phänomenologie der Intersubjektivität. Texte aus dem Nachlass. Zweiter Teil: 1921-1928, Husserliana XIV, Iso Kern (Hg.), Den Haag: Nijhoff 1973, S. 543.

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lichkeit korrelativ sind, so spiegelt sich die Organisation der Leibesorgane in der Organisation der Räumlichkeit wieder, wie in der Skizze von Francesco di Giorgio für eine Kirche zu ersehen ist (Abbildung 1). Es handelt sich also bei Husserl um eine anthropometrische, d.h. eine leibbezogene Auffassung der Räumlichkeit, denn die Raumorientierung ist assoziativ verbunden mit und wird ermöglicht durch die Anordnung der Körperteile: was oben/unten usw. im Raum bedeutet, ist durch die Funktionalität des menschlichen Organismus bestimmt. Diese Konzeption des Raumes ist der klassischen Architektur eigen.

O rt als Tr äger einer e xistentiellen und symbolischen D imension Mit der Frage »Worin?« verweisen wir auf einen bestimmten Ort, der den Leib wie eine zweite Haut umfängt und Qualitäten aufweist: Wenn wir in der Lebenswelt von einem Ort sprechen, beschreiben wir ihn mit den Eigenschaften, die von den umfassten Dingen und unserem eigenen Gemütszustand übertragen werden. Ein Ort wird in dem »Wie« seines Erscheinens erfahren: von ihm sagen wir, er sei bunt/eintönig, lebendig/verlassen, fröhlich/ traurig, groß/klein, offen/geschlossen usw. Dies ist im Prinzip darauf zurückzuführen, dass, wie erwähnt, die Konstitution von Räumlichkeit, Dingheit und Leiblichkeit korrelativ ist: Nicht nur spiegelt sich die Organisation der Leibesorgane in der Organisation der Räumlichkeit wider, sondern der Leib ist organisch mit dem Ort als ›Leibort‹ verbunden: Die Verortung des Leibes – das ›Hier-zu-sein‹ – ist dasjenige, was ihn in seiner Welt verankert. Zugleich deutet ein fließender Übergang zwischen dem eigenen Ort, dem fremden und dem Raum als Ganzem bzw. dem Kosmos auf ein vorausgesetztes ästhetisches Prinzip hin: die Übereinstimmung der Teile im Verhältnis zueinander und zum Ganzen. Diese Bestimmungen können also als Ausdruck einer grundlegenden ästhetischen Auffassung verstanden werden. Für die antike Ästhetik und den darauf basierenden Klassizismus des 19. Jahrhunderts war das Prinzip der Harmonie, die Symmetria, zwischen den Teilen und dem Ganzen die rationale Grundlage der Schönheit.12 Gerade dieses 12 | Panofsky, Erwin: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, Köln: Du Mont 1978, Fußnote 19, hier S. 109. Diese organische Schönheit beruht nach Vitruv auf drei einschlägigen Begriffen: proportio, eurhythmia und symmetria.

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Schönheitsprinzip, das der Architektur und der Kunst zugrunde lag, wird in der Gegenwartskunst in Frage gestellt, wie am Schluss gezeigt wird. Das Neue an der Renaissance war nicht die Perspektive, denn sie wurde schon im Mittelalter angewandt13, sondern die Erfindung der Zentralperspektive, die das visuelle Bild durch strikte Normen regelt und eine räumliche Konstruktion von unendlicher Ausdehnung darzustellen erlaubt. Die Richtung des Blicks und des eigenen Leibes als Zentrum bestimmen dabei die ganze Konstruktion. Wie Merleau-Ponty erklärt, organisieren sich die Dinge in der Tiefe, die als reine »Erfindung«14 oder Konvention dem Beobachter die Illusion einer von ihm »beherrschten Welt«15 beschert.16 Denn die Perspektive galt einerseits als Funktionsgesetz der Wahrnehmung und andererseits als genaue Abbildung der Welt. Sie wurde nicht als eine der jeweiligen Kulturordnungen entstammende Betrachtungsweise verstanden, sondern als absoluter visueller Maßstab genommen: Ihre Anwendung in der Kunst und in der Architektur ermöglichte eine nach geometrischen Gesetzen durchorganisierte Abbildung oder Darstellung der Welt. Sie erweckte beim Menschen den »Rausch« des Sehens, die Möglichkeit dem Sichtbaren oder dem Imaginären eine Existenz zu geben. Denn das Sehen bzw. das Bild ist nichts anderes als ein »Habhaftwerden auf Entfernung«17, d.h. durch die Perspektive kommt der Mensch in Besitz aller Aspekte des Seins, die in ihr sichtbar gemacht werden müssen.

13 | E. Panofsky: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst, hier S. 109. Es handelt sich um die sog. »Bedeutungsperspektive«: Die Größe der dargestellten Figuren und Gegenstände hängt von deren Bildbedeutung ab, nicht von den räumlich-geometrischen Gegebenheiten. Außerdem haben die Tiefenlinien keinen Fluchtpunkt, sondern sie fließen auf eine zentrale Linie hin, ihr entlang; es entsteht somit eine »Fischgratperspektive«. 14 | Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin: de Gruyter 1966, hier S. 304. 15 | Merleau-Ponty, Maurice: Die Prosa der Welt, München: Fink 1984, hier S. 73. 16 | Vgl. Breuer, Irene: »Simultaneität im architektonischen Raum – Auswirkung der ›kohärenten Verformung‹ auf Leib und Sinn«, in: Karel Novotny/Pierre Rodrigo/Jenny Slatman/Silvia Stoller, Corporeity and Affectivity. Dedicated to Maurice Merleau-Ponty, Leiden: Brill 2014, S. 199-209. 17 | Merleau-Ponty, Maurice: Das Auge und der Geist, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1967, hier S. 19.

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Dieses ästhetische Prinzip der Harmonie liegt m.E. der husserlschen Konstitutionslehre unausgesprochen zugrunde: Der harmonische Übergang zwischen Ort und Raum, die gemeinsame und gleichgeregelte Konstitution von Dingen und Orten weist auf eine grundlegende Raumauffassung hin, die dem Menschen Stabilität, Sicherheit und Zuflucht geben soll. Die Konstitution vollzieht sich auf der Ebene eines Bildes, in der die Vorstellung vom Raum allen Verwirrungen sowie aller Unheimlichkeit entzogen ist. Es handelt sich um die Domestizierung des Raumes. Wie oben angedeutet, trägt der Ort weit mehr als bloß formelle Bestimmungen: Er ist der Träger einer symbolischen und existentiellen Dimension zugleich. »In/an einem Ort zu sein« ist hauptsächlich durch unsere Identifikation mit dem singulären Charakter des Ortes gekennzeichnet. Jeder spezifische Ort entfaltet eine partikuläre Bedeutung, die eine unverwechselbare »Gestalt« aufweist. Ein Ort als »Verkörperung« der in ihm stattgefundenen Ereignisse oder Erlebnisse weist auf seinen Inhalt und seinen Ursprung hin, wie Heidegger gezeigt hat.18 Orte legen uns ihre Bedeutung auf und verraten uns das Vergangene, da in ihnen die Vergangenheit – mit Calvino gesagt – »wie die Linien einer Hand« durch »Kratzer, Sägspuren, Einkerbungen, Einschläge[n]«19 enthalten ist. Der Ort, den ein Gebäude in einer Stadt belegt, sagt etwas über seine Funktion aus: Königspalast, Gefängnis, Markt, Kirche. In diesem Sinne fungiert er wie ein Zeichen; denn jeder Ort kann durch Affinität oder Kontrast die Erinnerung dessen, was sich dort oder anderswo ereignet hat, wachrufen.20 Bewohnbare Orte sind nichts Statisches, sondern sind durch »sukzessive Überlagerungen gewachsen«: Gerade durch diese Veränderungen sind sie imstande, den Wünschen und Erwartungen »stets ihre Gestalt« zu geben.21 Ein Ortsgefüge ist »wie ein Gerüst oder wie ein Netzwerk, in dessen Felder jedermann die Dinge einordnen kann, an die er

18 | Vgl. Heidegger, Martin: Vorträge und Aufsätze, Teil II, Pfullingen: Neske 1967, v.a. S. 44: »Im Wasser des Geschenkes weilt die Quelle. In der Quelle weilt das Gestein, in ihm der dunkle Schlummer der Erde, die Regen und Tau des Himmels empfängt. Im Wasser der Quelle weilt die Hochzeit von Himmel und Erde […] Im Wesen des Kruges weilen Erde und Himmel.« 19 | Calvino, Italo: Die unsichtbaren Städte, München: C. Hanser Verlag 1984, hier S. 14. 20 | I. Calvino: Die unsichtbaren Städte, S. 17f. 21 | I. Calvino: Die unsichtbaren Städte, S. 43.

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sich erinnern mag«22. Die öffentliche Kunst trägt ebenso wie die Architektur zur Erinnerungsstruktur des öffentlichen Raumes bei, indem sich Vergangenes sedimentiert und mit Gegenwärtigem in Verbindung tritt. Diese Struktur bildet ein symbolisches Orientierungsnetz innerhalb der Stadt und trägt zur Identifikation der Bewohner mit ihrem Lebensraum bei. So beruht die Möglichkeit des Wiedererkennens und der Identifizierung der Dinge und Ereignisse einerseits auf ihrer Zuordnung in Typen, sei es eine Kirche, ein Palast, ein Monument usw. und andererseits auf ihrer betreffenden Örtlichkeit.23 Hierdurch ergibt sich eine subjektiv erlebte Lebenswelt, in der sich dank der Habitualitäten und Gewohnheiten ein Erfahrungsstil entwickelt. Aufgrund dieser Erfahrungen erwarten wir mehr oder weniger ausdrücklich, dass sich die Gegenstände und Handlungen wie gewohnt in unserer normalen Alltagswelt eingliedern. Diese Erwartungen im Sinne Husserls erfüllen sich, wenn sich der habituelle Stil der Erscheinungen und Handlungen – dank der Typologie der Gegenstände, sowie der Räumlichkeiten – in neuen Erfahrungen bestätigt. Denn alle Gegenstände der Erfahrung werden als typisch bekannte erfahren. Die Bildung24 von Typen erfolgt, indem Gemeinsamkeiten zwischen verschiedenen Gegenständen wie Ähnlichkeiten und Eigenarten, so z.B. 22 | I. Calvino: Die unsichtbaren Städte, hier S. 21. 23 | Vgl. Quintilian, Institutio oratoria, XI, ii. 17-22, zitiert nach Yates, Frances: The Art of Memory, London: Routledge & Kegan Paul 1966, S. 2. Diese Technik bestand darin, sich eine Reihenfolge von Orten oder loci ins Gedächtnis einzuprägen, meistens eines architektonischen Typus, worin die Bilder, anhand derer die Rede erinnert wurde, an den eingeprägten Orten platziert wurden. Für die Wiedererinnerung der Fakten genügte es, dieselbe Reihenfolge der Orte durchzugehen, um die dort gespeicherten Bilder aufzurufen. Cicero erklärte, dass die Orte die Ordnung der Fakten bewahren, dabei benutzen wir sie als eine Art Wachstafel mit eingravierten Buchstaben. Vgl. Cicero, De oratore II, lxxvii, 355, Zitat nach Yates, Frances: The Art of Memory, S. 12. Vgl. Aristoteles, De memoria et reminiscentia, Parva naturalia II, Darmstadt: WBD, 2004, 449b31, 450b15 und 452a10-16. 24 | Vgl. Lohmar, Dieter: Erfahrung und kategoriales Denken: Hume, Kant und Husserl über vorprädikative Erfahrung und prädikative Erkenntnis, Dordrecht: Springer 2008, insb. S. 241: »Konstitution ist hierbei im Sinne des Sich-für-uns-anschaulich-Darstellens eines Gegenstandes verstanden […]. Es handelt sich demnach um den Prozeß, in dem sich ein Gegenstand für das Bewußtsein anschaulich konstituiert.«

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Farben, Gestalten usw. herausgefiltert werden. Nach diesen gestifteten Typen entstehen Erwartungen 25, d.h. aus der Erinnerung an ähnliche Gegenstände26 erwächst die Erwartung, dass die angeschauten Gegenstände sich diesem oder jenem Typus eingliedern werden. Z.B. erkennen wir den Typus »Haus«, wenn wir Mauern sehen, die von einem Dach gekrönt werden und mit Fenstern und Türen versehen sind. Typus und Gegenstand können sich verschiedentlich decken, je nachdem ob unsere Erwartungen sich bestätigen oder enttäuschen.27 Diese Enttäuschungen, die im Falle der Atopie analysiert werden, setzen das Vertrauen auf das Verharren eines habituellen oder gewohnten Weltstils voraus.

L ebenswelt und T ypus , A rchitek tur und R epr äsentation Nun, was wird unter »Typus« oder »Typologie« in der Architektur verstanden? Die Typologie wird in der Architektur als ein regulatives Prinzip für das Entwerfen verstanden, das mit der Geschichte und dem jeweiligen Kontext verwoben ist. Typologie entsteht gegen die buchstäbliche Auffassung der Nachahmung, die auf der Wiederholung bestimmter zeitloser Modelle beruht.28 Sie ist das Endprodukt grundlegender, systematischer, analogischer, 25 | Vgl. Husserl, Edmund: Erfahrung und Urteil. Untersuchungen zur Genealogie der Logik, Hamburg: Meiner 1972, S. 140. 26 | E. Husserl: Erfahrung und Urteil, S. 144. 27 | E. Husserl, Erfahrung und Urteil, S. 144. 28 | Plato unterscheidet im X. Buch des Staates und im Sophistes zwischen »eikastischer« und »phantastischer« Nachahmung. Die eikastische mimesis gibt die »Inhalte der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit, aber eben nur die Inhalte der sinnlich wahrnehmbaren Wirklichkeit, den Tatsachen entsprechend« wider – »dann begnügt er ›der Künstler‹ sich mit einer nutzlosen Verdoppelung der ohnehin nur die Ideen nachahmenden Erscheinungswelt«. Durch die phantastische Nachahmung »erzeugt ›er‹ unzuverlässige und trügerische Scheinbilder, die […] das Große verkleinern und das Kleine vergrößern, um unser unvollkommenes Auge irrezuleiten – dann steigert sein Produkt sogar die Verwirrung in unserer Seele und steht an Wahrheitswert selbst hinter der Erscheinungswelt zurück«. In: Panofsky, Erwin: Idea, Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie, Berlin: Wiss.Verl. Spiess 1989, S. 3. Vgl. Platon, Politeia X, 595b und Sophistes 235e.

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rationaler und kombinationsartiger Prozesse, die sich zwischen der Anerkennung eines geschichtlichen Kontextes und der Subsumption unter universelle Geometriegesetze entfalten.29 Der Begriff Typus, hier verstanden als räumliches Ideal, das charakteristische innere und äußere Formen prägt, setzt dem Entwerfen einen allgemeinen Rahmen voraus. Durch die Anwendung des Typus im Entwurfsprozess entsteht eine einheitliche, auf körperliche Strukturen bezogene Architektur, die Kohärenz und Harmonie im Einklang mit dem auf der vitruvianischen Tradition basierenden Schönheitsprinzip erzeugt. In der Renaissance hielt man, wie Panofsky erklärt, die menschlichen Proportionen für eine »anschauliche Verwirklichung der musikalischen Harmonie«, reduzierte sie auf arithmetische und geometrische Gesetzlichkeiten und versuchte, die »menschlichen Proportionen mit denen der Gebäude zu identifizieren, um zugleich die architektonische Symmetrie des Menschenleibes wie die anthropomorphische Lebendigkeit der Architektur zu erweisen«.30 Wie wir gesehen haben, ihr anthropometrischer, organischer und harmonischer Charakter spiegelte den Glauben an einen vertrauten Lebensstil wider, worauf eine architektonische Auffassung des Typus beruht, die der Architektur 29 | Vidler, Anthony: The Writing of the Walls, Princeton: Princeton Arch. Press 1987, S. 152. 1825 veröffentlichte Quatremère de Quincy einen Artikel über den Typus für seinen dritten Band der Encyclopédie méthodique. Der Typus wurde vom Model unterschieden und wurde fast ein Synonym der platonischen »Idea« in der Auffassung Vidlers: »Thus, in a way that was by no means consistent before, type was distinguished from model; the latter, implying ›literal copy‹ in common usage, had too many connotations of the empirical, the physical, the mimetic, to be properly used in a philosophical manner.« Vidler zitiert hier nach De Quincy, Quatremère, »Type«, in: Encyclopédie méthodique, Paris, 1788. »The word type presents less the image of a thing to copy or imitate completely than the idea of an element, which ought in itself to serve as a rule to the model […]. The model, as understood in the practice of an art, is an object that should be repeated as it is; the type, on the contrary, is an object which respect to which each art can conceive works of art that may have no resemblance to each other. All is precise and given in the model; all is more or less vague in the type.« 30 | Panofsky, Erwin: Sinn und Deutung, Fußnote 68, S. 119. Die Proportionslehre der Renaissance gewann eine unerhörte Bedeutung, die die heutzutage in Frage gestellte Auffassung der Schönheit des bebauten Raumes bestimmt. Siehe zum Beispiel bei Alberti, Leon Battista: De re aedificatoria VII, Editio princeps: Florenz 1485, Kap. 13.

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äußerliche Wertvorstellungen repräsentierte (wie z.B. eine Bank, die Stabilität und Schutz symbolisieren soll und deshalb die klassische Tempelfassade widerspiegelt, oder die gotische Kirche, deren Beleuchtung die Erleuchtung Gottes symbolisieren soll), und sich an ebenso veränderlichen Bedürfnisse bzw. Funktionen anpasste. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts vollzieht sich eine Wandlung zu Problemstellungen, die zu einer tiefgreifenden Neuorientierung durch den phänomenologischen Ansatz Husserls am Anfang des 20. Jahrhunderts führten. Eine formale Ästhetik, basierend auf physiologischen und psychologischen experimentellen Untersuchungen (z.B. bei Alois Riegl, Heinrich Wölfflin und August Schmarsow), entwickelt sich am Leitfaden der Wahrnehmung. Ein zentraler Punkt war die Frage, inwieweit die Wahrnehmung auf taktilen und optischen Sinneseindrücken jeweils in Assoziation mit Muskelbewegungen oder Kinästhesen basiert. Für Schmarsow liegen die Körpergefühle der künstlerischen Schöpfung zugrunde, so dass jede Kunstform ein Medium darstellt um körperliche Sinneseindrücke zu erfassen. Raum dagegen, kann nur durch die Architektur erfahren werden. Schmarsow war der Erste, der die Architektur als »Raumgestalterin« bezeichnete.31 Diese Auffassung führte zu der Einsicht, dass das, was die Architektur hervorbringt, nicht etwas im Raum ist, sondern etwas, das den Raum entstehen lässt: die Elemente der Architektur bzw. die Eingrenzungen des leiblichen Raumes, denn ohne die raum- und grenzbildende Kraft der Leiblichkeit, ohne leibliche Orientierung und Betätigung im Raum, ohne Gefühle, Stimmungen und Sinneseindrücke verlöre die Architektur ihre Bedeutsamkeit. Der Lebenswelt entsprechen ein gelebter Raum und auch eine gelebte Zeit, die sich am Leitfaden des Leibes entfalten. Der Architektur geht es ab diesem Wendepunkt um die Darstellung ihrer eigenen Bedeutung und weniger um die Übermittlung eines anderen, ihr vorausliegenden Sinns. Wie erläutert, sollte die Architektur einen Sinn

31 | Vgl. Schmarsow, August: Grundbegriffe der Kunstwissenschaft, Berlin: Gebr. Mann Verlag, 1998, S. 184. »Die gemeinsame Grundlage und das unveräußerliche Merkmal in der Definition der Architektur als Kunst muss also die Raumbildung bleiben. Raumgestalterin ist sie von Anfang an bis zu Ende; nur dieser Begriff erschöpft ihr Wesen, bei dem freilich die Gestaltung ebenso notwendig ist wie der erste Teil des Namens.«

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haben; sie war bestrebt ein Paradigma dessen zu sein, was zeitlos, bedeutungsvoll und wahr ist32. Die Architektur verstand sich also als die imaginäre Verarbeitung von symbolischen Typen, die die in jeder Epoche bestehenden Wertvorstellungen repräsentierten. Die Aufhebung dieser Grundvorstellung bedeutet, den »Ruin der Souveränität der Repräsentation«. Was sich in der Wahrnehmung zeigt, offenbart sich selbst und wird nicht von äußerlich institutionellen Werten bedingt. Der Raum »wird Erfahrung des Raumes«33. Er ist nun Produkt einer »originellen Erfahrung«34, seine Möglichkeit beruht nicht auf Ähnlichkeit mit einem bestehenden Typus, sondern wird in den Worten Derridas »erfunden«. »Erfinden bedeutet finden, entdecken, offenbaren, etwas als erstes Mal erzeugen […], das aber in einer virtuellen oder verschleierten Weise schon da war«. Das Neue bedeutet aber kein »absolut Neues«, keine »Kreation«, sondern eher das »Erzeugen neuer Arten und Weisen der Existenz, […] sowie des Wohnens«.35 Das Neue hat die Struktur eines einmaligen Ereignisses, d.h. es schließt das Kommen eines Neuen, Überraschenden und Unvorhergesehenen ein. Die ereignishafte Erfahrung eines bebauten Raumes ist nicht einfach ein Ort, in dem sich Etwas ereignet, wie es bei Husserl der Fall ist. Es handelt sich vielmehr um »eine Art der Einräumung, die Raum für die Ankunft der Ereignisse zulässt«36. Es handelt sich um eine Konzeption der Architektur, die 32 | Vgl. Eisenman, Peter: »Das Ende des Klassischen: Das Ende des Anfangs, das Ende des Ziels«, in: Ulrich Schwarz (Hg.), Peter Eisenman: Aura und Exzeß. Zur Überwindung der Metaphysik der Architektur, Wien: Passagen Verlag 1995, S. 65-89, S. 75. 33 | Lévinas, Emmanuel: »La ruine de la représentation«, in: Emmanuel Levinas, En découvrant l’existence avec Husserl et Heidegger, Paris: J. Vrin 1988, hier S. 133. 34 | Ebd. 35 | Vgl. Derrida, Jacques: »Invention de l’Autre«, in: Jacques Derrida, Psyché : Inventions de l‘autre, Paris: Galilée 1987, S. 41. Derrida scheint das »Erfinden« im Sinne Platons zu verstehen: Die Heuresis, wie Panofsky erklärt, war »keine Erfindung neuer und individueller Formen«, also keine Neuschaffung, sondern »eine Entdeckung ewiger und allgemeingültiger Prinzipien«, die die Architektur im Bauen umsetzt. Vgl. E. Panofsky : Idea, Anmerkung 6, S. 73. 36 | Derrida, Jacques: »Maintenant l’Architecture«, in: J. Derrida: Psyché, S. 478. Hier schreibt er : »L’inminence de ce qui nous arrive maintenant n’annonce pas

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keine externen Werte repräsentiert, obwohl sie ihrer Funktion nach Schutz und Einschließung nicht nur symbolisieren, sondern tatsächlich erfüllen, bzw. dem Menschen einen Ort schaffen soll. Die Architektur soll nicht nur dem Menschen »einräumen«37, d.h. ihm einen bebauten Ort überlassen oder zugestehen, sondern ihm neuartige Erfahrungen ermöglichen. Die Architektur des Ereignisses wird zu einem leiblichen Erfahrungsraum.

D ie E rfahrung des R aumes und die A topie am B eispiel der A rchitek tur als K unst Neuzeitliche Entwurfsstrategien untersuchen die Möglichkeit einer Architektur des Ereignisses. Sie beruhen nicht länger auf einer Harmonie zwischen Mensch und Kosmos, sondern auf der Einsicht, dass es einen fugenlosen Kosmos und eine von allen Rissen befreite Lebenswelt nie gegeben hat. Vielmehr handelt es sich um die Erfahrung der Atopie: Das Präfix Alpha privativum, das dem Topos vorangestellt ist, kann nicht nur als ein Ausdruck der Negation verstanden werden, sondern auch in dem Sinne, dass jemand anderswo ist, an einem fremden Ort, wo er nicht hingehört. Zugespitzt kann es aber auch den Entzug, die Distanz des eigenen Selbst gegenüber einer fremd gewordenen Welt ausdrücken. In diesem Sinne bedeutet Atopie für Franco Rella, außerhalb unseres Platzes bzw. der Grenzen unserer wahrnehmungsmäßigen und kognitiven Gewohnheiten zu sein.38 Diese Entfremdung, die Waldenfels als eine Orts- oder Selbstverschiebung bezeichnet (jemand ist zugleich hier und anderswo, jemand ist zugleich er/sie selbst und ein/e Andere/r)39, ist das Ergebnis verschiedener Entwurfsmethoden, die das Unbeabsichtigte, das Unvorsehbare und daher das Befremdliche erzeugen. Paradoxerweise wird seulement un événement architectural: plutôt une écriture de l’espace, un mode d’espacement qui fait sa place à l’événement.« Die Eröffnung einer solchen Dimension bedarf der Kritik an dem Wert des Wohnens, bzw. der »Heimatlichkeit« im Sinne Heideggers. Vgl. J. Derrida: Psyché, S. 481. 37 | Vgl. Heidegger, Martin: »Bauen Wohnen Denken«, in: Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, Pfullingen: Neske 1954, S. 154f. 38 | Rella, Franco: »Atopía«, in: El silencio y las palabras, Barcelona/Buenos Aires: Paidós 1992, S.112, Anmerkung 43. 39 | Waldenfels, Bernhard: Ortsverschiebungen, Zeitverschiebungen. Modi leibhaftiger Erfahrung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 124.

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durch diese »Dissonanz, die dem Trug der bestehenden Harmonie den Glauben verweigert«40 und die die »ungelösten Antagonismen der Realität«41 ausdrückt, die Erinnerung an die unwiederbringliche Harmonie erweckt. Nur durch diese nicht-dialektische Differenz kann die Kunst das »Unaussprechliche«42 ausprechen, die Utopie, so Adorno. Die Architektur des Ereignisses entfaltet sich also in einer Zwischenzone, die keine Versöhnung zulässt, zwischen der Atopie und der Utopie. Abbildung 2: B. Tschumi: Parc de la Villette, Vogelperspektive

Quelle: Novotny, Karel/Rodrigo, Pierre/Slatmann, Jenny/Stoller, Silvia: Corporeity and Affectivity: ded. to M. Merleau- Ponty, Leiden: Brill 2014, S. 216.

Paradigmatisch für diese Auffassung ist der von Bernard Tschumi gewonnene Wettbewerb des Parc de la Villette (Abbildung 2). Der Parc de La Villette liegt auf dem Gelände eines 1974 geschlossenen Schlachthofes im Wohnort La Villette. Von dem 75 ha. großen Areal nimmt die Parkanlage rund 35 ha. ein und wird dadurch zur zweitgrößten Grünfläche der Stadt. Es wird eine heterogene Parkanlage gefördert, die die Ansprüche der Gesellschaft nach Erholung, Unterhaltung und kulturellen Veranstaltungen erfüllen soll. Tschumi entwickelt ein neues Modell für einen urbanen Park, der die unterschiedlichen Aktivitäten nicht nur kombiniert, sondern in ein Bewegungssystem einfügt und den Besuchern die Möglichkeit bietet, nicht nur die Wer40 | Adorno, Theodor W: »Über den Fetischcharakter in der Musik«, in: Gretel Adorno/Rolf Tiedemann (Hg.), Dissonanzen, Einleitung in die Musiksoziologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, hier S. 18-19. 41 | Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, hier S. 16. 42 | T. W. Adorno, Ästhetische Theorie, S. 55

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ke zu betrachten, sondern mit ihnen oder in ihnen zu handeln, denn nur durch Handlung entblößt sich der Sinn der verschiedenen Kunstwerke. Die architektonischen Formen entziehen sich jeder Versuchung einer Einordnung in einen Typus und erzwingen ein neues Verständnis des Ortes indem Ereignis, Raum und Bewegung aufeinander widersprüchlich bezogen werden. Architektur als Kunst weigert sich der Wiedererkennung. Sie steht nicht allein in einem inszenierungsfreien Raum da, sondern schafft Raum, bewohnt Räume, ordnet und interpretiert oder widerspricht ihnen und bringt sie in Unordnung, sie provoziert. Es gibt hier keine Totalitätsbehauptung, sondern eine Collage kollidierender Teile, die sich überlappen und Unerwartetes hervortreten lassen, eine Strategie, die der surrealistischen Kunst eigen ist, z.B. bei Kurt Schwitters. Keine Perspektive regelt die Wahrnehmung, die Dinge oder Teile überlagern sich gegenseitig, weil sie außer einander sind, wie Merleau-Ponty hervorhebt. Dinge sind nicht hintereinander wohlgeordnet, denn das Sichüberdecken und die Verborgenheit der Dinge in der Tiefe drücken ja nur die Solidarität mit dem eigenen Körper aus. Die Tiefe ist vielmehr die Erfahrung einer »allgemeinen Örtlichkeit«43, wo alles zugleich ist, wo das Unzusammenhängende zusammentrifft. Die Entwurfsstrategie Tschumis, nach der konfliktauslösende Beziehungen erhalten bleiben und Synthese vermieden wird, beruht auf dem Begriff der Disjunktion, die darauf abzielt, die »architektonische Semantik«44 zu dekonstruieren, d.h. alles, was die Architektur zum Sinn geordnet hat, ihr Wesen: formale Schönheit, Funktion, Bewohnbarkeit. Tschumi wendet sich gegen den Anspruch an die Architektur, eine geschlossene räumliche Ordnung zu schaffen, die im Voraus definierte Funktionen dienen soll. Er lehnt jedwede zentrierte Organisationsform ab, die der Kohärenz zwischen »Programm, Architektur und Symbol«45 zum Ausdruck verhelfen sollte. Dafür wird das ganze architektonische Programm einem gewaltigen Vorgang der Demontage unterzogen. Aus dieser Zerlegung entstehen Fragmente, die in autonomen Struktursystemen kombiniert werden: Erstens, das Netz der Intensitätspunkte, die neutralen roten Würfel (die »folies« oder Verrücktheiten), die Treffpunkte, Werkstätten und urbane Dienste beherbergen; zweitens, die Bewegungslinien oder Hauptachsen, die durch den Park führen und 43 | M. Merleau-Ponty, Das Auge und der Geist, S. 33 und S. 38. 44 | Derrida, Jacques: »Maintenant l’architecture«, in: J. Derrida, Psyché, S. 480. 45 | Tschumi, Bernard: »Parc de la Villette, Paris«, in: Papadakis, Andreas (Hg.): Dekonstruktivismus. Eine Anthologie, Stuttgart: Klett-Cota 1989, hier S. 175.

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drittens, die zusammengesetzte Flächen (»prairies« oder Wiesen), worin die Gartenanlagen untergebracht sind. Durch die Überlappung dieser drei in sich kohärenten Strukturen wird keine Totalität, sondern eine Kollision von unterschiedlichen Mustern erzeugt. Somit werden Konflikte und zufällige Verknüpfungen eingeleitet, die zu formalen und programmatischen Spannungen führen. La Villette soll eine »ereignishafte Dimension«46 eröffnen, die für Tschumi darin besteht, eine Konfrontation zwischen Handlung, Bewegung und Raum hervorzurufen, die etwas Unvorhersehbares und Überraschendes hervorrufen kann. Diese Entwurfsstrategie ist dem klassischen Kompositionsbegriff völlig fremd. Die gebauten »folies«, die als ausdehnungslose rote Punkte in einem abstrakten Netz erscheinen, sind der einzige Orientierungshalt für die Bewegung. Kein Weg aber vereint sie, die Linien, die sich ziellos erstrecken, erlauben eine freie und ebenso ziellose Bewegung der Körper; sie erzielen und ermöglichen die Erfahrung des Wanderns. Die »folies« (Abbildung 3) drücken keine Funktion aus, obwohl sie dennoch eine bestimmte Nutzung erfüllen sollen; Sie zeigen sich einfach als Objekte anstatt zu repräsentieren, sie sind als »ready-mades« konzipiert. Sie stellen die Möglichkeit des Wohnens in Frage, indem sie einerseits die Distinktion »innen-außen« ignorieren, und andererseits indem die reine, geschlossene Kubus-Form fragmentiert wird. Sie zeigen sich in einem ›unfertigen‹ Zustand, als ob sie nur eine Momentaufnahme eines immer währenden Bauprozesses wären. Es entstehen somit einander unterschiedliche rippenartige Gerüste, worin die einzelnen Elemente, sei es Treppe, Rampe, usw. eine Eigendynamik entwickeln und dadurch ihrem ursprünglichen Zweck und leiblichen Gewohnheiten zu widersprechen scheinen. Sie sind weder Strukturelement noch Ornament, ihre jeweilige Funktion ist unentscheidbar. Es ist aber gerade diese architektonische Vielfalt, die den Betrachter dazu verleitet, durch die eigene Fortbewegung die Architektur als eine filmartige Abfolge von Bildern wahrzunehmen – ein ausdrückliches Anliegen Tschumis. Dennoch, durch die Wiederholung dieser »folies« entsteht paradoxerweise ein Horizont der Erwartung im Sinne Husserls, woraus sich allmählich ein Typus herausbildet, der dieser anfänglichen Entfremdung entgegensteuert.

46 | J. Derrida: Maintenant l’architecture, S. 478: »La dimension événementielle se voit comprise dans la structure même du dispositif architectural: séquence, sérialité ouverte, narrativité, cinématique, dramaturgie, chorégraphie.«

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Abbildung 3: B. Tschumi, Parc de la Vilette, Folie

Quelle: Novotny, Karel/Rodrigo, Pierre/Slatmann, Jenny/Stoller, Silvia: Corporeity and Affectivity: ded. to M. Merleau- Ponty, Leiden: Brill 2014, S. 216.

Als sinnlose Objekte, stehen die »folies« trotz ihrer Wiederholung, einsam da; die Architektur repräsentiert keine ihr externen Werte, obwohl sie dennoch ihre Funktion, die Erschließung, erfüllt: Die Architektur zeigt sich also in ihrer »nackten« Funktion. Sie wird der Ort einer unwiderruflichen Spannung zwischen der Atopie des bebauten Raumes und dem Topos unserer leiblichen, lebensweltlichen Habitualitäten: In diesem »Zwischenbereich« entfaltet sich die »ereignishafte« Erfahrung des Raumes. Atopie wird auch durch neuartige Entwurfsmethoden, wie z.B. »Parametricism« erzeugt. Diese Methode zielt darauf ab, durch die Differenzierung und Konnektivität mannigfaltig urbaner Systeme (Modulation der Baustrukturen, Straßensysteme und das System des offenen bzw. öffentlichen Raumes) eine tiefe Bezogenheit zwischen urbaner Funktionsaufteilung und architektonischer Morphologie zu erlangen, wie am Beispiel eines Masterplans für Singapur, entworfen 2005 vom Architektürburo Zaha Hadid, zu ersehen ist (Abbildung 4). Abbildung 4: Z. Hadid, Masterplan 2003, Singapur

Quelle: Architectural Design: Digital Cities, Vol. 79, No. 4 (Juli/August 2009)

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Parametrisches Design konzipiert die urbane Baumasse als eine schwarmartige Gliederung, worin die urbanen Variablen von Masse, Räumlichkeit und Richtung sich dynamisch konfigurieren und den veränderlichen Besetzungsmustern anpassen können.47 Diese Faszination hinsichtlich der Konnektivität, der kontinuierlichen stromartigen Bildungen und der funktionellen Flexibilität der unterschiedlichen Systeme, verhüllt die Tatsache, dass der soziale und programmatische Wert der architektonischen Brüche und Diskontinuitäten übersehen wird, die unterschiedliche Aktivitäten des urbanen Lebens bedürfen. Unter dieser angestrebten funktionellen Freiheit des Raumes, die keine Art des Einwohnens vorschreibt, verbirgt sich zugleich die Utopie der programmatischen Unbestimmtheit und Variabilität der Funktionen und die Atopie des Raumes: ein homogener und abstrakter Raum, worin sich im Prinzip alle möglichen Aktivitäten entfalten können. Die Atopie, d.h. das Fehlen der Repräsentation, das Außerhalbsein von unseren Wahrnehmungsgewohnheiten, muss von dem Fehlen jedweder Qualität des Ortes klar unterschieden werden: Bei Fehlplanungen öffentlicher Räume wird eine Leere erzeugt, hinter welcher sich eigentlich ein Ideenmangel verbirgt, wofür der Architekt und Planer die Verantwortung trägt. Die Atopie, im Gegenteil, fordert uns heraus, indem sie unsere Gewohnheiten und Erwartungen in Frage stellt: Die atopischen Werke sind durch die Möglichkeit vielfältiger Assoziationen gekennzeichnet, wie das nächste Beispiel weiter zeigen wird. Abbildung 5: P. Eisenman, Denkmal

Quelle: http://www.stiftung-denkmal.de/startseite.html (aufgerufen am 01.09.2015) 47 | Schumacher, Patrick: »Parametricism. A New Global Style for Architecture and Urban Design«, in: Architectural Design, Digital Cities, Vol 79, London: Wiley 2009, S. 14-23.

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Es handelt sich hier um das zwischen 2003 und 2005 errichtete Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin. Der Entwurf stammt von Peter Eisenman. Das Bauwerk wurde im Zentrum Berlins auf einer etwa 19.000 Quadratmeter großen Fläche in der Nähe des Brandenburger Tores errichtet (Abbildung 5). Das Denkmal besteht aus 2711 Stelen, die an Grabsteine erinnern. Kein Pfeiler ist dem Anderen gleich: Die Stelen sind kaum merklich und unterschiedlich geneigt und stehen auf einem scheinbar schwankenden Boden. Beim Betreten der Anlage entsteht das Gefühl der Verunsicherung und der Orientierungslosigkeit, es ist, als ob der Mensch in die Landschaft »versinken« würde, denn obwohl die Stelen eine gleiche Höhe zu haben scheinen, ist dieser Eindruck eine Täuschung. Der Boden sinkt und plötzlich wird der Besucher von Steinen umgeben, die ihn überragen und untereinander keinen erkennbaren Unterschied aufweisen. Jeder Bezugspunkt wurde im Entwurf vermieden, so dass es unmöglich ist, sich zu orientieren. Die abstrakt konzipierten Stelen verweisen auf keine äußere Bedeutung, keine Botschaft, keine Aufschrift, sie stehen einfach schweigend da. Eisenman bezeichnete das Mahnmal als einen »place of no meaning«, einen Ort ohne bestimmte Bedeutung.48 Es geht um die Stille des Ortes, die zum Nachdenken und Mitfühlen anregen soll: Vor allem erweckt dieser Ort das Gefühl der Verzweiflung, der Einsamkeit, kein Weg führt aus dieser Landschaft heraus, keine tröstende Vegetation ist vorhanden, nur glatter Beton mit scharfen Kanten. Es entsteht somit ein Spannungsfeld zwischen den abstrakten Formen und den vielfältigen Assoziationen, die beim Besucher erweckt werden. Dieser Ort ermöglicht eine unmittelbare Erfahrung, die sich dem Besucher aufdrängt bzw. die ihm widerfährt und dieser Erfahrung den Charakter eines Ereignisses verleiht. Die Untersuchung über die phänomenologischen Grundlagen der architektonischen Designpraxis zeigt, dass der Raum nicht länger als Repräsentationsraum, sondern als Erfahrungsraum zu verstehen ist, der erlebt wird und immer wieder neu erfunden werden soll.

48 | Maak, Niklas: »Peter Eisenman im Stelengang«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 16.08.2003, S. 31.

Autorinnen und Autoren

Breuer, Irene, erwarb 1988 ein Diplom in Architektur und 2003 in Philosophie an der Universidad de Buenos Aires, Argentinien. Zwischen 1991 und 2002 arbeitete sie als Architektin und akademische Rätin mit der Aufgabenstellung einer Professur im Fachbereich Architektur der Universidad de Buenos Aires und Universidad de Belgrano, Argentinien. 2010/2011, dank Stipendien des DAADs, war sie als Forschungs- bzw. Lehrassistentin im Fachbereich Philosophie der Bergischen Universität Wuppertal tätig, 2012 folgte die Promotion mit einer Dissertation zum Thema »Raum« bei Aristoteles und Husserl. Breuer lehrt im Bereich Theoretische Philosophie der Bergischen Universität Wuppertal. Ihre Forschungsfelder umfassen die Philosophie der Antike, die deutsche und französische Phänomenologie, die Architekturtheorie und -design und die Ästhetik. Publikationen (Auswahl): »Merleau-Ponty: Auswirkungen der ›kohärenten Verformung‹ auf Leib und Sinn – die Simultaneität im Raum«, in: Karel Novotny/Pierre Rodrigo/Jenny Slatmann/Silvia Stoller (Hg.), Corporeity und Affectivity, ded. to Maurice Merleau-Ponty, Leiden: Brill 2013, S. 199-218; »Descartes–Nietzsche: die Phänomenalität der inneren Welt – die Gewissheit und Wahrheit der Gefühle«, in: Inga Römer (Hg.), Subjektivität und Intersubjektivität in der Phänomenologie, Würzburg: Ergon Verlag 2011, S. 55-70.; »Husserls Lehre von den sinnlichen und kategorialen Anschauungen – der sinnliche Überschuss des Sinnbildungsprozesses und seine doxische Erkenntnisform«, in: Christoph Asmuth/Peter Remmers (Hg.), Ästhetisches Wissen, Berlin: de Gruyter 2015, S. 231-245. Buchholz, Kai, geb. 1966 in Berlin, ist seit 2012 Professor für Geschichte und Theorie der Gestaltung an der Hochschule Darmstadt. Buchholz studierte Philosophie, Kunstgeschichte und Romanistik in Berlin, Rennes, Saarbrü-

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cken, Utrecht und Aix-en-Provence. 1991 Maître ès lettres an der Université de Provence, 1996 folgt die Promotion an der Universität des Saarlandes. 2000-2005 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut Mathildenhöhe Darmstadt. Lehr- und Forschungstätigkeiten führen ihn nach Darmstadt, Bergen, Nancy und Paris. Darüber hinaus ist er bei Ausstellungsprojekten zum deutschen Design, zur Lebensreformbewegung und zu André Masson sowie als freier Hörspielautor tätig. 2009/10 wird er zum Professor für Kunst- und Designwissenschaft an der Hochschule Niederrhein in Krefeld ernannt, 2010-12 war er Professor für Designtheorie an der Hochschule Anhalt in Dessau, darauf folgend in Darmstadt. Wichtige Buchveröffentlichungen: Friedrich Waismann: Was ist logische Analyse? (Hg. 2008); Sex. Ein philosophisches Lesebuch (Hg. 2008); (mit J. Theinert) Designlehren. Wege deutscher Gestaltungsausbildung (2007); Plexiglas. Werkstoff in Architektur und Design (2007); Im Rhythmus des Lebens. Jugendstil und Bühnenkunst (2007); Liebe. Ein philosophisches Lesebuch (Hg. 2007); Ludwig Wittgenstein (2006); Im Designerpark. Leben in künstlichen Welten (Hg. 2004); Adolph Freiherr von Knigge: Über den Umgang mit Menschen (Hg. 2004); André Masson. Bilder aus dem Labyrinth der Seele (Hg. 2003); Die Lebensreform. Entwürfe zur Neugestaltung von Leben und Kunst um 1900. 2 Bde. (Hg. 2001); William Shakespeare: Hamlet (Hg. 2000); Wege zur Vernunft. Philosophieren zwischen Tätigkeit und Reflexion (Hg. 1999); Sprachspiel und Semantik (1998). Dissel, Julia-Constance, geb. 1981, Studium der Philosophie, Kunstgeschichte und klassischen Archäologie an der Albert-Ludwigs Universität Freiburg (Brsg.), der Universität Basel und der Goethe-Universität Frankfurt a.M. von 2001-2006, nach dem Magister folgt 2011 die Promotion in Philosophie über das »Realitätsproblem bei Habermas und die Philosophie des Pragmatismus« an der Goethe Universität Frankfurt a.M. und daraufhin ein Forschungsaufenthalt (Post-Doc) an der Universität Oxford 2013. Seitdem diverse Lehraufträge und Projekttätigkeiten an unterschiedlichen Institutionen u.a. Hochschule für Technik, Wirtschaft und Gestaltung, Konstanz (HTWG), Hochschule für Kunst, Design und Musik Freiburg (Bsrg.) (HKDM), Universität Konstanz im Fachbereich Philosophie. Seit 2013/14 Mathilde-Planck Stipendiatin. Momentane Forschung zum Thema einer Ästhetik des Designs. Seit 2011 Herausgeberin der Zeitschrift CRITICA-ZPK, einem Print- und E-Journal für Philosophie und Kunsttheorie. Die Forschungsschwerpunkte

Autorinnen und Autoren

liegen im Bereich der Ästhetik, Kunst- und Designtheorie, der Kommunikationstheorie und der Erkenntnistheorie. Haarmann, Anke, geb. 1968 in München, ist Philosophin und Künstlerin. Derzeit lehrt sie Designforschung und Künstlerische Forschung im Department Design an der HAW Hamburg im Rahmen einer Gastprofessur. Nach einem Studium der Philosophie, Literatur und Ethnologie an der Universität Hamburg und der Freien Universität Berlin sowie einem Studium der Freien Kunst an der Kunsthochschule Lerchenfeld Hamburg, absolvierte sie ein Postgraduiertenprogramm an der Jan van Eyck Akademie in Maastricht (NL). 2004 promovierte sie im Fach Philosophie an der Universität Potsdam. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Ästhetik, künstlerische Forschung, Theorie der Gestaltung, Erkenntnistheorie, Kunst im öffentlichen Raum und visuelle Kultur. Jüngst im Diaphanes Verlag erschienen ist »Künstlerische Forschung. Ein Handbuch«, das sie mit herausgegeben hat. Kim, Hyun Kang, ist Professorin für Designtheorie im interdisziplinären Kontext an der Hochschule Düsseldorf. Sie studierte Germanistik und Philosophie an der Yonsei-Universität in Seoul, der Universität Düsseldorf und der Universität Bonn. Promotion 2004 in Germanistik an der Universität Bonn, Habilitation 2014 in Philosophie an der Universität Bonn. 2006-2015 lehrte Frau Kim am Institut für Philosophie der Universität Bonn. Ausgewählte Publikationen: Ästhetik der Paradoxie. Kafka im Kontext der Philosophie der Moderne, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004; Slavoj Žižek. Eine Einführung, Seoul: Irum Verlag 2008; Slavoj Žižek, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2009; Image, Seoul: Yonsei University Press 2015; Bild, Gewalt, Subjekt. Walter Benjamin und die Politik des Realen in der Gegenwartsphilosophie (noch nicht erschienen). Schefer, Niklaus, geboren 1968, studierte nach dem Abitur Philosophie, Psychologie und Sinologie in Konstanz. Es folgt die Promotion in Bern mit einer Arbeit zur »Philosophie des Automobils«, die 2008 im Verlag Wilhelm Fink erscheint. Schefer arbeitet als Lehrer für Philosophie und Psychologie und ist Schulleiter eines Thuner Gymnasiums. Schweppenhäuser, Gerhard, geb. 1960 in Frankfurt a.M., ist Professor für Design-, Kommunikations- und Medientheorie an der Fakultät Gestaltung der Hochschule für angewandte Wissenschaften in Würzburg. Er lehrte u.a.

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Design & Philosophie

in Belo Horizonte, Bozen, Dresden, Durham (North Carolina), Kassel und Weimar. Forschungsschwerpunkte: Moralphilosophie, Kunst und populäre Kultur, Bild- und Kulturtheorie, Kommunikationsdesign und Ethik; Mitherausgeber der Zeitschrift für kritische Theorie. Neuere Bücher: Designtheorie, Wiesbaden: Springer VS 2015 (im Erscheinen); Ethik und Moral in Kommunikation und Gestaltung (Mithg.), Würzburg: Königshausen & Neumann 2015; Bildstörung und Reflexion. Studien zur kritischen Theorie der visuellen Kultur, Würzburg: Königshausen & Neumann 2013; Theodor W. Adorno zur Einführung, Hamburg: Junius 6. Aufl. 2013; Kritische Theorie, Stuttgart: Reclam 2010; Bildsemiotik. Grundlagen und exemplarische Analysen visueller Kommunikation (mit Thomas Friedrich), Basel, Boston, Berlin: Birkhäuser 2009; Ästhetik. Philosophische Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Frankfurt a.M./New York: Campus 2007. Steinbrenner, Jakob, geboren 1959 in Frankfurt a.M., war von 1976-1982 Mitarbeiter an den Städtischen Bühnen Frankfurt u.a. als Regieassistent bei Hans Neuenfels. Nach dem Studium der Philosophie, Germanistik und Kunstgeschichte in Frankfurt und München folgt 1994 die Promotion und 2002 die Habilitation im Fach Philosophie in München. Er nahm Professurvertretungen an der LMU München, der Universität Stuttgart und der Universität Münster war, seit Oktober 2012 arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Universität Stuttgart.

Design Friedrich von Borries, Gesche Joost, Jesko Fezer (Hg.) Die Politik der Maker Über neue Möglichkeiten der Designproduktion Juli 2016, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2859-3

Dagmar Steffen Perspektiven der Designforschung Gestaltung zwischen Theorie und Praxis Juli 2016, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 37,99 €, ISBN 978-3-8376-2413-7

Claudia Banz (Hg.) Social Design Gestalten für die Transformation der Gesellschaft Mai 2016, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3068-8

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

Design Thomas H. Schmitz, Roger Häußling, Claudia Mareis, Hannah Groninger (Hg.) Manifestationen im Entwurf Design – Architektur – Ingenieurwesen April 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3160-9

Andrea Rostásy, Tobias Sievers Handbuch Mediatektur Medien, Raum und Interaktion als Einheit gestalten. Methoden und Instrumente Februar 2016, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2517-2

Claudia Mareis, Matthias Held, Gesche Joost (Hg.) Wer gestaltet die Gestaltung? Praxis, Theorie und Geschichte des partizipatorischen Designs 2013, 320 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2038-2

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