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German Pages 496 Year 2013
Schriften zum Strafrecht Band 248
Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht Eine Untersuchung zu den Grundlagen und Kriterien legitimer Terrorismusprävention
Von
Katrin Gierhake
Duncker & Humblot · Berlin
KATRIN GIERHAKE
Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht
Schriften zum Strafrecht Band 248
Der Zusammenhang von Freiheit, Sicherheit und Strafe im Recht Eine Untersuchung zu den Grundlagen und Kriterien legitimer Terrorismusprävention
Von
Katrin Gierhake
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn hat diese Arbeit im Jahre 2012 als Habilitationsschrift angenommen.
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Alle Rechte vorbehalten
© 2013 Duncker & Humblot GmbH, Berlin
Fremddatenübernahme: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0558-9126 ISBN 978-3-428-14141-8 (Print) ISBN 978-3-428-54141-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-84141-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinem akademischen Lehrer Rainer Zaczyk gewidmet
„(E)s kann so wenig eine nicht freiheitlich denkende Freiheitspraxis wie ein praktisch konsequenzloses Freiheitsdenken geben.“ Thomas S. Hoffmann Hegel/Eine Propädeutik (2004), S. 16
Vorwort Die vorliegende Schrift wurde von der Bonner Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät im Wintersemester 2012/2013 als Habilitationsschrift angenommen. Geschrieben wurde sie im Wesentlichen in der Zeit zwischen 2006 und Mitte 2012; danach erschienene Literatur konnte nur noch vereinzelt berücksichtigt werden. Die Arbeit weiß sich einem Ansatz der Strafrechtswissenschaft verpflichtet, dessen Anliegen eine an der Autonomie des Einzelnen orientierte Rechtsbegründung ist. Mit der vorliegenden Schrift soll dieser Ansatz für die aktuelle und drängende Problematik der Sicherheitsgesetzgebung, insbesondere im Bereich der Terrorismusprävention, fruchtbar gemacht werden. Ziel ist es, die (straf-)rechtswissenschaftliche Diskussion um Grundlagen und Kriterien zu bereichern, die eine feste Beurteilung der Legitimität moderner Sicherheitsgesetze ermöglichen. Den Zugang zum rechtsbegründenden Denken aus dem Ursprung menschlicher Freiheit verdanke ich meinem akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr. Rainer Zaczyk. Ihm ist die Arbeit in Verbundenheit und Dankbarkeit gewidmet. Unvergessen bleiben zahlreiche Seminare und Gespräche mit intensiver gemeinsamer Arbeit an großen Texten der Geistesgeschichte und der von Vertrauen, Respekt und Witz geprägte Lehrstuhlalltag. Herrn Prof. Dr. Urs Kindhäuser bin ich für die zügige Erstellung des zweiten Gutachtens sehr verbunden. Herrn Niklas Schmidt danke ich für seine aufmerksame Durchsicht des Manuskripts und die wertvolle Hilfe bei der Erstellung und Korrektur der Druckfassung. Die Finanzierung dieser Hilfestellung verdanke ich der Förderung durch das Maria von Linden-Programm der Universität Bonn. Zum Gelingen der Arbeit hat ganz wesentlich auch meine Kollegin und Freundin Dr. Bettina Noltenius beigetragen – nicht nur durch wertvolle Diskussionen, Anregungen und Kritik, sondern auch durch die tägliche vertrauensvolle Zusammenarbeit am Lehrstuhl und ihre persönliche Unterstützung. Dafür möchte ich ihr ganz herzlich Dank sagen. Ohne das große Verständnis, den Rückhalt und die Ermutigung meines Mannes Stephan Grün hätte ich die Arbeit nicht schreiben können. Ihm und auch meinen Eltern Gisela und Klaus Gierhake sage ich an dieser Stelle Dank für ihre liebevolle Begleitung des Projekts. Bonn, im Frühjahr 2013
Katrin Gierhake
Inhaltsverzeichnis Teil 1 Einführung: Zur Notwendigkeit einer grundlegenden rechtlichen Verhältnisbestimmung von Freiheit, Sicherheit und Strafe
19
A. Herausforderung des Rechtsstaates durch den internationalen Terrorismus
20
B. Zur Problematik der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit . . .
26
C. Zur wachsenden Bedeutung des Sicherheitsaspekts im gegenwärtigen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Spannung zwischen den Prinzipien des Schuldstrafrechts und dem modernen Effizienz- und Präventivgedanken im Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . II. Das Problem des Begründungszusammenhangs zwischen einem freiheitlichen Recht, der Sicherheit und dem Instrument der Strafe . . . . . . . . . . . . . . D. Gang der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
30 32 38 45
Teil 2 Rechts- und staatsphilosophische Grundlegung zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Rechtsstaat A. Einführung und Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Legitimation staatlicher Macht als Aufgabe der Rechts- und Staatsphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Überblick: Staatskonzeptionen von Thomas Hobbes bis Carl Schmitt . . . . . . B. Sicherheitsgewährleistung als originäre Aufgabe des Staates: Hobbes’ Leviathan als Modell eines „Sicherheitsstaats“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Der Naturzustand bei Hobbes und sein Freiheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft (Staatsbegründung) und der Aspekt der Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kritik des Hobbesschen Staatsmodells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Unzulänglichkeit des anthropologischen Ausgangspunkts . . . . . . . . . . . . . 2. Rechtspersönlichkeitsverlust des Einzelnen im staatlichen Zustand . . . . . 3. Fehlende Rechtsbindung der souveränen Gewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Unzureichender Freiheitsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Zusammenfassung zum Hobbesschen „Sicherheitsstaat“ . . . . . . . . . . . . . . . . .
48 48 48 50 56 56 60 63 63 65 66 69 71
12
Inhaltsverzeichnis
C. Begrenzung des staatlichen Wirkens auf Maßnahmen der Sicherheit: Wilhelm von Humboldts Staatsidee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
72
D. Staatsbegriff aus Freiheit: Immanuel Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
I. Einführung in Kants Rechtslehre und erste Abgrenzung zu Hobbes und v. Humboldt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
76
II. Zum Freiheits- und Rechtsbegriff bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
1. Freiheit bei Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
80
2. Der Rechtsbegriff Kants . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
90
3. Zusammenfassung zu II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
III. Vom Privatrecht zum öffentlichen Recht oder: vom Zustand des provisorischen Rechts zu dem der Rechtssicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
94
IV. Strukturen des Staates und das Prinzip der öffentlichen Gerechtigkeit . . . . .
99
1. Rechtsgesetze, Staatsmacht und das Prinzip der Gewaltenteilung . . . . . . .
99 2. Die öffentliche Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 a) Die Gerechtigkeitsformen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 b) Das Prinzip der Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Zusammenfassung zu III. und IV. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 V. Zusammenfassung zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit bei Kant . . . 112 E. Substantieller Staat Hegels als „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ . . . . . 114 I. Einführung in Hegels rechtsphilosophisches Denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 II. Freiheitsbegriff und Recht als „Dasein der Freiheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 III. Freiheit und Sicherheit im Hegelschen System der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . 122 1. Die bürgerliche Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 2. Der substantielle Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 a) Der Staat als Vernunfteinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 b) Das Prinzip der Gewaltenteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 3. Zusammenfassung zu III. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 IV. Resümee zum Kantischen und Hegelschen Staatskonzept . . . . . . . . . . . . . . . . 134 F. Übergang der Staatsphilosophie zum Positivismus in der Staatsrechtslehre: Hans Kelsen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 G. Selbstsicherheit des Staates als Selbstzweck: Autorität statt Begründung bei Carl Schmitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 I. Das Wesen der Politik und die Aufgabe des Staates im „Normalfall“ . . . . . . 141 II. Der Staat im „Ausnahmezustand“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 III. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 H. Zusammenfassung zum 2. Teil: Staatsphilosophische Entwicklungsschritte des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit im Staat seit Thomas Hobbes 148
Inhaltsverzeichnis
13
Teil 3 Grundzüge der Diskussion um die Freiheits- und Sicherheitsgewährleistung im modernen Verfassungsstaat
152
A. Sicherheit als Grundrecht, Freiheit und Sicherheit als gleichrangige „Verfassungswerte“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Grundrecht auf Sicherheit? (Isensee) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Freiheit und Sicherheit als auszubalancierende „Verfassungswerte“? (Brugger, Hillgruber, u. a.) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Verhältnisbestimmungen, die an der Sicherheit ansetzen . . . . . . . . . . . . . . 2. Abwägung von „Verfassungswerten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
155 158 158 161
B. Substantielle Freiheitseinbußen als Preis der Sicherheit? . . . . . . . . . . . . . . . . . I. „Selbstbehauptung des Rechtsstaates“ durch „Feindrecht“ (Depenheuer) . . . 1. „Ernstfall“ versus „Normallage“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. „Feindrecht“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. „Bürgeropfer“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
168 169 170 171 172 174
152 152
C. Zusammenfassung zum 3. Teil: Grundpositionen der verfassungsrechtlichen Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Teil 4 Erscheinungsformen des Sicherheitsgedankens im gegenwärtigen (materiellen) Strafrecht und die damit einhergehenden Legitimationsprobleme – dargestellt am Beispiel der Terrorismusstraftatbestände A. Die Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen (§§ 129 ff. StGB) I. Auseinandersetzung um das Schutzgut der §§ 129 ff. StGB . . . . . . . . . . . . . . 1. Der „öffentliche Friede“ als Schutzgut der §§ 129 ff. StGB . . . . . . . . . . . . 2. Die im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs enthaltenen Rechtsgüter als Schutzgüter der §§ 129 ff. StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zusammenfassung zu I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Tathandlungen der §§ 129 ff. StGB: Vorfeldkriminalisierung, Gefährdungsunrecht oder politische Organisationsanmaßung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die §§ 129 ff. StGB als legitimes „Vorfeld“-Kriminalunrecht? . . . . . . . . . a) Zur Notwendigkeit eines materiellen Unrechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . b) Überblick über die zugrunde gelegten Unrechtslehren . . . . . . . . . . . . . c) Auf Rechtsgutsverletzungen basierende Unrechtslehren . . . . . . . . . . . . aa) Die Rechtsgutsverletzung als Kern des Verbrechens (M. Marx) . . bb) Die personale Rechtsgutslehre W. Hassemers . . . . . . . . . . . . . . . . .
180 180 182 183 193 196 197 202 203 213 216 216 222
14
Inhaltsverzeichnis cc) Das Rechtsgut als „werthafte Funktionseinheit“ (H.-J. Rudolphi)
226 dd) Der „liberale“ Rechtsgutsbegriff C. Roxins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227 ee) Zusammenfassung zu c) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 d) Die Lehre vom Verbrechen als „sozialunerträgliche, besonders anstößige Verletzung der Gemeinschaftsordnung“ (H. Welzel) . . . . . . . . 230 e) Das Verbrechen als „Störung eines sozialen Systems“ und die Lehre vom Unrecht als Normdesavouierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 aa) Das Verbrechen als „Sozialschaden“ (K. Amelung) . . . . . . . . . . . . 234 bb) Unrecht als Normdesavouierung (G. Jakobs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 (1) Verletzung vorgezogener oder flankierender Rechtsgüter . . . . 239 (2) Feindstrafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243 (3) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 f) Das Verbrechen als Freiheitsverletzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 aa) Unrechtsbegriff im Ausgang von E. A. Wolff . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 (1) Recht als gemeinschaftliche Vernunftleistung . . . . . . . . . . . . . (2) Verletzung eines Rechtsverhältnisses (E. A. Wolff und R. Zaczyk) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Verletzung des Rechts in seiner besonderen und allgemeinen Geltung (M. Köhler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (4) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
248 250 253 255
bb) Die Unrechtsqualität der §§ 129 ff. unter Zugrundelegung des freiheitlichen Unrechtsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 cc) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 g) Ergebnis zu 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2. Die Tathandlungen der §§ 129 ff. StGB als legitimes Gefährdungsunrecht? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 266 a) Die Perspektive der Rechtsgutsverletzungstheorien . . . . . . . . . . . . . . . . 269 b) Besondere Form der Organisationsanmaßung (G. Jakobs) . . . . . . . . . . 271 c) Beeinträchtigung normativ garantierter Sicherheit (U. Kindhäuser) . . 274 d) Die Perspektive des freiheitlichen Unrechtsbegriffs (E. A. Wolff u. a.) 281 e) Zusammenfassung zu 2. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 3. Die Tathandlungen der §§ 129 ff. StGB als „politische Organisationsanmaßung“ (Cancio Meliá)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 4. Zusammenfassung zu II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 B. Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten (§§ 89a, 89b, 91 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 I. § 89a StGB (Vorbereiten einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) . . . 291 1. Zum Unrechtsgehalt des § 89a StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2. Legitimationsproblematik: Kriminalunrecht oder strafloses Vorbereitungshandeln? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 292
Inhaltsverzeichnis
15
II. § 89b StGB (Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 III. § 91 StGB (Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 IV. Zusammenfassung zu B. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 298 C. Zusammenfassung zum 4. Teil: Kritik rein präventiver Straftatbestände im gegenwärtigen materiellen Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Teil 5 Legitime Ausgestaltung moderner Sicherheitsgesetzgebung im Bereich der Terrorismus- und Kriminalprävention: Lösungsansätze, Kritik und eigene Kriterien
301
A. „Feindstrafrecht“ (Jakobs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 B. „Kriegsrechtlich orientiertes Präventionsrecht“ (Pawlik) . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Verortung des Terrorismusproblems im Anwendungsbereich des Kriegsrechts („Krieg gegen den Terror“)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Terrorismus als Form der Kriegsführung? (Münkler) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Sinngemäße Anwendung des Kriegsrechts nach Pawlik . . . . . . . . . . . . . . . 3. Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das gedankliche Fundament des völkerrechtlichen Kriegsrechts . . . . . b) Anwendung der Grundgedanken des Kriegsrechts auf den „Kampf gegen den Terrorismus“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Völkerrecht: Terrorismusbekämpfung als Form staatlicher Selbstverteidigung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Selbstverteidigung gem. Art. 51 UN-Charta im Interstaatenverhältnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Selbstverteidigungsrecht gem. Art. 51 UN-Charta gegenüber Privaten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zusammenfassung zur völkerrechtlichen Terrorismusbekämpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Innerstaatliche Terrorismusprävention nach kriegsrechtlichen Grundsätzen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung zur Verortung des Terrorismusproblems im Bereich des Kriegsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verortung des Terrorismusproblems im Bereich der Prävention . . . . . . . . . . . 1. Grundprinzipien rechtsstaatlicher Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Überblick über die Aufgaben der Polizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das gedankliche Fundament der Prävention: Das staatliche Zwangsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Begründung rechtsstaatlicher Zwangsbefugnis nach Kant . . . . . . . (1) Begründung der Zwangsbefugnis aus dem Rechtsbegriff . . . .
310 314 316 319 320 321 325 326 327 330 334 335 338 338 339 339 342 343 344
16
Inhaltsverzeichnis (2) Begründung der staatlichen Zwangsbefugnis . . . . . . . . . . . . . . bb) Begründung des Rechtszwangs bei G. W. F. Hegel . . . . . . . . . . . . . (1) Zwangsbegründung im abstrakten Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zwang in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat . . . . . . . cc) Konsequenzen aus den Fundamentalbestimmungen für die gegenwärtige Ausgestaltung des staatlichen Zwangsrechts . . . . . . . . c) Der polizeiliche Rechtszwang im Bereich der Unrechtsprävention . . . aa) Die „vorbeugende Rechtspflege“ nach Robert von Mohl . . . . . . . (1) Unterscheidung zwischen vorbeugender und wiederherstellender Rechtspflege . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Maßnahmen der Verbrechensvorbeugung . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zusammenfassung, Würdigung und Folgerungen . . . . . . . . . . bb) Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt (Friedrich Kitzinger) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Allgemeine Bedingungen des rechtspolizeilichen Einschreitens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (2) Konkrete Befugnisse der Rechtspolizei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . (3) Zusammenfassung, Kritik und prinzipielle Folgerungen . . . . cc) Konsequenzen aus den Grundbestimmungen zur (polizeilichen) Unrechtsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Allgemeine Kriterien legitimer Unrechtsprävention . . . . . . . . . . . . . . . . aa) Befugnisse zur Feststellung der Unrechtswahrscheinlichkeit . . . . bb) Materielle Kriterien und Grenzen präventiver Freiheitseingriffe . cc) Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Überblick über Unrechtsprävention, sichernde Maßregeln und Untersuchungshaft im geltenden Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Unrechtsprävention nach den Polizeigesetzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Sichernde Maßregeln (§§ 61 ff. StGB): Wesen und Legitimation . . . . aa) Legitimation durch überwiegendes Gemeininteresse . . . . . . . . . . . bb) Verlust der äußeren Freiheit als Folge mangelnder „innerer Freiheit“ (Welzel) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . cc) Kritik der Sicherungsmaßregeln nach Michael Köhler . . . . . . . . . dd) Kriterien legitimer Sicherheitsmaßregeln nach einem freiheitlichen Rechtsverständnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Untersuchungshaft (insbesondere wegen Wiederholungsgefahr gem. § 112a StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der „Kampf gegen den Terror“ als Teil rechtsstaatlicher Prävention . . . . a) Besonderheiten der Prävention im Bereich des Terrorismus am Beispiel des Prozesses um die sog. Sauerland-Gruppe . . . . . . . . . . . . . . . . b) Zur Ausgestaltung legitimer Terrorismusprävention . . . . . . . . . . . . . . .
347 348 349 353 355 357 357 358 361 368 374 375 377 378 381 383 383 384 390 390 390 396 400 403 405 407 411 418 421 421 430
Inhaltsverzeichnis aa) Befugnisse zur Ermittlung der Wahrscheinlichkeit eines künftigen (terroristisch motivierten) Rechtsbruchs . . . . . . . . . . . . . . . . . . (1) Erste Verdachtsermittlungsphase: Anfänglich diffuser Verdacht aufgrund objektiver Erfahrungswerte . . . . . . . . . . . . . . . (2) Zweite Verdachtsermittlungsphase: Subjektiv begründete, reale Möglichkeit einer Straftatbegehung . . . . . . . . . . . . . . . . . bb) Zulässige präventive Freiheitseingriffe (insbesondere zur Terrorismusabwehr) bei bestehender Unrechtswahrscheinlichkeit . . . . . dd) Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zusammenfassung zur Verortung des Terrorismusproblems im Bereich der Prävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
17 430 431 435 441 446 446
C. Zusammenfassung des 5. Teils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447
Teil 6 Zusammenfassung: Sicherheitsgesetzgebung nach einem freiheitlichen Rechtsverständnis
449
A. Lösung als Rechtsproblem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 449 B. Strafrecht als „Sicherheitsstrafrecht“? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 451 I. Skizze der Strafbegründung auf der Grundlage eines freiheitlichen Rechtsverständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 452 II. Sicherheit durch ein freiheitliches Strafrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 C. Rechtsstaatliche Unrechtsprävention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 456 D. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 459 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 460 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492
Teil 1
Einführung: Zur Notwendigkeit einer grundlegenden rechtlichen Verhältnisbestimmung von Freiheit, Sicherheit und Strafe Mit der vorliegenden Arbeit soll nach einem Weg gesucht werden, das wachsende Sicherheitsinteresse einer freiheitlichen Rechtsgemeinschaft mit ihrem Rechtsgrund, der Autonomie jedes einzelnen ihrer Konstituenten, gedanklich konsequent in Einklang zu bringen. Es soll geklärt werden, wie ein freiheitliches Recht berechtigte Sicherheitsinteressen der Gesellschaft in legitimer Weise integrieren kann. Damit ist das Problem der Verhältnisbestimmung zwischen Freiheit und Sicherheit im Staat aufgeworfen. Es stellt sich gleichermaßen auf staats-, ordnungs- und strafrechtlicher Ebene und wird in der gegenwärtigen Debatte dementsprechend aus diesen verschiedenen Perspektiven diskutiert. Insbesondere (aber nicht nur) durch die Bedrohungen, die vom internationalen Terrorismus ausgehen, wird die Frage nach dem Umgang mit Sicherheitsgefährdungen virulent, und es werden grundsätzliche Überlegungen zum Verhältnis von (freiheitlichem) Recht, (sicherheitsorientierter) Prävention und dem Institut der Strafe unumgänglich.1 Mit dem vorliegenden Einführungskapitel soll die gegenwärtige Diskussion um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Rechtsstaat (unter A. und B.) sowie um das damit zusammenhängende Verhältnis von Strafe und Prävention (unter C.) knapp vorgestellt werden.2 Im Anschluss daran findet sich ein Über1 W. Hetzer fordert eine „Diskussion um die rechtsstaatliche Tiefendimension der Terrorabwehr“ („Terrorabwehr im Rechtsstaat“ ZRP 2005, S. 132 (133)); W. HoffmannRiem sieht die Notwendigkeit eines öffentlichen Diskurses über die „angemessene Balance von Freiheit und Sicherheit“ („Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge“ ZRP 2002, S. 497). Vgl. zudem M. Baldus, „Freiheit und Sicherheit nach dem 11. September 2001 – Versuch einer Zwischenbilanz“ KritV 2005, S. 364 (369), der eine „detailorientierte rechtliche Tiefenanalyse“ und eine Neujustierung der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit fordert; ferner C. Prittwitz, „,Feinde ringsum‘? Zur begrenzten Kompabilität von Sicherheit und Freiheit“ (2007), S. 225 (237 ff.); E. Uhrlau, „Einleitung“ (2007), S. 287 ff. 2 B. Zabel spricht in seiner Rezension der Arbeit von G. L. Morguet, Feindstrafrecht – eine kritische Analyse (2009), von der „aktuelle(n) Debatte um Grund und Grenzen eines staatlich organisierten Bekämpfungsrechts“ und umschreibt das Problem zutreffend damit, dass die „Logik des modernen Bekämpfungsrechts (. . .) nahezu notwendig
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Teil 1: Einführung
blick über den Gedankengang der Arbeit (D.), die sich nach einem grundlegenden rechts- und staatsphilosophischen Teil ausführlich mit der verfassungs-, straf- und präventionsrechtlichen Problematik der neueren Sicherheitsgesetzgebung auseinandersetzt.
A. Herausforderung des Rechtsstaates durch den internationalen Terrorismus Im Zusammenhang mit den Gefährdungen der staatlichen Gemeinschaft durch den internationalen Terrorismus wird vermehrt die Sorge geäußert, dass mit ihnen eine neue Herausforderung für den Rechtsstaat verbunden ist, weil der diffusen, noch nicht konkretisierten Gefahr mit den klassischen polizeirechtlichen Mitteln der Gefahrenabwehr nicht wirksam beizukommen sei.3 Die Polizei habe es nicht mehr nur mit einer sichtbaren, personell individualisierbaren und zeitlich abschätzbaren, eben konkreten Gefahr zu tun, sondern mit einer „unabsehbar großen Zahl einzelner, unsichtbarer und unbekannter Risikoquellen, die nach jahreoder jahrzehntelanger Latenz (. . .) plötzlich an unvermutetem Ort und in unvorhersehbarer Art und Weise, aber mit höchster, vor Selbstzerstörung nicht zurückschreckender Tatenergie aktiv werden.“ 4 Wenn der Staat in einer solchen Situation nicht schlicht untätig bleiben soll, müsse, so mehren sich die Stimmen, die Eingriffsschwelle vorverlegt werden, Zurechnungs- und Sanktionsstrategien (generiere), die ein am Autonomiebewusstsein des Einzelnen und den entsprechenden Freiheitsformen orientiertes Gemeinwesen an die Grenzen seiner Belastbarkeit führ(e)“ (GA 2009, S. 670 u. 672). 3 Siehe dazu z. B. E. Denninger, „Freiheit durch Sicherheit?“ Aus Politik und Zeitgeschichte (B 10–11/2002), S. 22, 23. Vgl. auch G.-J. Glaeßner, „Sicherheit und Freiheit“ Aus Politik und Zeitgeschichte B 10–11/2002, S. 3 (13). 4 E. Denninger, a. a. O. (Fn. 3), S. 22. Zur näheren Charakterisierung der mit dem modernen Terrorismus verbundenen Gefahr siehe zunächst M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 10–24; ferner W. Hetzer, a. a. O. (Fn. 1), S. 133, der von der „besonders großen Gefahr“ spricht, „die der neuzeitliche Terrorismus für die Gesellschaften der Welt darstellt. Das Schadenspotenzial ist enorm hoch. Die terroristische Strategie zielt (auch) auf die Schlüsselsymbole und die Infrastruktur der entwickelten Welt. Die Anzahl der Ziele ist deshalb unbegrenzt.“ (Fn. weggelassen); M. Baldus, „Freiheit und Sicherheit nach dem 11. September 2001 – Versuch einer Zwischenbilanz“ KritV 2005, S. 364 ff. Zu einer möglichen Definition des Phänomens „Terrorismus“ siehe D. S. Lutz, „Was ist Terrorismus?“ (2002), S. 9 ff. Vgl. aus Sicht des internationalen Rechts auch R. Lavalle, „A Politicized and Poorly Conceived Notion Crying Out for Clarification: The Alleged Need for a Universally Agreed Definition of Terrorism“ ZaöRV 2007, S. 89 ff. und E. Klein, „Die Herausforderung durch den internationalen Terrorismus – Hört hier das Völkerrecht auf?“ (2004), S. 9 (10, 11). Zu „Geschichte und Gegenwart des Terrorismus“ sowie zur „Abgrenzung und Definition des Terrorismusbegriffs“ vgl. M. A. Zöller, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 11 ff. bzw. 99 ff. Zur Analyse des sog. transnationalen Terrorismus, seinen Charakteristika, Strukturen, Hintergründen und Ursachen aus sozialwissenschaftlicher Perspektive siehe U. Schneckener, Transnationaler Terrorismus (2006).
A. Herausforderung des Rechtsstaates durch den internationalen Terrorismus
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und der Staat habe als „Präventionsstaat“ intensive Gefahren- und Risikovorsorge zu betreiben.5 Nur breitflächige Vorfeldüberwachung verspreche hier Sicherheitsgewinn, wobei aber fraglich sei, ob die damit verbundenen Freiheitsverluste gerechtfertigt werden könnten. Der Staat des Grundgesetzes, der Sicherheit und Freiheit gleichermaßen zu garantieren habe, befinde sich hier offensichtlich in einem Dilemma. Die gebotene Auflösung der Pflichtenkollision, die in der Dreieckskonstellation von Störer-Staat-Opfer eindeutig sei („Das in den Grenzen der Rechtsordnung verbleibende Opfer verdient den vorrangigen Schutz des Staates“ [Paul Kirchhof]), sei bei erheblichen Eingriffen in die Freiheit von Nichtstörern nämlich keineswegs evident.6 Wegen der neuartigen Bedrohung bestehe die Schwierigkeit, dass der Rechtsstaat sich in einen „Präventionsstaat“ wandle, wobei sich ersterer dadurch auszeichne, dass er sich an Freiheit und Autonomie seiner Bürger ausrichte, letzterer primär an Sicherheitsmaximierung und Effizienz.7 Die aktuelle Aufgabe bestehe darin, die ideale Kombination der beiden Zielsetzungen in der Weise zu finden, dass „das maximale Maß an Freiheit durch eine optimale Gewährleistung von Sicherheit erhalten wird“ 8. Bei Hillgruber heißt es dazu: „Notwendige Prävention darf (. . .) nicht in rechtsstaatswidrige Willkür umschlagen, aber ebenso wenig darf der Staat seine Sicherheitsaufgabe vernachlässigen und wehrlos werden. Die Aufgabe, sich als Verfassungsstaat gegen die erklärten Feinde der Freiheit wirksam und verfassungsrechtlich angemessen zur Wehr zu setzen, sich ohne Preisgabe seines Selbstverständnisses und seiner Selbstverpflichtungen zu behaupten und seine Bürger in ihren elementaren Rechten zu schützen, kommt einer Gradwanderung gleich.“ 9
5 Siehe hierzu und zum folgenden Ch. Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur ,bedingt abwehrbereit?‘ “ JZ 2007, S. 209 (211). 6 Ebenda. 7 E. Denninger, „Freiheit durch Sicherheit?“ Aus Politik und Zeitgeschichte (B 10– 11/2002), S. 23; ders., „Freiheit durch Sicherheit?“ (2002), S. 83 (88): „Die Funktionslogik des Rechtsstaats ist (also) grundsätzlich die einer bemessenen und angemessenen Reaktion, weshalb die Bestimmtheit des Gesetzes und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit der Mittel oder das Übermaßverbot tragende Säulen des rechtsstaatlichen Polizeirechts bilden. Durchaus anders operiert die Funktionslogik des Präventionsstaats. Sie wartet nicht ab, bis ein konkreter Schadenseintritt wahrscheinlich oder Anzeichen für eine geschehene Straftat sichtbar werden, sondern sie will der Realisierung von Risiken aller Art zuvorkommen, sie zielt also auf Aktion, nicht bloße Reaktion, sie fordert ,operatives‘, ,proaktives‘ Polizeihandeln.“ (Hervorhebungen im Original, Fn. weggelassen). Ähnlich auch W. Hetzer, a. a. O. (Fn. 1), S. 134. Die Sorge um das Abgleiten des Rechtsstaats in einen Präventionsstaat nicht teilend V. Götz, „Innere Sicherheit“ (2006), § 85, Rn. 16. 8 E. Denninger, „Freiheit durch Sicherheit?“ (2002), S. 83 (88). Ähnlich auch M. Nolte, „Die Anti-Terror-Pakete im Lichte des Verfassungsrechts“ DVBl. 2002, S. 573. 9 Ch. Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur ,bedingt abwehrbereit?‘ “ JZ 2007, S. 209 (211).
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Teil 1: Einführung
Die damit geforderte Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit erscheint vor allem deswegen problematisch, weil die prinzipiell maßlose Bedrohung durch terroristische Gewalt einen „präventiven Schutz neuer Art“ notwendig zu machen scheint, der weniger die Abwehr konkreter Gefahren zur Aufgabe, sondern eine viel weiter reichende „Vorfeldstrategie“ zu verfolgen hat.10 Im Rahmen dieser Vorfeldstrategie sind vermehrt staatliche Maßnahmen mit deutlichen Freiheitsbeeinträchtigungen zu verzeichnen.11 Dabei besteht die Tendenz, dass sich „repressive Verbrechensbekämpfung“ und „proaktive Risikovorsorge“ zunehmend verklammern und sich zu einem „dynamischen, dadurch aber auch kaum noch eingrenzbaren Vorfeldrecht“ entwickeln.12 Bei Denninger heißt es dazu: „Wo besondere Gefährdungslagen auftreten, trifft der Gesetzgeber Regelungen mit unmittelbarer Intention auf Rechtsgüterschutz. Auch altbewährte, dem Einzelnen Rechtssicherheit qua Rechtsgewissheit verbürgende rechtsstaatliche Verfahrensgestaltungen werden dann der Prävention geopfert.“ Hinter dem „Grundrecht auf Sicherheit“ stehe der „alte Hobbes’sche Zusammenhang von Schutz und Gehorsam . . ., nur dass nicht deutlich gesagt wird, dass damit ein Recht des Staates auf (unbegrenzte) Produktion von ,Sicherheit‘ (bei entsprechenden Freiheitsbeschränkungen) gemeint ist.“ 13
Aus verfassungsrechtlicher Sicht stellt sich die Frage, wie das Moment der Sicherheit in einem auf grundrechtliche Freiheitsgewährleistung ausgerichteten Staat einzuordnen ist:14 Ob es beispielsweise selbst grundrechtlichen Charakter 10 Zitate von W. Hetzer, a. a. O. (Fn. 1), S. 133, 134. Vgl. auch H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 4 und M. Baldus, „Freiheit und Sicherheit nach dem 11. September 2001 – Versuch einer Zwischenbilanz“ KritV 2005, S. 364 ff. Kritisch zu dieser Tendenz auch O. Lepsius, „Sicherheit und Freiheit – ein zunehmend asymmetrisches Verhältnis“ (2010), S. 23 (insbesondere S. 39–41, 47). 11 Ein Überblick zu den „Gesetzen präventiven Inhalts“, die nach 2001 in Kraft getreten sind, findet sich bei Ch. Gusy, „Präventionsstaat zwischen Rechtsgüterschutz und Abbau von Freiheitsrechten in Deutschland“ (2007), S. 273 ff. Siehe zudem mit kritischer Grundintention J. Saurer, „Die Ausweitung sicherheitsrechtlicher Regelungsansprüche im Kontext der Terrorismusbekämpfung“ NVwZ 2005, S. 275 ff. Einen Überblick über die betroffenen Grundrechte gibt M. Kutscha, „Innere Sicherheit und Verfassung“ (2006), S. 23 (33 ff.). 12 Siehe dazu B. Zabel, „Terrorgefahr und Gesetzgebung“ JR 2009, 453. Kritisch auch SK-StPO-Paeffgen, Vor § 112, Rn. 13, der zu Recht kritisiert, dass die Begriffe der Verbrechensverhütung und der Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten (Verfolgungsvorsorge) in zunehmenden Maße zu verschwimmen drohen, so dass repressive Straftatverfolgung und präventive Straftatvorbeugung nicht mehr sauber geschieden werden. Diese Begriffsverwischung werde „angetrieben von einer von Kriminalitätsund Terrorismusfurcht angestachelten Politikerkaste, die die Bevölkerung in ähnlichen Ängsten wähnt, und, mit Hilfe der Massenmedien, sie auch genau in diese Ängste treibt und wiegt.“ 13 E. Denninger, „Der Präventionsstaat“ KJ 1988, S. 1 (9, 13), zitiert auch bei C. Prittwitz, Strafrecht und Risiko (1993), S. 147. 14 Für einen ersten Überblick zur „Staatsaufgabe Sicherheit“ vgl. H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 11; C. Gusy, Polizeirecht, Rn. 71 ff., W. Hassemer, „Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit“ Vor-
A. Herausforderung des Rechtsstaates durch den internationalen Terrorismus
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hat („Grundrecht auf Sicherheit“)15 oder ihm eine Stellung als „Verfassungswert“ zukommt und wenn ja, in welchem Verhältnis dieser zum „Wert“ der Freiheit steht;16 ob es beispielsweise ein Vorrangverhältnis von grundrechtlichen Abwehrrechten gegen staatliche Eingriffe in personale Freiheitssphären gegenüber staatlichen Schutzpflichten gibt,17 oder ob – umgekehrt – erforderliche Sicherheitsmaßnahmen grundsätzlich auch schwerste Freiheitsbeeinträchtigung rechtfertigen können.18 Im Rahmen des Präventions- und Strafrechts sind es insbesondere die neueren „Sicherheitsgesetze“, die für Diskussionen um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Rechtsstaat sorgen. Die Bedrohung durch den internationalen Terrorismus hat zu einer großen Zahl von Gesetzesänderungen und -neuschaffungen geführt, die teilweise erheblich kritisiert werden;19 beispielhaft seien hier § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), die §§ 129a, 129b und 89a, 89b und 91 StGB sowie die Neuerungen im Bereich nachrichtendienstlicher und polizeilicher Tätigkeiten (u. a. BKA-Gesetz) genannt und kurz erläutert: • Um die Legitimität von § 14 Abs. 3 LuftSiG, der die Streitkräfte ermächtigen sollte, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, im Notfall abzuschießen, wird eine intensive Diskussion geführt. Diese Vorschrift ist zwar inzwischen vom Bundesverfassungsgericht
gänge 2002, S. 10 f.; M. Kutscha, „Innere Sicherheit und Verfassung“ (2006), S. 23 ff.; H. Schulze-Fielitz, „Nach dem 11. September: An den Leistungsgrenzen eines verfassungsstaatlichen Polizeirechts?“ (2003), S. 407 ff. Siehe ferner H.-J. Papier, „Wie der Staat Freiheit und Sicherheit vereint“, Rede auf der Sicherheitskonferenz in Tutzing, veröffentlicht bei Welt Online v. 1.6.2008. 15 Vgl. J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983); G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987). Siehe dazu auch H. Meier, „Ein Grundrecht auf Sicherheit?“ Merkur 2003, S. 174 ff. 16 Dazu W. Brugger, Freiheit und Sicherheit (2004); U. Di Fabio, „Sicherheit in Freiheit“ NJW 2008, 421 ff.; Ch. Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur ,bedingt abwehrbereit?‘ “ JZ 2007, S. 209 ff.; Hoffmann-Riem spricht von „Zielwerten“ Freiheit, Gleichheit und Sicherheit („Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge“ ZRP 2002, S. 497 (498)). 17 In diesem Sinne J. von Bernstorff, „Die Wesensgehalte der Grundrechte und das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit unter dem Grundgesetz“ (2009), S. 40 (42 ff.). 18 So am deutlichsten O. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates (2008). Dazu kritisch H. Bielefeldt, Gefahrenabwehr im demokratischen Rechtsstaat (2008), S. 12 ff. Vgl. zur verfassungsrechtlichen Diskussion auch den 3. Teil der vorliegenden Arbeit (S. 152 ff.). 19 Guter Überblick bei O. Lepsius, „Sicherheit und Freiheit – ein zunehmend asymmetrisches Verhältnis“ (2010), S. 23 (24–27), der im Bereich der Terrorismusbekämpfung besonders auf folgende, der Prävention geschuldete Maßnahmen hinweist: Telefonüberwachung und Rasterfahndung zu präventivpolizeilichen Zwecken, verdeckte Online-Durchsuchungen, automatische Kfz-Kennzeichenerfassung, Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsverbindungsdaten und das neue BKA-Gesetz (alle mit weiteren Hinweisen auf die jeweilige verfassungsrechtliche Problematik).
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Teil 1: Einführung
für nichtig erklärt worden;20 gleichwohl hält die Diskussion um den rechtsstaatlich richtigen Umgang mit solchen und ähnlichen Bedrohungssituationen weiter an:21 Aus präventivrechtlicher Sicht stellt sich die Frage, welche Methoden der Gefahrenabwehr nicht nur effizient, sondern auch rechtsstaatlich (noch) zulässig sind bzw. welches Recht genau anwendbar sein soll.22 Aus Sicht des Strafrechts ist nicht nur problematisch, ob die Situationen vom Notwehr- oder Notstandsrecht erfasst werden, also Täter (beispielsweise die den Abschuss vornehmenden Piloten der Luftwaffe oder deren Befehlsgeber) als gerechtfertigt oder entschuldigt gelten sollen.23 Es ist außerdem ungeklärt, ob solche Notstandssituationen überhaupt legitimerweise Gegenstand gesetzlicher Kodifikationen sein können.24 • Im Bereich des materiellen Strafrechts sind die §§ 129a, 129b StGB (Bildung terroristischer Vereinigungen) inklusive ihrer Änderungen im Rahmen der jüngeren Terrorismusgesetzgebung25 und die mit Gesetz vom 4.8.2009 neu einge20
BVerfG, 1 BvR 357/05 vom 15.2.2006 (BVerfGE 115, 118 ff.). Vgl. dazu u. a. O. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates (2008), S. 25, 26; ders., „Doppelmoral im Rechtssaat?“ Die Politische Meinung (463) 2008, S. 19 ff.; ders., „Zwischen polizeilicher Gefahrenabwehr und militärischer Verteidigung“ ZG 2008, S. 1 ff. (über weite Strecken textidentisch mit Depenheuer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87a, Rn. 1 ff.); E. B. Franz, „Der Bundeswehreinsatz im Inneren und die Tötung Unschuldiger im Kreuzfeuer von Menschenwürde und Recht auf Leben“ Der Staat (45) 2006, S. 501 ff.; T. Hartleb, „Der neue § 14 III LuftSiG und das Grundrecht auf Leben“ NJW 2005, 1397 ff.; Ch. Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur ,bedingt abwehrbereit?‘ “ JZ 2007, S. 209 (214 ff.); J. Isensee, „Leben gegen Leben“ (2007), S. 205 ff.; M. Köhler, „Die objektive Zurechung der Gefahr als Voraussetzung der Eingriffsbefugnis im Defensivnotstand“ (2006), 257 ff.; M. Kutscha, „Innere Sicherheit und Verfassung“ (2006), S. 23 (43); R. Merkel, „§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz: Wann und warum darf der Staat töten?“ JZ 2007, S. 373 ff.; M. Pawlik, „§ 14 III des Luftsicherheitsgesetzes – ein Tabubruch?“ JZ 2004, 1045 ff. 22 Vgl. z. B. F. Schoch, „Abschied vom Polizeirecht des liberalen Rechtsstaats? – Vom Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zu den Terrorismusbekämpfungsgesetzen unserer Tage“ Der Staat 43 (2004), S. 347 ff.; K. Waechter, „Polizeirecht und Kriegsrecht“ JZ 2007, S. 61; W. Hetzer, Rechtsstaat oder Ausnahmezustand? (2008), S. 90–112. 23 Siehe dazu z. B. G. Jakobs, „Kaschierte Ausnahme“ (2010), S. 207 ff. (der sich gegen eine Entschuldigung ausspricht, weil die Lösung des Problems nicht im Bereich des Rechts, sondern im Bereich der Ausnahme zu suchen sei); M. Ladiges, „Die notstandsbedingte Tötung von Unbeteiligten im Fall des § 14 Abs. 3 LuftSiG – ein Plädoyer für die Rechtfertigungslösung“ ZIS 3/2008, S. 129 ff.; A. Sinn, „Tötung Unschuldiger auf Grund § 14 III Luftsicherheitsgesetz – rechtmäßig?“ NStZ 2004, S. 585 ff.; C. Roxin, „Der Abschuss gekaperter Flugzeuge zur Rettung von Menschenleben“ ZIS 6/1011, S. 552 ff. 24 Vgl. zum gesamten Problemkomplex die gründliche Studie von St. Stübinger, „,Not macht erfinderisch‘ – Zur Unterscheidungsvielfalt in der Notstandsdogmatik – am Beispiel der Diskussion um den Abschuss einer sog. ,Terrormaschine‘ “ ZStW 123 (2011), S. 403 ff. 25 Insbesondere durch das 34. StÄG vom 22.8.2002 (BGBl. I S. 3390) und durch die Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates vom 13.6.2002 zur Terrorismusbekämp21
A. Herausforderung des Rechtsstaates durch den internationalen Terrorismus
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führten Straftaten der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten (§§ 89a, 89b und 91 StGB) auf Kritik gestoßen.26 Mit den Änderungen und der Einführung der neuen Straftatbestände sollte das bestehende strafrechtliche Instrumentarium zur Bekämpfung terroristisch motivierter Straftaten ergänzt werden. Die neuen Vorschriften der §§ 89a, 89b und 91 StGB sollen Lücken füllen, die sich dadurch ergaben, dass die §§ 129 ff. StGB allein die Gefährlichkeit umfassen, die von einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung ausgeht: Nur eine von einer Personenmehrheit, einer „Gruppe“ ausgehende Gefahr wird durch die Strafbarkeit des Gründens oder Unterstützens einer solchen Vereinigung abgedeckt, nicht aber die von Tätern, die ohne feste Einbindung in einer hierarchisch aufgebauten Gruppe agieren.27 Diese von Einzeltätern durch eine solche Vorbereitungshandlung ausgehende Gefahr könne aber – so die Gesetzesbegründung28 – ebenso „erheblich und deshalb strafwürdig“ sein, wie die Gefahren, die von einer terroristischen Vereinigung ausgehen.29 Dementsprechend wurden einzelne typische Vorbereitungshandlungen in den Tatbeständen der neuen Vorschriften normiert, wie z. B. die Reise und Ausbildung in sog. „Terrorcamps“, die Unterweisung im Umgang mit terroristischen Tatmitteln wie Waffen oder Sprengstoff, die Vermögensansammlung mit terroristischer Zielrichtung, die Verbreitung und das Anpreisen von terroristischen Anleitungen bzw. die Kontaktaufnahme und -pflege zu terfung und anderer Gesetze mit Gesetz vom 22.12.2003, BGBl. I S. 2836. Zur Entstehungsgeschichte vgl. LK-Krauß, § 129a, S. 385–393; kritisch dazu NK-Ostendorf, §§ 129a, 129b, Rn. 5. Grundsatzkritik zudem bei D. Klesczewski, „Tatbestandsbildung als Feinderklärung?“ (2008), S. 109 ff. Vgl. auch M. Nehring, Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland (2007), S. 420–426 und M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 26–32. 26 Vgl. zu den letzteren schon hier die kritischen Überlegungen der Verfasserin, in: „Zur geplanten Einführung neuer Straftatbestände wegen der Vorbereitung terroristischer Straftaten“ ZIS 9/2008, S. 243 ff. und ihre Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages vom 22. April 2009. Kritisch auch N. Gazeas/Th. Grosse-Wilde/A. Kießling, „Die neuen Tatbestände im Staatsschutzrecht – Versuch einer ersten Auslegung der §§ 89a, 89b und 91 StGB“ NStZ 2009, 593 ff.; H. Radtke/M. Steinsiek, „Bekämpfung des internationalen Terrorismus durch Kriminalisierung von Vorbereitungshandlungen? – Zum Entwurf eines Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren Gewalttaten (Referentenentwurf des BMJ vom 21.4.2008)“ ZIS 9/ 2008, S. 383 ff. Siehe ausführlich zum Ganzen den 4. Teil der vorliegenden Arbeit. 27 Vgl. den Gesetzentwurf und die Gesetzesbegründung vom 25.3.2009 (BT/Dr 16/ 12428), die bei der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Rechtsausschusses vom 26.5.2009 (BT/Dr 16/13145) mit nur redaktionellen Änderungen versehen wurden, inhaltlich aber unverändert geblieben sind. Dort heißt es zur Zielsetzung: „Ziel des Entwurfes ist es daher, bestimmte Fälle im Bereich der Vorbereitungshandlungen von organisatorisch nicht gebundenen Gewalttätern zu erfassen, die bislang strafrechtlich nicht verfolgt werden können.“ 28 Siehe Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz vom 21. April 2008, http://www.bmj.bund.de. 29 Dass schon bzgl. der Strafwürdigkeit der Gefahren, die von den §§ 129 ff. StGB erfasst werden, erhebliche Zweifel bestehen, wird dabei ignoriert.
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Teil 1: Einführung
roristischen Vereinigungen im Internet. Dass damit typisches Straftatvorverhalten in strafbares Unrecht verwandelt wurde, ist das Kernargument der Kritiker, die darin einen Bruch mit dem strafrechtlichen Tat- und Schuldprinzip und damit ein Legitimationsproblem sehen.30 • Auch im Bereich nachrichtendienstlicher und polizeilicher Tätigkeiten ist es zu einer Erweiterung von Eingriffsbefugnissen im Rahmen der Terrorbekämpfung gekommen,31 wobei in jüngerer Zeit insbesondere die Novellierung des BKA-Gesetzes ins Auge fällt.32 Dort sind nun Online-Durchsuchungen (§ 20 BKAG), Telekommunikationsüberwachung (§ 20 Abs. 1 BKAG) und Spähund Lauschangriffe sowie weitere Befugnisse (§§ 20h, 20j, 20o ff. BKAG) neu geregelt, wobei besonders kritisiert wird, dass dadurch die klassischen Grenzen zwischen Gefahrenabwehr und Strafverfolgung zu verschwimmen drohen.33
B. Zur Problematik der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit In dem Bemühen, die durch die neuere Gesetzgebung aufgeworfenen Fragen der Rechtsstaatlichkeit zu klären, werden Freiheit und Sicherheit vielfach als zwei Pole im Rechtsstaat vorgestellt,34 die beide ihre Berechtigung haben, zueinander aber in einem konkurrierenden Verhältnis stehen können. Diese Konkurrenz zeige sich gerade in Fällen staatlicher Sicherheitsmaßnahmen, die Eingriffsermächtigungen gegen jedermann vorsehen, unabhängig davon, ob die Betroffe30
Näheres dazu im 4. Teil der Arbeit, S. 180 ff. bzw. 289 ff. Vgl. schon zu den Änderungen im Jahr 2001 M. Nolte, „Die Anti-Terror-Pakete im Lichte des Verfassungsrechts“ DVBl. 2002, S. 573 ff.; H.-U. Paeffgen, „,Vernachrichtendienstlichung‘ im Strafprozess- (und Polizei-)recht im Jahr 2001“ StV 2002, S. 336 ff.; vgl. zu den Befugnissen im Polizei- und Strafprozessrecht die Beiträge von Roggan (Große Lauschangriffe, Verdeckte Ermittler im Polizei- und Strafprozessrecht, Polizeiliche Videoüberwachung von öffentlichen Plätzen, Freiheitsentziehungen im Polizei- und Strafprozessrecht, Schleierfahndungen und andere Personenkontrollbefugnisse), Gercke (Telekommunikationsüberwachung, Überwachung durch RFID-Technologie), Arzt (Automatisierte KfZ-Kennzeichenerkennung), Sokol (DNA-Analysen) und Hecker (Aufenthalts- und Ausreiseverbote) im 2. Teil des von F. Roggan und M. Kutscha herausgegebenen Handbuchs zum Recht der inneren Sicherheit, S. 105–385. Vgl. zum Geheimdienstrecht ferner F. Roggan, „Neue Aufgaben und Befugnisse im Geheimdienstrecht“ im selben Buch, Teil 4, S. 411 ff. (m.w. N.). 32 Vgl. zur Novelle des BKAG, die am 1.1.2009 in Kraft getreten ist, M. Bäcker, Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalamt (2009). 33 Vgl. B. Zabel, „Terrorgefahr und Gesetzgebung“ JR 2009, 453 ff. Zur „Verwischung der Aufgaben von (polizeilicher sowie verfassungschützerischer/nachrichtendienstlicher) Prävention und Repression“ auch H.-U. Paeffgen, „,Verpolizeilichung‘ des Strafprozesses – Chimäre oder Gefahr“ (1995), S. 13 ff. (Zitat S. 22). 34 Vgl. etwa W. Hassemer, „Zum Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit“ Vorgänge 2002, S. 10 ff. 31
B. Problematik der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit
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nen als „Störer“ im Sinne des Ordnungsrechts, als „Verdächtige“ im Sinne des Strafrechts oder als Unbeteiligte einzuordnen sind. Die beiden Begriffe „Freiheit“ und „Sicherheit“ werden in diesem Zusammenhang üblicherweise getrennt von einander, mitunter sogar als „Antinomie“ 35 entwickelt: Freiheits- und Schutzauftrag des Staates seien nicht gleichgerichtet, sondern unterschiedlich und vielfach sogar gegenläufig.36 Freiheit sei grundsätzlich geeignet, Komplexität und Kontingenz der Umwelt zu steigern, die daraus entstehenden Risiken zu erhöhen und umgekehrt Sicherheit zu mindern, während Sicherheit gerade die Abwesenheit von Risiken darstelle.37 Der Wunsch nach Sicherheit stehe in einer prekären Beziehung zur Freiheit.38 Es gebe jedenfalls eine „strukturelle Diskrepanz“ zwischen einem „rechtsstaatlich entwickelten Rechtssystem und dem Versuch, ein sicherheitspolitisches Präventionssystem in dieses System einzubauen.“ 39 Wird dann auf dieser Basis versucht, beide Pole in einen begründeten Zusammenhang zueinander zu setzen, so ist vielerorts zu lesen, dass es um das Problem der „(schwierigen) rechtsstaatliche(n) Balance von Freiheit und Sicherheit unter den Vorzeichen terroristischer Bedrohung“ 40 gehe. Der Begriff der „Balance“ suggeriert, dass das Verhältnis beider Pole so ausgestaltet sein muss, dass beiden das gleiche Gewicht zukommt, dass also im Falle eines Ungleichgewichts die Minderung des einen um der Maximierung des anderen willen gefordert ist. Diese Verhältnisbestimmung beruht auf einem Verständnis von Recht und Staat, innerhalb dessen das gerechte, freiheitliche Recht (und als Teil davon das gerechte Strafrecht) als Gegenbegriff zur Sicherheit im Staat gedacht und es deshalb für notwendig erachtet wird, beides in „einer Balance“ zu halten.41 Es wä35
Vgl. dazu kritisch J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 1 ff. So Ch. Gusy, „Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse“ VVD StRL Bd. 63 (2004), S. 153 (154, 155). 37 Ebenda, S. 155, 189. 38 W. Hoffmann-Riem, „Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge“ ZRP 2002, S. 497. 39 E. Denninger, „Freiheit durch Sicherheit?“ (2002), S. 83 (91, Hervorhebungen im Original). Teilweise wird der aktuelle Trend auch mit einer „Umverteilung von Freiheit auf Sicherheit“ umschrieben (D. Krauß, „Sicherheitsstaat und Strafverteidigung“ StV 1989, S. 315, 317). 40 Ch. Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur „bedingt abwehrbereit?“ JZ 2007, S. 209 (211, Hervorhebung der Verf.). 41 Vgl. dazu beispielsweise auch M. Baldus, „Freiheit und Sicherheit nach dem 11. September 2001 – Versuch einer Zwischenbilanz“ KritV 88 (2005), S. 364; H.-D. Horn, „Sicherheit und Freiheit durch vorbeugende Verbrechensbekämpfung – Der Rechtsstaat auf der Suche nach dem rechten Maß“ (2003), S. 435 (439, 440); M. Nehring, Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland (2007), S. 444: Eine „Balance zwischen der Respektierung individueller und kollektiver Freiheitssphären und der Gewährung größtmöglicher Sicherheit“ sei notwendig. 36
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Teil 1: Einführung
ren danach Situationen denkbar, in denen das freiheitliche Recht zu weichen und Sicherheitsmaßnahmen Platz zu machen hat, um die notwendige „Balance“ wiederherzustellen: Das Recht der Freiheitsausübung könnte dann durch sicherheitssteigernde Maßnahmen des Staates so lange und so intensiv beschränkt werden, wie es zur (Wieder)Herstellung der „Balance“ erforderlich ist – und vice versa. Mit dieser Vorstellung ist allerdings das fundamentale Problem der fehlenden Bestimmbarkeit desjenigen Zustandes verbunden, der als „ausbalanciert“ gelten soll. Das Problem zeigt sich schon darin, dass auch die beiden „Pole“ selbst, also der „Zustand vollkommener Freiheit“ (welcher Begriff von „Freiheit“ wird zugrunde gelegt? Ist der Zustand „vollkommener“ Freiheit für eine Rechtsgemeinschaft überhaupt denkbar?) oder der „Zustand vollkommener Sicherheit“ (was genau ist mit „Sicherheit“ gemeint? Wie könnte ein „Zustand vollkommener Sicherheit“ aussehen?) nur schwerlich abstrakt bestimmbar sind; hinzu kommt, dass ein „Ausgleich“ der beiden Pole dann nur in der vagen Mitte zweier unbestimmter Extreme liegen kann. Bielefeldt hat dies zutreffend mit dem Begriff eines „haltlosen Relativismus“ umschrieben.42 Soll beispielsweise eine bestimmte Sicherheits-Maßnahme des Staates (z. B. eine Online-Durchsuchung nach § 20k BKAG) auf ihre „Balancetauglichkeit“ überprüft werden, so müsste nach der Vorstellung von der „Ausbalancierung“ der Pole die mit ihr verbundene Freiheitsbeeinträchtigung darauf hin überprüft werden, ob sie ausreichend Sicherheit bringt, um den Freiheitseingriff „aufzuwiegen“ (ob dies quantitativ oder qualitativ zu verstehen ist, wäre dann eine weitere Frage). Der Maßstab dafür, wann eine solche Kongruenz besteht, ist nicht zu ermitteln, weil mit Freiheit und Sicherheit Konzepte angesprochen sind, die nicht in dieser Form quantifizierbar sind: Am Beispiel: Wie viel „Sicherheit“ muss durch die konkrete Maßnahme erreicht werden, um den Eingriff in die Privatsphäre des Betroffenen zu rechtfertigen?43 Das einzige Kriterium, das die Qualität der gewünschten Balance näher umschreibt, ist die Formel vom „Soviel-von-beidem-wie-möglich“ 44, wobei das Merkmal des „Möglichen“ seinerseits inhaltlich ungeklärt ist. Mit „möglich“ kann einerseits das faktisch Mögliche gemeint sein: Dann enthält das genannte Kriterium überhaupt kein normatives Gewicht, sondern bemisst sich nur am real „Machbaren“ der Freiheits- und Sicherheitsgewährleistung (beispielsweise an den technischen, organisatorischen oder wirtschaftlichen Umsetzungsmöglichkeiten). Ist andererseits das (verfassungs-)rechtlich Mögliche gemeint, so wäre das Ergeb42
H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 5. Ähnlich kritisch auch O. Lepsius, „Sicherheit und Freiheit – ein zunehmend asymmetrisches Verhältnis“ (2010), S. 23 (33–35) und ders., „Freiheit, Sicherheit und Terror“ Leviathan 32 (2004), S. 64 (87). 44 Vgl. dazu beispielsweise die schon oben (Fn. 8) zitierte Formulierung von Denninger, der „das maximale Maß an Freiheit durch eine optimale Gewährleistung von Sicherheit“ erreichen will. 43
B. Problematik der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit
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nis einer der Formel entsprechenden rechtlichen Überprüfung gleichzeitig Kriterium und Zielpunkt der „Balance“: Das „Soviel-von-beidem-wie-rechtlich-möglich“ hätte als Bestandteil schon das eigentlich erst durch die Ausbalancierung zu erzielende Ergebnis: Nämlich die rechtliche Zulässigkeit der Maßnahme, die zunächst unabhängig von jeder Ausbalancierung ermittelt werden müsste, um dann in der Formel verwendet zu werden und ein „Soviel-wie-(rechtlich)-möglich“ hervorbringen zu können. Dies spricht dafür, dass die beiden Aspekte „Freiheit“ und „Sicherheit“ nicht äußerlich aneinander gehalten und „abgewogen“ werden können, sondern beide als integrale Momente schon im Rechtsbegriff selbst enthalten sein müssen. Das Denken vom Ausgleich zweier gegeneinander stehender Pole her ist deshalb von Grund auf in Frage zu stellen.45 Dies wird beispielsweise auch von Di Fabio so gesehen, der meint, dass Freiheit und Sicherheit keine „Antipoden“ seien, keine „unversöhnlichen Widersprüche, im Grunde nicht einmal überhaupt Widerspruch. Sie stehen in einem Komplementärverhältnis: Sie setzen sich wechselseitig voraus und stärken einander, wenn beide angemessen zur Entfaltung gelangen.“ 46 Damit ist eine Gegenthese zu der Behauptung aufgestellt, dass Freiheit und Sicherheit im Staat in eine „Balance“ gebracht werden müssen. Sie lautet, dass „Freiheit“ und „Sicherheit“ nicht als sich gegenseitig ausschließende Konzepte richtig begriffen sind, sondern nur als sich gegenseitig ergänzende und wechselseitig aufeinander verweisende. Um eine solche These zu stützen, ist es notwendig, das Verhältnis von „Freiheit“ und „Sicherheit“ von Grund auf zu entwickeln. Dies ist im Rahmen eines positiv-verfassungsrechtlichen Verständnisses allein jedoch kaum erschöpfend zu leisten. Denn das Konzept der Freiheit als Grundbestimmung des Rechtssubjekts, einer daraus entwickelten freiheitlichen Rechtsgemeinschaft und des Staates als Garanten freiheitlichen Rechts sowie die Bedeutung der Sicherung freiheitlichen Rechts durch staatliche Institutionen sind dem Verfassungsrecht vorgängig, liegen ihm zugrunde. Der Gedankengang hat deshalb anzusetzen an der Freiheit des einzelnen Subjekts und ist von dort aus so zu entwickeln, dass Freiheit als die Basis des Rechts und damit auch des Staates wirksam werden kann. Es ist dabei auszuweisen, warum dies kein beliebiger, sondern im Gegenteil sogar der einzig zutreffende gedankliche Ansatzpunkt ist. Denkbar wäre es schließlich auch, den Gedankengang nicht mit der Freiheit, sondern mit der Sicherheit zu beginnen – so wie es in großer historischer Leistung grundlegend Thomas Hobbes getan hat.47 Zu klären ist weiterhin, inwieweit wirklich gewordene Freiheit und Sicher45
Vgl. dazu auch H. Bielefeldt, Das Folterverbot im Rechtsstaat (2004), S. 11. U. Di Fabio, „Sicherheit in Freiheit“ NJW 2008, S. 421 (422). Für ein Verhältnis der Wechselbezüglichkeit (auf Spinoza Bezug nehmend) siehe auch H.-J. Papier, „Wie der Staat Freiheit und Sicherheit vereint“ Welt online, 1. Juni 2008. 47 Vgl. dazu den 2. Teil der vorliegenden Arbeit, S. 56 ff. 46
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Teil 1: Einführung
heit in einer Wechselbeziehung zueinander stehen48 und ob ein solches wechselseitiges Verhältnis notwendig auch Auswirkungen auf das Verständnis vom Strafrecht in einer Gesellschaft hat.
C. Zur wachsenden Bedeutung des Sicherheitsaspekts im gegenwärtigen Strafrecht Die Schwierigkeiten bei der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit betreffen nicht allein das Verfassungs- und Ordnungsrecht, sondern in besonderem Maß auch das Strafrecht: Der beschriebene Trend der Entwicklung vom Rechtsstaat zu einem Präventionsstaat ist auch und gerade im Bereich des Strafrechts zu beobachten;49 nicht zu Unrecht ist die Rede von der „Verpolizeilichung des Strafrechts unter der Flagge ,Sicherheit durch Strafrecht‘“50 und von „Grenzen des Strafrechts bei der Gefahrprävention“ 51. Der Trend wird schon seit Ende der 1980er Jahre in der strafrechtswissenschaftlichen Literatur beobachtet und kritisiert.52 Lisken beispielsweise nennt schon 1994 das Problem besonders deutlich beim Namen: „Die begonnene und weiter geplante Umfunktionierung des Strafgesetzbuches vom Grund zum bloßen Anlaß für ,präventive‘ Ermittlungsbefugnisse endet daher zwangsläufig in einer Selbstaufhebung des Strafrechts und damit auch der Strafprozessordnung (. . .).“ 53
Nach den Anschlägen auf das World-Trade-Center in New York im Jahr 2001 hat sich dieser Trend zur „Sicherheitsschaffung durch Strafrecht“ allerdings noch einmal verstärkt.54 Die Gesetzgebung hat auf die neue Bedrohungslage reagiert, 48 Das Fundament für ein Rechtslehre, die dieses Verhältnis von Grund auf freiheitsgesetzlich und in sich konsistent entwickelt, haben Immanuel Kant und in der Folge Georg Wilhem Friedrich Hegel gelegt. Vgl. dazu die S. 76 ff. und 114 ff. im 2. Teil dieser Arbeit. 49 Siehe dazu auch D. Lammer, „Wie weit reicht das Sicherheitsversprechen des Staates?“ (2007), S. 315 (318 ff.). 50 M. Kahlo, „,Die Weisheit der absoluten Theorien‘“ (2010), S. 383 (387, Fn. 21). 51 B. Heinrich, „Die Grenzen des Strafrechts bei der Gefahrprävention“ ZStW 121 (2009), S. 94 ff.; vgl. auch B. Weißer, „Über den Umgang des Strafrechts mit terroristischen Bedrohungslagen“ ZStW 121 (2009), S. 131 ff. 52 Siehe beispielsweise P.-A. Albrecht, „Das Strafrecht auf dem Weg vom liberalen Rechtsstaat zum sozialen Interventionsstaat“ KritV 1988, S. 182 ff.; F. Dencker, „Gefährlichkeitsvermutung statt Tatschuld? – Tendenzen der neueren Strafrechtsentwicklung“ StV 1988, S. 262 ff.; W. Naucke, „Konturen eines nach-präventiven Strafrechts“ KritV 1999, S. 336 (342); F.-Ch. Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht (1985). 53 H. Lisken, „Vorfeldeingriffe im Bereich der ,Organisierten Kriminalität‘ – Gemeinsame Aufgabe von Verfassungsschutz und Polizei?“ ZRP 1994, S. 264 (268); vgl. auch ders., „,Sicherheit‘ durch ,Kriminalitätsbekämpfung‘ “ ZRP 1994, S. 49 ff. 54 Siehe dazu L. K. Sander, „Menschenwürde und ,Exklusion‘“ (2007), S. 253 (257, 258).
C. Bedeutung des Sicherheitsaspekts im Strafrecht
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indem sie nicht nur die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden und der Geheimdienste ausgeweitet hat, sondern auch das materielle Strafrecht, insbesondere die §§ 129 ff. und 89a, 89b und 91 StGB.55 Prittwitz hat diese Entwicklung als eine „Aufrüstung der Kriminalpolitik“ und als „Expansion von Strafrecht und Strafen“ bezeichnet.56 Dieser Entwicklung bei der strafrechtlichen Gesetzgebung57 entspricht eine gegenwärtig diskutierte „Neuorientierung“ innerhalb der Strafrechtswissenschaft: Einige Strafrechtswissenschaftler/innen wenden sich ab von einem „klassischen Strafrecht“, das den „rechtsstaatlichen Prinzipien verpflichtet“ und „auf die gerechte Ahndung gewichtiger Freiheitsverletzungen“ gerichtet ist, und hin zu einem auf die „Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen abzielenden modernen Strafrecht“.58 Gegenstand dieses „modernen Strafrechts“ soll es sein, effektiv soziale bzw. gesellschaftliche Probleme zu bekämpfen, schnell und flexibel auf sich wandelnde Risikopotentiale zu reagieren und drohende Gefahren schon im Vorfeld zu bannen. Das „moderne Strafrecht“ soll also über die klassische Aufgabe des Strafrechts (die gerechte Ahndung von Unrecht) hinaus der Unrechtsverhinderung bzw. -abwehr dienen.59 Diesem Trend entsprechend stehen dem „klassischen“ Schuldstrafrecht und seinen typischen Unrechtsformen in der gegenwärtigen Strafrechtspraxis und -theorie immer häufiger Rechtsschöpfungen gegen55 Einen Überblick über die Gesetzesänderungen nach dem 11. September 2001 gibt M. Baldus, „Freiheit und Sicherheit nach dem 11. September 2001 – Versuch einer Zwischenbilanz“ KritV 2005, S. 364 (366 ff.). Vgl. zudem oben im Text unter A. 56 C. Prittwitz, „,Feinde ringsum‘? Zur begrenzten Kompatibilität von Sicherheit und Freiheit“ (2007), S. 225 (226). 57 Eine Auflistung strafrechtlicher „Bekämpfungsgesetzgebung“ findet sich bei V. Götz, „Innere Sicherheit“ (2006), § 85, Rn. 14, Fn. 47 (u. a.: Gesetz zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität v. 15.5.1986, Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus v. 19.12.1986, Gesetz zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Formen der Organisierten Kriminalität v. 15.7.1992, Terrorismusbekämpfungsgesetz v. 9.1. 2002). 58 Formulierung von W. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik ,moderner‘ Gefährdungsdelikte (2000), S. 30. Als typische Beispiele für die Regelungsmaterie dieses „neuen Strafrechtstyps“ werden strafrechtliche Normen im Umwelt-, Wirtschafts- und Betäubungsmittelrecht sowie in der Terrorismusbekämpfung genannt. Vgl. dazu auch R. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht (2002), S. 2 und U. Sieber, „Legitimation und Grenzen von Gefährdungsdelikten im Vorfeld von terroristischer Gewalt – Eine Analyse der Vorfeldtatbestände im ,Entwurf eines Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten‘ “ NStZ 2009, S. 353 (355). 59 Vgl. dazu die von Hassemer benannten Begriffsmerkmale eines „modernen“ Strafrechts: Strafrechtliches Denken und Handeln wende sich ab von metaphysischen Konzepten und verschreibe sich einer empirischen Methodologie; es realisiere seine Ausrichtung auf Empirie insbesondere im Konzept der Folgenorientierung; es favorisiere deshalb eher präventive als vergeltungstheoretische Konzepte und es versuche, den Strafgesetzgeber zu binden und seine Entscheidungen an Prinzipien wie etwa dem Rechtsgüterschutz kontrollierbar zu machen. („Kennzeichen und Krisen des Modernen Strafrechts“ ZRP 1992, S. 378 (379)).
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Teil 1: Einführung
über, die offenkundig den Sicherheitsbedürfnissen der heutigen „Risikogesellschaft“ 60 entspringen und ihren Schwerpunkt in der Prävention haben.61
I. Die Spannung zwischen den Prinzipien des Schuldstrafrechts und dem modernen Effizienz- und Präventivgedanken im Strafrecht Da mit dieser „Neuorientierung“ allerdings eine nur sehr unzulänglich durchdachte Aufgabe der über Jahrhunderte entwickelten Prinzipien eines auf personaler Schuld beruhenden Strafrechts einhergeht,62 ist eine Grundlagendiskussion über das „richtige“ Verständnis von Gefahrenabwehr und Strafe entbrannt. Die durch die „moderne“ Richtung der Strafrechtswissenschaft auftretende Problematik hat W. Hassemer Mitte des Jahres 2006 folgendermaßen beschrieben: „Das moderne, präventive Strafrecht entwickelt sich zu einem Gefahrenabwehrrecht. Dieser Trend ist stabil; er antwortet auf normative Desorientierung, Verbrechensfurcht und Kontrollbedürfnisse der Risikogesellschaft. Es kommt jetzt darauf an, diesen Trend ernst zu nehmen und über ein rechtsstaatliches Sicherheitsstrafrecht nachzudenken. Dieses Recht muss die grundlegenden Traditionen des Strafrechts bewahren: den Bezug auf die Person, die Angemessenheit einer Antwort auf Unrecht und Schuld, die Ziele von Schutz und Schonung. Nur in diesem Rahmen gibt es Sicherheit durch Strafrecht.“ 63
60 Vgl. zur strafrechtlichen Diskussion um die sog. „Risikogesellschaft“ z. B. E. Hilgendorf, „Gibt es ein ,Strafrecht der Risikogesellschaft‘? – Ein Überblick –“ NStZ 1993, S. 10 ff.; F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge (1991); U. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989); L. Kuhlen, „Zum Strafrecht der Risikogesellschaft“ GA 1994, S. 347 ff.; C. Prittwitz, Strafrecht und Risiko (1993). 61 Besonders deutlich zeigt sich dieser Trend auch im Bereich der Europäisierung des Strafverfahrens, wie es U. Murmann richtig beobachtet und zu Recht kritisiert („Über den Zweck des Strafprozesses“ GA 2004, S. 65 (insbesondere 83 ff.)). 62 Vgl. zur strafrechtsgeschichtlichen Entwicklung der ordnungspolitischen Funktion des Strafrechts die gründliche Studie von B. Zabel, „Die ordnungspolitische Funktion des Strafrechts“ ZStW 120 (2008), S. 68 ff. Siehe zudem zur Bedeutsamkeit des strafrechtlichen Schuldprinzips aus verfassungsrechtlicher Sicht, Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 103 Abs. 2, Rn. 163–165 und H. Radtke, „Schuldgrundsatz und Sicherungsverwahrung“ GA 2011, S. 636 (640 ff. m.w. N.). Zu einer Entwicklung, die zum „Verlust der kritischen Kapazität der Strafrechtsdogmatik“ führt und innerhalb derer der „sogenannte ,Kampf gegen den Terrorismus‘, wie ein magisches Prinzip, allen und jeden Widerstand ein(stampft)“ siehe F. R. D’Avila, „Freiheit und Sicherheit im Strafrecht“ (2011), S. 47 (50). 63 W. Hassemer, „Sicherheit durch Strafrecht“, HRRS 4/2006, S. 130 (143). An anderer Stelle schreibt er: „Sicherheitsbedürfnisse einer durch vielerlei verunsicherten Gesellschaft ergreifen auch das Strafrecht.“ Es stelle sich die Frage, „was das Strafrecht zum Paradigma von Prävention und Sicherheit theoretisch und praktisch beizutragen hat“. Die Dogmatik eines rechtsstaatlichen Sicherheitsstrafrechts stehe jedenfalls noch aus. (W. Hassemer, „Strafrecht, Prävention, Vergeltung“ ZIS 7/2006, S. 271, 272).
C. Bedeutung des Sicherheitsaspekts im Strafrecht
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Diese Einschätzung gibt Anlass, über den von Hassemer nur schlagwortartig aufgeworfenen Zusammenhang von Prävention und Strafe, über den von ihm beobachteten und für „stabil“ befundenen Trend der Entwicklung des Strafrechts zu einem Gefahrenabwehrrecht sowie über seinen Begriff des „rechtsstaatlichen Sicherheitsstrafrechts“ nachzudenken. In der Offenheit und relativen Unverbindlichkeit der Formulierungen Hassemers zeigt sich sehr eindrucksvoll, wie schwierig es zu sein scheint, die gegenwärtige Lage des Strafrechts präzise zu umschreiben und sicher zu beurteilen. Zutreffend ist gewiss der Grundzug der Aussage: Die Bedeutung der Frage der Sicherheit im strafrechtlichen Kontext wächst und ihre grundsätzliche Bewältigung steht noch aus. Hassemer ist auch insoweit zuzustimmen, als er einen Lösungsansatz für diese neuen Herausforderungen nicht jenseits, sondern gerade innerhalb der grundlegenden Traditionen des Strafrechts sucht. Es gelte, „den Bezug auf die Person, die Angemessenheit einer Antwort auf Unrecht und Schuld“ zu bewahren. Der damit angesprochene Zusammenhang betrifft das Grundverständnis des Strafrechts als Schuldstrafrecht: Freie Bürger im Rechtsstaat dürfen wegen von ihnen zu verantwortendem Unrecht durch die Strafe zur Rechenschaft gezogen werden. Der Grund für diese Strafbefugnis liegt darin, dass sie selbst sich zurechenbar und schuldhaft durch die Straftat ins Unrecht gesetzt haben und nun in der Strafe die Konsequenz ihrer Handlungen tragen müssen: nämlich die Notwendigkeit, das durch sie verletzte, ursprünglich bestehende Rechtsverhältnis wiederherzustellen.64 Vor diesem Hintergrund muss der übrige Teil der Aussage Hassemers verwundern. Es ist bei ihm die Rede von einem „modernen, präventiven Strafrecht“. Die begriffliche Verbindung von „Prävention“, d. h. „Vorbeugung gegen künftige Kriminalität“ 65, und „Strafe“, d. h. „den Ausgleich einer mit Strafe bedrohten Rechtsverletzung durch Auferlegung eines der Schwere von Unrecht und Schuld angemessenen Übels“ 66, ist schon im ersten Zugang alles andere als selbstver64 Vgl. zu dieser Begründung des Strafrechts zunächst G. W. F. Hegel, RPh., §§ 90– 103 (S. 178–198). Dazu K. Seelmann, „Hegels Straftheorie in seinen ,Grundlinien der Philosophie des Rechts‘“ JuS 1979, S. 687, insbes. S. 690: „Ist das Verbrechen die Störung einer Anerkennungsbeziehung zweier Selbstbewußtseine, so kann die Verletzung nur dadurch ,vernichtet‘ werden, dass die Beziehung der Anerkennung wiederhergestellt wird, womit freilich qua Wiederherstellung nicht (nur) der ursprüngliche Zustand, sondern zugleich dessen Bewährung – Hegels ,Wirklichkeit des Rechts‘ – entsteht.“ Vgl. ferner M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 37: „Rechtsgrund der Strafe ist die notwendige ausgleichende Wiederherstellung des durch die Tat in seiner Allgemeingültigkeit verletzten Rechtsverhältnisses in schlüssiger Negation/Aufhebung des Verbrechens (. . .).“ Derselbe, Der Begriff der Strafe (1986), insbesondere S. 50 ff.; ders., „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“, in: Festschrift für Karl Lackner (1987), S. 11 ff.; K. Seelmann, „Wechselseitige Anerkennung und Unrecht“ ARSP 79 (1993), S. 228 (230); W. Schild, „Ende und Zukunft des Strafrechts“ ARSP 70 (1984), S. 71 ff. 65 G. Köbler, Etymologisches Rechtswörterbuch (1995), Stichwort „Prävention“. 66 G. Köbler, Etymologisches Rechtswörterbuch (1995), Stichwort „Strafe“.
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Teil 1: Einführung
ständlich: Die Prävention zielt ab auf das Verhindern zukünftiger Straftaten, das Strafrecht als Schuldstrafrecht darauf, begangenes Unrecht auszugleichen. Ein „präventives Strafrecht“ scheint daher schon begrifflich in sich widersprüchlich zu sein.67 Unklar ist zudem, warum es überhaupt bei einem ohnehin präventiv gedachten Strafrecht eine Entwicklung hin zum Gefahrenabwehrrecht geben kann und warum eine solche Entwicklung Anlass gibt, über ihre Rechtsstaatlichkeit nachzudenken: Wenn es tatsächlich das Charakteristikum des Strafrechts (in der „Moderne“) sein sollte, Straftaten vorzubeugen, dann ist es mit dieser Charakterisierung schon als ein besonderer Fall der Gefahrenabwehr gedacht und muss sich gar nicht mehr zu ihr hin entwickeln.68 Offen bleibt bei den Ausführungen Hassemers auch, wo bei diesem „Trend zur Gefahrenabwehr“ rechtsstaat67 Diesen Widerspruch verkennen die Vertreter der sog. präventiven Straftheorien, soweit sie in der Verhinderung künftiger Straftaten (entweder des Täters selbst – dann Spezialprävention – oder der Allgemeinheit – dann Generalprävention) nicht nur eine intendierte Wirkung der Strafe, sondern sogar ihren Grund sehen. Näher dazu in Auseinandersetzung mit dem Ansatz Hassemers auch M. Kahlo, „Die Weisheit der absoluten Theorien“ (2010), S. 383 ff. Den Widerspruch in zwei Sätzen unfreiwillig (weil unbewusst) zusammenfassend V. Götz, „Innere Sicherheit“ (2006), § 85, Rn. 5: „Der Beitrag, den die Strafjustiz dazu (d. h. zur Gewährleistung innerer Sicherheit durch Bekämpfung der Kriminalität, Verf.) leistet, ist auf den Präventivgedanken und die Präventivfunktionen von Strafrecht und Strafrechtspflege zurückzuführen. (Dagegen bleibt das Strafen in Anwendung des Schuldgrundsatzes als persönliches Zur-Verantwortung-Ziehen für begangenes Unrecht einer Funktionalisierung für die Zwecke der inneren Sicherheit entzogen.)“. 68 So zutreffend auch R. Ogorek, die aus strafrechtshistorischer Sicht die Entwicklung vom repressiven zum ,präventiven‘ Strafrecht nachzeichnet: „Präventive Strafzwecke verheißen nämlich etwas, was dem repressiven Strafrecht völlig fremd war (. . .): Prävention meint Verhinderung von Straftaten – und damit einen Zugewinn an Sicherheit. Durch das Anstreben heilsamer Folgen für Täter und Gesellschaft hat sich das Strafrecht unter der Hand vom reinen Sanktionsrecht zum Kriminalitätsbekämpfungsrecht entwickelt, in dessen Folge neue, vorfeldbezogene Straftatbestände ,erfunden‘ wurden. Das präventive Strafrecht verwischt so die Grenze zwischen dem Polizeirecht als präventivem Rechtsgüterschutz und dem Strafrecht als repressivem – wenngleich (spezial- oder general-)präventiv wirkendem – Rechtsgüterschutz, ohne freilich das Versprechen zu halten, mit dem es angetreten ist: denn auch unter dem neu definierten Verbrechensbekämpfungsrecht ist Kriminalität nicht weniger und Sicherheit nicht greifbarer geworden.“ („Wie wehrhaft ist der Staat?“ (2007), S. 203 (213). Vgl. dazu ferner schon R. v. Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechts-Polizei (1866), S. 48: „Nicht minder unklar und verkehrt ist es (. . .), die ganze strafende Gerechtigkeit in der Präventiv-Justiz aufgehen zu lassen. So zahlreich und berühmt die Namen der Anhänger dieser Meinung sind (Fußnote mit Verweis u. a. auf Grolmann, Grundsätze der KriminalRechtswissenschaft (1798), S. 105 und Klein, Grundsätze des Gemeinen Deutschen und Preußischen Peinlichen Rechts (1796), S. 37 f., Anm. der Verf.), so ist doch so viel wohl allerseits itzt anerkannt, dass die Zufügung einer Strafe wegen einer begangenen Rechtsstörung zunächst und wesentlich die Wiederausgleichung des gestörten Rechtsstandes, namentlich auch die Wiedergutmachung des durch ein gelungenes Verbrechen zugefügten idealen Schadens beabsichtigt. Dieß aber ist nicht Vorbeugung, sondern Wiederherstellung. Und wenn die mittelbare und zufällige Folge der Strafe Abhaltung des Gestraften oder Anderer von neuen Verletzungen ist, so verliert dadurch jene Rechtshandlung ihren hauptsächlichen und wesentlichen Charakter nicht.“
C. Bedeutung des Sicherheitsaspekts im Strafrecht
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lich das Problem liegen soll: Ist das „moderne, präventive Strafrecht“ rechtsstaatlich unbedenklich – dies stellt Hassemer grundsätzlich nicht in Frage69 –, dann ist unausgewiesen, warum es dies als Teil der Gefahrenabwehr nicht mehr sein soll. Auch die nähere Beschreibung des „stabilen Trends“, der auf „normative Desorientierung, Verbrechensfurcht und Kontrollbedürfnisse der Risikogesellschaft“ „antworte“, macht dies nicht deutlich. Warum sollte der stabile Trend zum Gefahrenabwehrrecht beunruhigen? Ist dieses selbst vielleicht aus der Sicht Hassemers mit den Prinzipien des Rechtsstaats unvereinbar? Oder liegt das Problem allein in der (zu engen?) Verbindung von Gefahrenabwehr und Strafrecht? Was könnte sich aber dann hinter dem Begriff eines „rechtsstaatlichen Sicherheitsstrafrechts“ verbergen? Wenn das Attribut „rechtsstaatlich“ nur einem an gerechtem Ausgleich des Unrechts orientierten Schuldstrafrecht zukommt und wenn gleichzeitig die direkte Verbindung der Begriffe „Sicherheit“ und „Strafrecht“ aus letzterem ein reines Gefahrenabwehrrecht macht, dann strebt Hassemer mit seinem „rechtsstaatlichen Sicherheitsstrafrecht“ die Quadratur des Kreises an.70 Die Lösung des Problems der „Sicherheit durch Strafrecht“ kann unmöglich in dieser unvermittelten Kombination zweier sich begrifflich ausschließender Konzepte liegen. Die Konfusion ist nun aber nicht allein Hassemer anzulasten. Er nimmt mit seiner Beobachtung vielmehr nur auf, was in der Sache selbst längst schon angelegt ist. Worauf er anspielt, wenn er vom „präventiven Strafrecht“ als „modernem Strafrecht“ spricht, ist die schon eingangs benannte Tendenz der Neuorientierung einiger Vertreter der gegenwärtigen Strafrechtswissenschaft, die sich von einem „klassischen Strafrecht“ abwenden und sich einem auf die „Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen abzielenden modernen Strafrecht“ 71 zuwenden.72 Die sich damit herauskristallisierenden Alternativpositionen hat Wohlers folgendermaßen zusammengefasst: „Entweder müssen die einer effektiven Bekämpfung sozialer bzw. gesellschaftlicher Probleme hinderlichen tradierten Regeln der Zurechnung strafrechtlicher Verantwort69
Vgl. NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 105. So auch P.-A. Albrecht, „Vom Präventionsstaat zur Sicherheitsgesellschaft – Wege kontinuierlicher Erosion des Rechts –“ (2010), S. 3 (15). 71 A. a. O. (Fn. 58). 72 Vgl. zu dieser Entwicklung auch W. Frisch, „Konzepte der Strafe und Entwicklungen des Strafrechts in Europa“ GA 2009, S. 385 ff. und NK-Paeffgen, Vor §§ 32 ff., Rn. 223a, der schreibt, man habe „keineswegs ,unter der Hand‘ ein ursprünglich schuldstrafrechtlich konzipiertes Strafrecht zu einem präventions-orientierten (materiellen und formellen) Sicherheitsrecht (. . .) mutieren lassen, in dem sich starke Züge von Polizeiund Geheimdienstrecht in dogmatisch dunkel bleibender Weise mit dem alten Kernstrafrecht mischen. Eine entsprechende Entflechtung der Gefahrenabwehr-Normen von dem Letztgenannten – vor allem aber (verfassungsrechtlich betrachtet) die Schaffung einer grundrechtlich-kompetentiellen Basis – täte dringend Not!“ (Hervorhebungen und Fußnote weggelassen). Siehe zudem mit kritischer Intention Fischer, Einleitung, Rn. 12– 12c. 70
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Teil 1: Einführung lichkeit so modifiziert werden, dass die überkommenen Muster der Zurechnung personaler Verantwortlichkeit durch Zurechnungsstrukturen ersetzt werden, die es ermöglichen, vorausschauend, schnell und flexibel auf sich wandelnde Risikopotentiale zu reagieren; oder es muss anerkannt werden, dass das Strafrecht ein seinem Wesen nach zur prospektiven Beeinflussung gesellschaftlicher Entwicklungen und Problemlagen weitgehend ungeeignetes Instrument ist, was dann allerdings ein Argument dafür sein könnte, den Einsatz strafrechtlicher Instrumente von vorneherein auf einen relativ engen Bereich der vergeltenden Reaktion bei Beeinträchtigungen gewichtiger Freiheitsinteressen zu beschränken bzw. zurückzuführen.“ 73
Die „moderne“ Richtung der Strafrechtswissenschaft zeichnet sich danach durch drei Grundaussagen aus: Erstens sei die personale Verantwortlichkeit für strafwürdiges Unrecht als notwendige Bedingung für die Verhängung von Strafe einer „effektiven Bekämpfung sozialer bzw. gesellschaftlicher Probleme“ hinderlich. Zweitens müsse das Strafrecht, um „effektiv“ zu sein, dieses Grundprinzip der Zurechnung zugunsten anderer – an dieser Stelle nicht näher benannter – „Zurechnungsstrukturen“ 74 überwinden. Drittens müssten solche „Zurechnungsstrukturen“ die schnelle und flexible Reaktion auf „Risikopotentiale“ ermöglichen.75 „Modern“ ist diese Position wohl durch ihr Bekenntnis zu einer Ausrichtung des Strafrechts an Kriterien wie Effizienz, Schnelligkeit und Flexibilität, – Kriterien, die zwar (vor allem) im Bereich der Ökonomik76 längst anerkannt und
73 W. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik ,moderner‘ Gefährdungsdelikte (2000), S. 46. 74 R. Hefendehl spricht im Zusammenhang mit seiner „Theorie der kollektiven Rechtsgüter“ z. B. von „materiellen Äquivalenten für das Fehlen realer Verletzungskausalität“ (Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht (2002), S. 182). Vgl. auch ders., „Über die Pönalisierung des Neutralen – zur Sicherheit“ (2010), S. 89 ff. 75 Vgl. dazu auch I. Anastasopoulou, Deliktstypen (2005), S. 218 ff. Zu Kriminalisierungen in einer „Risikogesellschaft“ siehe schon C. Prittwitz, Strafrecht und Risiko (1993), S. 174 ff. (insbesondere S. 176, 177), der als typische Merkmale moderner Straftaten u. a. die folgenden aufzählt: „Das neukriminalisierte Verhalten“ sei „selten gewalttätig“, aber seine Auswirkungen stünden „denen gewalttätigen Verhaltens in nichts nach“, es widerspreche „selten der (verhaltensrelevanten) Nächsten-Ethik, aber oft der (weniger verhaltensprägenden) Fernmoral“, das Verhalten sei „subjektiv eher als ,sorglos‘ denn als ,böse‘ zu kennzeichnen“, dem entspreche „im Objektiven die Vorverlagerung des Taterfolgs von der Verletzung auf die Gefährdung“; ferner werde das Verhalten oft erst „durch kumulatives Auftreten“ gefährlich und es handle sich eher um „systemkonformes als (um) abweichendes Verhalten“. Nimmt man diese Kriterien zusammen, so zeichnet sich als „modernes“ Strafunrecht Erstaunliches ab: Strafwürdiges Verhalten ist dann nicht böse, sondern nur sorglos, objektiv gewaltfrei, tangiert den Nächsten aktuell nicht und gefährdet auch nur potentiell, dies auch nur unter Zusammenwirken mit anderen Gefahrenquellen, und ist zudem auch noch sozialkonform. Als Beispiel für solches „modernes Strafunrecht“ könnte das Radeln auf einem seitlich begrenzten, dicht befahrenen Fahrradweg dienen: Es ist sorglos, gewaltfrei, sozialkonform, verletzt niemanden, birgt aber im Zusammenwirken mit anderen Radlern das Risiko der Kollision. 76 Siehe zum Begriff der Ökonomik H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (2005), S. 3, Fn. 6: „Die Ökonomik ist eine allgemeine Theorie menschlichen Verhaltens unter dem Aspekt der Knappheit. Kennzeichnend für diese Theorie ist die An-
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gängig sind, deren Gültigkeit als Qualitätsmaßstab des (Straf-)Rechts aber erst ausgewiesen werden müsste.77 Bezugspunkt der Effizienz ist offenbar die Tauglichkeit zur „präventiven Beeinflussung bzw. Steuerung gesellschaftlicher Entwicklungen“; das Strafrecht soll „als Instrument der Sozialkontrolle“ dienen.78 Hätte das Strafrecht diese Funktion, so wäre es sogar „sinnlos, erst auf bereits eingetretene Beeinträchtigungen von Rechtsgütern mit Strafe zu reagieren, statt dafür zu sorgen, dass es gar nicht erst zu Rechtsgutsverletzungen kommt. Aufgabe des Strafrechts müsste es (dann) sein, das Verhalten der Rechtssubjekte so zu beeinflussen, dass bereits potentielle Gefahrensituationen ausgeschlossen werden.“ 79 Das nach der oben benannten Terminologie als „klassisch“ bezeichnete Strafrecht zielt dagegen ab auf „die Gewährleistung bürgerlicher Freiheit“ 80 und beschränkt sich „auf die Repression schweren Unrechts an der Freiheit der Person und der Gemeinschaft. Konkret: das Kriminalrecht sieht die Repression der Gewaltdelikte gegen die Person, die Freiheit und das Vermögen und die gewaltsame Verunsicherung der Grundlagen der individuellen Freiheit, nämlich Staat und Gesellschaft, als seine Zuständigkeit an. Alle anderen Sanktionsnotwendigkeiten, die in einem Gemeinwesen verspürt werden mögen, gehören nach diesem Konzept in das Polizeirecht.“ 81 Kernaufgabe und gleichzeitig Legitimitätsgrund des Strafrechts ist nach dieser Vorstellung also die Freiheitssicherung der Bürger im Staat.82 nahme, dass sich Individuen rational und nutzenmaximierend verhalten (homo oeconomicus, . . .).“ 77 Vgl. zur „ökonomischen Effizienz“ als „vorrangigen Bewertungsmaßstab für Gesetzgebung und Rechtsprechung“ nochmals H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip (2005), insbesondere § 1 (Konzeptionelle Grundlagen mit Rekurs auf den Utilitarismus), § 5 (Philosophische Grundlagen) und § 8 (Freiheitssicherung). Interessanterweise wird das Strafrecht als Instrument der Freiheitssicherung in dem Kapitel thematisiert, das von den „Grenzen des Effizienzdenkens“ handelt. Hier ist es richtig verortet. 78 Vgl. W. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik ,moderner‘ Gefährdungsdelikte (2000), S. 21. W. Hassemer bezeichnet das sich immer mehr an „Sicherheitsbedürfnissen und Bestrafungswünschen“ ausrichtende Strafrecht gar als „Kampfinstrument“ („Sicherheit durch Strafrecht“, ZIS 4/2006, S. 132). Siehe auch B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 203. 79 W. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik ,moderner‘ Gefährdungsdelikte (2000), S. 23. Vgl. auch schon W. Hassemer, „Kennzeichen und Krisen des modernen Strafrechts“ ZRP 1992, S. 379 (380): Das Strafrecht sei zum „Instrument gesellschaftlicher Konfliktlösung herangewachsen“, zum „Mittel gesellschaftlicher Steuerung“. 80 W. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik ,moderner‘ Gefährdungsdelikte (2000), S. 33. 81 W. Naucke, „Schwerpunktverlagerungen im Strafrecht“ KritV 1993, S. 135 (143), auch zitiert bei W. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik ,moderner‘ Gefährdungsdelikte (2000), S. 32. 82 Vgl. zum Begriff des „klassischen Strafrechts“ auch W. Hassemer, „Kennzeichen und Krisen des modernen Strafrechts“ ZRP 1992, S. 379 (379 f.).
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Diese beiden Strafrechtskonzeptionen (die „moderne“ und die „überkommene“) scheinen sich nun in einer Weise gleichberechtigt gegenüberzustehen, als könnten ihre jeweiligen Gründe gegeneinander abgewogen und als könne daraufhin eine Entscheidung zugunsten der einen oder anderen Auffassung getroffen werden.83 Problematisch daran ist, dass ein einheitlicher Maßstab für einen solchen Abwägungsvorgang erst benannt werden müsste. Denn die je eingenommene Grundposition präjudiziert schon das Ergebnis der Abwägung: Wer mittels des Strafrechts möglichst wirksam Gefahrenabwehr betreiben will, wird sich auf die Reduktion des Anwendungsbereichs des Strafrechts auf den Ausgleich schweren, personal verantworteten Unrechts nicht verweisen lassen. Aus seiner Perspektive täte er dies auch durchaus zu Recht nicht: Gefahren können eben wesentlich effektiver durch eine möglichst umfassende Kontrolle menschlicher Handlungen – zumal in Wirkbereichen mit erhöhtem Risikopotential – bekämpft werden als durch ein allein auf Unrechtsreaktion ausgerichtetes Strafrecht. Andererseits werden Verfechter des Schuldstrafrechts zu recht darauf verweisen, dass mit einem „präventiven“ Strafrecht das Schuldprinzip außer Kraft gesetzt ist, dass der strafrechtliche Unrechtsbegriff konturlos wird, dass von einem gerechten Ausgleich strafwürdigen Verhaltens als Urgrund der Strafe nicht mehr die Rede sein kann und dass, gemessen an diesem Urgrund, die Rechtsstaatlichkeit eines solchen Kriminalrechts in Frage steht. Beiden Perspektiven kann man ihre Schlüssigkeit nicht absprechen: Von der jeweiligen Prämisse ausgehend entwickeln sie konsequent die jeweils angestrebte Gestalt des Strafrechts.84
II. Das Problem des Begründungszusammenhangs zwischen einem freiheitlichen Recht, der Sicherheit und dem Instrument der Strafe Um aber mit Grund sagen zu können, wann Strafe zu Recht verhängt wird, was strafrechtliches Unrecht und die Strafsanktion in ihrem Wesen ausmacht, welche Befugnisse der Staat gegenüber dem einzelnen im Bereich des Strafrechts einerseits und im Bereich der Gefahrenabwehr andererseits haben soll, welches also die richtige Konzeption von Strafrecht und Gefahrenabwehrrecht ist bzw. wie Strafe von (präventivem) Zwang unterschieden ist, bedarf es der Lösung von den 83 Vgl. zum „Nebeneinander von klassischem und ,modernem‘ Strafrecht“ I. Anastasopoulou, Deliktstypen (2005), S. 221 ff. (m.w. N.). 84 Vgl. dazu auch I. Anastasopoulou, Deliktstypen (2005), S. 230: „Jenseits der Skepsis gegenüber vielen Tatbeständen des ,modernen‘ Strafrechts ist also auch die Frage zu beantworten: Ist das Gefährdungsstrafrecht denn wenigstens gegen echte Gefahren ein adäquates Schutzmittel? Diese Erwägungen setzen freilich voraus, dass man dem Strafrecht überhaupt die Aufgabe des Rechtsgüterschutzes, also eine präventive Funktion zuerkennt. Wenn man mit Herzog die Aufgabe des Strafrechts ausschließlich in der Unrechtsvergeltung sieht, kommt man zwangsläufig zu anderen Ergebnissen. Geht es dem Strafrecht ausschließlich um die Vergeltung von Unrecht, dann muß es sich bis zum Eintritt der Verletzung gedulden.“ (Fn. weggelassen).
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Perspektiven der beiden benannten Positionen und es bedarf eines ihnen übergeordneten Ansatzes. Auf der Suche nach einem solchen übergeordneten Blickwinkel ist im ersten Zugang zunächst nur eines gewiss: Die Untersuchung hat (nach beiden Ansichten) das Recht, genauer: das Strafrecht, zum Gegenstand; damit steht fest, dass mögliche Antworten zu den oben aufgeworfenen Fragen sowie die sie stützenden Argumentationslinien am Kriterium der Rechtlichkeit (und daraus entwickelt am Kriterium der Rechtsstaatlichkeit) zu messen sind, welches allerdings seinerseits inhaltlich genauer zu bestimmen ist. Wird aber überhaupt die Rechtlichkeit als Maßstab anerkannt, so können drei Ansätze zur Bestimmung der Konzeption von Strafrecht und Gefahrenabwehr außer Betracht bleiben, die ein anderes Erkenntnisziel als die Aussage über die Rechtlichkeit eines bestimmten Konzepts haben. Dabei handelt es sich – kurz zusammengefasst – um die folgenden Ansätze: Erstens die rein beschreibenden, d. h. gesellschaftliche Verhältnisse nur deskriptiv erfassenden Herangehensweisen, weil sie ihrer Natur nach zur Rechtlichkeit oder Unrechtlichkeit bestimmter erfasster Phänomene keine Aussagen machen können.85 Zweitens Ansätze, die die Antworten den geltenden (positiven) Gesetzen selbst entnehmen wollen, da die Antwort auf die Frage, was das geltende Recht leisten soll, logisch eine dem bestehenden Gesetz vor- und übergeordnete Frage darstellt und folglich nicht ihm selbst entnommen werden kann.86 Drittens Begründungen, die die Güte eines Konzepts allein an seiner Nützlichkeit für einen bestimmten, vorgegebenen Zweck festmachen wollen, da solche Ansätze von Grund auf gefangen bleiben in bloßer Zweck-Mittel-Argumentation, die zwar Aussagen zum „Geeignet-für“, nicht aber zum „Rechtlich-richtig“ treffen kann, also zum Kriterium der Rechtlichkeit gar nicht vorstoßen.87 85 Dazu K. Gierhake, „Feindbehandlung im Recht?“ ARSP 2008, S. 337, (358). Auf die Schwierigkeiten des „deskriptiven“ Ansatzes von Jakobs weist zu Recht auch St. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 177–180 hin. 86 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § B, AB 31, 32 (Akademie-Ausg., Band VI, S. 229); dazu R. Zaczyk, „Über Begründung im Recht“ (1998), S. 509 (511). Siehe auch Th. S. Hoffmann, „Kant und das Naturrechtsdenken“ ARSP 87 (2001), S. 449 (457): Die Frage nach dem richtigen Recht könne ohne die durch das Naturrechtsdenken eröffnete produktive Distanz zum positiven Recht nicht eigentlich gestellt werden. Diese Distanz, „die das Naturrecht gegenüber dem positiven Recht einzunehmen gestattet, ist nicht etwa die Distanz einer Metarechtlichkeit, die selbst aus anderen als Rechtsprinzipien konzipiert wäre. Die naturrechtliche Distanz ergibt sich vielmehr aus dem Gefälle, das zwischen dem apriorischen Kerngehalt der Rechtsidee und den empirischen Momenten ihrer Realisation entsteht; sie ist eine Distanz, die das Recht eben als autonome, sich auf sich selbst beziehende Idee sich selbst gegenüber wahrt.“ 87 Siehe dazu M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 19; B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 203 ff.
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Um die Kriterien der Rechtlichkeit von Strafrecht auf der einen Seite und des Präventionsrechts auf der anderen bestimmen zu können, müssen also übergeordnete bzw. dem positiven Recht vorgelagerte Rechtsgründe gesucht und für die Lösung des Problems fruchtbar gemacht werden. Wie auch bei der allgemeinen Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit im Staat88 ist es notwendig, sich zunächst von den positiv-rechtlichen Normierungen zu lösen, um die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien herauszuarbeiten.89 Im Rahmen der Strafbegründung ist dafür insbesondere der zugrunde liegende Unrechtsbegriff herauszuarbeiten, denn jeder der (vielseitigen) Ansätze zur Strafbegründung ist von dieser Basisbestimmung abhängig.90 Mit der Bestimmung des strafrechtlichen Unrechtsbegriffs (der die Strafe als Sanktion legitimiert) kann dann gleichzeitig eine Grenzlinie zu strafrechtlich nicht mehr relevantem Unrecht angegeben werden, das dann allenfalls Gegenstand des (mit Zwangs- nicht aber Strafbefugnissen ausgestatteten) Präventionsrechts sein kann. Damit wird unterscheidbar, in welchen Fällen es um staatliche Prävention, und in welchen es um staatliche Strafe geht. Das Niveau der Diskussion ist damit umrissen; zwar erhöht sich der zu leistende Begründungsaufwand, aber ein auf diese Weise abgesichertes Konzept von Recht, Zwang und Strafe enthält eine argumentative Festigkeit, die den perspektivisch determinierten Ansätzen fehlt. Auf dieser Ebene der Betrachtung ist es dann auch ausgeschlossen, von zwei „Strafrechten“ (dem „modernen“ und dem „klassischen“) zu sprechen, denn Strafrecht ist entweder richtiges, rechtmäßiges und rechtsstaatliches Strafrecht oder es ist gar keins.91 Nun sind die Sachprobleme allerdings nicht schon dadurch beseitigt, dass der Begriff des Rechts, und aus ihm die Begriffe des Rechtszwangs und der Rechtsstrafe entwickelt werden. Offenkundig wird mit der Entwicklung des „Strafrechts“ zu einem „modernen Recht der Sozialkontrolle“ auf bestimmte, empirisch bestehende Sicherheitsbedürfnisse reagiert und es gilt, diese zusätzliche Komponente in den Rechtszusammenhang zu integrieren. Eine tragende Begründung muss also nicht nur von einem entwickelten Rechtsbegriff her den fraglichen Zusammenhang zwischen (rechts)staatlicher Gemeinschaft und ihrer Zwangs- und Strafbefugnis gegenüber dem einzelnen Bürger erarbeiten. Die Un88 89
Vgl. dazu oben im Text unter B. Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § B, AB 32 (Akademie-Ausg., Band VI, S. 229,
230). 90 Vgl. dazu den 4. Teil der Arbeit. Siehe in diesem Sinne auch F. R. D’Avila, „Freiheit und Sicherheit im Strafrecht“ (2011), S. 47 (54 f.) 91 Vgl. dazu aber W. Frisch, „Konzepte der Strafe und Entwicklungen des Strafrechts in Europa“ GA 2009, S. 385 (394 ff.), der „gegenläufige Entwicklungen des schuldorientierten und des gefährlichkeitsorientierten Strafrechts“ als „zweierlei Strafrecht“ nachzeichnet. Dass es neben einem rechtsstaatlichen Strafrecht noch ein anderes geben kann, bezweifelt auch L. K. Sander, „Menschenwürde und ,Exklusion‘“ (2007), S. 253 (274, 275); vgl. auch dies., Grenzen instrumenteller Vernunft im Strafrecht (2007).
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tersuchung hat darüber hinaus die Begriffe des „Rechts“, der „Freiheit“, der „Sicherheit“ und der „Strafe“ von einer gedanklich gesicherten Basis aus inhaltlich zu bestimmen und zueinander in Bezug zu setzen: Es ist zu klären, in welchem Verhältnis die Sicherheit in einem Staat (oder einem Staatenverbund, gedacht sei an den europäischen Rechtsraum der „Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“) zu dem in diesem Staat geltenden Strafrecht steht. Gewiss unzureichend ist es dagegen, die Frage der Ausgestaltung von Strafund Sicherheitsrecht allein von ihrer jeweiligen Eignung zur Sicherheitsgewährleistung abhängig zu machen.92 Diese Ausrichtung an der Sicherheitseffizienz staatlicher Maßnahmen ist nicht nur einseitig, sondern bezogen auf die Frage ihrer Legitimität sogar falsch oder zumindest irreführend. Denn die Frage der Legitimität, das heißt der allgemeinen rechtlichen Freiheitsverträglichkeit, ist durch den Ausweis der Effizienz nicht einmal berührt:93 „Der weithin konsentierte Wunsch nach Sicherheit gerät unversehens zur Legitimationsgrundlage der Maßnahmen, die zu ihrer Herstellung für erforderlich gehalten werden. Ein solches Denken ist in seiner Bezugnahme auf empirische Zusammenhänge modern (obwohl es selbst vom Standpunkt dieses Denkens mehr als ein Schönheitsfehler sein müsste, dass auf die Verifizierung der behaupteten Zusammenhänge weithin verzichtet wird). Freilich bleibt diese Modernität vordergründig. Der unvermittelte Rückschluss von vorfindlichen Sicherheitsbedürfnissen auf die Legitimität der zu ihrer Befriedigung für erforderlich gehaltenen Mittel wirft das Begründungsniveau auf einen vorkritischen Stand zurück.“ 94
Dass für ein Sicherheitsaspekte integrierendes Strafrecht erhöhter Begründungsbedarf besteht, wurde in jüngerer Zeit durch Vertreter verschiedenster Richtungen der Strafrechtswissenschaft durchaus einmütig anerkannt. Die schon eingangs zitierte Anregung W. Hassemers, über ein „rechtsstaatliches Sicherheitsstrafrecht“ nachzudenken, wird ergänzt beispielsweise durch eine Bemerkung R. Hefendehls, der von der „Sicherheit als Schlüsselkonzept westlicher Gesellschaften“ spricht.95 K. Kühl weist zudem in seiner StGB-Kommentierung darauf hin, dass dringender Klärungsbedarf im Bereich der Kriminalpolitik besteht:
92 Züge einer solchen eingeschränkten Sehweise finden sich etwa bei O. Depenheuer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87a, Rn. 29 und 52 (für das Staatsrecht) und bei J. Vogel, „Europäische Kriminalpolitik – europäische Strafrechtsdogmatik“ GA 2002, S. 517 (527, für das – europäische – Strafrecht). 93 Siehe dazu auch F. R. D’Avila, „Freiheit und Sicherheit im Strafrecht“ (2011), S. 47 (51). 94 U. Murmann, „Über den Zweck des Strafprozesses“ GA 2004, S. 65 (85, Fußnote weggelassen). 95 R. Hefendehl, „Europäisches Strafrecht: bis wohin und nicht weiter?“ ZIS 6/2006, S. 229 (231). Siehe auch ders., „Über die Pönalisierung des Neutralen – zur Sicherheit“ (2010), S. 89 ff.
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Teil 1: Einführung „Wenig geklärt sind vor allem die rechtspolitischen Fragen, ob und wie weit die zunehmende Instrumentalisierung und Funktionalisierung des modernen Strafrechts, sein Einsatz auch zur Zukunftssicherung und das Anwachsen sog. ,symbolischer Gesetzgebung‘ zu billigen sind.“ Die Diskussion sei durch „eine bedauerliche Polarisierung gekennzeichnet (. . .), die häufig eine sachbezogene Abwägung der komplexen und sich ständig wandelnden Interessenlage vermissen lässt (. . .). Die Kriminalpolitik wird (. . .) zur gleichgewichtigen Gewährleistung von Freiheit und innerer Sicherheit einen Mittelweg suchen müssen. Im Bereich des StGB wird die hektische ad-hoc-Gesetzgebung der jüngeren Vergangenheit diesem Anspruch nicht gerecht (. . .).“ 96
U. Kindhäuser hebt den Forschungsbedarf aus dem Blickwinkel der Strafrechtsdogmatik heraus: „Angesichts der Verzahnung von Schuldstrafrecht einerseits und Sicherheitsrecht andererseits ist die Forderung an die Dogmatik, nicht nur an der Oberfläche, sondern auch in der rechtstheoretischen Tiefe für wissenschaftliche Ordnung zu sorgen, ein berechtigtes Anliegen. Eine andere Frage ist es, wie zu einem Sicherheitsrecht, das sich nicht mehr in ein legitimes Schuldstrafrecht einbinden lässt, Stellung zu beziehen ist. Die sich aufdrängende Antwort dürfte wohl lauten, zur Verhinderung von Mutationen an der klaren Aufgabenstellung von Straf- und Polizeirecht festzuhalten und folglich ein solches Sicherheitsrecht sachlich wie terminologisch dem Ordnungsrecht mit seinen spezifischen, verfassungsrechtlich zu fundierenden Eingriffsvoraussetzungen zuzuweisen. (. . .) (D)as eigentlich zu analysierende Problem (ist), in welchem Maße das Strafrecht Sicherheitsbedürfnisse absorbieren darf (. . .).“ 97
Eine „grundlegende Aufarbeitung dessen, was polizeilich möglich und zulässig ist“ fordert in diesem Zusammenhang auch H.-U. Paeffgen,98 der darauf hinweist, dass damit „Spannungen abzuarbeiten (sind), die zwischen einem Schuldstrafrecht und einem Sicherungsrecht bestehen“. An anderer Stelle99 fordert er, dass Normen wie § 129a StGB und die damit verbundenen strafprozessualen Befugnisse (z. B. Telefon- und akustische Wohnraumüberwachung nach §§ 100a Abs. 1 Nr. 1d, 100c Abs. 2 Nr. 1b StPO) aus dem Strafrecht ausgesiedelt werden sollen: „Ihre Überleitung in das apostrophierte vorbeugende Sicherungsrecht könnte freilich erst erfolgen, wenn eine diesbezüglich zureichende Dogmatik entfaltet worden wäre, die über eine schlichte polizeirechtliche Störungsbeseitigung hinausginge.“ 100 St. Stübinger und M. Pawlik verweisen auf die rechtsphilosophische Begründungsproblematik. Stübinger schreibt:
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Lackner/Kühl, Vor § 13, Rn. 3. U. Kindhäuser, „Schuld und Strafe“ (2006), S. 81 (94 u. 95). 98 H.-U. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des UntersuchungshaftRechts (1986), S. 160. 99 H.-U. Paeffgen, „Bürgerstrafrecht, Vorbeugerecht, Feindstrafrecht?“ (2009), S. 81 (102 ff.). 100 Ebenda, S. 102. 97
C. Bedeutung des Sicherheitsaspekts im Strafrecht
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„(. . .) in Zeiten einer weltweit operierenden Wirtschaft treffen unterschiedlich entwickelte kulturelle und religiöse Welten aufeinander, mitsamt ihren konkurrierenden Interessen und Glaubensauffassungen, die sich geradezu zu Fanatismen aufputschen; dies hat Konflikte hervorgerufen, die sich zum Teil in jenem neuen Phänomen eines sich ebenfalls global ausbreitenden Terrorismus zu entladen scheinen. In rechtlicher Hinsicht ist hier die Spannung zwischen der Freiheit und dem Bedürfnis der Sicherheit aufgebrochen, deren gegenseitiges Verhältnis nicht klar zu sein scheint bzw. neu justiert werden muss. Jedenfalls sind Reformulierungsversuche der Beziehung von Freiheitsrechten und Sicherheitsgewährleistungen wahrzunehmen, die das bisherige Strafrechtsverständnis herausfordern. An angemessenen Reflexionsversuchen, die jene Wandlungen adäquat beschreiben, fehlt es bislang noch.“ 101
M. Pawlik hat über die Konstatierung des Problems hinaus erste Überlegungen zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit der Bürger in einem Staat und der Folge für das Verhältnis von Gefahrenabwehr und Strafe vorgelegt: Mitwirkungspflichtiger am gemeinsamen Freiheitsprojekt einer Rechtsgemeinschaft mit der Folge, dass er die Verpflichtung zur Wahrung fremder Freiheit hat, sei nur derjenige, dem „die betreffende Ordnung auch seinerseits reale Freiheit vermittelt. Dies geschieht in erster Linie dadurch, dass sie ihm ein Leben in Sicherheit ermöglicht, denn Sicherheit ist die conditio sine qua non realer Freiheit. Der Bereich genuinen Kriminalunrechts wird dadurch in doppelter Hinsicht begrenzt. Erstens muss der Beschuldigte mitzuständig für die Bestandssicherung einer bestimmten Rechtsordnung sein. Dies setzt nach dem vorstehend Ausgeführten voraus, dass diese Rechtsordnung auch ihm reale Freiheit vermittelt. Zweitens muss der Beschuldigte sich gerade gegen diese Rechtsordnung vergangen haben. Das hat er zum einen, wenn er das institutionelle Fundament angreift, dem die betreffende Rechtsordnung ihre reale Geltungskraft verdankt. Zum anderen ist die Voraussetzung erfüllt, wenn der Beschuldigte die Integritätsinteressen von Personen beeinträchtigt, die mit der Rechtsgemeinschaft des Täters in der gleichen, spezifisch engen Weise verbunden sind wie er selbst.“ 102
Pawlik hat mit diesem Ansatz die Sicherheit in einem Staat und das in ihm geltende Strafrecht in eine begründete Beziehung zueinander gesetzt. Er beschreibt im ersten Schritt die „Sicherheit als conditio sine qua non realer Freiheit“, setzt sie damit als Bedingung für eine in der Wirklichkeit Bestand habende, dauerhafte Freiheitsordnung, die im zweiten Schritt mit den Mitteln des Strafrechts bewahrt werden soll.103 Ergänzen lässt sich diese Verhältnisbestimmung insofern, als dass man den Zustand realer Freiheit, also den Zustand, in dem jeder dessen, was rechtens ist, 101
S. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 43, 44. M. Pawlik, „Strafe oder Gefahrenbekämpfung?“ ZIS 7/2006, 274 (284) (Hervorhebungen im Original). 103 Vgl. zum strafrechtstheoretischen Hintergrund M. Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), insbesondere S. 75 ff.; ders., „Kants Volk von Teufeln und sein Staat“ Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), S. 269 ff. 102
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Teil 1: Einführung
tatsächlich teilhaftig werden kann,104 auch an den Anfang des Gedankengangs stellen könnte und dann Folgendes feststellen müsste: Der rechtliche Zustand, in dem Freiheit Wirklichkeit hat, ist gleichzeitig auch ein Zustand, der Sicherheit für die in ihm lebenden Menschen hervorbringt und verbürgt,105 und der – auf noch näher zu beschreibende Weise – auch durch das Strafrecht erhalten werden darf und muss. Ist der Bestand der verfassten Rechtsordnung bzw. die Rechtssicherheit in einem Staat nun aber gleichzeitig Realbedingung und Ziel des Strafrechts? In welchem Zusammenhang stehen dazu Straftatbestände, deren Schutzgut – anders als beim Gros der klassischen Tatbestände – unmittelbar die Sicherheit im Staat ist? Ihre Existenz sowie Aussagen wie der Hassemers, es gelte über die „Sicherheit durch Strafrecht“ nachzudenken, suggerieren, dass das Strafrecht nicht bloß mittelbar – etwa durch den Schutz der Rechtsgüter wie Leben, Freiheit, Eigentum – sondern unmittelbar dem Schutz der Sicherheit im Staat dienen soll. Dieses Resultat ist allerdings zumindest bei Zugrundelegung der allgemein anerkannten Differenzierung zwischen Gefahrenabwehrrecht und Strafrecht sehr fraglich, denn die Aufgabe, in einer Rechtsgemeinschaft die „Sicherheit und Ordnung“ zu erhalten, unterliegt zumindest klassischerweise gerade dem Ordnungsund nicht dem Strafrecht.106 Vielleicht gibt es aber auch gute Gründe dafür, den klassischen Bereich des Strafrechts auszudehnen auf „sicherheitsrelevantes Verhalten“ aller Art?107 Oder ist es umgekehrt richtig und erstrebenswert, der Auf104 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 154, 155/B154 (Akademie-Ausg., Band VI, S. 305, 306): „Der rechtliche Zustand ist dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts t e i l h a f t i g werden kann, (. . .).“ 105 Vgl. zu diesen grundsätzlichen Überlegungen den 2. Teil dieser Arbeit. 106 Vgl. dazu auch B. Weißer, „Der ,Kampf gegen den Terrorismus‘ – Prävention durch Strafrecht?“ JZ 2008, S. 388 (394): „Ist es richtig, dass gerade der Strafgesetzgeber sich für diese Form der Prävention terroristischer Straftaten in die Pflicht nehmen lässt? Im Grunde soll das Straf(verfahrens)recht hier eine doch eigentlich klassisch polizeirechtliche Aufgabe wahrnehmen. Es fragt sich, wie das Strafrecht in Anbetracht dieses gewandelten Aufgabenverständnisses reagieren sollte.“ 107 Überlegungen in diese Richtung bei B. Weißer, „Der ,Kampf gegen den Terrorismus‘ – Prävention durch Strafrecht?“ a. a. O. (Fn. 106). Es stelle das „kleinere Übel“ (gemessen an der gänzlich verdeckten Arbeit der Geheimdienste im Bereich der Prävention im Vorbereitungsstadium) dar, wenn das Strafrecht die Prävention durch die Verfolgung von „Vorbereitungsdelikten“ an sich ziehe und dadurch in die geordneten Bahnen des Strafverfahrensrechts lenke. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch M. A. Zöller, „Willkommen in Absurdistan“ GA 2010, S. 607 (617). Ähnlich für die Sicherungsverwahrung auch MüKo-Radtke, Vor §§ 38 ff., Rn. 70: „Die Einbettung des Maßregelrechts in das Sanktionssystem des StGB bindet die staatliche Reaktion auf die Straftatbegehung durch prognostisch gefährliche Straftäter an die (relative) Formenstrenge und die (relativ) gut ausgebauten Beteiligungsrechte des Strafverfahrens. Der tendenziell bessere strafverfahrensrechtliche Rechtsschutz für den von der Sanktion Betroffenen im Vergleich zum Rechtsschutzsystem etwa des alternierend denkbaren Verwaltungsgerichtsverfahrens, wenn der Umgang mit gefährlichen Straftätern allein dem Polizei-
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weichung der in langer Tradition erarbeiteten Begriffe des strafrechtlichen Unrechts und der Strafe entgegenzuwirken und an der klassischen Differenzierung zwischen Zwangsrecht und Strafrecht auch bei (vermeintlich) „zugespitzter Sicherheitslage“ festzuhalten?108
D. Gang der Arbeit Durch die Klärung des Grundzusammenhangs zwischen Freiheit, Sicherheit und Strafe sollen Rückschlüsse auf die einzelnen Wissenschaftszweige ermöglicht werden, in denen sich das Problem aus rechtspolitischer, dogmatischer und rechtsphilosophischer Sicht deutlich zeigt. Der diesem Einführungsteil folgende zweite Teil der Arbeit wird sich ausgewählten, philosophiegeschichtlich bedeutsamen Konzepten von Staatlichkeit (Thomas Hobbes, Wilhelm von Humboldt, Immanuel Kant, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Hans Kelsen und Carl Schmitt) widmen. Besonderes Augenmerk soll dabei auf den jeweilig vertretenen Freiheitsbegriff gelegt werden, um dann davon ausgehend das Verhältnis dieses Freiheitsverständnisses zur Sicherheitsgewährleistung herauszuarbeiten. Gewiss ist schon im ersten Zugang, dass die einzelnen Konzepte den Zusammenhang von Freiheit und Sicherheit sehr unterschiedlich darstellen. Beispielsweise wird bei Hobbes der Sicherheitsgedanke an den Anfang der Staatsbegründung gestellt, während Kant und Hegel ihre Rechts- und Staatsphilosophie als Freiheitsphilosophie entwickeln, so dass die Freiheit als Ausgangspunkt gedacht wird und sich die Sicherheit als Folge verwirklichter freiheitlicher Verhältnisse selbst herstellen kann und muss. Diese unterschiedlichen Vorstellungen vom Verhältnis von Freiheit und Sicherheit sollen erstens deutlich herausgearbeitet und zweitens kritisch auf ihre Überzeugungskraft überprüft werden. Dieser rechts- und staatsphilosophischen Untersuchung soll sich ein dritter Teil anschließen, der die Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus der Beschäftigung mit den philosophiegeschichtlich bedeutsamen Konzepten von Staatlichkeit auf die heutige Problematik von Sicherheit im Staat überprüft. Denn selbstverständlich ist dies insofern nicht, als dass die Konzepte aus jeweils eigenen historischen bzw. Gefahrenabwehrrecht zugeschlagen würde, führt ein Stück weit Grundrechtsschutz durch Vefahren herbei.“ (Hervorhebung weggelassen); ähnlich ders., „Schuldgrundsatz und Sicherungsverwahrung“ GA 2011, S. 636 (639, 640). 108 In diese Richtung F. Herzog, „Über die Grenzen der Wirksamkeit des Strafrechts – Eine Hommage an Wilhelm von Humboldt –“ KritV 76 (1993), S. 247 (252). Vgl. ferner H.-U. Paeffgen, „Bürgerstrafrecht, Vorbeugungsrecht, Feindstrafrecht“ (2009), S. 81 ff. Das Problem sehen auch B. Heinrich, „Die Grenzen des Strafrechts bei der Gefahrprävention“ ZStW 121 (2009), S. 94 ff. und B. Weißer, „Über den Umgang des Strafrechts mit terroristischen Bedrohungslagen“ ZStW 121 (2009), S. 131 (160). Vgl. zu diesem Problem auch den 5. Teil der vorliegenden Arbeit.
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Teil 1: Einführung
Zusammenhängen heraus entstanden sind und sich in der heutigen Debatte andersartige Voraussetzungen, Anwendungsprobleme und theoretische Schwierigkeiten ergeben können. In diesem Zusammenhang sollen die Positionen der aktuellen staats- und verfassungsrechtlichen Diskussion um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit sowie die Debatte über den rechtsstaatlich richtigen Umgang mit dem (internationalen) Terrorismus in den Blick genommen werden. Dies wird aber ganz bewusst vor dem Hintergrund eines schon ausgearbeiteten und rechtsphilosophisch abgesicherten Staatsverständnisses geschehen, welches die Grundbegriffe der Freiheit und der Sicherheit in gedanklich konsequenter Weise zu vereinbaren weiß. Ohne einen solchen festen Standpunkt ist das aktuelle Problem der „Umverteilung von Freiheit auf Sicherheit“ nicht in den Griff zu bekommen. Der vierte Teil soll das – gemessen an der Ausgangsproblematik „Freiheit, Sicherheit und Strafe“ – noch ausstehende Moment der Strafe in den Zusammenhang integrieren. Dafür wird es notwendig sein, die Qualität des Strafrechts in Abgrenzung zu dem Recht der Prävention herauszuarbeiten. Dafür sollen Phänomene der Vermengung von Präventionsrecht und Strafrecht und das mit ihnen einhergehende Legitimationsproblem anhand einiger ausgewählter Beispiele vorgestellt werden und dabei die grundsätzliche Frage der kriminalrechtlichen Unrechtsbestimmung erörtert werden. Als offenkundiges Beispiel für dem Sicherheitsgedanken verpflichtete Normen des Besonderen Teils des StGB sollen die §§ 129–129b StGB (Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen) dienen. Ihre Legitimität als Strafnorm ist zweifelhaft; Kritik wird vor allem im Hinblick auf ihren unklaren Unrechtsgehalt und die fragliche, damit zusammenhängende Einordnung als Kriminalunrecht geäußert. Ähnliches gilt für die mit Gesetz vom 4.8.2009 neu eingeführten Straftaten der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten (§§ 89a, 89b und 91 StGB). Diese sollen als zweites Beispiel dargestellt und analysiert werden; bei ihnen stellt sich das Legitimationsproblem in noch offenkundigerer Weise als bei den §§ 129 ff. StGB. Im fünften Teil der Arbeit sollen schließlich die Prinzipien für eine legitime, rechtsstaatliche Prävention von – insbesondere terroristisch motivierter – Kriminalität entwickelt werden. Dazu werden zunächst Vorschläge aus verschiedenen Bereichen der Rechtswissenschaft vorgestellt und kritisch gewürdigt. Sie reichen von strafrechtlichen über besondere Formen von präventions-, und bekämpfungsrechtlichen bis hin zu kriegsrechtlichen oder sogar außerrechtlichen Lösungsansätzen: Besonders hervorzuheben ist dabei erstens das von Günther Jakobs entwickelte, höchst kontrovers diskutierte Konzept vom „Feindstrafrecht“, mit dem der Versuch verbunden ist, den Umgang mit sog. „Gefährdern“ als Teil des Strafrechts zu rechtfertigen. Des Weiteren hat sich Michael Pawlik mit dem Problem
D. Gang der Arbeit
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befasst und in seiner Abhandlung Der Terrorist und sein Recht Eckpunkte eines in Rechtsformen eingehegten, am Kriegsrecht orientierten Bekämpfungs- bzw. Präventionskonzepts entworfen. Damit verbunden stellt sich erstens die Frage, ob eine Verortung der Materie im Bereich des Kriegsrechts möglich ist, so dass Terroristen nicht als Straftäter oder „Gefährder“, sondern als feindliche Kombattanten einzuordnen sind. Zweitens ist zu überprüfen, inwiefern das Konzept Pawliks mit den Grundprinzipien rechtsstaatlicher Unrechtsprävention im Einklang steht. Aus der Sichtung und der Kritik der benannten Lösungsansätze werden schließlich eigene Kriterien entwickelt, denen ein rechtsstaatlicher Umgang mit terroristisch motivierter Gewalt, insbesondere ihre Prävention und ihre strafrechtlichen Bewältigung, zu genügen hat. In einem zusammenführenden 6. Teil wird abschließend gezeigt, dass der gegenwärtig feststellbare Trend zu einem „Sicherheitsstrafrecht“ kein legitimer Weg ist und durch ein ausgearbeitetes, festen Prinzipien folgendes und gesetzlich verankertes Präventionsrecht abgelöst werden muss.
Teil 2
Rechts- und staatsphilosophische Grundlegung zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Rechtsstaat A. Einführung und Überblick I. Die Legitimation staatlicher Macht als Aufgabe der Rechts- und Staatsphilosophie Die Rechts- und Staatsphilosophie hat die grundlegende Fragestellung zum Gegenstand, warum der Staat überhaupt mit Zwangs- bzw. Strafbefugnissen gegenüber seinen Bürgern auftreten darf. Das Problem der Berechtigung des Staates stellt sich bei freiheitsbeschränkenden Rechtsinstituten deshalb, weil staatliche Machtausübung insgesamt nicht selbstverständlich, sondern begründungsbedürftig ist und diese Begründung keineswegs schon mit den dem Staat durch Verfassung und Gesetze positiv-rechtlich eingeräumten Handlungsbefugnissen hinreichend geleistet ist. Der Grund für die Machteinräumung selbst kann nämlich unmöglich in den positiv-rechtlichen Befugnisnormen selbst liegen; sie setzen vielmehr schon voraus, dass die Berechtigung zur Übertragung solcher Befugnisse auf den Staat grundsätzlich feststeht.1 Soweit Rechts- und Staatskonzeptionen die Legitimität staatlicher Machtausübung aus Prinzipien und allgemeinen Grundsätzen herleiten, sind ihre Antworten nicht auf ihren jeweiligen historischen Kontext beschränkt, sondern entfalten überzeitliche Argumentationskraft. Deshalb lässt sich unabhängig von konkreten historischen Strömungen sagen, dass die Staatsphilosophie den „Begriff, die Be-
1 Werden beispielsweise den staatlichen Behörden im Polizeirecht die notwendigen Befugnisse zur Gefahrenabwehr übertragen – sie dürfen zum Beispiel unter bestimmten Voraussetzungen Bürger in Gewahrsam nehmen oder sie zur Vornahme bestimmter Handlungen zwingen –, so muss zuvor der Grund dafür geklärt sein, warum die Polizei solche Gefahrenabwehrmaßnahmen, die die Freiheit einzelner Bürger beschneiden, überhaupt treffen darf; werden die Strafverfolgungsbehörden aufgrund geltender strafprozessualer Normen tätig, so muss die Vorfrage schon entschieden sein, dass der Staat berechtigt ist, gegenüber einem einzelnen Bürger Strafverfolgungsmaßnahmen einzuleiten, das Verfahren gegen ihn durchzuführen und ihn am Ende durch Strafe seiner Freiheit zu berauben.
A. Einführung und Überblick
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gründung und den normativen Maßstab von Staat und politischer Gerechtigkeit“ 2 zu klären sucht, eine Lösung für das Grundproblem zu finden hat, warum überhaupt und in welcher Form eine institutionelle Friedensordnung, ein Staat, notwendig ist3 und warum und in welchem Maß ein solcher Staat mit selbständiger Macht – auch mit Zwangsbefugnissen – gegenüber seinen Bürgern ausgestattet sein muss.4 Im Folgenden sollen einige ausgewählte Staatsentwürfe vorgestellt werden, die sich mit diesen Fragestellungen – von jeweils unterschiedlichen historischen und gedanklichen Standpunkten aus, aber stets mit dem Anspruch auf allgemeingültige Aussagen, auf „Wahrheit“ – auseinandergesetzt haben.5 Ziel der vorliegenden Untersuchung soll es sein, mögliche Staatskonzeptionen nicht nur zu sichten und vorzustellen, sondern sie auch auf ihre Tragfähigkeit hin zu untersuchen und aus dieser Untersuchung Schlüsse für die aktuelle Diskussion um das angemessene Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Staat zu ziehen. Dazu ist es notwendig, zunächst eine gefestigte und nach mehreren Seiten abgesicherte Grundkonzeption des Staates zu erarbeiten, die aus Prinzipien hergeleitet ist. Ohne eine solche Fundierung können Aussagen zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Staat immer nur vorläufig und in gewisser Weise beliebig sein. Der Schwerpunkt der Untersuchung soll auf dem jeweils vertretenen Freiheitsbegriff und seinem Verhältnis zur Sicherheitsgewährleistung durch den Staat liegen. Es wird sich zeigen, dass allen grundlegenden Staatsentwürfen im Kern das Bemühen darum gemeinsam ist, eine konsistente Bestimmung eben dieses Verhältnisses zu entwickeln.
2
O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 30. O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 32. 4 Siehe dazu G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ Der Staat Bd. 21 (1982), S. 161 (162): Die rechtsphilosophische Fundamentalfrage lautet: „Unter welchen, insbesondere gesetzlichen, d.h. allgemeinverbindlichen Bedingungen darf überhaupt Zwang auf Menschen ausgeübt, d.h. ihre äußere Freiheit eingeschränkt werden? Wann also ist eine solche (allgemeine oder auch besondere) Einschränkung verbindlich und daher ,rechtens‘?“ 5 Der Anspruch der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesen Staatstheorien ist dann so zu beschreiben, dass es um die „wahre und in ihrer Wahrheit aus Prinzipien begründete, daher notwendige und allgemein gültige Erkenntnis“ geht. O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 37. Zur mit Hobbes begründeten „neuen politischen Wissenschaft“ siehe auch W. Euchner, „Auctoritas non veritas facit legem?“ (1982), S. 176 (177): „Wahre (d. h. exakte) Philosophie“ sei für Hobbes dasselbe wie Wissenschaft. Sie beruhe auf wohl definierten Begriffen und deren Verknüpfung zu folgernden Aussagen, genauer von bekannten Ursachen auf Wirkungen und von bekannten Wirkungen auf Ursachen. Richtiges Denken führe zur „allgemeinen, ewigen und unwandelbaren Wahrheit“ (Fußnoten weggelassen). 3
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Teil 2: Rechts- und staatsphilosophische Grundlegung
II. Überblick: Staatskonzeptionen von Thomas Hobbes bis Carl Schmitt Begonnen werden soll (unter B.) mit dem Staatskonzept von Thomas Hobbes (1588–1679), der eine rationale6 Begründung von Staatsgewalt vorgelegt hat, die ihren Ausgangspunkt im menschlichen Streben nach Selbsterhalt7 hat und sich von der Annahme leiten lässt, dass die „Überwindung des Naturzustandes mit dem Ziel der Schaffung von Sicherheit – insbesondere für das Leben des Einzelnen – (. . .) das höchste Ziel der Menschen“ 8 ist. Dieses Ziel sieht Hobbes dadurch erreicht, dass die Menschen in einen staatlichen Zustand treten, in dem eine übergeordnete Macht ihre Sicherheit (sowohl gegen Angriffe von Innen, durch andere Bürger des Gemeinwesens, als auch von Außen, durch fremde Staaten) garantiert. Diese Macht werde dadurch begründet, dass jeder Mensch mit den jeweils anderen einen Vertrag schließt, durch den er sein natürliches Recht, sich selbst zu regieren, einem einzelnen Menschen oder einer Gruppe von Menschen unter der Bedingung überträgt, dass auch jeder andere in gleicher Weise verfährt.9 Die Entscheidung, die Untersuchung des Zusammenhangs von Freiheit und Sicherheit im Staat mit Thomas Hobbes’ Staatstheorie zu beginnen, ist nicht zufällig gefallen: Erstens gilt Thomas Hobbes’ Staatskonzept als im Vergleich zu historischen Vorgängern revolutionär; mit ihm beginnt das neuzeitliche staatsphilosophische Denken.10 Dies hat wiederum mehrere Gründe: Der erste Grund liegt darin, dass Hobbes als erster Staatsphilosoph eine „rein rationale Deduktion der Notwendigkeit des Staates“ vorlegte, die sich dadurch auszeichnet, dass sie ohne Rekurs auf Erfahrung auskommt, also „Herrschaft
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Vgl. dazu O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 33. O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 40. 8 Formulierung von U. Murmann in seiner strafrechtswissenschaftlichen Abhandlung Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 23. 9 Th. Hobbes, Leviathan (1651), 17. Kapitel, S. 134. Siehe dazu auch U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 21, 22. 10 G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ Der Staat Bd. 21 (1982), S. 161. Vgl. dazu zudem die Darstellung von S. König, Zur Begründung der Menschenrechte (1994), S. 84 ff. und K. Herb, Bürgerliche Freiheit (1999), S. 20. Zum Verhältnis von Aristoteles und Hobbes siehe M. Riedel, „Paradigmenwechsel in der politischen Philosophie? Hobbes und Aristoteles“, in: O. Höffe (Hrsg.), Thomas Hobbes/Anthropologie und Staatsphilosophie (1981), S. 93 ff., vgl. dazu auch Bartuschat, „Aktualität in Teilen?“ (1981), S. 165 (168 f.). Ein knapper rechtshistorischer Überblick über das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit für die Zeit vor Hobbes findet sich bei W. Brugger, „Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse“ VVDStRL Bd. 63 (2004), S. 101 (103–111). 7
A. Einführung und Überblick
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überhaupt durch ihre Notwendigkeit mit Bezug auf die Idee des Rechts legitimiert“.11 Zweitens war Hobbes’ Gedankengang insofern revolutionär, als er „das Individuum als solches als den einzig möglichen Ausgangspunkt aller denkbaren Philosophie“ ansetzte, so dass es seither für das moderne Denken unhintergehbar das einzelne Subjekt ist, das als Bezugspunkt für Recht und Gesetzgebung angesehen wird: „Die Anerkennung des Rechts des Individuums als Individuum (ist) gerade der Motor aller modernen Entwicklung von Recht und Staat geworden (. . .). Das Individuum, sein Wert, seine an keine materiale Bedingungen zu knüpfende Würde, seine Rechte, die es bloß als Individuum als solches hat, kurz seine Freiheit, bleibt der Bezugspunkt der Entwicklung. Und Hobbes war der Erste, der dies nicht nur zum Ausgangspunkt seines Denkens nahm, sondern vor allem die politischen Konsequenzen ausarbeitete.“ 12 Drittens ist das Staatskonzept Hobbes’ nicht darauf beschränkt, eine Lösung für die historisch vorfindliche, schwierige Situation der „blutigen Bürgerkriege“ seiner Zeit13 zu entwickeln. Hobbes’ unmittelbares Anliegen war es zwar, durch seine Friedenstheorie zur Bewältigung dieser Kriegssituation beizutragen; aber er hat mit seiner rein rational begründeten Theorie einer institutionalisierten Friedensordnung nicht nur die seine Zeit prägenden Bürgerkriege beenden und verhindern,14 sondern in allgemeingültiger Weise das Problem staatlicher Herrschaft lösen wollen. Der Anspruch der Hobbesschen Theorie ist es also, zeit- und empirieunabhängige, allgemeingültige Prinzipien für den Staat als Institution aufzustellen und zu begründen. Schon allein dieser Anspruch macht Hobbes auch für aktuelle Fragen staatlicher Machtausübung interessant. Dies leitet über zu dem zweiten Grund für theorie als Anfangspunkt der Untersuchung Freiheit und Sicherheit im Staat: Die aktuelle phische Debatte lebt geradezu von Rekursen
die Wahl der Hobbesschen Staatszum allgemeinen Verhältnis von politische, juristische und philosoauf Hobbes und seine Staatstheo-
11 So G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ Der Staat Bd. 21 (1982), S. 161 (168). 12 Siehe B. Willms, „Die Angst, die Freiheit und der Leviathan“ (1982), S. 79 (82). Vgl. dazu auch R. Harzer, Der Naturzustand als Denkfigur moderner praktischer Vernunft (1994), S. 26 ff. Zur Überwindung der für „zwei Jahrtausende gültigen (platonisch-)aristotelischen Tradition durch die Hobbessche Staatskonstruktion“ siehe ferner O. Höffe, „Widersprüche im Leviathan“ (1981), S. 113 (insbesondere 114 und 121) und G. Geismann/K. Herb, Hobbes über die Freiheit (1988), Einleitung, S. 9–16. 13 Vgl. zu den politischen Umständen zu Lebzeiten von Thomas Hobbes I. Fetscher, „Einleitung“ (1966), S. IX–XVII; einen Überblick gibt auch H. Münkler, Thomas Hobbes (2001), S. 51–56. 14 Vgl. dazu O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 32; M. Weimayr/M. Enzersdorf, „Bürgerkrieg und Machtzerfall“ Der Staat Bd. 35 (1996), S. 167 ff.
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rie.15 In ihm scheinen nicht nur die Befürworter schärferer Sicherheitsgesetzgebung eine Hauptautorität zur Stützung ihrer Argumentation zu sehen16 – wobei sie dabei nicht immer auf eine gründliche Lektüre des Hobbesschen Werks in seiner Gesamtheit verweisen können. Auch kritische Stimmen, die sich gegen eine Ausweitung staatlicher Machtbefugnisse zum Zwecke der Sicherheitsgewährleistung aussprechen, scheinen für ihre Argumentation durch den Rückgriff auf Hobbes viel zu gewinnen – wenn auch nur dadurch, dass sie sich von ihm distanzieren. Wann immer die Rolle des Staates als Garant für die Sicherheit seiner Bürger diskutiert wird, taucht jedenfalls – und nicht zu Unrecht – der Name von Thomas Hobbes auf.17 Das deutet schon darauf hin, dass eine Auseinandersetzung mit seiner Lehre auch für die vorliegende Arbeit gewinnbringend sein kann. Hobbes’ Begründung eines (all)mächtigen Staates zum Zwecke des Selbsterhaltes ist trotz ihrer Stringenz allerdings auch vielfach kritisiert worden. Entscheidender Ansatzpunkt einer Fundamentalkritik ist, dass das Ziel der Schaffung von Sicherheit und die bei Hobbes damit einhergehende Etablierung einer äußeren absoluten Macht die „inhaltliche Ausgestaltung (der) Rechtsordnung gegenüber deren Ordnungsfunktion in den Hintergrund treten“ 18 lässt. Die totale Auslieferung der einzelnen Bürger an die staatliche Übermacht vermag dieser Kritik zufolge keine Lösung für das Problem dauerhafter (modern: nachhaltiger) Organisation friedlicher Koexistenz der Menschen zu bieten. Als Kernargumente gegen Hobbes werden die Selbstbestimmung des Einzelnen als Voraussetzung und Zweck des Staates sowie eine normative Beschränkung der Staatsmacht gegenüber dem Einzelnen aus dessen eigenem Recht angeführt. Diese beiden Argumente führen beinahe zwangsläufig in die Richtung einer Hobbes zeitlich nachfolgenden, ausgearbeiteten Rechts- und Staatsphilosophie, innerhalb derer gerade 15 Siehe dazu (mit kritischer Tendenz) beispielsweise H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 8; E. Denninger, „Freiheit durch Sicherheit?“ Aus Politik und Zeitgeschichte (B 10–11/2002), S. 22 (29); G.-J. Glaeßner, „Sicherheit und Freiheit“ Aus Politik und Zeitgeschichte (B 10–11/2002), S. 3 (4, 7); H.-J. Papier, „Wie der Staat Freiheit und Sicherheit vereint“ WELT-ONLINE, 1. Juni 2008; W. Schäuble, „Dein Staat, dein Freund, dein Helfer“ Die Zeit (Nr. 47) vom 15.11. 2007, S. 4, 5. 16 So z. B. der frühere Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble, a. a. O. (Fn. 15). 17 Vgl. auch J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 3 ff. 18 U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 23. Siehe dazu auch H. Maier, „Hobbes“ (1968), S. 351 ff., insbesondere 374: „Nicht aus seiner Wahrheitsfülle und Gerechtigkeit lebt dieser deus mortalis, sondern allein aus seinem ebenso unerschütterlichen wie inhaltslosen Vorhandensein; dieses legitimiert ihn; auf faktische Macht gründet sich Gesetz und Ordnung: Auctoritas non veritas facit legem.“ (mit Verweis auf Hobbes’ Leviathan, Kapitel 26), vgl. zudem S. 364. W. Kersting stellt in diesem Zusammenhang fest: „Der im Leviathan herrschende Frieden ist an keinerlei inhaltliche Ordnungsqualität gebunden, er ist rein formal und negativ.“ In: „Philosophische Friedenstheorie und globale Friedensordnung“ ZfP 44 (1997), S. 278 (284).
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diese beiden Anforderungen an eine „gute“ Staatskonzeption berücksichtigt und sogar zum entscheidenden Leitgedanken werden: Die Rede ist von der Rechtsphilosophie Immanuel Kants. Bevor aber auf die ausgearbeitete Rechtslehre Kants näher eingegangen wird, soll in aller Kürze das Staatsbild Wilhelm von Humboldts (1767–1835) vorgestellt werden (dazu C.). Dieser hat mit seinen Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen (1792) einen Zusammenhang zwischen der dem Staat aufgegebenen Sicherheitsgarantie und dem Recht und der Freiheit der Bürger hergestellt. Für ihn ist die Gewährleistung von Sicherheit die einzige legitime Aufgabe des Staates, wobei er „die Sicherheit“ als „Gewissheit der gesetzmäßigen Freiheit“ versteht. Mit dieser Definition zielt er schon in die Richtung der später erscheinenden Kantischen Staatslehre, deren moralphilosophischen Grundlagen er durch das eigene Studium der Schriften Kants kannte.19 Allerdings entwickelt er seinen Sicherheitsbegriff nicht systematisch und aus der Freiheit des Einzelnen begründet, wie Kant es tut, so dass er für seinen Entwurf zwar einige Plausibilität, nicht aber eine schlüssige Begründung in Anspruch nehmen kann. Diese wird erst von Kant (1724–1804) ausgearbeitet. Unter D. soll deshalb seine Rechts- und Staatslehre näher untersucht werden. Auch hierbei wird der Fokus der Betrachtung auf dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Staat liegen. Der Schritt von Hobbes nach v. Humboldt und Kant ist groß, und es soll mit ihm keinesfalls geleugnet werden, dass wesentliche gedankliche Zwischenschritte die Leistung der Nachfolgenden erst ermöglicht haben: So erweisen sich als ihre Vorläufer große Rechts- und Staatsdenker wie John Locke und Jean-Jacques Rousseau; bei beiden findet sich sowohl ein ausdrücklicher Ansatz freiheitlichen Denkens als auch die Kritik absoluter Staatsmacht.20 Kant aber hat im Gegensatz 19
Siehe J. Petersen, Wilhelm von Humboldts Rechtsphilosophie (2007), S. 37–39. Vgl. dazu: J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690), II. Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung, 2. Kapitel, insbesondere § 4 (Naturzustand als Zustand vollkommener Freiheit der Menschen, innerhalb der Grenzen des Gesetzes der Natur ihre Handlungen zu regeln und über ihren Besitz und ihre Persönlichkeit so zu verfügen, wie es ihnen am besten scheint, ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein); 6. Kapitel, insbesondere §§ 61–63 (Verbindung von Freiheit und Vernunft); 7. Kapitel, §§ 87 ff. (zur bürgerlichen Gesellschaft), 8.–15. Kapitel. Zu der Frage, ob und wie Lockes Werk Einfluss auf die Gedankengänge Kants nehmen konnte siehe F. Zotta, Immanuel Kant – Legitimität und Recht (2000), S. 24 ff., insbesondere die Fußnote 10. Zur gedanklichen Stellung von Locke zwischen Hobbes und Kant siehe S. König, Zur Begründung der Menschenrechte (1994), S. 117–170. J.-J. Rousseau, Gesellschaftsvertrag (1762), 1. Buch, 1. Kapitel („Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“), 6. Kapitel (Vom Gesellschaftsvertrag), 7. Kapitel (Vom Souverän), 8. Kapitel (Vom bürgerlichen Stand), 2. Buch, 1. Kapitel (Unveräußerlichkeit der Souveränität), 4. Kapitel (Von den Grenzen der souveränen Gewalt). 20
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Teil 2: Rechts- und staatsphilosophische Grundlegung
zu Hobbes (dessen anthropologischer Ausgangspunkt die Selbsterhaltung als allen Menschen gemeinsamer Zwecksetzung war) explizit die Freiheit des einzelnen Subjekts zum Ursprung seiner Überlegungen zu Recht und Staat gemacht.21 Kant beginnt – insofern im Ansatz ähnlich wie, aber in wesentlichen Grundlagen nicht identisch mit Hobbes – seine Staatsbegründung mit der Vorstellung eines Naturzustandes der Menschen, in dem die Rechtspositionen des Einzelnen ungesichert sind und niemand jemals vor Gewalttätigkeit sicher sein kann.22 Kant stellt für seine Staatsbegründung allerdings anders als Hobbes nicht auf tatsächlich erfahrene Gewalttätigkeit im Naturzustand ab, sondern fordert prinzipiell – unabhängig von jeder Erfahrung, apriorisch – den Eintritt des im Naturzustand befindlichen Volkes in einen rechtlich verfassten Zustand: Der Übergang vom Naturzustand, in dem Rechtspositionen nur provisorisch sein können, in den staatlichen Zustand erfolgt, um zu gewährleisten, dass jedermann seines Rechts „teilhaftig“ werden kann.23 Der Zweck des Staates ist danach Rechtsgewährleistung für alle seine Bürger. In dem Gedanken ist angelegt, dass mit der Rechtsgewährleistung für jedermann auch gleichzeitig Rechtssicherheit geschaffen wird,24 – eine Einsicht, die auch bei v. Humboldt schon auftaucht. Man kann sich in einem staatlichen Zustand darauf verlassen, dass sowohl die eigene als auch fremde Rechtssphären allgemein anerkannt und notfalls durch staatliche Intervention geschützt und bewahrt werden; dieses „Sich-Verlassen-Können“ schafft die reale Zur Stellung Rousseaus zwischen Hobbes und Kant siehe u. a. G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ a. a. O. (Fn. 11), S. 172 ff.; ferner A. Hirsch, Recht auf Gewalt? (2004), Kapitel II, S. 58 ff.; zum Einfluss Rousseaus auf Kant siehe K. Vorländer, Immanuel Kant (2003), S. 148 ff. und E. Cassirer, „Kant und Rousseau“ (1991), S. 3–61; R. Brandt, „Der contrat social bei Kant“ (2000), S. 271 ff. Siehe zudem G. Luf, Freiheit als Rechtsprinzip (2008), S. 217 ff. Zu einer Gegenüberstellung der Staatsvorstellungen Rousseaus und Hegels siehe M. Pawlik, „Hegels Kritik an der politischen Philosophie Jean-Jacques Rousseaus“ Der Staat 38 (1999), S. 21 ff. Knappe Zusammenfassung bei W. Brugger, „Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse“ VVDStRL a. a. O. (Fn. 10), S. 115–118. 21 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Metaphysik der Sitten, IV. Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten (Philosophia practica universalis), AB 18, 19 (Ak.Ausg., Band VI, S. 221), ferner: Einteilung der Rechtslehre, B., AB 45 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 237, 238). Vgl. zu den Gründen für die Notwendigkeit eines solchen Ansatzwechsels vom Prinzip der Selbsterhaltung zum Kantischen Freiheitsbegriff G. Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 48, 49. 22 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163, 164, B 193, 194 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 312). 23 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 154, 155, B 154 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 305, 306). 24 W. Maihofer (Rechtsstaat und menschliche Würde (1968), S. 152) hat das Anliegen der Kantischen Staatstheorie treffend folgendermaßen umschrieben: „Es geht schon in Kants Theorie des freiheitlichen Rechtsstaates um nichts weniger als um die Verwirklichung der Rechtsstaatlichkeit in einer Ordnung der größtmöglichen und gleichberechtigten Freiheit und Sicherheit nach Innen wie nach Außen.“
A. Einführung und Überblick
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Möglichkeit, nach außen gemäß der eigenen, selbstbestimmten Lebensausrichtung wirken zu können, d. h. den eigenen Lebensentwurf aufgrund verlässlicher Außenweltsbedingungen zu gestalten und auszuführen. Dabei ist der einzelne Bürger Beschränkungen (in Form von zwangsbewehrten staatlichen Ge- und Verboten) nur insofern unterworfen, als sie sich aus der Notwendigkeit der Freiheitssicherung für alle ergeben. Und: Die Legitimation der Zwangs- bzw. Strafbefugnisse des Staates ist in einer Weise zu begründen, die es jedem Bürger, gerade auch dem von der staatlichen Maßnahme betroffenen, ermöglicht, sie als vernünftig einzusehen.25 Wie Kant hat auch Hegel (1770–1831) seine Vorstellung vom Staat auf einen substantiellen Freiheitsbegriff gegründet;26 bei ihm ist der Staat „die Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ 27. Allerdings hat Hegel das Problem der Sicherheit der Staatsbürger28 (als eines unter mehreren) eingebunden in ein Konzept vom Staat, das den Rechtssicherheitsaspekt gerade nicht mehr als primären Ausgangspunkt der Staatsidee anerkennt, sondern im Gegenteil ein Staatswesen, das auf diesen Gedanken reduziert wird, als nur „äußeren Staat, – Not- und Verstandesstaat“ 29 kritisiert; die Sicherheit wird bei Hegel allenfalls als Produkt sich verwirklichender freiheitlicher Verhältnisse betrachtet, keinesfalls als originärer Staatsgrund. Inwiefern Hegel damit das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Staat anders bestimmt als Kant und welche Bedeutung diesem Verhältnis für die Hegelsche Staatsbegründung überhaupt zukommt, soll unter E. untersucht werden. 25 Kant schreibt an anderer Stelle, dass die Vernunft der „letzte Probierstein der Wahrheit“ sei. Er formuliert: „S e l b s t d e n k e n heißt den obersten Probierstein der Wahrheit in sich selbst (d. i. in seiner eigenen Vernunft) suchen; und die Maxime, jederzeit selbst zu denken, ist die A u f k l ä r u n g. (. . .) Sich seiner e i g e n e n Vernunft bedienen will nichts weiter sagen, als bei allem dem, was man annehmen soll, sich selbst fragen: ob man es wohl tunlich finde, den Grund, warum man etwas annimmt, oder auch die Regel, die aus dem, was man annimmt, folgt, zum allgemeinen Grundsatze seines Vernunftgebrauchs zu machen? Diese Probe kann ein jeder mit sich selbst anstellen; (. . .).“ (Was heißt: sich im Denken orientieren? A 329, *-Anmerkung). Wer in dieser Weise von der Fähigkeit des Einzelnen überzeugt ist, durch eigenen Vernunftgebrauch zur Wahrheit zu gelangen, kann ein Gemeinwesen nur auf dem Prinzip der vernünftigen Einsichtigkeit in das Richtige seiner Struktur und Gebote gründen, keinesfalls auf die bloß faktische Übermächtigkeit der Obrigkeit. Auch in den Schriften zum Recht kommt dieser Grundgedanke konsequenterweise immer wieder vor. Kant schreibt beispielsweise: „Es muss in jedem gemeinen Wesen ein G e h o r s a m, unter dem Mechanismus der Staatsverfassung nach Zwangsgesetzen (die aufs Ganze gehen), aber zugleich ein G e i s t d e r F r e i h e i t sein, da jeder, in dem was allgemeine Menschenpflicht betrifft, durch Vernunft überzeugt zu sein verlangt, dass dieser Zwang rechtmäßig sei, damit er nicht mit sich selbst in Widerspruch gerate.“ (Über den Gemeinspruch, A 267). 26 G. W. F. Hegel, GPhR, §§ 4–7, S. 46–57. Siehe dazu auch S. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 227 ff. 27 G. W. F. Hegel, GPhR, § 260, S. 406. 28 Dazu G. W. F. Hegel, GPhR, § 230, S. 382. 29 G. W. F. Hegel, GPhR, § 183, S. 340, siehe auch § 258 (Anm.), S. 399–402.
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Teil 2: Rechts- und staatsphilosophische Grundlegung
Unter F. und G. schließlich sollen zwei Strömungen des Staatsrechts neuerer Zeit vorgestellt und als im Ergebnis unergiebig für die Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit im Rechtsstaat ausgewiesen werden: Erstens ist dies der sog. Rechtspositivismus (dazu unter F.), dessen prominentester Vertreter Hans Kelsen (1881–1973) mit seiner 1934 erstmals erschienenen Reinen Rechtslehre ist. Seine Position zeichnet sich dadurch aus, dass er die Rechtswissenschaft „gereinigt“ von sozialen, politischen und moralischen Einflüssen betreiben will und das Recht überhaupt mit dem positiven Recht in eins setzt. Gegenstand seiner Forschung sind allein die Struktur, Systematik und Entstehungsformen des geltenden Rechts, nicht aber seine überpositive Zielsetzung bzw. Legitimation. Schließlich soll Carl Schmitt (1888–1985) und sein Verständnis vom Staat vorgestellt werden (dazu G.). Ihn zeichnet autoritäres Denken aus, bei dem der substantielle Freiheitsbegriff verloren geht und schon insofern ein Rückschritt im Verhältnis zu v. Humboldt, Kant und Hegel zu verzeichnen ist. Aber sogar im Vergleich zu Hobbes ist sein Ansatz defizitär, weil bei ihm schon der Anspruch auf eine schlüssige Staatsbegründung aufgegeben wird: Es geht ihm mehr um einen möglichst effektiven Machterhalt als um Machtlegitimation.
B. Sicherheitsgewährleistung als originäre Aufgabe des Staates: Hobbes’ Leviathan als Modell eines „Sicherheitsstaats“ Thomas Hobbes gilt als derjenige moderne Denker, der „viele Problemstellungen der modernen Politik (. . .) zum ersten Mal und auf eine für die Späteren wegweisende Art begrifflich erfasst und reflektiert“ 30 hat. Auf ihn geht sowohl das vertragstheoretische Begründungsmodell des Staates als auch das „radikale Programm der Herrschaftslegitimation“ zurück.31 Im Folgenden soll deshalb die Staats- und Herrschaftsbegründung von Hobbes in einzelnen Schritten dargelegt und auf ihre Überzeugungskraft untersucht werden.
I. Der Naturzustand bei Hobbes und sein Freiheitsbegriff Hobbes setzt mit seinem die staatliche Autorität begründenden Gedankengang zunächst an der Idee eines Zustands der Menschen ohne jede institutionalisierte politische Ordnung an, einem „Zustand der Menschen außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft“ 32. Dieser Naturzustand „ist eine Idee, der gemäß die Menschen als 30
W. Kersting, „Vorwort“ (1996), S. 1. Ebenda. 32 Th. Hobbes, Vom Bürger (1642), 1. Kapitel, S. 75. Vgl. dazu auch D. Eggers, Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes (2008), S. 28. 31
B. Sicherheitsgewährleistung als originäre Aufgabe des Staates
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in rein natürlicher Gemeinschaft miteinander lebend gedacht werden, also in einer Gesellschaft ohne gesetzgebende Obrigkeit mit allgemeiner Zwangsgewalt.“ 33 Die Natur habe die Menschen hinsichtlich ihrer körperlichen und geistigen Fähigkeiten so gleich geschaffen, „dass trotz der Tatsache, dass bisweilen der eine einen offensichtlich stärkeren Körper oder gewandteren Geist als der andere besitzt, der Unterschied zwischen den Menschen alles in allem doch nicht so beträchtlich ist, als dass der eine auf Grund dessen einen Vorteil beanspruchen könnte, den ein anderer nicht ebenso gut für sich verlangen dürfte.“ 34 Und wenn dann „zwei Menschen nach demselben Gegenstand streben, den sie jedoch nicht zusammen genießen können, so werden sie Feinde und sind in Verfolgung ihrer Absicht, die grundsätzlich Selbsterhaltung und bisweilen nur Genuss ist, bestrebt, sich gegenseitig zu vernichten oder zu unterwerfen.“ 35 Für diese Situation gibt es im Naturzustand keine prinzipielle Auflösung, da alle mit dem gleichen Recht auf Erfüllung ihrer Bedürfnisse handeln, jedem das Recht, sich selbst zu erhalten zusteht und daraus folgend auch das Recht, „alle Mittel zu gebrauchen und alle Handlungen zu tun, ohne die er sich nicht erhalten kann“ 36. Die Natur habe also „jedem ein Recht auf alles gegeben“, jedem sei es erlaubt „zu tun, was er wolle und gegen wen er wolle, und alles in Besitz zu nehmen, zu gebrauchen und zu genießen, was er wolle und könnte“ 37. Das natürliche Recht eines jeden ist nach Hobbes „die Freiheit (. . .), seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, das heißt seines eigenen Lebens, einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht. Unter Freiheit versteht man (. . .) die Abwesenheit äußerer Hindernisse.“ 38 Hobbes führt hier den Begriff der Freiheit als die jedem Menschen (empirisch) mögliche und in sein Belieben gestellte Mittelwahl bei seinem Streben nach Selbsterhalt ein. Der Mensch ist demnach im Naturzustand in dem Sinne frei, dass er an der Verfolgung seiner Selbsterhaltungsinteressen nicht gehindert wird 33 G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ Der Staat Bd. 21 (1982), S. 162 (Hervorhebung der Verf.). 34 Th. Hobbes, Leviathan (1651), 13. Kapitel, S. 94. 35 Th. Hobbes, Leviathan (1651), 13. Kapitel, S. 94, 95. 36 Th. Hobbes, Vom Bürger (1642), 1. Kapitel, S. 81. 37 Th. Hobbes, Vom Bürger (1642), 1. Kapitel, S. 82, 83. Vgl. dazu auch die Darstellung des Hobbesschen Gedankengangs bei G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ Der Staat Bd. 21 (1982), S. 164–165. R. Harzer bezweifelt, dass an dieser Stelle schon zutreffend von „Recht“ gesprochen werden kann. Sie versteht das „Recht auf alles“ nur als „Möglichkeit auf alles“; dem Einzelnen stehe nur faktisch alles offen, ein irgendwie geartetes „Recht“ lasse sich daraus nicht begründen. (Der Naturzustand als Denkfigur moderner praktischer Vernunft (1994), S. 49, 50). 38 Th. Hobbes, Leviathan (1651), 14. Kapitel, S. 99. Vgl. zum Begriff der Freiheit bei Hobbes zudem das 21. Kapitel, S. 163–172.
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und ihm prinzipiell beim Zugriff auf Materie oder andere Menschen keine Grenzen gesetzt sind: ein Freier ist nach Hobbes, „wer nicht daran gehindert ist, Dinge, die er auf Grund seiner Stärke und seines Verstandes tun kann, seinem Willen entsprechend auszuführen“ 39.40 Freiheit hat also einerseits eine empirische Komponente: Der Mensch muss tatsächlich in der Lage sein, zu tun, was er will; ist er es nicht, ist er insofern schon unfrei. Andererseits verbindet Hobbes den Begriff der Freiheit mit dem menschlichen, auf Selbsterhalt gerichteten Willen41: Besteht die empirische Möglichkeit einer in Aussicht genommenen Tat, so wird sie frei ausgeführt, wenn sie dem Willen des Handelnden entspricht. Dieser Wille ist in seinem Zielpunkt fest umrissen: Der Erhalt des eigenen „Selbst“ wird angestrebt, in abgeschwächter Form das eigene Wohlergehen. Wie allerdings dieses Ziel erreicht werde, soll dem eigenen Urteil, der eigenen Vernunft überlassen bleiben. Insofern ist der Mensch frei in seiner Wahl möglicher Mittel, nicht in seiner Zielbestimmung. Bei Hobbes ist Freiheit demnach Wahlfreiheit in den Grenzen des empirisch Möglichen. Diese Form ungebändigter Freiheit, die Möglichkeit, nach eigenem Willen potentiell auf alles und jeden zugreifen zu können, muss, sobald sie allgemein gedacht wird, zu ihrer eigenen Auflösung führen: Sobald jeder seine unbeschränkte Freiheit ausübt, wird er jedenfalls dann zum äußeren Hindernis für den jeweils anderen, wenn sich die Freiheitsausübungen in der Realität überschneiden; dann kann aber auf Dauer nicht mehr jeder im Naturzustand frei sein, sondern im Gegenteil niemand, da im unendlichen Progress jeder jedem ein Hindernis ist.42 Bezogen auf das beschriebene „Recht auf alles“ hat Geismann43 diese Widersprüchlichkeit treffend herausgearbeitet: Das Recht auf alles stehe als ein jedermann zukommendes, universales Recht mit sich selbst in Widerspruch und hebe sich damit auf: Das Recht auf alles des einen bedeute die vollständige Aufhebung dieses Rechts aller anderen. Ein universales Recht auf alles sei gleichbedeutend mit einem universalen „Recht auf nichts“, d. h. mit der Beseitigung allen Rechts überhaupt. Der Naturzustand der Menschen als ein Zustand des Naturrechts auf Selbsterhaltung sei daher zugleich ein rechtloser Zustand und somit in sich widersprüchlich. 39
Th. Hobbes, Leviathan (1651), 21. Kapitel, S. 163. Vgl. dazu auch H. Bielefeldt, Neuzeitliches Freiheitsrecht und politische Gerechtigkeit (1990), S. 27–30. 41 Vgl. zum Begriff des Willens bei Hobbes C. Chwaszcza, „Anthropologie und Moralphilosophie im ersten Teil des Leviathan“ (1996), S. 83 (97–100). 42 Vgl. dazu auch K. Herb, Bürgerliche Freiheit (1999), S. 25: Im Naturzustand ist die Freiheit der „ruinösen Konkurrenz mit der natürlichen Freiheit der anderen ausgesetzt“. 43 G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ Der Staat Bd. 21 (1982), S. 165. 40
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Auch Hobbes selbst hat dieses Problem „seines Naturzustandes“ gesehen und die Selbstauflösungstendenz eines solchermaßen gedachten vorrechtlichen Zustandes formuliert: „Es brachte den Menschen durchaus keinen Nutzen, in dieser Weise ein gemeinsames Recht auf alles zu haben. Die Wirkung eines solchen Rechts ist so ziemlich dieselbe, als wenn überhaupt kein Recht bestände.“ 44 Es entsteht im Naturzustand nach Hobbes also zwangsläufig eine Feindschaft unter den Menschen, die ihren Grund im Streben nach Selbsterhalt oder zumindest nach Wohlergehen hat; diese Feindschaft führt zu einer immerwährenden Gefährdung durch den potentiell in die eigene Sphäre eingreifenden Mitmenschen, einen Zustand des Krieges „eines jeden gegen jeden“, dessen Wesen zwar nicht in „tatsächlichen Kampfhandlungen“, aber in „der bekannten Bereitschaft dazu während der Zeit, in der man sich des Gegenteils nicht sicher sein kann“ besteht.45 Hobbes sieht wegen der Gleichheit der Kräfte der Menschen auf Dauer keine Möglichkeit, wie sie diesen „ewigen Krieg“ überleben sollen; im Naturzustand würden sie sich bis ins Unendliche gegeneinander aufreiben. Der „tendenzielle Krieg und (die) Todesfurcht bedeuten (. . .) eine radikale Bedrohung des menschlichen Verlangens nach freier Selbsterhaltung und Glück.“ 46 „Deshalb ist es ein Gebot der rechten Vernunft, den Frieden zu suchen, (. . .)“ 47 und nicht das „Recht 44 Th. Hobbes, Vom Bürger (1642), 1. Kapitel, S. 83. Er fügt hinzu: „Wenn auch jeder von jeder Sache sagen konnte: diese ist mein, so konnte er doch seines Nachbars wegen sie nicht genießen, da dieser mit gleichem Rechte und mit gleicher Macht behauptete, dass sie sein sei.“ 45 Th. Hobbes, Leviathan (1651), 13. Kapitel, S. 96. Siehe dazu auch O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 43: „In diesem (dem natürlichen, Anm. der Verf.) Zustand ist der Mensch ausschließlich von seinem Streben nach freier Selbsterhaltung und nach Glück bestimmt. Das konkretisiert sich in bestimmten Bedürfnissen und Wünschen, die man auch zu erfüllen trachtet. Falls nun verschiedene Menschen denselben Gegenstand zur Erfüllung ihrer Wünsche begehren – was nicht nur unter den Bedingungen von Güterknappheit und Konkurrenzwirtschaft, sondern auch in der Überflussgesellschaft möglich ist –, dann finden sie sich in Konflikt miteinander: Die Mitstreiter um die Mittel der freien Selbsterhaltung und des Glücks werden einander feind. Sofern die Konfliktpartner denselben Gegenstand als unabdingbar für die eigene Lebenssicherung oder das persönliche Glück betrachten, verschärft sich ihre Feindschaft zum Kampf auf Leben und Tod. Da eine solche Verschärfung nie auszuschließen ist (denn über die Unabdingbarkeit der Mittel für das eigene Leben und Glück entscheidet jeder Mensch selbst), lebt der Mensch im Naturzustand stets in Furcht vor einem gewaltsamen Tod; und diese Todesfurcht betrifft alle.“ Siehe auch S. 44: Der Naturzustand als bellum omnium contra omnes sei nicht das stete Hauen und Stechen des ins Ewige perpetuierten Bürgerkriegs, sondern ein Zustand, in dem man sich wegen der Gleichheit der Schwäche und aufgrund mangelnder Staatsgewalt prinzipiell seines Leibes und Lebens nicht sicher sein kann. Ähnlich auf die prinzipielle Unsicherheit im Naturzustand abstellend G. Geismann/K. Herb, Hobbes über die Freiheit (1988), Einleitung, S. 25, 26 und G. Geismann, „Die Grundlegung des Vernunftstaates der Freiheit durch Hobbes“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 5 (1997), S. 229 (241, 242). 46 O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 44. 47 Th. Hobbes, Vom Bürger (1642), 1. Kapitel, S. 85.
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aller auf alles beizubehalten, sondern einzelne Rechte zu übertragen oder aufzugeben“ 48. Nach Hobbes müssen die Menschen also schon wegen ihres ureigensten Selbsterhaltungsinteresses notwendig aus dem Naturzustand heraus treten.49
II. Übergang zur bürgerlichen Gesellschaft (Staatsbegründung) und der Aspekt der Sicherheit Die Überwindung des Kriegszustandes kann nach Hobbes nur dann gelingen, wenn eine „sichtbare Gewalt“ die Menschen „im Zaume“ hält und durch „Furcht vor Strafe“ zur „Erfüllung ihrer Verträge und (zur) Beachtung der natürlichen Gesetze“ nötigt.50 Die Menschen müssen sich durch einen gemeinsamen Vertrag51 einer solchen durch denselben Vertrag entstehenden öffentlichen Gewalt unterwerfen, indem jeder seine Rechte auf die ihm überlegene Macht überträgt und diese im Gegenzug die Sicherheit der ihr Untergebenen garantiert. Denn solange eine solche Zwangsgewalt nicht etabliert oder nicht stark genug ist, um die Sicherheit aller zu garantieren, darf „jeder sich rechtmäßig zur Sicherung gegen alle anderen Menschen auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit verlassen“ 52, was ein Perpetuieren des ungesicherten Zustandes zur Folge hätte. Hobbes beschreibt den Übergang vom Natur- in den bürgerlichen Zustand folgendermaßen: „Der alleinige Weg zur Errichtung einer solchen allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können, liegt in der Übertragung ihrer gesamten Macht und Stärke auf einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen, die ihre Einzelwillen durch Stimmenmehrheit auf einen Willen reduzieren können. Das heißt soviel wie einen Menschen oder eine Versammlung von Menschen bestimmen, die deren Person verkörpern sollen, und bedeutet, dass jedermann alles als eigen anerkennt, was derjenige, der auf diese Weise seine Person verkörpert, in Dingen des allgemeinen Friedens und der allgemeinen Sicherheit tun oder veranlassen wird, und sich selbst als Autor alles dessen bekennt und dabei den eigenen Willen und das eigene Urteil seinem Willen und Ur48 Th. Hobbes, Vom Bürger (1642), 1. Kapitel, S. 87. Vgl. auch nochmals O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 44: „Die den latenten Krieg aufhebende Errichtung eines Friedenszustandes liegt daher im wohlverstandenen, im rationalen Selbstinteresse eines jeden. So lautet das erste natürliche Gesetz im Rahmen einer Logik kalkulierter Selbsterhaltung: Suche Frieden und jage ihm nach.“ (Fn. weggelassen). 49 Siehe dazu auch M. Diesselhorst, Naturzustand und Sozialvertrag bei Hobbes und Kant (1988), S. 10–13 und G. Geismann, „Die Grundlegung des Vernunftstaates der Freiheit durch Hobbes“ Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 5 (1997), S. 229 (235, 236). 50 Th. Hobbes, Leviathan (1651), 17. Kapitel, S. 131. 51 Dieser „Vertrag“ ist genauso wie der Naturzustand nicht als geschichtliches Ereignis, sondern als rationale Konstruktion zu betrachten. 52 Ebenda.
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teil unterwirft. Dies ist mehr als Zustimmung oder Übereinstimmung: Es ist eine wirkliche Einheit aller in ein und derselben Person, die durch Vertrag eines jeden mit jedem zustande kam, als hätte jeder zu jedem gesagt: Ich autorisiere diesen Menschen oder diese Versammlung von Menschen und übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, dass du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst. Ist dies geschehen, so nennt man diese zu einer Person vereinte Menge Staat, auf lateinisch civitas.“ 53
Durch den Vertrag wird also eine Staatsgewalt auf Dauer eingesetzt und institutionalisiert, die es einerseits vermag und die andererseits verpflichtet ist, die Sicherheit der einzelnen Bürger vor Übergriffen aller Art (d. h. von innen und außen) zu schützen und ihnen ein „zufriedenes Leben“ zu garantieren.54 Der Weg zu einer solchen allgemeinen Gewalt führt über den Zusammenschluss der Einzelnen unter eine künstlich geschaffene Einheit, die sich aus den Willen aller zusammensetzt und den Selbsterhaltungswillen aller repräsentiert. Ihr wird die Autorität eingeräumt, ohne nochmaligen Rekurs auf die Einzelwillen alle notwendigen Maßnahmen zur Erhaltung allgemeiner Sicherheit zu ergreifen, und es wird fingiert, dass jeder ihrer Beschlüsse auch vom einzelnen gewollt ist. Was immer diese künstliche Einheit nun zur allgemeinen Sicherheit beschließt, gilt als allgemein beschlossen und ist deshalb durch einen einzelnen Willen nicht mehr anfechtbar. Die Fiktion der Urheberschaft der Einzelnen bei den Beschlüssen der öffentlichen Gewalt verhindert, dass nach dem tatsächlichen Willen der Untergebenen noch gefragt werden muss. Die einmalige Übertragung des Selbstregierungs- und Selbstverteidigungsrechts des einzelnen Menschen auf die künstliche Person „Staat“ genügt als generelle, d. h. weder zeitlich noch sachlich begrenzte Autorisierung der Staatsgewalt, solange diese im Bereich der Friedenswahrung und Sicherheitsgewährleistung tätig ist.55 Das Eigentümliche an dieser Staatsbegründung ist, dass sie im Willen des einzelnen Individuums (dem Willen zum Selbsterhalt, wie er schon im Naturzustand besteht) ihren Ausgang nimmt und auch um des Einzelnen willen geschieht, aber diesem Willen seine Bedeutsamkeit gleich wieder nimmt, nachdem sich der Staat als künstliche Person etabliert hat. Das dem Einzelnen unterstellte, alles überbor53
Th. Hobbes, Leviathan (1651), 17. Kapitel, S. 134 (Hervorhebungen im Original). Siehe dazu auch D. Eggers, Die Naturzustandstheorie des Thomas Hobbes (2008), S. 514 ff. 55 Ähnlich O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 49, 50: Als Repräsentant aller Vertragsparteien steht der Souverän bei Hobbes kategorial über den Parteien und ist zugleich die Verkörperung ihres gemeinsamen Willens, vor allem des Willens nach Frieden. Der Repräsentant ist zwar durch den Willen aller gedeckt, aber er erhält eine zeitlich und sachlich unbeschränkte Vollmacht, so dass er zum absoluten Souverän wird und der ihn einsetzende Vertrag insgesamt auf einen Unterwerfungsvertrag hinausläuft. Siehe zudem M. Diesselhorst, Naturzustand und Sozialvertrag bei Hobbes und Kant (1988), S. 20, 21. Zum Akt der Autorisierung der Staatsgewalt durch die Bürger vgl. auch W. Kersting, „Vertrag, Souveränität, Repräsentation“ (1996), S. 211 (221–223). 54
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dende Ziel der Selbsterhaltung wird von seinem Willen abgetrennt, abstrahiert und einer vermeintlich fähigeren Instanz zugeordnet; und mit dem Ziel gehen auch die Kraft und die Stärke, dieses Ziel zu verfolgen, auf die übergeordnete Instanz über. Betrachtet man daraufhin noch einmal, was Hobbes als das „natürliche Recht eines jeden“ definierte, nämlich „die Freiheit (. . .), seine eigene Macht nach seinem Willen zur Erhaltung seiner eigenen Natur, (. . .), einzusetzen und folglich alles zu tun, was er nach eigenem Urteil und eigener Vernunft als das zu diesem Zweck geeignetste Mittel ansieht“, so fällt auf, dass von dieser Freiheit nach Übergang in einen staatlichen Zustand nichts mehr übrig sein kann. „Frei“ im Sinne Hobbes’ ist dann lediglich die neu geschaffene Staatsmacht, die die Mittel zum Erhalt der Allgemeinheit in den Händen hält und über sie verfügen kann, nicht mehr der einzelne Untertan. Dessen Unterordnung ist vollkommen; er vertraut sich im ursprünglichen Vertrag dem Schutz des Staates an, sein „natürliches Recht“ aufgebend und sich – paradoxerweise – ihm gegenüber schutzlos stellend.56 Dass daraus eine „elende Lage“ der Einzelnen im Staat entstehen kann, weil sie den „Begierden und anderen zügellosen Leidenschaften dessen oder derer ausgesetzt seien, die eine so unbegrenzte Macht in Händen halten“, hat Hobbes selbst gesehen.57 Ihm erscheint aber diese elende Lage verglichen mit der des Naturzustandes („dem schrecklichen Elend und den schrecklichen Nöten, die ein Bürgerkrieg und die Zügellosigkeit herrenloser Menschen ohne Unterwerfung unter Gesetze und unter eine Zwangsgewalt, (. . .), mit sich bringen“) „kaum fühlbar“.58 Für ihn ist die Herrschaft eines allmächtigen Staates selbst unter Einrechnung der steten Gefahr, in Tyrannei zu verfallen, deutlich erträglicher als der wilde, rechtlose Zustand der Vorstaatlichkeit.59 Indes kann die Lösung des Problems, wie eine dauerhafte Garantie für die Selbsterhaltung der Menschen zu erreichen ist, nicht darin bestehen, den Naturzustand abzulösen durch einen Zustand der Auslieferung des Einzelnen an eine unbeschränkte Staatsmacht. Hobbes’ Argument, dass die Schrecken des Naturzustandes in jedem Falle schlimmer seien als jede noch so willkürliche Schreckens-
56 „Dieser absoluten Herrschaft der souveränen Gewalt entspricht der schuldige Gehorsam der Bürger; denn sonst wäre das Recht der Herrschaft nutzlos.“ (Fn. weggelassen, M. Diesselhorst, Naturzustand und Sozialvertrag bei Hobbes und Kant (1988), S. 23). Die Freiheit des Bürgers ist im staatlichen Zustand auf den Raum beschränkt, den der Staat nicht ausfüllt: „Die natürliche Freiheit der Individuen, (. . .), bleibt in den gesetzlich nicht geregelten Bereichen des Staates erhalten.“ (K. Herb, Bürgerliche Freiheit (1999), S. 26, der dort auch auf die Hobbessche Gleichung „silentium legis – libertas civium“ hinweist). 57 Siehe Th. Hobbes, Leviathan (1651), 18. Kapitel, S. 143, 144. 58 Th. Hobbes, Leviathan (1651), 18. Kapitel, S. 144. 59 Siehe dazu S. König, Zur Begründung der Menschenrechte (1994), S. 105 ff., insbesondere 112, 113.
B. Sicherheitsgewährleistung als originäre Aufgabe des Staates
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herrschaft des Staates, vermag seine Staatskonstruktion nicht positiv zu begründen, sondern nur in Relation zu noch Schlechterem zu stellen. Selbst wenn Hobbes mit seiner Einschätzung empirisch betrachtet Recht hätte (die Erfahrungen von staatlicher Gewaltherrschaft im 20. Jahrhundert sprechen eher dagegen), so zeigt sich doch der prinzipielle Mangel seiner Staatstheorie: Die Bedrohung des einzelnen Menschen im Naturzustand durch die ungezügelte Macht jedes Stärkeren wird im bürgerlichen Zustand nur ersetzt durch die ungezügelte Macht eines absoluten Staates. Der Staat soll die Sicherheit jedes Einzelnen gewährleisten, bietet aber keine Gewähr dafür, dass er nicht selbst zum Sicherheitsrisiko für diesen Einzelnen wird: Die menschliche Existenz ist nicht nur im staatslosen Zustand, in der Anarchie, sondern ebenso in der latent tyrannischen Situation absolutistischer Staatssouveränität bedroht.60
III. Kritik des Hobbesschen Staatsmodells Das Staatskonzept Hobbes’ wird dem Anspruch, in allgemeingültiger, widerspruchsfreier Weise zu begründen, wie das menschliche Streben nach Selbsterhaltung durch staatliche Herrschaft dauerhaft erfüllt werden kann, letztlich nicht gerecht. Es gibt drei argumentative Ansatzpunkte, die dieses Ergebnis stützen (dazu 1. bis 3.); alle treffen sich in einem vierten Aspekt, der den von Hobbes selbst in Ansatz gebrachten Freiheitsbegriff betrifft: Die Unterbestimmung des Fundamentalbegriffs menschlicher Freiheit durch Hobbes führt zwangsläufig auch zu Schwächen bei seiner Staatsbegründung, wie unter 4. gezeigt werden soll. 1. Unzulänglichkeit des anthropologischen Ausgangspunkts In seinen Überlegungen zur „Anthropologie und Politik bei Thomas Hobbes“ hat Bartuschat zunächst festgestellt, dass die Analyse der Natur des Menschen jeder Politik vorausgehen muss.61 Bei Hobbes wird der natürliche Mensch so gedacht, dass er primär nach Erhaltung seines eigenen Lebens strebt; davon abgeleitet ist dann die Lebenssicherungsfunktion des Staates, der die Gefahr eines gewaltsamen Todes, den äußeren Eingriff in den natürlichen Lebensvollzug bannen soll.62 Der Mensch ist dabei durch eine „gedoppelte Natur gekennzeichnet. Er ist natürliches Wesen und reflektierendes Wesen, (. . .).“ 63 Dieses Reflexionsvermögen ist es aber nun auch, das es dem Menschen im Gegensatz zum Tier aufgibt, nicht nur die Erhaltung seiner selbst anzustreben, also nicht nur über60 61 62 63
O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 33, 34. W. Bartuschat, „Anthropologie und Politik bei Thomas Hobbes“ (1981), S. 19 (21). W. Bartuschat, „Anthropologie und Politik bei Thomas Hobbes“ (1981), S. 22. Ebenda, S. 24.
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haupt leben zu wollen, „sondern sein Leben führen“ zu wollen.64 Ein dieser Voraussetzung entsprechender Staat müsste die Garantie der Bedingungen für ein je selbstbestimmtes Leben seiner Bürger bieten. Im Hobbesschen Konzept wird dieser Unterschied zwischen „leben“ und „sein Leben führen“ aber aufgehoben65 und der Mensch begibt sich durch den Akt der Unterwerfung der Möglichkeit zur selbstbestimmten Lebensführung; er gibt die ihm innewohnende Autonomie zugunsten der lebenssichernden Macht der öffentlichen Gewalt auf. Der Staat hat bei Hobbes sogar gerade die Aufgabe, „die Mannigfaltigkeit subjektiver Ansichten gar nicht erst aufkommen zu lassen, indem seine Gesetze enthalten, was die guten Mittel zur Lebenserhaltung sind. (. . .) Sie haben das Leben zu sichern und hierfür gerade die subjektiven Auslegungen, kraft welcher Mittel das gute Leben für einen erreicht wird, auszuschalten.“ 66 Der Staat wird an die Stelle der ursprünglichen natürlichen Freiheit der Menschen gesetzt, über die Mittel der Selbsterhaltung selbst zu bestimmen. Soweit seine Gesetzgebung der Lebenserhaltung seiner Untertanen dient, ist sie „vernünftig“ und die Untergebenen partizipieren an dieser „Vernunft“. Es ist aber nicht die ihre, weil der Staat „als Erhaltungsbedingung seiner selbst ausschließt, dass sie sie selber gebrauchen. (. . .) Das Menschsein wird (so) gegen die Vernunft des einzelnen reduziert auf bloßes Lebenkönnen (. . .).“ 67 Das Staatsmodell von Hobbes greift demnach schon bei seinem Verständnis von der Natur des Menschen zu kurz. Die Begründung des absoluten Staates bei Hobbes vernachlässigt die Kraft der menschlichen Reflexion an einem entscheidenden Punkt: Der Fähigkeit zur Selbstbestimmung und dem Willen, dieser Fähigkeit gemäß ein Leben in Freiheit auch von Bevormundungen durch den Staat zu führen.68 Deshalb kann der absolute Staat im Sinne Hobbes’ nicht leisten, was seine Aufgabe wäre: Seinen Bürgern ein gleichermaßen selbstbestimmtes wie sicheres Leben zu garantieren.69
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Ebenda, S. 25. Ebenda, S. 36. 66 Ebenda, S. 34. 67 Ebenda, S. 35. 68 Vgl zu dieser Einsicht die Ausführungen zur Rechtslehre Immanuel Kants unten im Text S. 76 ff. Ähnlich R. Harzer, Der Naturzustand als Denkfigur moderner praktischer Vernunft (1994), S. 70 ff., die auf die Selbständigkeit des Einzelnen abstellt. 69 Vgl. dazu auch H. Maier, „Hobbes“ (1968), S. 371, 372: „Ist der Mensch wirklich nur ein Bündel von Trieben, erschöpft sich sein Lebensziel in der Selbsterhaltung, nimmt er auf der Flucht vor dem Nebenmenschen (der ebenso ein reißender Wolf ist wie er selbst) allen Schutz, auch den bloßer Autorität ohne Wahrheitsanspruch, dankbar entgegen, dann gehen in der Tat alle Zwecke dieses Wesens in seiner politischen Organisation auf, dann reduziert sich alles soziale Leben auf eine Dialektik von Schutz und Gehorsam.“ 65
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2. Rechtspersönlichkeitsverlust des Einzelnen im staatlichen Zustand70 Geismanns71 Kritik hat eine ähnliche Stoßrichtung wie die gerade dargestellten Überlegungen Bartuschats. Er stellt ab auf die Entrechtlichung der Bürger im Hobbesschen Staat und weist zu recht darauf hin, dass dadurch dem Einzelnen gerade das genommen wird, was der Staat eigentlich sichern sollte. Sein Gedankengang sei im Folgenden kurz skizziert: Der Staatsgründungsvertrag werde als bedingungsloser Unterwerfungsvertrag aller Vertragspartner zugunsten eines durch diesen Vertrag in keiner Weise gebundenen empirischen Willens einer physischen oder juristischen Person ausgestaltet. Mit dieser bedingungslosen Unterwerfung aber liefere sich der Einzelne vertraglich, also rechtlich, vollständig einem fremden empirischen Willen aus. Er verzichte zwecks Sicherung seines natürlichen Rechts gegenüber irgendwelchen empirischen Willküren auf all sein Recht gegenüber einer bestimmten empirischen Willkür. Ein solcher Vertrag sei nun nicht allein deshalb vollkommen wirkungslos, weil man sich ein Recht nicht durch den Verzicht darauf sichern könne. Er sei vor allem juridisch schlechterdings widersprüchlich und deshalb absolut rechtswidrig und ohne jede Verbindlichkeit. Denn erstens negiere der Vertrag seinem Inhalt nach genau das, was er seiner Form nach (zu Recht) voraussetze: dass der Unterzeichner eine Rechtsperson ist. Zweitens aber stehe der Verzicht auf den Charakter als Rechtssubjekt mit der Idee des Rechts überhaupt in Widerspruch, die mit dem Rechtssubjekt als dem Träger möglicher Rechte und Pflichten ihren Gegenstand verlöre. Staatliche Herrschaft sei bei Hobbes deswegen weiter ohne Rechtsgrund, und der Anspruch auf Gehorsam der Untertanen verbleibe ohne Legitimation. Zusammenfassen lässt sich Geismanns Einwand gegen das Konzept von Hobbes so, dass mit ihm der Verlust der Rechtspersönlichkeit eines jeden Bürgers im Staat einhergeht und mit diesem Verlust das Recht im Staat seinen eigentlichen Gegenstand verliert. Die Einzelnen haben mit Eintritt in den bürgerlichen Zustand ihr Recht, sich selbst zu regieren, auf den Staat übertragen und pauschal alle Handlungen autorisiert, die der Staat in Ausübung dieses Rechts vornimmt.72 Die Bürger haben im Staat keinen eigenen Rechtsstand mehr, sie können ihm aus eigenem Recht nichts mehr entgegenhalten, werden rechtlos in
70 Vgl. G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ Der Staat Bd. 21 (1982), S. 170: „(. . .) Die Untertanen (sind) durch ihren ursprünglichen Vertrag, also von Rechts wegen einem fremden Willen unterworfen und also unfrei und rechtlos.“ 71 A. a. O. (Fn. 70), S. 169–171. 72 Vgl. nochmals Th. Hobbes, Leviathan (1651), 17. Kapitel, S. 134: „. . . übertrage ihnen mein Recht, mich zu regieren, unter der Bedingung, dass du ihnen ebenso dein Recht überträgst und alle ihre Handlungen autorisierst.“
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einem umfassenden Sinne.73 Die Idee eines Staates rechtloser Bürger widerspricht aber der Rechtsidee überhaupt. Ein solcher Staat kann allenfalls empirisch eine Zeit lang den Lebenserhalt seiner Untergebenen sichern, tragenden (Rechts-)Prinzipien folgt er dabei nicht. Der eigentliche Grund des Staates – so hat es später Kant herausgearbeitet74 – muss die Rechtsgewährleistung der Einzelnen sein, die als Rechtssubjekte ihren Selbststand gegenüber dem Staat nicht nur nicht verlieren dürfen, sondern gerade behaupten müssen, damit die Konstitution des Staates ihren Sinn nicht verliert. 3. Fehlende Rechtsbindung der souveränen Gewalt75 Eine Kritik, die die beiden zuvor beschriebenen Argumentationen ergänzt, wird von Höffe vorgetragen. Er formuliert eine entscheidende Frage, die Hobbes bei seiner Suche nach institutionellen Garantien der wechselseitigen Sicherung von Selbsterhaltung offen gelassen habe: „Wo liegen die normativen Grenzen jeder Herrschaft?“ 76 In Verfolgung dieser Frage stellt Höffe auf zwei unterschiedliche Argumentationsstränge ab:77 Der erste beinhaltet eine systemimmanente Kritik des Hobbesschen Gedankengangs und wurde in Ansätzen oben schon erwähnt; der zweite ist, wie auch bei Bartuschat und Geismann, erst vor dem Hintergrund Kantischen Gedankenguts verständlich.78 Im Folgenden sollen beide Argumentationsansätze kurz erläutert werden. 73 So schon I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 236: Der größte denkbare Despotismus sei eine „Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann keine Rechte haben, aufhebt“. 74 Vgl. dazu unten im Text S. 76 ff. 75 G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ Der Staat Bd. 21 (1982), S. 170: „Der Staatsherrscher ist im wahrsten Sinne legibus solutus. Seine Herrschaft ist gesetzlose Herrschaft des puren Beliebens, also Tyrannis im strikten Sinn. Tyrannis, nicht weil der Herrscher ein sog. Tyrann ist, sondern weil er mangels eines ihm vorgegebenen und sein Herrschaftsrecht bestimmenden gesetzlichen Willens gar nicht anders kann, als nach seinem Privatwillen und also nach beliebigem Gutdünken zu herrschen.“ 76 O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 53. 77 Höffe selbst gliedert seine Abhandlung nicht explizit in diese beiden Gedankengänge, sie tauchen bei ihm in anders verknüpfter Weise auf. 78 Dass Höffe die Rechts- und Staatslehre Kants bei seiner Studie zu Hobbes stets mitführt, zeigt sich auch daran, dass er an einigen Stellen das Recht und den Staat ganz Kantisch bestimmt und Hobbes vor diesem Hintergrund interpretiert. Vgl. z. B. S. 47: Der Grundgedanke des Staates sei es, Recht und Gerechtigkeit durch die gleiche wechselseitige Einschränkung und Sicherung von Freiheit zu definieren, denn der lebensund freiheitsbedrohende Naturzustand kenne nur eine Überwindung, die nicht bloß unter den günstigen (empirischen) Umständen eines zufälligen Machtgleichgewichts, sondern die prinzipiell gültig sei: Jeder Mensch müsse von dem abrücken, was den Kriegszustand ausmacht, also vom schrankenlosen Selbsterhaltungsstreben, und sich mit jenem Maß an Freiheit zufrieden geben, das man auch den anderen einzuräumen gewillt ist.
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Erstens leistet der Hobbessche Absolutismus nach Höffe nicht das, was er leisten soll. Die strikte Garantie „individueller Selbsterhaltung, allgemeiner: menschlicher Freiheit“, sei durch einen absolutistischen Staat nicht zu erreichen.79 Durch die Auslieferung des Einzelnen an eine allmächtige Staatsmacht sei dessen Sicherheit dieser Macht gegenüber gerade nicht gewährleistet, sondern ihr im Gegenteil ausgesetzt: Wenn der Mensch „sich seines Lebens nicht bloß gegenüber den Mitmenschen, sondern auch gegenüber dem Staat wirklich sicher sein (. . .) soll, darf es keine normativ und funktional unbeschränkte (. . .) Herrschaft geben.“ 80 Das elementare Interesse des Menschen an Selbsterhaltung müsse sowohl die Ermächtigung als auch den Inhalt, somit auch den normativen Maßstab und die Grenze staatlicher Gewalt darstellen. Nach Höffe muss also eine erste normative Begrenzung staatlicher Macht aus dem Selbsterhaltungsinteresse der einzelnen Bürger abgeleitet werden. Daraus ergibt sich, dass die Macht des Staates jedenfalls dann aufhören muss, wenn sie sich gegen die Existenz seiner Bürger richtet und droht, deren basalem Selbsterhaltungsinteresse zuwiderzulaufen.81 Dies sieht Hobbes selbst zwar genauso, wenn er schreibt: „Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur solange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht der Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anderes dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden.“ 82 Allerdings ist die Konsequenz aus dieser Machtbeschränkung bei Hobbes nur die, dass die Bürger bei Geltendmachung dieses Schutzrechts den Staat in seiner Gesamtheit anfechten müssen, es also keine innerstaatliche Rechtsdurchsetzung gegen den Staat geben kann. Die Bürger haben nur die Wahl zwischen dem Rückfall in die Anarchie – innerhalb derer sich jeder selbst schützen darf und muss – und dem Fortbestand absoluter Herrschaft, die sich aber gerade als schutzunfähig oder sogar gezielt bürgerfeindlich erwiesen hat.83 Die Bürger kommen also bei Ausübung ihres „Widerstandsrechts“ gewissermaßen vom Regen (einer sich gegen sie wendenden Staatsgewalt) in die Traufe (den natürlichen Zustand ungezügelter Gewalt). Deswegen ist das Hobbessche Staatskonzept schon unter dem Gesichtspunkt der Garantie des reinen Selbsterhaltungsinteresses der Menschen nicht widerspruchsfrei ausgearbeitet und eine Machtbegrenzung ist nur in Form eines vollkommenen Wegfalls der Staatsmacht vorgesehen. 79
Ebenda, S. 33. Ebenda. 81 Siehe dazu auch H. Maier, „Hobbes“ (1968), S. 365. Vgl. ferner R. Harzer, Der Naturzustand als Denkfigur moderner praktischer Vernunft (1994), S. 71; S. König, Zur Begründung der Menschenrechte (1994), S. 114, 115. 82 Th. Hobbes, Leviathan (1651), 21. Kapitel, S. 171. 83 Vgl. H. Maier, „Hobbes“ (1968), S. 365 und 367; ferner S. König, Zur Begründung der Menschenrechte (1994), S. 113. 80
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Hinzu kommt der zweite Kritikpunkt Höffes. Bei Hobbes fehle es an einer positiv-rechtlich verankerten Verpflichtung des Herrschers auf die Menschenrechte oder auf Äquivalente, also auf unveräußerliche Rechte jedes Menschen als Menschen. Nach Hobbes habe der Souverän die absolute und ungeteilte Herrschaft ohne jegliche rechtliche Bindung (er sei nur Gott bzw. der Stimme seines Gewissens verantwortlich); der Souverän könne danach keinem Untertan Unrecht tun, da ihm normativ keine Grenzen gesetzt sind.84 Die Konsequenz aus der absoluten Herrschaft ist also die Freiheit des Staates von jeglicher Verbindlichkeit gegenüber früheren, also dem Herrschaftsvertrag voraus liegenden Rechten.85 Bei Hobbes wird diese Bindungslosigkeit folgendermaßen erklärt: „(. . .) Hieraus erhellt, dass der Staat selbst durch bürgerliche Gesetze nicht gebunden ist; denn die bürgerlichen Gesetze sind die Gesetze des Staates, und sollten ihn diese verpflichten, so wäre er sich selbst verpflichtet. Auch kann der Staat gegen den Bürger nicht verpflichtet sein; denn er kann den Staat, wenn er will, von solcher Verbindlichkeit befreien; und er will dies, wenn der Staat es will; denn der Wille eines jeden Bürgers ist in allen Dingen in dem Willen des Staates mit befasst; der Staat ist also frei, wenn er selbst es will, d. h. er ist in Wirklichkeit schon frei von der Verbindlichkeit. (. . .).“ 86 Es zeigt sich, dass nach dieser Logik der Staat dem Bürger gegenüber nicht verpflichtet sein kann, weil dessen Selbststand, dessen Wille als im Staat aufgegangen gedacht wird und somit gar keinen Widerpart zum staatlichen Willen bilden kann. Höffes Kritik stimmt an diesem Punkt insofern mit der von Bartuschat und Geismann überein, dass er der Allmacht des Staates ein Recht des Einzelnen entgegensetzen will, das den staatlichen Machtanspruch begrenzen soll. Denkbar ist dies aber nur, wenn die wesentliche Prämisse des Hobbesschen Konzepts aufgegeben wird, nämlich dass mit der Staatsgründung ein jeder Bürger seine Rechte (und seine Freiheit) vollkommen an den Souverän abzutreten hat und sich Rechte im Staat nur so denken lassen, dass sie vom Souverän nach dessen Belieben gewährt und auch entzogen werden können.87 Mit dem Rüstzeug der Kantischen Rechtslehre wird eine mögliche Gegenvorstellung in Ansatz gebracht, die von Rechten des Einzelnen schon im Naturzustand ausgeht (bei Kant: im Zustand des Privatrechts, in dem beispielsweise das Eigentum schon als Recht des Einzelnen entwickelt wird), welche im Staat nicht aufgegeben, sondern im Gegenteil unter Beibehaltung ihrer naturrechtlichen Inhaltlichkeit und Gestalt gesichert werden.88 84
O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 54. H. Maier, „Hobbes“ (1968), S. 368. 86 Th. Hobbes, Vom Bürger (1642), 6. Kapitel, 14. Abschnitt, S. 141. 87 Bezogen auf das Eigentumsrecht hat Hobbes diese Prämisse explizit im 6. Kapitel, 15. Abschnitt. S. 141, 142 seines ,Vom Bürger‘ ausgeführt. 88 Vgl. dazu schon hier I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 156, B 155 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 306) und ders., Über den Gemeinspruch, A 264, 265: Das Volk habe unver85
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Auf Höffes Ausgangsfrage nach den normativen Grenzen der Herrschaft gibt das Hobbessche Staatskonzept keine befriedigende Antwort. Bei Hobbes ist die staatliche Herrschaft entweder absolut, also rechtlich unbeschränkt – dass sie Gott und dem Gewissen verpflichtet ist, ist keine „normative“ Grenze im Sinne Höffes –, oder sie existiert überhaupt nicht. Insofern ist aus Hobbes’ Perspektive nur zwischen einer unbegrenzten Staatsmacht und dem von natürlicher Gewalt bzw. steter Unsicherheit geprägtem Naturzustand zu wählen. Er selbst hat sich vor seinem historischen Hintergrund für erstere entschieden. Dass diese Lösung im Lauf der philosophischen Gedankenentwicklung bis heute nur vorläufig sein konnte, wird von den benannten Kritikern zu Recht hervorgehoben. Höffes Urteil ist in diesem Zusammenhang kategorisch: „Insoweit eine angemessene Theorie im Dienst der Selbsterhaltung und Frieden die Aufgabe hat, das Zusammenleben der Menschen gegen die doppelte Gefahr von Bürgerkrieg und Willkürherrschaft zugleich zu verteidigen, ist Hobbes’ Staatskonstruktion am Ende gescheitert.“ 89 4. Unzureichender Freiheitsbegriff Ein entscheidender Kritikpunkt, der sich dem Hobbesschen Staatsentwurf entgegen-halten lässt, bezieht sich auf den Begriff von Freiheit, den Hobbes zugrunde legt. Er ist für die vorliegende Arbeit von besonderer Bedeutung, geht es ihr doch gerade um eine konsistente Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit im Staat. Ist die Begrifflichkeit des Fundamentalbegriffs „Freiheit“ unklar oder in sich widersprüchlich, verliert auch jede weitere, auf ihr aufbauende Folgerung ihre Überzeugungskraft. Dass eine bestimmte Inkonsistenz im Hobbesschen Staatsmodell ihren Grund gerade in einem Defizit seines Freiheitsbegriffs hat, soll im Folgenden gezeigt werden. Bei Hobbes ist die Freiheit des Einzelnen im Naturzustand so bestimmt, dass er an der Verfolgung seiner Selbsterhaltungsinteressen durch nichts gehindert wird, ihm insofern also keine Grenzen gesetzt sind.90 Diese „unbegrenzte Möglichkeit“ kann jedoch nicht widerspruchslos für alle gleichermaßen gedacht werden, denn in der Handlungswirklichkeit der Menschen wird spätestens bei Zugriff auf denselben Gegenstand ein Konflikt offenbar, der unvermeidbar ist, soweit sich Menschen im begrenzten Raum und mit begrenzten Ressourcen begegnen. Schon aus diesem Grund kann die Freiheit im Naturzustand keine unbegrenzte, absolute sein. Dies hat schon Locke gesehen, der zwar ebenfalls noch von einer „vollkommenen Freiheit“ im Naturzustand spricht, die darin besteht, über sich und seinen lierbare Rechte gegen das Staatsoberhaupt, „obgleich dies keine Zwangsrechte sein können“. 89 O. Höffe, „Wissenschaft im Dienst freier Selbsterhaltung?“ (1982), S. 54. 90 Vgl. dazu oben S. 56 ff.
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Besitz so zu verfügen, wie es dem Einzelnen am besten erscheint, „ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein.“ 91 Aber erstens beschränkt Locke den Gegenstand der Freiheit auf die Verfügung über den eigenen „Besitz“ und die „Persönlichkeit“ und zweitens stellt er die Ausübung dieser Freiheit unter die Grenzen des Gesetzes der Natur. Er erklärt diese Einschränkung damit, dass der „Zustand der Freiheit“ keinesfalls ein „Zustand der Zügellosigkeit“ sei; die Freiheit des Einzelnen finde eine Grenze darin, dass er grundsätzlich weder sich selbst noch andere Lebewesen vernichten dürfe; das im Naturzustand herrschende natürliche Gesetz und die Vernunft, „der dieses Gesetz entspricht“, lehrten die Menschheit, „dass niemand einem anderen, da alle gleich und unabhängig sind, an seinem Leben und Besitz, seiner Gesundheit und Freiheit Schaden zufügen soll“.92 Die immanente Grenze der Freiheit muss also schon nach Locke die Rechtssphäre des jeweils anderen sein: nicht die unbeschränkte Möglichkeit, nach Hobbes sogar das unbeschränkte Recht auf alles, sondern die Handlungsfreiheit unter Einrechnung der anderen Handlungsfreiheiten muss der Ausgangspunkt einer in sich geschlossenen Rechtslehre sein. Dies ist schon im Naturzustand nicht anders denkbar, wenn der Freiheitsbegriff verallgemeinernd gedacht werden soll, ohne sich selbst zu widersprechen. Der Begriff der Selbstverfügungsfreiheit muss als Rechtsbegriff die beschränkte Perspektive des Einzelnen überschreiten und in einer Weise erweitert werden, die es möglich macht, die Freiheit aller zu denken. Beim Schritt in den staatlichen Zustand wird die Unzulänglichkeit, die im Hobbesschen Verständnis von Freiheit angelegt ist, noch offenkundiger. Im Staat verliert sich die Freiheit des Einzelnen vollständig, da ihr Verlust notwendige Voraussetzung für einen entsprechenden Machtzuwachs der neuen Institution „Staat“ ist. Der Begriff der Freiheit büßt im Hobbesschen Staatsmodell jegliche (mit)tragende Funktion ein: Hinter dem Aspekt der staatlichen Lebenssicherung muss die von Hobbes gedachte „Freiheit zum Selbsterhalt“ beim Einzelnen aus praktischen Gründen zurücktreten (der Staat kann für die Sicherheit der Gemeinschaft besser sorgen als die einzelnen Bürger für sich, weil er die nötige Machtausstattung in Form von absoluter Herrschaft erhält), und einen darüber hinausgehenden Gehalt gibt Hobbes der Freiheit des Menschen nicht. Die Freiheit wird von Hobbes also einerseits schon inhaltlich beschränkt auf die selbständige Wahl der „Lebenserhaltungsmittel“; diese Beschränkung macht 91 J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690), II. Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung, 2. Kapitel, § 4, S. 201. 92 J. Locke, Zwei Abhandlungen über die Regierung (1690), II. Über den wahren Ursprung, die Reichweite und den Zweck der staatlichen Regierung, 2. Kapitel, § 6, S. 203. Dazu W. Euchner, „Einleitung“ (1977), S. 29–31. Zum Verhältnis von Locke und Hobbes siehe auch H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 8.
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es andererseits möglich, die Freiheit vom Subjekt „abzuziehen“ und auf den Staat zu übertragen. Eine solche Bestimmung von Freiheit ist, wie auch Bartuschat in seiner Kritik deutlich macht,93 verkürzt insofern, als die menschliche Fähigkeit zur Selbstbestimmung reduziert wird auf das Streben nach Selbsterhalt. Die Vielseitigkeit individueller Lebensgestaltung, die Ausrichtung an anderen Inhalten als dem reinen Lebenserhalt und auch die Möglichkeit, den Lebenserhalt um jeden Preis für sich selbst als Ziel zu verwerfen, kommen bei diesem Verständnis von Freiheit nicht vor; dem Willen wird die menschliche Eigenart abgesprochen, über sich selbst, seine Lebensgestaltung und -ausrichtung, ja sein Leben überhaupt reflektieren zu können und insofern ist der Wille schon im Ansatz unterbestimmt. Dass dann ein in dieser Weise verstandener Wille im Staat auch noch für irrelevant, weil im staatlichen Willen aufgehend erklärt wird, ist eine Folge dieser Unterbestimmung. Denn der Staat kann durch seine dem Einzelnen übergeordnete Macht Lebenssicherheit zu einem gewissen Grad besser garantieren als das einzelne, auf sich selbst gestellte Subjekt; aber den besonderen Willen der einzelnen Bürger kann und darf er nicht ersetzen. Hobbes hat das so nicht gesehen und konnte deshalb in einem mit absoluter Macht ausgestatteten Staat die Lösung für das Problem der äußeren Friedenssicherung ausmachen. Dass dabei eine entscheidende menschliche Eigenart – Freiheit in einem umfassenden Sinn – nicht ausreichend berücksichtigt wurde, zeigt sich in den Hobbes nachfolgenden Rechts- und Staatsentwürfen, die im Folgenden untersucht werden sollen.
IV. Zusammenfassung zum Hobbesschen „Sicherheitsstaat“ Die philosophiegeschichtliche Bedeutsamkeit des Hobbesschen Staatskonzepts ist unbestritten. Er hat die „Bewegung vom klassischen Bürgerbund zum modernen Staatsverband“ als erster vollzogen und den einzelnen Menschen „als Subjekt von Bedürfnissen in den Mittelpunkt der politischen Praxis“ gerückt.94 Sein Konzept vom Staat zeichnet sich dadurch aus, dass er in ihm eine dem Einzelnen übergeordnete, omnipotente Machtinstitution sieht, welche die Sicherheit ihrer Bürger zu garantieren hat. Die dafür erforderliche (All-)Macht soll dem Staat durch Vertrag von jedem einzelnen Menschen eingeräumt werden, der damit gleichzeitig auf sein natürliches Recht, sich selbst zu regieren, verzichtet. Dem Staat wird dabei nicht nur zugetraut, die Sicherheit der Gemeinschaft und des Einzelnen von nun an zu garantieren; in seinen Garantiemaßnahmen ist er zudem durch den Einzelwillen eines Bürgers vom Zeitpunkt dieser Rechtsübertragung nicht mehr anfechtbar. 93
Vgl. dazu oben S. 63 ff. M. Riedel, „Paradigmenwechsel in der politischen Philosophie? Hobbes und Aristoteles“ a. a. O. (Fn. 10), S. 109. 94
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Es zeigt sich, dass mit Hobbes nicht von einer Balance95 zwischen Freiheit und Sicherheit im Staat gesprochen werden kann – oder von einem Ausgleich, einem Gleichgewicht oder überhaupt von einem Verhältnis beider Pole. Die Freiheit des Einzelnen ist nach Eintritt in den staatlichen Zustand gänzlich untergegangen und auch nicht durch ein Pendant ersetzt worden, das im Staatszustand das Selbstsein des Bürgers gegenüber dem Staat in Stellung bringen würde. Zum Sicherheitsmonopol des Staates gibt es nach Hobbes kein auszubalancierendes „Gegengewicht“ in Form der Freiheit des einzelnen Bürgers – diese wird bei ihm vielmehr bedeutungslos. Insofern kann sich auf Hobbes nicht berufen, wer nach einem ausgewogenen Verhältnis von Freiheit und Sicherheit sucht.
C. Begrenzung des staatlichen Wirkens auf Maßnahmen der Sicherheit: Wilhelm von Humboldts Staatsidee Wilhelm von Humboldt hat mit seinen Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen im Jahre 1792 eine Schrift vorgelegt, die sich primär der Frage widmet, „zu welchem Zweck die ganze Staatseinrichtung hin arbeiten, und welche Schranken sie ihrer Wirksamkeit setzen soll.“ 96 Wie schon bei Hobbes ist für die Beantwortung dieser Frage auch bei v. Humboldt der Begriff der Sicherheit ein Schlüsselbegriff. Wie sich zeigen wird, wendet er sich aber gegen die Hauptkonsequenz, die Hobbes aus dem Umstand der Notwendigkeit eines die Sicherheit garantierenden Staates gezogen hat, nämlich gegen die Absolutheit staatlicher Macht.97 v. Humboldt schreibt seinen Text – wie schon der Titel zeigt – mit einer anderen Grundintention als Hobbes: Es geht ihm weniger um die rationale Begründung von Staatlichkeit und die Legitimation von Herrschaft überhaupt, als um die Frage, auf welche Tätigkeiten sich der Staat im Verhältnis zu seinen Bürgern zu beschränken hat.98 Dabei geht er so vor, dass er mögliche Tätigkeits- und Aufgabenfelder des Staates (z. B. die Sorge um das Wohl der Bürger, deren öffentliche Erziehung, die Sittenverbesserung) sichtet und die damit verbundenen Befugnisse gegenüber den Bürgern und die Einwirkungen auf deren individuelle Lebensgestaltung nach und nach auf ihre Berechtigung überprüft.99 Er sieht in 95 Nachdenklich zu diesem Begriff im Rahmen der aktuellen Debatte auch H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 5. 96 W. von Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1960) S. 56. Zum historischen Hintergrund der Schrift siehe G. Eisermann, „Wilhelm von Humboldt, Clausewitz und der Staat“ Der Staat Bd. 34 (1995), S. 199 ff. und Ch. Sauter, Wilhelm von Humboldt und die deutsche Aufklärung (1989), S. 321 ff. 97 Vgl. zu diesem Punkt J. Petersen, Wilhelm von Humboldts Rechtsphilosophie (2007), S. 89 und 92. 98 Siehe dazu auch T. Borsche, Wilhelm von Humboldt (1990), S. 40, 41.
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jedem staatlichen Handeln stets auch die Möglichkeit unberechtigter Freiheitseingriffe, von Einmischungen in das Privatleben der Bürger und von schädlichen Wirkungen auf deren Kraft und Eigenverantwortung.100 Diese skeptische Grundhaltung gegenüber der Staatsmacht hat ihren Grund in seinem Verständnis vom „Endzweck“ des Menschen. Er schreibt: „Der wahre Zwek des Menschen – nicht der, welchen die wechselnde Neigung, sondern welchen die ewig unveränderliche Vernunft ihm vorschreibt – ist die höchste und proportionierlichste Bildung seiner Kräfte zu einem Ganzen. Zu dieser Bildung ist die Freiheit die erste, und unerlassliche Bedingung.“ 101 Dementsprechend ist nach v. Humboldt derjenige Zustand „nach der wahren Vernunft“ wünschenswert und durch die Staatlichkeit zu erreichen, in welchem jeder Einzelne die „ungebundenste Freiheit geniesst, sich aus sich selbst, in seiner Eigenthümlichkeit, zu entwikkeln (. . .)“.102 Da für diese persönliche Entfaltungs- und Bildungstätigkeit ein Freiraum des Einzelnen notwendig ist, sieht v. Humboldt in jeder diesen Freiraum berührenden Tätigkeit des Staates zunächst einmal eine Beschränkung der menschlichen Mannigfaltigkeit durch den „Geist der Regierung“, ein Hemmnis des „freien Spiels der Kräfte“ in einer Gesellschaft und letztlich eine Tendenz zur Bevormundung der an sich freien und selbstverantwortlichen Bürger.103 „Wer oft und viel geleitet wird“, so v. Humboldt, „kommt leicht dahin, den Ueberrest seiner Selbstthätigkeit gleichsam freiwillig zu opfern.“ 104 Die (unbeeinflusste und ungestörte) Freiheit sei notwendige Bedingung für die Entwicklung und Ausbildung der Persönlichkeit; der Staat müsse sich deshalb möglichst mit allen auf die personale Sphäre des Einzelnen einwirkenden Maßnahmen zurückhalten. v. Humboldt fasst diese Erkenntnis folgendermaßen zusammen: „(D)er Staat enthalte sich aller Sorgfalt für den positiven Wohlstand der Bürger, und gehe keinen Schritt weiter, als zu ihrer Sicherstellung gegen sich selbst, und gegen auswärtige Feinde nothwendig ist; zu keinem andren Endzwekke beschränke er ihre Freiheit.“ 105 99 Er lässt sich dabei von der Frage leiten, ob der Staat „allein Sicherheit, oder überhaupt das ganze physische und moralische Wohl der Nation beabsichtigen“ soll. (Vgl. W. von Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1960), S. 63). 100 Vgl. dazu T. Borsche, Wilhelm von Humboldt (1990), S. 46, 47. 101 W. von Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1960), S. 64. Vgl. zum Begriff der Bildung bei v. Humboldt R. Ostermann, Die Freiheit des Individuums (1993), S. 38 und 142 ff. (Bildung als „Prozess der Aneignung von Welt, in dem die intellektuelle und die psychische Seite des Menschen zu einer harmonischen Einheit verschmolzen werden“, S. 143). 102 Siehe W. von Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1960), S. 69. 103 Ebenda, S. 71 ff. 104 Ebenda, S. 74. 105 Ebenda, S. 90. Vgl. dazu zudem v. Humboldts eigene Zusammenfassung auf S. 144, 145: Der Staat müsse sich „schlechterdings alles Bestrebens, direkt oder indirekt
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Hier zeigt sich die für das Staatsverständnis v. Humboldts entscheidende Idee: Die Sicherheit der Bürger eines Staates ist der einzige legitime Grund, aus welchem der Staat freiheitsrelevante Maßnahmen ergreifen darf.106 Begründet wird dies damit, dass „ohne Sicherheit der Mensch weder seine Kräfte auszubilden, noch die Früchte derselben zu geniessen“ vermag, „denn ohne Sicherheit ist keine Freiheit.“ 107 Die Sicherheit sei das Einzige, das der einzelne Mensch mit seinen Kräften nicht alleine erlangen könne; der Zweck des Staates müsse deswegen in der Erhaltung der Sicherheit sowohl gegen auswärtige Feinde als auch gegen innerliche Zwistigkeiten liegen.108 Wegen dieser herausragenden Bedeutung des Sicherheitsbegriffs für sein Staatskonzept setzt er sich im Fortgang seiner Abhandlung genauer mit diesem Begriff auseinander. „Sicher“ nennt er die Bürger in einem Staat, „wenn sie in der Ausübung der ihnen zustehenden Rechte, dieselben mögen nun ihre Person oder ihr Eigenthum betreffen, nicht durch fremde Eingriffe gestört werden; Sicherheit folglich (. . .) Gewissheit der gesetzmässigen Freiheit.“ 109 An dieser Definition von „Sicherheit“ ist für das Thema der vorliegenden Arbeit vor allem bedeutsam, dass v. Humboldt sie mit den Begriffen „Recht“ und „Freiheit“ untrennbar verbindet. Die Sicherheit wird nicht bloß wie noch bei Hobbes als die physische, das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Bürger betreffende Sicherheit verstanden, sondern als Gewährleistung der Rechtsausübung, als Garantie der gesetzmäßigen Freiheit. Das Recht der Bürger und ihre Freiheit werden zum Bezugspunkt der Sicherheitsleistung, wodurch auch alle staatliche Tätigkeit an der Erreichung des Zwecks der Rechts- und Freiheitsgewährleistung gemessen werden muss. Hierin unterscheidet sich das Konzept v. Humboldts deutlich vom absolutistischen Staatsbild Hobbes’, bei dem die Staatsmacht gerade keinerlei Beschränkung durch die Subjektstellung des Einzelnen erfahren hat.
auf die Sitten und den Charakter der Nation“ zu wirken, enthalten und alle „besondere Aufsicht auf Erziehung, Religionsanstalten, Luxusgesetze u. s. f.“ liege „schlechterdings außerhalb der Schranken seiner Wirksamkeit“. 106 Vgl. dazu auch D. Spitta, Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts (2004), S. 35: Grundidee seiner Staatslehre sei es, dass die Aufgabe des Staates darin bestehe, für die Sicherheit zu sorgen und dass das wirtschaftliche und geistig-sittliche Leben der Menschen sich viel besser ohne als mit staatlicher Einmischung entfalte. Zum Strafrecht vgl. F. Herzog, „Über die Grenzen der Wirksamkeit des Strafrechts – Eine Hommage an Wilhelm von Humboldt –“ KritV 76 (1993), S. 247 ff. 107 W. von Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1960), S. 95. 108 Vgl. ebenda, S. 96. Siehe ferner D. Spitta, Die Staatsidee Wilhelm von Humboldts (2004), S. 114, 115. 109 W. von Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1960), S. 147 (Hervorhebungen im Original).
C. Begrenzung des staatlichen Wirkens auf Maßnahmen der Sicherheit
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Wenn v. Humboldt nun schreibt, dass ohne Sicherheit keine Freiheit sei,110 so lässt sich darin sein Verständnis vom wechselbezüglichen Verhältnis von Freiheit und Sicherheit erkennen: Die Freiheit, um die es v. Humboldt hier geht, ist gedacht als Bedingung zur Entfaltung der persönlichen Bildung, welche er als Endzweck des Menschen begreift. Eine solche Entwicklung der Persönlichkeit lässt sich seines Erachtens nur erreichen, wenn der Einzelne störungs-, beeinflussungs- und gewaltfrei sein Leben selbst gestalten kann. Die staatliche Garantieleistung hat dafür die Bedingungen zu schaffen. Eine Sicherheit ohne Freiheit – wie sie als Resultat des Hobbesschen Staates entsteht – macht dagegen nach v. Humboldt keinen Sinn: Ohne den Zweck der Gewährleistung menschlicher Entwicklungsfreiheit ist der Staat selbst zwecklos und verliert seine Aufgabe. Die Sicherheit steht im Dienst der Freiheit und ohne letztere ist sie selbst gleich mit hinfällig. v. Humboldt entwickelt nun seinen Sicherheitsbegriff aber nicht systematisch aus dem Freiheits- oder Rechtsbegriff, wie man es nach oben genannter Verhältnisbestimmung erwarten könnte. Im Gegenteil verwendet er bei seiner Sicherheitsdefinition den Begriff der „gesetzmäßigen Freiheit“ und den Begriff des dem Einzelnen „zustehenden Rechts“ ohne jede gedankliche Ableitung. Die Frage, was denn mit der „Gesetzmäßigkeit“ der Freiheit zur persönlichen Entwicklung an dieser Stelle gemeint sein könnte, oder auch wie die Rechte des Einzelnen zu bestimmen sind, deren Ausübung durch die Sicherheitsleistung des Staates gewährleistet werden sollen, wird nur in Ansätzen und gewissermaßen nur ex negativo geklärt: v. Humboldt schreibt, die Sicherheit werde entweder „durch Handlungen, welche an und für sich in fremdes Recht eingreifen, oder durch solche, von deren Folgen nur diess zu besorgen ist“ gestört. Beide Gattungen der Handlungen müsse der Staat verbieten bzw. zu verhindern suchen, und, wenn sie geschehen sind, durch rechtlich bewirkten Ersatz des angerichteten Schadens unschädlich und durch Bestrafung für die Zukunft seltener zu machen bemüht sein.111 Es geht ihm also bei der durch den Staat und seine Polizei-, Zivil- und Kriminalgesetze112 zu gewährleistenden Sicherheit um den Schutz der Rechte des Einzelnen vor fremden Eingriffen, also vor Rechtsverletzungen und -gefährdungen, und um die Wiedergutmachung bzw. Bestrafung nach erfolgter Rechtsverletzung.113 Nur zu diesem Zwecke dürfe der Staat überhaupt tätig werden.
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Vgl. dazu oben bei Fn. 107. W. von Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1960), S. 148, 149. 112 Vgl. ebenda. 113 Vgl. zu den Konsequenzen für das Strafrecht F. Herzog, „Über die Grenzen der Wirksamkeit des Strafrechts – Eine Hommage an Wilhelm von Humboldt –“ KritV 76 (1993), S. 247 (250 ff.). 111
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Wie sich aber bestimmen lässt, wann genau eine die Intervention des Staates legitimierende Rechtsverletzung vorliegt, muss bei v. Humboldt offen bleiben, da er keinen der Verletzung vorgängigen und allgemeinen Rechtsbegriff vorstellt. So bleibt sein Gedankengang an einer entscheidenden Stelle unvollständig: Wenn der Staat nur zur Sicherung der subjektiven Rechte des Einzelnen oder des Staates114 selbst eingreifen darf, und eine Störung oder Gefährdung immer dann vorliegt, wenn Dritte diese Rechte verletzen, so kommt es für die Legitimation des staatlichen Eingriffs darauf an, wie weit das Recht des Einzelnen reicht und wann genau von einer Verletzung gesprochen werden kann, also darauf, wie Recht und Unrecht voneinander geschieden wird. Eine solche grundlegende Unterscheidung wird bei v. Humboldt zwar immer vorausgesetzt, nicht aber selbständig hergeleitet. Genauso wenig findet sich bei ihm eine Erklärung für das Verhältnis von Freiheit und Recht: Die Freiheit als Bedingung der Persönlichkeitsentfaltung und das dem Einzelnen zustehende Recht stehen bei ihm gänzlich unverbunden nebeneinander. Dementsprechend ist mit v. Humboldts Sicherheitsbegriff zwar eine erste Verknüpfung zur Freiheit der Einzelnen und zum Recht im Staat hergestellt, und damit wird die Hobbessche Vorstellung vom reinen Sicherheitsstaat um einen entscheidenden Punkt vorangebracht. Allerdings fehlt es noch an einer gedanklich zwingenden Herleitung dieser Verknüpfung. Diese soll nun durch die Beschäftigung mit der Rechtslehre Kants herausgearbeitet werden.
D. Staatsbegriff aus Freiheit: Immanuel Kant I. Einführung in Kants Rechtslehre und erste Abgrenzung zu Hobbes und v. Humboldt Die folgenden Überlegungen sollen dem Kantischen Staatsbegriff aus Freiheit und seiner damit einhergehenden Vorstellung von einer öffentlichen Gerechtigkeit gewidmet sein. Es wird sich zeigen, dass es Kant nicht nur gelingt, die benannten Hobbesschen Brüche bei der Konzeption des Staates zu vermeiden, sondern auch (und dabei deutlich über v. Humboldt hinausgehend), eine schlüssige Rechts- und Staatsvorstellung zu entwickeln, die in der Freiheit des Einzelnen ihren Ausgang nimmt und dieser Freiheit – dem Anspruch nach weltweit – Wirklichkeit zu geben vermag.115 114 Dazu W. von Humboldt, „Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (1960), S. 148. 115 Höffe sieht darin einen „Höhe- und zugleich Wendepunkt der Aufklärung“ (O. Höffe, „Einführung“ (1999), S. 8). Zur Bedeutung der Freiheit für den Deutschen Idealismus überhaupt vgl. G. Mohr, in: H. J. Sandkühler (Hrsg.), Handbuch Deutscher Idealismus (2005), S. 144 (Freiheit als Autonomie sei das „zentrale Projekt des Deutschen Idealismus insgesamt“). Vgl. auch U. Volkmann, „Freiheit in Bindungen“ (2009),
D. Staatsbegriff aus Freiheit: Immanuel Kant
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Dem Aspekt der Sicherheit kommt dabei, wie auch bei Hobbes und v. Humboldt, eine wesentliche Bedeutung zu, allerdings in einer vermittelten Weise: Bei Kant steht nicht wie bei Hobbes die physische Unsicherheit der Staatsbürger im Vordergrund (der Mensch gebe sich alle Mühe, „seine Glieder zu schützen und gesund zu erhalten, seinen Körper vor Tod und Schmerzen zu bewahren“ 116), sondern die prinzipiell rechtlich-ungesicherte Stellung des einzelnen Freien in einem Zustand ohne staatlich-monopolisierte Zwangsgewalt. Es liege „a priori in der Vernunftidee eines solchen (nicht rechtlichen) Zustands, dass, bevor ein öffentlich-gesetzlicher Zustand errichtet worden, vereinzelte Menschen, (. . .) niemals vor Gewalttätigkeiten gegen einander sicher sein können, (. . .).“ 117 Dass die von Hobbes thematisierte und in seiner Zeit auch empirisch erfahrbare physische Unsicherheit eine Konsequenz aus eben dieser prinzipiellen rechtlichen Unsicherheit im Naturzustand ist,118 hat Hobbes selbst nicht in derselben Form herausgearbeitet wie später Kant. Zwar finden sich schon bei ihm Hinweise auf das grundsätzliche Problem eines Zustands zwischen den Menschen ohne eine richterliche Gewalt, die den (Rechts-)Streitigkeiten der Einzelnen durch endgültige, mit staatlicher Macht versehene Entscheidungen ein Ende setzen könnte: Bei Hobbes heißt es, im Naturzustand sei jeder über sich selbst der Richter119 und dies führe in letzter Konsequenz zu dem in sich selbst widersprüchlichen Ergebnis, dass in diesem Zustand „jeder alles haben und tun darf“ 120. Aber dass das Problem ein rechtsgrundsätzliches ist, eines, das auftaucht, „mögen die Menschen auch so gutartig und rechtliebend gedacht werden, wie man will“ 121, wird in dieser Klarheit erst von Kant gesehen.122 Bei ihm soll der staatliche Zustand S. 155: „Das Individuum, der einzelne Mensch, ist die Grundeinheit der heutigen Rechtsordnung, seine Freiheit das sie von innen her konstituierende Prinzip, und keine Rechts- keine Staatsphilosophie kann heute ein mehr als bloß historisches Interesse auf sich ziehen, die ihm nicht gebührenden Platz einräumt.“ (Fn. weggelassen). 116 Th. Hobbes, Vom Bürger (1642), 1. Kapitel, 9. Abschnitt, S. 81. 117 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163, 164; B 193, 194 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 312). 118 Siehe dazu G. Geismann, „Die Grundlegung des Vernunftstaates der Freiheit durch Hobbes“ Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 229 (241, 242). 119 Th. Hobbes, Vom Bürger (1642), 1. Kapitel, 7. Abschnitt, S. 81. 120 Th. Hobbes, Vom Bürger (1642), 1. Kapitel, 10. Abschnitt, S. 83. Siehe dazu auch schon oben im Text S. 56 ff. 121 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163, 164; B 193, 194 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 312). 122 G. Geismann liest dagegen diese Erkenntnis schon in Hobbes’ Herleitung der Notwendigkeit eines Staates hinein. Er interpretiert den Hobbesschen Zustand des Krieges aller gegen alle so, dass nicht permanenter aktueller Rechtsstreit sein Wesensmerkmal sei, wohl aber „prinzipielle Unmöglichkeit einer Lösung dort, wo ein jeweils behauptetes Recht bestritten wird; das aber heißt: wo Recht überhaupt allererst seine Funktion erfüllen könnte und sollte; – also permanente und prinzipielle Abwesenheit von gesichertem Rechtsfrieden.“ (A. a. O., Fn. 118). Das im Naturzustand bestehende Recht auf je eigene rechtsgültige Rechtsentscheidung bedeute, dass jederzeit jedes beliebige Rechtsurteil des Einen mit jedem beliebigen Rechtsurteil jedes Anderen in
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Abhilfe gerade von dieser permanenten und prinzipiellen Rechtsunsicherheit schaffen, indem in ihm „jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, g e s e t z l i c h bestimmt, und durch hinreichende M a c h t (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird“ 123. Dass eine solche rechtsgesetzlich organisierte Gemeinschaft dann auch die Gewissheit des Schutzes der körperlichen Unversehrtheit ihrer Mitglieder und eines auch empirisch sicheren Umfelds hervorzubringen vermag, dass in einer solchen Gemeinschaft insgesamt eine Atmosphäre der Verlässlichkeit entstehen kann, ist bei Kant mögliche Wirkung, nicht aber primärer Grund rechtlicher Verhältnisse. Ihm geht es um die Lösung der Frage, wie eine Gemeinschaft freier Wesen organisiert sein muss, damit jeder nach der ihm eigenen Vorstellung seinem Glück nachstreben kann, ohne aber die jeweils anderen daran zu hindern, ihrerseits dasselbe zu tun.124 Bei Kant wird deshalb auch kein gemeinsames, inhaltlich bestimmtes Ziel der in einem Staate vereinigten Bürger vorausgesetzt – etwa der Wohlstand, die Gesundheit, die physische Sicherheit der Bürger oder ganz allgemein ihr glückliches, erfülltes Leben. Das Trachten nach Glückseligkeit wird zwar auch von Kant als das natürliche Streben eines jeden Menschen anerkannt,125 es ist jedoch kein allgeWiderspruch stehen könne, ohne dass im Naturzustand darüber ein allgemeines, rechtsverbindliches Urteil überhaupt möglich wäre. Richtig an dieser Argumentation ist einerseits, dass auch Hobbes nicht bloß empirisch, sondern auch grundsätzlich argumentiert, wenn er einen Mangel des Naturzustandes darin sieht, dass „jeder Richter in eigener Sache“ ist. Richtig ist auch, dass unter dem Aspekt der Freiheitswahrung mit dem Hinweis auf eine fehlende richterliche Gewalt ein wesentlicher Grund für die Notwendigkeit des Staates benannt ist. Dass aber Hobbes selbst schon die Tragweite dieses entscheidenden Mangels erkannt und rechtsprinzipiell daraus geschlossen hat, dass dieser Zustand der Rechtsunsicherheit das eigentlich zu behebende Problem und der Zustand eines gesicherten Rechtsfriedens das eigentlich anzustrebende Ziel ist, ist zumindest sehr fraglich. Ohne eine schon Kantische Perspektive einzunehmen, lässt sich dies jedenfalls aus dem Wortlaut des De Cive und des Leviathans nicht folgern – auch nicht aus den von Geismann in diesem Zusammenhang zitierten Stellen (De Cive, I 12, 13, 15; Leviathan XIII 8). Geismann denkt und argumentiert so sehr in Kantischen Strukturen, dass er zuweilen von ihnen nicht mehr abstrahiert und sie in die Interpretation des Hobbes-Textes einfließen lässt. Ein Satz wie der folgende wäre ohne Kantischen Einfluss nicht denkbar: „Die prinzipielle, universelle und absolute Unsicherheit des Rechts bedeutet in der Folge dann allerdings auch die permanente und im Naturzustand unaufhebbare Bedrohung durch Gewalt, nicht etwa als die ,ultima ratio‘, sondern als die einzige ,ratio‘, im Streitfall seinem Recht Wirksamkeit zu verschaffen.“ (A. a. O., Fn. 118). Vgl. dazu schon hier die Paragraphen 41, 42 und 44 aus der Rechtslehre Kants; näher dazu unten S. 94 ff. Wie hier auch K. Herb/B. Ludwig, „Naturzustand, Eigentum und Staat“ Kant-Studien 84 (1993), S. 283 (300–307); dort (S. 297 ff.) auch zu weiteren Übereinstimmungen sowie zu wesentlichen Unterschieden zwischen Hobbes’ und Kants Vorstellungen vom Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand. 123 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163, 164, B 193, 194 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 312). Vgl. dazu genauer unten im Text, S. 99 ff. 124 Siehe I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 235, 236. Kant richtet sich in diesem Abschnitt explizit gegen Hobbes’ Staatsvorstellung. 125 I. Kant, GMdS, BA 13.
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mein-formulierbarer Staatszweck.126 Staatszweck kann allein die allgemeine, rechtsförmige Freiheitsrealisierung sein. Vorausgesetzt wird dafür nur die Freiheit des Einzelnen als sein angeborenes Recht127 und das Vermögen der Menschen, ihre Gemeinschaft der Vernunft gemäß, d. h. hier Rechtsprinzipien folgend, zu organisieren.128 Die dafür erforderlichen Prinzipien arbeitet Kant in seiner Rechtslehre gründlich aus. Kants Rechtslehre erscheint 1797 (also knapp hundertfünfzig Jahre nach Hobbes’ Leviathan und fünf Jahre nach v. Humboldts Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen); sie enthält „Voraussetzungen a priori äußerer Gesetzgebung, also einer solchen, der zu ihrer Einhaltung Sanktionen zur Verfügung stehen“ 129. Es geht Kant um die Entwicklung eines Rechtssystems, das erzwingbare Verbindlichkeit äußerer Verhaltensregeln unter den Menschen herstellt und sich dabei auf notwendige Vernunfterkenntnis stützen kann, so dass die Ausformung dieses Systems nicht auf Beliebigkeit, sondern auf vernunftgeforderten Grundsätzen beruht. Kant selbst sieht die Schwierigkeit der Entwicklung eines solchen Systems darin, dass es wegen der Eigenart des Rechts nicht möglich ist, ein reines Vernunftsystem (eine „echte“ Metaphysik des Rechts) zu errichten, sondern immer beachtet werden muss, dass der Begriff des Rechts „auf die Praxis gestellt“ ist.130 Es ist also die Verbindung von Vernunft und Empirie, die in seinen „metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ thematisch wird. Allerdings ändert dies nichts daran, dass nach Kant das Ge126
Vgl. dazu I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 233, 234 und 236, ferner A 262. Einteilung der Rechtslehre, B., AB 45 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 237, 238). 128 Vgl. dazu I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 269, 270. Höffe sieht in den Begriffen „Vernunft“ und „Freiheit“ zu Recht die Hauptbegriffe von Kants praktischer Philosophie (siehe O. Höffe, „Einführung“ (1999), S. 7). Bei Geismann heißt es: „Indem Kant die von Hobbes und Rousseau geschaffenen Bauteile einer rein rationalen Rechtslehre aufgreift und sie zu einem geschlossenen rechtsphilosophischen Gebäude mit sicherem Fundament verarbeitet, wird er zum eigentlichen Philosophen des Vernunftrechts der Freiheit.“ (G. Geismann, „Kant als Vollender von Hobbes und Rousseau“ Der Staat Bd. 21 (1982), S. 177, 178, Fußnoten weggelassen). 129 H. Ebeling, Einleitung, Die Metaphysik der Sitten, Reclamausgabe (1990), S. 16 (Hervorhebung im Original). 130 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Vorrede, AB III (Ak.-Ausg., Band VI, S. 205): „Die R e c h t s l e h r e, als der erste Teil der Sittenlehre, ist nun das, wovon ein aus der Vernunft hervorgehendes System verlangt wird, welches man die M e t a p h y s i k d e s R e c h t s nennen könnte. Da aber der Begriff des Rechts, als ein reiner, jedoch auf die Praxis (Anwendung auf in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellter Begriff ist, mithin ein m e t a p h y s i s c h e s S y s t e m desselben in seiner Einteilung auch auf die empirische Mannigfaltigkeit jener Fälle Rücksicht nehmen müsste, um die Einteilung vollständig zu machen (. . .), Vollständigkeit der Einteilung des E m p i r i s c h e n aber unmöglich ist und, wo sie versucht wird (wenigstens um ihr nahe zu kommen), solche Begriffe nicht als integrierende Teile in das System, sondern nur als Beispiele in die Anmerkungen kommen können: so wird für den ersten Teil der Metaphysik der Sitten der allein schickliche Ausdruck sein: M e t a p h y s i s c h e A n f a n g s g r ü n d e d e r R e c h t s l e h r e; (. . .).“ 127
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sollte – hier: das von ihm entworfene Rechtssystem – niemals aus Erfahrung ableitbar ist,131 sondern seine Begründung immer aus der Vernunft selbst (d. h. vor aller Erfahrung, a priori) beziehen muss. Kants Rechtslehre besteht aus drei Teilen: Erstens den Prolegomena (Einleitung in die Metaphysik der Sitten und in die Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre), zweitens dem Privatrecht und drittens dem Öffentlichen Recht (Staatsrecht, Völkerrecht und Weltbürgerrecht).132 Im ersten Teil der Rechtslehre finden sich Grundbegriffe wie „Freiheit“, „Recht“ und „Zwang“; im Rahmen des sog. Privatrechts erarbeitet Kant u. a. die Begriffe von „Eigentum“ und „Besitz“. Der Begriff des Staates, seine Aufgabe und seine Strukturprinzipien (also: das Staatsrecht) werden von Kant am Anfang des dritten Teils entwickelt – als erster wesentlicher Bestandteil des Öffentlichen Rechts. Der schon von Hobbes bekannte Denkschritt des Übergangs vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand (Staat) wird von Kant am Ende des Privatrechts (§§ 41 und 42) verortet; bei ihm ist der Naturzustand der Zustand des Privatrechts und der bürgerliche Zustand der des öffentlichen Rechts.133 Für die vorliegende Untersuchung soll der Schwerpunkt der Betrachtung auf dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit liegen. Dies macht es notwendig, zunächst den von Kant im Rahmen des Rechts zugrunde gelegten Freiheitsbegriff herauszuarbeiten (II. 1.); zu folgen hat eine knappe Darstellung seines Rechtsbegriffs (unter II. 2.), ohne den der Übergang vom Natur- in den staatlichen Zustand nicht erklärt werden kann (dazu unter III.). Die Begründung des Staates und seine wesentlichen Prinzipien sollen im Anschluss daran gründlicher untersucht werden (IV.), um abschließend die Bedeutung der Sicherheit bei Kant im Verhältnis zu seinem Freiheitsbegriff herausstellen zu können (V.).
II. Zum Freiheits- und Rechtsbegriff bei Kant 1. Freiheit bei Kant Der Begriff der Freiheit ist ein Schlüsselbegriff nicht nur für Immanuel Kants Rechtsphilosophie,134 sondern für seine gesamte Philosophie. Kant geht es im Rahmen seiner theoretischen Philosophie um das Verhältnis von Freiheit und Na131
Siehe für die Moralphilosophie bei Kant GMdS, BA 25–28. Vgl. O. Höffe, „Einführung“ (1999), S. 10, 11. 133 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 156; B 156 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 306). Siehe zum Aufbau der Metaphysik der Sitten auch R. Zaczyk, „,Hat er aber gemordet, so muß er sterben‘“ (2008), S. 241 (245 f.). 134 Kant habe „das Recht auf den Boden der Freiheit gestellt“ (so Th. S. Hoffmann, „Kant und das Naturrechtsdenken“ ARSP 87 (2001), S. 449 (451)). Siehe auch C. Dierksmeier, „Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff“ (2009), S. 42 (46 ff.) und R. Zaczyk, „Zur Einheit von Freiheit und Sozialität“ (2005), S. 1111 (1113, 1114). 132
D. Staatsbegriff aus Freiheit: Immanuel Kant
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turnotwendigkeit (insbesondere: in der Kritik der reinen Vernunft – 1781), im Rahmen seiner praktischen Philosophie (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten – 1785, Kritik der praktischen Vernunft – 1788) um die Freiheit des Einzelnen als Fähigkeit zur Selbstbestimmung (Autonomie) und im Rahmen seiner Rechtsphilosophie (Zum Ewigen Frieden – 1795, Metaphysik der Sitten – 1797) um die Vereinbarkeit der Freiheit des einen mit der Freiheit aller anderen unter einem allgemeinen Gesetz.135 In gewisser Weise bauen die einzelnen Freiheitsbegriffe dabei aufeinander auf, identisch sind sie aber nicht. Denn je nach Blickwinkel und Erkenntnisrichtung entwickelt Kant den Freiheitsbegriff aus dem jeweiligen Zusammenhang heraus neu bzw. erweitert und modifiziert ihn.136 Den ersten Schritt tut Kant, indem er die Freiheit in der „Dritten Antinomie“ der Kritik der reinen Vernunft als denkmöglich ausweist.137 Dort geht er der Frage nach, inwiefern Freiheit trotz der naturgesetzlichen Gebundenheit des Menschen überhaupt denkbar ist.138 Das Problem ergibt sich, weil menschliches Handeln als „sinnliches Geschehen durchgängig unter Gesetzen der Natur“ 139 steht, also insofern durch äußere Bedingungen determiniert ist, und damit kein Raum für freiheitliches, d. h. nicht heteronom bestimmtes Verhalten zu bleiben scheint. „Frei“ kann ein Verhalten nämlich nur dann genannt werden, wenn ihm „ein von naturhafter Determination unabhängiger Wille zugrunde liegt“ 140. Die freie Handlung darf zwar durch naturhafte Einflüsse angestoßen („affiziert“), nicht aber bestimmt sein, wenn als Grund der Handlung das Subjekt selbst und nicht irgendwelche anderen Ursachen gelten soll. Dieses „Grundsein“ ist Voraussetzung dafür, dass dem einzelnen Subjekt eine Handlung als die seine zugerech135 Vgl. zu Kants Freiheitsbegriffen G. Dietze, Kant und der Rechtsstaat (1982), S. 12 ff.; R. Eisler, Kant-Lexikon (1961), Stichwort „Freiheit“, S. 160–169; G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“ Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S. 3 ff.; K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 35–46; M. Köhler, „Das angeborene Recht ist nur ein einziges . . . Menschenrecht, Grundrechtsverhältnisse und Rechtssystem“ (1994), S. 61 ff.; ders., Die bewusste Fahrlässigkeit (1982), Kapitel 4, insbesondere S. 158 ff.; S. König, Zur Begründung der Menschenrechte (1994), S. 186 ff., insbesondere S. 212 ff.; K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung (1984), S. 48 ff.; G. Luf, Freiheit als Rechtsprinzip (2008), S. 151 ff.; ders., Freiheit und Gleichheit (1978), S. 14 ff.; G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie (1983); B. Noltenius, Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft (2003), S. 140–164; R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 130 ff. 136 So auch G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“, a. a. O. (Fn. 135), S. 6. Vgl. zur „systematischen Relation“ zwischen den Grundlegungsschriften und der Metaphysik der Sitten H. Oberer, „Sittengesetz und Rechtsgesetze a priori“ (1997), S. 157 ff. 137 I. Kant, KrV, A 438 ff., B 466 ff. Siehe dazu H. Oberer, „Sittengesetz und Rechtsgesetze a priori“ (1997), S. 158 ff. 138 Vgl. dazu G. Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 14. 139 Ebenda. 140 Ebenda.
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net und dass es selbst als Urheber dieser Handlung verstanden werden kann.141 Dass der Mensch tatsächlich in diesem Sinne „Grund“ sein kann, dass ihm tatsächlich die Fähigkeit zur Überwindung der Naturvorgaben zukommt, erklärt Kant so, dass die menschlichen Handlungen einerseits unter dem Gesichtspunkt ihrer Naturgesetzlichkeit, gewissermaßen als empirisches Ereignis, anderseits aber auch im Hinblick auf ihre Herkunft von einem intelligiblen Wesen betrachtet werden müssen: „Der ,empirische Charakter‘ bringt zum Ausdruck, dass die Handlung, insoweit sie in der sinnlichen Welt erscheint und erfahren wird, als Teil der Natur durchgängig unter den Gesetzen der Natur steht und von ihnen her erklärt werden muss. Der ,intelligible Charakter‘ der Handlung hingegen muss als reine Vernunftidee, d. h. unabhängig von allen der Zeit unterworfenen Bedingungen der Sinnlichkeit gedacht werden.“ 142 Auf diese Weise lässt sich Natureingebundensein und Freiheit als im menschlichen Handeln miteinander vereint denken:143 Im praktischen Handeln liegt für den in diesem Sinne freien Menschen die Möglichkeit, die vorgefundenen Bedingungen der Außenwelt selbst (mit) zu gestalten. Er kann seinen Vorstellungen Wirklichkeit geben; nach Kant hat ein „vernünftiges Wesen (. . .) das Vermögen, n a c h d e r V o r s t e l l u n g der Gesetze, d. i. nach Prinzipien, zu handeln oder einen W i l l e n .“ 144 Der Wille als Ursprung der Handlung wird durch diese nach außen hin verwirklicht, so dass der Mensch die durch seine Umgebung auf ihn einwirkende Fremdbestimmung seines Willens durch selbstbestimmtes Handeln meistern, Heteronomie also aufheben kann.145 Kant beschreibt diesen Zusammenhang so: „(Jedem vernünftigen Wesen, das einen Willen hat, muss notwendig auch die Idee der Freiheit geliehen werden, unter der es allein handle.) Denn in einem solchen Wesen denken wir uns eine Vernunft, die praktisch ist, d. i. Kausalität in Ansehung ihrer Objekte hat. Nun kann man sich unmöglich eine Vernunft denken, die mit ihrem eigenen Bewusstsein in Ansehung ihrer Urteile anderwärts her eine Lenkung empfinge, denn alsdenn würde das Subjekt nicht seiner Vernunft, sondern einem An141
Vgl. dazu M. Köhler, Die bewusste Fahrlässigkeit (1982), Kapitel 4. G. Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 19. Vgl. zu Kants Begriff der negativen Freiheit und seiner Herleitung auch R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 130–136. Zum „Beweis der Freiheit im eigenen Tun“ siehe auch V. Gerhardt, Immanuel Kant (2002), S. 196 f. 143 Der negative Freiheitsbegriff „grenzt eine Bestimmtheitsdimension ab, in welcher nicht Gesetze der Naturkausalität herrschen. (. . .) Widerspruchsfrei bleibt dieser Freiheitsbegriff auch dann noch, wenn man seine Negativität ins Positive zu wenden versucht: die Negation von Kausalität nach Naturgesetzen ist gleichbedeutend mit der Position von Selbstursprünglichkeit; Freiheit als Nicht-Naturkausalität ist Selbst-UrsprungSein (,das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen‘, KrV, B 561 (weitere Hinweise weggelassen, Verf.))“ (H. Oberer, „Sittengesetz und Rechtsgesetze a priori“ (1997), S. 158 (160)). 144 I. Kant, GMdS, BA 36. 145 Vgl. zu diesem Gedanken M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 21. 142
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triebe, die Bestimmung der Urteilskraft zuschreiben. Sie muss sich selbst als Urheberin ihrer Prinzipien ansehen, unabhängig von fremden Einflüssen, folglich muss sie als praktische Vernunft, oder als Wille eines vernünftigen Wesens, von ihr selbst als frei angesehen werden; d. i. der Wille desselben kann nur unter der Idee der Freiheit ein eigener Wille desselben sein, und muss also in praktischer Absicht allen vernünftigen Wesen beigelegt werden.“ 146
Mit dieser Überlegung hat Kant den zweiten Schritt in der Entwicklung des Freiheitsbegriffs eingeleitet: Freiheit ist danach nämlich nicht mehr nur denkmöglich, sondern sogar denknotwendig: Der menschliche Wille muss einerseits – negativ – als von sinnlichen Bestimmungsgründen unabhängig verstanden werden.147 Andererseits muss er aber auch – positiv – so bestimmt werden, dass er als vernünftiger Wille das Vermögen hat, sich unter dem Anspruch der reinen Vernunft selbst zu bestimmen.148 Da das vernunftbegabte Wesen Mensch nach Kant die Fähigkeit hat, nach seiner Vorstellung von Gesetzen zu handeln, hat es einen verwirklichungsfähigen Willen, der von praktischer Vernunft geleitet ist.149 Dies bedeutet, dass es sein Handeln nach dem, was die Vernunft, „unabhängig von der Neigung, als praktisch notwendig, d. i. als gut erkennt“ 150, ausrichten kann. Kant bestimmt dabei als „praktisch gut (. . .), was vermittelst der Vorstellungen der Vernunft, mithin nicht aus subjektiven Ursachen, sondern objektiv, d. i. aus Gründen, die für jedes vernünftige Wesen, als ein solches, gültig sind, den Willen bestimmt.“ 151 Nach Kants Systematik sind dabei grundsätzlich zwei zu unterscheidende, den Willen bestimmende Gründe denkbar: Der erste ist die praktische Notwendigkeit einer möglichen Handlung als Mittel, zu etwas anderem, was man will, zu gelangen („hypothetischer Imperativ“). Der zweite ist, dass die Handlung für sich selbst, ohne Beziehung auf einen anderen Zweck, als objektiv notwendig, als gut, vorgestellt wird („kategorischer Imperativ“).152 Kant formuliert dieses letztere Prinzip guten Handelns folgendermaßen: „H a n d l e n u r n a c h d e r j e n i g e n M a x i m e, d u r c h d i e d u z u g l e i c h wo l l e n k a n n s t, d a s s s i e 146
I. Kant, GMdS, BA 101. Siehe dazu G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“, a. a. O. (Fn. 135), S. 6, 7. 148 G. Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 24; G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“, a. a. O. (Fn. 135), S. 10. Siehe auch die instruktive Darstellung von G. Mohr, in: H. J. Sandkühler (Hrsg.), Handbuch Deutscher Idealismus (2005), S. 150–153. Siehe zum folgenden auch R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 136–141. 149 Vgl. I. Kant, GMdS, BA 37 (dazu auch schon oben unter Fn. 144). Siehe auch E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 284), S. 805 „Das Vernünftige (. . .) ist der Maßstab und das Vermögen des Ich, das Vorfindliche zu ordnen und zu ändern, (. . .).“ 150 I. Kant, GMdS, BA 37. 151 I. Kant, GMdS, BA 38. 152 I. Kant, GMdS, BA 39. 147
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e i n a l l g e m e i n e s G e s e t z w e r d e “.153 Nach dieser Regel bestimmt sich das Gute durch den vernünftigen Denkprozess selbst, nämlich durch den Prozess schließenden Prüfens des subjektiven Handlungsgrundsatzes auf widerspruchslose Verallgemeinerbarkeit.154 Dadurch ist die objektive Gültigkeit eines so aufgestellten Prinzips durch die Einsicht eines jeden einzelnen, vernünftigen Subjekts überprüfbar; das Gute ist also nicht ein von außen als solches Definiertes, sondern ein durch die Denkbewegung des einzelnen selbst Hervorgebrachtes.155 Diese Art der Bestimmung des Guten schließt es aus, ein spezifisches materielles „Gut“ allgemeingültig festzulegen – sie kann nur die Formel liefern, nach der der Wille zum Guten bestimmt wird. In der Rechtslehre kann Kant damit die Freiheit nicht nur als „Unabhängigkeit der Willkür von der Nötigung durch Antriebe der Sinnlichkeit“ 156 (also als Unabhängigkeit von Naturvorgaben) sondern weitergehend als die Freiheit des Willens, als Autonomie157 („d. i. die Eigenschaft des Willens, sich selbst ein Gesetz zu sein“ 158, also innere Selbstbestimmungsfreiheit des Menschen) voraussetzen. Für das Recht erarbeitet er auf dieser Grundlage die äußere, rechtliche Freiheit als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür“ 159. Schon in dieser Formulierung wird deutlich, was sich unter dem Blickwinkel des Rechts im Verhältnis zu den vorherigen Bestimmungen des Freiheitsbegriffs ändern muss: Es geht nicht mehr nur um die Frage, „wie (der Mensch) sein Wollen bestimmen, welchen inneren Gebrauch er (. . .) von seiner Willkür machen, welche Zwecke er sich setzten (. . .) soll“, sondern es geht um den „äußeren Gebrauch seiner Will153
Erste Formulierung des kategorischen Imperativs, I. Kant, GMdS, BA 52. Vgl. M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 24. 155 Vgl. dazu R. Zaczyk, „Gerechtigkeit als Begriff einer kritischen Philosophie im Ausgang von Kant“ ARSP Beiheft Nr. 56 (1994), S. 105 (insbesondere S. 110–114). 156 I. Kant, KrV, Band IV, B 562, A 534. 157 Vgl. dazu auch B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 346–356; U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 167–172 und B. Noltenius, Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft (2003), S. 150–157. 158 I. Kant, GMdS, BA 98. Zur Autonomie als „Schlüsselbegriff für das Verständnis des Kantischen Konzepts von Menschenwürde“ vgl. S. König, Zur Begründung der Menschenrechte (1994), S. 258: „Seine höchste Würde erreicht der Mensch im Moment der Autonomie, denn Autonomie bedeutet als Selbstgesetzgebung, dass reine Vernunft für sich praktisch wird, und Autonomie ist gleichzeitig als volle Verwirklichung von Freiheit die Realisierung der ureigensten Möglichkeit des Menschen: In der Idee der Autonomie erhebt der Mensch sich zu seiner Menschheit. Er repräsentiert die Menschheit in seiner Person nicht nur als Möglichkeit sondern als Wirklichkeit. Autonomie bezeichnet somit in Kants Verständnis das Wesen des Menschen. Der Mensch ist dann im eigentlichen Sinne Mensch, wenn er sich selbst bestimmt, was bei Kant bedeutet: wenn er nur durch reine Vernunft bestimmt ist. Selbstbestimmung als Autonomie ist das Wesen des Menschen, das ihm als Forderung gegenüber tritt: Der Mensch ist zur Menschheit berufen.“ (Fußnote weggelassen). 159 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre, B., AB 45 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 237, 238). 154
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kür im Verhältnis zu einem Anderen“.160 Wird der Freiheitsbegriff als Rechtsbegriff relevant, so muss die Besonderheit gerade der rechtlichen Fragestellung berücksichtigt werden, und das heißt: die Tatsache, dass der Begriff des Rechts „das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können“, betrifft.161 Notwendig wird also eine Verhältnisbestimmung mehrerer freier Wesen im gemeinsamen Raum-Zeit-Zusammenhang und eine diesem Verhältnis entsprechende Begründung wechselseitiger Anerkennung fremder Freiheit.162 Dass Kant die zuvor entwickelten Freiheitsbegriffe im Recht stets mitführt, zeigt sich daran, dass er sie in der Einleitung in die Metaphysik der Sitten nochmals vorstellt. Dort heißt es: „Die F r e i h e i t der Willkür ist jene Unabhängigkeit ihrer Bestimmung durch sinnliche Antriebe; dies ist der negative Begriff derselben. Der positive ist: das Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein. Dieses ist aber nicht anders möglich, als durch Unterwerfung der Maxime einer jeden Handlung unter die Bedingung der Tauglichkeit der ersten zum allgemeinen Gesetz.“ 163 Auch als ersten der „Vorbegriffe“ zur Metaphysik der Sitten stellt Kant nochmals den Begriff der Freiheit in besonderer Weise heraus: Er sei ein reiner Vernunftbegriff, der „im praktischen Gebrauch derselben (d. i. der Freiheit, Anm. K. G.) (. . .) seine Realität durch praktische Grundsätze beweiset, die, als Gesetze, eine Kausalität der reinen Vernunft, unabhängig von allen empirischen Bedingungen (dem Sinnlichen überhaupt), die Willkür bestimmen und einen reinen Willen in uns beweisen, in welchem die sittlichen Begriffe und Gesetze ihren Ursprung haben“ 164. Kant führt also den Freiheitsbegriff an zentraler Stelle der Einleitung in die Metaphysik der Sitten und als ersten der „Vorbegriffe“ ein. Durch diesen Verweis auf sowohl den negativen Begriff der Freiheit (als Gegenstück zur Naturkausalität), als auch auf den positiven Freiheitsbegriff (als Selbstbestimmung durch den kategorischen Imperativ) macht Kant deutlich, dass seine Rechtslehre fest auf dem Grund seiner Moralphilosophie steht.165 Sein Ausgangspunkt ist der han160
So G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“, a. a. O. (Fn. 135),
S. 18. 161 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § B, AB 32 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 230). 162 Vgl. auch G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“ a. a. O. (Fn. 135), S. 22. 163 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Metaphysik der Sitten, AB 6, 7 (Ak.Ausg., Band VI, S. 213, 214). 164 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Metaphysik der Sitten, IV. Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten, AB 18, 19 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 221). 165 Vgl. dazu auch H. Oberer, „Noch einmal zu Kants Rechtsbegründung“ Kant-Studien 101 (2010), S. 380 ff.
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delnde Mensch als Einheit von sinnlich affiziertem und durch Imperative geleitetem Vernunftwesen.166 Geismann weist zu Recht darauf hin, dass das „Problem des Rechts als ein Problem der Lösung möglicher äußerer Handlungskonflikte zwischen Menschen“ sich nur aus der Tatsache ergibt, „dass Menschen ihr Handeln unabhängig von natürlicher Nötigung bestimmen können. Praktische Freiheit in diesem Sinn muss in der Tat vorausgesetzt werden, damit der Mensch überhaupt als mögliches Rechtssubjekt und nicht bloß als Naturobjekt in den Blick kommen kann.“ 167 Die Subjekte, die sich im Recht gegenüberstehen und deren äußere Wirkweise durch das Recht koordiniert werden soll, sind dem Recht nicht bloß untergeordnet, schulden also nicht blind Gehorsam, sondern sind wegen ihrer Vernunftbegabung sowohl mündige Adressaten als auch Mitbegründer des Rechts. Kants Rechtsgesetz: „Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch Deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne“ 168 wäre ohne diese Annahme unverständlich, denn mit dem „freien Ge166 Vgl. I. Kant, GMdS, Dritter Abschnitt, BA 108, 109: „Um deswillen muß ein vernünftiges Wesen sich selbst, a l s I n t e l l i g e n z (. . .) nicht als zur Sinnen-, sondern zur Verstandeswelt gehörig, ansehen; mithin hat es zwei Standpunkte, daraus es sich selbst betrachten, und Gesetze des Gebrauchs seiner Kräfte, folglich aller seiner Handlungen, erkennen kann, e i n m a l , so fern es zur Sinnenwelt gehört, unter Naturgesetzen (Heteronomie), z w e i t e n s , als zur intelligiblen Welt gehörig, unter Gesetzen, die, von der Natur unabhängig, nicht empirisch, sondern bloß in der Vernunft gegründet sein. Als ein vernünftiges, mithin zur intelligiblen Welt gehöriges Wesen kann der Mensch die Kausalität seines eigenen Willens niemals anders als unter der Idee der Freiheit denken; denn Unabhängigkeit von den bestimmenden Ursachen der Sinnenwelt (. . .) ist Freiheit.“ (Fn. weggelassen, Hervorhebungen im Original). Siehe dazu auch die Interpretation E. A. Wolffs, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ ZStW 97 (1985), S. 786, 810: „Die beiden Grundbereiche, die Kant unterschieden hatte, die erscheinende Endlichkeit und die intelligible Welt, sind als Elemente der Existenz des Menschen verbunden und machen sein Dasein aus.“ Vgl. ferner B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), 356 ff., die den Menschen als „Schnittpunkt der beiden Welten“ (S. 356) bezeichnet und sich dabei ebenfalls auf die o. g. Passage aus der GMdS stützt. 167 G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“ a. a. O. (Fn. 135), S. 3 (21), wobei Geismann unterscheidet zwischen „praktischer Freiheit“ (d. h. die Freiheit, auf Grund von auf Vernunft beruhenden Gründen handeln zu können), die eine hinreichende Voraussetzung für die Rechtslehre sei (S. 7–9), und der „positiven Bestimmung der Freiheit“ (d. h. dem Vermögen der Vernunft, für sich selbst praktisch zu werden – Bestimmbarkeit des Wollens und Handelns durch das Freiheitsgesetz der reinen Vernunft), die nicht notwendige Voraussetzung für das Recht (S. 9 ff.) sei. Vgl. zudem Seite 52: „Das Rechtsgesetz richtet sich an den Menschen als ein mit praktischer Vernunft begabtes und dadurch vom Tier unterschiedenes Naturwesen.“ 168 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § C, A 34/B 34 (Ak.Ausg., Band VI, S. 231). Siehe dazu auch M. Köhler, „Das angeborene Recht ist nur ein einziges . . . Menschenrecht, Grundrechtsverhältnisse und Rechtssystem“ (1994), 61 ff., insbesondere 63: „Das einzige ursprüngliche Menschenrecht besteht in der permanent formenden Rechtsvernunft für alle besonderen Zuweisungsgehalte, – vorgesetzliches Prinzip aller bestimmten Rechte und Pflichten so, dass das objektive Recht die äußer-
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brauch der Willkür“ meint er menschliches Wirken in der Außenwelt aufgrund eines ihm vorgängigen Selbstbestimmungsprozesses, der es ermöglicht, das Subjekt als Grund der Handlung und als für sie verantwortlich zu begreifen. Kants Begriff der „Person“ als „Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind“ bestätigt dies zusätzlich. Als Rechtsperson ist der „Mensch durch seine Vernunft als Ursache zu Handlungen in der Sinnenwelt bestimmbar, (. . .)“ 169, so dass sie rechtlich für die „Tat“ 170 verantwortlich gemacht werden kann. Dieselbe Vernunftbegabung ist nach Kant zugleich der Grund dafür, dass die Rechtspersonen dem Recht nicht bloß äußerlich gegenüberstehen, sondern es zugleich selbst mitbegründen. Kant schreibt, dass eine „Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst gibt, unterworfen ist“ 171. Kant definiert die rechtliche Freiheit schließlich als „Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür, sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“ 172 bzw. als „Befugnis, keinen äußeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine Beistimmung habe geben können“ 173. Diese Freiheit ist bei Kant das einzige angeborene Recht des Menschen174 und damit unverfügbarer Bestandteil menschlichen Daseins.175 lich einräumende Formbedingung für die inhaltliche Selbstbestimmung aller freien Subjektivität ist.“ 169 Vgl. dazu G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“ a. a. O. (Fn. 135), S. 50, 51. 170 „T a t heißt eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht, folglich auch, sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird. Der Handelnde wird durch einen solchen Akt als U r h e b e r der Wirkung betrachtet, und diese, zusamt der Handlung selbst, können ihm z u g e r e c h n e t werden, wenn man das Gesetz kennt, kraft welches auf ihnen eine Verbindlichkeit ruhet.“ I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die MdS, IV. Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten, AB 22 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 223). 171 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die MdS, IV. Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten, AB 22 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 223). Siehe dazu auch C. Dierksmeier, „Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff“ (2009), S. 42 (46) und S. König, Zur Begründung der Menschenrechte (1994), S. 224, 225. 172 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre, B., AB 45 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 237, 238). 173 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Erster Definitivartikel, *-Anmerkung, BA 21. 174 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre, B., AB 45 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 237, 238). 175 Vgl. dazu M. Köhler, „Die Rechtspflicht gegen sich selbst“ Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S. 425 (433): „Mit der Vernunftexistenz selbst gesetzt, insofern ursprünglich (,angeboren‘) und systemkonstitutiv-einheitlich, ist das Menschenrecht der erste subjektiv-objektive Inhalt der Personenwürde. Sein subjektiv-rechtlicher Anspruchs- und Zuweisungsgehalt besteht also in einer Handlungsfreiheit, die intern nach dem eigenen Wohl- und Gutskonzept des Subjekts gebraucht werden darf, ,ohne dabei jemanden um Erlaubnis zu bitten oder vom Willen eines anderen abhängig zu sein‘ (Locke). (. . .) Die Person (. . .) ist begriffen als inhaltsproduktiver Mitgrund aller konkreter Rechtsverhältnisse.“
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Es fällt auf, dass Kant im Bereich des Rechts die Freiheit als Unabhängigkeit (als Freiheit) von fremder, nötigender Willkür definiert. Wird die Definition ins Positive gewendet, müsste sie lauten: Freiheit, gemäß der eigenen Willkür zu leben. Dies kommt dem in der Moralphilosophie herausgearbeiteten Begriff der Autonomie – Selbstbestimmung – sehr nahe. Anders als die Autonomie des Einzelnen als ethisches Vermögen zur Einsicht in das Richtige (in Form des kategorischen Imperativs) und zum Leben gemäß dieser Einsicht, muss der Freiheitsbegriff als Rechtsbegriff aber eine andere Bedeutung haben. Während sich erstere im Subjekt abspielt und von jedem Menschen in „Eigenverantwortung“ gehandhabt wird („innere“ Autonomie), ist letzterer eine Frage interpersonaler, äußerer menschlicher Beziehungen. Rechtliche Freiheit kann nur heißen, dass ein Leben gemäß der eigenen Willkür in den äußeren Verhältnissen der Menschen zueinander möglich sein muss.176 Insofern ist die Kantische Definition zu Recht negativ formuliert; sie zeigt, dass rechtliche Freiheit vor allen Dingen bedeutet, von anderen in Ruhe gelassen zu werden, von ihnen bei der eigenen Lebensführung nicht abhängig zu sein und ihnen im Grundsatz keine Rechenschaft über das eigene Leben zu schulden – solange es die Ausübung dieser Freiheit erlaubt, dass alle anderen die ihre in derselben Weise ausleben können.177 Während die Ausrichtung am eingesehenen Richtigen, die „innere“ Autonomie, und überhaupt die Frage, nach welchen inneren Prinzipien der Einzelne sein Leben lebt, nicht Gegenstand des Rechts sein kann,178 betrifft die Freiheit, von anderen in Ruhe ge-
176 Vgl. zu diesem Gedanken schon S. König, Zur Begründung der Menschenrechte (1994), S. 261. 177 Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § C, A 33; B 33, 34 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 230, 231: „Wenn also meine Handlung oder überhaupt mein Zustand mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, so tut der mir unrecht, der mich daran hindert; denn dieses Hindernis (dieser Widerstand) kann mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen nicht bestehen.“ 178 Siehe dazu zum Beispiel G. Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 47, 48: „Moralität kann ja nur höchstpersönlich verwirklicht, nicht aber von anderen befohlen werden. Da sie beansprucht, die Idee der Pflicht zum Bestimmungsgrund der Willkür der Handelnden zu machen, kann sie keiner ,äußeren‘ Gesetzgebung unterworfen werden. Sie unterliegt, wie Kant betont, keinem äußeren Zwang, sondern bloß dem ,Selbstzwang‘.“ Vgl. dazu I. Kant, MdS, Tugendlehre, Einleitung zur Tugendlehre, II., A 9. Siehe ferner G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“ a. a. O. (Fn. 135), S. 22–25; K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 56 ff.; B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 376–386; W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 134 ff.; K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung (1984), S. 85 ff.; U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 172 ff. (dort und bei W. Kersting, a. a. O., auch eine Zusammenfassung der Diskussion um die von Ebbinghaus vertretene sog. „Unabhängigkeitsthese“; kritisch dazu beispielsweise H. Oberer, „Noch einmal zu Kants Rechtsbegründung“ Kant-Studien 101 (2010), S. 380 (392), der in scharfer Auseinandersetzung mit dem oben zitierten Text von G. Geismann deutlich macht, dass „ohne die Rückbindung an das Sittengesetz der Forde-
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lassen zu werden, unmittelbar das äußere Verhältnis der Menschen zueinander und taugt insofern als Rechtsprinzip.179 Trotz dieser begrifflichen Trennung der beiden Freiheitsbegriffe (in einen „inneren“ und einen „äußeren“) gibt es aber notwendige gedankliche Verbindungen zwischen ihnen180: Einerseits ermöglicht (keinesfalls: erzwingt) ein Leben in rechtlicher Freiheit in der Wirklichkeit des alltäglichen Lebensvollzugs auch ein Leben gemäß der inneren Ausrichtung am Richtigen: Wäre der Einzelne faktisch stets fremder Willkür unterworfen, so könnte er nicht selbst- sondern eben nur fremdbestimmt leben; so gesehen macht rechtliche Freiheit also innere Autonomie überhaupt erst praktisch, d. h. hier: in der Lebenswirklichkeit, möglich.181 Andererseits ist die Fähigkeit, das Richtige zu erkennen und dementsprechend zu handeln, eine Voraussetzung dafür, selbstbestimmt „im Recht bleiben“ zu können: Nur die Vernunftbegabung des Einzelnen macht es möglich, dass ihm das Recht nicht als bloß äußeres Zwangsreglement gegenüber steht, sondern von ihm als richtig eingesehen und ein Handeln im Einklang mit ihm als mit der eigenen Selbstbestimmung vereinbar begriffen werden kann.182 Hätte der Einzelne diese Fähigkeit zur Einsicht in das Richtige nicht, müsste ihm das äußere, noch dazu mit einer Zwangsbefugnis ausgestattete Recht als heteronome Gewaltherrschaft vorkommen, nicht aber als eine für ihn und die anderen aus Vernunftgründen bestehende Verbindlichkeit, deren Befolgung ihm selbst als richtig einleuchtet.183 rung des obersten Rechtsgesetzes und der aus ihm a priori folgenden Rechtsgesetze alle Verbindlichkeit fehlt“.). 179 Vgl. dazu G. Luf, Freiheit als Rechtsprinzip (2008). 180 So auch G. Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 53–57; zu einer möglichen Verbindung über den Begriff der praktischen Vernunft siehe W. Bartuschat, „Recht, Vernunft und Gerechtigkeit“ (1994), S. 9 ff. und R. Zaczyk, „Einheit des Grundes, Grund der Differenz von Moralität und Legalität“ Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), S. 311 ff. 181 Dieser Standpunkt ist nicht zu verwechseln mit einer „moralteleologischen Rechtsauffassung“, nach der das Recht in einer teleologischen Beziehung zur Sittlichkeit steht, also das Recht nicht nur der Sicherung äußerer Freiheit dient, sondern auch der Erfüllung des Sittengesetzes. So aber z. B. K. Larenz, „Sittlichkeit und Recht“ (1943), S. 282 f.; W. Naucke, Kant und die psychologische Zwangstheorie Feuerbachs (1962), S. 27 und 29; H.-L. Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht (1966), S. 42 f. Vgl. zu dieser Diskussion W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 142 ff. (m.w. N.); U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 178 ff. 182 Siehe dazu auch R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 147. 183 So auch U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 193. Voraussetzung dafür, dass der Einzelne durch seine Autonomie die Richtigkeit der rechtlichen Regel einsehen kann, ist allerdings, dass das geltende Recht seinerseits tatsächlich vernunftgemäß ausgestaltet ist. Eine bloß äußere Herrschaft qua überlegener Macht wird den vernunftbegabten, autonomen Einzelnen niemals zufrieden stellen können – was sich empirisch auch daran zeigt, dass Unrechtssysteme auf Dauer keinen Be-
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Die Freiheit, gemäß der eigenen Willkür zu leben, wird bei Kant zum Recht des Menschen, das ihn vor fremder Willkür schützt und das ihm als Befugnis dient, an der ihn bindenden äußeren Gesetzgebung zumindest als Miturheber beteiligt zu werden. Aus der angeborenen Freiheit leitet sich so ein Anspruch auf einen freiheitsrespektierenden Umgang mit dem Einzelnen ab, den er allen anderen gegenüber geltend machen kann. Gleichzeitig ist die rechtliche Freiheit immanent beschränkt auf Freiheitsäußerungen, die fremde Freiheitsausübung unbeeinträchtigt lassen; Kant schreibt: „(. . .), sofern (sie) mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“. In Kants rechtlichem Freiheitsbegriff ist also (anders als bei Hobbes) „die gleiche Freiheit des Anderen von Anfang an mitgedacht“ 184. 2. Der Rechtsbegriff Kants Die besondere Bedeutung, die Kant im Rahmen seiner Philosophie dem Freiheitsbegriff gibt, zeigt sich deutlich auch in seiner Begründung des Rechts (und der damit zusammenhängenden Zwangsbefugnis)185. Die folgenden Ausführungen sollen insbesondere den Zusammenhang zwischen Freiheit und Recht herausarbeiten.186 Erst davon ausgehend kann in einem nächsten Schritt das Staatsrecht und mit ihm das Problem der Sicherheit im Rechtssystem Kants erörtert werden. Luf formuliert die Konsequenz aus Kants Freiheitsverständnis für den Begriff des Rechts folgendermaßen: „Die Achtung eigener wie fremder Freiheit erfordert also die prinzipielle Anerkennung und allgemeine Garantie eines äußeren Entfaltungsraumes der Freiheit durch das Recht.“ 187 Recht wird damit gedacht als allgemeine Realisierung freiheitlicher Verhältnisse durch verbindliche Anerkennung und Garantie äußerer Freiheit.188 Dies spiegelt sich wider in der Definition des Rechts, die Kant gibt: „Recht ist der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die stand haben können, wie es zuletzt durch den Zusammenbruch der kommunistischen Zwangsherrschaft wieder deutlich geworden ist. 184 So S. König, Zur Begründung der Menschenrechte (1994), S. 240. Hegel hat diesen Gedanken als Gebot des Rechts später folgendermaßen formuliert: „sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.“ (G. W. F. Hegel, GPhR, § 36, S. 95). Vgl. auch C. Dierksmeier, „Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff“ (2009), S. 42 (48); M. Köhler, „Das angeborene Recht ist nur ein einziges . . . Menschenrecht, Grundrechtsverhältnisse und Rechtssystem“ (1994), S. 66, 67. 185 Vgl. zu letzterem S. 343 ff. im 5. Teil der Arbeit. 186 Einen guten Überblick gibt auch Ch. Niebling, Das Staatsrecht in der Rechtslehre Kants (2005), S. 34–50. 187 G. Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), S. 48. 188 Vgl. auch C. Dierksmeier, „Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff“ (2009), S. 42 (46): „Die Rechtsidee soll deshalb so entfaltet werden, dass sie sich als notwendige Fortschreibung von Begriff und Wirklichkeit des Freiheitsprinzips nachweisen lässt.“ (Fn. weggelassen).
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Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann.“ 189 Diese Definition gibt Kant, nachdem er drei wesentliche Momente seines Rechtsbegriffs herausgearbeitet hat, die sich in seiner Begriffsbestimmung auch wieder finden lassen. Der Begriff des Rechts betreffe – erstlich nur das äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluss haben können. – Zweitens bedeute er nicht das Verhältnis der Willkür auf den W u n s c h des anderen (. . .) sondern lediglich auf die W i l l k ü r des anderen; – drittens komme in diesem wechselseitigen Verhältnis der Willkür nicht die M a t e r i e der Willkür, d. i. der Zweck, den ein jeder mit dem O b j e k t , was er will, zur Absicht hat, in Betrachtung, sondern nur die F o r m im Verhältnis der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als f r e i betrachtet wird, und ob dadurch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse.190 Als allgemeines Rechtsgesetz formuliert Kant schließlich: „Handle äußerlich so, dass der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen (kann).“ 191 Aus der Definition, den drei Begriffselementen und der Formulierung des allgemeinen Rechtsgesetzes lassen sich die entscheidenden Merkmale des Kantischen Rechtsbegriffs ableiten:192 Erstens kommt als Adressat des Rechtsgesetzes nur ein selbstbestimmtes – freies – Wesen in Betracht. Kant spricht nämlich von der Übereinstimmung des freien Gebrauchs der Willkür mit der Freiheit von jedermann, wobei er den Begriff der Willkür in seiner Einleitung in die Metaphysik der Sitten folgendermaßen definiert: Willkür ist das „Vermögen, n a c h B e l i e b e n z u t u n 189 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § B, AB 33 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 230). Dazu R. Dreier, Rechtsbegriff und Rechtsidee (1986), S. 10 ff. 190 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § B, A 32, 33; B 32, 33 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 230). Vgl. zu diesen drei Merkmalen auch O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe“ (1982), S. 335 (345 ff.) und ders., „Der kategorische Rechtsimperativ“ (1999), S. 41 (49–52); W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 97–111; K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung (1984), S. 85–94; B. Noltenius, Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft (2003), S. 161, 162. Gründliche Textinterpretation schon bei G. Scholz, Das Problem des Rechts in Kants Moralphilosophie (1972), S. 15 ff. 191 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § C, AB 34 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 231). Vgl. zu dem Begriff der „äußeren Handlung“ D. von der Pfordten, „Kants Rechtsbegriff“ Kant-Studien 98 (2007), S. 431 ff. 192 Vgl. zur folgenden Darstellung schon K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 56 ff.
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o d e r z u l a s s e n “, „sofern es mit dem Bewußtsein des Vermögens seiner Handlung zur Hervorbringung des Objekts verbunden ist“ 193. Es geht dabei also um eine Beziehung der Vorstellung eines Subjekts zu der von ihm zu bewirkenden Außenweltsveränderung.194 „Gebrauch“ ist die äußere Umsetzung des Vermögens, nach Belieben zu tun oder zu lassen, also die Verwirklichung der Vorstellung in der Außenwelt. Das Attribut „frei“ bezieht sich auf diese äußere Umsetzung. Eine Außenweltsveränderung des Subjekts, die fremdbestimmt (unfrei) ist, wird damit aus dem unmittelbaren Geltungsbereich des Rechtsgesetzes ausgeklammert: Ist das Handeln unfrei, etwa durch unwiderstehliche Gewalt verursacht, kann es nicht als ein durch das Rechtsgesetz gebundenes Verhalten beurteilt werden. Das Recht als Prinzip betrifft nur solches Verhalten, das überhaupt als Resultat eines menschlichen Willensprozesses nach außen tritt, fremdbestimmtes Verhalten kann der Urheber nicht nach dem Rechtsgesetz ausrichten. Zweitens wird bei Kant für das Recht nur das äußerlich erfahrbare Ergebnis (die Handlung) eines Willensbildungsprozesses betrachtet, nicht auch der Prozess selbst. Die Frage, ob das äußere Verhalten innerlich durch eine Maxime bestimmt wurde, die zum allgemeinen Gesetz taugt, ist für das Recht nicht entscheidend. Kant knüpft die Verbindlichkeit des Gesetzes als rechtliches Gesetz gerade nicht an die Motivation der Befolgung dieses Gesetzes. Das allgemeine Rechtsgesetz ist „zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, dass ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle; (. . .)“ 195. 193
I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, I., AB 5 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 213). Ist es eine verwirklichungsfähige Vorstellung, ist sich das Subjekt darüber bewusst, dass es die Wirklichkeit tatsächlich seinem Belieben nach gestalten kann, so handelt es sich nicht um einen bloßen Wunsch (vgl. Kants Bestimmung des „Wunsches“ in der MdS, Einleitung in die MdS, I., AB 5 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 213)) des Subjekts, sondern um dessen Willkür. In der Beschreibung Höffes stellt sich der Unterschied zwischen Wunsch und Willkür bei Kant wie folgt dar: „Während sich der Wunsch auch auf Gegenstände richten kann, die außerhalb der Reichweite der eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten liegen, richtet sich die Willkür nur auf jene Objekte, die man tatsächlich hervorzubringen vermag. Man kann die Willkür daher auch reale Handlungsfreiheit nennen. (. . .) Bloße Wünsche verbleiben im Innerlichen; sie führen zu keinen Handlungen, können sich deshalb auch nicht wechselseitig beeinflussen.“ O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe“ (1982), S. 347; vgl. auch R. Zaczyk, „Untersuchungen zum rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft in Kants Metaphysik der Sitten“ (1995), S. 311 (319). Von dem Begriff der Willkür ist der Begriff des Willens zu unterscheiden. „Wille“ ist nach Kant das, was die Willkür (das Vermögen, etwas Verwirklichungsfähiges zu tun oder zu lassen) inhaltlich bestimmt, ihr Bestimmungsgrund, die praktische Vernunft selbst (vgl. I. Kant, MdS, Einleitung in die MdS, I., AB 5 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 213); siehe dazu auch L. W. Beck, Kants „Kritik der praktischen Vernunft“ (1974), S. 169–173 und 187–191). Die Gesetze, die diesen Willen leiten, sind die Gesetze der Freiheit. 195 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § C, AB 34 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 231) (Hervorhebungen der Verf.). 194
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Um recht zu handeln, genügt es, dass das eigene ä u ß e r e Handeln mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.196 Drittens ist entscheidend, dass (wie der kategorische Imperativ bei der Bestimmung des „moralisch Guten“) das Rechtsgesetz lediglich eine „Formel“ für einen Prozess schließenden Prüfens auf widerspruchslose Verallgemeinerbarkeit aufstellt. Schon auf der moralisch-praktischen Ebene wird nach Kant nicht ein bestimmter Inhalt als allgemeingültiges „Gut“ gesetzt, sondern das Gute stellt sich nur der Form nach in einem bestimmten Denkprozess dar. Nach Kant können „praktische Prinzipien, die ein O b j e k t (Materie) des Begehrungsvermögens als Bestimmungsgrund voraussetzen, (. . .) keine praktischen Gesetze abgeben“ 197. Alle „materiale praktische Prinzipien“ sind nach Kant „von einer und derselben Art, und gehören unter das allgemeine Prinzip (. . .) der eigenen Glückseligkeit“ 198. Allgemeine praktische Gesetze enthalten nicht der Materie, sondern bloß der Form nach den Bestimmungsgrund des Willens.199 Genauso wenig enthält das allgemeine Rechtsgesetz inhaltliche Vorgaben. Es fragt danach, ob die äußere Handlung des einen sich mit der Freiheit des anderen unter einem allgemeinen Gesetze vereinbaren lasse, nicht aber ob die Handlung einem bestimmten, vorausgesetzten Zweck diene.200 Gegenstand von Kants allgemeinem Rechtsgesetz ist ausschließlich die abstrakt-formale Koordinierung selbstbestimmten Handelns; es beinhaltet eine „allgemeine Regelung interpersonaler Verhältnisse zur Gewährleistung der äußeren Bedingungen subjektiver Autonomie“ 201. Zusammenfassend lässt sich also für das Kantische Verständnis vom Recht festhalten, dass es die notwendigen Bedingungen für die Vereinbarkeit der äußeren Handlungen autonomer Rechtsgenossen enthält, oder anders formuliert: Rechtliche Regelungen sind solche, die die „selbständige Bewältigung des Da-
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Vgl. dazu auch die Nachweise in Fn. 178. I. Kant, KpV, § 2, Lehrsatz I, A 38. 198 I. Kant, KpV, § 3, Lehrsatz II, A 40. 199 Siehe I. Kant, KpV, § 4, Lehrsatz III, A 48. 200 Siehe dazu auch W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 364–368 und M. Köhler, „Iustitia fundamentum regnorum“ (o. J.), S. 25 (29, 30). 201 M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 13 (Hervorhebung der Verf.). Vgl. auch I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 233, 234: „Der Begriff aber eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriff der F r e i h e i t im äußeren Verhältnisse der Menschen zu einander hervor; und hat gar nichts mit dem Zwecke, den alle Menschen natürlicher Weise haben (der Absicht auf Glückseligkeit), und der Vorschrift der Mittel, dazu zu gelangen, zu tun: so dass auch daher dieser letztere sich in jenes Gesetze schlechterdings nicht, als Bestimmungsgrund derselben, mischen muss. R e c h t ist die Einschränkung der Freiheit eines jeden auf die Bedingung ihrer Zusammenstimmung mit der Freiheit von jedermann, in so fern diese nach einem allgemeinen Gesetze möglich ist; (. . .).“ 197
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seins im äußeren Verhältnis der Gleichbedeutsamkeit zum anderen ermöglichen“ 202. 3. Zusammenfassung zu II. Die Vorstellung des Kantischen Freiheitsbegriffs und des aus ihm entwickelten Rechtsverständnisses hat deutlich gezeigt, dass bei Kant Freiheit und Recht notwendig zusammen, genauer: aufeinander bezogen, gedacht werden müssen:203 Die Notwendigkeit einer rechtlichen Ordnung erwächst aus der menschlichen Einsicht, dass der einzelne Freie tatsächlich, also in seiner jeweiligen Lebensrealität, frei von fremder Willkür leben können muss. Das Recht hat dafür die Bedingungen in einer Weise zu schaffen, dass die Freiheitsrealisation für alle Rechtssubjekte gleichermaßen möglich wird. Anders als noch bei Hobbes wird damit das Recht nicht als Einschränkung oder sogar Aufgabe der Freiheit des Einzelnen gedacht, sondern als einzige Möglichkeit, die Freiheit aller in der Realität zu wahren, ein „Dasein der Freiheit“ 204 zu schaffen. Nicht die „Domestizierung“ der andernfalls nur ihrem Eigennutz nachstrebenden Menschen (Hobbes schreibt, die nach Selbsterhalt strebenden Menschen müssten „im Zaume“ gehalten werden), sondern die von den Rechtssubjekten selbst zu leistende, vernünftige Koordination ihrer sich überschneidender Lebenskreise macht das Recht aus. Voraussetzung für ein solches Rechtsverständnis ist allerdings, dass die Freiheit nicht wie bei Hobbes nur als Freiheit zum Selbsterhalt gedacht wird, sondern als die Fähigkeit, unabhängig von sinnlichen Bestimmungsgründen und aufgrund der eigenen Vernunfttätigkeit selbständig und in Anerkennung fremder Vernunft zu handeln.
III. Vom Privatrecht zum öffentlichen Recht oder: vom Zustand des provisorischen Rechts zu dem der Rechtssicherheit205 Das Rechtsverständnis Kants macht es im Unterschied zur Vorstellung von Hobbes möglich, Recht auch schon im vorstaatlichen Zustand zu denken: Wäh202 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), S. 137 (198). 203 Siehe dazu auch W. Brugger, „Grundlinien der Kantischen Rechtsphilosophie“ JZ 1991, S. 893 (895). 204 G. W. F. Hegel, GPhR, § 30, S. 83. 205 Vgl. dazu zunächst H. F. Fulda, „Kants Postulat des öffentlichen Rechts (RL § 42)“ Jahrbuch für Recht und Ethik 5 (1997), S. 267 ff.; K. Herb/B. Ludwig, „Naturzustand, Eigentum und Staat“ Kant-Studien 84 (1993), S. 283 ff.; Th. Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Souveränität und Internationalisierung (2010), S. 42–45 und 53–64; W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 325 ff.; K. Kühl, Eigentumsordnung als Freiheitsordnung (1984), S. 162–168; Ch. Niebling, Das Staatsrecht in der Rechtslehre Kants (2005), S. 62–94; P. Unruh, Die Herrschaft der Vernunft (1993), S. 85–106; C. Wawrzinek, Die ,wahre Republik‘ und das ,Bündel von
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rend bei Hobbes das allen zustehende „Recht auf alles“ im Naturzustand seine Selbstaufhebung in sich trägt, ist Kants „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern unter einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ – zumindest als erster Schritt einer ausgearbeiteten Rechtslehre – auch ohne staatliche Strukturen konsequent denkbar. Der Begriff des Naturzustands ist deshalb bei Kant notwendig ein anderer als bei Hobbes. Kant nennt den ersten Teil seiner Rechtslehre „Das Privatrecht vom äußeren Mein und Dein überhaupt“ 206 und setzt den „Zustand des Privatrechts“ mit dem „natürlichen Zustand“ gleich.207 Im Privatrecht werden von Kant äußere Rechtspositionen und ihre Übertragungsmöglichkeiten (z. B. Besitz und Eigentum, ursprünglicher Erwerb und Vertrag) in einer Weise entwickelt, die materiell keiner Ergänzung mehr bedarf, um als rechtliche Grundlegung zu dienen. Diese Rechtsmaterie bleibt beim Übergang vom Natur- in den Rechtszustand in ihrem Inhalt unverändert, sie wird nur der Form nach abgesichert und durch die staatlichen Strukturen garantiert. Kant schreibt, dass das Privatrecht nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich enthalte als dies im Zustand des öffentlichen Rechts (also im Rechtszustand) der Fall ist: Die „Materie des Privatrechts“ sei „ebendieselbe“ in beiden Zuständen.208 Allerdings können in diesem Privatrecht die Rechtsverhältnisse nur vorläufig, nur „provisorisch“ geregelt sein. Um ein dauerhaftes, verlässliches, in Kants Worten „peremtorisches“ Recht209 zu schaffen, um die im Privatrecht schon bestehenden Rechte tatsächlich „zur Ausübung“ 210 gelangen zu lassen, muss ein Rechtszustand geschaffen werden.211 Die Notwendigkeit des Austritts aus dem Naturzustand begründet Kant demnach nicht primär aus der Angst vor gegenseitiger Gewalt (obgleich er eine solKompromissen‘: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist (2009), 87 ff. 206 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, AB 55 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 245). 207 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 155, 156; B 156 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 306). 208 Ebenda. Siehe dazu auch Ch. Niebling, Das Staatsrecht in der Rechtslehre Kants (2005), S. 65. 209 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 9, AB 74, 75 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 257). Genauer dazu C. Wawrzinek, Die ,wahre Republik‘ und das ,Bündel von Kompromissen‘: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist (2009), 105 ff. 210 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 164; B 194 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 313). 211 Siehe dazu z. B. W. Bartuschat, „Praktische Philosophie und Rechtsphilosophie bei Kant“ Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), S. 24 (33 ff.); W. Brugger, „Grundlinien der Kantischen Rechtsphilosophie“ JZ 1991, S. 893 (896) und Ch. Niebling, Das Staatsrecht in der Rechtslehre Kants (2005), S. 66 ff.
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che nicht grundsätzlich ausschließt), sondern vielmehr aus der Tatsache, dass es im Naturzustand prinzipiell (d. h. ganz unabhängig davon, ob es tatsächlich zu Gewalttätigkeiten kommt) niemals Rechtssicherheit geben kann, die zu einem freiheitlichen Gemeinwesen ebenso gehört wie die materielle Gerechtigkeit. Er schreibt, dass sich der Grund für das Erfordernis eines rechtlichen Zustands unter den Menschen „analytisch aus dem Begriffe des R e c h t s im äußeren Verhältnis im Gegensatz der G e w a l t (violentia) entwickeln“ 212 lässt. Das materielle Privatrecht im natürlichen Zustand existiert bei Kant als Ausdruck praktisch-rechtlicher Vernunft schon vor äußerer Verfestigung und Durchsetzbarkeit; es beinhaltet die Bestimmung dessen, was recht und was unrecht ist. Es ist aber schon in seiner Herleitung aus praktisch-rechtlicher Vernunft und dem damit verbundenen Anspruch auf Allgemeingültigkeit angelegt, dass es auch Wirklichkeit im Dasein der einzelnen Vernunftsubjekte erhalten soll.213 Zu dieser Wirklichkeit gehört, dass sich ein jeder auch tatsächlich auf sein Recht verlassen und es jedem anderen gegenüber geltend machen kann. Dies meint Kant, wenn er davon spricht, dass das „Postulat des öffentlichen Rechts aus dem Privatrecht“ 214 hervorgehe. Die Erkenntnis dessen, was recht ist, soll auch praktisch, d. h. beständig und durchsetzbar (also: sicher) werden.215 Dabei hat diese Forderung nach dem „Praktisch-werden“ der durch rechtliche Vernunft erlangten Einsichten nicht bloß den Status eines bedingten, zweck-gebundenen Imperativs; Kant formuliert die Aufforderung zum Übergang in einen rechtlichen Zustand als für sich, d. h. unabhängig von jedem Zweck, objektiv notwendig: „Du sollst, im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen, aus jenem (dem Naturzustand, Anm. der Verf.) heraus in einen rechtlichen Zustand, (. . .) übergehen.“ 216 Damit ist ausgedrückt, dass der Grund, der zu der Notwendigkeit rechtlicher Strukturen führt, kein empirischer sondern ein apriorischer ist und die tatsächlichen Verhältnisse dem Recht gemäß eingerichtet werden müssen: Es braucht nicht erst die immer denkbare negative Erfahrung von Rechtsbrüchen abgewartet zu werden217, um zu wissen, dass es einer grundsätzlichen Lösung für das Problem bestehender Rechtsunsicherheit und drohender Rechtsverletzung bedarf. Der 212 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, A 157, B 156, 157 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 307). 213 Vgl. auch H. F. Fulda, „Kants Postulat des öffentlichen Rechts (RL § 42)“ a. a. O. (Fn. 205), S. 274 f. 214 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, A 157, B 156 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 307). 215 Siehe nochmals H. F. Fulda, „Kants Postulat des öffentlichen Rechts (RL § 42)“ a. a. O. (Fn. 205), S. 286. 216 Vgl. dazu auch den § 41, nach dem es als Gesetz a priori gilt, dass „alle Menschen, die miteinander (auch unwillkürlich) in Rechtsverhältnisse kommen können, in diesen (rechtlichen) Zustand treten s o l l e n .“ MdS, Rechtslehre, A 156; B 155 (Ak.Ausg., Band VI, S. 306). 217 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, AB 157 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 307).
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natürliche Zustand ist nach Kant ein „Zustand der Rechtlosigkeit“ (nicht: „der Ungerechtigkeit“) vor allem deshalb, weil für eventuelle Rechtsstreitigkeiten kein kompetenter Richter eingesetzt ist, der einen rechtskräftigen Spruch fällen könnte.218 Potentiell können sich Rechtsstreitigkeiten in diesem Zustand bis ins Unendliche ziehen, wenn sie nicht durch überlegene, dann aber bloß faktische Gewalt beendet werden. Dass dies keine rechtsförmige Lösung darstellt, ist auch ohne Anschauung begreifbar: Es ist deshalb ebenso ein Gebot rechtlich-praktischer Vernunft, einen das Recht garantierenden Zustand zu schaffen, wie überhaupt unter Rechtsgesetzen zusammen zu leben.219 Im Gegensatz zu Hobbes geht es Kant demgemäß nicht um die Überwindung eines per se rechtsfeindlichen, kriegerischen Zustands unter den Menschen, sondern um die Überwindung eines Zustands ungesicherten Rechts.220 Dies ist insofern bedeutsam, als dass der Staat nicht als Schutzmacht vor allgemein ungezügelter Gewalt und als Garant für ein zufriedenes Leben auftritt, sondern als eine Instanz, die allgemeine Freiheit – ausgestaltet in konkreten Rechtspositionen – zu bewahren hat. Zwar ist auch dafür eine äußere Macht notwendig, die mit Zwangsgewalt ausgestattet ist; aber sie ist ihrem Grund und ihrer Reichweite nach anders zu denken als die Hobbessche absolute Gewalt, der sich alle (gewissermaßen mit Haut und Haar) zu unterwerfen und dabei ihre Rechte vollständig auf sie zu übertragen haben. Ist Ziel der Schaffung eines Staates allgemeine Freiheitsrealisation, so kann der „Preis“, den der Einzelne für die vom Staat geleistete Garantie zahlen muss, niemals seine eigene Freiheit sein. Die angeborene Freiheit des einzelnen Rechtssubjekts wird bei Kant – anders als bei Hobbes – zu einer unverminderten „Freiheit überhaupt“ in einem recht218 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163; B 193 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 312). 219 Vgl. auch W. Enderlein, „Die Begründung der Strafe bei Kant“ Kant Studien 76 (1985), S. 303 (309). 220 Vgl. für eine genauere Differenzierung zwischen der Hobbesschen und der Kantischen Staatsbegründung K. Herb/B. Ludwig, „Naturzustand, Eigentum und Staat“ KantStudien Bd. 84 (1993), S. 283 ff. (insbesondere S. 297–307). Herb und Ludwig zeigen eindrucksvoll, dass das Staatsrecht bei Kant auf zweierlei Argumentationssträngen ruht: Erstens auf der „eigentumstheoretischen Deduktion des status civilis“, die sich den §§ 1–9 der Metaphysik der Sitten entnehmen lasse, und zweitens auf einer von Hobbes hergeleiteten „naturzustandstheoretischen Begründung“, die sich in den §§ 41–44 der Metaphysik findet. Durch die Gründung im Privatrecht erhält die Forderung, aus dem Naturzustand in einen bürgerlichen Zustand zu treten, eine gegenüber Hobbes und anderen Philosophen eigenständige und im Vergleich zu deren Begründungsansätzen tiefere Fundierung. Kant hat „(d)en Nachweis der rechtlichen Notwendigkeit der bürgerlichen Verfassung (. . .) ohne (. . .) Verweis (auf den überkommenen Begriff des Naturzustands, Verf.), allein vermittels einer Analyse der Möglichkeit des rechtlichen Bezugs freier Wesen auf äußere Gegenstände der Willkür geleistet.“ (Ebenda, S. 292). Die beiden Begründungsstränge arbeitet C. Wawrzinek, Die ,wahre Republik‘ und das ,Bündel von Kompromissen‘: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist (2009), 87 ff., gründlich aus.
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lichen Zustand.221 Der Einzelne gibt seine Autonomie nicht dadurch auf, dass er sich selbst in eine gesetzliche Abhängigkeit begibt. Er schafft sich im Gegenteil erst die reale Möglichkeit, autonom zu leben – und das heißt unter Einrechnung der anderen, auf die er genauso angewiesen ist, wie diese auf ihn, und unter Einrechnung der Tatsache, dass die gemeinsame Lebenssubstanz beschränkt ist und ihre Aufteilung gerecht geregelt werden muss. Das gemeinsame Eintreten in eine solche gesetzliche Abhängigkeit ist als apriorische Vernunftforderung für jeden subjektiv einsichtig, sie „entspringt“ seinem „eigenen gesetzgebenden Willen“. Im Unterschied zum Hobbesschen Staat hält auf diese Weise nicht eine äußere Gewalt die Menschen durch Furcht vor Strafe im Zaum, sondern die Menschen finden sich aus Vernunftgründen selbst unter Rechtsgesetzen zusammen und begründen ihren Staat, dessen primäre Aufgabe die Freiheitsrealisation aller seiner Bürger ist. Dies hat zur Konsequenz, dass der Staat schon seinem Grund nach keine absolute und ungeteilte Herrschaft haben kann, sondern durch das ihm immanente Freiheitsprinzip beschränkt ist. Die Begründbarkeit seiner übergeordneten Machtstellung hängt so davon ab, ob er diesem Freiheitsprinzip gerecht wird oder nicht. Eine solche Fundierung in der Freiheit des Einzelnen unterscheidet das auf diese Weise zustande gekommene Gemeinwesen von der Hobbesschen Zwangsordnung und bewahrt es vor den gegen Hobbes eingewandten Widersprüchen und Unzulänglichkeiten222: Über das reine Interesse an der eigenen Lebenssicherung hinaus wird erstens die menschliche Fähigkeit zur Selbstbestimmung als Ausgangspunkt der Rechtsgemeinschaft berücksichtigt; zweitens bleibt die Rechtspersönlichkeit des einzelnen Bürgers gewahrt, weil es gerade um ihren Erhalt in Gemeinschaft mit anderen geht; drittens darf die Staatsgewalt nicht zügellos wirken, da sie stets an die Aufgabe der Freiheitswahrung gebunden bleibt und sie durch die angeborene Freiheit des Einzelnen eine unüberwindbare Schranke im Umgang mit den Bürgern erfährt; und letztlich wird durch die Kantische Entwicklung und Ausarbeitung des Freiheitsbegriffs verhindert, dass die Freiheit des Einzelnen als bloße Freiheit zum Selbsterhalt unterbestimmt wird.
221 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 47, A 168, 169; B 198, 199 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 315, 316): „Der Akt, wodurch sich das Volk selbst zu einem Staat konstituiert, eigentlich aber nur die Idee desselben, nach der die Rechtmäßigkeit desselben allein gedacht werden kann, ist der u r s p r ü n g l i c h e K o n t r a k t , nach welchem alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volkes als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen; und man kann nicht sagen: Der Mensch im Staate habe einen Teil seiner angeborenen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden; weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.“ Vgl. dazu auch W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 351. 222 Vgl. dazu oben S. 63 ff.
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IV. Strukturen des Staates und das Prinzip der öffentlichen Gerechtigkeit Den rechtlichen Zustand beschreibt Kant als „dasjenige Verhältnis der Menschen untereinander, welches die Bedingungen enthält, unter denen allein jeder seines Rechts t e i l h a f t i g werden kann“.223 Er nennt ihn den Zustand des öffentlichen Rechts oder den bürgerlichen Zustand (status civilis). Die Menschen sind in diesem Zustand „verbunden durch das gemeinsame Interesse aller, im rechtlichen Zustand zu sein“ und bilden auf diese Weise das „gemeine Wesen“ oder den Staat (civitas)224 als eine „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ 225. Um einen solchen Zustand zu schaffen, müsse man sich, so Kant, „mit allen anderen (mit denen in Wechselbeziehung zu geraten man nicht vermeiden kann) dahin vereinigen, sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, g e s e t z l i c h bestimmt und durch hinreichende M a c h t (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Teil wird, (. . .).“ 226
Im Rechtszustand erfassen demnach allgemeine Gesetze, was „jedem für das Seine anerkannt“ werden soll und eine äußere Macht verhilft dem Einzelnen zur „Teilhabe“ seiner Rechte (dazu nachfolgend 1.). Das „formale Prinzip der Möglichkeit“ eines solchen rechtlichen Zustands heißt nach Kant die „öffentliche Gerechtigkeit“ 227, die er in die drei Formen der schützenden, ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit einteilt und dann mit dem Prinzip der Öffentlichkeit verbindet (dazu 2.). 1. Rechtsgesetze, Staatsmacht und das Prinzip der Gewaltenteilung Die Gesetze in einem Staat haben im Kantischen Rechtssystem im wesentlichen drei Funktionen:228 Sie haben erstens dafür zu sorgen, dass ein – praktisch vernünftig bestimmter, schon im Privatrecht angelegter – äußerer Freiheitsraum (das „äußere Mein und Dein“, z. B. das Recht auf die Unversehrtheit des Körpers und das Recht auf Eigentum) jedem verbindlich zugeordnet bzw. für jeden anerkannt wird, er sich also auch im Verhältnis zu anderen auf diesen Raum berufen 223
I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 154, 155; B 154 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 305,
306). 224 Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 43, A 161; B 192 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 311). 225 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 45, A 164; B 194 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 313). 226 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163; B 193 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 312). 227 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 155; B 155, 156 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 306). 228 Vgl. dazu im Anschluss an E. A. Wolff schon K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 76 ff.
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kann. Zweitens müssen die Gesetze Verletzungsverbote enthalten, die die einzelnen Rechtssphären vor dem Zugriff anderer (auch dem des Staates) schützen. Drittens müssen sie Regelungen über den Austausch bzw. die Übertragung der Rechtspositionen im Rechtsverkehr enthalten, also die Gestaltung der je eigenen Rechtssphäre ermöglichen. Diese drei Funktionen der Gesetze – verbindliche Zuordnung, Rechtsverletzungsverbote und Regelung des rechtsgeschäftlichen Verkehrs – müssen durch eine äußere Macht verfestigt werden, so dass die Rechtspositionen der Einzelnen tatsächlich „zur Ausübung“ kommen können: Die Rechtssphären müssen inhaltlich bestimmt, öffentlich geschützt und durchgesetzt sowie bei Unklarheit durch einen verbindlichen Richterspruch festgelegt werden. Als eine solche „äußere Macht“ hat die Gemeinschaft eine übergeordnete Instanz – den Staat – zu schaffen. Nach Kant enthält ein solcher Staat notwendig drei Gewalten in sich, „d. i. den allgemein vereinigten Willen in dreifacher Person (trias politica): die H e r r s c h e r g e w a l t (Souveränität), in der des Gesetzgebers, die v o l l z i e h e n d e G e w a l t , in der des Regierers (zu Folge dem Gesetz) und die r e c h t s p r e c h e n d e G e w a l t (als Zuerkennung des Seinen eines jeden nach dem Gesetz), in der Person des Richters (potestas legislatoria, rectoria et iudiciaria)“.229
Diese drei Gewalten sind Momente bzw. Ausformungen des allgemein vereinigten Willens des Staatsvolks. Bei Kant ist der Ursprung der öffentlichen Gewalt ein vernunftnotwendiger, freiheitlicher Zusammenschluss aller Einzelwillen zu einem Ganzen – die Idee des ursprünglichen Kontrakts – ohne gleichzeitige Freiheitsaufgabe des Einzelnen. Insofern steht die Staatsgewalt den Bürgern nicht unverbunden und rein äußerlich gegenüber wie der Staatswille bei Hobbes (bei dem die einzelnen Menschen ihren eigenen Willen und ihr eigenes Urteil dem Willen und dem Urteil des Staates vollständig unterwerfen und alle seine Handlungen durch Vertrag gewissermaßen „blanko“ und im Voraus autorisieren). Im Kantischen Staat kommt die gesetzgebende Gewalt „nur dem vereinigten Willen des Volkes“ 230 zu; die Exekutive muss ihre Aufgaben „zu Folge“ der so entstandenen Gesetze wahrnehmen (sie steht damit „unter dem Gesetz und wird durch dasselbe (. . .) verpflichtet“ 231) und die Judikative muss ihre Einzelentscheidung auf diese Gesetze stützen (sie teilt „nach dem Gesetz“ einem jeden das Seinige zu). Die Abhängigkeit der ausführenden und rechtsprechenden Gewalt vom Willen des Volkes (dem Souverän) ist damit notwendig in der Struktur 229 Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 45, A 165; B 195 (Ak.-Ausg., Band S. 313). Gründliche Interpretation bei C. Wawrzinek, Die ,wahre Republik‘ und ,Bündel von Kompromissen‘: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich der Theorie des amerikanischen Federalist (2009), 320 ff. 230 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 46, A 165; B 195 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 313). 231 Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49, A 171; B 201 (Ak.-Ausg., Band S. 317).
VI, das mit
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des Staates verankert und steht nicht mehr zur Disposition.232 Allerdings ist diese Abhängigkeit auch in anderer Richtung vorhanden, denn die Gesetzgebung ihrerseits benötigt Gesetzesausführung und Rechtsprechung, um als wirkliche Macht im Leben der einzelnen Bürger in Erscheinung treten zu können. Die drei Gewalten stehen deshalb in einem Verhältnis der Interdependenz, sie sind einander „beigeordnet“, „d. i. die eine ist das Ergänzungsstück der anderen zur Vollständigkeit (complementum ad sufficientiam) der Staatsverfassung“ 233, müssen aber in ihrer Funktionsweise notwendig getrennt bleiben, so dass nicht die eine Gewalt die andere „usurpiert“ und dadurch die Gewaltenteilung wieder aufhebt.234 In dieser Dreiteilung der öffentlichen Gewalt sieht Kant mehr als nur eine pragmatische Lösung der Frage, wie sinnvollerweise der Staat organisiert sein soll; nach Kant ist sie die Weise, „wie er (der Staat, Anm. K. G.) nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“; und in der Vereinigung dieser drei Gewalten zu einer Einheit liege das „Heil des Staates“, welches sich nach Kant nicht durch das größtmögliche Wohl der Staatsbürger oder ihre größtmögliche Glückseligkeit auszeichnet, sondern durch die größte Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien.235 Diese Übereinstimmung ist Selbstzweck, sie zu erstreben wird von der Vernunft unbedingt gefordert.236 Enthält der Staat diese drei Gewalten in der von Kant ausgearbeiteten Form, so bildet und erhält er sich selbst „nach Freiheitsgesetzen“, ist damit autonom.237 2. Die öffentliche Gerechtigkeit Das „formale Prinzip der Möglichkeit“ eines solchen rechtlichen Zustands, „nach der Idee eines allgemeinen gesetzgebenden Willens betrachtet“, heißt nach Kant die „öffentliche Gerechtigkeit“.238 Entscheidend dabei ist, dass Kant für den Staat nach einem formalen Prinzip sucht und es in der öffentlichen Gerech232 Vgl. zur Bedeutung des Gesetzgebungsverfahrens als Möglichkeit der Freien und Gleichen im Staat, selbst gesetzgebend sein zu können I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1992), S. 148–176. 233 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 48, A 169; B 199 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 316). 234 Genauer zum Konzept der Gewaltenteilung bei Kant Ch. Niebling, Das Staatsrecht in der Rechtslehre Kants (2005), S. 115–134. 235 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49, A 172, 173; B 202, 203 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 318). Genauer dazu, insbesondere in Abgrenzung zu Montesquieu W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit (1993), S. 395 ff. 236 Zum Vergleich Kants zwischen den drei Gewalten und den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluss (Obersatz, Untersatz, Schlusssatz) im § 45 der MdS vgl. K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 83 ff. 237 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49, A 172, 173; B 202, 203 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 318). 238 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 155; B 155, 156 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 306).
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tigkeit findet. Nicht der Begriff der Gerechtigkeit239 selbst taucht bei Kant als Spezificum des staatlichen Zustands auf, sondern gerade der der ö f f e n t l i c h e n Gerechtigkeit. Daraus lässt sich schließen, dass der Staat auf dem vorhandenen, praktisch-vernünftig begründeten Privatrecht aufruht, das bereits nach Prinzipien der Gerechtigkeit ausgearbeitet ist. In ihm sieht Kant gerade keinen Zustand der „Ungerechtigkeit“, was ihm aber noch fehlt, ist die „Sanktion eines öffentlichen Gesetzes“: Dem nur provisorischen Erwerb von Rechtspositionen im Privatrecht fehlt die (konkrete) Bestimmung durch eine öffentliche (distributive) Gerechtigkeit und die Sicherung durch die ausübende Gewalt.240 Die Bedeutung des Staates für ein gerechtes Rechtssystem ist nach diesem Konzept einerseits keineswegs absolut: Nicht schon die Existenz eines Staates an sich bietet Gewähr dafür, dass gerechte Verhältnisse herrschen, sondern erst die Kombination aus gerechtem Recht (das nach Vernunftprinzipien zu entwickeln ist) und staatlich-formeller Umsetzung dieses Rechts, wobei diese Umsetzung ihrerseits nicht beliebig sein darf, sondern ebenfalls Vernunftprinzipien folgen muss. Staatliche Strukturen als solche können das Gemeinwesen nicht schon zu einer vernünftigen Rechtsordnung formen, sie können im schlimmsten Fall nur 239 Vgl. philosophiegeschichtlich zum Begriff der Gerechtigkeit R. Gollnick und H. Wagner, „Gerechtigkeit“, in: H. J. Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 2 (1990), S. 273 ff.: Bei Platon wurde der Begriff der Gerechtigkeit auf die harmonische Vermittlung der Stände gerichtet und bildete deren allgemeine Legitimationsgrundlage; Gerechtigkeit zeichnete sich dadurch aus, dass ein jeder das Seinige hat und tut. Aristoteles hat die Gerechtigkeit dann schon auf einen Staat von Freien und Gleichen bezogen und sie definiert als Achtung vor dem Gesetz und bürgerlicher Gleichheit. Bei Thomas von Aquin erhält die Gerechtigkeit die (nah an die antike Begrifflichkeit angelehnte) Bedeutung eines beständigen und unwandelbaren Willens, „einem jeden sein Recht zuzugestehen“. Bei Thomas Hobbes wird der Begriff der Gerechtigkeit (in Abkehr vom noch bei Thomas von Aquin bestehenden theologischen Fundament) mit dem Begriff der Vernunft verbunden und als „mit der Vernunft übereinstimmend“ als conformity to reason bezeichnet. Kant hat auf den Vernunftgedanken seine gesamte Rechtslehre gestützt und die Idee der Gerechtigkeit mit der Idee des Rechts überhaupt verbunden („Was nach äußeren Gesetzen recht ist, heißt g e r e c h t [iustum], was es nicht ist, u n g e r e c h t [iniustum].“ MdS, Rechtslehre, Einleitung IV, AB 23 [Ak.-Ausg., Band VI, S. 224]); im Recht sah er den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetz der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (MdS, Rechtslehre, § B). Rawls schließlich hat an die Grundlegung Kants angeknüpft und mit seiner Theory of Justice eine zeitgenössische Gerechtigkeitstheorie entworfen. Zur Entwicklung des Grundgedankens der Gerechtigkeit von Aristoteles bis Rawls vgl. auch K. Gierhake, „Rechtsphilosophie“ (2011), § 1. Vgl. ferner zur Gerechtigkeit als „zentrales Thema der Philosophie“ O. Höffe, „Grundzüge einer Theorie politischer Gerechtigkeit“ (1979), S. 45 ff. 240 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163, 164; B 193, 194 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 312). Vgl. auch M. Köhler, „Iustitia distributiva“ ARSP 79 (1993), S. 457 (462): „Gerechtigkeit in ihrem allgemeinen Begriff bedeutet die entwickelte Regelungssystematik freiheitsgesetzlichen Rechts. Politische oder „öffentliche Gerechtigkeit“ umgreift daher die Gerechtigkeitsverfassung eines konstituierten Staates nach all ihren besonderen Formen, (. . .).“
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„leere“ Form sein und bleiben, wenn sie nicht mit dem Prinzip der Gerechtigkeit verbunden werden. Das Formale der öffentlichen Ordnung hat nur Sinn, wenn es auf praktisch-rechtlicher Vernunft fußt, und zwar sowohl in Bezug auf die durch die Form umgesetzten materiellen Rechtsverhältnisse, als auch in Bezug auf die die Form ausmachenden Verfahrens- und Staatsorganisationsstrukturen. Andererseits ist eine Rechtsgemeinschaft ohne öffentliche Umsetzung dessen, was die Vernunft fordert, keine Gemeinschaft, in der Recht wirklich sein kann. Dafür bedarf es der öffentlichen Gerechtigkeit, „welche in Beziehung, entweder auf die Möglichkeit, oder Wirklichkeit, oder Notwendigkeit des Besitzes der Gegenstände (als der Materie der Willkür) nach Gesetzen in die b e s c h ü t z e n d e (iustitia tutatrix), die w e c h s e l s e i t i g e r w e r b e n d e (iustitia commutativa) und die a u s t e i l e n d e G e r e c h t i g k e i t (iustitia distributiva) eingeteilt werden kann.“ 241
Das Verhältnis der verschiedenen Formen öffentlicher Gerechtigkeit zueinander ist komplex: Wie schon die Interdependenz der drei Gewalten gezeigt hat, müssen sie zusammengenommen eine „Einheit der öffentlichen Gerechtigkeit“ hervorbringen; sie haben aber dennoch jeweils auch als besondere Form der Gerechtigkeit ihre je eigene und selbständige Bedeutung.242 Sie müssen jeweils in ihrem Bereich die Verknüpfung zwischen materiell-rechtlicher Vernunft und formaler, in diesem Sinne „öffentlicher“ Umsetzung dieser Vernunft herstellen. Was genau „ihren Bereich“ ausmacht, deutet Kant mit den traditionellen Begriffen der iustitia tutatrix, commutativa und distributiva nur an; bei genauerer Betrachtung fundiert die Ausarbeitung dieser Gerechtigkeitsformen (dazu sogleich unter a)) zusammen mit dem Moment der Öffentlichkeit (dazu b)) aber letztlich den gesamten Staat. a) Die Gerechtigkeitsformen Nach Köhler243 ist unter der iustitia tutatrix der „Schutz des subjektiven Rechts der einzelnen Rechtsperson“ im Staat zu verstehen. Danach dürfe niemand von einem anderen (auch und gerade nicht dem Staat, Anm. K. G.) wie eine Sache nach bloßem Belieben behandelt werden; darin liege die praktische Bedingung jeder Möglichkeit wirklichen Freiheitsdaseins bzw. der subjektiven Rechte. Insofern sei diese schützende Gerechtigkeitsform sogar Voraussetzung aller anderen Formen von Gerechtigkeit. Notwendig für ihre Verwirklichung ist 241 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 155; B 155, 156 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 306). 242 Vgl. zu den Gerechtigkeitsformen D. Klesczewski, „Kants Ausdifferenzierung des Gerechtigkeitsbegriffs als Leitfaden der Unterscheidung von Unrechtsformen“ ARSP Beiheft 66 (1997), S. 77 ff.; M. Köhler, „Iustitia distributiva“ ARSP 79 (1993), S. 457 ff.; ders., „Iustitia fundamentum regnorum“ (o. J.), S. 25 ff. 243 M. Köhler, „Iustitia distributiva“ a. a. O. (Fn. 242), S. 463. Siehe auch ders., „Iustitia fundamentum regnorum“ (o. J.), S. 32.
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nach Köhler die staatliche Bestimmung und Durchsetzung „eingriffsverbietender Verhältnisse“ der Personen zueinander. Besondere Ausprägungen eines solchen Schutzes liegen beispielsweise im Schutz vor drohenden Eingriffen in oder Gefahren für die eigene Rechtssphäre etwa durch das Polizei- und allgemeine Gefahrenabwehrrecht oder die Restitution des Rechts nach erfolgten Rechtsbeeinträchtigungen z. B. durch den Ausgleich ungerechtfertigter Bereicherung oder Schadenersatz im Rahmen des materiellen Zivilrechts. Zudem müsste auch eine basale Existenzsicherung (z. B. Gesundheitsschutz, Schutz der natürlichen Lebensbedingungen, aber auch eine soziale Grundsicherung) als Grundvoraussetzung der freien Lebensgestaltung zum Bereich der schützenden Gerechtigkeit gezählt werden, denn ohne sie kann der Einzelne ein Leben in Freiheit nicht führen. Die iustitia commutativa244 umfasst dagegen das subjektive Recht der Personen, „ihre Guts- und Glückseligkeitskonzeption“ im Austausch zu anderen Subjekten und Gütern zu verwirklichen.245 Insofern geht es, wie Kant schreibt, um die „Wirklichkeit“ des Besitzes von Gegenständen durch die Möglichkeit des wechselseitigen Erwerbs, also der freien Verfügungsmöglichkeit über den eigenen Besitz und der Möglichkeit, fremden Besitz rechtskräftig zu erwerben; er definiert die iustitia commutativa als „die zwischen Personen in ihrem wechselseitigen Verkehr untereinander geltende Gerechtigkeit“ 246. Davon umfasst sind der gesamte privatrechtliche Rechtsverkehr im Rahmen der Privatautonomie (Zivilrecht) und seine Durchsetzungsmechanismen (Zivilprozessrecht), z. B. die Durchsetzung vertraglich geschuldeter Leistungen im Rahmen der Zivilrechtspflege und der Zwangsvollstreckung. Ein solches System der Tauschgerechtigkeit zur subjektiven Bedarfsbefriedigung ist nach Köhler Voraussetzung für jede menschliche Gemeinschaft, müsse aber eine Begrenzung durch das entwickelte Rechtsprinzip erfahren.247 Diese beiden ersten Formen der Gerechtigkeit lassen sich allgemein durch Gesetze (allgemeine verbindliche Zuordnung von Daseinsräumen der Freiheit, Rechtsverletzungsverbote und Regelung des rechtsgeschäftlichen Verkehrs) und eine entsprechende Durchsetzungsmacht (Polizei, Zwangsvollstreckungsorgane) in die Wirklichkeit umsetzen; bezogen auf die drei Gewalten betreffen sie also vor allem die Legislative und die Exekutive. Allerdings fehlt dieser Verwirklichung rechtlicher Verhältnisse noch ein entscheidender Schritt: Es muss auch garantiert sein, dass jeder einzelne Bürger in den Genuss dieser schützenden und austauschenden Gerechtigkeit kommen kann und das bedeutet: es fehlt noch die244 Zur Tauschgerechtigkeit bei Aristoteles siehe G. Bien, „Gerechtigkeit bei Aristoteles (V)“ (1995), S. 135 ff. 245 M. Köhler, „Iustitia distributiva“ a. a. O. (Fn. 242), S. 464. 246 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 36, A 140; B 139 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 297). 247 M. Köhler, „Iustitia distributiva“ a. a. O. (Fn. 242), S. 466.
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jenige Instanz, die im Einzelfall (besonders im Streitfall) jedem sein Recht verbindlich zuerkennt. Kant schreibt dazu: „(. . .) der Rechtsspruch (die Sentenz) ist ein einzelner Akt der öffentlichen Gerechtigkeit (iustitiae distributivae) durch einen Staatsverwalter (Richter oder Gerichtshof) auf den Untertan, d. i. einen, der zum Volke gehört, (. . .), ihm das Seine zuzuerkennen (zu erteilen).“ 248
Das Zusammenwirken der drei Gewalten als Umsetzung der drei Gerechtigkeitsformen geschieht dann so, dass der Gerichtshof die richterliche Gewalt hat, die „Ausmittlung der Tat in der Klagsache“ durch Anwendung des Gesetzes zu besorgen und vermittelst der ausführenden Gewalt einem jeden das Seine zu Teil werden zu lassen.249 Kant sieht also die Gerichte als Verwirklichungsformen der iustitia distributiva insofern an, als dass diese im Einzelfall Gerechtigkeit „auszuteilen“ haben – anders als z. B. Aristoteles, der die distributive Gerechtigkeit noch auf die Verteilung von Ehre, Geld oder Gütern bezogen hat.250 Die Gerichte sind dabei angewiesen auf den Gesetzgeber (dessen Wille „in Ansehung dessen, was das äußere Mein und Dein betrifft, u n t a d e l i g (irreprehensibel)“ ist) und die oberste ausführende Gewalt (deren „Ausführungs-Vermögen u n w i d e r s t e h l i c h (irresistibel)“ ist), haben aber in der Sache das letzte Wort, denn „der Rechtsspruch des obersten Richters (supremi iudicis) (ist) u n a b ä n d e r l i c h (inappellabel).“ 251 Erst dieses Faktum der Verbindlichkeit des obersten Richterspruchs sorgt endgültig für die Rechtssicherheit in einem Staat, deren Erreichung den entscheidenden Grund für die Pflicht zum Übergang in den staatlichen Zustand ausmacht. Deswegen identifiziert Kant auch den rechtlichen Zustand mit dem Zustand einer austeilenden (distributiven) Gerechtigkeit252; für ihn ist das entscheidende Merkmal, das den natürlichen vom staatlichen Zustand unterscheidet, die Tatsache, dass sich in letzterem ein „kompetenter Richter“ findet, der bei Rechtsstreitigkeiten „rechtskräftig den Ausspruch“ tun kann;253 man nenne den „Gerichtshof selbst die Gerechtigkeit eines Landes“ und „ob eine solche sei oder nicht“, sei die „wichtigste unter allen rechtlichen Angelegenheiten“.254
248 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49, A 171, 172; B 201, 202 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 317). 249 Ebenda, A 172; B 202 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 317). 250 Siehe Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Kapitel 5 (1131a 1). 251 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 48, A 169, 170; B 201 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 316). 252 Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 42, A 157; B 156 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 307). Dazu auch W. Bartuschat, „Recht, Vernunft und Gerechtigkeit“ (1994), S. 9 (22). 253 Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 44, A 163; B 193 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 312). 254 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, AB 155 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 306).
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In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, warum Kant die iustitia distributiva im § 41 der Metaphysik der Sitten mit der „Notwendigkeit des Besitzes der Gegenstände“ 255 parallel setzt: Er hatte im Rahmen seines Privatrechts herausgearbeitet, dass es aus Vernunftgründen möglich sein muss, „einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine haben zu können“ 256, d. h. ihn zu einem „rechtlich Meinen“ zu machen und an ihm Besitz zu begründen. Er erklärt dieses „rechtliche Postulat der praktischen Vernunft“ damit, dass es der Vernunft widerspräche, wenn brauchbare Gegenstände auf Grund rechtlicher Regeln dauerhaft dem Gebrauch durch die Menschen entzogen würden, also in praktischer Rücksicht vernichtet und zur „res nullius“ gemacht würden, obwohl ihre Verwendung durchaus mit der Freiheit aller anderen zusammenstimmen würde.257 Insofern besteht eine Notwendigkeit des Besitzes der Gegenstände überhaupt; es wäre unvernünftig, gäbe es für die Gegenstände der Welt auf Dauer keine „gültige und von anderen als solche anzuerkennende Zuordnung von Subjekt und äußerem Gegenstand.“ 258 Da eine solche endgültige Zuordnung aber eine Verbindlichkeit aller anderen (Nicht-Eigner) gegenüber schafft, diese Zuordnung zu respektieren, und die Garantie eines solchen Respekts vor fremden Rechtspositionen nur in einem rechtlichen Zustand tatsächlich möglich ist259 und zudem gerade die richterliche Gewalt für die letztgültige Zuordnung im Streitfall zuständig ist, ist sie es auch, die als Bestandteil der öffentlichen Gerechtigkeit die vernünftige Einsicht in die „Notwendigkeit des Besitzes der Gegenstände“ in die Praxis umzusetzen hat. Die drei Formen der Gerechtigkeit finden auf diese Weise ihre Umsetzung und Verwirklichung durch die drei Gewalten im Staat (Legislative, Exekutive und Judikative). Damit wird verständlich, wie Kant die Autonomie eines Staates durch das Zusammenwirken der drei Gewalten – als Umsetzung der Gerechtigkeitsformen in die Lebenswirklichkeit der freien Bürger – für gesichert hält.
255 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 41, A 155; B 154, 155 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 306). 256 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 2, AB 56 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 246). 257 Ebenda. Vgl. dazu auch W. Bartuschat, „Recht, Vernunft und Gerechtigkeit“ (1994), S. 14; ders., „Praktische Philosophie und Rechtsphilosophie bei Kant“ Philosophisches Jahrbuch 94 (1987), S. 24 (29); C. Wawrzinek, Die ,wahre Republik‘ und das ,Bündel von Kompromissen‘: Die Staatsphilosophie Immanuel Kants im Vergleich mit der Theorie des amerikanischen Federalist (2009), 98–101. 258 R. Zaczyk, „Untersuchungen zum rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft in Kants Metaphysik der Sitten“ (1995), S. 311 (317). Dort auch eine gründliche Interpretation des § 2 MdS und eine ähnliche Einordnung des rechtlichen Postulats der praktischen Vernunft in den Gesamtzusammenhang der Rechtslehre wie die hier versuchte. 259 Vgl. dazu I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 8, AB 72, 73 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 255, 256).
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b) Das Prinzip der Öffentlichkeit Zu den beschriebenen Formen der Gerechtigkeit und den ihnen entsprechenden drei Gewalten im Staat fehlt nun für das „formale Prinzip“ eines rechtlichen Zustandes noch das Moment der Öffentlichkeit. Gerade in der Verknüpfung von Öffentlichkeit und Gerechtigkeit liegt nach Kant das für den rechtlichen Zustand Spezifische. Was er mit „Öffentlichkeit“ meint, lässt sich gut anhand einer Stelle aus seiner Schrift Zum ewigen Frieden zeigen: „Wenn ich von aller M a t e r i e des öffentlichen Rechts (nach den verschiedenen empirisch-gegebenen Verhältnissen der Menschen im Staat oder auch der Staaten unter einander), so wie es sich die Rechtslehrer gewöhnlich denken, abstrahiere, so bleibt mir noch die F o r m d e r P u b l i z i t ä t übrig, deren Möglichkeit ein jeder Rechtsanspruch in sich enthält, weil ohne jene es keine Gerechtigkeit (die nur als ö f f e n t l i c h k u n d b a r gedacht werden kann), mit hin auch kein Recht, das nur von ihr erteilt wird, geben würde. (. . .) Nach einer solchen Abstraktion von allem Empirischen, (. . .), kann man folgenden Satz die t r a n s z e n d e n t a l e F o r m e l des öffentlichen Rechts nennen: ,Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht‘.“ 260
Kant macht hiermit zunächst auf die Notwendigkeit aufmerksam, Publizität und damit Überprüfbarkeit und Transparenz des Rechts im Allgemeinen, der einzelnen Rechtsakte und -entscheidungen, sowie der Meinungsbildungs- und Gerichtsverfahren für die öffentliche Diskussion herzustellen.261 Alles, was geheim bleibt, so Kants Gedanke, kann auch nicht öffentlich diskutiert werden, und hinter verschlossenen Türen Ausgehandeltes muss sich nicht der öffentlichen Kritik stellen. Als Folge davon kann die Kraft gebündelter Vernunft gar nicht erst wirken. Kant kämpft damit in einer Zeit sich verschärfender Zensur (beispielsweise dem Preußischen Erlass vom 5. März 1792)262 um die „Erhaltung und Erweiterung“ einer „Sphäre kritischer Öffentlichkeit, indem er das unverlierbare Menschenrecht auf öffentliche Kritik als Verpflichtung des ,Oberherrn‘ selbst einfordert, jedem Staatsbürger die ,Befugnis‘ zuzugestehen, ,seine Meinung über das, was von den Verfügungen desselben ihm ein Unrecht gegen das gemeine Wesen zu sein scheint, öffentlich bekannt zu machen‘ und ,Gegenvorstellungen‘ zu tun.“ 263 Er tritt für die „Freiheit der F e d e r “ ein und stellt der Gehorsamspflicht dem Gesetz gegenüber einen „G e i s t d e r F r e i h e i t “ 264 an die 260 261
I. Kant, Zum ewigen Frieden, Anhang, II., B 98, 99; A 92, 93. Vgl. dazu auch J. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit (1969), S. 117–
131. 262
Vgl. K. Vorländer, Immanuel Kant (2003), 4. Buch, S. 146. So I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1992), S. 96 mit Zitaten aus I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 264, 265. 264 I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 265. 263
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Seite, „da jeder, (. . .), durch Vernunft überzeugt zu sein verlangt, dass dieser (von den Gesetzen ausgehende, Anm. K. G.) Zwang rechtmäßig sei, damit er nicht mit sich selbst in Widerspruch gerate.“ 265 Kant macht das Öffentlichkeitsprinzip aber noch zusätzlich mit folgender Begründung stark: Er setzt an, indem er zunächst von allem Inhalt des öffentlichen Rechts, also dem, was er als materielle Gerechtigkeit als Ertrag der Vernunft schon im Privatrecht ausgearbeitet hat und dem, was als positives Recht in einem bestimmten Staat schon gilt, abstrahiert und feststellt, dass dann nur noch die Form der Publizität übrig bleibt. Diese bloße Form, das Faktum der Öffentlichkeit selbst, ist es, was das öffentliche Recht vom bloß provisorischen Privatrecht oder positiv gesetztem, aber nicht allgemein publiziertem Recht unterscheidet.266 Diese bloße Form der Publizität verbindet Kant in einem weiteren Schritt unmittelbar mit „Rechtsansprüchen“, mit der „Gerechtigkeit“ und dem „Recht“ überhaupt, also mit materialen Rechtsbegriffen; er entwickelt also beide Elemente – Form und Materie – als miteinander wechselseitig verbunden: Jeder (wahre) Rechtsanspruch enthalte die Möglichkeit der Publizität, ohne sie gäbe es weder Gerechtigkeit, die nur als öffentlich kundbar gedacht werden kann, noch Recht überhaupt. Das Recht ist also auf die Form der Publizität angewiesen, soll es nicht nur provisorisches Recht bleiben, sondern einen stabilen Rechtszustand zustande bringen. Kant geht bei der Begründung des Öffentlichkeitsprinzips dann noch einen Schritt weiter, indem er feststellt, dass in ihm, obwohl es doch bloß ein Formprinzip sei, gleichzeitig auch ein Kriterium für die inhaltliche Rechtlichkeit einer Handlung liege:267 „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ Diese Unrechtsdefinition überrascht zunächst, denn in seiner Rechtslehre hat Kant das Unrecht auf materieller Ebene als Hindernis der Freiheit beschrieben und als allgemeines Rechtsprinzip aufgestellt, dass jede Handlung recht sei, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach 265 I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 267. Die heute im deutschen Grundgesetz als Grundrechte ausgestalteten Meinungs-, Presse- und Informationsfreiheiten (Art. 5 GG) sind Ausformungen der Erkenntnis, dass zu einem gerecht gestalteten Gemeinwesen wesentlich auch das Prinzip der Publizität gehört. Vgl. in diesem Zusammenhang W. Brugger, „Grundlinien der Kantischen Rechtsphilosophie“ JZ 1991, S. 893 (897, 898). Die sog. Diskurstheorie hat den Gedanken der Öffentlichkeit als Möglichkeit des Diskurses sogar als Garantie für richtige Ergebnisse, für materiell gerechtes Recht verabsolutiert. 266 Dies zeigt sich auch an seiner Definition des öffentlichen Rechts: „Der Inbegriff der Gesetze, die einer allgemeinen Bekanntmachung bedürfen, um einen rechtlichen Zustand hervorzubringen, ist das ö f f e n t l i c h e R e c h t .“ I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 43, A 161; B 191 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 311). 267 Vgl. dazu C. Dierksmeier, „Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff“ (2009), S. 42 (49).
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einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann.268 Auf den ersten Blick scheinen diese beiden Rechts- bzw. Unrechtsdefinitionen nicht recht zueinander zu passen, stellt Kant doch einmal auf die Publikationsfähigkeit und einmal auf die freiheitliche Qualität der fraglichen Handlung ab, um ihre Rechtlichkeit zu erweisen. Bei näherem Hinsehen lassen sich beide Umschreibungen aber ineinander verschränken und stellen sich dann als richtig heraus. Die Begründung, die Kant für seine auf die Publikationsfähigkeit abstellende Unrechtsdefinition gibt, lautet: „Denn eine Maxime, die ich nicht darf l a u t w e r d e n lassen, ohne dadurch meine eigene Absicht zugleich zu vereiteln, die durchaus v e r h e i m l i c h t werden muß, wenn sie gelingen soll, und zu der ich mich nicht ö f f e n t l i c h b e k e n n e n kann, ohne dass dadurch unausbleiblich der Widerstand aller gegen meinen Vorsatz gereizt werde, kann diese notwendige und allgemeine, mithin a priori einzusehende, Gegenbearbeitung aller gegen mich nirgend wovon anders, als von der Ungerechtigkeit her haben, womit sie jedermann bedroht.“ 269
Kant meint also, dass die Unverträglichkeit einer Handlungsmaxime mit dem Gedanken der Publizität deshalb auch ihre Unrechtlichkeit beweise, weil schon die Notwendigkeit, sie geheim zu halten – also sie gerade nicht publik zu machen und sich gerade nicht öffentlich zu ihr zu bekennen, weil mit dem Widerstand aller gegen sie zu rechnen ist – dafür spricht, dass es sich bei ihr um Unrecht handeln muss, und zwar weil die allgemeine und notwendige, mithin a priori einzusehende Ablehnung aller ihren Grund nur in der Ungerechtigkeit der Maxime haben könne.270 Richtig ist diese Überlegung, weil Kant nicht auf die empirischen, tatsächlich vorgebrachten Gründe einer Ablehnung abstellt, die, wie alles Empirische, unendlich mannigfaltig sein können (z. B.: „Das Verhalten nutzt nicht mir selbst, sondern nur anderen“, „es widerspricht meiner eigenen Glückseligkeitsvorstellung“, etc. etc.), sondern auf eine notwendige Ablehnung aller. Eine solche lässt sich nur denken, wenn das durch die Maxime angestrebte Verhalten sich nicht mit der Freiheit aller anderen vereinbaren lässt, also: unrecht ist. Nur in einem solchen Fall ist der Widerstand aller tatsächlich praktisch-rechtlich-vernünftig begründet, also a priori einzusehen. Und nun zeigt sich die Verschränkung der aus praktischer Vernunft abgeleiteten mit der auf die Publikationsunfähigkeit abstellenden Unrechtsdefinition: Sie treffen sich an der Stelle, an der die allgemeine Freiheitswidrigkeit eines Verhaltens aus Vernunftgründen auf allgemeine Ablehnung stoßen muss, wenn sie nur öffentlich kundgetan wird. Es zeigt sich, dass bei Kant das Recht als Produkt eines durch den öffentlichen Diskurs hindurch laufenden Meinungsbildungs- und Gesetzgebungsprozesses und 268
Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, § C, AB 33 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 230). I. Kant, Zum ewigen Frieden, Anhang, II., B 98, 99; A 92, 93. 270 Siehe dazu auch C. Dierksmeier, „Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff“ (2009), S. 42 (49). 269
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seine inhaltliche Vernünftigkeit in untrennbarer Einheit stehen.271 Dies wird bei ihm nicht so gedacht, dass die Gesetzgebung das von ihm, Kant, im Privatrecht ausgearbeitete Vernünftige nur zu erkennen und umzusetzen hätte; die Materie des Privatrechts ist nicht in diesem Sinne vorfindlich, sie ist nur das vom „demokratischen Gesetzgeber zu gestaltende Material“ 272. Andererseits macht der öffentliche Diskurs nur Sinn, wenn die menschliche Vernunft als Wirkungsgrund stets mitgedacht wird und nicht das Verfahren als solches, sondern das Verfahren als der Prozess der Beteiligung Vernünftiger an der Meinungsbildung und Gesetzgebung in Ansatz gebracht wird. Die Öffentlichkeit ist dafür notwendige, aber nicht hinreichende Voraussetzung. 3. Zusammenfassung zu III. und IV. Es ist ein Gebot rechtlich-praktischer Vernunft, einen das Recht garantierenden Zustand in Form des Staates zu schaffen. Der Staat wird dabei von Kant nicht als Schutzmacht vor allgemein ungezügelter Gewalt, sondern als eine Instanz verstanden, die Freiheit für alle Rechtssubjekte zu bewahren hat. Die Kantische Rechtsordnung ist ferner nicht so zu denken, dass sie dem einzelnen Bürger von außen vorgegeben ist und seine Leistung bloß darin besteht, sich an sie zu halten – hier liegt ein gewaltiger Unterschied zum Hobbesschen Entwurf. Es ist nicht so, als würde der Staat gewissermaßen äußerlich einzäunen, was innerlich frei wuchern kann. Die einzelnen Bestimmungen müssen sich vielmehr immer auch vor dem Verständnis des einzelnen Bürgers vom rechtlichen Zusammenleben als gut begründet ausweisen lassen. Er selbst darf nicht bloß als Rechtsunterworfener (und damit gewissermaßen als letztes Glied in der Kette der Rechtsbegründung), sondern muss als Miturheber des Rechts gedacht werden können, wenn die entstandene Ordnung wirklich Freiheitssicherung leisten soll. Denn die Freiheit des Einzelnen ist nicht nur das Schutzgut der Normen, sondern auch ihr Geltungsgrund. Im oben gezeichneten Bild: Die Bürger sind nicht nur innerhalb einer äußerlich gesetzten Einzäunung frei, sondern sind selbst verantwortlich dafür festzulegen, welche Grenzen im Hinblick auf allgemeine Freiheitssicherung ihrem eigenen Tun gesetzt sind. Dadurch unterscheidet sich ein entwickelter, selbstbewusster Staat im Sinne Kants von einem nur äußerlich sichernden Zustand à la Hobbes. 271 Bei I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1992), S. 159 findet sich folgende Umschreibung dieses Zusammenhangs: Die inhaltliche Wahrheit positiven Rechts sei „abhängig von den prozeduralen Entscheidungsprämissen, nach denen es gesetzt wird. Behandelt das traditionalistische Naturrechtsverständnis die richtigen Inhalte des Naturrechts wie vorgegebene Tatsachen, die lediglich zu ermitteln sind, so betrachtet Kants Naturrechtstheorie richtige Inhalte als Ergebnisse eines Verfahrens, das in der erforderten faktischen Generalität seiner Struktur die Verallgemeinerungsfähigkeit der produzierten Rechtsnormen gewährleisten soll.“ 272 I. Maus, Zur Aufklärung der Demokratietheorie (1992), S. 169.
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Im Kantischen Rechtszustand erfassen allgemeine Gesetze, was „jedem für das Seine anerkannt“ werden soll und eine äußere Macht verhilft dem Einzelnen zur „Teilhabe“ seiner Rechte. Die gesetzgebende Gewalt kommt dabei „nur dem vereinigten Willen des Volkes“ zu; die Exekutive muss ihre Aufgaben „zu Folge“ der so entstandenen Gesetze wahrnehmen (sie steht damit „unter dem Gesetz und wird durch dasselbe (. . .) verpflichtet“) und die Judikative muss ihre Einzelentscheidung auf diese Gesetze stützen (sie teilt „nach dem Gesetz“ einem jeden das Seinige zu). Das „formale Prinzip der Möglichkeit“ eines solchen rechtlichen Zustands, „nach der Idee eines allgemeinen gesetzgebenden Willens betrachtet“, heißt nach Kant die „öffentliche Gerechtigkeit“. Deren verschiedene Formen (schützende, ausgleichende und austeilende Gerechtigkeit) müssen zusammengenommen die Einheit öffentlicher Gerechtigkeit im Staat hervorbringen. Das Zusammenwirken der drei Staatsgewalten als Umsetzung der drei Gerechtigkeitsformen geschieht so, dass der Gerichtshof die richterliche Gewalt hat, die „Ausmittlung der Tat in der Klagsache“ durch Anwendung des Gesetzes zu besorgen und vermittelst der ausführenden Gewalt einem jeden das Seine zu Teil werden zu lassen. In der Verknüpfung von „Öffentlichkeit“ und „Gerechtigkeit“ liegt nach Kant das für den rechtlichen Zustand Spezifische. Das Recht ist auf die Form der Publizität angewiesen, soll es nicht nur provisorisches Recht bleiben, sondern einen stabilen Rechtszustand zustande bringen. Kant sieht zudem in dem Öffentlichkeitsprinzip nicht bloß ein reines Formprinzip, sondern gleichzeitig auch ein Kriterium für die inhaltliche Rechtlichkeit einer Handlung. Durch die erarbeitete Struktur des Staates (Gewaltenteilung – mit der Gesetzgebung durch das Volk als Souverän, dem Gedanken der Repräsentation, der Exekutive, die „zu Folge“ dem Gesetz handelt, und der Judikative, die „nach dem Gesetz“ urteilt – und das Prinzip der Öffentlichkeit) wird Richtigkeit in der Praxis erzeugt. Es wird gewährleistet, dass Vernunft sich konkretisieren kann und so die Rechtsverhältnisse in einer Gesellschaft gerecht geregelt werden. Der sich nach diesem Durchgang durch die Staatsstrukturprinzipen herauskristallisierende Grundgedanke bei Kant ist also die sich gegenseitig bedingende Verbindung von materieller und formeller Gerechtigkeit in einer Weise, dass durch die vernünftige Form auch das materiell „Richtige“ hervorgebracht wird und dieses Hervorgebrachte wiederum auf die vernünftige Form angewiesen ist, um wirklich zu werden; es besteht also eine gegenseitige Abhängigkeit von vernünftigen Staatsstrukturen und vernünftigem Recht.273 273 Brugger hat seine Abhandlung über die Grundlinien der Kantischen Rechtsphilosophie mit folgendem Resümee geschlossen: „Kants Bestimmung des Rechtsstaats ist ein philosophischer Entwurf, der auf der Freiheit der Menschen im Sinne eigenständiger und verantwortlicher Persönlichkeitsentfaltung aufbaut. Mit anderen Worten: Wer den Gedanken allgemeiner Freiheitssicherung als entscheidend für die Legitimität des mo-
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Teil 2: Rechts- und staatsphilosophische Grundlegung
V. Zusammenfassung zum Verhältnis von Freiheit und Sicherheit bei Kant Die menschliche Freiheit ist zugleich Ausgangspunkt und Zielpunkt der Kantischen Rechtslehre: Der Gedankengang Kants setzt bei der Freiheit des Einzelnen und seiner Vernunftbegabung an; daraus entspringt die Erkenntnis, dass das Recht als die einzige Möglichkeit äußerer Freiheitswahrung notwendig ist und deshalb eine rechtliche Gemeinschaft errichtet werden muss. Für eine solche Gemeinschaft ist das freiheitswahrende Rechtsprinzip die Basis, die sich in der Wirklichkeit der einzelnen Subjekte bewähren muss. Um dies zu erreichen, braucht es eine das Recht sichernde und garantierende Rechtsgemeinschaft, die ihrer Struktur nach so organisiert ist, dass sich das Recht nicht nur provisorisch, sondern auch beständig und verlässlich realisiert. Diese Organisation muss so geartet sein, dass sie konkretes freiheitliches Recht schafft, es im Zweifel verbindlich festlegt und durchsetzt und dadurch in der Praxis freies, das heißt: selbstbestimmtes Leben ermöglicht. Nur durch eine solche Organisation kann die Freiheit in Gemeinschaft mit anderen gelebt werden – Freiheit als Grund und Folge des Rechts. Die Bedeutung der Sicherheit im Staat ist bei Kant eine andere als bei Hobbes: Letzterer will durch die Staatsgründung vor allem eine (physische) Lebenssicherung der Staatsbürger, insbesondere die Sicherung eines für jeden auskömmlichen Lebens erreichen. Dabei hat er einen Weg gewählt, der die Freiheit des Einzelnen notwendig untergehen lässt, indem er den Staat mit absoluter Macht über das Individuum ausstattet. Kant hat dagegen eine äußere Freiheitsordnung im Sinn, die dem Einzelnen das „Seine“ sichern soll und daher nicht nur Schutz vor äußeren (Lebens- und Leibes-)Gefahren, sondern auch Gerechtigkeit herstellen muss: Das Recht des Einzelnen, seine Subjektstellung und seine Entfaltungsmöglichkeiten sind Gegenstand der durch den Staat zu gewährleistenden Sicherheitsstruktur. Die Sicherheit bei Kant kann dementsprechend nicht isoliert von einer auch inhaltlich an der Freiheitsrealisation zu messenden Rechtsordnung verstanden werden; Freiheit und Sicherheit verweisen notwendig aufeinander. Dies ist zwar schon mit der Sicherheitsdefinition v. Humboldts ausgesagt, Sicherheit sei die „Gewissheit gesetzmäßiger Freiheit“; von Grund auf hergeleitet und gedanklich abgesichert ist diese Erkenntnis aber erst durch den Rechtsentwurf Kants. Gewiss ist nach diesem Durchgang durch seine Rechtslehre, dass Freiheit und Sicherheit nicht gegeneinander abgewogen werden können, denn dann würde die Verringerung des einen die Vermehrung des anderen bedeuten und umgekehrt (so dernen Staates ansieht, findet in Kants Rechtsphilosophie eine ausgereifte Konzeption zur Beurteilung konkreter Staatsverfassungen. Das Grundgesetz steht in dieser Freiheitstradition.“ (JZ 1991, S. 393 ff.).
D. Staatsbegriff aus Freiheit: Immanuel Kant
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wie Hobbes sich für das Überwiegen des Sicherheitsaspekts zulasten der Freiheit entschieden hatte). Die Prinzipien, die Kant für die Staatsgründung entwickelt, ermöglichen es, einen Rechtszustand als „gesicherten Freiheitszustand“ auszugestalten. Entscheidend dabei ist, dass sich die Sicherheit bei ihm als Konsequenz der Verwirklichung freiheitlicher Verhältnisse notwendig ergibt: Wird dem Recht Wirklichkeit verschafft, wird also ein Zustand öffentlicher Gerechtigkeit geschaffen, so sind damit zwangsläufig auch sichere Lebensverhältnisse verbunden, denn dann wird Anerkennung des Anderen als freie Rechtsperson zum Prinzip gemacht und durch staatliche Macht abgesichert.274 Nach Kant ist das gedanklich Primäre die Freiheitsrealisation, das notwendig Sekundäre (aber deswegen nicht weniger Bedeutsame und vom ersteren Abhängige) die Sicherheit. Eine Schwierigkeit, die mit diesem Konzept einhergeht, liegt darin, dass zur Verwirklichung rechtlicher Verhältnisse auch nach Kant eine staatliche Zwangsbefugnis (eine „äußere Macht“) notwendig ist. Das schließt Zwangsmaßnahmen gegenüber einzelnen Bürgern ein, die den erreichten Zustand allgemeiner Freiheit bedrohen – sei es durch Gefährdungen oder Verletzungen anderer Bürger, sei es durch Angriffe auf die gemeinschaftliche oder staatliche Struktur selbst. Gewiss ist nun nach den bisherigen Überlegungen schon, dass es in einem freiheitlichen Staat jedenfalls keine Sicherheitsmaßnahmen geben kann, mit denen verbunden oder sogar bezweckt ist, einem oder mehreren Bürgern das angeborene Recht auf Freiheit abzusprechen, selbst wenn sie eine Bedrohung freiheitlicher Verhältnisse darstellen. Denn dann müsste begründbar sein, warum die Sicherheit aller Anderen einen Grund für die Berechtigung zum Entzug des basalen Freiheitsrechts bei diesem Einzelnen darstellen kann; in einem Rechtssystem, welches seinen Grund und sein Ziel in der Freiheitswahrung eines jeden seiner Konstituenten hat – also auch dem, gegen den sich die staatliche Maßnahme richtet – ist eine solche Begründung nicht denkbar. Wie sich diese Schwierigkeit lösen lässt, soll Gegenstand des 5. Teils dieser Arbeit sein, in dem es vor dem Hintergrund einer freiheitlichen Rechtsordnung um die Begründung von Zwang gehen wird. 274 Vgl. dazu auch I. Kant, Zum ewigen Frieden, Anhang, I., B 90, 91; A 84, 85: „Da heißt es denn: ,trachtet allererst nach dem Reiche der reinen praktischen Vernunft und nach seiner G e r e c h t i g k e i t , so wird euch euer Zweck (die Wohltat des ewigen Friedens) von selbst zufallen‘. Denn das hat die Moral Eigentümliches an sich, und zwar in Ansehung ihrer Grundsätze des öffentlichen Rechts (mithin in Beziehung auf eine a priori erkennbare Politik), dass, je weniger sie das Verhalten von dem vorgesetzten Zweck, dem beabsichtigten, es sei physischem oder sittlichem Vorteil, abhängig macht, desto mehr sie dennoch zu diesem im allgemeinen zusammenstimmt; welches daher kömmt, weil es gerade der a priori gegebene allgemeine Wille (in einem Volk, oder im Verhältnis verschiedener Völker unter einander) ist, der allein, was unter Menschen Rechtens ist, bestimmt; diese Vereinigung des Willens aller aber, wenn nur in der Ausübung konsequent verfahren wird, auch nach dem Mechanism der Natur, zugleich die Ursache sein kann, die abgezweckte Wirkung hervorzubringen, und dem Rechtsbegriffe Effekt zu verschaffen.“
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Teil 2: Rechts- und staatsphilosophische Grundlegung
E. Substantieller Staat Hegels als „Wirklichkeit der konkreten Freiheit“ I. Einführung in Hegels rechtsphilosophisches Denken Georg Wilhelm Friedrich Hegel entwickelt in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) einen Rechtsbegriff, welcher seinen gedanklichen Ausgangspunkt im menschlichen Willen hat, für den die Freiheit die „Substanz und Bestimmung“ ausmacht und aus dem sich ein Rechtssystem als „Reich der verwirklichten Freiheit“ entwickeln lässt.275 Die „Freiheit“ ist schon nach diesen Eingangsbestimmungen der Grundlinien ersichtlich der maßgebliche Begriff auch für Hegels Rechts- und Staatssystem, dessen Gegenstand die Ausfaltung und Entwicklung des Freiheitsbegriffs sowie die Art und Weise der Verwirklichung der Freiheit innerhalb einer menschlichen Gemeinschaft ist.276 Damit steht das Hegelsche Konzept – trotz wesentlicher Unterschiede im Übrigen – unmittelbar in der geistigen Tradition Kants, der den Gedanken der Freiheit als Schlüsselbegriff für das Recht ausgearbeitet und darauf seine gesamte Rechtslehre gestützt hat.277 Hegel begreift das von ihm ausgearbeitete Rechtssystem ebenfalls als System der Freiheitsrealisation278 und nennt es einen „philosophischen Grundriß“ des Rechts. In diesem Grundriss hat er die für das Recht bestimmenden Elemente (die vernünftigen einzelnen Subjekte in ihrer Besonderheit und die allgemeine Sphäre einer auf Freiheit beruhenden Rechtsgemeinschaft) in einen gedanklichen Zusammenhang gebracht. Die Gesetzmäßigkeit der Freiheit, die zu erkennen und zu leben dem Menschen eigen ist, weil er ein denkendes, sich selbst reflektierendes Wesen ist, 275
Vgl. G. W. F. Hegel, GPhR, § 4, S. 46. L. Oeing-Hanhoff vermerkt in diesem Zusammenhang: „Mit diesem Begriff von Sinn und Zweck des Staats (nämlich dem, dass der Staat sittliche, bürgerliche und politische Freiheit ermögliche, Anm. der Verf.) sind aber nicht nur die liberalistische Vertragstheorie des Staats, sondern auch all jene Theorien überholt, die in geringerem als in der Verwirklichung von Freiheit den Zweck des Staats sehen. Es genügt also nicht, als diesen Zweck allgemeine Wohlfahrt oder das Gemeinwohl anzusetzen, wenn nicht zugleich die Freiheit aller als Inbegriff des Gemeinwohls herausgestellt wird. Hinter dieser Lehre Hegels zurückbleiben, wie es die christliche Sozialphilosophie gemeinhin tut, heißt hinter dem erreichten Stand der geschichtlichen Entwicklung zurückbleiben.“ („Freiheit und Solidarität“ Stimmen der Zeit 199 (1981), S. 117 (121)). 277 Vgl. dazu auch W. Jaeschke, Hegel-Handbuch (2003), S. 369 und S. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 227 ff. 278 Zur Bedeutsamkeit der Freiheit für das Denken Hegels siehe auch Th. S. Hoffmann, Hegel (2004), S. 16 ff. Eduard Gans schreibt, das ganze Werk sei „aus dem Metalle der Freiheit errichtet“. Freiheit verstanden als die zur „Sättigung, aber dadurch auch zu größerer Festigkeit gediehene Freiheit“ sei nicht bloß das „Grundelement“ der Grundlinien, sondern ihr „einziger Stoff“ (Vorwort zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Hegels Sämtliche Werke, Jubiläumsausgabe, hrsg. v. Hermann Blockner, 7. Bd. (1952), S. 6 und 7 bzw. X. f.). Vgl. zudem W. Pauly, „Hegels Beitrag zur Theorie des modernen Verfassungsstaates“ (2009), S. 13 (14 ff.). 276
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treibt nach Hegel zwangsläufig auch freiheitliche Verhältnisse in der menschlichen Realität, im wirklichen Leben hervor. Denn der Mensch ist nicht bloß theoretisch reflektierendes Wesen, er lässt sein Denken auch praktisch werden: „Das Denken als sich übersetzend ins Dasein, als Trieb, sich Dasein zu geben“ 279 macht gerade das Spezifische des menschlichen Willens aus. Hier zeigt sich eine Besonderheit im Hegelschen Denken, die seinen gesamten philosophischen Ansatz widerspiegelt: Hegel meint, dass sich der freie Wille – und mit ihm die Vernunft – notwendig Bahn bricht und die Wirklichkeit bestimmt; aus anderer Perspektive formuliert: Die Wirklichkeit enthält immer schon Vernunft; sie ist nicht dem menschlichen Denken vorbehalten, sondern auch „in der realen Welt, im Gang der Ereignisse, in der Geschichte“ 280 gegenwärtig. So ist die Wirklichkeit nie einfach „nur real vorhanden“, sondern immer schon „realisierte Vernunft“ 281. Die Entgegensetzung „Vernunft – Wirklichkeit“ wird bei Hegel zu einer Einheit von Vernunft und Wirklichkeit, so dass er die Aufgabe seiner Rechtsphilosophie weniger darin sieht, das Vernünftige als Ideal für die Wirklichkeit zu postulieren, als vielmehr darin, das Vernünftige in der Welt zu erkennen.282 Sein Verständnis vom Recht als „Dasein des freien Willens“ ist ein Resultat dieser Grundüberzeugung. Ihm geht es nicht um den „bloßen Begriff“ des Rechts im üblichen Verständnis der abstrakten Gedankenbestimmung, sondern um die „Idee“ des Rechts als Einheit von Begriff und Wirklichkeit.283 Recht ist nur dann Recht, wenn es Wirklichkeit hat, also das reale Leben durchwirkt und gestaltet, wenn es in diesem Sinne „anwesend“ ist. „Wirklichkeit“ im Sinne Hegels hat dabei aber nicht schon alles, was es gibt, sondern nur das, in dem sich der Begriff oder die Vernunft verwirklicht hat.284 Hegels Gegenbegriff zur Wirklichkeit in diesem Sinne ist die bloße „Erscheinung“: „Eine sinnige Betrachtung der Welt unterscheidet schon, was von dem weiten Reiche des äußeren und inneren Daseins nur Erscheinung, vorübergehend und bedeutungslos ist, und was in sich wahrhaft den Namen der Wirklichkeit verdient.“ 285 279
Vgl. G. W. F. Hegel, GPhR, Zusatz zum § 4, S. 47. J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie (2006), S. 329. 281 Ebenda. 282 „Die Hegelsche Philosophie ist eine entschiedene Bestreitung der Irrealität von Vernunft, ja sie ist, wenn man unter ,Idealismus‘ utopisches Träumen versteht, gerade kein ,Idealismus‘, sondern Realismus der Vernunft.“ (Th. S. Hoffmann, Hegel (2004), S. 21; vgl. auch S. 45). 283 Vgl. H. Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, Bd. 2 (2000), S. 172. Siehe dazu auch M. Pawlik, „Hegel und die Vernünftigkeit des Wirklichen“ Der Staat 41 (2002), S. 183 (188, 189). 284 Vgl. ebenda. Siehe zudem § 6 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, S. 47. 285 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, § 6, S. 47. Es zeigt sich hier deutlich, dass Hegel nicht vorgeworfen werden kann, den Unterschied 280
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Teil 2: Rechts- und staatsphilosophische Grundlegung
Das Recht teilt sich nach Hegel in drei verschiedene Sphären, die als aufeinander bezogen gedacht werden müssen: Das abstrakte Recht (welches die Fundamentalbedingungen äußerer personaler Rechtsverhältnisse beschreibt),286 die Moralität (als Sphäre der subjektiven, innerlichen Freiheit der Person) und die Sittlichkeit (in welcher die Einheit der beiden anderen Sphären hergestellt wird).287 Die Ebene des Staates ist bei Hegel in der dritten Sphäre verortet, und zwar als gedanklicher Schlusspunkt einer Entwicklung, die bei der Familie als ursprünglicher, auf Liebe basierender menschlicher Vereinigung ansetzt und über die bürgerliche Gesellschaft als Bedürfnisgemeinschaft zur staatlichen, substanziell-freiheitlichen Gemeinschaft führt.288 Mit der Stufenfolge Familie – bürgerliche Gesellschaft – Staat umschreibt Hegel Formen vernünftiger Gemeinschaftlichkeit, deren jeweilige Eigenart notwendige Bestandteile der Wirklichkeit von Freiheit sind und die zusammengenommen die Sittlichkeit als „Idee der Freiheit, als das lebendige Gute“ 289 hervorbringen. Im System Hegels findet sich also der Begriff der Freiheit sowohl in den Ausgangsbestimmungen zum freien Willen als auch in der das Rechtssystem vollendenden Stufe der Sittlichkeit; die Freiheit ist der Boden des Rechts und zugleich ist das Recht ihre Ver-Wirklichung, das Rechtssystem ist also das „Reich der verwirklichten Freiheit“ 290.291
zwischen vernünftiger Wirklichkeit und bloßem Dasein, der Erscheinung, nicht gesehen zu haben (vgl. dazu besonders für die Rechtsphilosophie auch M. Pawlik, „Hegel und die Vernünftigkeit des Wirklichen“ a. a. O. (Fn. 283), der zu Recht auf das kritische Potential der Hegelschen Philosophie des Geistes hinweist und den Vorwurf der unkritischen Affirmation des Bestehenden durch Hegel überzeugend entkräftet). Im Gegenteil hält Hegel es für selbstverständlich, dass sich in der realen Welt auch vieles findet, das er als „zufällige Existenz“ abtut und gerade von dem wirklich Vernünftigen scheidet; er schreibt: „(. . .), wer wäre nicht so klug, um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der Tat nicht so ist, wie es sein soll?“ (Ebenda, S. 49). Hegel meint nun aber, dass es nicht damit getan ist, diese Diskrepanz festzustellen oder der bloßen Erscheinung ein abstraktes „Sollen“ entgegen zu halten. Den höchsten Endzweck der Wissenschaft sieht er darin, die „Versöhnung der selbstbewussten Vernunft mit der seienden Vernunft, mit der Wirklichkeit hervorzubringen“. (Ebenda, S. 47) Die philosophische Wissenschaft habe „mit der Idee zu tun, welche nicht so ohnmächtig ist, um nur zu sollen und nicht wirklich zu sein, und damit mit einer Wirklichkeit, an welcher jene Gegenstände, Einrichtungen, Zustände usf. nur die oberflächliche Außenseite sind.“ (Ebenda, S. 49). Siehe zum Ganzen auch V. Hösle, Hegels System, Bd. 2 (1987), S. 417–423 und St. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 234–240. 286 Siehe W. Bartuschat, „Zum Status des abstrakten Rechts in Hegels Rechtsphilosophie“ ZPhF 41 (1987), S. 19 ff. 287 Vgl. zu dieser Einteilung § 33 GPhR, S. 87 ff. 288 Zu dieser Dreiteilung siehe D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 139 ff.; zur Unterscheidung zwischen bürgerlicher Gesellschaft und Staat W. Pauly, „Hegel und die Frage nach dem Staat“ Der Staat 39 (2000), S. 381 ff. 289 G. W. F. Hegel, GPhR, § 142, S. 292. 290 G. W. F. Hegel, GPhR, § 4, S. 46.
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Anders als seine Vorgänger verortet Hegel den Aspekt der Sicherheit nicht im Bereich des Staates (i. e. S.), sondern in dem der bürgerlichen Gesellschaft. Hier sei der Ort, an dem der Schutz des Eigentums durch die Rechtspflege und die sichernde Macht des Allgemeinen ihre Berechtigung haben. Hegel wehrt sich gegen die Vorstellung, nach der die Sicherheit und der Schutz des Eigentums und der persönlichen Freiheit schon allein die Bestimmung des Staates ausmacht: Damit würde der Staat auf bloßen Interessenschutz reduziert, wo er doch in Wahrheit viel mehr als das sei, nämlich das „an und für sich Vernünftige“.292 Ein Staat, der nur „Sicherheitsstaat“ ist, ist für Hegel kein Staat im substantiellen, wahren Sinne, sondern ein bloß äußerlicher Zusammenhalt, allenfalls „Not- und Verstandesstaat“ 293. Ein solches Verständnis von Staatlichkeit ist nach Hegel reduziert und beschränkt, und es erfasse nicht das wahre Wesen des Staates, sondern eben nur seine Äußerlichkeit. Nichtsdestotrotz hat aber das Bedürfnis nach Sicherheit auch bei Hegel seine Berechtigung und muss innerhalb einer Rechtsgemeinschaft befriedigt werden. Denn auch die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft ist Element der Sittlichkeit und auf ihr baut der Staat auf. Wie sich Freiheit und Sicherheit in einem solchen Rechtssystem verbinden lassen und welche Bedeutung dabei der Staat hat, soll im Folgenden näher untersucht werden. Dafür ist es zunächst notwendig, das von Hegel vorausgesetzte Freiheitsverständnis zu erinnern und seinen daraus entwickelten Rechtsbegriff zu klären (dazu unter II.), um davon ausgehend das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in Hegels System der Sittlichkeit (dazu III.) herauszuarbeiten.
II. Freiheitsbegriff 294 und Recht als „Dasein der Freiheit“ Die philosophische Grundlage für sein Rechtssystem findet sich bei Hegel u. a. in den §§ 4 bis 7 seiner Grundlinien. Er beschreibt hier den freien Willen, das Bewusstsein des Menschen, als unumgängliche Voraussetzung jeglicher rechtlicher Überlegungen.295 Im § 4 heißt es: „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so daß die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht und das Rechtssystem das Reich der verwirklichten Freiheit, die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht als eine zweite Natur, ist.“ Es zeigt sich, dass Hegel Willen und 291 Vgl. zum Ganzen auch Th. S. Hoffmann, „Freiheit, Anerkennung und Geist als Grundkoordinaten der Hegelschen Staatsphilosophie“ (2009), S. 49 ff. (insbesondere 53 ff.). 292 G. W. F. Hegel, GPhR, § 258 (mit Anm.), S. 399. 293 G. W. F. Hegel, GPhR, § 183, S. 340. 294 Vgl. hierzu zunächst U. Volkmann, „Freiheit in Bindungen“ (2009), S. 155 ff. 295 Siehe dazu D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 32 ff.; vgl. zur Bedeutung des Freiheitsbegriffs für das Recht bei Hegel auch St. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 91–94.
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Freiheit gleichsetzt (es einen „unfreien Willen“ also nicht geben kann) und dass er, wie vor ihm auch Kant, die Freiheit als mit dem Menschsein notwendig verbunden denkt: „Die Freiheit ist (. . .) ebenso eine Grundbestimmung des Willens, wie die Schwere eine Grundbestimmung des Körpers ist. (. . .) Wille ohne Freiheit ist ein leeres Wort, so wie die Freiheit nur als Wille, als Subjekt wirklich ist.“ 296 In den §§ 5–7 entwickelt und beschreibt Hegel dann die einzelnen Elemente des freien Willens.297 Einerseits wisse jedes Selbstbewusstsein sich als Allgemeines – d. h. als die Möglichkeit, von allem Bestimmten zu abstrahieren und sich in reinster Form als sich selbst zu denken. In diesem Element des Willens liege es, dass „ich mich von allem losmachen, alle Zwecke aufgeben, von allem abstrahieren kann. Der Mensch allein kann alles fallen lassen, auch sein Leben: er kann Selbstmord begehen, (. . .). Der Mensch ist das reine Denken seiner selbst, und nur denkend ist der Mensch diese Kraft, sich Allgemeinheit zu geben, das heißt alle Besonderheit, alle Bestimmtheit zu verlöschen.“ 298 Das erste Element des Willens ist also die Selbstreflexion unter Abstraktion von allem Äußeren. Andererseits erkenne das Ich sich selbst aber auch als Besonderes, das bestimmte Zwecke und Inhalte hat und sich dadurch von anderen unterscheidet. Das einzelne Ich kann zur „Unterscheidung, (zum) Bestimmen und Setzen einer Bestimmtheit“ übergehen. Er kann etwas Bestimmtes als das seinige wollen, seinen Willen in Richtung auf ein bestimmtes Etwas richten, aussondern und wählen299: Der Einzelne will nicht bloß, er will etwas.300 Die Fähigkeit zur Besonderung des Willens ist ebenso bestimmendes Moment des Willens wie die zur Abstraktion. Aber erst die Einheit dieser beiden Elemente („die in sich reflektierte und dadurch zur Allgemeinheit zurückgeführte Besonderung“ 301) macht nach Hegel den freien Willen aus, weil der unbestimmte (allgemeine) Wille „ebenso einseitig ist als der bloß in der Bestimmtheit stehende“ 302. Die Freiheit des Willens liegt nach Hegel also in jener Einheit, in der sich das Selbstbewusstsein als Allgemeines – als die Möglichkeit, von allem Bestimmten zu abstrahieren – und als Besonderes mit einem bestimmten Gegenstand, Inhalt und Zweck weiß.303
296 G. W. F. Hegel, GPhR, § 4 (Zusatz), S. 46. Siehe dazu auch H. Schumacher, Hegels Rechtsphilosophie (1984), S. 18. 297 Siehe dazu auch St. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 273 ff. 298 G. W. F. Hegel, GPhR, § 5 (Zusatz), S. 51. 299 Vgl. Hegels handschriftl. Anmerkung zum § 6 GPhR, S. 53. 300 Siehe den Zusatz zum § 6 GPhR, S. 54. 301 § 7 GPhR, S. 54. 302 Zusatz zum § 6 GPhR, S. 54. 303 Vgl. G. W. F. Hegel, GPhR, § 7 (Anm.), S. 55.
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Für Hegel liegt demnach die Freiheit des Menschen in der Fähigkeit zur Selbstreflexion begründet. Sie ist es, die ihm Selbstbestimmung ermöglicht und ihn von einem bloß fremdbestimmten Naturgegenstand unterscheidet.304 Die spezifische condicio humana liegt darin, „in naturaler Unmittelbarkeit zur Freiheit bestimmt und erkennendes Wesen zu sein.“ 305 Der Mensch wird als ein beide Momente (das naturhafte und das geistige, die Freiheit begründende)306 in sich vereinendes Wesen verstanden, welches sich selbst als eine solche Einheit begreifen und dadurch das Naturhafte in sich selbst überwinden kann:307 „Als Geist ist der Mensch ein freies Wesen, das die Stellung hat, sich nicht durch Naturimpulse bestimmen zu lassen.“ 308 Neben dieser Erscheinungsform menschlicher Freiheit – bei Kant hieß sie „negative Freiheit“ 309 – hat auch in Hegels Vorstellung der menschliche (subjektive) Geist die besondere Eigenschaft, seine Welt „tätig zu erfüllen, ihr als praktischer Geist gegenüberzutreten“ 310. Der „Wille als denkende Intelligenz“ sei der wahrhafte, freie Wille und das „sich durchsetzende Denken“ hat für Hegel die Bedeutung, dass das Selbstbewusstsein über den Prozess der Reflexion die Einseitigkeit von sinnlichen Trieben und Neigungen überwinden und sich zum Allgemeinen bestimmen kann.311 Diese Denkbewegung zeichnet sich dadurch aus, dass die „Unmittelbarkeit der Natürlichkeit“ und die „Partikularität“ der Einzelheit durch sie aufgehoben und zur Allgemeinheit geführt werden. Hegels „praktischer Geist“ weiß „sich aus sich erfüllend“ 312 und dieser Geist tritt als Wille, der sich selbst seinen Inhalt gibt – also als freier Wille –, in die Wirklichkeit.313 In dieser Fähigkeit des subjektiven Geistes sieht Hegel die Grundlage für sein gesamtes Rechtssystem; er schreibt: „Dies Selbstbewußtsein, das durch das Denken sich als Wesen erfasst und damit eben sich von dem Zufälligen und Unwahren abtut, macht das Prinzip des Rechts, der Moralität und aller Sittlichkeit aus.“ 314 304
Siehe Th. S. Hoffmann, Hegel (2004), S. 403. Th. S. Hoffmann, Hegel (2004), S. 404. 306 Th. S. Hoffmann formuliert: „Freiheitlichkeit und Geisthaftigkeit sind in Wahrheit dasselbe, und nur das äußere Unmittelbare, als solches festgehalten, ist das Unfreie.“ (Hegel (2004), S. 406). 307 Der Mensch hört, gerade weil er weiß, dass er Tier ist, auf, Tier zu sein (so G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 112 (zitiert auch bei Th. S. Hoffmann, Hegel (2004), S. 403)). 308 G. W. F. Hegel, GPhR, § 18 (Zusatz), S. 69. 309 Vgl. dazu oben bei Fn. 163. 310 Th. S. Hoffmann, Hegel (2004), S. 412. 311 G. W. F. Hegel, GPhR, § 21 (Anm.), S. 72. 312 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, § 469, S. 288. 313 Vgl. ebenda. 314 G. W. F. Hegel, GPhR, § 21 (Anm.), S. 72. 305
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Dabei macht Hegel in gewisser Weise die Grundidee Kants fruchtbar, der mit seinem Kategorischen Imperativ die Basis für die Denkbewegung gelegt hatte, mittels derer durch die Überprüfung des subjektiven Handlungsgrundsatzes auf Verallgemeinerbarkeit die moralische Qualität einer Handlung bestimmt werden kann. Kant hat damit die Grundform menschlicher Selbstbestimmung entwickelt und gezeigt, wie sich Freiheit im Subjekt als wahr erweisen und in die Wirklichkeit treten kann. Hegel selbst rekurriert aber nicht (jedenfalls nicht ausdrücklich) auf Kant und kritisiert an anderer Stelle sogar das Kantische Konzept als bloß formal (als „leeren Formalismus“).315 Gemessen an dem Kantischen Kategorischen Imperativ, der – weil das menschliche Subjekt gerade nicht göttlich ist und deswegen nicht schon notwendig und „von Natur aus“ das Gute weiß und will316 – dem Einzelnen nur die Richtung des Sollens angibt und es im Übrigen seiner Selbstbestimmung überlässt, sich zum Richtigen zu wenden, ist das Hegelsche Prinzip der Identität von subjektiv Gewolltem und Allgemeinem deutlich fordernder: „Die wahre Freiheit ist als Sittlichkeit dies, daß der Wille nicht subjektive(n), d. i. eigensüchtige(n), sondern allgemeinen Inhalt zu seinen Zwecken hat; (. . .).“ 317 Hegel will also nicht nur auf die Form der Verallgemeinerbarkeit, sondern auf eine auch inhaltliche Übereinstimmung des subjektiv Gewollten mit dem Allgemeinen abstellen: Der subjektive Handlungsgrundsatz des Einzelnen muss, damit wahre Freiheit ist, Allgemeinheit zu seinem Zweck haben, das Subjekt muss das Allgemeine wollen, in ihm muss eine Identität von Allgemeinem und Besonderem entstehen.318 Damit bleibt Hegel zwar einerseits in den Denkbahnen, die von Kant ihren Ausgang genommen haben, andererseits liegt aber in seiner Philosophie auch eine selbständige Entfaltung dieser Anlagen: Wie bei Kant ist für die Hegelsche Ethik nicht das Wissen von einem „sittlich Guten oder dem Sittengesetz, das anderwärts seinen Ursprung und seinen Geltungsgrund hätte, sei es in einer an sich vorhandenen Ideenwelt, sei es im göttlichen Ratschluss“ entscheidend, sondern die Freiheit selbst ist „das Prinzip, die begründende Instanz solcher Rede vom sittlichen Guten“ 319. Als solches „Prinzip ist Freiheit Selbstgesetzgebung, Autonomie – (. . .).“ 320 An dieser Grundeinsicht 315 G. W. F. Hegel, GPhR, § 135, S. 252; ders., Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, S. 459 ff. Vgl. dazu ferner F. von Freier, „Kritik der Hegelschen Formalismusthese“ Kant-Studien 83 (1992), S. 304 ff.; H. Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, Bd. 2 (2000), S. 34 ff.; U. Steinvorth, Klassische und moderne Ethik (1990), S. 68 ff. und A. Wildt, Autonomie und Anerkennung (1982), S. 44 ff. 316 Vgl. I. Kant, GMdS, BA 37 ff. und KpV, A 36, 37. 317 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, § 469, S. 288, 289. 318 Vgl. G. W. F. Hegel, GPhR, § 106 (Anm.), S. 204, 205. 319 W. Jaeschke, Hegel-Handbuch (2003), S. 369. 320 Ebenda.
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hält Hegel unumstößlich fest.321 Zudem verdankt Hegel dem Kantischen Kategorischen Imperativ die Gewissheit, dass für die freie Selbstbestimmung und mit ihr für ein allgemeingültiges Prinzip des Guten eine geistige Vermittlung zwischen der Besonderheit des Einzelnen und der Allgemeinheit der Vernunft hergestellt sein muss.322 Bei Kant findet sich nun diese Vermittlung in dem im Subjekt selbst stattfindenden Denkprozess der Maximenbildung (als Ausdruck der Besonderheit eines jeden Einzelnen in einer auch je besonderen Lebenssituation) und der Überprüfung dieser Maxime auf vernunftgemäße Verallgemeinerbarkeit (als Kriterium der konkreten Handlungsentscheidung). Bei Hegel findet sie sich in dem Erfordernis, dass der Wille „allgemeinen Inhalt zu seinen Zwecken“ haben muss, um wirklich frei zu sein. Es zeigt sich, dass Hegels Perspektive auf das Problem der Freiheit eine andere ist: Er fragt nicht: „Was soll ich tun?“, sondern: „Was macht den freien Willen aus?“ Dass er als Antwort auf diese Frage nicht auf die Prozesshaftigkeit der Denkbewegung im Subjekt, sondern vielmehr auf die den Willen bestimmende Inhalte als Gegenstand objektiver Erkenntnis abstellt, erklärt sich aus diesem Perspektivenwechsel. Hegel denkt Freiheit gewissermaßen von einem objektiven, übergeordneten Standpunkt aus und kann von dort aus ihre einzelnen Elemente und das sie Bestimmende erfassen (gewissermaßen durch Hinsehen begreifen), sowie ihre Entfaltung in der Wirklichkeit nachzeichnen und die für diese Entfaltung notwendigen Bedingungen ausmachen; sein Denken gleicht einem „Zuschauen“, wie sich der Begriff der Freiheit entwickelt.323 Dies ist nicht nur das Projekt seiner gesamten Rechtsphilosophie,324 es erklärt sich so auch, warum man den Hegelschen Schritt vom subjektiven zum objektiven Geist (d. i. dem Recht) folgendermaßen umschreiben kann: „Der freie Geist ist das bewusste Wollen der Freiheit, das heißt (. . .) einer geist- oder vernunftbestimmten Wirklichkeit als der Welt, in der sich der subjektive Geist wieder finden kann.“ 325 Der freie Geist will Freiheit,326 und zwar reale Freiheit, die die Welt formt und die ihm selbst gemäß ist. Der freie Geist will, dass Freiheit „Dasein“ hat. Hegel bestimmt demgemäß das Recht als „Dasein des freien Willens“.327 In diesem Begriff des „Daseins“ hebt Hegel ein interpersonales Moment des Rechts
321
Siehe dazu auch J. Ritter, „Moralität und Sittlichkeit“ (1975), S. 217 ff. Vgl. dazu auch S. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 273 ff. 323 Vgl. auch Hegel selbst in § 2 GPhR, S. 30. 324 „Die philosophische Rechtswissenschaft hat die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung zum Gegenstand.“ (G. W. F. Hegel, GPhR, § 1, S. 29). 325 Th. S. Hoffmann, Hegel (2004), S. 412. 326 Vgl. auch § 27 GPhR, S. 79. 327 G. W. F. Hegel, GPhR, § 29, S. 80. 322
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hervor: Das „Dasein“ meint bei ihm „sich gegenüberstehend“ 328, also hier das Sich-Gegenüberstehen des einen freien Willens und eines anderen, ebenfalls freien Willens.329 Bei Hegel wird das Recht also als eine anerkennende, gegenseitige Beziehung freier Willen begriffen;330 die Basis des Rechts ist ein Rechtsverhältnis. Resultat dieses Rechtsverständnisses ist notwendig die Gleichbedeutsamkeit der freien Personen in ihrer Rechtsbeziehung.331 Vor diesem Hintergrund ist Hegels Rechtsgebot im § 36 der Grundlinien zu lesen: Sei eine Person und respektiere die anderen als Personen.
III. Freiheit und Sicherheit im Hegelschen System der Sittlichkeit Von dieser Basis aus strukturiert sich eine Rechtsgemeinschaft „nach Maßgabe der sich wechselseitig anerkennenden ,Selbstbewusstseine‘, (. . .). Individuum und Gesellschaft sind dann für Hegel in einer Weise miteinander verflochten, in der ein Einzelner die gesellschaftliche Vernunftstruktur in dem Maße für die eigene Subjektwerdung benötigt, in dem die Gesellschaft ihrerseits eben diese als Anerkennungsverhältnisse ermöglicht oder fördert.“ 332 Die gesellschaftliche Struktur, in der sich nach Hegel Freiheit in dieser Weise realisieren kann, beschreibt er als System der Sittlichkeit, wobei die Sittlichkeit selbst die „Idee der Freiheit“ ist.333 Er unterteilt das System in (1) die Familie, (2) die bürgerliche Gesellschaft und (3) den Staat.334 Die Familie stellt den gleichsam natürlichen, originär gemeinschaftlichen Zusammenhang dar („Die Familie hat als die unmittelbare Substantialität des Geistes seine sich empfindende Einheit, die Liebe, zu ihrer Bestimmung, (. . .)“ 335), 328
Siehe § 23 GPhR, S. 75. Vgl. K. Seelmann, „Hegels Straftheorie in seinen ,Grundlinien der Philosophie des Rechts‘“ JuS 1979, S. 688. 330 Vgl. auch S. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 228 ff., der zu Recht darauf hinweist, dass der von Hegel in seinen früheren Schriften (insbesondere: Phänomenologie des Geistes, S. 145 ff.; Je System III, bes. 205 ff.) ausgearbeitete Prozess der wechselseitigen Anerkennung von Selbstbewusstseinen für das Rechtsverhältnis vorausgesetzt wird (229, 230). Vgl. auch Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften III, §§ 430–435, S. 219–226. 331 So auch S. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 231. 332 S. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 230 (Fn. weggelassen). 333 G. W. F. Hegel, GPhR, § 142, S. 292. 334 Siehe G. W. F. Hegel, GPhR, § 157, S. 306. Zu dieser Einteilung Ch. Taylor, Hegel (1978), S. 565 ff. 335 G. W. F. Hegel, GPhR, § 158, S. 307. 329
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der allerdings mit dem Prozess des Selbstbewusst-Werdens fortschreitend zu überwinden ist (das Kind wird erwachsen – selbstbewusst –, es entwickelt seinen eigenen Willen, wird selbständig und strebt aus der Familie heraus). Die bürgerliche Gesellschaft bildet das Bindeglied zwischen Familie und Staat: „Sie ist einerseits notwendiger Entfaltungsraum selbständiger, aus der Familie entlassener Individuen; sie bringt es andererseits noch nicht zur wirklichen Allgemeinheit eines alle einzelnen verbindenden Zusammenhangs, wie es der substantielle Staat leistet.“ 336 Die bürgerliche Gemeinschaft wird also von Hegel nicht mit dem Staat identifiziert, denn ihr fehlt trotz ihrer schon geordneten freiheitlichen Struktur (System der Bedürfnisbefriedigung, Wirklichkeit der Freiheit durch allgemein anerkannte Gesetze und Rechtspflege, Institutionen zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung337) das Ideale des Staates: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absolut unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staates zu sein.“ 338 Mit der Idee des Staates ist bei Hegel also mehr gedacht, als der gemeinschaftliche vernünftige Wille der Subjekte; der Staat ist das an und für sich (objektiv) Vernünftige, objektiver Wille. Der Staat ist die Verwirklichung von Freiheit in einem absoluten Sinne, „sein Grund ist die Gewalt der sich als Wille verwirklichenden Vernunft.“ 339 1. Die bürgerliche Gesellschaft Die bürgerliche Gesellschaft340 bezeichnet bei Hegel ein allgemeines System der Bedürfnisbefriedigung, in dem die einzelnen Mitglieder (die je konkreten, besonderen Personen) Austauschverhältnisse eingehen und sich zu einer Zweckgemeinschaft zusammenfinden, in der allgemeine Regeln das Geflecht von Interpersonalbeziehungen ordnen und regulieren.341 Dieses System entspricht für He336 R. Zaczyk, Rezension der Arbeit D. Klesczewskis, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft, GA, Bd. 8 (1993), S. 381 (383). 337 G. W. F. Hegel, GPhR, § 188, S. 346. 338 G. W. F. Hegel, GPhR, § 258, S. 399. 339 Zusatz zu § 258 der GPhR, S. 403. Siehe auch H. Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, Bd. 2 (2000), S. 251: „Auf die abstrakte Substantialität des Sittlichen in der Familie folgt die entzweiende Subjektivierung in der bürgerlichen Gesellschaft, aus deren Dialektik immanent der Staat als die sittliche Grundlage beider Bereiche resultieren soll.“ 340 §§ 182 ff. GPhR, S. 339 ff. Zur Entstehung der Theorie der bürgerlichen Gesellschaft vgl. R.-P. Horstmann, „Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft“ (1997), S. 193 (194 ff.). 341 Vgl. auch M. Henkel, „Hegels Konzept der bürgerlichen Gesellschaft“ (2009), S. 93 (96 ff.).
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gel nur einem „negativen“ Staatsgefüge, das sich eher durch die Abgrenzung und Koordination von Freiheitssphären auszeichnet als durch eine genuin positive Vergemeinschaftung, die eigenständige Substanz hat und die die Vereinigung von Allgemeinem und Besonderem leisten kann. Dieser „Not- und Verstandesstaat“ ist nach Hegel ein negativer Staat und nur eine Vorstufe der Sittlichkeit,342 die erst im substantiellen, positiven Staat vollkommen hergestellt werden kann. Erst dieser positive Staat ist „das Ideale“, die Substanz der Freiheit.343 In der bürgerlichen Gesellschaft stehen sich einerseits selbständige Einzelne gegenüber (die besondere Person in Beziehung auf eine andere besondere Person)344, bilden aber zugleich auch ein Ganzes, eine „formelle Allgemeinheit“, in der einerseits ein „System der Bedürfnisse“ – die arbeitsteilige Wirtschaft im weitesten Sinne – entsteht, andererseits aber auch schon eine Rechtspflege, die den Einzelnen gesicherte Rechtspositionen (Eigentum, Sicherheit der Person) ermöglicht und eine äußere Ordnung, die das Zusammenleben organisiert, eine Vorsorge gegen die Zufälligkeiten des Lebens trifft und das Interesse des Gemeinwesens als Allgemeines wahrt (bei Hegel: Polizei und Korporation).345 In diesem „äußeren Staat“ sind das Wohl und das Recht der einzelnen Bürger miteinander verflochten.346 Mit der Verwirklichung der gegenseitigen Beziehungen (z. B. von Geschäften aller Art, Arbeits- und Dienstverhältnissen, Vermögensbildungs- oder Übertragungsakten), bildet sich einerseits ein System allseitiger Abhängigkeit heraus (die moderne arbeitsteilige Gesellschaft)347, gleichzeitig aber auch die reale Möglichkeit der Verfolgung von je besonderen Interessen und Lebenszielen (die gesicherte Existenz und Freiheit des einzelnen Subjekts). Diethelm Klesczewski weist zu Recht darauf hin, dass in der bürgerlichen Gesellschaft für das Subjekt ein Bereich eigenständiger Verwirklichung seiner Freiheit eröffnet ist. Die Einzelnen machen einerseits die „eigene Besonderheit, ihre subjektiven privaten Rechte, ihr partikuläres Wohl geltend“, andererseits sind sie bei der Erfüllung ihrer Bedürfnisse auf den Arbeits- und Lebenszusammenhang mit anderen Menschen angewiesen. In dieser „wechselseitigen Abhängigkeit der Bedürfnisbefriedigung an sich selbständiger Wesen steckt somit das alle Bürger verbindende Allgemeine, so dass die Sittlichkeit in intersubjektiven Beziehungen
342 Vgl. Zusatz zum § 182 und § 183 GPhR, S. 339, 340. Siehe dazu auch W. Pauly, „Hegel und die Frage nach dem Staat“ Der Staat 39 (2000), S. 381, 382. 343 Vgl. §§ 257, 258 GPhR, S. 398 ff. Vgl. auch D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 140. 344 § 182 GPhR, S. 339. 345 Siehe zu dieser Einteilung § 188 GPhR, S. 346. 346 § 183 GPhR, S. 340. 347 „In der bürgerlichen Gesellschaft ist der homo oeconomicus zu Hause.“ W. Pauly, „Hegel und die Frage nach dem Staat“ (2000), S. 384.
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nicht völlig verloren geht, (. . .).“ 348 Klesczewski arbeitet ferner heraus, dass in der wechselseitigen Abhängigkeit von der jeweiligen Arbeitsleistung der anderen und in der Tatsache, dass so jeder für sich selbst, gleichzeitig aber auch für andere sorgt, auch ein Grund gelegt ist für die gegenseitige Anerkennung der Mitglieder der Gesellschaft. Er schreibt: „Denn aus der Perspektive der Interaktionspartner, die sich als je besondere zum Zwecke haben und folglich sich von anderen unterscheiden und abgrenzen wollen, ist die Anerkennung des Gegenübers (zunächst) ein unvermeidliches, gar lästiges Nebenprodukt, das zur eigenen Erhaltung jedoch unentbehrlich ist. (. . .) Das einheitlich formulierbare Prinzip aller Interaktionspartner besteht nicht darin, Arbeit für andere als Mittel zur eigenen Bedürfnisbefriedigung aufzufassen. Vielmehr dient individuelle Arbeit – jetzt in gesellschaftlicher Perspektive gesehen – zur Konstitution eines allseitigen Verhältnisses, in der jeder Bürger sich ebenso eine eigene Selbständigkeit erwirtschaften und erhalten kann, wie er dieses an der Arbeit anderer anschauen kann. So erkenne ich in allen anderen eine mir gleiche Subjektivität. Sie erlaubt es, aus dem Versunkensein in das Relative der gegenseitigen Bedürfnisbefriedigung hinauszugehen und die sich darin manifestierende Entzweiung in einen einheitlichen Punkt aufzuheben: in die allgemeine Anerkennung jedes in seiner Personenwürde.“ 349
In diesem System hat sowohl die Besonderheit jedes Einzelnen sein Recht (nämlich „sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen“), als auch die Allgemeinheit, die als äußere Macht den ganzen Zusammenhang stützt und absichert und dafür mit eigenem Recht gegenüber der einzelnen, besonderen Person ausgestattet ist.350 In der bürgerlichen Gesellschaft fallen Besonderheit und Allgemeinheit einerseits auseinander, andererseits aber sind sie wechselseitig gebunden und bedingt.351 Hegel erklärt das damit, dass das menschliche Streben, die Sucht nach Genuss und Gewinn, der Hang zur Ausschweifung und zur Zügellosigkeit die Tendenz zur Selbstzerstörung in sich trägt und bei ungehindertem Fortschreiten notwendig zum eigenen physischen und sittlichen Verderben führen muss.352 Solange es keine prinzipiengestützte Gegenkraft zu dieser Tendenz gibt, sei jedwede Beschränkung, aber auch die ungehemmte Entwicklung dieses Treibens immer nur zufällig; das „Prinzip der Besonderheit“ habe die Tendenz „sich zur Totalität“ zu entwickeln.353 In dieser Tendenz, sich immer weiter auszubreiten, sich selbst Raum zu verschaffen, liege aber zugleich auch die Tendenz, sich zur Allgemein348 D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 156 ff. 349 D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 160, 161. 350 § 184 GPhR, S. 340. 351 Vgl. den Zusatz zu § 184 GPhR, S. 340, 341. 352 § 185 GPhR, S. 341. 353 § 186 GPhR, S. 343.
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heit zu erweitern. Diese stellt dann die Form bereit, in der sich das System der Bedürfnisse etablieren kann, indem sie die notwendigen Koordinations- und Abgrenzungsregeln aufstellt und diese mit eigenen Institutionen durchsetzt. Es geht auf dieser Stufe der Gemeinschaftlichkeit also primär um die Organisation von Besonderheit in Allgemeinheit – als erster, notwendiger Schritt zur Realisierung von Freiheit –, nicht aber schon um die vollständige Verwirklichung von Freiheit in einem substantiellen Sinne.354 Der Einzelne ist hier Teil der Gesamtheit vor allem deswegen, weil er nur in ihr und durch sie seine eigenen Interessen verfolgen, sich handelnd in Bezug zu anderen setzen und dadurch sein Leben gestalten kann.355 Es ist diese Ebene der dreistufigen Entfaltung der Sittlichkeit (Familie – bürgerliche Gesellschaft – Staat), auf der der Gedanke der Sicherheit von Hegel eingeführt wird. Die Rechtspflege (d. i. die notwendig positivierte Gesetzlichkeit von Recht und die Tätigkeit der Gerichte) sowie die Einrichtung der Polizei (als „sichernde Macht des Allgemeinen“ 356) sind für Hegel notwendige Mechanismen zur Sicherstellung individueller Rechtspositionen und damit auch zur Gewährleistung der Grundbedingungen für ein auf Austausch und Arbeitsteilung beruhendes ökonomisches System. Ohne diese „Grundsicherung“ ist die Betätigung der Freiheit in ökonomischer Hinsicht nicht möglich: Es braucht eine gewisse Verlässlichkeit der Bedingungen wirtschaftlichen Handelns, so vor allem des Eigentums und der Person, wenn das System Bestand haben und sich nicht in allgemeines Chaos auflösen soll.357 Die Notwendigkeit dieser Mechanismen ist bei Hegel als einsichtig auch für die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft gedacht. Es ist also kein nur äußerlich sichernder Zusammenhang im Sinne Hobbes’, sondern ein durchaus selbst-begründeter. In den §§ 209, 210 der GPhR zeigt Hegel, wie sich aus der Wechselbezüglichkeit der Bedürfnisse die Notwendigkeit eines „da-seienden“ Rechts ergibt: Das Recht muss als allgemein Anerkanntes, Gewusstes und Gewolltes da sein und dadurch vermittelt tatsächlich gelten und objektive Wirklichkeit haben.358 Erst dann kann ein gemeinschaftliches ökonomisches System Bestand haben, weil sich ein jeder auf die Geltung des Rechts verlassen kann, und nur so 354
§ 186 GPhR, S. 343. § 187 GPhR, S. 343. Vgl. dazu auch S. Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates (1976), S. 171 ff. 356 § 231 GPhR, S. 382. 357 Dass dieser Befund empirisch richtig ist, zeigt sich immer wieder, wenn aus Kriegs- und Krisengebieten berichtet wird, dass sich Investoren und Unternehmer zurückziehen bzw. gar nicht erst einfinden. Eine basale rechtliche Absicherung der Investitions- und Arbeitsbedingungen, sowie eine zumindest minimale Verlässlichkeit bei der Durchsetzung subjektiver Rechte ist für eine erfolgreiche wirtschaftliche Betätigung notwendige Voraussetzung. 358 Vgl. dazu auch H. Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, Bd. 2 (2000), S. 282 f. 355
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lässt sich auf Dauer der Trend zur Selbstzerstörung aufheben, weil die Kraft der entgegengesetzten Besonderheiten durch die Kraft der Allgemeinheit als ordnender und von allen mitgetragener Faktor neutralisiert wird. Die Wirksamkeit und Durchsetzbarkeit von Recht muss in der Realität dann durch allgemein bekannt gemachte positive Gesetze und durch die Tätigkeit der Gerichte gewährleistet werden. Die Gesetze sorgen für Sicherheit in Bezug auf die Zuordnung von Rechtspositionen („das vorhin unmittelbare und abstrakte Dasein meines einzelnen Rechts“ geht „in die Bedeutung des Anerkanntseins als eines Daseins in dem existierenden allgemeinen Willen und Wissen über“ 359). Die Gerichte sind als öffentliche Macht für die Erkenntnis und Verwirklichung des Rechts im besonderen Fall zuständig.360 Dadurch kann das System der Bedürfnisse, innerhalb dessen der Erhalt und das Wohl eines jeden Einzelnen zunächst nur als Möglichkeit bestehen, weil es an Verfestigungen fehlt, stabilisiert werden. Die Rechtspflege sorgt also grundsätzlich für die Sicherheit des Eigentums und der Persönlichkeit;361 durch sie kann Willkür und die bloße Macht des Stärkeren gebändigt werden. Zur Rechtspflege muss nach Hegel ferner die Polizei als die „sichernde Macht des Allgemeinen“ hinzukommen, um den noch bestehenden Rest an (rechtsgefährdenden oder -zerstörenden) Zufälligkeiten zu beschränken und im Übrigen um die äußere Ordnung zu wahren.362 Der Polizei obliegt nicht nur die Verhinderung und Verfolgung von Verbrechen, sondern auch die Ordnung des legalen Lebens; sie muss die Bedingungen der Möglichkeit des Zugangs zum System der Bedürfnisbefriedigung für alle gewährleisten, sie muss auf die Regulierung von Interessenkonflikten zwischen Produzenten und Konsumenten hinwirken und sie hat eine allgemeine Vorsorge zu leisten.363 Hegel selbst fasst das in § 249 GPhR zusammen: „Die polizeiliche Vorsorge verwirklicht und erhält zunächst das Allgemeine, welches in der Besonderheit der bürgerlichen Gesellschaft enthalten ist, als eine äußere Ordnung und Veranstaltung zum Schutz und zur Sicherheit der Massen von besonderen 359
G. W. F. Hegel, GPhR, § 217, S. 370. Vgl. G. W. F. Hegel, GPhR, § 219, S. 373. 361 Vgl. § 230 GPhR, S. 382. Siehe dazu auch M. Henkel, „Hegels Konzept der bürgerlichen Gesellschaft“ (2009), S. 93 (103). 362 Siehe § 231 GPhR, S. 382. Dazu H. Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, Bd. 2 (2000), S. 287 ff. 363 Vgl. §§ 235 ff. GPhR, S. 384 ff. Der Polizei obliegt also „die ,Vorsorge‘ gegen die im gesellschaftlichen System der Bedürfnisse ,zurückbleibende Zufälligkeit‘ und damit neben der Gefahrenabwehr eine leistende und lenkende Daseinsfürsorge. Sie kontrolliert die Gewerbefreiheit mit Rücksicht auf das allgemeine Beste, sorgt für ,Straßenbeleuchtung, Brückenbau, Taxation der täglichen Bedürfnisse sowie für die Gesundheit.‘“ W. Pauly, „Hegel und die Frage nach dem Staat“ (2000), S. 386 (mit Verweis auf den Zusatz zu § 236 GPhR, S. 385). Dazu auch H. Schumacher, Hegels Rechtsphilosophie (1984), S. 83, 84. 360
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Zwecken und Interessen, als welche in diesem Allgemeinen ihr Bestehen haben, so wie sie als höhere Leitung Vorsorge für die Interessen (§ 246), die über diese Gesellschaft hinausführen, trägt. Indem nach der Idee die Besonderheit selbst dieses Allgemeine, das in ihren immanenten Interessen ist, zum Zweck und Gegenstand ihres Willens und ihrer Tätigkeit macht, so kehrt das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück; (. . .).“ 364
Der Schutz sowie die Sicherheit der Bürger werden also bei Hegel als notwendiges Moment der bürgerlichen Gesellschaft eingeführt. In ihr müssen die Bedingungen für ein selbständiges Leben für jedermann tatsächlich gewährleistet sein und es ist die Allgemeinheit, die dies durch entsprechende Institutionen zu leisten hat. Auf dieser Ebene des Sittlichkeitssystems haben das Recht und seine Durchsetzungsmechanismen, sowie die Institutionen der Sicherheit und Vorsorge primär ordnenden Charakter. Diese Ordnung erschöpft sich aber nicht im bloßen Interessenschutz, sondern stellt gleichzeitig ein wesentliches Moment menschlich-vernünftigen Wirkens in Gemeinschaft mit anderen sicher. Damit ist anerkannt, dass diese Ordnungsfunktion ein wichtiges Teilelement der Wirklichkeit von Freiheit ausmacht, auf die Hegel mit seinem Rechtssystem insgesamt abzielt.365 Andererseits liegt in ihr nicht schon das den Staat in seinem Wesen Ausmachende. Während in der bürgerlichen Gesellschaft Besonderheit und Allgemeinheit in eine bloß pragmatische und bedürfnisorientierte Einheit geführt werden – eine Einheit aus Notwendigkeit –,366 soll es im Staat nach Hegel zu einer sittlichen Identität, einer Einheit aus Freiheit kommen.367 2. Der substantielle Staat Das Wesen des Staates beschreibt Hegel in § 258 GPhR: „Der Staat ist als die Wirklichkeit des substantiellen Willens, die er in dem zu seiner Allgemeinheit erhobenen besonderen Selbstbewußtsein hat, das an und für sich Vernünftige. Diese substantielle Einheit ist absoluter unbewegter Selbstzweck, in welchem die Freiheit zu ihrem höchsten Recht kommt, so wie dieser Endzweck das höchste Recht gegen die Einzelnen hat, deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staates zu sein.“ 368
a) Der Staat als Vernunfteinheit Dass der Staat etwas qualitativ anderes ist als die bürgerliche Gesellschaft, macht Hegel dadurch deutlich, dass er ihn als Schlussform der Sittlichkeit, als die „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ (§ 257 GPhR) bezeichnet, in der die „Freiheit 364 365 366 367 368
S. 393 (Hervorhebungen im Original). Vgl. dazu auch Ch. Taylor, Hegel (1978), S. 568. Siehe dazu auch H. Schumacher, Hegels Rechtsphilosophie (1984), S. 80. Siehe § 186 GPhR, S. 343. G. W. F. Hegel, GPhR, § 258, S. 399 (Hervorhebungen im Original).
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zu ihrem höchsten Recht“ kommt: Es handelt sich nicht mehr um einen bloß verständigen, sinnvollen Zusammenschluss der Individuen um der Erreichung der zur Allgemeinheit erhobenen Zwecke willen, sondern um eine Vernunfteinheit, die ihrerseits selbstzweckhaft ist.369 Hegel versteht den Staat als objektiven Geist, der sich sowohl gegenüber dem individuellen Einzelwillen als auch gegenüber der aus Einzelwillen zusammengesetzten Allgemeinheit als etwas Selbständiges, ja ihnen Überlegenes erweist. Er ist die Wirklichkeit eines objektiven Willens, der die Freiheit will. Die Vernünftigkeit des Staates besteht so in der „sich durchdringenden Einheit der Allgemeinheit und der Einzelheit und hier konkret dem Inhalte nach in der Einheit der objektiven Freiheit, d. i. des allgemeinen substantiellen Willens und der subjektiven Freiheit als des individuellen Wissens und seines besondere Zwecke suchenden Willens – und deswegen der Form nach in einem nach gedachten, d. h. allgemeinen Gesetzen und Grundsätzen sich bestimmenden Handeln.“ 370
Im Staat soll also die Besonderheit des Einzelnen und die Allgemeinheit nicht nur funktional miteinander vermittelt werden, sondern eine Einheit, ja eine Identität von Einzelwillen und objektivem Willen entstehen, die in der Freiheit ihren Grund hat. Aus diesem Verständnis vom Staat resultiert für Hegel die „höchste Pflicht“ des Einzelnen, Mitglied des Staates zu sein; und mehr noch: das Individuum habe selbst nur „Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben ist. Die Vereinigung als solche ist selbst der wahrhafte Inhalt und Zweck, und die Bestimmung der Individuen ist, ein allgemeines Leben zu führen; (. . .).“ 371 Die Objektivität von Freiheit wird so in überraschender Weise scheinbar auch gegen den Einzelnen geltend gemacht. Es mutet auf den ersten Blick sogar so an, als ginge der Einzelne als Einzelner in dieser Objektivität auf, als verliere er seinen Selbststand und seine Eigenbedeutung gegenüber der staatlichen Gemeinschaft.372 Das würde bedeuten, dass nun, da die letzte Stufe der Sittlichkeit er369 Vgl. dazu auch die Anmerkung zum § 258 GPhR, S. 399, 400. Vgl. zudem Ch. Taylor, Hegel (1978), S. 574 ff. und W. Schild, „Die Legitimation des Grundgesetzes als der Verfassung Deutschlands in der Perspektive Hegels“ (1996), S. 65 (insbesondere 72–79). 370 Anmerkung zum § 258 GPhR, S. 399. 371 Ebenda. 372 In diese Richtung R. Haym, Hegel und seine Zeit (1857), S. 372 f.: „(. . .) Ja, viel stärker, viel nachdrücklicher und anhaltender wird jetzt der Staat absolutirt und apotheosirt, jetzt, wo an die Stelle des blos construirten der existirende preußische Staat getreten ist.“ E. Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung (1979), S. 351: „Hegels Philosophie ist bewusst und explizit die Philosophie der Rechtfertigung des Bestehenden (. . .), ganz egal wie dieses bestehende beschaffen sein mag, (. . .).“ K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Falsche Propheten. Hegel, Marx und die Folgen (1958), 2. Aufl. 1970, S. 38, 40 ff. Kritisch demgegenüber W. Kaufmann, „Hegel: Legende und Wirklichkeit“ Zeitschrift für philosophische Forschung X (1956), S. 191 ff.
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reicht ist, die Freiheit des Einzelnen, die die Basis der gesamten Grundlinien ausmacht, verloren ginge.373 Dass dies von Hegel so nicht gedacht ist, macht er im § 260 GPhR deutlich, in dem er das Verhältnis von Einzelnem und Allgemeinheit im Staat herausarbeitet und dabei festhält, dass die „persönliche Einzelheit und deren besondere Interessen sowohl ihre vollständige Entwicklung und die Anerkennung ihres Rechts für sich (im Systeme der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft) haben, als sie durch sich selbst in das Interesse des Allgemeinen teils übergehen, teils mit Wissen und Willen dasselbe und zwar als ihren eigenen substantiellen Geist anerkennen und für dasselbe als ihren Endzweck tätig sind, so dass weder das Allgemeine ohne das besondere Interesse, Wissen und Wollen gelte und vollbracht werde, noch dass die Individuen bloß für das letztere als Privatpersonen leben und nicht zugleich in und für das Allgemeine wollen und eine dieses Zwecks bewusste Wirksamkeit haben.“ 374
Es geht Hegel also keineswegs darum, mit der Staatlichkeit eine Instanz zu begründen, die den Einzelnen in seiner Besonderheit untergehen lässt. Ganz im Gegenteil muss auch bei Hegel die staatliche Einheit auf der Anerkennung der Subjekte beruhen; die objektivierte Freiheit ist darauf angewiesen, als solche erkannt, anerkannt und gelebt zu werden. Dieser Prozess kann nur im Subjekt und durch das Subjekt stattfinden.375 Der Staat muss dann tatsächlich „Wirklichkeit konkreter Freiheit“ sein,376 damit das einzelne Subjekt in ihm seinen eigenen substantiellen Geist erkennen kann; und nur dann wird der Einzelne aus freier Einsicht an diesem Allgemeinen mitwirken und es sogar zu seinem eigenen Endzweck machen.377 In dieser Hinsicht kann man dann auch sagen, dass es seine Bestimmung ist, „ein allgemeines Leben zu führen“. Hinzu kommt, dass die Subjekte in den sittlichen Sphären der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft ihren Entwicklungs- und Gestaltungsfreiraum haben, der durch die Sphäre des Staates nicht aufgehoben, sondern gerade mit umfasst ist. In diesen Sphären ist der Einzelne berechtigt, sich für sich selbst zu entfalten und zu betätigen, seinem Lebensentwurf und dabei durchaus auch seinen Einzelinteressen zu folgen. Diese Seite des Menschen ist bei Hegel also auch im Staat nicht ausgeblendet, sondern in sein Konzept der Sittlichkeit integriert.
373 Vgl. zu diesem Grundproblem im Verständnis der Hegelschen Rechts- und Staatsphilosophie U. Volkmann, „Freiheit in Bindungen“ (2009), S. 155 (156, 157, 164 ff.), der zu Recht darauf hinweist, dass die Klärung „wesentlich im Begriff der ,Freiheit‘ gesucht werden“ muss (S. 157). Siehe dazu auch L. Siep, Hegels praktische Philosophie und das „Projekt der Moderne“ (2011), S. 15–24. 374 S. 406, 407. 375 Vgl. dazu auch § 144 GPhR. 376 Ähnlich S. Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates (1976), S. 218. Vgl. auch O. W. Lembcke, „Staat und Verfassung bei Hegel“ (2009), S. 113 (114): Hegels Staatstheorie sei nicht als Theorie der Staatsräson, sondern nur vom Begriff der Freiheit her zu verstehen. Siehe zudem ebenda, S. 119 ff. 377 Siehe dazu auch den Zusatz zu § 260 GPhR, S. 407.
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In der Idee des Hegelschen Staates liegt es also, dass durch die Vernünftigkeit seiner Strukturen eine Identifikation der einzelnen vernünftigen Subjekte mit ihm möglich, ja gedanklich zwingend ist.378 Diese Strukturen haben ihre Wirklichkeit in staatlichen Institutionen, die zusammengenommen die Verfassung („d. i. die entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit“) bilden; sie sind die „feste Basis des Staates sowie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen (. . .) und die Grundsäulen der öffentlichen Freiheit, da in ihnen die besondere Freiheit realisiert (. . .) ist.“ 379 Die Institutionen haben also das Recht in der Wirklichkeit der Bürger zur Geltung zu bringen, und sie haben den Vernunftstaat zu durchformen. Ihre objektive Vernünftigkeit ist Voraussetzung und Grund dafür, dass die Subjekte im Staat ihren eigenen freien Geist wiedererkennen, wenn auch in der Form einer verobjektivierten Struktur, und sich mit ihm insofern identifizieren. b) Das Prinzip der Gewaltenteilung Zu einer solchen Vernünftigkeit der Staatsstrukturen gehört auch nach Hegel das Prinzip der Gewaltenteilung („eine höchst wichtige Bestimmung, welche mit Recht, wenn sie nämlich in ihrem wahren Sinne genommen worden wäre, als die Garantie der öffentlichen Freiheit betrachtet werden konnte, (. . .)“ 380). Allerdings bestimmt Hegel die drei Gewalten im Staat nicht wie seine Vorgänger als Legislative, Exekutive und Judikative; bei ihm tritt neben die gesetzgebende und die Regierungsgewalt als dritte die fürstliche Gewalt;381 die Rechtsprechung taucht dagegen als eigene Staatsgewalt nicht auf, wird aber einerseits als Institution in der bürgerlichen Gesellschaft verortet und andererseits der Regierungsgewalt im Staat zugeordnet.382 Die drei Staatsgewalten dürfen sich nun nicht dadurch auszeichnen, dass sie sich als gegenseitige Beschränkung verhalten oder sich jeweils selbst als ein Absolutes begreifen; es geht Hegel nicht um eine Machtbalance („balance of powers“), sondern um eine durch die Gewalten gebildete „lebendige Einheit“.383 Keinesfalls ist ihr Zusammenwirken bloß funktional zu verstehen; in der durch
378 Vgl. dazu auch S. Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates (1976), S. 214 und 216; Th. S. Hoffmann, „Freiheit, Anerkennung und Geist als Grundkoordinaten der Hegelschen Staatsphilosophie“ (2009), S. 57, 58 und 60, 61; O. W. Lembcke, „Staat und Verfassung bei Hegel“ (2009), S. 113 (129 f.). 379 § 265 GPhR, S. 412. Siehe dazu auch H. Schnädelbach, „Die Verfassung der Freiheit (§§ 272–340)“ (1997), S. 243 (245). 380 § 272 (Anm.) GPhR, S. 433 (Hervorhebung der Verf.). 381 Siehe § 273 GPhR, S. 435. Näher dazu im Vergleich mit Kant F. Rosenzweig, „Hegels Begriff der politischen Verfassung“ (1975), S. 341 (344). 382 Vgl. zu letzterem § 287 GPhR, S. 457. 383 Siehe § 272 (Anm.) GPhR, S. 433. Vgl. dazu auch F. Rosenzweig, „Hegels Begriff der politischen Verfassung“ (1975), S. 343. und Ch. Taylor, Hegel (1978), S. 576.
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die drei Gewalten hervorgebrachten Einheit des Staates soll sich eine vernünftige Staatsorganisation realisieren.384 Hegel umschreibt die gesetzgebende Gewalt als diejenige, die das Allgemeine bestimmt und festsetzt;385 die Regierungsgewalt hat die „Subsumtion der besonderen Sphären und einzelnen Fälle unter das Allgemeine zu leisten“.386 Anders als Kant meint nun aber Hegel, dass über diese Zwei- bzw. Drei-Gewalten-Struktur hinaus eine (Re-)Individualisierung des Staates durch eine ihn verkörpernde Persönlichkeit notwendig ist, um die Einheit zu vervollkommnen: In der Person des Monarchen werden die unterschiedlichen Gewalten zu einer „individuellen Einheit zusammengefasst“, in ihr wird das den Staat tragende Prinzip der Subjektivität dadurch offenkundig, dass an der „Spitze“ und am „Anfang“ eine Person steht: „Da der moderne Staat Hegel zufolge auf Subjektivität – auf Selbstbestimmung – begründet ist, muß sich diese Subjektivität in den objektiven Institutionen des Staates ausdrücken.“ 387 Die Person des Monarchen hat also bei Hegel eine besondere Bedeutung im Staat; in der fürstlichen Gewalt seien die Momente der „Allgemeinheit der Verfassung und der Gesetze, die Beratung als Beziehung des Besonderen auf das Allgemeine, und das Moment der letzten Entscheidung als der Selbstbestimmung“ enthalten.388 Das bedeutet nun nicht, dass der Monarch nach Hegel allmächtig wäre und die gesetzgebende und regierende Gewalt in seiner Person vereinen würde – dann wäre im Übrigen der Begriff der Gewaltenteilung auch nicht mehr gerechtfertigt. Im Gegenteil darf der Monarch gerade nicht „willkürlich“ handeln, „vielmehr ist er an den konkreten Inhalt der Beratungen gebunden, und wenn die Konstitution fest ist, so hat er oft nicht mehr zu tun, als seinen Namen zu unterschreiben.“ 389 Der Monarch gibt dem Staat in gewisser Weise ein Gesicht, er personifiziert ihn, aber er beherrscht ihn materiell nicht.390 Dies wird auch deutlich, wenn Hegel schreibt: „In einer wohlgeordneten Monarchie kommt dem Gesetz allein die objektive Seite zu, welchem der Monarch nur das subjektive ,Ich will‘ hinzuzusetzen hat.“ 391 Dieses „Ich will“ sei gewissermaßen der Punkt
384
Vgl. S. Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates (1976), S. 221, 222. Näher dazu § 299, S. 466. 386 § 273 GPhR, S. 435. 387 S. Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates (1976), S. 223, mit Verweis auf § 279 der GPhR, S. 444. 388 § 275 GPhR, S. 441. 389 Zusatz zum § 279 der GPhR, S. 449. 390 Hegel „entkleidet (. . .) den Monarchen jeglicher realer Macht, indem er die Krone zum Symbol der Selbstbestimmung herabsetzt. (. . .) Der König ist also bloß das Symbol der Einheit des Staates.“ (S. Avineri, Hegels Theorie des modernen Staates (1976), S. 223, 224). Vgl. aber zu einer a. A. unten Fn. (392); differenzierend F. Rosenzweig, „Hegels Begriff der politischen Verfassung“ (1975), S. 346 ff. 391 § 280 GPhR (Zusatz), S. 451. 385
E. Substantieller Staat Hegels als „Wirklichkeit der konkreten Freiheit‘‘
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auf dem „i“, ohne ihn wäre es unvollständig, aber seine Substanz ist schon vorher vorhanden.392 Durch das Zusammenwirken, das Ineinandergreifen und das sich gegenseitige Ergänzen dieser näher beschriebenen Staatsgewalten entsteht nun nach Hegel die vernünftige Einheit des Staates, deren Struktur Freiheitsrealisation verbürgt. Es geht ihm auf dieser Ebene der Sittlichkeit um mehr als um eine zweckmäßige Strukturierung der staatlichen Allgemeinheit; sie soll nicht nur funktionieren, sondern Vernunft repräsentieren, um von den Subjekten des Staates als ihre Vernunfteinheit begriffen werden zu können. 3. Zusammenfassung zu III. Das System der Sittlichkeit ist für Hegel ein System der „Idee der Freiheit“. Die Struktur, die er diesem System gibt, enthält die Formen der Verwirklichung von Freiheit: Die Familie als Ursprung des freien Subjekts, die bürgerliche Gesellschaft als äußerer Raum der Betätigung von Freiheit im Verhältnis mit anderen und der Staat als Vernunfteinheit, deren Institutionen die Grundsäulen öffentlicher Freiheit bilden. „Sicherheit“ ist bei Hegel kein Aspekt, der den staatlichen Gesamtzusammenhang in prägender Weise bestimmt. Zwar hat er seinen Raum im System der Sittlichkeit, ist also auch für Hegel unabdingbares Element einer menschlichen Vernunftgemeinschaft. Indem Hegel die Sicherheit als Aufgabe von Gesetzen, Gerichten und Polizei innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft einführt, ist sie als Vorstufe zum Staat auch im Staat enthalten. Anders aber als Hobbes, v. Humboldt und auch noch Kant ist sie kein eigenständiges Thema des Vernunftstaates selbst mehr. Die „Sicherheit“ ist bei ihm weniger ein Vernunft- als vielmehr ein funktionaler Begriff. Damit ist verbunden, dass der Aspekt der Sicherheit seinem Argumentationsgewicht nach dem der Freiheit untergeordnet ist. Allerdings heißt dies nicht, dass Hegel eine schlichte „Rangfolge“ – Freiheit vor Sicherheit – aufgestellt hat. Wie beschrieben, ist seine Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit wesentlich komplexer – und hinter diesen Stand der gedanklichen Ausarbeitung des Zusammenhangs kann nun nicht mehr zurückgegangen werden. 392 Dieser Interpretation des Monarchen als „Gesicht“ des Staates, als „Tüpfelchen auf dem i“, wird in der Hegel-Literatur eine Auslegung entgegengesetzt, bei der der Fürst als materieller Souverän begriffen wird, „der auf keinerlei demokratische Legitimation angewiesen ist.“ Durch diese Ausgestaltung der drei Gewalten im Staat habe Hegel „seine Konzeption des modernen Staates“ der bestehenden Erbmonarchie im preußischen Staat „geopfert“ und „um der Anpassung an bestehende Verhältnisse willen seine Theorie des modernen Staates in zwei Teile auseinanderfallen lassen, die miteinander unvereinbar sind.“ Diese Interpretation führt dann dazu, Hegel einen Bruch, ja einen „Verrat an den eigenen Prinzipien“ vorzuwerfen und das Staatsmodell Hegels als „gescheitert“ zu bezeichnen: So K.-H. Ilting, „Die Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (1975), S. 52 (69 ff.).
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Teil 2: Rechts- und staatsphilosophische Grundlegung
IV. Resümee zum Kantischen und Hegelschen Staatskonzept Wie bei Hegel hat sich auch nach Kant die Freiheit im Recht und durch das Recht zu verwirklichen. Auch ist bei beiden gleichermaßen die Vernunft die formende Kraft und in ihr liegt der Grund des gesamten freiheitlichen Rechtssystems. Ferner ist der Staat auf das (tätige) Anerkenntnis durch seine Bürger in beiden Entwürfen gleichermaßen angewiesen. Kant denkt nun aber den Staat in einer Weise, in der sich durch die Herstellung gerechter Verhältnisse im Rahmen einer praktisch-vernünftigen Staatsstruktur notwendig eine Wechselwirkung zwischen Freiheit und Sicherheit der Bürger ergibt. Durch positivierte Gesetze und die Einrichtung von Gerichten wird bei ihm nicht nur die Wahrung von Einzelinteressen oder ein bloß äußerer Schutz von Rechtspositionen erreicht, sondern die Gerechtigkeit des gesamten Staatssystems befördert, die sich in ihren verschiedenen Formen (iustitia tutatrix, commutativa und distributiva) Geltung verschafft und als Charakteristikum einer staatlichen Gemeinschaft diese in ihrem Wesen ausmacht. Die Gesetze und Gerichte bilden zusammen genommen mit den Institutionen der ausführenden Gewalt die Rechtsverfassung, d. h. den „Zustand der größten Übereinstimmung der Verfassung mit Rechtsprinzipien“ 393. Kant beurteilt die Bedeutung dieser Formen und Institutionen des Rechts anders als Hegel: Letzterer sondert zunächst einen Bereich menschlicher Tätigkeit (den ökonomischen im weitesten Sinn – in seiner Terminologie: die bürgerliche Gesellschaft) ab, beschreibt ihn als durch funktionale Erwägungen beherrscht und stellt dann in diesen Zusammenhang auch die Gesetzgebung, die Gerichte und die Polizei als Institutionen der Sicherheit; insofern werden diese Einrichtungen – jedenfalls in diesem ersten Schritt – auf den bloß funktionalen Wirkbereich der Menschen reduziert und haben damit selbst nur einen funktionalen, nicht aber einen vollumfänglich vernünftigen Stand in der Gesellschaft. Kant dagegen unterstellt bei jeder äußeren Freiheitsäußerung unmittelbar den Bezug zum Recht und damit zur Gerechtigkeit. Durch seine rechtliche Durchformung der Gemeinschaft werden gleichzeitig die Rechtspositionen objektiv anerkannt und geschützt; die Gemeinschaft entsteht auf der Basis wechselseitiger, die gegenseitige Anerkennung der Freiheit bestätigender Rechtsverhältnisse. Soweit Hegel meint, dass Kant mit seinem Konzept nicht über das herausgekommen ist, was er selbst den „negativen“ Staat nennt und mit einer reinen Interessensordnung (wenn auch einer allgemeinen) gleichsetzt, so ist dieser Vorwurf wohl unbegründet. Denn bei Kant wird ein vollumfängliches System der Freiheitsverwirklichung vorgestellt, das durch die Vernunft der betroffenen Subjekte getragen ist, und gerade nicht bloß eine äußerliche Abgrenzung von Freiheits393
I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 49, A 173; B 203 (Ak.-Ausg. Band VI, S. 318).
F. Übergang der Staatsphilosophie zum Positivismus: Hans Kelsen
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sphären und deren Absicherung darstellt. Hegel hält jedoch genau dies dem Kantischen Staatskonzept vor und setzt es gleich mit dem, was er selbst im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft als bloßen „Not- und Verstandesstaat“ bezeichnet.394 Dass dann bei ihm durch den substantiellen Staat ein fehlendes Element ergänzt wird – eine Vernunfteinheit statt einer Funktionseinheit entwickelt wird –,395 ist zwar innerhalb des Hegelschen Systems schlüssig, kann aber nichts daran ändern, dass dieser Schritt bei Kant schon im Begriff seines Staates angelegt ist. Hegel unterschätzt hier die Bedeutung der Gerechtigkeitsstrukturen, den Zusammenhang zwischen materieller und formeller Freiheit und das Maß der gedanklichen Durchdringung bei Kant. Hegels Staatsvorstellung hat im Grundsatz also dieselben tragenden Elemente wie Kants; auch dessen Staat strebt die Wirklichkeit von Freiheit an und enthält die dafür notwendigen Verwirklichungsstrukturen. Beide sehen im Staat mehr als eine funktionale Einrichtung zur äußeren Organisation vernünftiger Subjekte. Bei Kant geht es um die Einheit öffentlicher Gerechtigkeit im Staat, wobei die Gerechtigkeit als reale Teilhabe am Recht und das Recht als Freiheit unter einem allgemeinen Gesetz verstanden wird. Hegel sieht den Staat als vernünftige Einheit, deren Struktur Freiheitsrealisation verbürgt und hervorbringt. Der Aspekt der Sicherheit wird von beiden als Wesenselement des Staates anerkannt, welches aber inhaltlich auf die Freiheit der Subjekte bezogen ist. Es geht also beiden nicht um die Sicherheit per se, sondern um Freiheitssicherung – wie es im Übrigen auch bei Wilhelm von Humboldt bereits angedeutet ist. Bei Kant wird diese Freiheitssicherung als wesentlicher Grund für die Notwendigkeit des Staates eingeführt. Bei Hegel taucht der Gedanke vermittelt in zwei Schritten auf: Zunächst soll der Teilaspekt menschlicher Freiheitsbetätigung, der in der bürgerlichen Gesellschaft als „System der Bedürfnisse“ entwickelt ist, geordnet und abgesichert werden. Zweitens wird aber dann die bürgerliche Gesellschaft selbst in das System der Sittlichkeit integriert und erhält somit ihrerseits den Status eines unabdingbaren Elements des substantiellen Staates.
F. Übergang der Staatsphilosophie zum Positivismus in der Staatsrechtslehre: Hans Kelsen Bei allen zuvor dargestellten staatsphilosophischen Ansätzen stand das Bemühen um die begründende Entwicklung eines auf Freiheit basierenden Staates im Vordergrund. Nach Hegel nahmen jedoch die philosophischen, insbesondere die 394
Vgl. dazu nochmals die §§ 157, 183, 258 (mit Anm.) GPhR. Ob dieser Schritt bei Hegel wirklich gelungen ist, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Kritik findet sich zum Beispiel bei K.-H. Ilting, „Die Struktur der Hegelschen Rechtsphilosophie“ (1975), S. 52 (57–73). 395
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auf der menschlichen Vernunft basierenden rechtsphilosophischen Strömungen an Bedeutung immer mehr ab.396 An ihre Stelle trat (auch) im Staatsrecht einerseits die Historische Schule, deren Interesse auf die Geschichtlichkeit des Rechts gerichtet war und der es um die organische Gewachsenheit allen Rechts als Produkt eines besonderen „Volksgeistes“ ging.397 Sie beschäftigte sich mit der Wirklichkeit des Rechts, soweit es im Leben der Menschen, in Institutionen, Gewohnheiten und Überzeugungen tatsächlich als handlungsleitend erkannt werden konnte.398 Andererseits entwickelte sich als dezidierte Gegenposition zu den begründenden Ansätzen der Rechtspositivismus,399 der sich allein dem positiven Recht in seiner jeweils aktuellen Gestalt zu widmen und alle Aspekte eines nicht durch die zuständigen Gesetzgebungsorgane formell in Geltung gesetzten Rechts auszublenden suchte.400 Das veränderte Interesse entsprang zum einen dem Wunsch nach mehr Rechtssicherheit und zum anderen der Skepsis gegenüber – wie auch immer gearteten – überpositiven Rechtsbegründungen. Verbunden mit einem neu definierten Anspruch auf „Wissenschaftlichkeit“ sollte eine reine Rechtslehre entstehen, wobei „rein“ verstanden wurde als „gereinigt“ von jeglichen politischen, philosophischen und soziologischen Elementen, als reine Lehre vom gesetzten Recht und seiner logischen Struktur, die auch die Normenhierarchie umfasste.401 396 Vgl. U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 76 und 83. Siehe zur Kritik an naturrechtlichen Staatsbegründungen Ende des 18. Jahrhunderts M. Reulecke, Gleichheit und Strafrecht im deutschen Naturrecht des 18. und 19. Jahrhunderts (2007), 267 ff. (mit Bezug auf Haller und Trummer). 397 Vgl. zunächst F. C. v. Savigny, Grundgedanken der historischen Rechtsschule (1814/1840), S. 17: „Die geschichtliche Schule nimmt an, der Stoff des Rechts sei durch die gesamte Vergangenheit der Nation gegeben, doch nicht durch Willkür, so dass er zufällig dieser oder ein anderer sein könnte, sondern aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen.“ Dazu E.-W. Böckenförde, Staat Gesellschaft Freiheit (1976), S. 9 ff.; D. Strauch, Recht, Gesetz und Staat bei Friedrich Carl von Savigny (1960), insbesondere S. 20 ff.; knapper Überblick bei J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie (2006), S. 316 ff. 398 Vgl. J. Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert (2001), S. 16. 399 Vgl. J. Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert (2001), S. 13 ff. 400 Überblick zum positivistischen Rechtsbegriff bei R. Dreier, „Der Begriff des Rechts“ NJW 1986, 890 ff. 401 Vgl. hier schon H. Kelsen, „Was ist die Reine Rechtslehre?“ (1968), S. 611 (620): „Die Trennung der – nur nach dem Wert der Wahrheit orientierten – Rechtswissenschaft, als einer Erkenntnis des positiven Rechts, von der – auf Verwirklichung anderer Werte, insbesondere der Gerechtigkeit gerichteten – Rechtspolitik, als der willensmäßigen Gestaltung der gesellschaftlichen Ordnung, ist das zweite Postulat, das die Reinheit einer Rechtslehre gewährleistet.“ (Hervorhebungen im Original) Siehe zudem U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 84. Kritisch zum Anliegen der Reinen Rechtslehre E.-W. Böckenförde, „Der verdrängte Ausnahmezustand“ NJW 1978, S. 1881 (1884, Fn. 29): „Kennzeichnend hierfür die Position von Hans Kelsen und der Reinen Rechtslehre, die die Rechtswissenschaft auf eine kausal-
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Der Fokus der staatsrechtlichen Überlegungen ging damit über auf die Frage, wie der Staat in seiner historisch gewachsenen Gestalt beschrieben werden kann und wie die formale Struktur des geltenden Rechts beschaffen ist;402 gleichzeitig verlor die Verhältnisbestimmung von Freiheit, Recht und Sicherheit als Problem der Legitimität staatlicher Herrschaft an Bedeutung, wie überhaupt das Interesse daran, den Staat und seine Macht in ihrer Berechtigung zu begründen. Prominentester Vertreter des Rechtspositivismus ist Hans Kelsen (1881–1973) mit seiner 1934 erstmals erschienenen Reinen Rechtslehre.403 Gegenstand der Rechtswissenschaft als Wissenschaft sei das „Wesen des Rechtes überhaupt, seine typische Struktur, und zwar unabhängig von dem wechselnden Inhalt, (. . .), den das Recht zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten angenommen hat“ 404. Eine allgemeine Rechtslehre habe die „spezifische Methode und die Grundbegriffe zu bestimmen, mit denen jedes beliebige Recht geistig erfasst und beschrieben werden“ kann und sie solle die theoretische Grundlage für jede auf ein besonderes Recht oder besondere Rechtsinstitutionen gerichtete Betrachtung liefern.405 Um diese Aufgabe erfüllen zu können, müsse sie als „reine Lehre des Rechts“ von der Frage der Gerechtigkeit oder der Richtigkeit des geltenden Rechts absehen und dürfe sich allein der Frage nach der Wirklichkeit dieses Rechts widmen. Kelsen schreibt: „Als Wissenschaft vom positiven Recht ist sie – (. . .) – eine Lehre vom wirklichen Recht, vom Recht so wie es durch Gewohnheit, Gesetzgebung, Rechtsprechung tatsächlich geschaffen und in der gesellschaftlichen Realität wirksam ist, ohne Rücksicht darauf, ob dieses positive Recht von irgendeinem Wert-Standpunkt, und das heißt von einem politischen Standpunkt aus, als gut oder schlecht, als gerecht oder ungerecht beurteilt wird; (. . .).“ 406
Die Rechtswissenschaft dürfe – wie jede „echte“ Wissenschaft – nur beschreiben, nicht bewerten, und nur rational erklären, nicht emotional rechtfertigen oder verurteilen“.407 Gegenstand einer so verstandenen Rechtslehre ist nicht mehr das dem jeweils geltenden Gesetzesrecht zugrunde liegende Fundamentalverständnis explikative Normwissenschaft reduzieren, zu deren Gegenständen das Verhältnis von Rechtsnormen und sozialer Wirklichkeit nicht mehr gehört, (. . .).“ 402 Vgl. dazu U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 88; J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie (2006), 239, 240. Vgl. zu dieser Entwicklung auch A. Brockmöller, Die Entstehung der Rechtstheorie im 19. Jahrhundert in Deutschland (1997). 403 H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1960). 404 H. Kelsen, „Was ist die Reine Rechtslehre?“ (1968), S. 611. 405 Ebenda. 406 Ebenda, S. 621. 407 Ebenda. Vgl. zu Kelsens Verständnis von überpositiven, insbesondere naturrechtlichen Begründungen des Rechts als „Metaphysik des Rechts“ im Verhältnis zum „Wissen vom Recht“ (welches er allein durch den Rechtspositivismus zu finden meint): „Naturrechtslehre und Rechtspositivismus“ abgedruckt in: H. Klecatsky u. a. (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. 1 (1968), S. 817 ff.
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vom Recht, um das sich noch Hobbes, v. Humboldt, Kant und Hegel bemüht hatten. Zum Gegenstand wird allein die Analyse des geltenden Rechts, die Beobachtung seiner „Wirklichkeit“ und des Prozesses seiner Erzeugung.408 Damit verbunden ist auch eine positivistische Neubestimmung des Verhältnisses von Recht und Staat. Der Staat wird von Kelsen restlos auf das positive Recht zurückgeführt und schließlich ganz mit der Rechtsordnung identifiziert, so dass der Staat nichts anderes als die positive Rechtsordnung selbst ist.409 Folge dieser Gleichsetzung ist, dass es „schlechthin unmöglich (ist), den Staat durch das Recht zu rechtfertigen. (. . .) (D)er Versuch, den Staat als Rechtsstaat zu legitimieren, (enthüllt sich) darum als völlig untauglich, weil jeder Staat Rechtsstaat sein muß: sofern man unter ,Rechtsstaat‘ einen Staat versteht, der eine Rechtsordnung ,hat‘.“ 410 Kelsen meint also, dass „jeder Staat, (. . .), ein Rechts-Staat (im weiteren Sinne, Anm. K. G.) ist“ 411. Seine Begründung dafür setzt an seiner Definition von „Rechtsordnungen“ an: Sie seien „im wesentlichen Zwangsordnungen“, d. h. (solche), „die ein bestimmtes menschliches Verhalten dadurch herbeizuführen suchen, dass sie für den Fall des gegenteiligen Verhaltens, das dadurch zum Unrecht qualifiziert wird, einen Zwangsakt als Unrechtsfolge d. i. als Sanktion vorschreiben.“ 412 Da nach dieser Formulierung eine Zwangsordnung gleich einer Rechtsordnung ist, und wiederum jeder Staat eine „relativ zentralisierte Rechtsordnung ist“, sei ein Staat immer auch Rechts-Staat im weitesten Sinne.413 Umgekehrt ist es nach Kelsen unmöglich, von einem Staat zu sagen, er verhalte sich unrechtlich. Aus seiner Sicht ist der Staat „rechtlich unfehlbar“ 414 deswegen, weil der Wille der „Staatsperson“ „zugleich auch Inhalt der Rechtsordnung ist“ 415. Diese Aussage wird von Kelsens Unrechtsverständnis zusätzlich gestützt: 408
Vgl. dazu auch J. Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert (2001), S. 19. So J. Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert (2001), S. 43. Vgl. zum Staatsrecht bei Kelsen auch M. Pawlik, „Rechtsstaat und Demokratie in der Perspektive der Reinen Rechtslehre“ (1996), S. 167 (insbesondere 178 ff.). 410 H. Kelsen, Reine Rechtslehre (1934), S. 126. 411 H. Kelsen, „Was ist die Reine Rechtslehre?“ (1968), S. 623. 412 Ebenda, S. 612. 413 Die Nähe dieser Vorstellung zu Thomas Hobbes’ Staatslehre beschreibt zutreffend Carl Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938), S. 103: „Lange vor der geschichtlichen Entwicklung dieser großen, legalistischen machina machinarum, und lange vor dem Wort ,Gesetzespositivismus‘ hat Hobbes die Verwandlung des Rechts in einen positiven Gesetzesbefehl im Zusammenhang mit der Verwandlung des Staates in einen von psychologischen Zwangsmotivationen getriebenen Mechanismus so folgerichtig und systematisch zu Ende gedacht, dass nicht nur alle mittelalterlichen Vorstellungen von einem ,göttlichen Recht der Könige‘, sondern auch alle bisherigen substanzhaft gefassten Begriffe von Recht und Verfassung zu Ende waren.“ Siehe auch S. 110 ff. 414 H. Kelsen, „Über Staatsunrecht“ (1968), S. 957 (961). 415 Ebenda, S. 962. 409
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„Der einzig zureichende Erkenntnisgrund dafür, dass irgendein Tatbestand für die juristische Betrachtung ,Unrecht‘ sei, ist in der Tatsache gelegen, dass die Rechtsordnung in bestimmter Weise, nämlich durch Strafe oder Exekution, auf ihn reagiert, dass dieser Tatbestand in einem konkreten Rechtssatze als Bedingung eines sogenannten Willens zur Strafe oder Exekution, d. h. zu einer Unrechtsfolge gesetzt ist.“ 416
Kelsen meint also, dass der Staat als derjenige, der die Macht hat, andere zu einem bestimmten Verhalten zu zwingen, notwendig Rechtsstaat ist. Er meint ferner, dass ein solcher Staat mit seinen Aktionen notwendig im Recht bleibt, weil sein Wille dem Willen des Rechts entspricht. Und um diese Aussage zu untermauern, zeigt Kelsen, dass der Staat dadurch, dass er es ist, der Zwang ausübt, selbst niemals Gegenstand desselben Zwangs sein kann. Da nach ihm aber nur ein Verhalten, das tatsächlich durch Zwang unterbunden wird, Unrecht ist, kann der Staat selber kein Unrecht begehen. Verkürzt man diesen Gedankengang auf seine wesentliche Aussage, so ergibt sich das Recht schlicht aus der faktischen Zwangs- bzw. Sanktionsmacht. Dass es auch noch eine engere Begrifflichkeit vom Rechtsstaat als einer „relativ zentralisierten Zwangsordnung“, die „gewisse typische Garantien für die Rechtmäßigkeit der rechtsanwendenden Akte und für die individuelle Freiheit der rechtsunterworfenen Subjekte vorsieht“ 417, gibt, kann Kelsen als Ergebnis seiner „Beobachtung“ nur unverbunden neben seine erste Aussage stellen. Und dass sich mehr als diese verbindungslose Gegenüberstellung zweier materiell nicht weiter bestimmter Rechtsstaatsdefinitionen mit seinem Ansatz nicht erreichen lässt, meint Kelsen selbst, wenn er schreibt, dass „man von der Reinen Rechtslehre nicht erfahren kann, was der ,wahre‘ Staat und das ,richtige‘ Recht sei“ 418. Durch einen solchermaßen verengten Blickwinkel ist die Suche nach einer begründeten Verhältnisbestimmung von Freiheit und Recht bzw. in einem weiteren Schritt von Freiheit und Sicherheit von vornherein verstellt. Die dem geltenden Recht vorausgehende Bestimmung der Aufgaben und Ziele des Rechts, seiner Funktion in einer Gemeinschaft freier Subjekte, aber auch seiner Bedeutung für die Sicherheit des Einzelnen in Gemeinschaft mit anderen, ist dem Rechtswissenschaftler der Kelsenschen Art kein Anliegen. Seine Methoden der Analyse und Beobachtung sind dementsprechend auch nicht auf die Bestimmung dieser Fundamentalzusammenhänge ausgerichtet. Durch die Beschreibung geltenden Rechts und die Erfassung seiner normhierarchischen Strukturen kann (und soll) allenfalls eine als zufällig begriffene Grundausrichtung der bestehenden Rechtsordnung (etwa als freiheitliche oder autoritäre), nicht aber die Antwort auf die Frage 416 417 418
Ebenda, S. 970. H. Kelsen, „Was ist die Reine Rechtslehre?“ (1968), S. 623. H. Kelsen, „Was ist die Reine Rechtslehre?“ (1968), S. 625.
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nach ihrer Berechtigung zu Tage gefördert werden. Damit wird auch deutlich, wie sich der Positivismus von allen philosophischen Strömungen distanziert, die in der Rechtsordnung die Verwirklichung menschlicher Freiheit sehen: Dass das Recht die Freiheit des Subjekts schützt, ist nun nicht mehr Legitimationskriterium staatlicher Macht, sondern allenfalls noch eine historisch gewachsene Tatsache, die durch die geltenden Herrschaftsstrukturen jederzeit umkehrbar ist. Für das Anliegen der vorliegenden Arbeit, d. h. der gedanklichen Entwicklung eines begründeten Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit im Rechtsstaat, ist der Positivismus daher seiner grundsätzlichen Ausrichtung nach ungeeignet.419
G. Selbstsicherheit des Staates als Selbstzweck: Autorität statt Begründung bei Carl Schmitt Carl Schmitt (1888–1985) versteht seine eigenen Überlegungen zum Wesen des Staates einerseits als „radikale Kampfansage gegen den staatsrechtlichen Positivismus“ 420, andererseits aber auch als Kritik an Staatsbegründungen, die 419 Treffend dazu auch J. Braun, Rechtsphilosophie im 20. Jahrhundert (2001), S. 69: „Der wertindifferente Gesetzespositivismus interessiert sich nicht mehr für die Freiheit, sondern nur noch für die Perfektionierung der Herrschaft mit Hilfe von Zwang. Wenn das Recht nichts anderes ist als eine Herrschaftsmaschinerie über Menschen, dann ist nur der zielgerichtet eingesetzte Zwang rational, Freiheit dagegen irrational. Freiheit ist für Kelsen ,Freisein von der Rechtsordnung‘ und daher mit rechtlichen Begriffen nur negativ bestimmbar. Wo sich Recht entfaltet hat, ist für Freiheit kein Raum mehr. In diesem Denken verpufft alles, was Aufklärung je war und wollte.“ 420 So H. Quaritsch, „Souveränität im Ausnahmezustand“ Der Staat Bd. 35 (1996), S. 1 (11). Ähnlich auch H. Hofmann, „,Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet‘ “ Der Staat Bd. 44 (2005), S. 171 ff. Vgl. dazu auch Schmitt selbst, in: Legalität und Legitimität (1932), S. 24, 25: „Wenn der Gesetzesbegriff jeder inhaltlichen Beziehung zu Vernunft und Gerechtigkeit beraubt, und zugleich der Gesetzgebungsstaat mit seinem spezifischen, alle Hoheit und Würde des Staates beim Gesetz konzentrierenden Legitimitätsbegriff beibehalten wird, kann jede Anordnung beliebiger Art, jeder Befehl und jede Maßnahme, jedes Kommando an irgendeinen Offizier oder Soldaten und jede Einzelanweisung an einen Richter, kraft der ,Herrschaft des Gesetzes‘ legal und rechtmäßig durch Parlamentsbeschluß oder die sonstigen am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Instanzen vorgenommen werden. Das ,rein Formale‘ reduziert sich dann auf das leere Wort und die Etikette ,Gesetz‘ und gibt den Zusammenhang mit dem Rechtsstaat preis. Alle Würde und Hoheit des Gesetzes hängt ausschließlich und unmittelbar, und zwar mit unmittelbar positiv-rechtlicher Bedeutung und Wirkung, an diesem Vertrauen auf die Gerechtigkeit und Vernunft des Gesetzgebers selbst und aller am Gesetzgebungsverfahren beteiligter Instanzen. Alle rechtlichen Garantien und Sicherungen, aller Schutz gegen Missbrauch, sind in die Person des allmächtigen Gesetzgebers oder in die Eigenart des Gesetzgebungsverfahrens verlegt. Wenn das nicht völlig sinnlos und reine Willkür sein soll, muß es ganz von der Voraussetzung jenes Vertrauens beherrscht sein, das die Kongruenz von Recht und formalem Gesetz erst herbeiführt. Auf keinen Fall ist dieses Legalitätssystem voraussetzungslos. Eine voraussetzungslose Gleichsetzung des Rechts mit dem Ergebnis irgendeines formalen Verfahrens wäre nur voraussetzungslose, also blinde Unterwerfung unter die reine, das heißt von jeder inhaltlichen
G. Selbstsicherheit des Staates als Selbstzweck: Carl Schmitt
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auf der Freiheit des Individuums beruhen.421 Die Grundprinzipien von Schmitts staatsrechtlicher Denkungsart finden sich unter anderem im Rahmen seiner Überlegungen zum Begriff des Politischen.422 Anders als die Staatstheoretiker vor ihm, fragt Schmitt nicht nach der Legitimation oder nach dem tatsächlichen oder wünschenswerten Aufbau des Staates.423 Ihm ist überhaupt nicht der Begriff des Staates das Primäre, sondern der des Politischen.424 Denn der „Staat“ ist für ihn nicht mehr als der „politische Status eines in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes“ 425; an anderer Stelle bezeichnet er den Staat schlicht als „politische Einheit“ 426. Ihm geht es deshalb entscheidend um eine Wesensbestimmung des Politischen427 bzw. um die „Aufdeckung und Feststellung der spezifisch politischen Kategorien“ 428.
I. Das Wesen der Politik und die Aufgabe des Staates im „Normalfall“ Er meint, dass die „spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, (. . .) die Unterscheidung von Freund und Feind“ sei.429 Zur Bestimmung dessen, der „Feind“ ist, Beziehung zu Recht und Gerechtigkeit losgelöste Dezision der mit der Gesetzgebung betrauten Stellen, voraussetzungsloser Verzicht auf jeden Widerstand. Es wäre das sic volo sic jubeo in seiner naivsten Form und nur psychologisch, aus den Rudimenten irgendeines Aberglaubens oder aus Residuen einer früheren, inhaltvolleren Gesetzesreligion zu begreifen. Man kann das ,Positivismus‘ nennen, wie man jede Art von Dezisionismus kritiklos als Positivismus bezeichnen kann; nur täuscht dieses Wort heute nicht mehr darüber hinweg, dass jener voraussetzungslose Formalismus ein rein politisch motivierter Unterwerfungsanspruch mit rein politisch motivierter Verneinung jeden Widerstandsrechts ist.“ Vgl. auch ebenda, S. 32 f. (zum Problem des Widerstandes gegen den Missbrauch staatlicher Macht) und S. 50 (Die „Wertneutralität eines nur noch funktionalistischen Legalitätssystems (geht) bis zur absoluten Neutralität gegen sich selbst und bietet den legalen Weg zur Beseitigung der Legalität selbst, sie geht also in ihrer Neutralität bis zum Selbstmord.“ Es gebe dann keine „verfassungswidrigen Ziele“, jedes noch so „revolutionäre oder reaktionäre, umstürzlerische, staatsfeindliche, deutschfeindliche oder gottlose Ziel ist zugelassen und darf der Chance, auf legalem Wege erreicht zu werden, nicht beraubt werden.“). 421 Siehe dazu C. Schmitt, Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen (1917), insbesondere S. 84–110; ferner ders., Der Begriff des Politischen (1963), S. 60, 61, wo Schmitt dem „Liberalismus“ überhaupt die Qualität abspricht, Staatstheorie zu sein. 422 C. Schmitt, Der Begriff des Politischen (1963); siehe auch M. Kaufmann, Recht ohne Regel? (1988), S. 45. 423 Vgl. M. Kaufmann, Recht ohne Regel? (1988), S. 47. 424 Siehe C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 20. 425 Ebenda. 426 Ebenda, S. 45. 427 Ebenda. 428 Ebenda, S. 26. 429 Ebenda (Hervorhebung im Original).
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Teil 2: Rechts- und staatsphilosophische Grundlegung
müssen dabei nach Schmitt keine inhaltlichen Kriterien erfüllt sein (etwa dass er moralisch böse oder ästhetisch hässlich oder wirtschaftlich konkurrierend zu sein hätte), sondern das bloße „Anderssein“ genügt: „Er ist eben der andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, dass er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist, so dass im extremen Fall Konflikte mit ihm möglich sind, (. . .).“ 430 Dieser „Andere“ muss zumindest potentiell Kriegsgegner des „Einen“ sein können und zwar in einem Krieg, der prinzipiell auf Leben und Tod geht; der Krieg folge aus der Feindschaft, denn diese sei die „seinsmäßige Negierung eines anderen Seins“ 431. Zum Staat als einer wesentlich politischen Einheit gehöre also „das jus belli, d. h. die reale Möglichkeit, im gegebenen Fall kraft eigener Entscheidung den Feind zu bestimmen und ihn zu bekämpfen“ 432. Verbunden damit sei auch die Befugnis, „über das Leben von Menschen zu verfügen“ 433. Die Leistung des „normalen Staates“ bestehe aber vor allem darin, „innerhalb des Staates und seines Territoriums eine vollständige Befriedung herbeizuführen, ,Ruhe, Sicherheit und Ordnung‘ herzustellen und dadurch die normale Situation zu schaffen, welche die Voraussetzung dafür ist, dass Rechtsnormen überhaupt gelten können, weil jede Norm eine normale Situation voraussetzt und keine Norm für eine ihr gegenüber völlig abnorme Situation Geltung haben kann.“ 434 Es sei eine „rechtswissenschaftliche Wahrheit“, dass „Normen nur für normale Situationen gelten, und die vorausgesetzte Normalität der Situation ein positivrechtlicher Bestandteil ihres ,Geltens‘ ist.“ 435 An dieser Stelle zeigt sich deutlich Carl Schmitts Nähe zu Hobbes’ Sicherheitsstaat.436 Unter Ausklammerung der freiheitlichen Staatstheorien des 18. und 19. Jahrhunderts (die – wie gezeigt – wesentliche Schwächen des Hobbesschen Staatsmodells bereits überwunden hatten437) rekurriert Schmitt wie selbstverständlich auf das Grundtheorem von „Ruhe, Sicherheit und Ordnung“, das
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Ebenda, S. 27. Ebenda, S. 33. 432 Ebenda, S. 45. 433 Ebenda, S. 46. 434 Ebenda (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch C. Schmitt, Politische Theologie (1933), S. 19: „Jede generelle Norm verlangt eine normale Gestaltung der Lebensverhältnisse, auf welche sie tatbestandsmäßig Anwendung finden soll und die sie ihrer normativen Geltung unterwirft.“ 435 C. Schmitt, Legalität und Legitimität (1932), S. 72. 436 Siehe dazu auch C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, S. 53. Vgl. zu formellen und inhaltlichen Parallelen zwischen Hobbes und Schmitt auch M. Schmoeckel, „Staatslehre und Mythos bei Carl Schmitt und Thomas Hobbes“ (1996), S. 133 (135– 145). 437 Vgl. zur Kritik an Hobbes und zu den weiterführenden Entwürfen von v. Humboldt, Kant und Hegel oben S. 63 ff. 431
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er selbst in unmittelbaren Zusammenhang mit dem Hobbesschen Leviathan bringt;438 Schmitt schließt sich auch im Übrigen dem Menschenbild Hobbes’ an: „Das schwierige Problem, den rebellischen und eigensüchtigen Menschen in ein soziales Gemeinwesen einzufügen, wird schließlich doch nur mit Hilfe der menschlichen Intelligenz gelöst. Es sind eben glücklicherweise keine „reinen“, sondern mit Intelligenz begabte Wölfe, die den Krieg aller mit allen im Naturzustand führen. Hier ist die Staatskonstruktion des Hobbes noch heute modern.“ 439
Dadurch wird das mit Kant und Hegel erreichte Begründungsniveau zurückgeworfen auf eine schlichtere, rein instrumentelle Ebene des Denkens, welche die fundamentale Verbindung von Freiheit, Recht und Sicherheit nicht zu fassen vermag. Das Moment praktischer Vernunft, das die Rechtslehren Kants und Hegels von ihrer Basis her geprägt und es ermöglicht hatte, die menschliche Fähigkeit zur Selbstbestimmung (= Freiheit) in die Staatsbegründung zu integrieren, geht bei Schmitt wieder verloren: Es ist allein die instrumentelle Intelligenz, die Schmitt in Ansatz bringt, wenn er über Staatlichkeit spricht. Dieser instrumentellen Intelligenz ist die Einsicht in die Notwendigkeit eines „Ordnung-Schaffens“ durchaus zugänglich (wie sie prinzipiell auch einem intelligenten Bienenvolk zugänglich ist); ein darüber hinausgehendes praktisch-vernünftiges Recht samt seinen Prinzipien kann sie jedoch nicht begreifen, weil dieses sich nicht im bloßen Zweck-Mittel-Räsonnement erschöpft.
II. Der Staat im „Ausnahmezustand“ Auf der Basis dieses Rückfalls im Denken geht Schmitt nun aber noch einen weiteren Schritt hinter Hobbes zurück: Es sei Aufgabe des Staates eine „normale Situation zu schaffen, welche die Voraussetzung dafür ist, dass Rechtsnormen überhaupt gelten können“. Der Staat 438
C. Schmitt, Der Leviathan in der Staatslehre des Thomas Hobbes (1938), S. 47. Ebenda, S. 57 (Hervorhebung der Verf.). Schmitt fährt fort, indem er darauf hinweist, dass die Tatsache, dass die rebellische Gefährlichkeit und der Eigensinn des Individuums mit Hilfe des Verstandes oder des Gehirns überwunden werden müssten, auch dem in modernen Zeiten verbreiteten, keineswegs utopistischen, naturwissenschaftlichen Denken ohne weiteres einleuchte. Entlarvend ist insofern das Beispiel, welches er für dieses Denken heranzieht: Er verweist auf einen Vortrag von Carl Escherich aus dem Jahre 1934, in dem ein Vergleich zwischen einem Ameisen-, Termiten- und Bienenstaat mit dem Menschenstaat angestellt wird: Der Unterschied zwischen der Eignung der Ameisen etc. und derjenigen des Menschen für eine Staatsgründung liege darin, dass die Tiere um des Staates willen ihre Sexualität aufgeben (und dadurch der Staat erst möglich wird), während der Mensch dies nicht tut. Dafür habe aber der Mensch ein „Gehirn, einen Intellekt, und dieser ermöglicht die Staatenbildung auch ohne Vernichtung der Sexualität“. Es zeige sich hier die Aktualität der Staatskonstruktion Hobbes’; er habe den Gedanken eines durch den Verstand menschlicher Individuen bewirkten Staatswesens in bewunderungswürdiger Klarheit bereits im 17. Jahrhundert zu Ende gedacht. (Ebenda, S. 57, 58). 439
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habe also eine befriedete Sozialität zu schaffen, die die notwendige Sicherheit dafür verbürgt, dass Normen „gelten“ können (so wie Hobbes einen Übertritt vom Natur- in den Rechtszustand befürwortete, damit durch die Herstellung sicherer Verhältnisse einem jeden ein auskömmliches Leben möglich werde). Sobald aber eine solche „normale Situation“ nicht mehr gewährleistet sei, entstehe eine Ausnahmesituation, in der die Geltung von Rechtsregeln suspendiert werden könne und müsse, um die Politik von hinderlichen rechtlichen Schranken zu befreien und es ihr zu ermöglichen, alles zum Bestand des Staates Notwendige zu tun, sowie auf eine Wiederherstellung des Rechtszustandes hinzuarbeiten. Nach Schmitt gibt es also, so beschreibt es Stübinger, „Situationen, in denen die Regelungsmöglichkeiten des Rechts an Grenzen stoße, die es zu übersteigen gelte; dann müssten die rechtsstaatlichen „Hemmungen der Staatsgewalt“ gelöst werden, um das „System politischer Aktivität“ entfesseln zu können. Nur eine im Extremen ungehemmte Macht der Politik könne die Sicherheit des staatlichen Gefüges gewährleisten.“ Hinter den Primärzweck der staatlichen Selbstsicherheit müssten dann zur Not auch sämtliche normativen Bedenken zurücktreten.440
Die Notwendigkeit innerstaatlicher Befriedung ist also nicht nur – wie bei Hobbes – Grund für die absolute rechtliche Herrschaftsmacht des Staates. Sie kann es darüber hinaus auch rechtfertigen, die Geltung des Rechts überhaupt zu suspendieren, so dass die Situation eines rechtlichen Vakuums entsteht, in dem der Staat in seiner Machtausübung normativ in keiner Weise beschränkt ist. Ein solcher „Ausnahmefall“ im Sinne Schmitts könne „in der geltenden Rechtsordnung nicht umschrieben“ sein (denn: „Die Ausnahme ist das nicht Subsumierbare“ 441) und betreffe Situationen „äußerster Not, Gefährdung der Existenz des Staates oder dergleichen“.442 Dann handle es sich um einen „Ausnahmezustand“, in dem es eine „prinzipiell unbegrenzte Befugnis“ des Staates gebe, „das heißt die Suspendierung der gesamten bestehenden Ordnung. Ist dieser Zustand eingetreten, so ist klar, dass der Staat bestehen bleibt, während das Recht zurücktritt. (. . .) Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm. Die Entscheidung macht sich frei von jeder normativen Gebundenheit und wird im eigentlichen Sinne absolut. Im Ausnahmefall suspendiert der Staat das Recht, kraft eines Selbsterhaltungsrechtes, wie man sagt. Die zwei Elemente des Begriffes „Rechts-Ordnung“ treten hier einander gegenüber und beweisen ihre begriffliche Selbständigkeit.“ 443
In Fällen existenz-bedrohender Not steht nach diesem Staatsverständnis das Recht einer rettenden politischen Aktion bloß im Wege. Die Politik soll zum 440 St. Stübinger, „Der Feindbegriff Carl Schmitts im Antiterrorkrieg“ Ancilla Iuris (anci.ch) 2008, S. 73 (74), Zitate aus C. Schmitt, Verfassungslehre (1928), S. 110. 441 C. Schmitt, Politische Theologie (1933), S. 19. 442 C. Schmitt, Politische Theologie (1933), S. 12. Siehe zum „Ausnahmefall“ i. S. Schmitts auch H. Hofmann, „,Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet‘“ Der Staat Bd. 44 (2005), S. 172, 173. 443 C. Schmitt, Politische Theologie (1933), S. 18, 19 (Hervorhebungen der Verf.).
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Zwecke des Selbsterhalts des Staates alles tun können, was eine Beendigung der Notlage verspricht, ohne dabei lästigen normativen Bindungen zu unterliegen.444 Derjenige, der dann im Staat die Entscheidung fällt, vom normalen Rechtszustand in den ausnahmsweise rechtlosen Zustand überzugehen, sei der eigentliche Machthaber, der eigentliche Souverän im Staat.445 Er sei bei seiner Entscheidung vollkommen ungebunden: Es handle sich um eine „reine Dezision“, die keiner rechtlichen Begründung bedarf und gerade deshalb Ausdruck wahrer Souveränität ist: Der Souverän „entscheidet sowohl darüber, ob der extreme Notfall vorliegt, als auch darüber, was geschehen soll, um ihn zu beseitigen. Er steht außerhalb der normal geltenden Rechtsordnung und gehört doch zu ihr, denn er ist zuständig für die Entscheidung, ob die Verfassung in toto suspendiert werden kann.“ 446
Mit dem Akt der Suspendierung des Rechts, also der positiven Entscheidung über den Ausnahmefall, wird der Staat vom Recht entkoppelt: Er agiert als rechts-entkernte Staatsfassade so lange weiter, bis er selbst – durch den Souverän – beschließt, das Recht wieder in Geltung zu setzen. Da er dabei keinerlei materiellen Kriterien unterworfen ist (etwa: dem tatsächlichen Vorliegen eines Staatsnotstandes, dessen Voraussetzungen zumindest abstrakt-generell festgelegt und insofern auch justiziabel sind), ist es aus Sicht der Bürger bloßer Zufall, wann sie im rechtlichen Normalzustand, und wann sie im rechtlosen Ausnahmezustand leben.447 Solange der Ausnahmezustand besteht (und er besteht, solange der Souverän es will), herrscht allein die faktische Macht des Staates, die er im besten Fall dazu nutzt, die „Bedingungen der Rechtlichkeit“ 448 wieder herzustellen, im schlimmsten Fall aber vollkommen willkürlich (despotisch449) einsetzt. Eine Gewähr dafür, dass der Staat seine Macht tatsächlich zur Erzeugung von Rechtlichkeit verwendet (und sich damit selbst wieder entmachtet bzw. dem Recht unterwirft), ist im System Schmitts nicht angelegt. Umgekehrt wird im Gedankengang Schmitts an keiner Stelle deutlich, warum der Staat/der Souverän ein Interesse
444
Ähnlich St. Stübinger, „Der Feindbegriff Carl Schmitts im Antiterrorkrieg“ (2008),
S. 75. 445 Vgl. C. Schmitt, Politische Theologie (1933), S. 11. Souveränität ist nach Schmitt „höchste, nicht abgeleitete Herrschermacht“ (ebenda, S. 12). Näher dazu H. Hofmann, „,Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet‘ “ Der Staat Bd. 44 (2005), S. 174 ff. 446 C. Schmitt, Politische Theologie (1933), S. 12, 13. 447 Vgl. zu einer Stellungnahme, die dieses Problem berücksichtigt und rechtlich zu fassen vermag E.-W. Böckenförde, „Der verdrängte Ausnahmezustand“ NJW 1978, S. 1881 (1885, 1886). 448 G. Jakobs, „Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit“ HRRS (8–9/2006), 289 ff. 449 „Despotismus“ ist nach Kant eine „Verfassung, die alle Freiheit der Untertanen, die alsdann gar keine Rechte haben, aufhebt“ (I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 237).
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daran haben sollte, dafür zu sorgen, dass ihn rechtliche Bindungen in seiner Allmacht alsbald wieder beschränken. Die Konsequenz aus Schmitts Überlegungen ist deshalb nicht nur, dass das Recht im Falle einer echten Existenzkrise des Staates nicht gelten soll, sondern dass die Rechtsgeltung überhaupt zur Disposition des Souveräns steht, der sie kraft seiner (so verstandenen) Souveränität jederzeit – unbegründet, durch reine Dezision – suspendieren kann. Das Recht wird auf diese Weise zum Luxusgut in Zeiten, in denen der Souverän, ohne dazu seinerseits rechtlich verpflichtet zu sein, seine Geltung zulässt.450 Einen Rückfall hinter Hobbes bedeutet dieses Denken vor allem deswegen, weil Schmitt nicht einmal mehr den Anspruch auf Begründung einer legitimen Herrschaft erhebt, geschweige denn erfüllt. Die Begründungsleistung von dreihundert Jahren Staatsphilosophie wird durch ihn mit einem Federstrich beseitigt und durch eine gedanklich schlichte Politikhingabe ersetzt.451, 452 Einen besonders perfiden Beigeschmack erhält diese Absage an die staatsphilosophische Begründungstradition dadurch, dass der Staat erst durch die argumentative Stütze der seine Legitimität begründenden Konzepte die Machtfülle erreichen konnte, über die er nun im „Ausnahmefall“ unter Ausblendung jeglicher rechtlichen Beschränkung verfügen kann. Die Wirkmacht des Staates, die (spätestens)453 seit 450 Ähnlich H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 15. 451 Tendenzen zu einer solchen Betrachtungsweise gibt es auch im gegenwärtigen Schrifttum: Siehe J. Isensee, „Normalfall oder Grenzfall als Ausgangspunkt rechtsphilosophischer Konstruktion?“ (2002), S. 51 (65–72). 452 Treffend dazu St. Stübinger: „Nicht die Befugnis zu zwingen soll begründet werden, sondern die machtsichernde Stabilisierung des staatlichen Gewaltmonopols müsse in diesen Fällen schlicht demonstriert werden. Im politischen Jenseits des positiven Rechts thront das quasi-natürliche Selbsterhaltungsinteresse des Staates, das für Schmitt offenbar keiner weiteren Legitimation bedarf und das als dessen ,Vor-Recht‘ immer dann in Kraft tritt, wenn es gilt, die Regelung des Normalfalls ausnahmsweise zu umgehen; (. . .).“ In: „Der Feindbegriff Carl Schmitts im Antiterrorkrieg“ (2008), S. 78. 453 Vgl. zum Beispiel schon den Begründungsansatz von Aristoteles, nach dem in der „Polis, in dem institutionalisierten Zusammenleben mit Freien und Gleichen, (. . .) dem Einzelnen seine in der Natur angelegte Bestimmung als Mensch zu(kommt).“ (So in Abgrenzung zu Hobbes G. Geismann/K. Herb, Hobbes über die Freiheit (1988), Einleitung, S. 11). Der Mensch sei angewiesen auf die durch Sitte, Gesetz und übereinstimmendes Lebensziel verbundene Gemeinschaft in der Polis, um ein glückliches, vollkommenes Leben führen zu können. Gedanklicher Ausgangspunkt dieser Überlegung ist die Überzeugung, dass „Menschsein und Bürgersein, rechtlich-politische Ordnung und sittliche Lebensweise in einer guten Polis ineins zusammenfallen. Der Begriff ,rechtliche Ordnung‘ ist hierbei in einer sehr weiten Bedeutung zu verstehen; sie umfasst sowohl das geschriebene und gesatzte Recht einer bestimmten Polis, also die positiven Gesetze, wie auch die ungeschriebenen, göttlichen und als ,natürlich‘ ausgezeichneten Gesetze, (. . .).“ G. Bien, „Gerechtigkeit bei Aristoteles (V)“ (1995), S. 135 (135, 136). Richtmaß für eine gute Polis-Gemeinde ist also für Aristoteles, ob in ihr die Bedingungen für ein glückliches, erfülltes Leben verwirklicht werden.
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Hobbes daran gebunden ist, dass sie sich als legitim ausweisen lässt, wird bei Schmitt von dieser Bindung befreit und stattdessen Gegenstand grundloser Autorität. Diese Bilanz lässt sich keinesfalls mit dem Argument relativieren, dass es Schmitt um die Rettung der Existenz des Staates selbst geht und diese ohne Ausrufung des Ausnahmefalls gefährdet sei. Er schreibt: „Die Existenz des Staates bewährt hier eine zweifellose Überlegenheit über die Geltung der Rechtsnorm.“ Die Selbstsicherheit des Staates wird also als Grund für die ungezügelte, im Ausnahmezustand fortbestehende Handlungsmacht des Staates angegeben. Aber warum sollte die Existenz des Staates für sich genommen schützenswert sein? Schmitt selbst hat die Hauptaufgabe des Staates darin gesehen, eine Situation zu schaffen und zu erhalten, in der Ruhe, Sicherheit und Ordnung herrscht, damit Normen gelten können. Diese Staatsbegründung – so wenig anspruchsvoll sie auch sein mag – konterkariert Schmitt, wenn er sich für die Rettung des Staates ausgerechnet durch das Außer-Kraft-Setzen von Normgeltung ausspricht.454 Die Existenz des Staates verliert ihren Sinn, wenn sie aufhört, der Geltung des Rechts zu dienen. Und selbst wenn die Rechtssuspendierung nur auf Zeit und als Übergang zur Wiederherstellung rechtlicher Bedingungen gedacht ist (wobei auch noch fraglich ist, ob sie dazu ein geeignetes Mittel darstellt), dann passt dazu nicht der Souverän à la Schmitt, der durch „reine Dezision“, das heißt nichts anderes als: willkürlich, über das Bestehen/Nichtbestehen eines Ausnahmezustands entscheidet. Denn dann ist weder das „Ob“, noch die Dauer der Außer-Kraft-Setzung materiell daran gebunden, dass durch sie Normgeltung (demnächst) wieder ermöglicht wird.455 Solange der Souverän im Sinne Schmitts Souverän ist, ist seine Entscheidung nicht begründungsbedürftig, an nichts – schon gar nicht dem Recht – zu messen und damit unüberprüfbar. Sobald ihm aber die Pflicht zur Wiederherstellung rechtlicher Zustände auferlegt wird, hört er auf, Souverän zu sein. Dies führt selbst innerhalb des Schmittschen Gedankensystems zu einem Widerspruch: Es kann sich beim Außer-Kraft-Setzen des Rechts entweder um eine sinnvolle, begründete Maßnahme zur zügigen Wiederherstellung des Rechts handeln (dann ist sie nicht „reine Dezision“, sondern auf ihren tragenden Grund 454 Treffend formuliert hat das auch St. Stübinger, „Der Feindbegriff Carl Schmitts im Antiterrorkrieg“ (2008), S. 79: „Die Geltung des Rechts wird suspendiert, um das zu retten, was geopfert wird, nämlich die normative Ordnung des Rechts.“ 455 Zutreffend dazu E.-W. Böckenförde, „Der verdrängte Ausnahmezustand“ NJW 1978, S. 1881 (1885, 1886): „Die Zweckabhängigkeit und Zweckbegrenzung des Ausnahmerechts ist zugleich ein Mittel der Gewähr für das Recht des Normalzustandes. Dies vor allem deshalb, weil die Zwecksetzung der Maßnahme des Ausnahmezustandes nicht frei, sondern auf Wiederherstellung der Normallage ausgerichtet und daraufhin überprüf- und kontrollierbar ist. Eben darin liegt die Transformation des Rechts der Normallage durch fortwährende Vergesetzlichung von Ausnahme-Maßregeln in einen neuen, ausnahmegeprägten Normalzustand.“
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überprüfbar und damit justiziabel) oder um einen echten, Gründen unzugänglichen Ausspruch eines Souveräns im Schmittschen Sinne, dann ist sie aber nicht per se einer zügigen Wiederherstellung rechtlicher Zustände dienlich, sondern eben grund- und zwecklos.
III. Zusammenfassung Es zeigt sich, dass Schmitts Konzept für den „Normalfall“ des Staates auf den Hobbesschen Grundgedanken des Sicherheitsstaates zurückführbar ist. Insofern gilt die Kritik an Hobbes gleichermaßen auch für Schmitt. Soweit Schmitt das Wesen von Souveränität und Staat durch die Idee des „Ausnahmezustands“ näher zu fassen versucht, verstrickt er sich nicht nur in unauflösbare – innersystematische – Widersprüche, sondern negiert dabei auch das Ansinnen der gesamten Staatsphilosophie, staatliche Macht schlüssig zu legitimieren. Aus diesem Grund leistet Carl Schmitt für die Lösung des Problems der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit im Staat keinen Beitrag.
H. Zusammenfassung zum 2. Teil: Staatsphilosophische Entwicklungsschritte des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit im Staat seit Thomas Hobbes Nach der von Thomas Hobbes Mitte des 17. Jahrhunderts erarbeiteten Staatsvorstellung soll durch die Begründung des Staates die Überwindung des ewigen Kriegszustandes unter den Menschen dadurch erreicht werden, dass eine „sichtbare Gewalt“ die Menschen „im Zaume“ hält und durch „Furcht vor Strafe“ zur „Erfüllung ihrer Verträge und (zur) Beachtung der natürlichen Gesetze“ nötigt.456 Die Menschen müssten sich durch einen gemeinsamen Vertrag einer solchen öffentlichen Zwangsgewalt unterwerfen, indem jeder seine Rechte auf die ihm überlegene (staatliche) Macht überträgt und diese im Gegenzug die Sicherheit ihrer Untergebenen garantiert. Denn solange eine solche Zwangsgewalt nicht etabliert oder nicht stark genug ist, um die Sicherheit aller zu garantieren, darf „jeder sich rechtmäßig zur Sicherung gegen alle anderen Menschen auf seine eigene Kraft und Geschicklichkeit verlassen“ 457, was ein Perpetuieren des ungesicherten Zustandes zur Folge hätte. Es zeigt sich, dass es in Zeiten massiver und stetiger physischer Bedrohung – wie die von Willkür und Chaos geprägte Zeit der Bürgerkriege, in der Hobbes gelebt und den „Leviathan“ geschrieben hat458 – nahe liegt, den Sicherheitsge456
Th. Hobbes, Leviathan (1651), 17. Kapitel, S. 131. Ebenda. 458 Im Überblick: 1610: Ermordung Heinrich IV. in Frankreich als Folge religiöser Bürgerkriege; 1618: Prager Fenstersturz mit anschließendem 30-jährigen (Glaubens-) 457
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danken als den entscheidenden Grund für die Macht des Staates anzusetzen. Ist der Einzelne ständig bedroht, so gilt es als erstes, ihm das Überleben zu sichern und aus dem Chaos einen Zustand verfestigter, geordneter Verhältnisse zu schaffen. Das Überleben ist die erste Voraussetzung für das menschliche Zusammenleben überhaupt und insofern ist es nahe liegend und berechtigt, zunächst den Grund für die Schaffung einer dem Einzelnen übergeordneten Macht in Form des Staates in der Herstellung und Erhaltung sicherer Lebensverhältnisse zu sehen. Ist ein Zustand relativer Ordnung aber erst einmal erreicht, so zeigt sich sehr schnell, dass mit dem Sicherheitsgedanken allein die Macht des Staates nicht begründbar ist: Der Einzelne fordert ihm gegenüber sein Recht ein, das nicht schon mit dem Recht auf Selbsterhalt hinreichend bestimmt ist, sondern der menschlichen Fähigkeit zur Selbstbestimmung entsprechen muss. Der Staat hat, soll ihm dauerhaft die Organisation des Zusammenlebens der Menschen gelingen, eine Ordnung zu gewährleisten, in der der Einzelne nicht nur überleben kann, sondern auch in seiner Freiheit respektiert wird. Dass in dieser Freiheitsgewährleistung der Grund und die Legitimation des Staates liegen muss, hat Wilhelm von Humboldt erkannt und ihn gut 140 Jahre nach Hobbes’ Leviathan dazu bewogen, sein Denken auf die Beschränkung der absoluten Staatsmacht zu richten, die Hobbes zuvor begründet hatte. v. Humboldt war die staatliche Herrschaft mitsamt ihrer inzwischen angesammelten Machtfülle, ihrem die ganze Gesellschaft durchziehenden Herrschaftsanspruch und den diesem Anspruch entsprechenden Strukturen der Verwaltung suspekt. Die Freiheit des Einzelnen werde durch sie geradezu unterdrückt und geschwächt und die Kreativität, der Lebensgeist, die Vitalität des Volkes gehemmt. Seine Konsequenz aus dieser Skepsis gegenüber den allumfassenden Regulierungsversuchen des Staates seiner Zeit459 war es, die Macht des Staates auf die Sicherung der „gesetzmäßigen Freiheit“ zu beschränken. Bei v. Humboldt findet sich damit explizit ein wechselbezügliches Verhältnis von Freiheit und Sicherheit, welches bei ihm allerdings noch nicht begründet, sondern nur als plausible Lösung eines eher pragmatisch als prinzipiengestützt denkenden Staatsmannes ausgewiesen ist. Den begründenden Gedankengang für diese Wechselbezüglichkeit liefert dann Immanuel Kant mit seiner Rechtslehre am Ende des 18. Jahrhunderts. In seiner Philosophie hat der Staat schon seinem Grund nach keine absolute und ungeteilte Krieg; ab 1640: blutige Auseinandersetzung zwischen König und Parlament sowie zwischen Kirche und Staat in England; 1649: Karl I. wird hingerichtet, die Monarchie abgeschafft; 1651: Erscheinen des Leviathans (vgl. zum Ganzen J. Braun, Einführung in die Rechtsphilosophie (2006), S. 188). Siehe ferner zu Hobbes’ historischem Umfeld: H. Münkler, Thomas Hobbes (2001), S. 31–69; B. Willms, Thomas Hobbes (1987), S. 27–53. 459 Zum allmählichen Aufbrechen des „,polizeistaatlichen‘ Wohlfahrtsideal“ durch den liberalen Rechtsstaatsgedanken vgl. E. Angermann, Robert von Mohl 1799–1825 (1962), S. 97 ff., insbesondere 100 f.
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Herrschaft, sondern ist durch das ihm immanente Freiheitsprinzip beschränkt. Die Begründbarkeit seiner übergeordneten Machtstellung hängt davon ab, ob er diesem Freiheitsprinzip gerecht wird oder nicht. Eine solche Fundierung in der Freiheit des Einzelnen ermöglicht eine Staatsbegründung, die ihre Wurzel in der menschlichen Fähigkeit zur Selbstbestimmung hat und deren Ziel die Wahrung der Rechtspersönlichkeit des einzelnen Bürgers ist. Die Sicherheit in einem solchen Staat stellt sich als Resultat der garantierten rechtlichen Verhältnisse selbst her und bleibt immer auf die Freiheit des einzelnen Bürgers bezogen; der Gegenstand der Sicherheitsleistungen des Staates ist die Freiheit des Einzelnen. Im Kantischen Rechtszustand erfassen allgemeine Gesetze, was „jedem für das Seine anerkannt“ werden soll und eine äußere Macht verhilft dem Einzelnen zur „Teilhabe“ seiner Rechte. Die gesetzgebende Gewalt kommt dabei dem vereinigten Willen des Volkes zu; die ausführende Gewalt muss ihre Aufgaben „zu Folge“ der so entstandenen Gesetze wahrnehmen und die Judikative muss ihre Einzelentscheidung auf diese Gesetze stützen. Das „formale Prinzip der Möglichkeit“ eines solchen rechtlichen Zustands heißt nach Kant die „öffentliche Gerechtigkeit“. Deren verschiedene Formen müssen zusammengenommen die Einheit öffentlicher Gerechtigkeit im Staat hervorbringen. Das Zusammenwirken der drei Staatsgewalten bewirkt dann die Umsetzung der drei Gerechtigkeitsformen in die Rechtswirklichkeit der Staatsbürger. In der Verknüpfung von „Öffentlichkeit“ und „Gerechtigkeit“ liegt nach Kant das für den rechtlichen Zustand Spezifische. Das Recht ist auf die Form der Publizität angewiesen, soll es nicht nur provisorisches Recht bleiben, sondern einen stabilen Rechtszustand – und damit insgesamt sichere Lebensverhältnisse – zustande bringen. Kant sieht zudem in dem Öffentlichkeitsprinzip nicht bloß ein reines Formprinzip, sondern gleichzeitig auch ein Kriterium für die inhaltliche Rechtlichkeit einer Handlung. Durch die erarbeitete Struktur des Staates wird gewährleistet, dass Vernunft sich konkretisieren kann und so die Rechtsverhältnisse in einer Gesellschaft gerecht geregelt und durch entsprechende Mechanismen realiter abgesichert werden. Freiheit und Sicherheit verbinden sich auf diese Weise gedanklich notwendig durch die von Kant ausgearbeitete Staatskonzeption. Hegel setzt mit seiner Rechtsphilosophie an diesem Stand der Rechtsbestimmung an: Nach seinem Verständnis ist das Recht überhaupt „Dasein“ von Freiheit und der Staat ist dessen vernünftige Verwirklichungseinheit. Die Sicherheit der Bürger wird von Hegel als notwendiges Moment auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft eingeführt. In ihr müssen die Bedingungen für ein selbständiges Leben für jedermann durch die allgemeinen Institutionen des Gesetzes, der Gerichte und der Polizei gewährleistet werden. Das Recht und seine Durchsetzungsmechanismen, sowie die Institutionen der Sicherheit und Vorsorge haben hier primär ordnenden Charakter, wobei sich diese Ordnung nicht im bloßen Interessenschutz erschöpft. Sie stellt gleichzeitig ein wesent-
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liches Moment menschlich-vernünftigen Wirkens in Gemeinschaft mit anderen sicher. Damit ist anerkannt, dass diese Ordnungsfunktion ein wichtiges Teilelement der Wirklichkeit von Freiheit ausmacht, die Hegel mit seinem Rechtssystem begründen will. Andererseits liegt in ihr nicht schon das den Staat in seinem Wesen ausmachende, denn für ihn muss es über eine pragmatische Ordnung hinaus zu einer sittlichen Einheit kommen, in der Freiheit vollumfänglich Wirklichkeit hat. Das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit ist bei Hegel also ein Stufenverhältnis: Auf dem Weg zur und zum Zwecke der Freiheitsrealisation im substantiellen Staat, in welchem die Besonderheit des Einzelnen und die Allgemeinheit in eine Einheit geführt werden, ist es notwendig, in einem ersten Schritt gesicherte Verhältnisse für alle Einzelnen zu schaffen, innerhalb derer sie sich frei betätigen können. Erst auf einer diesen Schritt mit umfassenden weiteren Ebene entsteht dann eine substantielle Einheit, in der der Einzelne sich mit den Strukturen des Staates identifizieren kann und in der die öffentliche Freiheit verstetigt werden und als Anerkannt-Allgemeines in der Realität der Staatsbürger existieren kann. Dieses von Kant und Hegel erreichte Niveau der Bestimmung des Verhältnisses von Freiheit und Sicherheit wurde in der Folge der staatrechtlichen Grundlagendiskussion wieder verloren. Durch den Rechtspositivismus gerieten die begründenden Ansätze in den Hintergrund des Interesses der Staatstheoretiker, wenn nicht mit ihm sogar der gänzliche Verlust des Begründungsanspruchs einherging. Durch die Gleichsetzung von Staat (als realer Machtstruktur mit Zwangs- und Sanktionsgewalt) und Rechtsstaat war das kritische Potential der freiheitlich begründenden Ansätze jedenfalls verloren und eine Gleichgültigkeit zu den rechtlichen Legitimationsfragen griff um sich. Dies war dann der Boden, auf dem Carl Schmitt mit seinen Überlegungen zum Wesen des Staates ansetzte. Seine Theorie bedeutete einen Rückschritt im Denken einerseits schon deswegen, weil sie mit dem totalen Untergang der Freiheit des Subjekts als tragendes Prinzip verbunden war; andererseits aber auch, weil bei ihm nur noch vordergründig die Sicherheit der Staatsbürger als allgemeines Staatsziel und Grund für die Herrschaftsmacht angegeben wurde. Nicht Freiheit oder Sicherheit des Individuums ist bei Schmitt sinnstiftend, sondern allein der Erhalt der Autorität des Souveräns und damit die Stabilität und Existenz des Staates an sich. Materielle Begründungen weichen bei Schmitt staatlicher Willkür um der Selbstsicherheit des Staates willen.
Teil 3
Grundzüge der Diskussion um die Freiheits- und Sicherheitsgewährleistung im modernen Verfassungsstaat Nach der rechts- und staatsphilosophischen Grundlegung soll nun im folgenden Teil in Grundzügen dargelegt werden, wie im modernen Verfassungs- bzw. Staatsrecht das Problem der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit angegangen wird. Es sind im Wesentlichen zwei Strömungen in der gegenwärtigen staats- und verfassungsrechtlichen Literatur, die sich mit dem Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im Verfassungsstaat beschäftigen: Die erste bemüht sich um einen Ausgleich beider als komplementär und gleichberechtigt verstandenen Pole, indem sie durch Abwägung im konkreten Fall sucht, beiden gleichermaßen gerecht zu werden (dazu unter A.). Die zweite Auffassung tendiert dagegen dazu, das Moment der Sicherheit zu verabsolutieren und droht dabei, die Freiheit des Subjekts aus den Augen zu verlieren (dazu B.).
A. Sicherheit als Grundrecht, Freiheit und Sicherheit als gleichrangige „Verfassungswerte“ I. Grundrecht auf Sicherheit? (Isensee) Isensee geht in seiner 1983 erschienenen Abhandlung Das Grundrecht auf Sicherheit nach einer kurzen Sichtung der staatstheoretischen Grundlagen und des ideengeschichtlichen Fundaments (Hobbes, Locke, v. Humboldt u. a.) auf den Begriff der Sicherheit im deutschen Verfassungsstaat ein. Der neuzeitliche Staat rechtfertige sich dadurch, dass er dem Bürger Sicherheit gewährleistet.1 Dies habe Hobbes als Legitimationsprinzip für den absoluten Staat entwickelt, es sei aber als ebenso gültig auch für den modernen Verfassungsstaat aufzuweisen.2 Isensee macht drei „Stufen“ der Bedeutsamkeit der Sicherheitsidee im Verfas1 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 17. Ähnlich auch G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 13: „Es gehört zu den Konstitutionsprinzipien des modernen Staates, dass er für die Sicherheit seiner Bürger Sorge zu tragen hat.“ 2 Vgl. für einen Überblick zur „Staatsaufgabe Sicherheit“ zunächst C. Gusy, Polizeirecht, Rn. 71 ff., der einerseits auf die objektiv-rechtliche Grundlage des Art. 20 Abs. 1
A. Sicherheit als Grundrecht
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sungsstaat aus: Erstens die Sicherheit vor wechselseitiger Gewalttätigkeit im Verhältnis der Bürger untereinander („hobbesianische“ Sicherheit), zweitens die Sicherheit vor der Unterdrückungsmacht des Staates selbst („liberale“ Sicherheit) und drittens die Sicherheit vor wirtschaftlichen Risiken des gesellschaftlichen Daseins („soziale“ Sicherheit).3 Nach Isensee ist – vermittelt durch die Grundrechte – im Verfassungsstaat einerseits die Freiheit des Einzelnen vor unberechtigten staatlichen Zugriffen, andererseits aber auch die Sicherheit des Einzelnen vor Übergriffen Dritter zu wahren. Beides zusammen bilde ein „integrales Ganzes“ 4. In der Verfassung zeige sich dies dadurch, dass die Grundrechte neben ihrer Abwehrfunktion gegen staatliche Eingriffe in personale Freiheitssphären gleichzeitig auch eine Schutzkomponente aufweisen.5 Dies wird besonders deutlich in der Grundsatzentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur staatlichen Pflicht, menschliches Leben (auch schon vor der Geburt) vor Übergriffen anderer zu schützen.6 Gegenstück zu dieser Schutzpflicht des Staates ist nach Isensee das Recht der Bürger auf Sicherheit; die Gesamtheit der grundrechtlichen Schutzpflichten führe so zu einem Grundrecht auf Sicherheit.7 Die Freiheitsgrundrechte und das Grundrecht auf Sicherheit stehen aus dieser Perspektive also als subjektive Rechte des Einzelnen gleichrangig nebeneinander. Diese These, also die Existenz eines subjektiven (Grund-)Rechts auf Sicherheit, ist im verfassungsrechtlichen Schrifttum umstritten. Darauf weist Robbers in seiner Monographie Sicherheit als Menschenrecht hin.8 Das subjektive öffentliche Recht wird verstanden als „eine personalisierte und individualisierte Rechtsmacht, die Rechtsordnung zur Verfolgung eigener Interessen in Bewegung zu setzen. Die damit umrissene Position muss auf einer Norm beruhen, die – zumindest auch – dem Schutz der Interessen des Berechtigten zu dienen bestimmt ist. (. . .) Subjektives öffentliches Recht ist gerichtlich einklagbares Recht.“ 9 GG und andererseits auf die Diskussion um die Verankerung des Sicherheitsgedankens in den Grundrechten hinweist. 3 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 17. 4 Vgl. J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 21. 5 Vgl. dazu auch H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 11. 6 BVerfGE 39, 1. Näher zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zum Recht auf Schutz G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 129 ff. 7 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 33. Vgl. dazu auch G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 121 ff. Zu Folgerungen aus einem Grundrecht auf Sicherheit für die Opferstellung im Strafrecht siehe M. Burgi, „Vom Grundrecht auf Sicherheit zum Grundrecht auf Opferschutz“ (2007), S. 655 ff. 8 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 13 ff., 121 ff., 144 ff. Vgl. zudem M. Kniesel, „,Innere Sicherheit‘ und Grundgesetz“ ZRP 1996, S. 482 (485, 486). 9 G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 145 (Fußnoten weggelassen).
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Teil 3: Freiheits- und Sicherheitsgewährleistung im Verfassungsstaat
Dass das „Grundrecht auf Sicherheit“ wirklich in diesem Sinne subjektives Recht ist, wird aber schon dadurch zweifelhaft, dass es auch nach Isensee selbst niemandem das Recht geben soll, den Staat auf bestimmte Schutzmaßnahmen zu verklagen.10 So betrachtet, läuft es als subjektives Recht leer; Meier bezeichnet es sogar als „wohlklingende Phrase für jene Ordnungsrhetorik, in die Innenminister verfallen, sobald Außergewöhnliches passiert.“ 11 Auch Bielefeldt bestreitet, dass die Sicherheit ein subjektives Recht des Einzelnen sein kann. Erstens beziehe sich die Schutzfunktion des Staates auf sämtliche Rechte und könne deshalb nicht als separater Rechtsanspruch neben diesen stehen.12 Ferner berge eine solche kategoriale Nebenordnung die Gefahr, dass „die Sicherheitsaufgabe sich aus ihrer Zuordnung zu den Freiheitsrechten herauslöst und zum Selbstzweck wird. Das Verhältnis von Sicherheit und Freiheit wäre dann nicht mehr als Relation von Mittel und Zweck gedacht, sondern als Verhältnis gleichwertiger und potentiell konkurrierender letzter politischer Zielsetzungen.“ 13 Das hätte zur Folge, dass die Sicherheitspolitik nicht mehr im Dienst der Freiheitsrechte, an die sie zugleich normativ rückgebunden wäre, stünde, sondern ihren eigenen Sinn neben den Freiheitsrechten hätte.14 Dieser Kritik ist insofern zuzustimmen, als dass auch die rechtsphilosophische Grundlagenuntersuchung15 ergeben hat, dass die Sicherheit im Staat nur als auf die Freiheit des einzelnen Bürgers bezogene Sicherheit, als Sicherung der „gesetzmäßigen Freiheit“ richtig bestimmt ist. Das schließt es aus, dass die staatliche Sicherheitsgewährleistung unabhängig von der Freiheitsgewährleistung betrieben werden darf. Wenn Bielefeldt in diesem Zusammenhang auf die Gefahr hinweist, dass „Freiheitsrechte und Sicherheitsinteressen – letztere aufgewertet unter dem Titel des Rechts auf Sicherheit – (. . .) beliebig gegeneinander verrechnet werden könnten“, so trifft dies präzise die Schwierigkeit, die mit dem Konzept Isensees einhergeht: Wenn sich Freiheit und Sicherheit als gleichrangige Rechte gegenüberstehen, müssten sie in der Logik der Grundrechtsdogmatik im Kollisionsfall i. S. praktischer Konkordanz ausgeglichen werden. Da ein leitendes
10
Vgl. H. Meier, „Ein Grundrecht auf Sicherheit?“ Merkur 2003, S. 174 (176). Ebenda, S. 177. Kritisch auch M. Kutscha, „Innere Sicherheit und Verfassung“ (2006), S. 23 (31 ff.). 12 So H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 14 (mit Verweis auf G. Robbers, Sicherheit als Menschenrecht (1987), S. 15: „Auch auf dogmatischer Ebene ist ein jenseits der vorhandenen einzelnen grundrechtlichen Gewährleistungen gedachtes Recht auf Sicherheit eher schädlich und verwirrend.“). Zu weiteren Kritikpunkten vgl. C. Gusy, Polizeirecht, Rn. 74 ff.; W. Hassemer, „Das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit“ Vorgänge 2002, S. 10 f.; H. Meier, „Ein Grundrecht auf Sicherheit?“ Merkur 2003, 174. 13 H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 14. 14 Ebenda. 15 Vgl. dazu den 2. Teil der vorliegenden Arbeit. 11
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Prinzip für einen solchen Ausgleich nicht zur Verfügung steht, liefe das Verfahren tatsächlich auf eine „beliebige Verrechnung“ hinaus.
II. Freiheit und Sicherheit als auszubalancierende „Verfassungswerte“? (Brugger, Hillgruber, u. a.) Dass die Sicherheit zu den Grundrechten des einzelnen Bürgers gehört, entspricht im Übrigen auch nicht der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Wie sich in seiner Entscheidung zum Kontaktsperre-Gesetz16 zeigt, geht das Gericht nicht von einem Grundrecht, sondern von einem „Verfassungswert“ Sicherheit aus: „Die Sicherheit des Staates als verfaßter Friedens- und Ordnungsmacht und die von ihm zu gewährleistende Sicherheit seiner Bevölkerung (. . .) sind Verfassungswerte, die mit anderen im gleichen Rang stehen und unverzichtbar sind, weil die Institution Staat von ihnen die eigentliche und letzte Rechtfertigung herleitet (BVerwGE 49, 202 [209]).“
In derselben Entscheidung spricht das Gericht von der „Pflicht des Staates, die Sicherheit seiner Bürger und deren Vertrauen in die Funktionsfähigkeit der staatlichen Institutionen zu schützen.“ Es zeigt sich auch, dass das Bundesverfassungsgericht die Sicherheit des Staates als „Verfassungswert“ anerkennt, ihm aber als gleichermaßen „wertvolles Gut“ die Freiheit des einzelnen Subjekts – verbürgt im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes – entgegensetzt, so dass Freiheit mit dem Wert der Sicherheit im Einzelfall „kollidieren“ kann (etwa dann, wenn Sicherheitsmaßnahmen des Staates in Grundrechte des Einzelnen eingreifen). Im so entstehenden konkreten Konflikt stehen aus dieser Perspektive die beiden Werte abwägungsfähig und abwägungsbedürftig gegenüber, so dass entschieden werden muss, welchem „Wert“ im konkreten Fall der Vorrang gebührt.17 Auch hier stellt sich aber die Frage nach dem die Abwägung leitenden Prinzip. Auch Brugger hat sich im Rahmen seiner Studie zu Freiheit und Sicherheit18 mit dem Verhältnis beider „Werte“ im deutschen Verfassungsstaat befasst. Er setzt mit der Feststellung an, dass Freiheit im Grundgesetz einen herausragenden Verfassungswert bilde.19 Zur Begründung schreibt er: 16 BVerfGE 49, 24 (56, 57). Dazu auch J. von Bernstorff, „Die Wesensgehalte der Grundrechte und das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit unter dem Grundgesetz“ (2009), S. 40 (42 ff.); J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 28. 17 Vgl. dazu auch H.-P. Bull, „Wie weit reicht das Sicherheitsversprechen des Staates gegenüber seinen Bürgern?“ (2007), S. 301 (309, 313). 18 W. Brugger, Freiheit und Sicherheit (2004). 19 Ebenda, S. 52. Die folgende Darstellung orientiert sich am Verlauf dieses Textes. Vgl. zudem ders., „Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse“ VVDStRL a. a. O. (Fn. 10), S. 129–132.
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Teil 3: Freiheits- und Sicherheitsgewährleistung im Verfassungsstaat
„Nur dem Menschen kommt Würde zu. Sie sind durch Grundbedürfnisse zwar ,afficiert‘, aber nicht ,bestimmt‘ (mit Verweis auf die Terminologie Kants, Anm. der Verf.). Damit eröffnen sich Persönlichkeits- und Gemeinschaftsbildungs- sowie Organisationspotentiale für Individuen und Gruppen, die das Grundgesetz in der Menschenwürdegarantie und in den grundrechtlichen Freiheitsrechten, politisch weitergedacht auch in den demokratischen Mitwirkungsrechten gewährleistet.“
Dagegen fehle, so Brugger weiter, ein textlich herausgehobenes Verfassungsrechtsgut „Sicherheit“. Er begründet dieses Fehlen damit, dass die Grundgesetzgeber ein Gegengewicht zur nationalsozialistischen Verabsolutierung des Sicherheitsgedankens anstrebten. Das schließe zwar nicht aus, dass „Sicherheit“ an mehreren Einzelstellen im Grundgesetz zu finden und als Staats- und Verfassungsziel interpretierbar sei, aber „rein textlich“ habe das „Grundgesetz an dieser Stelle eine Lücke.“ Trotzdem ist aber auch nach Brugger der „Staat klar (auch) auf Rechtsgütersicherung verpflichtet“.20 Daraus ergebe sich jedenfalls auf Staatszielebene, dass „horizontal“ Sicherung von Rechtsgüterschutz gegen Bedrohungen von nichtstaatlicher Seite gleichberechtigt neben „vertikaler“ Sicherung der Bevölkerung vor Souveränitätsanmaßungen und unzumutbaren Eingriffen in Grundrechte steht.21 Desgleichen weist Hillgruber darauf hin, dass sich der Begriff „innere Sicherheit“ als Textbefund in der Verfassung nur an einigen Stellen am Rande finde.22 Daraus könne aber nicht der Schluss gezogen werden, „dass sich die deutsche Verfassung die Gewährleistung der inneren Sicherheit nicht als Staatsaufgabe ersten Ranges angelegen sein lässt.“ Das Gegenteil sei der Fall: „Dem VerfassungsÄhnlich auch Ch. Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur „bedingt abwehrbereit?“ JZ 2007, S. 209: Er weist zunächst darauf hin, dass das Grundgesetz „seinem ganzen Inhalt nach die Verfassung eines souveränen Staates sein“ will (mit Verweis auf BVerfGE 1, 351 (368)). Dies bedeute aber nicht, dass dem „Staat und seinen Organen ,plein pouvoir‘ eingeräumt wäre“. Das Grundgesetz habe als wertgebundene Ordnung, die den Schutz von Freiheit und Menschenwürde als den obersten Zweck allen Rechts anerkennt, die deutsche Staatsgewalt im Interesse des Individuums verfassungsrechtlich eingehegt und gebunden (mit Hinweis auf Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG). Der Staat des Grundgesetzes sei nicht Selbstzweck, sondern, wie es Art. 1 des Herrenchiemseer Entwurfs programmatisch verkündete, „um des Menschen willen da“. Hillgruber fährt fort: „Das Grundgesetz hat nicht eine virtuell allumfassende Staatsgewalt verfasst, sondern den Zweck des Staates materialiter auf die Wahrung des Gemeinwohls beschränkt, in dessen Mitte Freiheit und soziale Gerechtigkeit stehen.“ (mit Verweis auf BVerfGE 42, 312, 332) Die grundsätzliche „Begrenztheit aller öffentlichen Gewalt in ihren Einwirkungsmöglichkeiten auf das freie Individuum“ bilde folglich eine „Leitlinie unserer Verfassung (BVerfGE 6, 55, 81).“ 20 Als Beleg verweist er u. a. auf europäische und internationale Rechtsinstrumente, wie z. B. auf Art. 2 und 29 EU-Vertrag, Art. 61 des EG-Vertrags: „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“; Art. 5 Abs. 1 S. 1 der EMRK und Art. 6 der Charta der Grundrechte der EU: „Jede Person hat das Recht auf Freiheit und Sicherheit.“ 21 W. Brugger, Freiheit und Sicherheit (2004), S. 53. 22 Ch. Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur „bedingt abwehrbereit?“ JZ 2007, S. 209 (210).
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geber erschien diese elementare Staatsaufgabe (. . .) so selbstverständlich, dass er von ihr kein Aufhebens gemacht, sondern sie stillschweigend als existent und legitim vorausgesetzt hat, als er Deutschland staatlich reorganisierte und neu verfasste.“ 23 Der Verfassungsinterpretation komme nun „zwecks Vermeidung einer die primäre Funktion des Staates (. . .) ausblendenden, einseitig-verzerrenden Wahrnehmung des Staates als eines nur grundrechtlich abzuwehrenden Freiheitsbedrohers die unverzichtbare Aufgabe zu, das in Bezug auf den (verfassten) Staat im Grundgesetz Unausgesprochene oder nur Angedeutete (. . .) aufzudecken und als ebenso gültigen Inhalt der Verfassung auszuweisen.“ Es gelte, die „ratio essendi des modernen Staates als Sicherheitsgarant ins allgemeine Rechtsbewusstsein zu heben“.24 Das Verhältnis von Freiheitsgewährleistung und Sicherheitsgewähr im modernen Staat beschreibt Hillgruber dann folgendermaßen: „Sicherheit ist einerseits eine notwendige Bedingung von Freiheit: Wer unsicher ist, wird die gemeinwohldienlichen Freiheitsangebote des Grundgesetzes nicht annehmen, sondern in ängstlicher Passivität verharren. Unsicherheit und reale oder auch nur gefühlte Schutzlosigkeit lähmen und machen unfrei. Aber staatliche Sicherheitsmaßnahmen, das ist die nicht zu vernachlässigende Kehrseite, beschränken auch grundrechtliche Freiheit, und sie tun dies vermehrt nicht nur gegenüber dem polizeirechtlichen Störer, der nur in die überschrittenen Schranken seiner Rechte gewiesen wird, sondern auch gegenüber dem unbescholtenen Bürger. Sie erweisen sich damit zugleich als potentiell freiheitsbedrohlich. Wer sich allerorten vom Staat beobachtet und überwacht weiß oder fühlt, kann seine grundrechtlich garantierte Freiheit auch nicht mehr unbefangen ausüben, und letztlich, deshalb sind Diktaturen auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt, ist ohne die Gewährleistung individueller Freiheit eben auch die in weitem Umfang auf freiwilligen Rechtsgehorsam der Bürger angewiesene Friedensfunktion des Staates nicht zu verwirklichen.“ 25
Auf denselben Zusammenhang der Wechselbezüglichkeit weist auch Di Fabio hin: „Frei sein bedeutet, sein Leben gestalten zu können, ohne drückende Furcht. Also kann, wer über Freiheit redet, über Sicherheit nicht schweigen. (. . .) Dies ist die erste, dies ist die letzte Rechtfertigung des Staates. Ihm haben die Bürger das Gewaltmonopol übertragen, zuerst damit Friede sei, im Inneren wie nach außen. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist demnach nicht nur eines unter vielen: Mit der Sicherheit beginnt die Freiheit. (. . .) Dort, wo die staatliche Friedensordnung zurückweicht oder gar zerbricht, gewinnen nicht nur Gewalt und Willkür die Oberhand, sondern zerreißen auch die unsichtbaren Bänder des Vertrauens in eine stabile Sozialordnung, (. . .). Der freiheitliche Verfassungsstaat will allerdings nicht Frieden um jeden Preis, sondern einen 23 Ebenda. Vgl. zudem Ch. Calliess, „Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse“ DVBl. 2003, S. 1096, 1097. 24 Ch. Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur „bedingt abwehrbereit?“ JZ 2007, S. 209 (210). Ähnlich auch J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 17. 25 Ch. Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur „bedingt abwehrbereit?“ JZ 2007, S. 209 (211, Hervorhebungen der Verf.).
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Teil 3: Freiheits- und Sicherheitsgewährleistung im Verfassungsstaat
Frieden im Einklang mit unseren Wertegrundlagen, den Frieden für freie Menschen. (. . .)“ 26
III. Kritik 1. Verhältnisbestimmungen, die an der Sicherheit ansetzen Isensee („Rechtfertigung des neuzeitlichen Staates dadurch, dass er dem Bürger Sicherheit gewährleistet“), Hillgruber („ratio essendi des modernen Staates als Sicherheitsgarant“) und Di Fabio (Sicherheit als „erste“ und „letzte Rechtfertigung des Staates“, „mit der Sicherheit beginnt die Freiheit“) setzen also übereinstimmend bei der Notwendigkeit an, sichere, befriedete Verhältnisse zu schaffen und zu erhalten, damit Freiheit gelebt werden kann. Auch das Bundesverfassungsgericht sieht in der Sicherheit des Staates und in der von ihm zu gewährleistenden Sicherheit seiner Bevölkerung seine „eigentliche und letzte Rechtfertigung“. Dabei stützen sie sich (wenn auch nicht ausdrücklich) auf das Grundtheorem Hobbes’, der in der Errichtung einer „allgemeinen Gewalt, die in der Lage ist, die Menschen vor dem Angriff Fremder und vor gegenseitigen Übergriffen zu schützen und ihnen dadurch eine solche Sicherheit zu verschaffen, dass sie sich durch eigenen Fleiß und von den Früchten der Erde ernähren und zufrieden leben können“, den eigentlichen Sinn der Staatlichkeit ausmachte.27 Die Freiheit des Einzelnen wird dann in einem nächsten Schritt so eingeführt, dass sie als Abwehrbefugnis des einzelnen Bürgers gegen einen (potentiell) übermächtigen Staat (den absoluten Staat des Thomas Hobbes) gedacht ist: Freiheit ist „Unversehrtheit der Rechtsgüter“ des Einzelnen „im Verhältnis zur öffentlichen Gewalt“.28 Mit diesem Gedankengang wird deutlich, dass nach dem Konzept Isensees, Hillgrubers und Di Fabios in der Sicherheit der erste Grund der Staatlichkeit liegt (wie schon bei Hobbes) und die Freiheit des Einzelnen als Korrektiv für eine andernfalls unbeschränkte staatliche Macht eingeführt wird (diese Entwicklung schreibt Isensee John Locke zu)29.30 Dabei steht Freiheit auf glei-
26
U. Di Fabio, „Sicherheit in Freiheit“ NJW 2008, 421 (422). Th. Hobbes, Leviathan (1651), 17. Kapitel, S. 134. 28 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 21. 29 J. Isensee, Das Grundrecht auf Sicherheit (1983), S. 5 ff. („Das neue, das liberale Bedürfnis richtet sich auf Sicherheit vor dem Staat. Sicherheit vor dem Staat bedeutet Freiheit. Ihr grundlegender Theoretiker ist John Locke.“ Ebenda, S. 6). Genauer W. Brugger, „Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse“ a. a. O. (Fn. 10), S. 115–117. Zur Entwicklung des Verfassungsverständnisses von Hobbes über Locke nach Kant siehe M. Köhler, „Begriff der freiheitlichen Rechtsverfassung“ Rechtstheorie 27 (1995), S. 387 (391 ff.). 30 Vgl. dazu auch H. Schulze-Fielitz, „Nach dem 11. September: An den Leistungsgrenzen eines verfassungsstaatlichen Polizeirechts?“ (2003), S. 407. 27
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cher „Rangstufe“ wie das Moment der Sicherheit, wird aber als gedanklich Zweites eingeführt. Dazu passt auch, dass es bei Hillgruber heißt: „Wer unsicher ist, wird die gemeinwohldienlichen Freiheitsangebote des Grundgesetzes nicht annehmen, sondern in ängstlicher Passivität verharren.“ Es zeigt sich hier, dass die Freiheit des Einzelnen unter dem Grundgesetz vom Staat her gedacht wird, der zum gemeinen Wohl dem Einzelnen ausreichend Freiheit zu lassen hat, damit sich dieser wirtschaftlich, kulturell, religiös etc. betätigen kann. Es ist also die Leistung des Staates, dem Einzelnen ausreichend Freiheit zu gewährleisten, um insgesamt ein prosperierendes, arbeitsteilig organisiertes Gemeinwesen zu ermöglichen, das sich durch Stabilität und Wohlstand für alle auszeichnet. Die Sicherheit sei dafür dann „sine-qua-non“, ja mit ihr „beginne“ erst die Freiheit (so Di Fabio). Konsequent ist es nach diesem Ansatz auch, die Freiheit des Einzelnen auf den Staat hingeordnet zu denken. Ist es notwendig für den Erhalt des Gemeinwesens, dass der Staat Freiheit einräumt, so ist es gleichermaßen notwendig, Freiheit bei nicht gemeinwohldienlichem Gebrauch zu versagen. Der Gedanke geht sogar noch weiter: Hillgruber schreibt, dass „ohne die Gewährleistung individueller Freiheit eben auch die in weitem Umfang auf freiwilligen Rechtsgehorsam der Bürger angewiesene Friedensfunktion des Staates nicht zu verwirklichen“ ist, und „deshalb (. . .) Diktaturen auf lange Sicht zum Scheitern verurteilt (sind)“. Die Freiheitsgewährleistung wird hier über den Umweg des freiwilligen Rechtsgehorsams in den Dienst des Erhalts des Staates gestellt. Dies bedeutet eine Funktionalisierung von Freiheit, die damit in einen MittelZweck-Zusammenhang eingeordnet wird:31 Der Staat kann auf Dauer nur Bestand haben (Zweck), wenn dem Einzelnen so viel Freiheit zugestanden wird, dass er keinen Grund sieht, sich gegen den Staat aufzulehnen (Mittel). Rechtsgehorsam ist die Folge und ohne diesen (freiwilligen) Gehorsam wäre auf Dauer keine Rechtsgemeinschaft aufrecht zu erhalten. Das dahinter stehende Staatsverständnis erlaubt es somit, das Maß an zuzubilligender Freiheit nach Zweckerwägungen (und seien es auch solche, die ihrerseits gute Gründe haben) zu bestimmen. An diesem Verständnis von Freiheit ist zwar richtig, dass die Freiheitsrechte als Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat wirken können. Damit wird auch richtigerweise die Konsequenz von Hobbes’ Ansatz vermieden, dass der Einzelne dem Staat ohne Selbststand ausgeliefert ist und seine Freiheit dem Absolutismus weichen muss.32
31 Vgl. dazu schon die Kritik von H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 14. 32 Vgl. dazu auch H.-J. Papier, „Wie der Staat Freiheit und Sicherheit vereint“ (Rede auf der Sicherheitskonferenz von Tutzing) WELT-ONLINE, 1. Juni 2008.
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Dies kann aber nicht damit begründet werden, dass Freiheit dem Einzelnen zu diesem Zweck zugebilligt wird. Denn erstens ist die Freiheit das angeborene Recht eines jeden vernünftigen Subjekts und insofern unverfügbar. Nicht der Staat teilt Freiheit zu, bewilligt oder erlaubt sie, sondern Freiheit ist. Damit ist zweitens außerdem jede Einordnung der Freiheit, durch die ihr eine bestimmte Funktion im Rechts- und Staatswesen zugeordnet wird, (zumindest) missverständlich. „Funktionale Freiheit“ ist ein Widerspruch in sich: Sobald etwas eine Funktion zu erfüllen hat, ist es nicht mehr um seiner selbst willen, sondern um eines anderen Zweckes willen existent; es wird relativ, bedingt. Die Freiheit des Subjekts ist aber gerade absolut und unbedingt allein durch seine Existenz als Vernunftwesen gesetzt. Also ist Freiheit nicht „für etwas“, sondern (nochmals): sie ist. Ihr Gehalt ist so zu umschreiben, dass durch sie ein jedes Subjekt sein Leben selbstbestimmt und frei von der Willkür anderer gestalten kann. Die Grund- und Menschenrechte sind durch Positivierung festgelegte Ausformungen und Konkretisierungen dieser Freiheit (z. B. freie Persönlichkeitsentfaltung jedweder Art – Art. 2 Abs. 1 GG; Leben im Einklang mit dem eigenen Glauben und gemäß der eigenen Gewissensüberzeugung – Art. 4 Abs. 1 GG, in Gemeinschaft mit Anderen oder allein – Art. 8 und Art. 9 GG; Wahl des Lebensortes – Art. 11 GG – und des Berufs – Art. 12 GG; Recht auf und eigenverantwortlicher Umgang mit Eigentum – Art. 14).33 Aus dieser fundamental mit dem Menschsein verbundenen Freiheit leitet sich dann ein Anspruch auf einen freiheitsrespektierenden Umgang mit dem Einzelnen – mit jedem Einzelnen – ab, den er allen Anderen – auch der Staatsmacht – gegenüber geltend machen kann. Sie ist damit das Recht des Menschen, das ihn einerseits vor fremder Willkür schützt und das ihm andererseits gleichzeitig als Befugnis dient, an der ihn bindenden äußeren Gesetzgebung zumindest als Miturheber beteiligt zu werden. So sorgt sie für eine Gestaltung des individuellen sowie des sozialen Lebens, die ihren Grund in der Selbstbestimmung der einzelnen Rechtssubjekte hat. Der Staat wird auf diese Weise durch die Einzelnen konstituiert, nicht umgekehrt. Erst im zweiten gedanklichen Schritt muss die Freiheit dann durch staatliche Strukturen in ihrer Realität abgesichert werden. Es ist also unrichtig zu sagen, dass Freiheit mit Sicherheit beginnt – jedenfalls, wenn der Satz nicht nur als beschreibender, sondern als begründender Satz gemeint ist. Es ist auch nicht richtig zu sagen, dass die Sicherheit die erste und letzte Rechtfertigung des Staates ist; es ist die Freiheit des Subjekts, die den ersten und letzten Grund der Staatlichkeit ausmacht – sie bedarf allerdings zu ihrer Sicherung der staatlichen Verfestigung.34 33 Näher zu diesem Verständnis von Grundrechten M. Köhler, „Das angeborene Recht ist nur ein einziges . . . Menschenrecht, Grundrechtsverhältnisse und Rechtssystem“ (1994), S. 61 ff.
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2. Abwägung von „Verfassungswerten“ Das genannte Missverständnis wird begünstigt durch das Verständnis von Freiheit und Sicherheit als Verfassungswerte.35 Auch die Menschenwürde, das Leben, die innere Sicherheit, die individuelle Freiheit etc. werden als Fundamentalwerte des Grundgesetzes begriffen, neben denen die Gleichheit, die Volkssouveränität, die Demokratie, aber auch zum Beispiel die Privatsphäre, die Ehe und die Familie, bis hin zur Kommunikationsfreiheit und zur Bildung und Kultur ganz unverbunden (ihrerseits als Verfassungswerte) stehen. Dies macht es schwer, ein begründetes Verhältnis zwischen diesen „Werten“ zu bestimmen. Zwar steht im Grundgesetz die Menschenwürde an erster Stelle (Art. 1 Abs. 1 GG); das Leben als damit verbundener „Wert“ an sehr prominenter Stelle danach (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und erst dann werden „Werte“ wie die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 GG), Ehe und Familie (Art. 6 GG) etc. genannt. Aber warum diese Ordnung richtig (oder auch falsch) ist, lässt sich innerhalb des genannten Wertverständnisses nicht klären. Werte können zwar in eine Hierarchie gebracht werden (beispielsweise „Freiheit vor Sicherheit“ oder „Sicherheit vor Freiheit“); das diese Hierarchie begründende Prinzip kann aber nicht seinerseits ein „Wert“ sein. Denn auch der hierarchisch höchste Wert muss irgendwann einmal begründet als solcher ausgewiesen werden. Warum dies beispielsweise die Menschenwürde sein soll, oder die persönliche Freiheit oder das menschliche Leben (und wie diese „Werte“ untereinander zusammenhängen), ist innerhalb des Wertedenkens nicht zu begründen. Dies zeigt sich im Übrigen auch an der Hilflosigkeit, mit der der Versuch der Verhältnisbestimmung zwischen Freiheit und Sicherheit betrieben wird:36 Der Vorschlag, beides gegeneinander abzuwägen,37 demonstriert deutlich die theore34 Ähnlich, auf Spinoza Bezug nehmend H.-J. Papier, „Wie der Staat Freiheit und Sicherheit vereint“ (Rede auf der Sicherheitskonferenz von Tutzing) WELT-ONLINE, 1. Juni 2008. 35 Siehe z. B. W. Brugger, „Gewährleistung von Freiheit und Sicherheit im Lichte unterschiedlicher Staats- und Verfassungsverständnisse“ a. a. O. (Fn. 10), S. 129 mit Fn. 160. Hoffmann-Riem spricht von der herzustellenden angemessenen Balance zwischen den „Zielwerten“ Freiheit, Gleichheit und Sicherheit („Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge“ ZRP 2002, S. 497 (498)). 36 Ähnlich sieht das auch H. Bielefeldt, Freiheit und Sicherheit im demokratischen Rechtsstaat (2004), S. 5. 37 Vgl. z. B. U. Di Fabio, „Sicherheit in Freiheit“ NJW 2008, S. 421 (425); Ch. Hillgruber, „Der Staat des Grundgesetzes – nur ,bedingt abwehrbereit?‘ “ JZ 2007, S. 209 (insbesondere S. 217); M. Kniesel, „,Innere Sicherheit‘ und Grundgesetz“ ZRP 1996, S. 482 (487). Kritisch dazu J. von Bernstorff, „Die Wesensgehalte der Grundrechte und das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit unter dem Grundgesetz“ (2009), S. 41 ff.; ebenfalls kritisch O. Lepsius, „Sicherheit und Freiheit – ein zunehmend asymmetrisches Verhältnis“ (2010), S. 23 (34 ff.), der zu Recht darauf hinweist, dass es im Verhältnis von Freiheit und Sicherheit notwendig zu einer „Abwägungsfalle“ komme: Sie öffne sich immer dann, „wenn zur Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen auf Sicherheit
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tische Schwachstelle dieses Verständnisses, denn das Abwägen zweier Fundamentalwerte gegeneinander setzt einerseits einen Abwägungsmaßstab voraus und andererseits einen Grund für die Verbindlichkeit des Ergebnisses der Abwägung; beides kann sich aber unmöglich aus den abzuwägenden Werten oder seinerseits aus einer Abwägung ergeben. Das zeigt sich gut in Überlegungen Jürgen Raths zu den unverfügbaren Voraussetzungen eines jeden Abwägungsprozesses. Er definiert das Abwägen zunächst so, dass es „in einem Gegeneinanderhalten, einem Vergleichen, von Dingen in ihrer Werthaftigkeit, grundsätzlich mit dem Ziel, den Vorrang des einen vor dem anderen zu ermitteln“ besteht.38 Er folgert dann weiter, dass jede Abwägung, „wenn sie zu einer Entscheidung und damit zu Handlungskompetenz führen soll, zu einem Ergebnis gelangen (muss); ein Abwägen darf sich nicht im Endlosen verlieren. Dieses Abwägungsergebnis muss weiterhin Richtigkeit für sich in Anspruch nehmen.“ Denn, so Rath weiter, mit ihm soll eine vor anderen Menschen rechtfertigbare und verantwortbare Entscheidungs- und Handlungskompetenz vermittelt werden.39 „Setzt (nun) (. . .) ein Abwägungsresultat (. . .) die ernsthafte Behauptung seiner Richtigkeit notwendig voraus und soll diese Behauptung nicht willkürlich sein, dann bedarf es – ebenso notwendig – eines abschließend begründeten material-inhaltlichen Richtigkeitskriteriums, zur Beurteilung der Abwägungsergebnisse.“ Und dieses inhaltliche Richtigkeitsergebnis „kann seinerseits, als notwendige Bedingung einer jeden Abwägung, letztlich nicht wiederum selbst aus einer Abwägung hervorgehen, liegt also dem Abwägen bzw. auch einem hypothetischen ersten Abwägen immer schon voraus.“ 40 Ist nun aber anerkannt, dass sich das „Ergebnis der Abwägung mittels eines begründeten Kriteriums – was bedeuten muss: „letztbegründeten“ Kriteriums (. . .) – (. . .) als richtig legitimieren lässt, so stellt sich die weitere Frage nach der normativen Verbindlichkeit des als richtig Erkannten“ und damit eine Grundfrage der praktischen Philosophie: „Woraus, aus welcher Kraft, soll die Erkenntnis des Richtigen eine Entscheidung normativ binden können? Warum soll das Prinzip gelten: ,Entscheide und handle nach der richtigen Erkenntnis!‘?“ „Ohne die Letztbegrün-
als Rechtsgut abgestellt wird, etwa indem Sicherheit als Voraussetzung für die Ausübung individueller Freiheit stilisiert wird, man also gewissermaßen einen Sicherheitsvorbehalt für die Grundrechtsausübung einführt.“ Sicherheit sei ein grenzenloses, nie erfüllbares Ideal; werde es zum Rechtsgut hypostasiert, müsse eine damit operierende Abwägung parteilich sein. Die Abwägungsfalle öffne sich auch dann, wenn Sicherheit auf kollektive Rechtsgüter bezogen wird, Freiheit aber nur auf individuelle. Notgedrungen seien dann die Freiheitseingriffe bei wenigen zu Gunsten von Sicherheitsgewinn bei allen hinzunehmen. Das Ergebnis der Abwägung sei damit stets determiniert, was der Natur der Abwägung zuwider laufe. Vgl. zudem S. 42 im selben Text. 38 J. Rath, „Unverfügbare Voraussetzungen des Abwägens“ StudZR 2007, S. 311 (313). 39 Ebenda, S. 318. 40 Ebenda, S. 319.
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dung dieses Prinzips“, so Rath abschließend, „ist jedes Abwägungsergebnis eine belanglose Nichtigkeit.“ Angewendet auf die Abwägung (oder auch: „Ausbalancierung“) zwischen Freiheit und Sicherheit im Fall konkreter staatlicher Maßnahmen bedeutet dies: Mit dem Abwägungsvorgang soll ein Ergebnis erzielt werden, welches über den Vorrang des einen oder des anderen im konkreten Fall Aufschluss gibt. Dieses Ergebnis soll eine bestimmte staatliche Maßnahme begründen, muss sich also als richtig ausweisen lassen, wenn die Maßnahme nicht willkürlich sein soll. Dafür ist ein material-inhaltliches Richtigkeitskriterium erforderlich, welches aber dem Abwägungsvorgang schon voraus liegen muss. Insofern kann die Abwägung selbst nicht die Lösung für das Problem der Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit sein. Ähnlich sieht das auch von Bernstorff, der sich aus grundrechtsdogmatischer Perspektive kritisch mit dem vorherrschenden Abwägungstrend auseinander gesetzt hat.41 Er stellt zu Recht fest, dass dem „Eingang des Sicherheitsbegriffs in grundrechtliche Abwägungsvorgänge“ eine „aushöhlende Tendenz der Freiheitsrechte“ innewohnt.42 Dies gelte insbesondere dann, wenn allgemeine Sicherheitsinteressen in grundrechtliche Schutzpflichten umformuliert werden.43 Hinzu komme dann der Ruf nach neuen Vorfeldbefugnissen der Polizei, die Eingriffsermächtigungen gegen jedermann vorsehen und zwar unabhängig von individualisierbaren Freiheitskonflikten bzw. konkreten Gefahren: „Die (. . .) neuen präventiven Eingriffsbefugnisse werden (. . .) häufig gerade nicht mehr durch einen konkretisierbaren horizontalen Freiheitskonflikt ausgelöst, sondern reagieren auf eine diffuse Bedrohung aller Grundrechtsberechtigten durch mögliche Attentate. Anstelle einer konkreten Beeinträchtigung durch den Störer treten Gefährdungen durch unsichtbare terroristische Netzwerke. Anstelle eines bestimmbaren Kreises von Opfern als Schutzberechtigten tritt die Allgemeinheit und anstelle von staatlichen Eingriffen gegen Störer treten verdachtslose Eingriffe gegenüber jedermann, wie z. B. bei der Rasterfahndung und der Vorratsdatenspeicherung. Der fehlende Rückbezug auf einen konkreten horizontalen Freiheitskonflikt als Auslöser für eine eingriffslegitimierende Schutzpflicht entzieht dem Schutzpflichtenargument seine rechtsdogmatische Grundlage.“ 44
Das in der Verwaltungspraxis vorherrschende Abwägungsparadigma habe dieser Tendenz dogmatisch wenig entgegenzusetzen. Für das konkrete Beispiel des
41 Siehe J. von Bernstorff, „Die Wesensgehalte der Grundrechte und das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit unter dem Grundgesetz“ (2009), S. 40 ff. 42 Siehe ebenda, S. 42. 43 Vgl. ebenda, S. 45: „Durch die Verknüpfung der Schutzpflichtenlehre mit dem kollektiven Rechtsgut Sicherheit wird ein allgemeiner grundrechtlicher Anspruch auf umfassende Sicherheit konstruiert.“ 44 Ebenda, S. 46.
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§ 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz45 kritisiert von Bernstorff zu Recht die häufig vorgenommene Abwägung zwischen den Folgen der staatlichen Handlung (Umsetzung der Schutzpflicht), also dem Abschuss der auch mit Unbeteiligten besetzten Maschine, und deren Unterlassen (Umsetzung der Achtungspflicht vor den unschuldigen Passagieren). Zutreffend weist er darauf hin, dass eine solche Abwägung letztlich auf eine quantitative Verrechnung von Menschenleben hinausläuft und damit die Eingriffe in die (Abwehr-)Rechte prinzipiell grenzenlos werden.46 von Bernstorff sieht nun eine mögliche Lösung in einem erneuerten Verständnis von abwägungsresistenten Wesensgehalten der Grundrechte. Bei Art. 19 Abs. 2 GG und Art. 1 GG handle es sich um Normen, die von der Verfassung explizit als abwägungsfest, als nicht „antastbar“ ausgewiesen sind.47 Ist ein Menschenwürdeverstoß nicht unumstritten zu bejahen (wie es im Fall des § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz entgegen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts tatsächlich der Fall ist), so lasse sich jedenfalls auf das Unantastbarkeitspostulat des Art. 19 Abs. 2 GG zurückgreifen. Diese Norm diene dem Schutz der Grundrechte vor Aushöhlung ihrer freiheitlichen Substanz,48 sei aber durch die in Rechtsprechung und Lehre vorherrschenden Abwägungs- bzw. Verhältnismäßigkeitsargumente in ihrer Bedeutung immer mehr herabgesetzt worden – bis hin zur Behauptung, sie habe rein deklaratorischen Charakter. Dem Argument, dass sich eine stärkere Orientierung an der Wesensgehaltsgarantie in der Praxis nicht durchgesetzt habe, entgegnet von Bernstorff in klarer und überzeugender Weise folgendermaßen: „Auch das Argument einer mit der vom Wortlaut geforderten Abwägungsresistenz vermeintlich unvereinbaren Praxis im Blick auf den gezielten Todesschuss oder andere anerkannte Eingriffe überzeugen nicht. Selbst wenn sich verschiedene Praktiken nicht mit einem Verständnis abwägungsresistenter Grundrechte vereinbaren ließen, wäre dies zunächst ein verfassungsrechtliches Argument gegen deren Beibehaltung
45 § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz (LuftSiG), der die Streitkräfte ermächtigt, Luftfahrzeuge, die als Tatwaffe gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden sollen, abzuschießen, ist mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig. (BVerfG, 1 BvR 357/ 05 vom 15.2.2006). Vgl. dazu u. a. T. Hartleb, „Der neue § 14 III LuftSiG und das Grundrecht auf Leben“ NJW 2005, 1397 ff.; M. Köhler, „Die objektive Zurechung der Gefahr als Voraussetzung der Eingriffsbefugnis im Defensivnotstand“ (2006), 257 ff.; M. Pawlik, „§ 14 III des Luftsicherheitsgesetzes – ein Tabubruch?“ JZ 2004, 1045 ff. 46 Vgl. J. von Bernstorff, „Die Wesensgehalte der Grundrechte und das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit unter dem Grundgesetz“ (2009), S. 47. Er schreibt weiter: „Sobald eine große Anzahl von Personen durch ein mögliches Attentat gefährdet ist, erzeugen quantitative Erwägungen im Abwägungsprozess eine hohe suggestive Kraft.“ (S. 48). Siehe dazu auch die schon erwähnten Überlegungen von O. Lepsius, „Sicherheit und Freiheit – ein zunehmend asymmetrisches Verhältnis“ (2010). 47 Siehe ebenda, S. 48. 48 Ebenda, S. 49.
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und nicht für ein Übergehen des auf Abwägungsresistenz hindeutenden Wortlautes der Norm („in keinem Fall darf . . . angetastet werden.“).“ 49
Insofern sei es notwendig, die „einzelnen grundrechtlichen Wesensgehalte als abwägungsresistente Gewährleistungsgehalte wieder stärker verfassungsrechtlich zu thematisieren.“ 50 Dies müsse so geschehen, dass Situationen, in denen Achtungspflichten des Staates gegenüber dem Eingriffsopfer mit Schutzpflichten gegenüber anderen Bürgern kollidieren, nicht mittels Güterabwägungen, sondern mittels einer klaren Vorrangregel für das Verhältnis von Achtungspflichten und Schutzpflichten bewältigt werden.51 v. Bernstorff benennt mehrere gute Gründe für einen Vorrang der Achtungspflicht, der dazu führen würde, dass sich kollidierende grundrechtliche Schutzpflichten in keinem Fall gegenüber der abwehrrechtlichen Grundrechtssubstanz durchsetzen könnten: Erstens stehe die Achtungspflicht als „Ächtung bestimmten staatlichen Verhaltens“ dem Staat näher als eine Schutzpflicht, bei der in der Regel eine dritte Person hinzutrete, von der die Gefährdungen erst ausgehen. Bei ersterer gehe es in der Regel um bloßes staatliches Unterlassen: Der Staat kann die Grundrechtsverletzung verhindern, indem er untätig bleibt. Bei der Schutzpflicht bestehe dagegen zwar eine staatliche Pflicht, der vom Dritten ausgehenden Gefährdung entgegenzuwirken, aber das Verhältnis zwischen Staat und Grundrechtsträger werde durch „den Störer mediatisiert“, der dementsprechend die eigentliche Verantwortung für die Gefährdung trage. Der Staat mache sich bei Unterlassen einer dieser Schutzpflicht entsprechenden Handlung keiner direkten, sondern höchstens einer indirekten, von ihm nicht ausgehenden Grundrechtsverletzung schuldig.52 Als zweites, aber zentrales Argument für den Vorrang der Achtungspflicht führt v. Bernstorff den Begriff der Unantastbarkeit selbst an. Im Grundgesetz werde mit Blick auf die Wesensgehalte der Grundrechte und die Menschenwürde dieser klare Begriff verwandt, um bei staatlichen Eingriffen in diesen Bereich eine Abwägung mit anderen Verfassungsgütern kategorisch auszuschließen – eine ergebnisoffene Abwägung schließe dagegen die „Unantastbarkeit“ aus. Der Begriff des „Antastens“ beziehe sich im Sinne der klassischen Freiheitskonzeption der Grundrechte auf Eingriffe des Staates in die Rechte der Bürger und nicht vorrangig auf horizontale Freiheitskonflikte zwischen Bürgern. Dass sich daraus ein Vorrang der Achtungspflicht bei besonders intensiven Grundrechtseingriffen ergebe, habe auch das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Rasterfahndung deutlich gemacht: 49
Ebenda, S. 52. Ebenda, S. 53. In eine ähnliche Richtung argumentiert auch O. Lepsius, „Sicherheit und Freiheit – ein zunehmend asymmetrisches Verhältnis“ (2010), S. 23 (43 ff.). 51 J. von Bernstorff, „Die Wesensgehalte der Grundrechte und das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit unter dem Grundgesetz“ (2009), S. 53. 52 Ebenda, S. 53, 54. 50
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„Die Grundrechte sind dazu bestimmt, die Freiheitssphäre des Einzelnen vor Eingriffen der öffentlichen Gewalt zu sichern; sie sind Abwehrrechte des Bürgers gegen den Staat (. . .). Die Funktion der Grundrechte als objektive Prinzipien und der sich daraus ergebenen Schutzpflichten (. . .) besteht in der prinzipiellen Verstärkung ihrer Geltungskraft, hat jedoch ihre Wurzel in dieser Bedeutung (. . .).“ 53
Drittens weist v. Bernstorff zu Recht darauf hin, dass „die alternative Annahme eines unbedingten Vorrangs der Schutzpflicht dem Staat praktisch unbegrenzte rechtliche Eingriffsmöglichkeiten in die Freiheit seiner Bürger verschaffen würde, eine Folge, die dem Regelungsziel von Art. 19 Abs. 2 GG sicher nicht entsprechen dürfte.“ 54 Mit seinem Ansatz geht es v. Bernstorff um die „Neuerschließung der freiheitlichen Minimalgehalte der einzelnen Grundrechte“ 55. Er nennt auch einzelne Anwendungsbeispiele, bei denen sich durch die Besinnung auf den Wesensgehalt der entsprechenden Grundrechte feste Ergebnisse erzielen lassen: Beim Lebensgrundrecht z. B. das Verbot der staatlichen Tötung von Unbeteiligten:56 Denn würde der Staat völlig unschuldige Bürger willentlich töten, so wäre die freiheitliche Substanz des Lebensgrundrechts für diese Personen vollständig negiert; bei Art. 4 GG müssten zumindest Eingriffe in das forum internum sowie das Beichtgeheimnis zum Wesensgehalt gerechnet werden; beim Recht auf persönliche Freiheit aus Art. 2 GG z. B. das Verbot lebenslanger Haft ohne Möglichkeit, die Freiheit wieder zu erlangen. Dieser Absage an die vorherrschende Abwägungstendenz im Verfassungsrecht zu Gunsten einer auf den Kerngehalt der Grundrechte zurückgeführten Überprüfung staatlicher Eingriffsmaßnahmen ist zuzustimmen.57 Der Gedanke, dass die Freiheit in ihrer Substanz vom Staat nicht angegriffen werden darf, ist auch nach der rechtsphilosophischen Grundlegung – insbesondere seit Kants und Hegels Rechtsbegründung aus Freiheit – unhintergehbar. Eine bloße Folgenabwägung im Falle einer Kollision kann diese Dimension des unantastbaren, absoluten Freiheitskerns nicht zutreffend erfassen. Deshalb ist es auch richtig, wenn v. Bernstorff schreibt:
53 BVerfGE 115, 320 (358). Auch zitiert bei v. Bernstorff, „Die Wesensgehalte der Grundrechte und das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit unter dem Grundgesetz“ (2009), S. 54. 54 Ebenda, S. 54. 55 Ebenda, S. 55. 56 Vgl. dazu auch H.-J. Papier, „Wie der Staat Freiheit und Sicherheit vereint“ (Rede auf der Sicherheitskonferenz von Tutzing) WELT-ONLINE, 1. Juni 2008 (Ausdruck S. 3). 57 Ähnlich, mit zusätzlichen Überlegungen zum Verhältnismäßigkeitsprinzip H. Bielefeldt, Gefahrenabwehr im demokratischen Rechtsstaat (2008), S. 12 ff. Kritisch auch M. Köhler, „Das angeborene Recht ist nur ein einziges . . . Menschenrecht, Grundrechtsverhältnisse und Rechtssystem“ (1994), S. 61 (77 ff.).
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„Selbst wenn z. B. in Extremsituationen wie den bekannten Folterszenarien höherrangige moralische oder rechtspolitische Interessen vorstellbar sind, muss der Grundund Menschenrechtsdiskurs an der Metapher der Einschränkbarkeit der abwehrrechtlichen Substanz festhalten. Eine Abwägung von Folgen kann zwar stattfinden, sie wird aber von außen begrenzt durch unverfügbare Abwehrpositionen des Individuums gegenüber dem Staat. Grundrechte haben insofern im Kern eine antikonsequentialistische Stoßrichtung. Die Formulierung von Art. 19 Abs. 2 GG bringt dies besonders klar zum Ausdruck. Über individuelle Freiheitssphären kann von Seiten des Staates nicht unbegrenzt verfügt werden, auch wenn vermeintlich höherrangige Gemeinschaftsinteressen dies vielleicht im Einzelfall nahelegen. Das Verfassungsrecht muss diesen subjektiven Achtungsanspruch der Grundrechte aufrechterhalten, sonst drohen Individualrechte zu einer leeren Hülle zu werden, ohne emanzipative Kraft und Bestand gegenüber dem Zugriff der Staatsgewalten.“ 58
Der Kern des Problems liegt in dem eingangs dieses Abschnitts vorgestellten „Werte“-Denken, innerhalb dessen Verfassungswerte als grundsätzlich gleichberechtigt nebeneinander gestellt und dann im Konfliktfall nach einem unbenannten und unbenennbaren Prinzip gegeneinander abgewogen werden. Dem ist ein Verständnis einer staatlichen Rechtsverfassung entgegenzuhalten, die sich aus der Freiheit des Subjekts herleitet und legitimiert. Die Grundrechte sind dann nicht einzelne, unverbundene „Werte“, sondern Ausformungen persönlicher Freiheit, die mit der einzelnen Person ursprünglich – schon aufgrund ihrer Vernunftbegabung – verbunden sind, die geschützt und befördert, also durch staatliche Institutionen in der Lebensrealität gewährleistet werden müssen. Der Grundrechtsteil der Verfassung enthält damit nicht eine Aneinanderreihung subjektiver, unverbundener Abwehrrechte und objektiver Verfassungsprinzipien, sondern ist die basale und ausdifferenzierte Kodifikation subjektiver Freiheit (als Menschenrecht)59 innerhalb einer Rechtsgemeinschaft mit anderen. Das Bedeutsame dabei ist, dass diese Kodifikation sich der gebündelten Vernunft der Rechtssubjekte selbst verdankt, sie also nicht als ihnen von außen vorgegeben, sondern nur als von ihnen selbst begründet richtig verstanden ist. Dem zugrunde liegt das Rechtsprinzip freier Selbstbestimmung.60 Wird die Verfassung in diesem Sinne verstanden als in der Freiheit des einzelnen Subjekts gegründet und als vom einzelnen freien Subjekt mitgetragen, dann muss staatliches Handeln – und dazu gehören auch staatliche Sicherheitsmaßnahmen – stets Freiheitssubstanz erhalten, also auch und gerade mit der Freiheit des vom Staatshandeln
58 v. Bernstorff, „Die Wesensgehalte der Grundrechte und das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit unter dem Grundgesetz“ (2009), S. 57 (Fußnote weggelassen, Hervorhebungen der Verf.). 59 Vgl. dazu M. Köhler, „Das angeborene Recht ist nur ein einziges . . . Menschenrecht, Grundrechtsverhältnisse und Rechtssystem“ (1994). 60 Vgl. M. Köhler, „Begriff der freiheitlichen Rechtsverfassung“ (1995), S. 393.
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Betroffenen im Einklang stehen.61 Dies lässt sich für Rechtszwangsmaßnahmen und für die Rechtsstrafe begründen,62 nicht aber für Maßnahmen, die mit totaler Entrechtung, dem Verlust der Subjektstellung oder des Lebens einhergehen: Eine rechtliche Befugnis zur Entrechtung des freien Subjekts lässt sich ebenso wenig begründen wie eine rechtliche Befugnis, den Anderen zum Objekt zu machen oder ihm das Lebensrecht abzusprechen. Es zeigt sich hier die Übereinstimmung mit dem oben geschilderten grundrechtsdogmatischen Ansatz, der sich auf den Kernbestand der Grundrechte besinnen und von ihm abgeleitet feste Grenzen rechtsstaatlichen Handelns bestimmen will: Die Grundrechte bilden eine Grenze für staatliches Handeln jedenfalls immer dann, wenn ihre Substanz droht, ausgehöhlt zu werden.
B. Substantielle Freiheitseinbußen als Preis der Sicherheit? Dies leitet über zu dem sehr kontrovers diskutierten verfassungstheoretischen Verständnis Otto Depenheuers von staatlichen Sicherheitsmaßnahmen, die mit substantiellen Freiheitseinbußen einhergehen, aber um der „staatlichen Selbstbehauptung“ willen zulässig und praktisch unverzichtbar sein sollen.63 61 M. Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung (1983), S. 35: „Rechtszwang tritt aus bloßer Heteronomie dadurch heraus, dass er in jedem Einzelfall als Konsequenz der Vernunftentscheidung für wechselseitig gesicherte äußere Freiheitssphären gegenüber freiheitsverletzenden Verhaltensweisen des Rechtssubjekts begreiflich sein muss.“ 62 Vgl. zur Begründung von Rechtszwang schon hier K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 62–70 und 94–104; M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“ (1992), S. 93 ff. Zur Begründung der Rechtsstrafe siehe nochmals K. Gierhake, a. a. O. S. 104–146 (m.w. N.); ferner M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), S. 11 ff.; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 37; ders., Der Begriff der Strafe (1986). Siehe zum Ganzen auch den 5. Teil der vorliegenden Arbeit. 63 Vgl. zum staatstheoretischen Hintergrund Depenheuers Kommentierung des Art. 87a GG, in: Maunz/Dürig, GG, 53. Ergänzungslieferung (2008), Rn. 1–11 (insbesondere Rn. 3): „Bestand und Sicherheit des Staates sind insoweit – sachlich wie logisch – unabdingbare Vorgabe einer jeden Verfassungsgebung. Die Staatsaufgabe ,Sicherheit‘ ist genuine Staatsaufgabe und damit Verfassungsvoraussetzung. Der Staat kann sich dieser Aufgabe nicht versagen, ohne seinen Herrschaftsanspruch und seine Garantenstellung für die freiheitliche Verfassungsform in Frage zu stellen. Die Staatsaufgabe ,Sicherheit‘ steht nicht zur Disposition des Verfassungsgebers, sondern ist ihm nur zur praktischen Ausformung zugewiesen. Insbesondere steht die staatliche Sicherheitsaufgabe – logisch wie empirisch betrachtet – nicht gleichrangig zu verfassungsrechtlich konstituierten Instituten: es kann zwar Sicherheit ohne Freiheit geben, nicht aber Freiheit ohne Sicherheit. Verfassungsdogmatisch aber muss die staatliche Sicherheitsgewähr mit den grundrechtlichen Freiheitsversprechen in eine angemessene Balance gebracht werden. Ein zwingender Primat grundrechtlicher Freiheit im Verhältnis zur staatlichen Sicherheitsverantwortung (,in dubio pro libertate‘) besteht jedenfalls nicht.“ (Fußnoten weggelassen).
B. Substantielle Freiheitseinbußen als Preis der Sicherheit?
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I. „Selbstbehauptung des Rechtsstaates“ durch „Feindrecht“ (Depenheuer) Depenheuer hat sich in seiner 2007 erstmals erschienenen Abhandlung zu Reaktionsmöglichkeiten und -notwendigkeiten des Rechtsstaates auf terroristische Bedrohungen das Ziel gesetzt, „mögliche Lasten der Selbstbehauptung des Rechtsstaates in ihrer Notwendigkeit, in ihrer Legitimation, aber auch in ihren Grenzen aufzuzeigen“.64 Dem liegt als Ausgangsgedanke zugrunde, dass es im „hereinbrechenden Zeitalter des Terrorismus“, im „Terrorkrieg“, für Politik und Bürgerschaft eines freiheitlichen Rechtsstaates zwingend sei, sich selbst darüber zu vergewissern, „ob und zu welchem Preis sie ihn gegebenenfalls zu verteidigen bereit sind“ (S. 9). Für eine solche Verteidigung gegen die terroristische Herausforderung reicht nach Depenheuer das „normale“, geltende Instrumentarium des Rechtsstaates nicht hin, da der Krieg gegen den Terror rechtlich von ungleichen Gegnern geführt werde: Der Staat sei reguläre Macht, zu rechtsgebundenem Handeln verpflichtet, während „der Terror“ nicht einmal nach dem Recht frage, weil er sich das Recht gewaltsam nehme (S. 21). Das Grundgesetz sei für den terroristischen Ernstfall nicht gerüstet, denn die asymmetrische Kriegsführung des internationalen Terrorismus unterlaufe das System des Sicherheitsverfassungsrechts (S. 22, 23). Deswegen müsse (neu) erwogen werden, welche Handlungsoptionen der freiheitliche Rechtsstaat, der mit der Gefahr seiner terroristischen Negation konfrontiert ist, zu seiner Sicherung habe. Depenheuer setzt an, indem er das Verhältnis von Freiheit, Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit bestimmt: „Allen freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Drapierungen der staatlichen Lebensform zum Trotz, die sich in Europa seit der Reformation in zähem Ringen gegen vielfältigste Widerstände nach und nach ausgebildet haben, bildet die Fähigkeit und die Bereitschaft, Frieden nach innen und Sicherheit nach außen effektiv zu garantieren, das Fundament staatlich organisierter politischer Ordnung. Ohne Sicherheit keine Staatlichkeit und ohne Staatlichkeit keine freiheitlich-demokratische Rechtsstaatlichkeit.“ 65
Von diesem Zusammenhang ausgehend formuliert er die Kernfragen, die für eine effektive Garantie der Sicherheit des Rechtsstaates bei drohendem Terror seines Erachtens zu beantworten sind: 64 O. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates (2008), S. 10. Seitenzahlen im folgenden Text beziehen sich auf dieses Buch. 65 Ebenda, S. 7. Vgl. dazu auch Depenheuer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87a, Rn. 1– 11. Dort heißt es z. B.: „Das Strukturprinzip aller politischen Herrschaft lautet: Sicherheit gegen Gehorsam, Schutz gegen treue Dienste. (. . .) In allen Fällen steht und fällt politische Herrschaft mit der beglaubigten Fähigkeit und Bereitschaft, den Sicherheitsanspruch der Schutzbefohlenen faktisch einzulösen. In dieser Logik sind sich die Architekten der politischen Gemeinwesen – vom Lehensverband bis zum modernen Staat – einig.“ (Rn. 1, Fn. weggelassen).
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„Will sich der freiheitliche Rechtsstaat nicht dem totalitären Anspruch seiner terroristischen Negation unterwerfen, muss er sich dieser Gefahr erwehren, gerät dadurch freilich in ein Dilemma: muß er diejenigen, die seine Werte und seine freiheitliche Rechtsstaatlichkeit grundsätzlich mißachten und bekämpfen, teilhaben lassen an eben diesen rechtlichen Gewährleistungen? Kann er sich gegen die gewaltsamen Feinde des Rechts überhaupt erfolgreich behaupten, ohne sein rechtsstaatliches Selbstverständnis zu verraten? Muß er Feinde behandeln wie gewöhnliche Verbrecher, ihre terroristischen Handlungen präventiv nach der gleichen Maßgabe polizeilicher Gefahrenabwehr und repressiv nach der gleichen Maßgabe des strafrechtlichen Sanktionsrechts bekämpfen? Wäre ein formelles Feindrecht denkbar, normativ geboten oder steht dem das Selbstverständnis des Rechtsstaates a priori entgegen?“ 66
Diesen Fragen widmet sich Depenheuer, indem er – zunächst das durch den internationalen Terrorismus möglich erscheinende Szenario eines „Ernstfalles“ vorstellt, bei dem die staatliche Ordnung als solche in Gefahr ist – dazu unter 1. –; – damit zusammenhängend zweitens deutlich macht, wer „Feind“ des Rechtsstaates ist und welche Konsequenzen an die Kategorisierung als „Feind“ zu knüpfen sind – dazu unter 2. – und – drittens aufführt, welche Opfer die Bürger eines Rechtsstaats zu seiner Verteidigung im äußersten Fall zu bringen bereit sein müssen – dazu unter 3. –. 1. „Ernstfall“ versus „Normallage“ Der „Ernstfall“ wird von ihm zunächst abgegrenzt von der „Normallage“ (S. 36), wobei eine Nähe zur Vorstellung Carl Schmitts vom Normal- und Ausnahmezustand deutlich wird: Die Normallage ist die, in der das Recht gilt und gelten kann, der Ausnahmezustand ist der Zustand, in dem das Recht suspendiert ist.67 Beides seien „Aggregatzustände staatlicher Existenzweise“ (Depenheuer, S. 37). Die Normalität des Rechts mache die Sphäre des „Bürgerrechts“ aus, innerhalb derer sich auf der „Grundlage einer im wesentlichen wirksamen Rechtsordnung“ eine „Normalität der Lebensverhältnisse etablieren“ kann, „in der jeder Bürger die Handlungen seiner Mitbürger erwarten und entsprechendes Vertrauen in die Stabilität seiner Erwartungen ausbilden kann.“ (S. 37, 38). Dagegen handle es sich beim Ernstfall des Rechts (= „Ausnahmerecht“) um Situationen, in denen die Rechtsordnung prinzipiell in ihrer Legitimation abgelehnt, die staatliche Garantiemacht offen in Frage gestellt, das rechtlich verfasste Gemeinwesen bewaffnet bekämpft wird (S. 39). Eine solche Situation sei nicht mehr normierbar und an die Stelle positivierter Normen müsse dann die Souveränität treten.68 66 67 68
O. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates (2008), S. 58, 59. Vgl. zu Carl Schmitt S. 140 ff. der vorliegenden Arbeit. Vgl. dazu ebenfalls schon oben bei Carl Schmitt, S. 140 ff.
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Depenheuer unterscheidet dementsprechend zwei verschiedene Arten von „Gefährdungslagen“ des Staates: Einerseits Gefährdungen in der Normallage (die innerhalb des „Bürgerrechts“, „systemimmanent“, durch die rechtsstaatlichen Maßnahmen der Gefahrenabwehr und des Strafrechts zu bewältigen seien) und Gefährdungen der Normallage, bei denen der Mensch mit der „Gegenwelt des Normativen“ konfrontiert werde, nämlich mit nackter Gewalt (S. 41), deren Bewältigung nur in einer faktischen, nicht aber rechtlichen Selbstbehauptung des Staates liegen könne, also unabhängig von jeglichen Bindungen durch das Recht. Depenheuer sieht nun in der modernen Form des islamistischen Terrors eine solche „Gegenwelt des Normativen“, auf die nicht innerhalb des Bürgerrechts reagiert werden könne, sondern nur durch ein sog. „Feindrecht“.69 2. „Feindrecht“ Um diejenigen zu bezeichnen, denen gegenüber es zur Anwendung des „Feindrechts“ kommen soll, unterscheidet Depenheuer (wie Carl Schmitt vor ihm) zwischen „Freund“ und „Feind“. „Freunde“ seien die Bürger des Staates, die „seine Rechtsordnung achten, ihn prinzipiell als legitim anerkennen, loyal und solidarisch die Lasten des Gemeinwesens tragen.“ (S. 55) „Feind“ dagegen ist nach Depenheuer, wer „die politische Existenzform der verfassten Gemeinschaft aktiv negiert, die Verfassung des Staates gewaltsam verändern will, die Idee des freiheitlich-rechtsstaatlichen Gemeinwesens (. . .) prinzipiell ablehnt und gewaltsam zu zerstören trachtet.“ (S. 56, 57) Im Umgang mit solchen „Feinden“ gebe es grundsätzlich zwei Möglichkeiten: Entweder sie werden „trotz allem in der Rechtsordnung gehalten“ oder sie werden „außerhalb derselben gestellt und einem speziellen Feindrecht unterworfen“ 70 (S. 60). „Verfassungstheoretisch“ sei dann der Feind nicht Rechtsperson, sondern Gefahr, die um der Rechtsgeltung willen bekämpft werden müsse. Es gebe verfassungstheoretisch keine Basis, auf deren Grundlage der Staat seiner „terroristischen Negation in Person“ etwas schulde.71 Depenheuer meint sogar, dass in der Exklusion des Feindes aus dem Recht eine Anerkennung seiner Würde liege: „(. . .) der Terrorist wird als Überzeugungstäter ernst genommen und 69 Siehe dazu auch Depenheuer, in: Maunz/Dürig, GG, Art 87a, Rn. 25: „Normallage und Ausnahmesituation bilden vor dem Hintergrund der terroristischen Gefährdung also nicht zwei Aggregatzustände, die – wie Normal- und Notstandslage – einander zeitlich ablösen, sondern zwei gleichzeitig geltende, stets je nach konkreter Gefährdungslage abrufbare Handlungsmöglichkeiten des Staates.“ 70 Als Beispiel für eine solche Feindbehandlung nennt Depenheuer die Inhaftierung von Gefangenen in Guantanamo: Dort würden die Gefangenen rechtlos gestellt, solange von ihnen eine Gefahr ausgehe, und ihnen werde nicht der Status von Rechtssubjekten anerkannt, sondern nur ihr nacktes Leben erhalten (S. 63). 71 Vgl. zu Depenheuers Verfassungsverständnis ders., „Funktionen der Verfassung“ (2010), § 16, S. 537 ff.
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gerade deswegen als Gefahr für die staatlich verfasste Gemeinschaft bekämpft.“ (S. 63). Mit der Exklusion des Feindes aus dem Recht ist auch der Umgang mit ihm kein rechtlicher mehr; „Feinde bestraft man nicht. Feinde ehrt und vernichtet man.“ 72 Depenheuer hält einen solchen Umgang für „verfassungstheoretisch möglich“ (S. 64) und der terroristischen Gefahr angemessen („rechtsstaatliche Zivilisation gegen die Barbarei des Terrorismus“) – mit der einzigen Einschränkung, dass zumindest für die Feststellung des Feindstatus ein rechtliches Verfahren zur Verfügung stehen muss, indem sich der vermeintliche Feind gegen die Kategorisierung als solcher wehren kann. Der Staat müsse ihm das subjektives Recht zugestehen, im Rahmen eines „Feindfeststellungsverfahrens“ (Terminus von K. G.) seinen Status entweder als „bürgerlicher Verbrecher“ oder als „feindlicher Terrorist“ klären zu lassen (S. 64, 65). Wie sich ein solches „Feindrecht“ im Verfassungsstaat konkretisieren ließe, erläutert Depenheuer im Anschluss. Im materiellen Strafrecht gebe es schon jetzt Ansätze eines „Feindstrafrechts“, das sich dadurch auszeichne, dass „strafbarkeitsbegründende Tatbestände weit in den Bereich der Planung, Vorbereitung und Organisation vorverlagert werden“ (S. 69), um auf terroristische Bedrohungslagen besser reagieren zu können.73 Im Gefahrenabwehrrecht könnten den schon bestehenden Maßnahmen (wie z. B. den Sicherheitschecks an Flughäfen, den verstärkten Abhörmaßnahmen, der Kontaktsperre, der Rasterfahndung, der Computerausspähung und den Videoüberwachungen) beispielsweise eine präventive Sicherungsverwahrung, die Internierung potentiell gefährlicher Personen sowie eine „rechtsstaatlich domestizierte“ Folter an die Seite gestellt werden, die auch allesamt bei der verfassungsrechtlichen Abwägung von Sicherheitsbedürfnissen und Freiheitsansprüchen durchaus die Oberhand gewinnen könnten (S. 72). 3. „Bürgeropfer“ In dem mit „Das Bürgeropfer“ überschriebenen Kapitel geht Depenheuer schließlich der Frage nach, ob der „freiheitliche Rechtsstaat“ eine Opferbereitschaft seiner Bürger (bis hin zum Opfer ihres Lebens) als deren Loyalitätspflicht erwarten, einfordern und im Grenzfall selbst vollziehen darf (S. 76). Depenheuer bejaht das unter Berufung auf eine Theorie des Staates, der von ihm verstanden 72 Depenheuer (S. 64) zitiert hier G. Roellecke, „Der Rechtsstaat im Kampf gegen den Terror“ JZ 2006, 265, der die Aussage als „antike Klugheitsregel“ bezeichnet. 73 Vgl. zum sog. „Feindstrafrecht“ die Auseinandersetzung mit G. Jakobs im 4. und 5. Teil dieser Arbeit (m.w. N.). Einen Überblick zur Problematik und eine Zusammenstellung der in- und ausländischen Auseinandersetzung mit dem Theorem des „Feindstrafrechts“ bieten L. Greco, Feindstrafrecht (2010) und G. L. Morguet, Feindstrafrecht – eine kritische Analyse (2009); vgl. zu letzterer auch B. Zabels Rezension, in: GA 2009, S. 670 ff.
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wird als „ursprünglicher, den Individuen unverfügbar vorausgehender und konkreter Solidarverband“ (S. 90), der schon dann mit dem Freiheitsanspruch des Individuums kompatibel und gerechtfertigt sei, wenn „die Bürger tatsächlich oder rechtlich die Gelegenheit haben, sich für oder gegen den konkreten Staat und seine politische Ordnung zu entscheiden, d. h. letztlich im Staat zu bleiben oder zu emigrieren.“ (S. 89)74 Nachdem sie sich aber einmal für den Staat entschieden hätten, könnten sie sich ihm nicht nach Belieben entziehen; sie seien ihm dann für die Zukunft unterworfen. Depenheuer nennt dies ein „Legitimationskonzept des ,Sich-auf-den-konkreten-Staat-Einlassens‘ “, das als das „Produkt autonomen und freien Konsenses gedeutet werden (könne), der eine Selbstverpflichtung zum Schutze dieses Staates zur Folge hat.“ (S. 90) Diesem Konzept gemäß sei das Verhältnis zwischen Bürgern und Staat nicht primär durch Grundrechte der Bürger geprägt, sondern durch Grundpflichten – allen voran durch die Pflicht, die Lasten des Gemeinwesens solidarisch mit allen anderen zu tragen und zu teilen (S. 90, 91). In einem „liberalen Rechtsstaat“ seien die Pflichten des Bürgers allerdings auf das „unabdingbare Maß“ zu reduzieren und „Pflichten bedürften zur Rechtfertigung vor dem Freiheitsanspruch des Einzelnen legitimer Gründe des Gemeinwohls und unterliegen den Bindungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips“ (S. 93). In der Situation elementarer Bedrohung des Gemeinwesens werde aber die solidarische Struktur der staatlichen Gemeinschaft offenbar und ein Bürgeropfer könne verlangt werden (S. 95). Depenheuer begründet dies wie folgt: „Ein freiheitlich-demokratischer Verfassungsstaat, der bei der ersten direkten und terroristischen Infragestellung seiner zentralen Grundwerte sich unter Berufung auf die Menschenwürde seiner Bürger davonstiehlt oder die Opfer seiner Bürger nicht öffentlich zu würdigen weiß, würde aus historischer Perspektive nur als blamable, kaum erinnerungswürdige Idee überleben. Ein historischer Wert kommt einer Sache erst dann zu, wenn es Menschen gibt, die dafür in den Tod gehen, und Politiker, die dieses Opfer positiv würdigen. (. . .) Die öffentliche Anerkennung und Würdigung gibt dem Bürgeropfer seine spezifische Würde und setzt ein zeitloses Denkmal. Das Bürgeropfer verbürgt nicht nur den Wert der Verfassung, für die es starb, es gibt auch dem Leben eine die individuelle Perspektive transzendierende Dimension. Indem der Einzelne durch sein Opfer für die ihn tragende Gemeinschaft den Sinn seiner Existenz erfährt, verbürgt er mit seinem Leben den Sinn und den Wert eben dieser Gemeinschaft: denn ,alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht‘. Indem das Bürgeropfer den Verfassungspatriotismus mit seinem Leben verbürgt, das Opfer dadurch eine objektive Bedeutung seines Seins gewinnt, leistet es auch und nicht zuletzt einen Beitrag für die Integration und Stärkung des Gemeinwesens (. . .).“ (S. 103, 104, Zitat von Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I (1878))
Depenheuer schließt seine Abhandlung dann mit der Behauptung, dass „die Selbstbehauptung des Rechtsstaates und damit die Zukunftsfähigkeit freiheit74 Siehe zum Versuch einer staatsphilosophischen Begründung O. Depenheuer, „Das Bürgeropfer im Rechtsstaat“ (2007), S. 43 ff.
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Teil 3: Freiheits- und Sicherheitsgewährleistung im Verfassungsstaat
licher Verfassungsstaatlichkeit im Zeitalter des Terrorismus“ davon abhänge, dass das Bürgeropfer im Sinne seiner Ausführungen positiv gerechtfertigt und öffentlich anerkannt wird (S. 104).
II. Kritik Ein Großteil der Kritik an Depenheuers Idee von der „Selbstbehauptung des Staates“ ist schon mit der Fundamentalkritik einerseits am absolutistischen Staat des Thomas Hobbes75, andererseits am bloß autoritären Staatsbild Carl Schmitts76 geleistet.77 Dass Depenheuer für eine konsequente und substantiell abgesicherte Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit im Verfassungsstaat keine Lösung anbietet, verwundert insofern nicht, haben dies doch seine gedanklichen Gewährsleute (also: Hobbes als Begründer der Idee vom Sicherheitsstaat und Schmitt als Theoretiker des Normal- und Ausnahmezustands sowie der Freund-Feind-Unterscheidung) ebenfalls nicht leisten können. Depenheuer fügt dem schon Gedachten in den Fundamentalfragen auch gar nichts Neues hinzu: Bei ihm finden sich die (vorkritischen) Denkmuster des autoritären Staates in reinster Form, sie werden nur auf die vermeintlich neuen Herausforderungen durch den islamistischen Terror bezogen. Durch diesen Bezug allerdings erhält die Vorstellung Depenheuers eine gewisse Attraktion: Die außerrechtliche Bekämpfung der „Feinde“ scheint ein verblüffend einfaches Modell des Umgangs mit Gegnern des Rechtsstaats zu sein und die Vorstellung von der heldenhaften Aufopferung78 der Bürger für den Staat lässt jede Frage nach der Berechtigung des Staates geradezu als kleingeistig erscheinen. Die (angeblich) „verfassungstheoretisch möglichen“ Handlungsoptionen des Staates werden dadurch in einer Weise erweitert, dass kaum noch Sicherheitsmaßnahmen denkbar sind, die unberechtigt erscheinen: Wer Feind ist, kann sich auf das Recht nicht mehr berufen, wer nicht Feind ist, ist Bürger und damit solidaritätspflichtig bis hin zur finalen Aufopferungspflicht für den Staat. Dass diese Ausweitung der staatlichen Befugnisse gestützt wird durch ein gedankliches Konstrukt („Theorie“ mag man es wegen fehlender innerer Konsistenz und 75
Vgl. dazu oben S. 63 ff. Vgl. dazu oben S. 140 ff. Siehe grundlegend auch St. Stübinger, Der Feindbegriff Carl Schmitts im Antiterrorkrieg“ Ancilla Iuris 2008, S. 73 ff. (zu Depenheuer insbesondere S. 93 u. 94). 77 Hinzuzunehmen ist außerdem die Kritik an den primär sicherheitsorientierten Verfassungstheorien auf den S. 158 ff. 78 Die Vortrefflichkeit seiner „heldenhaften Aufopferung“ wird man im Übrigen auch dem islamistischen Selbstmordattentäter nicht absprechen können. Nach der Argumentation Depenheuers zeigt sich gerade in diesem Opfer der historische Wert der Märtyrertat und der ihr zugrunde liegenden Idee: „Ein historischer Wert kommt einer Sache erst dann zu, wenn es Menschen gibt, die dafür in den Tod gehen, (. . .). (. . .), denn ,alle Dinge, für welche wir Opfer gebracht haben, sind im Recht‘.“ 76
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falscher Grundannahmen nicht nennen)79, sorgt im ersten Zugang für das Vertrauen in ihre staatsrechtliche Legitimation.80 Gesteigert wird dieses Vertrauen erstens noch dadurch, dass Depenheuer stets beteuert, nur die Handlungsoptionen eines „freiheitlichen Rechtsstaates“ auszuloten und zweitens dadurch, dass seine Bemühungen letztlich gerade dem Erhalt dieses Rechtsstaates dienen sollen. Das Vertrauen erweist sich jedoch als unberechtigt, weil der Schein der Legitimation trügt. Schon im Ansatz wird deutlich, dass Freiheit und Rechtsstaatlichkeit für den Staat Depenheuers nur eine sekundäre Bedeutung haben können: Immerhin schreibt er selbst, dass es sich bei beidem bloß um „Drapierungen“ der staatlichen Lebensform81 handelt. Eine Draperie ist aber nicht mehr als ein dekorativer Behang, eine Verzierung. Die verzierte Substanz ist bei Depenheuer der Staat selbst. Es geht ihm also weniger um den Erhalt von Freiheit und Rechtsstaatlichkeit als um den Erhalt des Staates und seiner Macht – eben um seine Selbstbehauptung. Wird dies erst einmal zugestanden, so ist der Weg zur Exklusion und Entrechtung Einzelner, zur Schaffung eines Ausnahme„rechts“ und zur Einforderung von Bürgeropfern bereits eingeschlagen und jede Kritik setzt zu spät an. Das wahre Problem liegt ganz offenkundig darin, dass Depenheuer weder einen tragenden Freiheitsbegriff noch einen davon abgeleiteten, substantiellen Rechts- und Staatsbegriff hat (und innerhalb seines theoretischen Konstrukts auch gar nicht braucht). Fehlen diese Momente, so kann über die Idee der „Wehrhaftigkeit“ alles gerechtfertigt werden. Denn dass der Staat als Machtstruktur sich selbst zu erhalten hat, reicht dann als Begründung für jede effektive Machterhaltungsmaßnahme aus, ganz unabhängig davon, ob sie als „rechtsstaatlich“ zu qualifizieren ist oder nicht, oder ob sie dem agierenden Staat als Rechtsstaat oder als despotischem Staat die Macht erhalten soll. Zwar geht es Depenheuer ausdrücklich nur um „Handlungsoptionen eines freiheitlichen Rechtsstaats“ im Kampf gegen eine „terroristische Negation“; er scheint also im Blick zu behalten, für welche Einheit er Methoden der „Selbstbehauptung“ sucht. Dabei übersieht er aber erstens, dass durch die Verwendung des Begriffs „freiheitlicher Rechtsstaat“ schon substantielle Anforderungen an und Befugnisgrenzen für die gesuchten Handlungsoptionen postuliert sind; und zweitens, dass ein wirklicher Rechtsstaat sich seinerseits nur durch rechtsstaatliches Handeln erweisen und erhalten kann. Treffend wird dies von Böckenförde formuliert: 79 Stübinger, „Der Feindbegriff Carl Schmitts im Antiterrorkrieg“ (2008), S. 93 spricht anschaulich von einem „Theoriekompott“ aus den herabfallenden Früchten des Begriffsbaums Carl Schmitts. 80 Die damit verbundene Argumentationshilfe bei der Einführung neuer Sicherheitsmaßnahmen bzw. -gesetze ist offenkundig. Vgl. zum staatstheoretischen Hintergrund Depenheuer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87a, Rn. 1 und 2. 81 O. Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates (2008), S. 7.
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Teil 3: Freiheits- und Sicherheitsgewährleistung im Verfassungsstaat
„Das zentrale Problem der Verteidigung unserer freiheitlichen Demokratie liegt darin, die Legitimitätsgrundlage dieser staatlichen Ordnung zu sichern und zu verteidigen, dies aber in einer dem freiheitlichen Rechtsstaat entsprechenden, also in sich freiheitsbezogenen Weise zu tun; die Freiheitssubstanz unserer Ordnung soll nicht durch die Art ihrer Verteidigung selbst fragwürdig werden.“ 82
Hinzu kommt, dass Depenheuers gesamte Überlegungen allein vom Leitgedanken effizienter Gefahrenabwehr getragen sind:83 Unter dem Stichwort der „wehrhaften Verfassungsinterpretation“ spricht er sich für das „Prinzip des sicherheitsrechtlichen ,effet utile‘“ aus, „nach dem die sicherheitsverfassungsrechtlichen Bestimmungen im Lichte der Gefahrenabwehr effektiv ausgelegt werden müssen.“ 84 Damit begibt er sich in ein gedanklich simples Zweck-Mittel-Verhältnis, welches einerseits schon außer Acht lässt, dass effektive Gefahrenabwehr zwar eine bedeutende, keinesfalls aber die einzige Staatsaufgabe darstellt. Zweitens, und dieser Punkt ist fundamental, kann das Denken in den Kategorien bloß hypothetischer Imperative85 niemals eine ernstzunehmende rechtliche Argumentation hervorbringen. Der Effizienzgedanke mag dort anschlussfähig und hilfreich sein, wo es um die Beurteilung schon als rechtlich-legitim ausgewiesener, konkurrierender Mittel zur Erreichung eines vorgesetzten, ebenfalls rechtlich-legitimen Zwecks geht. Er greift hingegen immer dort zu kurz, wo es um genuine Rechtsfragen geht.86 Dort sind ganz andere gedankliche Leistungen zu erbringen als sie das schlichte Effizienzdenken eines Sicherheitstechnikers hervorbringen könnte.87 Depenheuer vermag daher mit seinem Konzept des Feindrechts nicht zu überzeugen. Er perpetuiert nicht nur die theoretische Fehlkonstruktion vom autoritären Staat im Sinne Carl Schmitts, sondern behauptet darüber hinaus die verfassungsrechtliche Legitimität absoluter Freiheitsnegationen unter dem deutschen Grundgesetz.88 Dass er dies nicht schlüssig begründen kann, ist nicht überraschend. Denn die Freiheit einer jeden Rechtsperson ist Voraussetzung und Grund des Grundgesetzes:89 Die „unbedingte Anerkennung und (der) Schutz der 82
E.-W. Böckenförde, „Verhaltensgewähr oder Gesinnungstreue?“ (1991), S. 277. Vgl. Depenheuer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87a, beispielsweise Rn. 29 und 52. 84 Ebenda, Rn. 52. 85 I. Kant, GMdS, BA 39. 86 Vgl. dazu etwa grundsätzlich M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 19; B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 203 ff. 87 Der fünfte Teil der vorliegenden Arbeit wird sich dieser Herausforderung stellen. Dort soll geklärt werden, welche Sicherheitsmaßnahmen des Staates rechtlich begründbar und damit rechtsstaatlich tragbar sind. Dass dabei der besondere Charakter der auch von Depenheuer zutreffend erkannten Bedrohung durch den internationalen Terrorismus berücksichtigt werden muss, ändert nichts daran, dass nicht in der Suspendierung des Rechts, sondern nur in seiner Anerkennung die Lösung liegen kann. 88 Kritisch dazu auch M. Stolleis, „Angst essen Seele auf“ Merkur 61 (2007), S. 1145 ff. 89 Gründlich dazu Ch. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung (1997), insbesondere S. 63–100. 83
C. Zusammenfassung zum 3. Teil
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Rechtssubjektivität und Autonomie des Individuums“ ist sein Grundgedanke, und jeder Mensch ist danach – „für jedermann verbindlich – selbständige Person, nicht verfügbare Sache, er gehört niemandem anders als sich selbst und muss deshalb stets Zweck an sich selbst bleiben. Damit aber ist die eigenmächtige und eigennützige Inanspruchnahme von Leib und Leben eines Dritten kategorisch ausgeschlossen.“ 90 Daraus folgt zwingend, dass der Staat niemals über einen Menschen wie über eine Sache verfügen darf; und wenn der Staat „einem Menschen etwas abverlangt, muss er ihn stets als verpflichtetes Rechtssubjekt ansprechen“ 91. Eine Rechtlosstellung einzelner Subjekte durch den Staat, wie sie mit Depenheuers Feinderklärung einherginge, ist damit ausgeschlossen; der Einzelne bringt seine rechtliche „Grundausstattung“ schon kraft seines Menschseins stets mit – unabhängig davon, ob er Verbrechen begeht, sich gewaltsam gegen das Gemeinwesen wendet oder sogar die Zerstörung der verfassungsmäßigen Ordnung anstrebt.92 Die „Grundausstattung“ kann der Staat ihm nicht qua Feinderklärung nehmen, er kann ihn nicht gänzlich rechtlos stellen und hat ihn unter jedem Umstand als rechtliche Persönlichkeit anzuerkennen.93 Eine Theorie staatlichen Handelns, die sich diesen Bindungen des Grundgesetzes zu entziehen sucht, ist indiskutabel.
C. Zusammenfassung zum 3. Teil: Grundpositionen der verfassungsrechtlichen Verhältnisbestimmung von Freiheit und Sicherheit Die Diskussion um das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit im gegenwärtigen Verfassungsrecht ist durch zwei grundsätzliche Meinungsströmungen gekennzeichnet. Auf der einen Seite steht die Auffassung, dass die beiden Konzepte als gleichwertige Pole der Verfassung zu verstehen sind, die im Kollisionsfalle gegeneinander abgewogen werden müssen: Freiheit und Sicherheit müssten in einer „Balance“ gehalten werden. Konzeptionell lässt sich das einerseits durch die Anerkennung eines „Grundrechts auf Sicherheit“, andererseits durch das Verständnis von Freiheit und Sicherheit als gleichrangige „Verfassungswerte“ umsetzen. Die Gegenauffassung Depenheuers hält auf der anderen Seite dagegen das Bedürfnis nach Sicherheit für den staatlichen Leitgedanken schlechthin und meint, 90 Ch. Hillgruber, „Selbstbestimmung und Fremdbestimmung“ (2007), S. 561 (565). Vgl. auch BVerfGE 39, 1 (41). 91 Ebenda, S. 566 (dort auch zum Folgenden). 92 Vgl. dazu auch K. Gierhake, „Feindbehandlung im Recht?“ ARSP 2008, S. 337 (349–351). 93 Treffend dazu auch St. Stübinger, „Zur Diskussion um die Folter“ (2007), S. 277 ff.
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Teil 3: Freiheits- und Sicherheitsgewährleistung im Verfassungsstaat
damit Freiheitseingriffe aller Art – bis hin zu freiheitssubstanzvernichtenden Maßnahmen – rechtfertigen zu können. Die Auseinandersetzung mit diesen beiden grundsätzlichen Herangehensweisen hat gezeigt, dass die Verhältnisbestimmung im Verfassungsrecht so noch nicht überzeugend geleistet ist. Das Verständnis von Freiheit und Sicherheit als zwei voneinander unabhängige und sich gegenseitig ausschließende, abwägungsfähig gegenüberstehende Konzepte kann nicht überzeugen. Denn alle legitimen Sicherheitsleistungen des Staates können zutreffend nur als Aufrechterhaltung und Stärkung freiheitlicher Verhältnisse verstanden werden. Das bedeutet, dass die Freiheit des Subjekts stets als Bezugspunkt einer jeden Sicherheitsmaßnahme gelten muss – selbst und gerade in den Fällen, in denen sich die Maßnahme just gegen dieses Subjekt richtet: Rechtszwang und Rechtsstrafe zeichnen sich durch ihre Begründbarkeit auch dem betroffenen Subjekt gegenüber aus94 – dazu im Gegensatz stehen unbegründbare Gewaltanmaßungen, die dem Wohl der Gemeinschaft (oder anderer Subjekte) dienen mögen oder zu dienen bestimmt sind, den Einzelnen aber in seiner Rechtspersonalität negieren, ihn zum bloßen Mittel zur Erreichung eines vorgesetzten Zwecks machen. An diesem auf der Freiheit des Subjekts gründenden Zusammenhang ändert weder die Erfindung eines subjektiven „Grundrechts auf Sicherheit“ noch die bloß abwägende Entgegensetzung von Freiheit und Sicherheit etwas. Das „Grundrecht auf Sicherheit“ des einen lässt sich nicht mit dem angeborenen Freiheitsrecht eines anderen abwägen, sondern nur als seinerseits im Staat gesicherte Freiheitsposition begreifen. Ein Gleiches gilt, wenn Freiheit und Sicherheit als äußere „Werte“ gegeneinander gestellt werden. Eine „Kollision“ ist dann immer Freiheitssphärenkollision, die nicht durch Abwägung von „Sicherheitsinteressen“ (meist auch noch: der Allgemeinheit) gegen „Freiheitsinteressen“ (des Individuums), sondern nur durch das Grundprinzip unrechts-hindernden Rechtszwangs aufzulösen ist. Rechtszwang, so die Grundeinsicht, ist eine Freiheit im Ergebnis erhaltende Aktion:95 Freiheitsverletzungen des Einen gegenüber dem Anderen dürfen von diesem selbst – und über einen zweiten Schritt vermittelt: vom Staat – mit Recht abgewehrt werden.96 Der Staat hat also stets dann die Befugnis, 94 Grundlegend M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“ (1992), 93 ff.; ders., „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ Rechtsphilosophische Hefte, Bd.1 (1993), S. 79 ff.; ders., Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung (1983); ders., Der Begriff der Strafe (1986); ders., „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), 11 ff.; siehe ferner O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwanges und der Kriminalstrafe“ (1982), 335 ff. 95 Vgl. dazu unten im 5. Teil der Arbeit, insbesondere S. 342 ff. (zu den Prinzipien des Zwangsrechts). 96 Grundsätzlich dazu C. Dierksmeier, „Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff“ (2009), S. 42 (48).
C. Zusammenfassung zum 3. Teil
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rechtspositionsschützend einzugreifen, wenn der vom Eingriff Betroffene droht, fremde Freiheit zu verletzen: Er darf und muss dann daran gehindert werden, Unrecht zu begehen. Mit einer „Abwägung“, zumal einer „Werte“abwägung, hat dies nichts zu tun.97 Eine darüber hinausgehende allgemein-gesetzliche Regel, nach der der Einzelne in seiner Freiheit durch den Staat allein um der Interessen anderer Willen substanziell eingeschränkt werden dürfte, kann es nicht geben. In (akuten) Notsituationen mag eine maßvolle – d. i. freiheitssubstanzschonende und Rechtspersonalität achtende Inanspruchnahme aus Solidarität begründet sein, die aber ihrerseits als verallgemeinerbar auch aus Sicht des Betroffenen begründbar sein muss.98 Ein diffuses Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit99 dagegen kann niemals einen solchen Freiheitseingriff begründen. Dies bedeutet für die besonders „kritischen“ Fälle der Inanspruchnahme von Unbeteiligten („Nichtstörern“ in der Terminologie des Polizei- und Ordnungsrechts), dass sie nur in Fällen von Gefahr für die Existenz/das Leben und die körperliche Unversehrtheit Anderer oder für das Fortbestehen der Rechtsgemeinschaft als ganzer, und nur in maßvoller (d. h. die Freiheitssubstanz des Einzelnen wahrenden) Weise rechtlich möglich sind.100 Dass angesichts des beschriebenen Freiheitsgrunds des Rechts Depenheuers Vorstellung von einer staatlichen Feindbehandlung haltlos ist, ist offenkundig.
97 Vgl. dazu auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 282, 283: Bei der Güter- und Interessenabwägung werde „die rechtliche Autonomie der Person durch eine als vorrangig behauptete Gutsverfolgung anderer, ein entsprechend definiertes Gemeinwohl (. . .) relativiert. (. . .) (D)iese Vorstellung ist in der Grundlage unrechtlich. Das Recht freier Personen in ihrer wechselseitigen Abgrenzung beruht dagegen auf der material-inhaltlichen Abstraktion von subjektiven Wohl- und Gutsbestimmungen. Das Nutzenkriterium ist derart individuell-subjektbezogen, dass es eine interpersonal-zwangsrechtliche Verrechnung nicht geben kann. Weder die Behauptung einer ,Höherwertigkeit‘ des einen gegenüber dem anderen im unmittelbaren Verhältnis, noch diejenige eines (sozialutilitaristischen) ,Gemeinnutzens‘ vor individuellem ,Eigennutz‘ haben daher einen Rechtsgrund. Der Satz vom ,überwiegenden Interesse‘ ist mit der für das Zwangsrecht notwendigen interpersonal-objektiven Gültigkeit nicht verallgemeinerbar; er formuliert eine allerdings häufige naturzustandsartige Option für bloß faktische Macht, welcher der einzelne Rechtsträger dann unterliegt. Aber in Wirklichkeit gilt: ,Der Nutzen vieler gibt ihnen kein Recht gegen einen.‘“ (letztes Zitat von I. Kant, Reflexion zur Moralphilosophie Nr. 6586 (Akd.-Ausg. Bd. XIX, S. 97), weitere Hinweise weggelassen). 98 Vgl. grundlegend dazu nochmals M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 281– 285. 99 O. Lepsius, „Sicherheit und Freiheit – ein zunehmend asymmetrisches Verhältnis“ (2010), S. 24 ff. weist nach, dass beinahe alle Änderungen im Bereich der Sicherheitsgesetze (er nennt: Organisierte Kriminalität, verdachtlose Kontrollen und Terrorismusbekämpfung) sich einer „diffusen Bedrohungslage“ verdanken. 100 Genauer sollen die Voraussetzungen einer Inanspruchnahme zum Zwecke der Unrechtsverhinderung im fünften Teil dieser Arbeit herausgearbeitet werden.
Teil 4
Erscheinungsformen des Sicherheitsgedankens im gegenwärtigen (materiellen) Strafrecht und die damit einhergehenden Legitimationsprobleme – dargestellt am Beispiel der Terrorismusstraftatbestände In einem weiteren gedanklichen Schritt soll nun das Problem des Zusammenhangs von Freiheit, Sicherheit und Strafe anhand einiger konkreter Erscheinungsformen des Sicherheitsgedankens im geltenden Strafrecht herausgearbeitet werden. Zu diesem Zweck werden im Folgenden mehrere Problemfelder näher erläutert, die jeweils den Gedanken der Sicherheit in den Bereich des (materiellen) Strafrechts transportieren und vor diesem Hintergrund Anlass geben, über die Legitimität solcher Vermengungen zwischen Strafrecht und Sicherheitsrecht nachzudenken. Es wird sich zeigen, dass gerade diese Frage nach der Legitimität vielfach unterschätzt bzw. gar nicht mehr gestellt wird, obwohl sie bei den ausgewählten Beispielen aus dem Bereich der Terrorismusabwehr besonders deutlich auf der Hand liegt. Unter A. sollen anhand der Analyse der §§ 129 ff. StGB (Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen) drei eng miteinander verknüpfte und in der Strafrechtswissenschaft stark umstrittene Themenkomplexe erörtert werden: Das Problem der „Universalrechtsgüter“, der Vorfeldkriminalisierung und der abstrakten Gefährdungsdelikte. Unter B. werden die §§ 89a, 89b und 91 StGB, die 2009 neu ins Strafgesetzbuch eingeführt wurden, untersucht. Auch bei ihnen stellt sich das Problem der Vorfeldkriminalisierung und der Legitimität von abstraktem Gefährdungsunrecht.
A. Die Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen (§§ 129 ff. StGB) Als ein offenkundiges Beispiel einer dem Sicherheitsgedanken verpflichteten Norm des Besonderen Teils des StGB können die §§ 129–129b StGB (Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen) dienen.1 Die Vorschriften gehören zu den so genannten „Sicherheitsgesetzen“. 2 1 Siehe zu dieser Einschätzung auch F.-Ch. Schroeder, Straftaten gegen das Strafrecht (1985), S. 29 und M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 32. Zur Entwick-
A. Die Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen
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Bei einer ersten Sichtung der Kommentarliteratur zu diesen Vorschriften kann zunächst durchaus der Eindruck entstehen, dass sie als Strafvorschriften nicht zu beanstanden sind und an ihrer Legitimität keine Zweifel bestehen. Lenckner/ Sternberg-Lieben schreiben zum Beispiel: „Erledigt haben sollte sich in einer Zeit, in der die Organisierte Kriminalität zu einer großen Herausforderung geworden ist, und angesichts von Vorgaben der EU (. . .) auch der frühere Meinungsstreit (m.w. N.) über die Berechtigung der Vorschrift.“ 3 Schäfer ist derselben Auffassung und meint, dass man die lange Zeit umstrittene sachliche Berechtigung der Vorschrift heute nicht mehr verneinen könne.4 Zur Begründung führt er drei Argumente an: „Zum einen ist die massive Bedrohung des Gemeinwesens durch die verschiedenen Erscheinungsformen organisierter Kriminalität in den letzten Jahren immer stärker geworden. Zum anderen sind mittlerweile Vorgaben der EU zu beachten. Schließlich erfordern auch und gerade die Bedrohungen durch den internationalen Terrorismus wirksame rechtsstaatliche Gegenmaßnahmen.“ 5 Auch von Bubnoff zweifelt nicht an der Legitimität der Normen; nach ihm ergibt sich die Strafwürdigkeit des kriminellen bzw. terroristischen Zusammenschlusses aus der „sich in der Zielsetzung manifestierenden Rechtsfeindschaft der Mitglieder und Helfer der Vereinigung, die sich (. . .) über die Ordnungsnormen des Strafrechts hinwegzusetzen planen.“ 6 Zudem wird in den gängigen Kurzkommentaren das Problem der Legitimität nicht einmal erwähnt.7 Zweifel an dieser Einmütigkeit regen sich jedoch, sobald die Normen etwas genauer in den Blick genommen werden. Vor allem im Hinblick auf den unklaren Unrechtsgehalt der Vorschriften und die fragliche, damit zusammenhänlungsgeschichte der §§ 129, 129a siehe K. Felske, Kriminelle und terroristische Vereinigungen – §§ 129, 129a StGB (2002), zur Geschichte des § 129b siehe K. T. Barisch, Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus durch § 129b StGB (2009), S. 43 ff. 2 Lackner/Kühl, § 129a, Rn. 1; vgl. auch F.-Ch. Schroeder, Straftaten gegen das Strafrecht (1985), S. 29. 3 Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 1. Mit den „Vorgaben der EU“ ist der EU-Rahmenbeschluss zur Terrorismusbekämpfung vom 13.6.2002 (Abl. L 164, 3) gemeint, mit dem den EU-Mitgliedstaaten u. a. aufgegeben wird 1. die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um sicherzustellen, dass bestimmte (einzeln aufgeführte) Handlungen, die durch die Art ihrer Begehung oder den jeweiligen Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen können, als terroristische Straftaten eingestuft werden, wenn sie mit bestimmter (dort genau benannter) terroristischer Zielrichtung begangen werden (Art. 1), 2. die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, damit bestimmte (einer terroristischen Vereinigung förderliche) vorsätzliche Handlungen unter Strafe gestellt werden. 4 MüKo-Schäfer, § 129, Rn. 3. 5 Ebenda. 6 LK-von Bubnoff (11. Auflage), § 129, Rn. 1. Ähnlich in der Folgekommentierung LK-Krauß, § 129, Rn. 1. 7 So Fischer, § 129 und Lackner/Kühl, § 129. Zu dem Phänomen abnehmenden Interesses an der Frage nach der Legitimität siehe auch M. Cancio Meliá, „Vorverlagerung ohne Ende und Organisationsdelikte“ (2010), S. 47 (50, 51).
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Teil 4: Erscheinungsformen des Sicherheitsgedankens im Strafrecht
gende Einordnung als Kriminalunrecht sind Bedenken angebracht.8 Ansatzpunkt für die Kritik ist zunächst die Frage nach dem durch die §§ 129 ff. StGB geschützten Rechtsgut (dazu unter I.); zweitens werden die Normen wegen ihrer vorverlegten Strafbarkeit kritisiert (dazu II.) und drittens zeigt sich bei den §§ 129 ff. StGB in besonderer Weise, welche Begründungsdefizite sich bei den abstrakten Gefährdungsdelikten im Hinblick auf ihre Qualität als Strafunrecht auftun (dazu III.). Im Folgenden soll auf diese Kritikpunkte näher eingegangen werden. Dabei wird sich zeigen, dass sich das Problem der Legitimität der §§ 129 ff. keinesfalls „erledigt“ hat wie Lenckner/Sternberg-Lieben und Schäfer meinen, sondern ganz im Gegenteil offenkundig fortbesteht. Um dieses Ergebnis zu stützen, muss allerdings herausgearbeitet werden, welche Kriterien Kriminalunrecht erfüllen muss, um berechtigterweise bei Strafe verboten zu werden.9 Diese Mühe umgeht, wer lediglich auf die „massive Bedrohung durch organisierte Kriminalität“ oder „den internationalen Terrorismus“ und, offenbar besonders geeignet zur Zerstreuung aller rechtsstaatlichen Bedenken, auf neue „Vorgaben der EU“ verweist. Keines dieser Argumente ist relevant für die Frage, ob die §§ 129 ff. in ihrer konkreten strafgesetzlichen Form zu Recht bestehen. Dies wird deutlich, wenn im nun folgenden Teil der Arbeit die Notwendigkeit einer bestimmten Qualität von Kriminalunrecht als Basis der Rechtfertigung staatlicher Strafe in Erinnerung gerufen und die dafür erforderlichen materiellen Kriterien herausgearbeitet werden.
I. Auseinandersetzung um das Schutzgut der §§ 129 ff. StGB In der strafrechtswissenschaftlichen Literatur ist man sich uneinig, welches Rechtsgut durch die §§ 129 ff. geschützt werden soll. Einerseits wird vertreten, dass ihr Schutzgut der „öffentliche Friede“ sei (dazu unter 1.); die Gegenansicht sieht mit den §§ 129 ff. die Gesamtheit der Rechtsgüter des Besonderen Teils des StGB geschützt (dazu unter 2.).
8 Vgl. dazu zunächst NK-Ostendorf, § 129, Rn. 1–5 und 9. M. Fürst hat die Normen sogar als „überflüssig und schädlich“ bezeichnet (Grundlagen und Grenzen der §§ 129, 129a StGB (1989), S. 280). Grundsatzkritik zudem bei D. Klesczewski, „Tatbestandsbildung als Feinderklärung?“ (2008), S. 109 ff.; K. Hawickhorst, § 129a StGB – Ein feindstrafrechtlicher Irrweg zur Terrorismusbekämpfung (2011), insbesondere S. 153 ff., 179 ff., 255 ff. Vgl. auch M. Nehring, Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland (2007), S. 420–426 und M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 26–32. 9 Dieser Notwendigkeit zustimmend M. Cancio Meliá, „Vorverlagerung ohne Ende und Organisationsdelikte“ (2010), S. 57, 58. Gründlich zum Begriff des Kriminalunrechts als Basis für die Beurteilung der Legitimität von Vorbereitungsdelikten Y. Chou, Zur Legitimität von Vorbereitungsdelikten (2011), S. 115 ff.
A. Die Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen
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1. Der „öffentliche Friede“ als Schutzgut der §§ 129 ff. StGB Nach bisheriger10 höchstrichterlicher Rechtsprechung und einem Teil der Literatur ist Schutzgut der Vorschriften gegen die Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen die „Sicherheit“ im Staat, genauer der „die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit umfassende öffentliche Friede“ 11. „Öffentlicher Frieden“ wird dabei definiert als „Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und des befriedeten Zusammenlebens der Bürger sowie das im Vertrauen der Bevölkerung in die Fortdauer dieses Zustands begründete Sicherheitsgefühl.“ 12 Nach Einführung des § 129b im Jahre 200213 soll der zu schützende öffentliche Frie10
Vgl. aber OLG München NJW 2007, S. 2786 ff. Vgl. dazu BGHSt 41, 47 (51); BGH NStZ 1982, S. 198 (mit kritischer Anmerkung Rudolphi); BGH NJW 1966, S. 310 (312); OLG Düsseldorf NJW 1994, S. 398 (399); Arzt/Weber, Strafrecht Besonderer Teil, § 44, Rn. 11; Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 1; Lackner/Kühl, § 129, Rn. 1; MüKo-Schäfer, § 129, Rn. 1; Fischer, § 129, Rn. 2; K. T. Barisch, Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus durch § 129b StGB (2009), S. 126 ff. Andere Ansicht aber OLG München NJW 2007, S. 2786 ff.; H.-J. Rudolphi, „Verteidigerhandeln als Unterstützung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung i. S. der §§ 129 und 129a StGB“ (1978), S. 315 ff. und „Notwendigkeit und Grenzen einer Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes im Kampf gegen den Terrorismus“ ZRP 1979, S. 214 ff., SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129, Rn. 3, 4; Rudolphi folgend NKOstendorf, § 129, Rn. 5; ders., „Entwicklungen in der Rechtsprechung zur ,Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen‘ §§ 129, 129a StGB“, JA 1980, S. 499 ff.; B. Scheiff, Wann beginnt der Strafrechtsschutz gegen kriminelle Vereinigungen (§ 129 StGB)? (1997), S. 25–29; M. Fürst, Grundlagen und Grenzen der §§ 129, 129a StGB (1989), S. 55–69; M. Nehring, Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland (2007), S. 119 ff. (131): Schutzgut der §§ 129 f. seien die im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs geschützten Rechtsgüter; die §§ 129 bekämpften den Angriff auf diese Rechtsgüter ausnahmsweise bereits im Vorbereitungsstadium; sie beinhalteten eine über § 30 StGB hinausgehende Vorverlagerung des Strafschutzes. Kritisch zur Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes durch die §§ 129, 129a S. Cobler, „Plädoyer für die Streichung der §§ 129, 129a StGB“ KJ 1984, S. 407 (411); K. Hawickhorst, § 129a StGB – Ein feindstrafrechtlicher Irrweg zur Terrorismusbekämpfung (2011), S. 179 ff. Genauere Überlegungen zu dieser Gegenansicht folgen unten im Text unter I. 2. Vgl. zur Diskussion um das Rechtsgut der §§ 129, 129a auch Langer-Stein, Legitimation und Interpretation der strafrechtlichen Verbote krimineller und terroristischer Vereinigungen (1987), S. S. 82–135 und 153 ff. 12 Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, StGB, § 129, Rn. 1 ff. mit Verweis auf die Begriffsbestimmung des „öffentlichen Friedens“ im § 126, Rn. 1 (m.w. N.). Siehe zum Begriff des „öffentlichen Friedens“ auch BGHSt 34, 329 (331): „Gestört ist der öffentliche Frieden, wenn das Vertrauen der Bevölkerung in die öffentliche Rechtssicherheit erschüttert wird oder wenn potentielle Täter durch Schaffung eines ,psychischen Klimas‘, in dem Taten wie die angedrohten begangen werden könnten, aufgehetzt werden (BGH NJW 1978, 58, 59).“ Vgl. zum Verhältnis von öffentlichem Frieden und öffentlicher Sicherheit ferner R. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht (2002), S. 288 ff. 13 Dazu G. Altvater, „Das 34. Strafrechtsänderungsgesetz – § 129b StGB“ NStZ 2003, S. 179. Zum europarechtlichen Hintergrund vgl. C. Kreß, „Das Strafrecht in der Europäischen Union vor der Herausforderung durch organisierte Kriminalität und Terrorismus“ JA 2005, S. 220 ff. 11
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den nicht bloß der nationale, d. h. auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bestehende Zustand der Rechtssicherheit sein, sondern noch weiter gefasst werden und die „öffentliche Sicherheit einschließlich des allgemeinen Rechtssicherheitsgefühls in dem gemeinsamen Europäischen Rechtsraum“ 14 umfassen. Der konsequente weitere Schritt, nämlich die Erweiterung des Schutzgutes „öffentliche Sicherheit“ über die Ebene der Europäischen Union hinaus auf die „ganze Welt“, wird bereits vielerorts vertreten,15 und diese Ausweitung sei immerhin als „sicherheits-politische Formel“ akzeptabel.16 Das so verstandene Schutzgut der §§ 129 ff. hat damit ungeheure Ausmaße: Wer sich in einer in diesen Vorschriften bei Strafe verbotenen Weise verhält, greift damit im schlimmsten Fall die „öffentliche Sicherheit der ganzen Welt“ an: Ihm wird vorgeworfen, einen (nicht näher erläuterten) Weltrechtszustand zu verunsichern und das globale Sicherheitsgefühl der Weltbevölkerung zu gefährden. In weniger gravierenden Fällen ist das Angriffsgut immerhin noch die nationale oder europäische Sicherheit bzw. das entsprechende Sicherheitsgefühl. Angesichts der Bedeutung solcher „Universalrechtsgüter“ 17 scheint es auf den ersten Blick konsequent, einen Angriff auf sie als Unrecht zu werten. Schützenswert ist die Sicherheit der Staats-, Unions- und Weltbürger jedenfalls allemal dann, wenn sich hinter dem Begriff der „Sicherheit“ ein bestimmbares Gesamtgerüst verlässlicher, Vertrauen rechtfertigender (Staats- oder sonst öffentlich rechtlicher) Strukturen verbirgt, das die grundlegenden Bedingungen für eine freie, d. h. die je eigene Lebenskonzeption realisierende Existenz der Bürger gewährleistet.18 Umgekehrt ist dann eine „Verunsicherung“ solcher Strukturen gewiss höchst unerwünscht und möglichst zu verhindern. Eine ganz andere – im Ergebnis zu verneinende – Frage ist es allerdings, ob durch das Urteil, „etwas sei schutzwürdig“, zugleich und zwangsläufig auch darüber ein affirmatives Urteil gefällt ist, ob es als strafrechtliches Schutzgut taugSo LK11-von Bubnoff, Nachtrag zu § 129b, Vorbemerkung und Rn. 5. Kindhäuser, LPK-StGB, § 129, Rn. 2: Der Schutzbereich erstrecke sich auf die öffentliche Sicherheit einschließlich des allgemeinen Rechtssicherheitsgefühls im Europäischen Rechtsraum bzw. – unter den Voraussetzungen des § 129b I S. 2 – auf der ganzen Welt (Hervorhebungen weggelassen). LK-Krauß, § 129b, Rn. 1; differenzierend MüKo-Miebach/Schäfer, § 129b, Rn. 2; dagegen K. T. Barisch, Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus durch § 129b StGB (2009), S. 165 ff. 16 So Fischer, § 129b, Rn. 3 (Hervorhebung im Original). Kritisch dazu NK-Ostendorf, §§ 129a, 129b, Rn. 3. 17 Zu diesem Begriff und der Problematik der „Verflüssigung des Rechtsgutsbegriffs“ durch die Konstitution von „Universalrechtsgütern“ B. Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994), S. 20 ff. und NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 126 ff. 18 Erinnert sei hier an die umfassende Idee eines rechtlichen Zustandes, in dem jeder „seines Rechts teilhaftig“ werden kann. Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, §§ 41–49, AB 154 – A 173/B 203 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 305–318). 14 15
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lich ist.19 Bezogen auf das durch die §§ 129 ff. nach herrschender Meinung geschützte Gut des „öffentlichen Friedens“ hat W. Beck in seiner Arbeit zur Vorfeldkriminalisierung20 das Problem genauer herausgearbeitet und die Frage nach der Tauglichkeit als Strafrechtsgut verneint: Das Erfordernis bestimmter oder zumindest bestimmbarer Rechtsgüter für den strafrechtlichen Schutz des Gutes sei bei Begriffen höchster Allgemeinheit wie der „öffentlichen Ordnung oder Sicherheit“ nicht erfüllt, „die strafbarkeitsbegrenzende, weil -bestimmende Funktion des Rechtsgutsbegriffs“ sei „strikt abhängig von der konkreten Erfassung des Schutzobjektes“. Verletzt oder gefährdet werden könne nur ein bestimmtes Rechtsgutsobjekt.21 Bei den §§ 129 ff. bleibe der Maßstab für die Beurteilung strafbaren Verhaltens jedoch unklar, wie überhaupt Begriffe der genannten Art wegen ihrer Verschwommenheit und Weite ungeeignet seien, „die unrechtsbegründende Eigenart dieser – und anderer – Delikte zu verdeutlichen“.22 Beck kritisiert damit zu recht die Abstraktheit und Unbestimmtheit des Schutzgutes „öffentlicher Friede“ und weist auf die Unumgänglichkeit einer näheren Bestimmung der Schutzrichtung und der Beeinträchtigungsmodalitäten hin.23 19 Ersichtlich ist die Antwort auf diese Frage davon abhängig, wie das „strafrechtliche Schutzgut“ bestimmt und welche Bedeutung ihm für die Pönalisierung eines Verhaltens zugemessen wird. Dies sind seit je her Kernfragen des Strafrechts, um deren Klärung noch immer gerungen wird. Auch die vorliegende Arbeit wird sich in ihrem Verlauf um eine begründete, d. h. aus der Freiheit der einzelnen Rechtssubjekte und ihrer Rechtsverhältnisse abgeleitete Bestimmung des Rechtsguts bemühen und den Zusammenhang zu einem materiellen Unrechtsbegriff herzustellen suchen. Vgl. zur Entwicklung des Rechtsgutsbegriffs seit dem 18. Jahrhundert zunächst P. Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs „Rechtsgut“ (1962); zur Annäherung an eine Begriffsbestimmung M. Marx, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut‘ (1972); zum Verhältnis der Rechtsgutstheorie zu einer „Theorie der Sozialschädlichkeit“ K. Amelung, Rechtsgüterschutz (1972); zu einem Verständnis des Rechtsguts als „Daseinselement der Freiheit“ R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989); zu einem materiellen Verbrechensbegriff, der ohne den Begriff des Rechtsguts auszukommen glaubt H. H. Lesch, Der Verbrechensbegriff (1999); zu einer „personalen Rechtsgutslehre“ NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 131 ff.; zur aktuellen Diskussion um die Rechtsgutstheorie R. Hefendehl/A. v. Hirsch/W. Wohlers (Hrsg.), Die Rechtsgutstheorie (2003). 20 Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung (1992). 21 W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung (1992), S. 94. 22 Ebenda, S. 96. 23 Ebenda, S. 143. Zur Unbestimmtheit des Begriffs der „öffentlichen Ordnung“ bzw. „inneren Sicherheit“ siehe auch B. Scheiff, Wann beginnt der Strafrechtsschutz gegen kriminelle Vereinigungen (§ 129 StGB)? (1997), S. 25, 26. Vgl. ferner kritisch zum Rechtsgut des öffentlichen Friedens auch C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, S. 28: Schutzobjekte von ungreifbarer Abstraktheit seien keine Rechtsgüter; S. 17: zu kritisieren sei es, wenn „man mit Hilfe vager Allgemeinbegriffe ein Rechtsgut der Allgemeinheit konstruiert, wo die eigentlich zu schützenden Individualgüter nicht in strafbarer Weise beeinträchtigt werden“; Th. Fischer, „Die Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören – Zur Beseitigung eines ,restriktiven‘ Phantoms“ NStZ 1988, S. 159 (162); T. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten (2005), S. 90 ff.; W. Wohlers, Deliktstypen
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Aber selbst bei einer denkbaren Konkretisierung des Rechtsguts „öffentlicher Frieden“ – etwa in dem Sinne, dass mit dem „Zustand allgemeiner Rechtssicherheit“ die Summe von konkreten Staatsstrukturen (z. B. die Gewaltenteilung) und konkreten Staatsinstitutionen (z. B. die Justiz, die Polizei, die Ministerien) gemeint sind – wäre die grundsätzliche Unrechtsschwäche der §§ 129 ff. nicht ohne weiteres behoben. Denn es ist zweifelhaft, dass strafrechtlich geschützte „Güter“ beliebig weit vom ursprünglichen Interpersonalverhältnis der Rechtssubjekte in die Sphäre des Staates, der ihm übergeordneten Nichtstaatlichkeit der Europäischen Union und der dieser übergeordneten internationalen Staatengemeinschaft gerückt werden können. Zwar ist es möglich, durch vermittelnde Schritte vom zunächst interpersonal gedachten Rechtsverhältnis, in dem Rechtsgüter „Daseinselemente der Freiheit“ sind, ausgehend Rechtsgüter der „Allgemeinheit“ als Daseinselemente allgemeiner Freiheit zu bestimmen.24 Dies kann aber nur in einer Weise geschehen, bei der das Grundverhältnis freier Personen zueinander als Ausgangspunkt genommen wird und von dort aus in begründeten Schritten die von ihnen konstituierte Gemeinschaftlichkeit, ihre Strukturen und Institutionen, als allgemeine Formen der Freiheit entwickelt werden.25 Kahlo hat diesen Ableitungszusammenhang folgendermaßen skizziert: „(. . .) Das äußere Freiheitsdasein von Personen (wird) nicht nur dadurch verwirklicht, dass zwei Handlungssubjekte durch ihre Praxis sich unmittelbar begegnen. Die Eindes Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik ,moderner‘ Gefährdungsdelikte (2000), S. 225, 226. 24 Siehe R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 165–192. Im Ergebnis ähnlich NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 138, die auch vom Standpunkt einer personalen Rechtsgutslehre Universalrechtsgüter anerkennen: „Da und soweit der Mensch ein vergesellschaftetes Wesen ist, kann er seine Interessen und Güter nur in Gemeinschaft mit anderen, und das heißt: in gesellschaftlichen und staatlichen Institutionen (Wirtschaft, Beamtenschaft, Rechtspflege, Versicherungen, Schulen, Militär, Familie usw.) wahren und verwirklichen. Der Schutz dieser Institutionen (. . .) ist Rechtsgüterschutz im vermittelten Interesse der mit diesen Institutionen lebenden und handelnden Menschen.“ Enger W. Beck, der bei seinem Rechtsgutsbegriff auf die „Betätigungschance von Verhaltensfreiheit“ abstellt: „Ein intersubjektiv-äußeres Verhalten darf nur insoweit kriminalisiert werden, als es einen verletzenden oder konkret gefährdenden Rechtsgutsbezug (. . .) aufweist. Der mit jeder Strafdrohung einhergehende Eingriff in die intersubjektive Verhaltensfreiheit ist nur legitim, wenn die ausschließliche oder gleichberechtigt eingeräumte Betätigungschance der objektbezogenen Verhaltensfreiheit Dritter beeinträchtigt ist.“ (A. a. O., oben Fn. 21, S. 88). 25 Vgl. auch M. Köhler, „Freiheitliches Rechtsprinzip und Betäubungsmittelstrafrecht“ ZStW 104 (1992), S. 3 (16): „Die schützende Gerechtigkeit des Staates bezieht also ihre gesetzlichen Handlungsverbote und -gebote nur auf die Unverletztheit von Freiheitsrechtsgütern. Darin bestehen sowohl persönlich-individuelle als auch die sog. überpersönlichen Rechtsgüter (der Gesellschaft, des Staates). Zumal die letzteren dürfen nicht unvermittelt-objektivistisch verstanden werden, sondern nur als Freiheitsobjektivationen, soll die einsichtige Rückgebundenheit allen Rechts an freie Subjektivität als seinen Grund gewahrt bleiben: Gesellschaft und Staat sind um freier Subjektivität willen da, nicht umgekehrt.“ (Fn. weggelassen).
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zelnen leben nicht nur für sich als Individuen, die mehr oder weniger zufällig gelegentlich auch Anderen begegnen und sich dann wechselseitig anerkennen. Sie gehen vielmehr Lebensformen ein, durch die sie mit den Anderen in der gemeinschaftlichen Ausrichtung auf Selbst-Erhaltung als selbstbestimmt-selbständige Willens- und Handlungssubjekte verbunden sind. Als rechtliche Gemeinschaftsformen haben auch sie – d. h. genauer ihre Institutionen – grundlegend freiheitsorientiert zu sein. Für die nach dem Rechtsgrundsatz der Privatautonomie organisierte Zivilgesellschaft (bürgerliche Gesellschaft) gilt dies nicht weniger, wenngleich in anderer Weise als für den Staat und dessen Einrichtungen. Das heißt als Teil und Teilhaber dieser Gemeinschaftsformen lebt das Subjekt so auch in je vermittelten Beziehungswirklichkeiten, die als Bedingungen seines äußeren Freiheitsdaseins zu verstehen sind. Darauf bezogene Handlungen Anderer können das allgemeine Freiheitsdasein also entweder respektieren und verwirklichen oder missachten und verletzen resp. gefährden; im letzteren Fall also ein sog. Rechtsgut der Allgemeinheit – sei es der bürgerlichen Gesellschaft, sei es des Staates – in unter Umständen strafwürdiger Weise beeinträchtigen.“ 26
Ausgeschlossen ist es danach einerseits, Rechtsgüter (seien es solche der Allgemeinheit oder solche von Individuen) zu erfinden oder sie als vorfindbare Werte, Objekte oder Interessen27 zu begreifen.28 Ausgeschlossen ist es andererseits auch, bei der Bestimmung von Rechtsgütern allzu sehr im Vagen zu bleiben
26 M. Kahlo, „Über den Zusammenhang von Rechtsgutsbegriff und objektiver Zurechnung im Strafrecht“ (2003), S. 28 (Hervorhebungen im Original, Fn. weggelassen). Siehe ferner ders., „Die Weisheit der absoluten Theorien“ (2010), S. 383 (insbesondere 409–413). 27 Besonders kritisch in Bezug auf den Begriff des Interesses M. Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“ (1972), S. 21, der alle „Versuche, Rechtsgüter als ,Interessen‘ – wessen auch immer – material zu definieren, (. . .) als gescheitert (. . .)“ erachtet. 28 So auch M. Kahlo, „Über den Zusammenhang von Rechtsgutsbegriff und objektiver Zurechnung im Strafrecht“ (2003), S. 27, 28. Vgl. auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 24 f. In dieser Hinsicht ist die sog. personale Rechtsgutslehre in der Gestalt, wie beispielsweise Hassemer sie vertritt, nicht hinreichend tief gegründet. Bei ihm kommen die „Güter“ durch „normativ gesellschaftliche Verständigung, durch gesellschaftliche Werterfahrung“ zustande. Sie seien, wie etwa die Institutionen der Einehe oder des Eigentums, aber auch die Bedeutung menschlicher Freiheit, Ehre und Gesundheit nicht nur historisch und geographisch relativ. Sie seien auch relativ zu ökonomischen und kulturellen Gegebenheiten einer Gesellschaft. Güter „gebe“ es nicht, sie würden gesellschaftlich „hergestellt“ (NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 139). Daran ist richtig, dass es Rechtspositionen gibt, die dem Wandel der Zeit notwendig unterworfen und durch die jeweilige Gestalt einer Gesellschaft wesentlich geprägt sind; sie werden gesellschaftlich ausgeformt, weiterentwickelt, unter Umständen zurückgenommen oder entkräftet. Der Grund dafür, dass aber fundamentale, mit dem Menschsein überhaupt verbundene Rechtspositionen nicht in diesem Sinne relativ, sondern als die gesamte menschliche Gemeinschaft überhaupt erst als Rechtsgemeinschaft ermöglichende Grundgewissheit absolut sind, ist den Erwägungen zur gesellschaftlichen „Herstellung“ von Güter vorgelagert und damit selbst nicht gesellschaftsabhängig. Ähnlich sieht dies auch M. Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“ (1972), S. 62. Näher zur Unrechtsbegründung aus dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes unten im Text, S. 216 ff.
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und statt konkretisierter Elemente allgemeiner Freiheit Allgemeinplätze zu benennen.29 Beim „Gut“ des „öffentlichen Friedens“ zeigt sich dieses Problem besonders deutlich. Der „Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und des befriedeten Zusammenlebens der Bürger“ ist eine Umschreibung für das Wesen eines freiheitlichen Staates überhaupt. Hinter dem Abstraktum des „Wesens“ verbirgt sich die Gesamtheit einer verfassten, freiheitlichen Rechtsordnung, gegliedert in ihre drei Gewalten der Legislative, Exekutive und Judikative, ihrerseits wiederum untergliedert und strukturiert, alles letztbegründet in der Freiheit der einzelnen Staatsbürger, konstituiert durch den vereinigten Willen des Staatsvolkes30 und bewahrt durch dessen eigene, fortwährende Leistung. Jedes einzelne Element dieser Rechtsordnung kann als Ausgestaltung eines bestimmten Bestandteils allgemeiner Freiheit die Bedeutung eines strafrechtlichen Schutzgutes erlangen; so kann z. B. die Funktionsfähigkeit der Justiz in einzelnen Strafnormen geschützt werden, etwa durch den Schutz der Rechtspflege vor Rechtsbeugung (§ 339 StGB)31 oder durch den Schutz der Unparteilichkeit der rechtsprechenden Gewalt vor Bestechung (§§ 331 Abs. 2, 332 Abs. 2 StGB). Aber erst das Zusammenwirken der einzelnen Faktoren, d. h. der Staat in seiner vollen Komplexität, macht den „Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und des befriedeten Zusammenlebens der Bürger“ aus. Der „öffentliche Friede“ erscheint dabei also als Ziel des Zusammenwirkens der einzelnen Teilelemente des Staates,32 als Endpunkt einer Entwicklung zur „Wirklichkeit konkreter Freiheit“ 33, als Produkt wirksamen Rechtsgüterschutzes (und zwar nicht nur durch das Strafrecht, sondern durch das Recht überhaupt), nicht aber als einzelner Faktor und damit nicht selbst als Rechtsgut. Dementsprechend ist der „öffentliche Friede“ zwar angestrebter Zweck einer „Vereinigung unter Rechtsgesetzen“ und als einmal erreichter Rechtszustand, einer Verfassung, unter der alle „dessen, was Rechtens ist, teilhaftig werden“ 34 können, auch schützenswert. Als strafrechtliches Schutzgut ist er aber untaug29 Vgl. nochmals W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung (1992), S. 94 ff.; die Kritik teilend auch C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, S. 34 ff., insbes. Rn. 75. 30 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, §§ 46, 47, A 166 ff./B 196 ff. (Akademie-Ausg., Band VI, S. 313 ff.). 31 Vgl. dazu auch SK-StGB-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 8. 32 Vgl. dazu auch E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), S. 137 (221). 33 G. W. F. Hegel, RPh, § 260, S. 406. Siehe auch I. Kant, MdS, Rechtslehre, Beschluß, A 234/B 265 (Akademie-Ausg., Band VI, S. 355): „Man kann sagen, dass diese allgemeine und fortdauernde Friedensstiftung nicht bloß einen Teil, sondern den ganzen Endzweck der Rechtslehre innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft ausmache; denn der Friedenszustand ist allein der unter G e s e t z e n gesicherte Zustand des Mein und Dein in einer Menge einander benachbarter Menschen, mithin die in einer Verfassung zusammen sind; (. . .).“ 34 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 43, A 161/B 191 (Akademie-Ausg., Band VI, S. 311).
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lich;35 er ist nicht Daseinselement der Freiheit, sondern allgemeine Form wirklich gewordener Freiheit. Die öffentliche Friedensordnung selbst als strafrechtliches Schutzgut zu konzipieren, hieße, das Allgemeine zum Besonderen zu machen.36 Auf der Ebene der Europäischen Union und der Weltgemeinschaft fehlt es (bisher) überhaupt an einem sich selbst verfassenden Grundakt, so dass von einem „Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und des befriedeten Zusammenlebens“, vom „öffentlichen Frieden“ in einem begrifflich entwickelten Sinn auf der überstaatlichen Ebene nicht gesprochen werden kann. Zwar gibt es Vorformen der Verfassung – die Europäische Union und die Vereinten Nationen –, aber eine mit der Kraft zur Herstellung des öffentlichen Friedens ausgestattete Grundstruktur aufgrund eines gemeinsamen Konstitutionsaktes fehlt. Und selbst wenn man in den bereits bestehenden und den sich entwickelnden Strukturen der europäi35 Diese Einschätzung teilen u. a. W. Bottke, „Anmerkung zu BGHSt 32, 243“ JR 1985, S. 122 (123) (Sicherheit und Ordnung seien eher polizeiliche Leitbegriffe als Rechtsgüter strafrechtlicher Deliktsnormen); Th. Fischer, „Die Eignung, den öffentlichen Frieden zu stören – Zur Beseitigung eines ,restriktiven‘ Phantoms“ NStZ 1988, S. 159 (161, 162); I. Junge, Das Schutzgut des § 130 StGB (2000), S. 50; B. Scheiff, Wann beginnt der Strafrechtsschutz gegen kriminelle Vereinigungen (§ 129 StGB)? (1997), S. 27; F. Streng, „Das Unrecht der Volksverhetzung“, in: W. Küper (Hrsg.), Festschrift für Karl Lackner (1987), S. 501 (510); H. Ostendorf, „Entwicklungen in der Rechtsprechung zur ,Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen‘ §§ 129, 129a StGB“ JA 1980, S. 499 (500): „Das allgemeine Strafziel, ein geordnetes Leben in Freiheit, kann nicht gleichzeitig das konkrete Ziel der einzelnen Strafrechtsnorm sein, wenn das allgemeine Ziel mit einem detaillierten Rechtsgüterschutz angestrebt wird.“ J. Puschke, „Grund und Grenzen des Gefährdungsstrafrechts am Beispiel der Vorbereitungsdelikte“ (2010), S. 9 (28). A. A. M. Marx, Zur Definition des Begriffs ,Rechtsgut‘ (1972), S. 79 ff.: Er qualifiziert den Staat, die Rechtsordnung, die Wirtschaftsordnung, den öffentlichen und internationalen Frieden als Rechtsgüter, weil und soweit sie Garanten menschlicher Selbstverwirklichung sind, also dem einzelnen Menschen die Bedingungen zur freien Entfaltung schaffen. Dagegen wendet er sich gegen die dem Staat und der Rechts- und Wirtschaftsordnung „innewohnenden Tendenz, sich zu verabsolutieren und sich selbst sich zum (Selbst-)Zweck zu setzen“. Dieser Gefahr verfallen seines Erachtens insbesondere solche „Konzeptionen, die – den unabdingbaren Bezug von Staat, Rechtspflege, Wirtschaftsordnung etc. auf die menschliche Person verkennend – den einheitlichen personalen Rechtsgutsbegriff aufspalten in einen „individuellen Rechtsgutsbegriff“ auf der einen und einen „sozialen Rechtsgutsbegriff auf der anderen Seite“. 36 Dem entspricht auch die Kritik Köhlers an allzu ausufernden und unbestimmten Rechtsgutsschöpfungen bzw. an der Flucht in die Erfindung abstrakter „Universalrechtsgüter“. Er schreibt: „Eine Grenzüberschreitung lässt den materiellen Verbrechensbegriff außer acht und verformt das Strafrecht zum totalen Ordnungsmittel. Methodologisch beruht das auf der Vorstellung, „Rechtsgüter“ existierten in abstrakter Allgemeinheit – also losgelöst vom fassbaren Bezug auf das Dasein besonderer personaler Freiheit – und könnten in dieser Abstraktheit verletzt werden. Aber der ,öffentliche Friede‘ oder die ,Sicherheit‘ sind nicht unvermittelt Rechtsgüter; rechtskonstitutiv können nur bestimmte Bedingungen äußerer Freiheit anderer sein. (. . .) Soll also (Straf)Unrecht begründet sein, so muß das jeweilige Handeln selbst schon personale oder interpersonale Freiheitsbedingungen beeinträchtigen; erst dadurch kann die allgemeine Sicherheit oder der allgemeine Frieden wesentlich verletzt werden.“ (M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 33 (Fn. weggelassen)).
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schen und internationalen Institutionen eine der Verfassung ähnliche Ordnung sieht, die sich zumindest stetig an einen rechtlichen Zustand auf der Welt37 annähert, kann diese Ordnung aus den selben, oben für die staatliche Ordnung benannten Gründen nicht strafrechtliches Schutzgut sein: Nicht die allgemeine Friedensordnung selbst, sondern nur bestimmte Bestandteile einer solchen Ordnung können strafrechtliche Schutzgüter darstellen. Soweit auf das „Sicherheitsgefühl“ einer bestimmten Gesellschaft abgestellt wird,38 potenziert sich das Problem noch. Zu der Unbestimmtheit des Gegenstands („der Sicherheit“) tritt die Unbestimmtheit des Begriffs „Gefühl“.39 Hörnle umschreibt das Gefühl der Sicherheit in der Bevölkerung als „subjektive Bewertung der allgemeinen Rechtssicherheit durch eine unbestimmte Vielzahl von Personen in der Gesamtbevölkerung“; das „Vertrauen der Bevölkerung“ sei nicht mehr als die „Summe der emotionalen Einstellungen der einzelnen Bürger in Anbetracht entweder der von ihnen bewerteten Sicherheitslage im allgemeinen oder in Anbetracht des konkreten Vorfalls, der bestraft werden soll“.40 Der Verweis auf solche emotionalen Einstellungen sei „zu unmittelbar psychologisierend, um als Definition zu befriedigen“ 41 und ein derartiges sozialpsychologisches Phänomen sei nicht hinreichend messbar.42 Der Schutz des Vertrauens der Bevölkerung in die Fortdauer des friedlichen Zusammenlebens bzw. die Verhinderung des Umschlagens dieses Vertrauens in einen Zustand allgemeiner Ver37 Nach Kant wären dafür drei Ebenen, die sich gegenseitig bedingen, erforderlich: „Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, 1. die nach dem S t a a t s b ü r g e r r e c h t der Menschen, in einem Volke (ius civitatis), 2. nach dem V ö l k e r r e c h t der Staaten im Verhältnis gegen einander (ius gentium), 3. die nach dem W e l t b ü r g e r r e c h t , so fern Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließenden Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaats anzusehen sind (ius cosmopoliticum). I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, *-Anmerkung, BA 19. Vgl. dazu J. Ebbinghaus, „Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage“, in: H. Oberer/G. Geismann (Hrsg.), Julius Ebbinghaus, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (1986), S. 1 ff.; V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden‘ (1995); G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“, Zeitschrift für philosophische Forschung 37 (1983), S. 363 ff.; K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 210 ff. 38 Vgl. Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 1. Der BGH spricht außerdem vom „psychischen Klima“ in einer Gesellschaft (BGH NJW 1978, 58 (59)). 39 Kritisch auch H. Giehring, „Politische Meinungsäußerung und die Tatmodalitäten des Werbens und der Unterstützung in den §§ 129, 129a StGB“ StV 1983, S. 296 (302) und M. Nehring, Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland (2007), S. 128 ff. 40 T. Hörnle, „Der Schutz von Gefühlen im StGB“ (2003), S. 268 (270, 271); siehe auch dies., Grob anstößiges Verhalten – Strafrechtlicher Schutz von Moral, Gefühlen und Tabus (2005), S. 105. 41 T. Hörnle, „Der Schutz von Gefühlen im StGB“ (2003), S. 271. 42 T. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten (2005), S. 102, 103.
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unsicherung könne daher nicht als legitimer Gegenstand von Strafgesetzen gelten.43 Zu recht weist auch Müssig darauf hin, dass eine „hinreichend präzise und empirisch fruchtbare Definition des Gefühls bisher nicht in Sicht“ sei.44 Er begründet seine Kritik am „Rechtsgut des allgemeinen Rechtssicherheitsgefühls“ zusätzlich mit dem aus seiner Sicht bestehenden Hauptzweck des Strafrechts, der in der Garantie „kommunikativ vermittelter Gestalt der Gesellschaft, die dann erst mittelbar eine psychologisch zu deutende individuelle Orientierungssicherheit begründen kann“, liege. Aus dieser Perspektive konsequent weist er darauf hin, dass ein so verstandenes Strafrecht nicht primär der „Stabilisierung individueller Bewusstseinszustände“ dienen könne. Auch Roxin ist zurückhaltend, wenn es darum geht, durch das Strafrecht Gefühle zu schützen: Es könne grundsätzlich nicht Aufgabe des Strafrechts sein, negative Emotionen von seinen Bürgern fernzuhalten.45 Er neigt allerdings zu einer Ausnahme für den Fall, dass ein Einzelner sich durch eine Handlung in seinem Sicherheitsgefühl beeinträchtigt fühlt; in einem Rechtsstaat müsse der Staat seiner Schutzaufgabe gerecht werden und garantieren, dass „man sich nicht voreinander fürchten oder sich von anderen diskriminieren lassen muss“ 46. Aus diesem Grund sei der strafrechtliche Gefühlschutz z. B. bei den Ehrverletzungsdelikten (§§ 185 ff.), der Anleitung zu Straftaten (§ 130a) oder der Beschimpfung von Bekenntnissen, Religionsgesellschaften und Weltanschauungsvereinigungen (§ 166) schon aus den Voraussetzungen eines die Grundrechte gewährleistenden Zusammenlebens gerechtfertigt.47 Aber auch nach Roxin wird dies keinesfalls problemlos für das in den §§ 129 ff. vermeintlich geschützte „Sicherheitsgefühl der Bevölkerung“ anzunehmen sein, denn es geht dort weder um das „Sicherheitsgefühl eines Einzelnen“, noch ist die in den §§ 129 ff. enthaltene Angriffsrichtung in vergleichbarem Maß wie bei den oben genannten Delikten konkretisiert. Auch nach Roxin ist das Rechtsgut „öffentlicher Frieden“ abstrakt gefasst,48 so dass sich das damit zusammenhängende und auf die Sicherheit im Staat bezogene Gefühl kaum präzise genug bestimmen lassen wird.
43 Diese Einschätzung teilt auch R. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht (2002), S. 34, der darauf hinweist, dass ein Gefühl sich nicht dadurch „entsubjektivieren“ ließe, dass es der Allgemeinheit zugeschrieben werde. Über den Gefühlsschutz sei die „Rechtsgutsrelevanz eines pönalisierten Verhaltens nicht herzustellen“. 44 B. J. A. Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994), S. 212. 45 C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, S. 22. Drastischer formuliert das K. Amelung: „Aufgabe des Strafrechts ist die Erhaltung menschlicher Ko-Existenz, nicht menschlichen Ko-Sentiments.“ (Rechtsgüterschutz (1972), S. 347). 46 C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, S. 22. 47 Ebenda, S. 22, 23. 48 Ebenda, S. 28, 29.
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Zu diesen Argumenten der Unbestimmbar- und Unmessbarkeit des „Sicherheitsgefühls“ tritt ein weiteres, substantielleres hinzu. Das „Sicherheitsgefühl“ erhielte, wenn es tatsächlich zum strafrechtlichen Schutzgut deklariert würde, die Qualität eines Rechtsbegriffs. Damit müssten die Anforderungen, die an einen solchen Rechtsbegriff – vor allem in Abgrenzung zu dem Begriff der Ethik49 – gestellt werden, erfüllt sein. Erstes und gleichzeitig bestimmendes Element eines freiheitlichen Rechtsbegriffs ist aber sein auf die äußere Seite menschlicher Beziehungen reduzierter Geltungsanspruch. Kant hat dies mit besonderer Klarheit herausgearbeitet: Der Begriff des Rechts betrifft nach ihm nur das „äußere und zwar praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Fakta aufeinander (unmittelbar oder mittelbar) Einfluß haben können“ 50. Das Recht beschränkt sich auf Sollensvorschriften für äußeres Handeln; Einstellungen, Meinungen, Gesinnungen oder Gefühle können, solange sie im Innenraum des Subjekts verbleiben, nicht Gegenstand juridischer Gesetzgebung sein.51 Geismann konkretisiert dies folgendermaßen: „Das innere Verhältnis einer Person zu einer anderen Person (in Form von Gedanken oder Gefühlen zueinander) tangiert als solches nicht deren äußere Freiheit, ist somit als solches kein möglicher Faktor in einem Handlungskonflikt und kommt daher auch für die Bestimmung des Rechtsbegriffs nicht in Betracht. Gedanken oder Gefühle mögen zu bestimmten Handlungen führen; aber dennoch ist ein Konflikt zwischen Personen in Bezug auf deren äußere Freiheitssphäre unmittelbar ausschließlich durch die Handlungen selbst verursacht. Für die Bestimmung des Rechtsbegriffs ist daher nur das äußere Verhältnis zwischen Personen relevant.“ 52 Innere Befindlichkeiten stellen demnach keine taugliche Rechtsmaterie dar; weder darf auf die Innerlichkeit eines einzelnen von Rechts wegen zugegriffen werden (sei es durch Zwang, sei es durch Strafe), noch darf ein „Gefühl“, sei es auch ein kollektives, maßgeblicher Grund für ein staatliches Verbot bestimmten Verhaltens sein. Die staatliche Ordnung als Rechtsordnung würde die Mindestanforderungen an den Begriff des Rechts unterschreiten und in gefährliche Nähe zur Willkür geraten, ließe sie als Grund für die Schaffung von strafrechtlichen Tatbeständen den Rekurs auf Gefühle zu.
49 Vgl. zum Verhältnis von Recht und Ethik die Beiträge im Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), die sich aus verschiedenen Richtungen mit dem Themenschwerpunkt „Recht und Sittlichkeit bei Kant“ auseinandersetzen. Siehe ferner die Beiträge, in: J. Blühdorn/J. Ritter (Hrsg.), Recht und Ethik (1970) und B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 399 ff. (insbesondere S. 412 ff.). 50 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § B, AB 32 (AkademieAusg., Band VI, S. 230). 51 Vgl. dazu auch M. Köhler, „Zur Frage der Strafbarkeit des Leugnens von Völkermordtaten“ NJW 1985, S. 2389 ff. 52 G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“, Jahrbuch für Recht und Ethik, Bd. 14 (2006), S. 3 ff. (19).
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2. Die im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs enthaltenen Rechtsgüter als Schutzgüter der §§ 129 ff. StGB Die benannten Legitimationsprobleme des Rechtsguts „öffentlicher Frieden“ (der die Rechtssicherheit der Bürger und das darauf bezogene Sicherheitsgefühl umfassen soll53) zu umgehen scheint, wer – wie zuerst Rudolphi54 – als Schutzgut der §§ 129 ff. von vorneherein nicht den öffentlichen Frieden, sondern die sonstigen im Besonderen Teil des Strafgesetzbuchs geschützten Rechtsgüter (etwa: das Leben, die körperliche Unversehrtheit, die persönliche Freiheit, das Eigentum, das Vermögen, die Sicherheit im Rechtsverkehr, die Sicherheit im Straßenverkehr, die Umwelt, etc.) sieht.55 Zur Begründung führen Vertreter dieser Ansicht an, dass sich kriminelle und terroristische Vereinigungen durch ihre besondere Gefährlichkeit für die im StGB enthaltenen Rechtsgüter auszeichnen, insbesondere weil sie „individuelle Hemmfaktoren“ abbauten und „über ihre Strukturen die Begehung der beabsichtigten Straftaten erleichtern“ 56. Diese besondere Gefährlichkeit rechtfertige die §§ 129 ff., die zur Aufgabe hätten, „bereits die Gründung und den Fortbestand derartiger Vereinigungen als solcher zu verhindern, und zwar, um nach Möglichkeit schon von vorneherein diese Vereinigungen als bloße Gefahrenquelle für die Rechtsgüter des Staates und der Bürger auszuschalten“ 57 Die im StGB enthaltenen Rechtsgüter seien deshalb ausnahmsweise bereits im Vorbereitungsstadium geschützt, so dass die §§ 129 ff. insofern lediglich eine über den § 30 StGB hinausgehende Vorverlagerung des Strafschutzes in das Vorbereitungsstadium enthielten.58 Mit dieser Argumentation, die die Regelungen der §§ 129 ff. mit der notwendigen Gefahrenabwehr im „Frühstadium“ einer potentiellen Straftat rechtfertigen, wird die Suche nach dem Rechtsgut der §§ 129 ff. zumindest auf den ersten Blick deutlich erleichtert. Es geht nun nicht mehr darum, den recht diffusen Begriff der „Sicherheit“ oder des „öffentlichen Friedens“ näher zu bestimmen, vielmehr wird direkt auf allgemein anerkannte Rechtsgüter des Besonderen Teils
53
Vgl. dazu die Nachweise oben in Fn. 11 und 12. H.-J. Rudolphi, „Verteidigerhandeln als Unterstützung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung i. S. der §§ 129 und 129a StGB“ (1978), S. 315 ff. und „Notwendigkeit und Grenzen einer Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes im Kampf gegen den Terrorismus“ ZRP 1979, S. 214 ff., SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129, Rn. 3, 4. 55 Vgl. dazu die weiteren Nachweise oben in Fn. 11 und R. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht (2002), S. 287. 56 R. Hefendehl, Kollektive Rechtsgüter im Strafrecht (2002), S. 287, der damit die Argumentation Rudolphis („Verteidigerhandeln als Unterstützung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung i. S. der §§ 129 und 129a StGB“ (1978), S. 317) prägnant zusammenfasst. 57 H.-J. Rudolphi, „Verteidigerhandeln als Unterstützung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung i. S. der §§ 129 und 129a StGB“ (1978), S. 317. 58 Ebenda. So auch OLG München, a. a. O. (Fn. 10). 54
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rekurriert. Allerdings bleibt dabei offen, wie man sich die Gefahren, die von der gegründeten Vereinigung für strafrechtliche geschützte Rechtsgüter ausgehen und deren Vorfeldschutz genau vorzustellen hat. Denkbar sind zwei Konzeptionen: Die erste Möglichkeit lautet, dass durch Gründung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung generell die Gesamtheit all derjenigen Rechtsgüter gefährdet wird, die möglicherweise im Verlauf des Bestandes der gegründeten Vereinigung durch die Verwirklichung von Straftatbeständen angegriffen werden. So formuliert, wird die erste Ungewissheit offenkundig, die mit diesem Ansatz verbunden ist: Zum Zeitpunkt der Tathandlung der §§ 129 ff. steht das konkret durch sie geschützte Rechtsgut noch gar nicht fest und ist auch nicht feststellbar. Denn der auf die Tathandlung folgende Zeitraum lässt sich (wie auch sonst beim Blick in die Zukunft) nicht mit hinreichender Sicherheit überblicken. Denkbar ist sowohl, dass es, etwa wegen vorzeitiger Auflösung der Vereinigung, gar nicht mehr zur Begehung einer Straftat kommt – also letztlich kein Rechtsgut verletzt oder gefährdet wird und deshalb auch kein Rechtsgut „im Vorfeld“ geschützt werden kann – als auch, dass es, etwa weil sich die Vereinigung dauerhaft konstituiert hat und auf unbestimmte Zeit fortbesteht, zur Begehung unzähliger, im einzelnen zum Zeitpunkt der Vereinigungsgründung noch gar nicht absehbarer Delikte kommt. Zum Tatzeitpunkt der §§ 129 ff. kann jedenfalls keine Aussage darüber getroffen werden, ob später tatsächlich ein Rechtsgut und wenn ja, welches Rechtsgut verletzt werden wird; dementsprechend ist auch offen, ob ein Rechtsgut und wenn ja, welches durch die §§ 129 ff. schon „im Vorfeld“ geschützt wird. Verzichtet man auf diesen Versuch der Konkretisierung im Hinblick auf das gefährdete Rechtsgut bleibt „die Gesamtheit der potentiell durch die Vereinigung angreifbaren Rechtsgüter“ als Schutzobjekte der §§ 129 ff. Diese „Gesamtheit“ gilt dann bei jeder Bildung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung schon dadurch als abstrakt gefährdet59, dass sich eine Vereinigung mit kriminellem Zweck formiert und als solche eine Gefahrenquelle für eine unüberschaubare Menge von Rechtsgütern bilden könnte.60 Die Abstraktion bezieht sich dabei nicht nur auf die Gefahr selbst – es ist offen, ob, wann und wie sich die Gefahr 59 Über die Einordnung der §§ 129 ff. als abstrakte Gefährdungsdelikte ist man sich – auch über die Grenzen des Rechtsgutsstreits hinweg – weitgehend einig. Vgl. z. B. Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 1; MüKo-Schäfer, § 129, Rn. 4; Fischer, § 129, Rn. 3; LK-Krauß, § 129, Rn. 2; NK-Ostendorf, § 129, Rn. 5; Kindhäuser, LPKStGB, § 129, Rn. 4 (m.w. N.); M. Fürst, Grundlagen und Grenzen der §§ 129, 129a StGB (1989), S. 64. Differenzierter Langer-Stein, Legitimation und Interpretation der strafrechtlichen Verbote krimineller und terroristischer Vereinigungen (1987), S. 209– 213. Siehe zur Frage der Einordnung als abstraktes Gefährdungsdelikt auch unten im Text S. 266 ff. 60 So im Kern die Argumentation Rudolphis, „Verteidigerhandeln als Unterstützung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung i. S. der §§ 129 und 129a StGB“ (1978), S. 317.
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realisieren wird61 – sondern auch auf das potentiell gefährdete Rechtsgut – es ist offen, welches Rechtsgut jemals gefährdet sein könnte. Diese doppelte Vagheit bewirkt, dass die Ansicht Rudolphis mit ganz ähnlichen Legitimationsschwierigkeiten zu kämpfen hat wie die herrschende Meinung, die zur Bestimmung des Schutzgutes der §§ 129 ff. auf den „öffentlichen Frieden“ abstellt. Denn auch hier stellt sich das von W. Beck richtig formulierte Problem der mangelnden „konkreten Erfassung des Schutzobjekts“ 62. Anstelle des abstrakten „öffentlichen Friedens“ ist die abstrakte „Gesamtheit aller Rechtsgüter“ getreten. An der für das Strafrecht notwendigen Präzision bei der Bestimmung des Rechtsguts fehlt es beiden Ansichten gleichermaßen. Zudem ist beim Schutz „aller Rechtsgüter“ genauso wenig ein bestimmbares Element allgemeiner Freiheit betroffen wie beim „öffentlichen Frieden“, sondern wiederum das Allgemeine, die Gesamtheit alles Schutzwürdigen überhaupt. Die mit dem oben beschriebenen Phänomen des Universalrechtsguts verbundenen Legitimationsprobleme bleiben also ungelöst. Die zweite grundsätzliche Möglichkeit könnte das Problem der Unbestimmtheit und Abstraktheit der im Vorfeld geschützten Rechtsgüter beheben. Sie besteht darin, auf die zum Zeitpunkt der Gründung der Vereinigung intendierten Straftaten abzustellen.63 Damit würde die Vorschriften der §§ 129 ff. ihrer Struktur nach stärker dem auch von Rudolphi zur Erklärung herangezogenen § 30 StGB gleichen.64 Denn auch bei § 30 StGB geht es um ein pönalisiertes Vorverhalten, allerdings um ein Vorverhalten im Hinblick auf ein bestimmtes Verbrechen. Durch den Bezug auf eine bestimmte Straftat ist beim § 30 schon zur Tatzeit (etwa beim Versuch des Bestimmens (Abs. 1), beim Sich-bereit-erklären oder bei der Verbrechensverabredung (Abs. 2)) feststellbar, welches Rechtsgut im „Frühstadium“ geschützt sein soll.65 § 30 stellt damit eine Vorfeldkriminalisierung im eigentlichen Wortsinn dar, denn es geht um das „Vorfeld“ einer konkret ins Auge gefassten Straftat, um zeitlich und logisch vorgelagerte Verhaltensweisen, die nicht selbständig, sondern nur durch ihren Bezug auf das in den Blick genommene Verbrechen strafbare Handlungen darstellen.66 Dies wäre bei den 61 Dies ist das typische Merkmal aller abstrakten Gefährdungsdelikte, vgl. C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 10, Rn. 124 und § 11, Rn. 153 ff.; M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 31 ff. 62 A. a. O. (Fn. 21). 63 So für § 129a OLG München, a. a. O. (Fn. 10). 64 A. a. O. (Fn. 57). 65 Zum Konkretisierungserfordernis bei der Verbrechensverabredung siehe z. B. C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. II, S. 307. 66 Ob damit eine tatsächliche, hypothetische oder nur „virtuelle“ Akzessorietät zum angestrebten Delikt gegeben ist, ist umstritten (vgl. NK-Zaczyk, § 30, Rn. 8, 22). Vgl. zur systematischen Stellung des § 30 H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, S. 700 ff., C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. II, S. 285 ff.
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§§ 129 ff. ähnlich, wenn der vorgezogene Rechtsgüterschutz auch bei ihnen seinen Gegenstand in den jeweils bei Vereinigungsgründung angestrebten Straftaten hätte. Allerdings ist mit diesem Rekurs auf die Ähnlichkeit zu § 30 das Legitimationsproblem keinesfalls gelöst. Denn erstens ist schon fraglich, ob die Formulierung der §§ 129 ff. es zulässt, tatsächlich auf die bei Gründung der Vereinigung intendierten Delikte abzustellen. Das Gesetz formuliert in § 129, es müsse sich um eine Vereinigung handeln, „deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Straftaten zu begehen“. Dies ist eine denkbar allgemeine Formulierung dessen, was die Vereinigung im Innersten zusammenhält. Ihr Zweck muss die Begehung von Straftaten überhaupt sein. Dass aber zum Zeitpunkt der Bildung der kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung schon fest umrissen wird, welche Delikte begangen werden sollen, ist nach dem Gesetzeswortlaut nicht gefordert.67 Eine restriktive Auslegung des Inhalts, dass die Schutzgüter der zum Gründungszeitpunkt ins Auge gefassten Delikte maßgeblich für die Rechtsgutsbestimmung der §§ 129 ff. sein sollen, würde also den insofern eindeutigen Wortlaut der Norm sprengen. Zweitens ist aber auch die Legitimität von § 30 selbst mehr als zweifelhaft, denn die Vorverlagerung des Strafschutzes in das Vorbereitungsstadium einer Straftat ist ihrerseits starken Bedenken ausgesetzt.68 Diese Bedenken sollen im nächsten Abschnitt (unter II.) gründlicher untersucht werden. 3. Zusammenfassung zu I. Die Bestimmung des Schutzgutes der §§ 129 ff. ist bisher nicht überzeugend geleistet worden. Weder die herrschende Meinung, die mit den §§ 129 ff. den „öffentlichen Frieden“ geschützt sieht, noch die von Rudolphi begründete Gegenansicht, nach der die Gesamtheit der im StGB enthaltenen Rechtsgüter Schutzgut
67 BGHSt 27, 325 (328): „Der gegen kriminelle Vereinigungen gerichtete § 129 StGB erfaßt auch Zusammenschlüsse von Personen, welche noch keine Straftaten begangen, aber die Begehung künftiger Straftaten ins Auge gefaßt haben. Die Absicht solcher Vereinigungen, Straftaten zu begehen, braucht noch nicht bis zur Vorbereitung einzelner Taten konkretisiert zu sein. Vielmehr reicht es aus, wenn sich die in der Vereinigung zusammengefaßten Mitglieder bewußt sind, daß es bei der Verfolgung ihrer Pläne – nicht nur gelegentlich oder beiläufig (. . .) – zur Begehung erheblicher Straftaten kommen kann und daß sie dies auch wollen (vgl. RGSt 54, 102, 104).“ Siehe ferner BGH NStZ 1999, 503 (504); Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 7; Fischer, § 129, Rn. 11, 15; LK-Krauß, § 129, Rn. 74; Kindhäuser, LPK-StGB, § 129, Rn. 16; genauer zum Unterschied zwischen § 30 und den §§ 129 ff. SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129, Rn. 9. 68 Vgl. NK-Zaczyk, § 30, Rn. 4, 5; W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung (1992), S. 204 ff.; ursprünglich auch G. Jakobs, „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 (765).
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der §§ 129 ff. ist, überzeugt.69 Die Begründungen, die jeweils vorgetragen werden, können die Bedenken hinsichtlich der Legitimität der §§ 129 ff. nicht ausräumen. Insbesondere fehlt es beiden Ansätzen an der für das Strafrecht notwendigen Präzision bei der Bestimmung des durch die pönalisierten Verhaltensweisen konkret angegriffenen Rechtsguts; beide Ansätze fliehen in die Abstraktion, um eine konkrete Rechtsgutsbetroffenheit nicht ausweisen zu müssen. Dadurch wird aber auch die Unrechtsbestimmung selbst vage, jedenfalls dann, wenn man der Bestimmung des Rechtsguts auch für die Qualität des Unrechts Bedeutung zumisst.
II. Die Tathandlungen der §§ 129 ff. StGB: Vorfeldkriminalisierung, Gefährdungsunrecht oder politische Organisationsanmaßung? Untersucht man im nächsten Schritt die in den §§ 129 ff. unter Strafe gestellten Tathandlungen näher, so fällt auf, dass diese verglichen mit den diskutierten Schutzgütern der Vorschrift („öffentlicher Friede“, „Gesamtheit aller Rechtsgüter“) eher unspektakulär anmuten. Bestraft wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe gem. § 129 (der damit ein bloßes Vergehen ist), wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, Straftaten zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, für sie um Mitglieder oder Unterstützer wirbt oder sie unterstützt. § 129a qualifiziert diesen Tatbestand zum Verbrechen70, indem er in seinem Absatz 1 den Katalog der durch die Vereinigung angestrebten Straftaten auf bestimmte, schwere Delikte beschränkt71 und im Absatz 2 eine terroristische Zielsetzung bei Begehung der in Absatz 2 aufgezählten (zukünftigen) Straftaten und deren Eignung zur Gefährdung der Funktionsfähigkeit eines Staates oder einer internationalen Organisation hinzunimmt.72 Tathandlungen sind also das „Gründen“, das „Sich-als-Mitglied-Beteiligen“, das „Werben um Mitglieder oder Unterstützer“ und das „Unterstützen“ einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung. Mit „Gründen“ ist das „führende und richtungsweisende Mitwirken beim Zustandekommen der Vereinigung“ gemeint.73 Als Mitglied beteiligt sich, wer sich unter Eingliederung in die Organi69 Genauso sieht das D. Klesczewski, „Tatbestandsbildung als Feinderklärung?“ (2008), S. 109 (116). 70 Kühl weist zu Recht darauf hin, dass daher auch § 30 auf § 129a anwendbar ist und dementsprechend beispielsweise auch eine erfolglose Aufforderung zur Gründung einer entsprechenden Vereinigung strafbar ist (Lackner/Kühl, § 129a, Rn. 2). 71 Mord, Totschlag, Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch, Straftaten gegen die persönliche Freiheit gem. § 239a oder § 239b. 72 Vgl. SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129a, Rn. 6. 73 BGHSt 27, 325 (327); BGH NJW 1954, S. 1254 ff.; B. Scheiff, Wann beginnt der Strafrechtsschutz gegen kriminelle Vereinigungen (§ 129 StGB)? (1997), S. 89 ff.
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sation deren Willen unterordnet und eine Tätigkeit zur Förderung der kriminellen Ziele der Vereinigung entfaltet.74 Um Mitglieder (d. h. Personen, die sich mitgliedschaftlich in die Organisation einfügen) oder Unterstützer (d. h. solcher Personen, die außerhalb der dauerhaften Organisation stehen), wirbt, wer als Nichtmitglied der Vereinigung (sonst greift die 2. Alt) planmäßig vorgeht, um andere für die Organisation zu gewinnen.75 Das Unterstützen umfasst jede Förderung des Fortbestands der Vereinigung bzw. der Verwirklichung ihrer Ziele durch ein Nichtmitglied.76 Die §§ 129 ff. StGB kriminalisieren damit Verhaltensweisen, die primär den Bestand der kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung selbst betreffen. Eine Aktivität, die über diese „Bestandssicherung“ hinaus geht, etwa die Vorbereitung, mittel- oder unmittelbare Förderung der Vorbereitung oder eine sonstige Mitwirkung an einer von dieser Vereinigung verübten Straftat wird nicht gefordert. So betrachtet, lässt sich noch nicht einmal sagen, dass es bei den §§ 129 ff. um die Ahndung von Aktivitäten im „Frühstadium“ von klassischen Rechtsgutsverletzungen, also um Vorfeldkriminalität im eigentlichen Wortsinn geht;77 es wird zwar „eine generelle Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes in das Vorbereitungsstadium bezweckt“ 78, aber bestraft wird ganz unabhängig davon, ob es überhaupt zu einer Vorbereitung eines Delikts kommt und ob der Betroffene an ihr Teil hat; bestraft wird, weil es wegen der vom Täter (auf beliebige Weise) unterstützten Organisationsstruktur leichter zu Vorbereitungen und Begehungen von Straftaten kommen könnte. Grund für die Strafbarkeit nach §§ 129 ff. ist demgemäß die durch die beschriebenen Verhaltensweisen der Gründung, Beteiligung, etc. geschaffene besondere Gefahr: Bestraft wird die (Mit-)Begründung, Aufrechterhaltung oder Verstärkung einer potentiellen Gefahr für ein unbestimmbares Rechtsgut, welche 74 Für die Mitgliedschaft in einer Geheimverbindung i. S. d. § 128 StGB a. F. vgl. BGH NJW 1960, 1772 (1773). Siehe ferner Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 13 (m.w. N.) und NK-Ostendorf, § 129, Rn. 18, der darauf hinweist, dass es für die „Beteilung als Mitglied“ nicht erforderlich ist, dass der Täter sich selbst an den beabsichtigten Straftaten beteiligt; er muss nur die kriminelle Zielsetzung von innen her, funktionseingebunden fördern. Zustimmend SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129, Rn. 16b. 75 Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 14–14b (m.w. N.). Zu einer restriktiven Auslegung des Merkmals „Werben“ vgl. H. Giehring, „Politische Meinungsäußerung und die Tatmodalitäten des Werbens und der Unterstützung in den §§ 129, 129a StGB“ StV 1983, S. 296 ff. 76 Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 15 (m.w. N.). Nach SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129, Rn. 17 ist das Unterstützen die „Aufrechterhaltung oder Erhöhung des spezifischen Gefährdungspotenzials der Vereinigung, und zwar auf grundsätzlich beliebigem Wege“ (Klammerzusätze weggelassen). 77 Die Tatsache, dass ein Verhalten, welches weit im Vorfeld einer messbaren und konkretisierbaren Gutsbeeinträchtigung liegt, kriminalisiert wird, ist laut Beck das entscheidende Definitionsmerkmal einer jeden Vorfeldstrafbarkeit, vgl. W. Beck, a. a. O. (Fn. 21), S. 21, 22. 78 BGHSt 28, 116.
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allein dadurch begründet ist, dass eine auf kriminelle Zwecke angelegte Vereinigung existiert. Rudolphi/Stein formulieren das so: „Der Unrechtsgehalt besteht in der Schaffung oder Verstärkung des Gefahrenpotenzials, das in der Existenz und in den tatsächlichen Aktionsmöglichkeiten krimineller Vereinigungen liegt.“ 79 Dem zugrunde liegt die Vorstellung, dass die Existenz der Vereinigung selbst schon hinreichend Anlass gibt, die Begehung von Straftaten in der Zukunft befürchten zu müssen: „Es sind nicht nur die von solchen Vereinigungen drohenden Straftaten aufgrund ihrer gemeinschaftlichen Begehungsweise typischerweise besonders gefährlich, sondern es ist vor allem auch die Begehungswahrscheinlichkeit erhöht, weil solche Vereinigungen in der Regel eine auf die Begehung der vom Vereinigungszweck umfassten Taten hindrängende Eigendynamik entfalten, die das persönliche Verantwortungsgefühl der einzelnen Mitglieder reduziert. Dies wiederum beruht erstens auf gruppendynamischen Prozessen, die bei den Mitgliedern individuelle Hemmungsfaktoren abbauen und nicht selten zusätzliche Motive zur Begehung von Straftaten beisteuern, zweitens auf den Organisationsstrukturen der Vereinigungen, die typischerweise zweckrational auf die Begehung von Straftaten ausgerichtet sind und dadurch ihren Mitgliedern die Planung und Ausführung der Straftaten erleichtern.“ 80 Die Gefahr der Deliktsbegehung wird dabei dem Grundgedanken nach vergleichbar mit der von einem baufälligen Haus ausgehenden latenten Gefahr des Einsturzes vorgestellt – und damit einem typischen Fall einer ordnungsrechtlichen Gefahrenlage, die intervenierende Eingriffe nach den Ordnungsgesetzen rechtfertigt, nicht aber strafrechtliche Reaktionen: Die Tatsache, dass eine kriminelle Vereinigung existiert, begründe eine „Eigendynamik“, die jederzeit in die Begehung von Straftaten einmünden könne; gruppendynamische Prozesse und die Organisationsstrukturen der Vereinigung verminderten etwaige Widerstände in den handelnden Subjekten und sorgten so für eine erleichterte Straftatbegehung;81 von der kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung gehe eine latente Gefahr einer Straftatbegehung aus. An dieser Unrechtsbegründung ist zweierlei problematisch: Erstens wird bei der Begründung der Gefahrenlage eine Strukturgleichheit oder zumindest -ähnlichkeit zwischen naturgesetzlichem Gefährdungspotenzial (beispielsweise dem den Gesetzen der Schwerkraft folgenden Zusammensturz eines baufälligen Hauses) und menschengesetzlichem Begehen von Straftaten behauptet. Zwar geht die Argumentation dahin, den Unterschied zwischen beiden Formen der Gesetzlichkeit nur für die gruppendynamischen Prozesse innerhalb
79
SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129, Rn. 3. Zustimmend NK-Ostendorf, § 129, Rn. 5. SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129, Rn. 3. 81 Vgl. zu der Art dieser gruppendynamischen Prozesse auch K. Letzgus, Vorstufen der Beteiligung (1972), S. 126 ff. 80
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einer kriminellen Vereinigung zu nivellieren und nicht etwa grundsätzlich. Aber es ist doch zweifelhaft, ob die gegebene Begründung ausreicht, um aus den Einzelsubjekten der Vereinigung Glieder einer naturgesetzlichen Bedingungskette zu machen. Das Verantwortungsgefühl wird zwar vielleicht „reduziert“, „Hemmungsfaktoren“ werden vielleicht „abgebaut“ und „Motive“ für die Tatbegehung „geliefert“. Aber all dies kann nur unter der Voraussetzung geschehen, dass die Mitglieder der Vereinigung grundsätzlich als verantwortungsbewusst, mit inneren Widerständen gegenüber dem Unrecht ausgestattet und regel-reflektierend in Ansatz gebracht werden.82 Damit ist aber notwendig ihr eigener Willensentschluss – der nur beeinflusst, nicht aber eliminiert werden kann – jeder Verwirklichung einer Straftat vorgeschaltet.83 Und dadurch verbietet sich jede Gleich- oder Parallelsetzung zu natürlichen Gesetzmäßigkeiten.84 Zweitens wird an die Schaffung bzw. Aufrechterhaltung einer Gefahrenlage nicht nur ein ordnungsrechtliches Zwangsrecht (etwa: die Verfügung und notfalls zwangsweise Durchsetzung einer Auflösung der Vereinigung, Beobachtung zum Zwecke der Gefahrenprognose) geknüpft, sondern eine Strafsanktion. Wer für die Erhaltung oder Erhöhung des Gefahrenpotentials einer bestimmten Vereinigung zuständig ist, soll bestraft werden. Auf diese Weise wird aus ordnungsrechtli82 Ein davon zu unterscheidendes Problem ist das der Überzeugungstäterschaft engeren Sinnes. Vgl. dazu M. Kahlo, „Die Problematik des Handelns aus strafgesetzwidriger Richtigkeitsüberzeugung“ (2005), S. 101 ff. (m.w. N.). Vereinigungen, in denen sich potentielle Täter aus fremden Kultur- bzw. Religionskreisen zusammen finden, können durch ihre Strukturen und Beeinflussungsmöglichkeiten andersartiges Unrechtsverständnis durchaus stützen. Die Vereinigungen haben dann aber eine das grundsätzlich schon angelegte, den geltenden Strafgesetzen u. U. zuwider laufende Unrechtsbewusstsein einzelner Subjekte nur verstärkende Funktion. Dass sie die Eigenständigkeit des einzelnen Mitglieds vollständig aufhöben, lässt sich nur dann sagen, wenn dessen Gewissensentscheidung etwa durch massive Gewaltanwendung oder durch psychische Beeinflussung nach Art der sog. „Gehirnwäsche“ unmöglich gemacht wird. 83 Wie hier D. Klesczewski, „Tatbestandsbildung als Feinderklärung?“ (2008), S. 109 (116–118). Ähnlich (allerdings mit anderer – im Grundzug generalpräventiver – Begründung) F.-Ch. Schroeder, Straftaten gegen das Strafrecht (1985), S. 28, der darauf hinweist, dass die „Stimulierung und Enthemmung“ nicht so weit geht, dass „die Schuldfähigkeit der Mitglieder zum Zeitpunkt der Tatbegehung ausgeschlossen wäre“. 84 Vgl. dazu die Argumentation zur Frage der Organisationsherrschaft bei der mittelbaren Täterschaft von B. Noltenius, Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft (2003), S. 260 ff. Sie schreibt: „(. . .) auch bei der mittelbaren Täterschaft (darf) die Mittelsperson nicht auf einen reinen Kausalprozess reduziert und ihre Vernünftigkeit damit vollständig ausgeblendet werden. Denn anders als ein von einer Person zu steuernder Kausalverlauf ist der einzelne aufgrund seiner Autonomie nicht in gleicher Weise beherrschbar, sondern könnte sich beispielsweise besinnen.“ (S. 261) Es bestehe zwar die Möglichkeit einer Beeinflussung des Willens durch umgebende Mitsubjekte, die auf die Maximenbildung des einzelnen einwirken können. Erfolge aber eine derartige Einflussnahme auf den Entscheidungsprozess des Subjekts, bleibe dieses in seinem Handeln selbst frei, d. h. es behalte die Fähigkeit, sich als Urheber seiner Taten zu verstehen. Auch bei noch so starkem Motivationsdruck schreibe sich der einzelne die Veränderung in der Außenwelt als die Seinige zu (S. 262).
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chem Unrecht unvermittelt strafbares Unrecht85 und zwar ohne dass dies offen gelegt oder begründet würde. Vergleichbar wäre insofern ein gesetzlicher Tatbestand, nach dem der Eigentümer eines baufälligen Hauses nicht nur zur Beseitigung des gefährlichen Zustands herangezogen, sondern auch für seine Eigentümerschaft (und der damit zusammenhängenden Zuständigkeit für die Baufälligkeit) bestraft würde. Eine solche stillschweigende Mutation der einen in die andere Unrechtsform ist wegen der Wesensverschiedenheit zwischen den beiden Unrechtsformen und ihrer jeweiligen Rechtsfolge bedenklich.86 Der Unterschied zwischen ordnungsrechtlichem und strafwürdigem Unrecht wird faktisch aufgehoben und ersetzt durch einen einheitlichen Unrechtsbegriff, der einmal Zwang, einmal Strafe nach sich ziehen kann. Nicht nur der im Begriff des Verbrechens liegende Zusammenhang87 zwischen Tat und Straffolge geht damit verloren, sondern überhaupt jegliches materielles Kriterium für die sog. „fragmentarische Natur des Strafrechts“.88 Denn sobald für die Sanktion mit Strafe jegliche Form von Unrecht ausreicht, kann der materielle Begriff des Kriminalunrechts die „Fragmentierung“ nicht mehr erklären. Es wird dann darüber hinaus in Frage gestellt, dass es überhaupt eine materielle Unterscheidung zwischen dem Recht der Gefahrenabwehr und dem Strafrecht gibt, die grundsätzlich am Begriff und der Qualität des Unrechts anzusetzen hat.89 Eine Folge dieser Begriffsaufweichung 85 Diese Einschätzung teilt auch G. Jakobs, „Terroristen als Personen im Recht?“ ZStW 117 (2005), S. 839 (840) und nennt die §§ 129 ff. eine „polizeirechtliche Verschmutzung des Strafrechts“. Ob allerdings seine weiteren Überlegungen dazu zutreffen, ob „solche Verschmutzungen geradezu notwendig“ sind, sei mit der Argumentation der Verfasserin in „Feindbehandlung im Recht?“ ARSP 2008, S. 337 ff. bezweifelt. Vgl. dazu zudem unten im Text unter 1. c) bb). 86 Vgl. zu den Gründen der Wesensverschiedenheit auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 31 ff. Kritisch auch B. Heinrich, „Die Grenzen des Strafrechts bei der Gefahrprävention“ ZStW 121 (2009), S. 94 (insbesondere S. 116 ff.). 87 Vgl. G. W. F. Hegel, RPh, §§ 95 ff., S. 181 ff. 88 Vgl. dazu C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, S. 45 f. Siehe auch K. Letzgus, Vorstufen der Beteiligung (1972), S. 114: „Die Strafe als das stärkste staatliche Zwangsmittel darf nur dann eingesetzt werden, wenn andere Mittel nicht ausreichend sind, um den Schutz der Gesellschaft zu erreichen, d. h. nur ein gesteigertes Schutzbedürfnis der Rechtsgemeinschaft kann den Einsatz des Strafrechts rechtfertigen.“ Vgl. zur fragmentarischen Qualität des Strafrechts auch R. Zaczyk, „Die Notwendigkeit systematischen Strafrechts – Zugleich zum Begriff ,fragmentarisches Strafrecht‘“ ZStW 123 (2011), S. 691 ff. 89 Siehe dazu auch F. Dencker, „Gefährlichkeitsvermutung statt Tatschuld? – Tendenzen der neueren Strafrechtsentwicklung“ StV 1988, S. 262 (263 f.), der deutlich herausarbeitet, wie sich das auf einer „Tat“ beruhende Straf- und Strafverfahrensrecht (welches wesentlich durch das Schuldprinzip charakterisiert ist) von einem „Gefährlichkeitsstrafrecht“ unterscheidet, bei dem der Mensch in erster Linie als Gefahrenquelle erscheint und behandelt wird. Bei ihm heißt es: „Das (der neueren Terrorgesetzgebung, Anm. Verf.) zugrunde liegende Strafrechtsverständnis ist ,feindstrafrechtlich‘; nicht die gerechte Aburteilung einer an sich schädlichen Tat steht im Vordergrund, sondern das Strafrecht wird zum (materiell) polizeilichen Mittel, um der vermuteten Gefährlichkeit von Personen oder Gruppen zu begegnen.“ (S. 265). Kritisch zu einem sol-
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ist das von Cancio Meliá treffend formulierte Problem, dass für die Bestrafung plötzlich schon „ein irgendwie ,Dabeisein‘, ,Dazugehören‘, ,Einer-von-denensein‘ ausreicht, auch wenn es nur im Geiste ist“ 90. Hält man dagegen an der grundsätzlichen Notwendigkeit fest, die Bestrafung einer Person von der Begehung (echten) strafwürdigen Unrechts abhängig zu machen, muss für die Legitimation der §§ 129 ff. ein anderer Unrechtskern feststellbar sein als die bloße „Zuständigkeit“ für eine Gefahr, die einem unbestimmten und unbestimmbaren Rechtsgut droht. Nur wer die Wesensverschiedenheit zwischen den Unrechtsformen für unerheblich hält, also zwischen Zwang auslösendem und Strafe rechtfertigendem Unrecht nicht mehr qualitativ differenziert bzw. dieser Differenzierung keine entscheidende Bedeutung zumisst91, kann die in den §§ 129 ff. kodifizierte Gefahrschaffung unproblematisch als Strafunrecht einordnen. Im Folgenden soll die Qualität der Tathandlungen der §§ 129 ff. näher untersucht werden. In Betracht kommt die Einordnung als Vorfeldkriminalität (unter 1.), als (abstraktes) Gefährdungsdelikt (dazu 2.) und als strafbare Organisationsanmaßung (3.). Bei allen drei Gruppen stellt sich gleichermaßen die Frage, ob die entsprechende Kategorie und das in ihr beschriebene Unrecht zu Recht als Kriminalunrecht ausgestaltet ist, ob also die §§ 129 ff. als Vorfeld-, Gefährdungsoder Organisations-Kriminalunrecht legitimierbar sind. 1. Die §§ 129 ff. StGB als legitimes „Vorfeld“-Kriminalunrecht? Eine erste Möglichkeit der Unrechtsbegründung könnte darin liegen, in den Tathandlungen der §§ 129 ff. strafwürdiges Straftatvorverhalten zu sehen. Zwar chen „Interventionsstrafrecht“ auch J. Puschke, „Grund und Grenzen des Gefährdungsstrafrechts am Beispiel der Vorbereitungsdelikte“ (2010), S. 9 (23 ff.). 90 M. Cancio Meliá, „,Feindstrafrecht‘ “ ZStW 117 (2005), S. 267 (287). Vgl. auch R. Hefendehl, „Über die Pönalisierung des Neutralen – zur Sicherheit“ (2010), S. 89 (95), der darauf hinweist dass das heutige Strafrecht immer „weniger an Handlungen und Ergebnisse anknüpft, als vielmehr die als Feind ausgemachte Person und deren Intention ins Visier nimmt.“ 91 Tendenzen in diese Richtung weist z. B. das Konzept U. Kindhäusers auf, der die (abstrakte) Gefährdung als Straftat bezeichnet, wenn sie die „zur sorgelosen Verfügung über Güter notwendigen (heteronomen) Sicherheitsbedingungen“ beeinträchtigt. (Gefährdung als Straftat (1989), S. 354). Vgl. auch ders., „Rationaler Rechtsgüterschutz durch Verletzungs- und Gefährdungsverbote“ (1998), S. 263 (270 ff.). Dort antwortet Kindhäuser auf die Frage, ob „diese Sicherung, die traditionell dem Polizeirecht unterliegt, auch Sache des Strafrechts ist“ (S. 274), dass es zwar Argumente gegen eine solche Übernahme ins Strafrecht gebe, dass aber die „Sicherheit zu einer idée directrice sozialer Interaktion avanciert ist und damit durchaus fallweise Berücksichtigung in dem vom Strafrecht abgebildeten Tableau gesellschaftlicher Werte beanspruchen darf“ (S. 279). In der Tendenz aber wiederum anders ders., „Schuld und Strafe“ (2006), S. 81 (94 u. 95). Zu Kindhäusers Konzept der „Gefährdung als Straftat“ vgl. auch unten im Text S. 274 ff. Kritisch dazu M. Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt (2001), S. 150 ff.
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unterscheiden sich die §§ 129 ff. von der Vorfeldstrafbarkeit im engeren Sinne (beispielsweise dem § 30 StGB) insofern, als dass bei ihnen zum Zeitpunkt der Tathandlung nicht feststeht, auf welche Rechtsgutsverletzung bzw. auf welche Straftat sich der Begriff „Vorfeld“ bezieht. Andererseits sollen durch die §§ 129 ff. aber Straftaten, die durch Mitglieder der Vereinigung ihrem Zweck entsprechend zukünftig begangen werden könnten, schon „im Vorfeld“ verhindert werden. Die §§ 129 ff. enthalten demnach Verhaltensweisen, die (irgend)einer potentiellen Gutsbeeinträchtigung zeitlich vorgelagert sind bzw. sein könnten und stellen damit Vorfeldkriminalität in diesem weiteren Sinne dar.92 Die Legitimation solcher Vorfeldpönalisierungen ist allerdings ihrerseits problematisch.93 Im Folgenden soll versucht werden, das Problem vor dem Hintergrund der größeren gegenwärtig diskutierten Unrechtsströmungen94 genauer herauszuarbeiten. Nach einer Skizzierung der Grundgedanken dieser Unrechtslehren soll dann jeweils untersucht werden, ob sie „Verhalten im Frühstadium“ als strafwürdiges Unrecht zu fassen vermögen oder nicht. Sollte sich erweisen, dass die ausgearbeiteten Unrechtsbegriffe unüberwindbare Schwierigkeiten haben, die Vorfeldstrafbarkeit zu begründen, steht ihre Legitimation jedenfalls als konsequent vom Unrechtsbegriff her abgeleiteter Begründungsgang noch aus. a) Zur Notwendigkeit eines materiellen Unrechtsbegriffs Das entscheidende Prinzip des deutschen Strafrechts für die Frage der Unrechtsbegründung ist das Tatprinzip. Danach darf eine Bestrafung nur an eine tatbestandlich umschriebene Handlung anknüpfen und die Sanktion darf sich nur 92 Vgl. nochmals die Begriffsbestimmung bei W. Beck, a. a. O. (Fn. 77); vgl. zu der Einordnung als Vorfelddelikt auch BGHSt 28, 110 (116); M. Fürst, Grundlagen und Grenzen der §§ 129, 129a StGB (1989), S. 281; F.-Ch. Schroeder, Straftaten gegen das Strafrecht (1985), S. 22; M. Nehring, Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland (2007), S. 422 ff. Zur Tendenz der Auslegung des § 129a StGB durch die Rechtsprechung, die die Vorverlagerung weiter begünstigt siehe J. Thielmann, „Alles in allem strafbar oder: die Vorverlagerung der Vorfeldstrafbarkeit“ HRRS 10/2012, S. 458 ff. 93 Auf den Grundsatz der Straflosigkeit von Vorbereitungshandlungen und der deswegen bestehenden besonderen Begründungsbedürftigkeit von Vorfeldkriminalisierungen weist K. Letzgus, Vorstufen der Beteiligung (1972), S. 120 ff. hin. Vgl. ferner Y. Chou, Zur Legitimität von Vorbereitungsdelikten (2011). Die Legitimationsprobleme speziell der §§ 129 ff. StGB benennt auch M. Nehring, Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland (2007), S. 420 ff. (insbes. 426) – freilich ohne daraus Schlüsse zu ziehen. 94 Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird bei der Auswahl der vorgestellten Unrechtslehren nicht erhoben. Auch soll die Darstellung nicht allzu detailliert sein, sondern sich auf Grundgedanken beschränken, um den Bezug zur konkreten Fragestellung – der Legitimität der §§ 129 ff. StGB – nicht zu verlieren. Es geht lediglich darum, eine repräsentative Auswahl derjenigen Grundströmungen möglicher Unrechtslehren vorzustellen, aus denen sich für die Frage nach der Legitimität von Vorfeldstrafbarkeit von je unterschiedlichem Blickwinkel aus konkrete Antworten ableiten lassen.
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„als Antwort auf die Einzeltat und nicht auf die gesamte Lebensführung des Täters oder die von ihm künftig zu erwarteten Gefahren“ darstellen.95 Dieses Tatprinzip wird als Minimalkriterium von allen aktuell vertretenen Unrechtslehren als selbstverständlicher Ausgangspunkt des Bemühens um die Definition von Kriminalunrecht akzeptiert. Daraus lässt sich schließen, dass der Unrechtsgehalt der Tat Grund für die Bestrafung sein muss und nicht etwa die zugrunde liegende Tätergesinnung bzw. Täterpersönlichkeit.96 Bei allen Unterschieden in der Herangehensweise wird vom gesamten Meinungsspektrum der strafrechtlichen Grundlagenforschung vorausgesetzt, dass strafrechtliches Unrecht bestimmten Kriterien genügen muss, um die Sanktion Strafe zu rechtfertigen: Die Strafe ist als Reaktion auf bestimmtes menschliches Verhalten wegen ihrer besonderen Eingriffsintensität in die Freiheit des einzelnen Bürgers nach allen Lehren besonders begründungsbedürftig, und sie wurde auch von jeher so eingeschätzt.97 Dies bedeutet, dass Straftatbestände nicht beliebig ausgestaltet werden können, dass sie sich vielmehr vor dem Hintergrund der erhöhten, spezifisch strafrechtlichen Begründungslast rechtfertigen lassen müssen. Dass es für eine solche Rechtfertigungsleistung notwendig ist, übergeordnete, materielle Kriterien für einen Straftatbegriff herauszuarbeiten, die Konturen desjenigen Verhaltens festlegen, das zu Recht mit staatlicher Strafe belegt werden darf, ist indessen nicht unumstritten. Zumal in neuerer Zeit mehren sich Stimmen, die behaupten, dass Strafrechtsgüter bloße „Produkte eines kontingenten Interessensausgleichs“ bzw. einer „demokratische(n) Kompromissfindung“ sind und gerade keine „substanzhaft bestimmbare(n) Begrifflichkeiten“.98 Diese Auffassung, pointiert vorgetragen beispielsweise von K. F. Gärditz, stützt sich auf ein Demokratieverständnis, nach dem der Entscheidungsfindungsprozess selbst die Legitimation seines Produkts hervorbringt („an die Stelle zu erkennender Substanz (. . .) tritt das gegenstandserzeugende Verfahren“ 99). Nach diesem Verständ95
C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, S. 178. Vgl. etwa Sch/Sch-Lenckner/Eisele, Vorbem. §§ 13 ff., Rn. 3; siehe auch T. Walter, „Der Rechtsstaat verliert die Nerven“ KJ 2008, S. 443 (445–447). 97 Vgl. zunächst die Darstellungen in den gängigen Strafrechtslehrbüchern wie G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 1 ff.; H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, S. 50 ff.; M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 22 ff.; R. Maurach/H. Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilband 1, S. 63 ff.; H. Mayer, Strafrecht Allgemeiner Teil, §§ 3, 4, S. 20 ff.; C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 2, Rn. 1; E. Schmidhäuser, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 47 ff. Siehe ferner W. Gallas, „Gründe und Grenzen der Strafbarkeit“ (1968), S. 1 (6 ff.) und H. Otto, „Rechtsgutsbegriff und Deliktstatbestand“ (1971), S. 1 (insbes. 14, 15). 98 K. F. Gärditz, „Strafbegründung und Demokratieprinzip“ Der Staat 49 (2010), S. 331 (351). Kritisch dazu schon R. Zaczyk, „Demokratieprinzip und Strafbegründung“ Der Staat 50 (2011), S. 295 ff. 99 K. F. Gärditz, „Strafbegründung und Demokratieprinzip“ Der Staat 49 (2010), S. 331 (344). An dieser Stelle zeigt sich ein erster Grundfehler im Denken Gärditz’. Er meint, dass der Prozess der demokratischen Gesetzgebung an die Stelle „zu erkennen96
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nis wäre es sogar demokratie- (und damit verfassungs-)feindlich, (überpositiv) begründete, verbindliche Unrechtskriterien zur Legitimation positiv-rechtlicher Straftatbestände entwickeln zu wollen, denn damit würden Gestaltungsbefugnisse des Gesetzgebers in systemwidriger Weise dadurch eingeschränkt, dass ihm materielle Grenzen gesetzt würden, obwohl doch Rechtsinhalte in einer Demokratie allein durch den demokratischen Prozess erzeugt werden dürften. Allerdings scheinen die Befürworter einer solchen Freisetzung des Gesetzgebers, die sie als Folge der Grundentscheidung für ein demokratisches Gemeinwesen verstehen, dieser nicht uneingeschränkt das Wort sprechen zu wollen: Als „ausgleichendes Korrektiv zur Kontingenz demokratischer Mehrheitsentscheidung“ wollen sie zwar kein überpositives Gedankengut, wohl aber verfassungsrechtliche Vorgaben zulassen.100 Interessanterweise wird ein solches Korrektiv gerade um des Schutzes des „Einzelnen gegenüber einer zu beklagenden Expansion der staatlichen Zwangsbefugnisse unter dem Leitbild zweckrationaler ,Präventionslogik‘“ willen für notwendig erachtet.101 Zwar sei der Zugriff auf „metaphysische Strafbegründungen in Anbetracht der rechtspolitisch umgreifenden, das Strafrecht dysfunktional überfordernden Präventionserwartungen“ verständlich, aber er würde eine „verfassungsrechtlich nicht diskutable Herauslösung der Strafrechtspflege aus den Errungenschaften des auf Positivität gründenden demokratischen Rechtsstaats“ bedeuten. Als verfassungskonformes Korrektiv kämen allein in Betracht: Die „allgemeinen Grundrechtslehren, die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) als Bezugspunkt der verfassungsrechtlich positivierten Freiheitsidee; der rechtsstaat-
der Substanz“ zu treten habe. Die Bemühungen um einen materiellen Verbrechensbegriff finden aber nicht auf dem Feld theoretischer Erkenntnis vorgegebener Materie statt (sind also nicht Teil einer Erkenntnisphilosophie), sondern sind Teil einer praktischen, d. h. auf das menschliche Handeln bezogenen Wissenschaft. Daraus folgt, dass Grundinhalte des Rechts nicht etwa Gegenstände der Erkenntnis sind, wie etwa die Natur Gegenstand der Naturwissenschaft. Vielmehr werden sie selbst als Produkt eines menschlichen Willensprozesses hervorgebracht und unterliegen damit auch den Regeln einer solchen Prozesshaftigkeit. Diese Regeln sind die der praktischen Vernunft und haben allgemeingültigen Charakter. Der demokratische Prozess ist eine Fortentwicklung dieses Gedankens für das Problem der richtigen Ausgestaltung der positiven Rechtsetzung innerhalb einer auf Freiheit, d. h. Selbstbestimmung, gründenden Rechtsgemeinschaft. 100 Siehe ebenda, S. 359, 360. In diesem Sinne auch C.-F. Stuckenberg, „Grundrechtsdogmatik statt Rechtsgutslehre“ GA 2011, S. 653 (insbesondere 658, 659). 101 Ebenda, S. 359. Es bleibt allerdings unklar, warum Vertreter einer positivistischen Position davon sprechen können, dass eine durch den demokratischen Prozess „legitimierte“ Gesetzgebung wie die aktuelle Präventionsgesetzgebung „beklagenswerte“ (Gärditz) Resultate zeitigt. Dass die Expansion der Zwangsbefugnisse aus Gründen zweckrationaler „Präventionslogik“ zur Notwendigkeit des Schutzes des Einzelnen führt, lässt sich nur begründen, wenn dessen Position gegenüber dem positiven Gesetz selbständige und folglich „übergesetzliche“ Bedeutung hat – und zwar eine Bedeutung, die ihren Grund nicht in zweckrationaler „Logik“, sondern im praktisch-vernünftigen Selbststand des Subjekts hat.
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liche Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Art. 20 Abs. 3 GG), der Freiheitseingriffe rationalisiert, indem er sie an konkrete – (. . .) – Begründungen bindet und durch differenzierte Prüfungsstufen dem Staat Rechtfertigungslasten aufbürdet; das strafrechtliche Bestimmtheitsgebot (Art. 103 Abs. 2 GG), das demokratische und rechtsstaatliche Ordnungsfunktionen des Strafrechts durch Formalisierug verknüpft; der allgemeine Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), der zur Rechtfertigung von Differenzierungen im notgedrungen immer fragmentarischen Strafrecht zwingt und hierdurch legislative Systembildung zum Verfassungsgebot erhebt; und schließlich die bereichsspezifischen Grundrechtsdogmatiken, deren Ausstrahlungskraft das Strafrecht in die Matrix freiheitsrechtlich strukturierender Lebenssachverhalte zwingt.“ 102 Prägnant und zustimmend zusammengefasst hat diese Auffassung K. T. Barisch in seiner Arbeit zu § 129b StGB: „Die Befugnis des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zur Festlegung der mittels Strafrecht zu schützenden Güter darf nämlich unter dem Grundgesetz nicht einfach unter Berufung auf angeblich vorfindliche oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers ,anerkannte‘ Rechtsgüter eingeengt werden. Ein naturalistisches oder in anderer Weise überpositiv aufgeladenes Rechtsgutskonzept kann demnach keine inhaltlichen Maßstäbe bereitstellen, die der deutsche Gesetzgeber bei der Konzeption einer verfassungsgemäßen Strafrechtsnorm zwangsläufig zu beachten hätte. Zugegeben: Ein solches Rechtsgutsverständnis hat sicherlich durchaus Sinn und Bedeutung für die Begrenzung von Strafbarkeit in einer Zeit und einer Rechtsordnung gehabt, die den Gesetzgeber nicht an materielle Verfassungsvorgaben und an Grundrechte band. Im demokratischen Verfassungsstaat der Bundesrepublik Deutschland ist es aber angesichts der Bindung des Gesetzgebers über Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 3 GG als an den Gesetzgeber herangetragene Pönalisierungsgrenze systemwidrig und überflüssig und sollte daher nur noch in der kriminalpolitischen Diskussion eine gewisse Relevanz besitzen.“ 103
Diese Absage an ein „naturalistisches bzw. überpositives Rechtsgutsverständnis unter dem Grundgesetz“ wird zusätzlich durch die Verfassungsrechtsprechung, in jüngerer Zeit insbesondere durch das sog. Inzesturteil des Bundesverfassungsgerichts,104 gestützt. Dort hat das Bundesverfassungsgericht den Standpunkt vertreten, dass es 102 Ebenda, S. 360 (Fn. weggelassen). Bei Gärditz bleibt leider offen, was genau es heißen soll, dass die „Ausstrahlungskraft“ einer Grundrechtsdogmatik „das Strafrecht in die Matrix freiheitsrechtlich strukturierter Lebenssachverhalte zwingt“. 103 K. T. Barisch, Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus durch § 129b StGB (2009), S. 121, 122 (Fn. weggelassen). 104 Beschl. v. 26.2.2008 – 2 BvR 392/07, 1137 ff. (BVerfGE 120, 224 ff.); vgl. zu dem Beschluss auch das Urteil des EGMR, in: Stübing v. Germany (Application no. 43547/08) vom 12.4.2012; dazu H. Jung, „Das Inzestverbot oder der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte auf den Spuren des Bundesverfassungsgerichts“ GA 2012, S. 617 ff.; M. Kubiciel, „Das deutsche Inzestverbot vor den Schranken des EGMR“ ZIS 6/2012, S. 282 ff. Kritisch zum BVerfG schon B. Noltenius, „Grenzenloser Spielraum des Gesetzgebers im Strafrecht?“ ZJS 1/2009, S. 15 ff. (insbesondere S. 17 ff.).
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„grundsätzlich Sache des Gesetzgebers (sei), den Bereich strafbaren Handelns unter Berücksichtigung der jeweiligen Lage festzulegen. Das Bundesverfassungsgericht hat lediglich darüber zu wachen, dass die Strafvorschrift materiell in Einklang mit den Bestimmungen der Verfassung steht und den ungeschriebenen Verfassungsgrundsätzen sowie Grundentscheidungen des Grundgesetzes entspricht (vgl. BVerfGE 27, 18 (30); 80, 244 (255) m.w. N.; 90, 145 (173); 96, 10 (25 f.)). (. . .). (. . .) Strafnormen unterliegen von Verfassungs wegen keinen darüber hinausgehenden, strengeren Anforderungen hinsichtlich der mit ihnen verfolgten Zwecke. Insbesondere lassen sich solche nicht aus der strafrechtlichen Rechtsgutslehre ableiten. (. . .) Will man hingegen mit einer „naturalistischen“ Rechtsgutstheorie als legitime Rechtsgüter nur bestimmte „Gegebenheiten des sozialen Lebens“ anerkennen (vgl. Weigend, a. a. O.) oder in anderer Weise von einem überpositiven Rechtsgutsbegriff ausgehen, so gerät ein solches Konzept – verstanden und angewendet als Element des verfassungsrechtlichen Prüfungsmaßstabs – in Widerspruch dazu, dass es nach der grundgesetzlichen Ordnung Sache des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ist, ebenso wie die Strafzwecke (vgl. BVerfGE 45, 187 (253)) auch die mit den Mitteln des Strafrechts zu schützenden Güter festzulegen und die Strafnormen gesellschaftlichen Entwicklungen anzupassen. Diese Befugnis kann nicht unter Berufung auf angeblich vorfindliche oder durch Instanzen jenseits des Gesetzgebers „anerkannte“ Rechtsgüter eingeengt werden. Sie findet ihre Grenze vielmehr – auf dem Gebiet des Strafrechts wie anderswo – nur in der Verfassung selbst, wenn und soweit diese die Verfolgung eines bestimmten Zwecks von vornherein ausschließt.“ 105
Die Überzeugungskraft der die Notwendigkeit eines materiellen Verbrechensbegriffs leugnenden Stimmen ist bei näherer Betrachtung jedoch gering. Zunächst scheint die Aussage, dass die Befugnis des demokratisch legitimierten Gesetzgebers zur beliebigen Schaffung von Straftatbeständen und damit zur Festlegung der mittels Strafrecht zu schützenden Güter frei von vorgesetzlichen Bindungen, auf einem schrankenlosen Vertrauen in den Prozess demokratischer Gesetzgebung zu basieren – und zwar auf einem Vertrauen in den Prozess als formalen Akt, nicht in die diesen Akt begründenden (Vernunft-)Prinzipien. Damit steht die Behauptung im Raum, dass die Ergebnisse des demokratischen Prozesses als solche zu respektieren sind und allein wegen ihres Ursprungs im demokratischen Verfahren ihren Geltungsanspruch erlangen.106 Es geht bei dieser Aussage also explizit nicht um das demokratische Verfahren als Garant für materielle Rechtmäßigkeit, nicht um die Behauptung, dass etwas, das den demokratischen Prozess durchlaufen hat, unmöglich Unrecht sein kann, sondern um die Legitimation durch das Verfahren selbst. Danach wäre demokratisch zustande gekom105 Beschl. v. 26.2.2008 – 2 BvR 392/07, 1137 ff., Abs. 35, 38 und 39 (BVerfGE 120, 224 (241, 242)). 106 Vgl. dazu nochmals Gärditz (a. a. O. Fn. 99), S. 343: Demokratie ziele nicht auf materielle Richtigkeit, sondern auf formale Richtigkeit, die sich allein aus dem Verfahren zur Legitimation politischer Herrschaft ergebe. Und: Der Strafgesetzgeber „konstruiere“ die Rechtsgüter, sie seien „Produkte eines kontingenten Interessenausgleichs“ und keine „ontischen Gegebenheiten“ (S. 351, 352).
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menes (Straf-)Recht mit materiellen Argumenten nicht mehr angreifbar. Nicht nur das kritische Rechtsgutskonzept würde dadurch abgelehnt, sondern jeglicher materielle Verbrechensbegriff und bezogen auf andere Rechtsgebiete jegliches materielles Richtigkeitskriterium; damit wäre, kurz gesagt, die Behauptung aufgestellt, dass es objektive inhaltliche Kriterien für gesetztes Recht nicht gibt. Die Geltung des Demokratieprinzips in der Bundesrepublik verdankt sich nun aber nicht nur der historischen Festlegung im Verfassungstext, sondern hat ihrerseits materielle Gründe. Die Demokratie fungiert als ein Verfahren der Bündelung subjektiver Vernunft und stellt sicher, dass jeder Einzelne, der dem demokratisch zustande gekommenen Gesetz unterworfen ist, zugleich als dessen Mitkonstitutent in Ansatz gebracht werden kann.107 Kant hat die Notwendigkeit eines solchen Verfahrens in unabweisbarer Klarheit begründet: „(. . .). Ein öffentliches Gesetz aber, welches für alle das, was ihnen rechtlich erlaubt oder unerlaubt sein soll, bestimmt, ist der Actus eines öffentlichen Willens, von dem alles Recht ausgeht, und der also selbst niemand muß Unrecht tun können. Hiezu aber ist kein anderer Wille, als der des gesamten Volks (da alle über alle, mithin ein jeder über sich selbst beschließt), möglich: denn nur sich selbst kann niemand unrecht tun.“ 108 Dieser Gedanke, dass nur ein demokratisches Verfahren verhindert, dass ein Einzelner alle anderen beherrscht (also eine despotische Herrschaftsform gilt) und statt dessen dafür sorgt, dass alle über sich selbst (bzw. in der Praxis zumindest die Mehrheit über alle) beschließen, bedeutet aber nicht, dass das Moment praktisch-rechtlicher Vernunft in einem solchen Prozess bedeutungslos würde. Ganz im Gegenteil ist es nur dieses Moment, welches das demokratische Verfahren seinerseits fundiert und dafür sorgt, dass es funktionieren kann: Brächte man die Mitglieder des demokratischen Prozesses als vernunftlose Wesen in Ansatz, so wäre die Aussage, dass das Produkt dieses Prozesses „Recht“ sein muss, ganz haltlos. Dies bedeutet dann aber zwingend, dass die Vernunft als inhaltlicher Maßstab des Rechts, auch des demokratisch zustande gekommenen Rechts, erhalten bleiben muss. So wie sie Grund und Maßstab der Demokratie ist, ist sie auch Grund und Maßstab materiellen Rechts. Dass es eines inhaltlichen Maßstabs überhaupt bedarf, sehen im Übrigen auch Gärditz, Barisch und das Bundesverfassungsgericht: Sie tragen ergänzend vor, dass das Vertrauen in den demokratischen Prozess nur deshalb gerechtfertigt sei, weil eine Bindung des Gesetzgebers an materielle Verfassungsvorgaben und Grundrechte besteht. Danach muss zur demokratischen Legitimation des Gesetzgebers auch nach Verfechtern des „gegenstandserzeugenden Verfahrens“ ein inhaltlicher Maßstab hinzu treten, der in den Worten Barischs allerdings nicht in
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Vgl. zur Herleitung und Begründung des Demokratieprinzips oben S. 99 ff. I. Kant, Über den Gemeinspruch, A 244 (Hervorhebungen der Verf.).
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einem „überpositiv aufgeladenen“ Konzept, sondern nur in den Normen der Verfassung zu finden ist. Ungesagt bleibt dabei, dass es zum Verständnis jeglichen Verfassungsrechts seiner Auslegung bedarf, die sich im Wesentlichen nach Sinn und Zweck der Norm richtet. Wo finden sich aber nun Aussagen über diese Hintergründe, wenn nicht im Bereich überpositiver Prinzipien? Wie lässt sich beispielsweise die Formulierung in Art. 2 Abs. 1 GG verstehen: „Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.“? Wer zum Verständnis dieses Grundrechts nicht an vorpositiven Prinzipien ansetzt, ist mit schlüssigen Antworten schnell am Ende, wie es sich in der Inzestentscheidung des Bundesverfassungsgerichts deutlich gezeigt hat: Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit umfasst ohne Zweifel die Wahl des Sexualpartners.109 Eine staatliche Einschränkung dieser Freiheit liegt in der Bestrafung geschwisterlichen Beischlafs gem. § 173 Abs. 2 S. 2 StGB, denn damit ist ein mit Strafe bewehrtes Verbot einer bestimmten Partnerwahl ausgesprochen. Eine solche, durch den Gesetzgeber positiv in Geltung gesetzte Einschränkung müsste sich nach der genannten Verfassungsnorm (Art. 2 Abs. 1 GG) darauf gründen, dass das strafbewehrte Verhalten „Rechte anderer verletzt“ oder gegen „die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz“ verstößt.110 Der ersten Einschränkungsmöglichkeit liegt der (überpositive, materielle) Grundsatz des neminem laedere zugrunde, der besagt, dass der Freiheitsraum des Einzelnen nur insoweit gewährleistet ist, als der Freiheitsraum anderer nicht verletzt ist.111 Die verfassungsgemäße Ordnung wird vom BVerfG als „verfassungsmäßige Rechtsordnung“ verstanden, umfasst also die Summe aller Rechtsnormen, die formell und materiell mit der Verfassung übereinstimmen.112 Das Sittengesetz wird als Summe der Wertvorstellungen der Allgemeinheit begriffen.113 Diese möglichen Gründe für freiheitsbeschränkende staatliche Eingriffe wurden nun im Rahmen der Strafrechtsphilosophie für die Frage konkretisiert, welches Verhalten nicht nur überhaupt staatliche Eingriffe, sondern auch noch die besondere Freiheitsbeschränkung der Strafe rechtfertigt.114 Die gesamte straf109
Vgl. z. B. Murswiek, in: Sachs, GG, Art. 2, Rn. 69, BVerfGE 47, 46 (73 f.). Vgl. dazu Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 38: Die Schrankentrias sei eine Festlegung des eingreifenden Gesetzgebers, eine verbindliche Orientierungsmarke, aus welchen von der Verfassung anerkannten Gründen Freiheitsrechte beschränkt werden dürfen. Vgl. zu der Schrankentrias als materielle Vorgabe für den Strafgesetzgeber auch T. Hörnle, Grob anstößiges Verhalten (2005), S. 41 ff. 111 Vgl. ebenda, Rn. 44. 112 BVerfGE 6, 32 (38), u. a. 113 Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 2 Abs. 1, Rn. 45. 114 Vgl. etwa P. J. A. Feuerbach: „Der Gesetzgeber ist nur auf Rechtsverletzungen und auf äußerlich erkennbare Handlungen eingeschränkt: er kann nichts den Strafsank110
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rechtliche Grundlagenwissenschaft hat nun die genaue Ausarbeitung derjenigen Kriterien zum Gegenstand, die eine strafrechtsrelevante Rechtsverletzung erfüllen muss, um eine Einschränkung der Handlungsfreiheit des Einzelnen durch Strafe rechtfertigen zu können, um sie, mit anderen Worten, der Verfassung gemäß auszuüben. Das Rechtsgutskonzept ist einer dieser Ansätze; andere, substantiellere sind in Auseinandersetzung mit diesem Konzept entwickelt worden.115 Im konkreten Fall des strafbewehrten Geschwisterbeischlafs hätte das BVerfG also untersuchen müssen, welche genauen Kriterien, die die verfassungsrechtlich vorgegebene Schrankentrias konkretisieren, Kriminalunrecht zu erfüllen hat, um zu recht strafrechtlich verboten zu werden. Es hätte deshalb erstens ausweisen müssen, welches Recht anderer, welche Rechtsnorm oder welcher Teil des Sittengesetzes durch geschwisterlichen Beischlaf verletzt wird, und zweitens, ob eine solche Verletzung den Kriterien eines materiellen Verbrechensbegriffs genügt.116 Nur wenn ein solcher Aufweis möglich ist, ist die konkretisierende und positivierende Tätigkeit des Gesetzgebers für eine rechtsstaatliche Strafnorm berechtigt und notwendig; ist er nicht möglich, so kann auch der Gesetzgeber die den Eingriff rechtfertigende Rechtsverletzung nicht erfinden. Das Bundesverfassungsgericht hat sich dieser Begründungsarbeit verschlossen und stattdessen nach der Verhältnismäßigkeit des § 173 Abs. 2 StGB gefragt (wie es im Übrigen auch Gärditz befürwortet)117. Der Gesetzgeber verfolge Zwecke, die verfassungsmäßig nicht zu beanstanden seien (Schutz von Ehe und Familie, Schutz der sexuellen Selbstbestimmung, eugenische Gesichtspunkte) und das strafbewehrte Verbot sei ein geeignetes, erforderliches und verhältnismäßiges Mittel, diese Zwecke zu verfolgen.118 Dabei verkennen das Gericht und alle, die in der Anwendung des Verhältnismäßigkeitsprinzips das Heil suchen, dass vor tionen unterwerfen, was nicht mittelbar oder unmittelbar eine Rechtsverletzung in sich enthält, (. . .).“ (Revision Bd. 2, S. 13, Hervorhebung der Verf.). 115 Vgl. den Überblick auf den S. 213 ff. dieser Arbeit. Dass insofern noch keine Einigkeit erzielt worden ist, heißt gewiss nicht, dass die Diskussion selbst überflüssig wäre und Ergebnisse keine verfassungsrechtliche Bedeutung hätten, wie es das BVerfG behauptet: Die strafrechtliche Diskussion stelle „jedenfalls (. . .) keine inhaltlichen Maßstäbe bereit, die zwangsläufig in das Verfassungsrecht zu übernehmen wären, dessen Aufgabe es ist, dem Gesetzgeber äußerste Grenzen seiner Regelungsgewalt zu setzen.“ (Beschl. v. 26.2.2008 – 2 BvR 392/07, 1137 ff., Abs. 39; BVerfGE 120, 224 (242). Die intensive Diskussion innerhalb der Strafrechtswissenschaft weist eher darauf hin, dass es sich um ein Fundamentalproblem der Rechtfertigung von Strafe (unter dem deutschen GG) handelt und damit die Bemühungen um allgemeine Kriterien strafwürdigen Verhaltens exakt dem Anliegen des BVerfG entspricht, äußere Grenzen der Regelungsgewalt des Gesetzgebers festzulegen. 116 Vgl. dazu nochmals T. Hörnle, Grob anstössiges Verhalten (2005), S. 43 ff., die eine aus Art. 2 Abs. 1 GG abgeleitete Akzentuierung der „Rechte anderer“ als materielle Vorgabe für den Strafgesetzgeber vertritt (siehe insbesondere S. 65 ff.). 117 Vgl. K. F. Gärditz (a. a. O., Fn. 99), S. 361. 118 Grundsatzkritik dieser Vorgehensweise bei B. Noltenius, „Grenzenloser Spielraum des Gesetzgebers im Strafrecht?“ ZJS 1/2009, S. 15 (19 f.).
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der Überprüfung der Verhältnismäßigkeit die grundsätzliche rechtliche Zulässigkeit eines staatlichen Verbots-Eingriffs festgestellt sein muss, die sich danach richtet, ob der Betroffene den Kreis der ihm nach Art. 2 Abs. 1 GG freigestellten Verhaltensweisen verlassen hat. Für den strafenden staatlichen Eingriff ist konkretisierende und engere Voraussetzung, dass strafwürdiges Unrecht vorliegt. Die genauere Ausgestaltung dieser Voraussetzung kann sich ihrerseits nicht aus dem positivierten Verfassungstext ergeben, sondern ist als Auslegungsfrage abhängig vom Sinn und Zweck des Instituts der Strafe, also der besonderen staatlichen Eingriffsform, die auf eine Straftat folgt. Alle Bemühungen der strafrechtlichen Grundlagenwissenschaft um einen materiellen Unrechtsbegriff bewegen sich in diesem Rahmen und verbleiben deswegen keineswegs „außerhalb des demokratischen Bezugssystems“ 119. Wer den genannten Schritt der Unrechtsbestimmung auslässt und statt dessen nur nach der Verhältnismäßigkeit fragt, verfällt einem Gedankenzirkel ähnlich einer sich selbsterfüllenden Prophezeiung. Denn der Ansatzpunkt des Verhältnismäßigkeitsprinzips ist immer die Wahl des „legitimen Zwecks“, der dann durch ein geeignetes, erforderliches und im engeren Sinne verhältnismäßiges Mittel erreicht werden soll. Für die Wahl dieses „legitimen Zwecks“ selbst gibt das Verhältnismäßigkeitsprinzip keine näheren Kriterien an. So kann der Zweck grundsätzlich in jedem (gesellschaftlich) wünschenwerten Ziel bestehen,120 beispielsweise in der Verhinderung von Selbsttötungen, Ehebrüchen, sexuellen Beziehungen innerhalb der Familie, ungleichen Vertragsbedingungen im privatrechtlichen Geschäftsverkehr, Umweltbelastungen etc. etc. Wird der Zweck erst einmal als gesellschaftlich „wünschenswert“ definiert, so richtet sich die folgende Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Mittels nur noch danach, ob das Ziel durch das gewählte Mittel erreicht werden kann, ob mildere Mittel zur Verfügung stehen und ob bei Abwägung mit den durch Strafe beeinträchtigten Gütern des Betroffenen der gesetzte, gesellschaftlich erwünschte Zweck überwiegt – wobei für diese Abwägung kein allgemeingültiger Maßstab benannt werden kann. Bei der Wahl des Strafrechts als „Mittel“ zur Zielerreichung wird demgemäß so vorgegangen, dass das Ziel (ohne weitere inhaltliche Begründung) als besonders wichtig oder wünschenswert definiert und dann erklärt wird, dass nur die besonders intensive Eingriffsform des Strafrechts gewährleisten kann, dass es erreicht wird. Die darauf folgende Interessenabwägung wird so ausgestaltet, dass das Einzelinteresse des betroffenen Subjekts gemessen an dem allgemeinen Interesse an der Erreichung des Zwecks verschwindend gering wirkt; den krönenden Abschluss der Argumentation bilden dann Aussagen wie die, dass die Strafe nur ganz wenige Individuen treffen wird und bei ihnen auch nur ein sehr selten vor119
So aber K. F. Gärditz (a. a. O., Fn. 99), S. 335. So sieht es in Bezug auf die verfassungsrechtliche Rechtsprechung auch I. Appel, Verfassung und Strafe (1998), S. 204 ff. 120
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kommendes Verhalten bzw. nur ein bestimmter Teilausschnitt ihrer selbstbestimmten Lebensweise bei Strafe verboten ist.121 Mit der nicht näher überprüfbaren Vorgabe des besonders wichtigen Zwecks wird dessen Erreichung als notwendig vorgegeben und damit das Ergebnis der Abwägung präjudiziert. Mit anderen Worten: Mit der Vorgabe der Notwendigkeit der Zweckerfüllung wird auf diese Weise auch die Zulässigkeit der dafür erforderlichen Mittel vorweggenommen. Zeigen lässt sich dies gut an der Argumentation des Bundesverfassungsgerichts in der Inzestentscheidung.122 Denkbar ist das Vorgehen aber genauso bei der Schaffung jedes beliebigen neuen Straftatbestandes, beispielsweise eines strafbewehrten Verbots der „Selbsttötung“. Das Argumentationsmuster würde dabei etwa so lauten: Selbsttötungen sollen verhindert werden („legitimer“, wichtiger gesellschaftlicher Zweck). Die Strafe als schärfstes Mittel des Staates kann durch ihre (vermeintlich) abschreckende Wirkung am ehesten selbstmörderisches Verhalten verhindern, weil der Betroffene bei Scheitern seines Vorhabens mit Strafe rechnen muss. Alle milderen Mittel wären nicht gleich geeignet. Bei Abwägung der Interessen des Einzelnen mit dem überbordenden Interesse der Gemeinschaft an der Verhinderung von Selbsttötungen (zum Beispiel um Nachahmung unter jungen Menschen zu verhindern o. Ä.) müsste das Interesse des Einzelnen zurück treten, denn ihm würde nur ein eng umgrenztes Verhalten verboten und noch dazu bloß ein selbstschädigendes; ihm würde also noch nicht einemal etwas „Schützenswertes“ verboten. Dass bei einer Selbstverletzung kein interpersonales Unrecht vorliegt, kommt in dem genannten Begründungsmuster als Problem nicht einmal vor. Es zeigt sich, dass das Verfahren der Verhältnismäßigkeitsprüfung geeignet ist, jeweils das Ergebnis hervorzubringen, welches durch die Wahl des Zwecks und seiner Bewertung als gesellschaftlich wünschenswert von vorneherein in den Prozess eingespeist wird.123 Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hat deswegen nicht, wie Gärditz meint, die Kapazität, „Freiheitseingriffe zu rationalisieren, indem er sie an konkrete Begründungen bindet“; und seine „differenzierten Prüfungs121 BVerfG Beschl. v. 26.2.2008 – 2 BvR 392/07, 1137 ff., Abs. 60; BVerfGE 120, 224 (252): „Die Strafandrohung ist schließlich nicht unverhältnismäßig. Sie berührt nur einen schmalen Bereich der persönlichen Lebensführung. Es spricht viel dafür, dass aufgrund einer Inzestscheu nur wenige Geschwisterpaare überhaupt von dem Verbot in einer einschränkend spürbaren Weise betroffen sind.“ 122 Siehe BVerfG Beschl. v. 26.2.2008 – 2 BvR 392/07, 1137 ff., Abs. 51–61; BVerfGE 120, 224 (249 ff.). 123 Kritisch auch S. Swoboda, „Die Lehre vom Rechtsgut und ihre Alternativen“ ZStW 122 (2010), S. 24 (46 ff.). Wie wenig sich der Verhältnismäßigkeitsprüfung für die Zulässigkeit eines strafbewehrten Verbotes entnehmen lässt, zeigt sich deutlich bei O. Lagodny, Strafrecht vor den Schranken der Grundrechte (1996), S. 519, der im Hinblick auf die „kriminalpolitische Hilfestellung der Grundrechtsdogmatik“ nur feststellen kann: „Je gewichtiger das ,Gemeinwohlinteresse‘ an der Aufstellung einer Verhaltensvorschrift ist, umso mehr darf zu einem strafrechtlichen Vorwurf gegriffen werden.“
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stufen, die dem Staat Rechtfertigungslasten aufbürden“,124 können nur Pseudobegründungen liefern. Barisch und Gärditz glauben, ein materielles Korrektiv für den demokratischen Gesetzgeber in seiner Bindung an die Grundrechte und an materielle Verfassungsvorgaben festmachen zu können. Soweit sie damit Grundrechte und Verfassungsvorgaben meinen, die als Positivierungen subjektiver Freiheitspositionen und objektiver Freiheitsverwirklichungsbedingungen in der Verfassung ihren Niederschlag gefunden haben,125 ist ihnen dabei durchaus zuzustimmen. Aber mit dem Verweis auf den Verfassungstext als positiviertem Recht ist nur dann etwas gewonnen, wenn die ihm zugrunde liegenden praktisch-rechtlichen Vernunftgründe mitgedacht werden.126 Das Freiheitsprinzip ist dabei Grund und Ziel allen Rechts – im Übrigen nicht nur aus Gründen zwingender sachlicher Notwendigkeit,127 sondern auch als historisch gesicherte Tatsache der Verfassungsrechtsgebung.128 Aus diesem Grund ist die Verfassung erster, nicht aber letzter Maßstab für die materielle Rechtmäßigkeit demokratischer Entscheidungen. b) Überblick über die zugrunde gelegten Unrechtslehren Das Bemühen um die begriffliche Fassung von legitimem Kriminalunrecht ist also notwendiger Ausgangspunkt einer jeden systematischen Strafrechtslehre unter dem deutschen Grundgesetz. 124
Gärditz (a. a. O. Fn. 99), S. 360. Vgl. dazu schon oben die Auseinandersetzung mir dem „Werte“-Denken im Verfassungsrecht, S. 161 ff. 126 In diesem Zusammenhang findet sich bei Gärditz (a. a. O., Fn. 99), S. 347 innerhalb zweier direkt aufeinander folgender Sätze ein für seine gesamte Position paradigmatischer Widerspruch: „Das Recht des Verfassungsstaates bezieht Inhalt und Geltung nicht mehr aus der Übereinstimmung mit Höherem, sondern es ruht auf sich selbst. Dies gilt gerade für eine Demokratie, die auf der freien und gleichen Selbstbestimmung gründet und daher, schon um diese Selbstbestimmung gegenüber externer Determination zu schützen, Rechtsgeltung nur nach autonomen, rechtsordnungsimmanenten Bedingungen zulassen kann.“ Entweder ist die Berufung auf Außer- bzw. Übergesetzliches im Rahmen des auf „Positivität gründenden demokratischen Rechtsstaats“ (Gärditz, S. 360) ausgeschlossen, wie es Gärditz in der Tradition des Positivismus vertreten will, oder die Demokratie und der sie umfassende Rechtsstaat gründet auf der überpositiven Idee freier und gleicher Selbstbestimmung und alle Rechtsgeltung hat damit ihren Grund in der Autonomie der freien Rechtskonstituenten, wie es Verf. mit der vorliegenden Arbeit vertritt. 127 Vgl. zu dieser Notwendigkeit den 2. Teil der vorliegenden Arbeit, insbesondere die Freiheitsfundierung der Rechts- und Staatsbegründungen Kants (S. 76 ff.) und Hegels (114 ff.) und die Kritik an den Ansätzen Kelsens (135 ff.) und Carl Schmitts (140 ff.). 128 Vgl. Ch. Hillgruber, „Grundgesetz und Naturrecht“ IkaZ 39 (2010), S. 167 ff. Siehe auch Gärditz selbst (a. a. O., Fn. 99), S. 360: „(. . .) die allgemeinen Grundrechtslehren, die Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) als Bezugspunkt der verfassungsrechtlich positivierten Freiheitsidee (. . .).“ 125
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Im Folgenden sollen vier wichtige Grundströmungen strafrechtlicher Unrechtslehren näher dargestellt werden, um anhand der von ihnen entwickelten Kriterien zu überprüfen, ob es sich bei den §§ 129 ff. um legitime Straftatbestände handelt: 1. Vor dem Hintergrund eines strafrechtlichen Unrechtsbegriffs, der sich im Ansatz auf eine Rechtsgutsverletzung zurückführen lässt,129 ist das Problem offenkundig: Wird in der Gutsverletzung die Voraussetzung für strafwürdiges Unrecht gesehen, so kann bloßes Vorverhalten – das sich gerade dadurch bestimmt, dass es einer Gutsverletzung nur vorgelagert ist – schon per definitionem nicht strafwürdig sein. Eine Schwierigkeit ergibt sich für die Vertreter solcher Lehren mit der Einordnung von Gefährdungsunrecht: Das enge Verständnis vom Verbrechen als Rechtsgutsverletzung muss erweitert werden um das Moment der Gutsgefährdung. Dabei stellt sich dann die Frage, wie die Gefährdung ausgestaltet sein muss, um einer Verletzung gleichzustehen. Rechtsgutsbezogene Unrechtslehren haben materielle Kriterien für strafwürdiges Gefährdungsverhalten zu entwickeln, die sich prinzipiell an dem Verletzungsgedanken orientieren. Das heißt, dass das in der Gefährdungshandlung liegende Verletzungspotential etwa aufgrund seines Grades oder seiner Unmittelbarkeit bzw. Nähe zur Verletzung oder seiner Realisierungswahrscheinlichkeit bewertet werden muss und daran anknüpfend über seine Strafwürdigkeit entschieden wird. Von diesem Gedanken ausgehend lassen sich dann auch Aussagen zu dem in den Vorfelddelikten liegenden Gefährdungshandlungen ableiten. Dem hält allerdings Jakobs entgegen, dass die Lehre von den Rechtsgütern jedenfalls unter dem Aspekt des effektiven Rechtsgüterschutzes keine Schwierigkeiten damit haben könne, den „Beginn der Gefahr (für ein Rechtsgut, K. G.) potentiell grenzenlos vor(zu)verlagern“, so dass selbst die „gefährlichen Gedanken potentieller Täter“ als strafwürdiges Unrecht qualifizierbar seien.130 Dies klingt, als ob sich den Rechtsguts(verletzungs)lehren kein Kriterium und keine kritische Kraft entnehmen lasse, die eine Bewertung der Legitimität von Vorfeldkriminalität ermöglicht. Dies soll unter b) genauer untersucht werden.
129 Ein guter Überblick über die „Die Lehre vom Rechtsgut und ihre Alternativen“ findet sich bei S. Swoboda, ZStW 122 (2010), S. 24 ff. 130 G. Jakobs, „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 (753). Jakobs begründet seine Kritik an der Vorverlagerung des Rechtsgüterschutzes grundsätzlich: „(Der) Ansatz allein beim Rechtsgut führt ins Uferlose, weil dabei der Rechtskreis des Täters überhaupt nicht in den Blick gerät. Der Täter wird nur dadurch definiert, dass er dem Rechtsgut gefährlich werden kann, wobei sich der Beginn der Gefahr potentiell grenzenlos vorverlagern lässt. Der Täter hat keine Privatsphäre, keinen Bereich noch-nicht-sozial-relevanten Verhaltens, sondern ist nur Gefahrenquelle, mit anderen Worten, Feind des Rechtsguts. Bei konsequenter Fortführung des Ansatzes beim Rechtsgüterschutz müsste man sogar die gefährlichen Gedanken potentieller Täter und zudem noch die Quellen dieser gefährlichen Gedanken strafrechtlich bekämpfen.“ An der „kritischen Potenz des Rechtsgutsbegriffs als Strafbarkeitsgrenze“ zweifelt auch W. Frisch, „An den Grenzen des Strafrechts“ (1993), S. 69 (72 f.).
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2. Wer, wie H. Welzel, das Verbrechen nicht primär als Rechtsgutsverletzung, sondern als „sozialunerträgliche, besonders anstößige Verletzung der Gemeinschaftsordnung“ versteht,131 muss bei der Beurteilung von Vorfelddelikten notwendig einen anderen Maßstab anlegen als die von den Rechtsgutslehren geforderte „Nähe zur Gutsverletzung“. Den Maßstab für die Strafwürdigkeit bildet nach dieser Definition vielmehr die „soziale Unerträglichkeit“ bzw. die „besondere Anstößigkeit“ einer Ordnungsverletzung. Der Fokus der Betrachtung verlagert sich also von dem (realen oder potentiellen) Verletzungs- oder Gefährdungserfolg einer Handlung auf ihre Wertigkeit in Bezug auf die Gesellschaftsordnung. Dieser Ansatz Welzels soll unter c) nachgezeichnet und seine Konsequenzen für die Beurteilung von Vorfeldkriminalität dargestellt werden. 3. Sowohl der von K. Amelung begründete Begriff vom Verbrechen als Sozialschaden als auch der von G. Jakobs erarbeitete Ansatz des strafwürdigen Unrechts als Normdesavouierung setzt primär weder an dem durch die Unrechtshandlung bewirkten äußeren Erfolg des Rechtsgutsschadens noch an der im Unrecht liegenden „unwerten“ Handlung an. Verbrecherisch ist nach Amelung ein Verhalten, das sozialschädlich in dem Sinne ist, das es eine Störung des Sozialsystems der Gesellschaft bewirkt. Das Strafrecht habe einer Behinderung des Systemerhalts als ein Mechanismus der sozialen Kontrolle entgegenzuwirken. Nach Jakobs besteht „der Beitrag, den das Strafrecht zur Erhaltung der staatlichen und gesellschaftlichen Gestalt leistet, in der Garantie von Normen.“ 132 Dementsprechend sieht er in der „praktizierten Normgeltung“ das vom Strafrecht zu schützende Gut und im Normgeltungsschaden den eigentlichen Kern des strafrechtlichen Unrechts.133 Maßstab für strafwürdiges Verhalten ist demnach, ob es die faktische Geltung von Normen beeinträchtigt. Dies ist nach Jakobs nicht schon bei jedem Vorfeldverhalten der Fall, sondern nur dann, „wenn der Täter sich eine ihm nicht zukommende Organisation anmaßt“ 134. Da dies bei den typischen Vorfelddelikten (also auch den §§ 129 ff. StGB) nach Jakobs’ eigener Einschätzung nicht der Fall ist, hat er Schwierigkeiten, sie in den Bereich strafbaren Unrechts zu integrieren. Er versucht zwar, die Schwierigkeit durch die Konzepte von der „Verletzung vorgezogener oder flankierender Rechtsgüter“ 135 und vom „Feindstrafrecht“ zu beheben, aber es muss überdacht werden, ob diese Lösungsansätze tatsächlich tragen (dazu d)). 131
H. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 187. G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 35. 133 Vgl. G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 35 („praktizierte Normgeltung“ als „Strafrechtsgut“) und S. 46 (zur Ausrichtung der Strafbarkeit nicht an dem „Wertwidrigen per se, sondern immer nur an der Sozialschädlichkeit“) (Hervorhebungen im Original). Vgl. auch (Jakobs folgend) H.-H. Lesch, Der Verbrechensbegriff (1999), insbes. S. 190 ff. 134 G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 47. 135 G. Jakobs, „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 (773 ff.). 132
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4. E. A. Wolff hat den Grund gelegt für einen Unrechtsbegriff, der sowohl den Handlungs- und Erfolgsunwert als auch das Moment des Normbruchs in sich aufnimmt, allerdings in einer anderen Weise als die Begriffe der vorgenannten Autoren es tun: Strafrechtliches Unrecht ist nach ihm nicht primär Rechtsgutsverletzung, anstößige, wertwidrige Ordnungsverletzung oder Normgeltungsschaden, sondern eine fundamentale Verletzung eines freiheitlichen Rechtsverhältnisses, „die Verletzung Anderer in der Basis ihrer Selbständigkeit, die in einem gegliederten, den Täter umfassenden und auch von ihm abhängigen Anerkennungsverhältnis ihr Dasein hat“ 136. Damit hat das strafwürdige Unrecht einerseits die Eigenart, das Verhältnis freier und gleichbedeutsamer Personen zueinander in einer Weise zu stören, dass dem Gegenüber die geschuldete Anerkennung (tätlich) verweigert wird; hier lassen sich die Begriffe von Handlungs- und Erfolgsunrecht verorten. Andererseits ist mit dem durch den Täter verwirklichten Widerspruch zur gemeinsamen Rechtsordnung auch die Geltung des Rechts in Frage gestellt; dieser Widerspruch ist objektiv „Normgeltungsschaden“ und subjektiv Vernunftwiderspruch. Für die Frage nach der Legitimität von Vorfelddelikten ist dann (exemplifiziert an den §§ 129 ff. zu untersuchen, ob durch das Delikt eine fundamentale Rechtsverhältnisstörung bewirkt wird. Dies soll unter e) unternommen werden. c) Auf Rechtsgutsverletzungen basierende Unrechtslehren Im Folgenden werden vier repräsentative, auf dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes beruhende materielle Unrechtslehren137 gesichtet und die aus ihnen abzuleitenden Folgerungen für die Bestrafung von Vorfeldverhalten dargestellt. Begonnen wird dabei mit dem Entwurf von Michael Marx, der den Kern des Verbrechens in der Rechtsgutsverletzung ausmacht (dazu unter aa)). Diesem Ansatz gedanklich nahe stehen die sog. „personale Rechtsgutslehre“ Winfried Hassemers (dazu unter bb)) und die Unrechtslehren Hans-Joachim Rudolphis (cc)) und Claus Roxins (dd)). aa) Die Rechtsgutsverletzung als Kern des Verbrechens (M. Marx)138 Nach Marx liegt die Funktion des Begriffs Rechtsgut in der „Bezeichnung des (materialen) Kerns des Verbrechens, der in der Verletzung von Objekten – Rechtsgüter genannt – gesehen“ werden kann. Die Verletzung von Rechtsgütern 136 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), S. 137 (211). Den Gedanken haben fortgeführt und ausgearbeitet M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), insbesondere S. 47, R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981), S. 93 ff. 137 Vgl. dazu auch die Darstellung bei R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 119 ff.
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lasse ein Verhalten zum Verbrechen werden.139 Da der Staat bei der Schaffung neuer Gesetze nicht willkürlich oder nach eigenem Gutdünken, sondern nach rational überprüfbaren Kriterien vorgehen müsse, sei es notwendig, solche materialen Kriterien für die Qualifizierung bestimmten Verhaltens als Unrecht zu entwickeln.140 „Diesem Anspruch könnte (. . .) am besten eine auf der Rechtsgutsverletzung aufgebaute Verbrechenstheorie genügen – sofern es eben gelingt, den Rechtsgutsbegriff tatsächlich material zu fassen, d. h. so, dass sich die Kriterien angeben lassen, nach denen ein Gegenstand zum Rechtsgut wird.“ 141 Mit „material“ meint Marx „inhaltlich bestimmt“ 142 bzw. „substanzgefüllt“ 143. Das gesuchte Kriterium zur Bestimmung von strafwürdigem Unrecht sei nicht ermittelbar aus den gerade vorhandenen gesetzlichen Tatbeständen, sondern notwendig aus dem „Vorgesetzlichen“, „Metajuristischen“.144 Die Rechtswissenschaft öffne sich damit dem Bereich des Werthaften, was aber für eine „praktische“ Wissenschaft unvermeidbar sei.145 Den Ausgangspunkt für den Versuch einer Rechtsgutsdefinition macht nach Marx das Streben danach aus, die Objekte, deren Schutz das Strafrecht bezweckt, genau zu erfassen. Dafür müsse der Zweck des Strafrechts, des Rechts überhaupt und des Staates geklärt werden.146 Der oberste, seinerseits nichts mehr bezweckende Zweck des Staates lasse sich allerdings nicht zwingend ableiten, er sei Ergebnis einer Wertung. Die Anzahl solcher möglicher oberster Werte sei aber immerhin nicht beliebig. Mit Berufung auf Radbruch147 macht Marx drei grundlegende Werttypen aus: Freiheit, Macht und Kultur.148 Die beiden letzteren überzeugen Marx nicht, übrig bleibe nur die zentrale Stellung des freien einzelnen 138 M. Marx, Zur Definition des Begriffs „Rechtsgut“ (1972). Die folgende Darstellung folgt im Wesentlichen diesem Text (Seitenzahlen in den Fußnoten verweisen auf die genaue Fundstelle). 139 S. 8. Vgl. zu den Wurzeln des Rechtsgutsbegriffs in der Rechtsverletzungstheorie Feuerbachs und zur historischen Entwicklung des Begriffs (angefangen mit Birnbaum (1834), dazu W. Wohlers, „Die Güterschutzlehre Birnbaums und ihre Bedeutung für die heutige Rechtsgutstheorie“ GA 2012, S. 600 ff.) K. Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 28 ff. und S. Swoboda, „Die Lehre vom Rechtsgut und ihre Alternativen“ ZStW 122 (2010), S. 24 (25 ff.). 140 Vgl. zur Diskussion um die Notwendigkeit eines materiellen Verbrechensbegriffs oben S. 203 ff. 141 M. Marx, a. a. O., S. 15. Vgl. zur Möglichkeit eines materiellen Verbrechensbegriffs zudem W. Gallas, „Gründe und Grenzen der Strafbarkeit“ (1968), S. 1 ff. 142 Marx verweist hier auf die Begrifflichkeit von P. Sina, Die Dogmengeschichte des strafrechtlichen Begriffs ,Rechtsgut‘ (1962), S. 91. 143 Begriff von W. Naucke, Zur Lehre vom strafbaren Betrug (1964), S. 39. 144 S. 17. 145 S. 18. 146 S. 25. 147 Vorschule der Rechtsphilosophie (1959), S. 28. 148 S. 26.
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Menschen in unserem Wertesystem. Dies leitet ihn zum ersten Zwischenergebnis: „Der Zweck des Staates ist der Mensch.“ 149 Die Menschenwürde sei das „materiale Prinzip des freiheitlichen Rechtsstaates“ 150; sie sei ein vorstaatliches Prinzip, das durch die Übernahme in die Verfassung nicht konstituiert, sondern nur in seiner vorgegebenen Gestalt rezipiert werde und den Maßstab bilde, an dem jedes staatliche Handeln gemessen werden müsse.151 Der Mensch sei „Selbst“, d. h. als Individuum eine in sich abgeschlossene Einheit und als solche ein Zweck an sich. Den Menschen wesentlich als Person zu bestimmen meine deshalb, „ihn als Selbstzweck anerkennen“.152 Dabei sei der Mensch auch „soziales Wesen“ und eine Trennung von Individualperson und Sozialperson nicht gerechtfertigt. Dem Menschen sei es als wesenhafte Eigenart gegeben und aufgegeben, sich in seinen Handlungen gemäß seiner freien Selbstbestimmung zu entfalten. Als Selbstverwirklichung gilt Marx der gestaltende Umgang mit Dingen und Menschen: Der Einzelne stehe in „ununterbrochener Beziehung zu seiner lebendigen Umgebung, sie gleichzeitig reflektierend, verändernd und von ihr bewegt, in ständigem, tätigem Dialog“.153 Das Recht als Mittel des Staates müsse deshalb die äußeren Bedingungen schaffen und erhalten, die der Person ihre freie Entfaltung ermöglichen.154 Objekt strafrechtlichen Schutzes sei daher die Garantie der Möglichkeit zur Selbstverwirklichung in der Außenwelt; das Strafrecht müsse also das vor Angriffen schützen, was der Mensch zur Verwirklichung personaler Entfaltung an äußeren Voraussetzungen braucht. Diese Voraussetzungen seien die Objekte strafrechtlichen Schutzes. Dazu gehörten: „(D)as menschliche Leben, die körperliche Integrität sowie die Dinge, von denen Leben und Gesundheit abhängen: Nahrung, 149 S. 34. Dies sei Ergebnis einer „wertenden Setzung, gerechtfertigt zwar nicht durch unwiderlegbar zwingende, aber doch durch nachprüfbare und nachvollziehbare Argumente.“ (mit Verweis auf Arthur Kaufmann, „Die ontologische Struktur der Handlung, Skizze einer personalen Handlungslehre“ (1966), S. 79 ff.) Marx schreibt weiter: „Dass es sich dennoch um eine letztlich unbeweisbare These handelt und alles Folgende, das aus dieser These abgeleitet wird, seinerseits nicht beständiger ist als diese Prämisse, mit der es steht und fällt, mag man als misslich empfinden – vermeidbar ist es nicht. Denn Staats- und Rechtswissenschaft sind als „praktische Wissenschaft“ notwendig – wenigstens teilweise – „Wertwissenschaft“; und wo es um Erkenntnis von Werten geht, wird Entscheidung gefordert, für deren Ergebnis sich keine schlüssigen Beweise führen lassen, die also nicht ohne Risiko ist.“ (S. 34, Fn. weggelassen). 150 Mit Verweis auf W. Maihofer, Rechtsstaat und menschliche Würde (1968) S. 64, der sich in dem entsprechenden Kapitel („Die Achtung der Menschenwürde: der freiheitliche Rechtsstaat als Ordnung der größtmöglichen und gleichberechtigten Freiheit“, S. 57 ff.) seinerseits explizit auf Kant beruft. 151 S. 39. 152 S. 41. Außer auf I. Kant (GMdS) beruft sich Marx hier u. a. auf G. Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie (1959), S. 59. 153 S. 45. 154 S. 48. Den Bezug zur Rechtslehre I. Kants erkennt Marx ausdrücklich auf S. 54 seiner Arbeit an.
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Kleidung, Wohnung; des weiteren ein Freiheitsraum, in dem die Person tätig sich vollbringen kann, und die Dinge, mit und an denen sie sich in diesem Raum bewährt (,Handwerkszeug‘ im weitesten Sinne); schließlich gehören auch ein Minimum an Gesichertheit dieser Voraussetzungen selbst und damit auch eine gewisse gesellschaftliche Ordnung – und also auch staatliche Organe – zu den Objekten, deren Schutz das Strafrecht bezweckt.“ 155 Nach Marx ergeben sich nun als materiale Definition der Rechtsgüter „diejenigen Gegenstände, die der Mensch zu seiner freien Selbstverwirklichung braucht“.156 Nur diese Gegenstände seien Güter, die der Gesetzgeber zu Recht zu Rechts-Gütern machen dürfe und müsse. Welche Gegenstände dazu konkret gehören, lasse sich nicht für alle Zeiten, abstrakt und immergültig, feststellen. Gewiss sei nur, dass diese Güter des Anderen grundsätzlich zu achten seien. Das spezifische Kriterium, wann solche Gegenstände zu „Gütern“ werden, liege in der Beziehung zum menschlichen Subjekt: Der Gegenstand müsse dem Subjekt zur Selbstverwirklichung dienen. In der Verbrechenslehre ist dieser Rechtsgutsbegriff bedeutsam für die Bestimmung des Verletzungsobjekts. Marx stellt sich in diesem Zusammenhang der Frage, was das eigentliche Objekt der Verletzung darstellt. Er bedenkt drei mögliche Antworten: die objekthaften Gegenstände als solche, der Mensch also solcher oder die Beziehung zwischen beiden. Er entscheidet sich für letzteres, geschützt seien Gegenstände in ihrer Bezogenheit auf den Menschen. Diese Bezogenheit sei das eigentliche Objekt der Verletzung: Verletzt werde dadurch die spezifische Verfügbarkeit der Gegenstände für ihren Inhaber.157 Als zweites Zwischenergebnis steht damit als Marx’ Unrechtsbegriff fest: „Strafrechtlich relevantes materiales Unrecht, Verbrechen, ist die Verletzung von Rechtsgütern“.158 Im nächsten Schritt nimmt Marx von seinem Unrechtsbegriff ausgehend zum Versuchs- bzw. Gefährdungsunrecht Stellung: „(. . .) Wo Rechtsgüter gefährdet, aber noch nicht verletzt sind, ist zwar sensu stricto noch kein volles Unrecht verwirklicht (sein Eintritt droht eben nur: Unrecht in statu nascendi); aber der Gesetzgeber poenalisiert (. . .) schon das bloß rechtsgutsgefährdende – noch nicht verletzende – Verhalten, sofern es sich in Handlungen, die als Beginn der Ausführung erkennbar sind, objektiv manifestiert hat.“ 159 „Konstitutiv ist auch hier die Richtung der tatbestandsmäßigen Handlung auf eine Rechtsgutsverletzung hin. Negativ ausgedrückt: Wo ein Verhalten sich nicht zuende denken lässt bis zu
155 156 157 158 159
S. S. S. S. S.
61. 62. 67. 70. 72, 73.
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einer tatsächlichen Rechtsgutsverletzung, da kann von Verbrechen keine Rede sein; ein solches Verhalten in einem Straftatbestand als strafbar zu beschreiben ist deshalb dem Gesetzgeber verwehrt.“ Die Gerichtetheit gegen ein Rechtsgut sei nicht nur ein Konstituens strafrechtlichen Unrechts unter anderen, sondern sie allein konstituiere Unrecht. Alle weiteren Momente, erweisen sich nach Marx als sekundär. Der Gesetzgeber sei „bezüglich eines unverzichtbaren Kerns als Minimum jedes Tatbestands“ gebunden: „(J)eder selbständige strafrechtliche Tatbestand muss wesentlich und notwendig „vertyptes Unrecht“ enthalten; in dieser Hinsicht bestehe eine (negative) Bindung des Gesetzgebers, dieses Minimum dürfe er nicht unterschreiten.“ 160 Nach der allgemeinen Verbrechensdefinition von Marx ist also die Verletzung eines Rechtsguts Voraussetzung für eine legitime strafende Reaktion des Staates. Er modifiziert diese Aussage allerdings explizit für den Fall des Versuchs- bzw. Gefährdungsunrechts dahin, dass er dort nicht die Verletzung eines Rechtsguts fordert, sondern eine Handlung in Richtung auf eine Rechtsgutsverletzung ausreichen lässt. Damit nimmt er seinem materiellen Unrechtsbegriff die deutliche Kontur, die sie durch das Kriterium der Rechtsgutsverletzung eigentlich hat. Immerhin führt er aber einen weiteren gedanklichen Prüfungsschritt ein: Das Verhalten müsse sich, um strafwürdiges Unrecht darzustellen, „zuende denken lassen bis zu einer tatsächlichen Rechtsgutsverletzung“. Die Rechtsgutsverletzung muss also, mit anderen Worten, schon im Verhalten selbst angelegt sein; das Verhalten muss gewissermaßen zwangsläufig zu ihr hinführen, darf nicht mehr abhängig sein von neuerlichen Schritten des Täters oder Dritter; dem Verhalten darf nicht nur der Hang oder eine Geneigtheit zur Rechtsgutsverletzung innewohnen, sondern es muss selbst schon die volle Verwirklichungsmacht in sich tragen. Gemessen an diesem Marxschen Entwurf bestehen an der Legitimität der Bestrafung der Tathandlungen der §§ 129 ff. StGB und überhaupt von Vorfeldkriminalisierungen Zweifel. Entscheidend für die Beurteilung muss nach Marx zunächst die Frage nach dem angegriffenen Rechtsgut sein. Wie gesehen161, herrscht darüber im Rahmen der §§ 129 ff. StGB Streit. Sieht man in den Vorschriften über kriminelle bzw. terroristische Vereinigungen primär Schutzvorschriften für den öffentlichen Frieden (was Marx selbst für möglich hält162),163 so stellt sich die Frage, ob durch das Gründen, Sich-als-Mitglied-Beteiligen, Werben etc. dieser Friede schon verletzt ist oder in den Tathandlungen jedenfalls der Friedensbruch schon zwangsläufig angelegt ist. Um dies entscheiden zu können, müsste Gewissheit darüber geschaffen werden, was genau eine Friedensverletzung bedeutet. „Öffentlicher Frieden“ wurde definiert 160 161 162 163
S. 76. Vgl. oben S. 182 ff. Vgl. oben Fn. 35. Vgl. zu dieser herrschenden Auffassung oben S. 183 ff.
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als „Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und des befriedeten Zusammenlebens der Bürger sowie das im Vertrauen der Bevölkerung in die Fortdauer dieses Zustands begründete Sicherheitsgefühl“ 164. Eine Verletzung des „öffentlichen Friedens“ liegt demgemäß immer dann vor, wenn der Zustand allgemeiner Rechtssicherheit verunsichert wird, wenn also die generelle Gewährleistung friedlicher Zustände in einer Rechtsgemeinschaft aufgehoben wird. Dies geschieht nicht schon durch die Gründung oder Aufrechterhaltung einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung allein, die zunächst nur das Innenverhältnis der Beteiligten betrifft. Der Kreis der Mitglieder mag sich ernsthaft und endgültig zusammengefunden haben, um in Zukunft Straftaten zu begehen. Aber erst wenn die Mitglieder der Vereinigung durch kriminelle oder terroristische Akte auch nach außen treten, also massiv Gewalt anwenden, kann dadurch ein Zustand garantierter Rechtspositionen, die Rechtssicherheit als solche, Schaden nehmen.165 Auch ist in den Tathandlungen der §§ 129 ff. StGB nicht schon mit hinreichender Unmittelbarkeit ein zukünftiger Friedensbruch angelegt. Dass es nach Gründung oder Unterstützung der Vereinigung tatsächlich zur Begehung von Straftaten kommt, ist keineswegs zwangsläufig, d. h. unabhängig von weiteren Schritten der Beteiligten in den „Vorbereitungs“-Handlungen angelegt. Es bedarf dazu der jeweils erneuten Entscheidung zum Unrecht und der tatsächlichen Umsetzung dieser Entscheidung durch die Mitglieder der Vereinigung. Von einer Friedensverletzung oder einer für die Beurteilung als Straftat hinreichend unmittelbaren Friedensgefährdung kann nach den von Marx entwickelten Kriterien nicht die Rede sein. Sieht man in den §§ 129 ff. StGB die Gesamtheit aller Rechtsgüter geschützt,166 treffen die oben angestellten Erwägungen in ähnlicher Weise zu. Dass die Gesamtheit aller Rechtsgüter durch die benannten Tathandlungen schon verletzt ist, lässt sich nicht sagen und wird – soweit ersichtlich – auch von niemandem vertreten. Dass die Verletzung nach dem von Marx aufgestellten Kriterium des „Zuende-Denkens“ schon unmittelbar in den Tathandlungen der Gründung oder Unterstützung angelegt ist, muss mit derselben Begründung wie bei der Verletzung des öffentlichen Friedens verneint werden: Der Lauf der Dinge ist kein naturgesetzlich determinierter, sondern ein freiheitsgesetzlich offener und damit keineswegs zwangsläufiger. Sollen Vorfeldkriminalisierungen im Allgemeinen nach dem Marxschen Entwurf beurteilt werden, so ist auch dort der erste Schritt die Bestimmung des angegriffenen Rechtsguts. Bei der Strafbarkeit nach § 30 StGB wird durch den Be164
Siehe die Nachweise oben in Fn. 12. Dies ist auch ein Kernargument G. Jakobs’ in „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 ff. Vgl. ferner die Ausführungen zu Jakobs’ Unrechtslehre unten im Text, S. 237 ff. 166 Siehe zu dieser Ansicht oben S. 193 ff. 165
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zug zu einem Verbrechen das jeweils durch den entsprechenden Straftatbestand geschützte Rechtsgut betroffen. Wendet man das von Marx für das Gefährdungsbzw. Versuchsunrecht zunächst entwickelte Kriterium des „Handelns in Richtung auf eine Rechtsgutsverletzung“ an, so lässt sich die Strafbarkeit nach § 30 StGB unter Umständen rechtfertigen: Auch der Bestimmungsversuch bzw. das „Sichbereit-erklären“, das „Annehmen des Erbietens eines anderen“ oder die Verbrechensverabredung stellen Handlungen „in Richtung einer Rechtsgutsverletzung“ dar. Allerdings zeigt sich im nächsten Prüfungsschritt, dass auch hier das sich „Zuende-Denken-Lassen bis zu einer tatsächlichen Rechtsgutsverletzung“ nicht ganz unproblematisch ist. Denn nach § 30 StGB ist es – genauso wenig wie bei den §§ 129 ff. – notwendig, dass es tatsächlich zu einer Straftat oder dem Versuch einer Straftat kommt. Im Unterschied zum von Marx näher untersuchten Versuchs- und Gefährdungsunrecht sind bei der Vorfeldkriminalität weitere menschliche Handlungen notwendig, die sich zwischen die Tathandlungen nach § 30 und einen potentiellen (Rechtsguts-)Verletzungserfolg schieben müssen. Das „Zuende-Denken“ setzt also das „Hinzu-Denken“ weiterer Verwirklichungsschritte voraus. Demnach können nach der von Marx entwickelten Rechtsgutslehre weder die in den §§ 129 ff. StGB kodifizierten Verhaltensweisen noch Vorfeldkriminalität nach Art des § 30 StGB als strafwürdiges Unrecht erfasst werden. bb) Die personale Rechtsgutslehre W. Hassemers Auch nach Hassemer liegt die Aufgabe des Strafrechts im Schutz der Rechtsgüter vor Verletzung oder Gefährdung.167 Er sieht in diesem Erklärungsmuster unter anderem den Vorteil, dass es „die Entscheidungen des Strafgesetzgebers über Schutzumfang und Schutztechnik gerechter, durchsichtiger und plausibler“ 168 mache.169 Dazu führt er aus: „Wenn Verletzung bzw. Gefährdung eines Rechtsguts der Kern der Strafwürdigkeitsbestimmung ist, dann muss der Grad der (abstrakten, konkreten) Gefährdung und Verletzung auch die Entscheidung des Strafgesetzgebers über Voraussetzungen und Modus der Strafbarkeit (Vorverlagerung der Strafbarkeit ins Vorfeld, etwa §§ 30, 111, 129, 129a, (. . .)) mitbestimmen; so setzt eine Strafdrohung gegen abstrakte Ge167 Vgl. NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 108 ff. Hassemer sieht sich in diesem Punkt einig mit SK-StGB-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 2 (vgl. dazu auch noch unten im Text); J. Baumann/U. Weber/W. Mitsch, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 3, Rn. 10 ff.; Lackner/Kühl, Vor § 13, Rn. 4; R. Maurach/H. Zipf, Strafrecht Allgemeiner Teil, Teilbd. I, § 19, Rn. 4 ff.; H. Otto, Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Straftatlehre, § 1 Rn. 21 ff. und ders., „Rechtsgutsbegriff und Kriminalpolitik“ (1971), S. 1 ff. 168 NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 114. 169 Vgl. auch W. Hassemer, Theorie und Soziologie des Verbrechens (1973), S. 16: Theorie zu Begriff und Funktion des Rechtsguts sei das materiale Substrat einer Theorie des Verbrechens.
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fährdung, wie sie etwa im modernen Wirtschafts- und Umweltstrafrecht gang und gäbe ist (. . .), eine besonders hohe Qualität des so intensiv geschützten Rechtsguts und eine besonders hohe Schutzbedürftigkeit gegenüber Verletzungen voraus, und der Strafgesetzgeber muss Voraussetzungen und Modus der Strafbarkeit gerecht abstufen, wenn er neben der Verletzung auch die Gefährdung eines Rechtsguts inkriminieren will.“ 170
Hassemer sieht also – darin übereinstimmend mit Marx – in dem Konzept des Rechtsgüterschutzes ein Beschränkungsprinzip für den Strafgesetzgeber insofern, als dass dieser nur Verhalten unter Strafe stellen dürfe, welches Rechtsgüter beeinträchtigt oder gefährdet.171 Er leitet daraus weiter ab, dass bei Gefährdungsdelikten der Grad der Gefahr, die Qualität des geschützten Rechtsguts und seine besondere Schutzbedürftigkeit berücksichtigt werden müssen, wenn sie mit Strafe bedroht werden sollen. Wenn er auch diese Kriterien nicht weiter konkretisiert, liegen in ihnen jedenfalls Eckpunkte für die Frage der Legitimität einer strafrechtlichen Gefährdungsnorm: Bei nur geringer Gefahr, geringer Qualität des Rechtsguts und/oder niedriger Schutzwürdigkeit des Gutes ist nach der Lehre Hassemers eine strafrechtliche Sanktion des Verhaltens nicht gerechtfertigt. Dadurch ist einerseits gewonnen, dass überhaupt ein materiell bestimmter Rahmen für gesetzgeberisches Handeln eingefordert wird; dieser Rahmen ist allerdings andererseits in seiner konkreten Ausgestaltung zu konturlos, um tatsächlich als verlässliche Leitlinie für die Beurteilung bestimmter Straftatbestände zu dienen. Die genannten Kriterien helfen bei der Beurteilung konkreter Tatbestände nur bedingt weiter, denn zuviel bleibt bei ihnen ungeklärt: Wonach bemisst sich die Qualität des Rechtsguts und seine Schutzwürdigkeit; was bedeutet in diesem Kontext das Attribut „besonders hoch“? Welches ist der Grad der Gefahr, der zur Strafwürdigkeit führt? In welchem Verhältnis stehen die Kriterien zueinander? Sollen die Kriterien abschließend sein oder ist die Liste der Strafwürdigkeitsvoraussetzungen potentiell erweiterbar? Die Unsicherheit zeigt sich auch deutlich bei Anwendung der Kriterien auf die hier interessierenden §§ 129 ff. StGB. Die (umstrittenen) Schutzgüter des „öffentlichen Friedens“ bzw. der „Gesamtheit der Rechtsgüter des Besonderen Teils“ lassen sich gewiss als qualitativ besonders hochwertig und als sehr schutzwürdig begreifen (wobei zweifelhaft ist, ob man sie auch als durch das Strafrecht zu schützende Güter begreifen kann). Es ist aber noch nicht einmal sicher, dass sie durch die Tathandlungen der §§ 129 ff. tatsächlich gefährdet werden, und wenn ja, in welchem Maß. Das „Ob“ und der Grad der Gefährdung hängen einerseits 170
NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 114. „Die Aufgabenbestimmung des Strafrechts vom Rechtsgut her ist der – durch die Aufklärung inspirierte – Versuch, dem Strafgesetzgeber ein plausibles und verwendungsfähiges Kriterium für seine Entscheidung an die Hand zu geben und zugleich einen externen Prüfungsmaßstab für die Gerechtigkeit dieser Entscheidungen zu entwickeln.“ NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 115 (Fn. weggelassen). 171
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davon ab, wie man die Gefährlichkeit einer bestimmten kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung empirisch einschätzt (ist sie beispielsweise handlungsfähig und -willig, welche Mittel stehen ihr real zur Verfügung, welche Gewaltbereitschaft lässt sich bei den Mitgliedern ausmachen, wie weit ist die Straftatvorbereitung gediehen?). Aber auch wenn man nach dieser empirischen Einschätzung dazu kommt, dass tatsächlich eine „erhöhte“ Gefährlichkeit vorliegt, dann lässt sich nach Hassemer daraus immer noch nicht schließen, ob damit die Schwelle zur strafwürdigen Gefahrschaffung überschritten ist oder nicht. Marx hatte für diese Frage das Kriterium des „Zu-Ende-Denken-Könnens“ eingeführt, bei Hassemer fehlt es an einer vergleichbaren Konkretisierung. Für die §§ 129 ff. kommt hinzu, dass sich – wie gezeigt – schon bei der Bestimmung des Rechtsguts selbst Probleme ergeben. Hassemer macht sich bei der Diskussion um die „Universalrechtsgüter“ (also zum Beispiel den „öffentlichen Frieden“) dafür stark, dass sie, um legitimerweise Gegenstand strafrechtlicher Normen zu sein, auf die einzelne Person zurückführbar sein müssen. Die von ihm vertretene „personale Rechtsgutslehre“ „funktionalisiert die Interessen der Allgemeinheit von den Interessen der Person her, sieht Güter der Gesellschaft und des Staates zu Gütern des Individuums in einer Ableitungsbeziehung: erkennt Interessen der Allgemeinheit als berechtigte nur an, insoweit sie personalen Interessen dienen.“ 172 Mit diesem Rückbezug auf Individualinteressen sei eine kritische Kraft verbunden, die bei der Schaffung von Strafnormen, z. B. zum Schutz der Umwelt, Zurückhaltung des Gesetzgebers einfordere.173 Mit seiner personalen Rechtsgutslehre scheint Hassemer sich also dem, was er „modernes Strafrecht“ nennt, entgegenstellen zu wollen. Mit tendenziell kritischem Unterton schreibt er: „(. . .) Rechtsgüter, um deren Schutz es (im modernen Strafrecht, K.G.) gehen soll, (sind) nicht Individual-, sondern Universalrechtsgüter. Es kommt hinzu, dass der Strafgesetzgeber diese Universalrechtsgüter besonders vage und großflächig formuliert (Schutz der Volksgesundheit, Schutz der Funktion des Subventionswesens usw.). Auf diese Weise entfernt sich das moderne Strafrecht im doppelten Sinn von seinen Traditionen. Dort ging es unmittelbar um den Schutz von Individualrechtsgütern, die überdies so konkret und präzise wie möglich zu bestimmen waren. Die Rechtsgüter, welche das moderne Strafrecht zur Legitimation von Strafdrohungen benennen kann, diskriminieren nicht mehr; es gibt kaum eine menschliche Verhaltensweise, welche man heute mit Berufung auf das Prinzip des Rechtsgüterschutzes entkriminalisieren müsste.“ 174
172
NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 132. NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 137. In diesem Sinne auch N. Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung im Lichte der positiven Generalprävention (2007), S. 98. 174 W. Hassemer, „Kennzeichen und Krisen des modernen Strafrechts“ ZRP 1992, S. 378 (381). 173
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Leider sind aber auch Hassemers Anforderungen an die Möglichkeit des Rückbezuges auf Individualinteressen, wie auch seine Kriterien der Strafwürdigkeit von Gefährdungsunrecht, nicht ausreichend präzise gefasst, um sie tatsächlich als kritischen Maßstab für die Legitimität einzelner Tatbestände zu verwenden. Denn der „Rückbezug auf das Personale“ ist so allgemein formuliert, dass kaum Güter denkbar sind, die in letzter Konsequenz nicht auch etwas mit dem „Interesse der einzelnen Person“ zu tun haben: Eine saubere Umwelt als Lebensraum, die Wirtschaft als Betätigungsfeld, der Kapitalfluss als Möglichkeit zur Geldanlage, die Rechtssicherheit als Rechtsgarantie, der Datenverkehr als die Möglichkeit zur sicheren Nutzung moderner Technik, die Versicherungswirtschaft als Möglichkeit privater und öffentlicher Absicherung von Lebensrisiken, etc. Dies erweist sich auch in Bezug auf die §§ 129 ff. und ihr (vermeintliches) Schutzgut des „öffentlichen Friedens“ (bzw. der „Gesamtheit aller Rechtsgüter“): Aus der Perspektive der personalen Rechtsgutslehre lässt sich durchaus sagen, dass sich diese Rechtsgüter auf das Interesse der einzelnen Personen im Staat zurückführen lassen. Denn der öffentliche Frieden dient dem einzelnen, indem er ihm durch einen rechtssicheren Zustand die eigenen Rechtspositionen garantiert. Danach lässt sich das Universalrechtsgut „öffentlicher Friede“ ohne Probleme von der Person aus „funktionalisieren“ und bietet unter Zugrundelegung der Kriterien Hassemers keinen Anlass zur Kritik. Andererseits fällt es unter die von Hassemer (kritisch) beschriebene Kategorie der vom Gesetzgeber „vage und großflächig formulierten“ Universalrechtsgüter. Hieran zeigt sich, dass die von Hassemer behauptete kritische Potenz seiner Lehre nur in Ansätzen besteht. Sie bedürfte der Ausarbeitung und Präzisierung, wenn sie die von ihr beanspruchte Kraft als Legitimationsmaßstab tatsächlich aufweisen soll. Nach der „personalen Rechtsgutslehre“ Hassemers bleiben demnach Unsicherheiten in der Beurteilung der Rechtmäßigkeit der §§ 129 ff. StGB als Vorfelddelikte.175 Diese Unsicherheiten werden von Hassemer selbst auch gar nicht geleugnet; im Gegenteil ist er der Auffassung, dass das Rechtsgutskonzept nicht mehr sein muss als „ein gewichtiger Argumentationstopos für eine eher am Menschen orientierte, eher durchsichtige und nachprüfbare Kriminalpolitik und Strafrechtsanwendung (. . .);“ mehr könne man von rechtlichen Fundamentalprinzipien nicht erwarten.176 Es wird dabei allerdings nicht deutlich, wie ein Konzept 175 Hassemer selbst nennt den Tatbestand der Bildung krimineller Vereinigungen als Beispiel dafür, „welche Gefährdungstypen“ ein Kernstrafrecht enthalten sollte. Allerdings leitet er diese Aussage nicht aus seiner eigenen Unrechtslehre ab, sondern stellt sie als nicht weiter zu begründende Selbstverständlichkeit dar. Vgl. W. Hassemer, „Kennzeichen und Krisen des modernen Strafrechts“ ZRP 1992, S. 378 (383). 176 NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 146. Auch H. Otto, „Rechtsgutsbegriff und Kriminalpolitik“ (1971), S. 1 ff. (14, 15) meint, dass es nicht darum gehe, „einen subsumierbaren Begriff (des Rechtsguts, Verf.) zu entwickeln, aus dem die Frage nach der Legitimität einer Vorschrift gleichsam zweifelsfrei ihre Antwort finden kann. Der Wunsch nach der Festlegung eines solchen Begriffs führe zwar zum Rechtsgutsbegriff,
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einerseits kritische Potenz haben kann, aber gleichzeitig weder Aussagen zu konkreten Legitimationsfragen treffen soll und kann, noch zu einer „bestimmten Entscheidung oder Normanwendung“ zwingt.177 Es handelt sich dann im Ergebnis gerade nicht um einen „gewichtigen Argumentationstopos“, sondern – zumindest in der kritisierten unausgearbeiteten Form – um ausfüllungsbedürftige Generalklauseln. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass sich die Frage nach der Strafwürdigkeit von Vorfeldkriminalität mit Hilfe der Rechtsgutslehre Hassemers nicht abschließend beantworten lässt. Hassemer scheint aber in der Tendenz der „Verflüssigung des Rechtsgutsbegriffs“ und der Bestrafung von Gefährdungsverhalten im Vorfeld tatsächlicher Rechtsgutsverletzungen kritisch gegenüber zu stehen. cc) Das Rechtsgut als „werthafte Funktionseinheit“ (H.-J. Rudolphi) Rudolphis Überlegungen zur Rechtsgutslehre sind in ihren Grundzügen vergleichbar mit denen von Marx und Hassemer: Auch er meint, dass der Gesetzgeber zum Erlass einer Strafnorm nur dann berechtigt ist, „wenn sie zur Wahrung und Sicherung der Lebensbedingungen unserer auf Freiheit und Verantwortung der Person basierenden Gesellschaft notwendig ist“ 178 und dass deshalb die Aufgabe des Strafrechts allein im Rechtsgüterschutz liege.179 Bei der Frage nach dem strafrechtlichen Schutz von Universalinteressen ist er sich ebenfalls im Grundsatz mit den beiden vorgenannten Autoren einig: Dieser Schutz sei nur insoweit legitim, „soweit er sich als notwendig erweist, um die für eine freie Entfaltung der Bürger notwendigen Voraussetzungen zu sichern.“ 180 Im Unterschied zu den Rechtsgutsumschreibungen Marx’ und Hassemers sieht Rudolphi allerdings keine „Gegenstände“, „Zustände“ oder „Interessen“ geschützt, sondern definiert das Rechtsgut als „allgemein für unsere verfassungsmäßige Gesellschaft und damit auch für die verfassungsgemäße Stellung und Freiheit des einzelnen Bürgers unverzichtbare und deshalb werthafte Funktionsund er steht noch heute hinter den meisten Versuchen, einen ,substantiellen‘, ,materiellen‘ Rechtsgutsbegriff zu definieren. Die Suche nach dem sachlichen Rechtsgutsbegriff, der inhaltlich dem Gesetzgeber vorgegeben sein soll, führt aber über die Erkenntnis nicht hinaus, dass der Tatbestand ein sozialwichtiges bonum schützt, das der Gesetzgeber in der jeweiligen kulturhistorischen Situation für schutzwürdig hält. (. . .) Nach wie vor geht es bei der Forderung nach Rechtsgüterschutz in den Deliktstatbeständen um die Forderung an den Gesetzgeber, mit rational nachprüfbaren Argumenten den Beweis zu führen, dass er ein sozialwichtiges bonum durch den Deliktstatbestand schützt und dass sich dieser Strafrechtsschutz mit dem Gefüge der Wertentscheidungen der Rechtsgesellschaft in Einklang hält.“ (Fn. weggelassen). 177 Vgl. NK-Hassemer/Neumann, Vor § 1, Rn. 146. 178 SK-StGB-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 1. 179 A. a. O., Rn. 2. 180 A. a. O., Rn. 1 (mit ausdrücklichem Verweis auf Hassemer).
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einheit.“ 181 Daraus entwickelt Rudolphi folgende Kriterien für den legitimen Einsatz des Strafrechts: Die Aufgabe des Strafrechts lasse sich dahin konkretisieren, die für den Bestand der staatlichen Gesellschaft erforderlichen sozialen Funktionen und Wirkungsmechanismen vor Störungen und Beeinträchtigungen zu schützen. Verhaltensweisen, denen dieser Charakter der Störung sozialer Funktionen fehlt, die also keinerlei schädliche Wirkungen auf den gesellschaftlichen Funktionsorganismus ausüben und deren Unwertgehalt sich mithin in reiner Moralwidrigkeit erschöpft, hätten dagegen als Gegenstand strafrechtlicher Verbote und Gebote grundsätzlich auszuscheiden.182 Bei der hier im Mittelpunkt stehenden Frage nach der Legitimität von Vorfeldbestrafungen ist Rudolphi dementsprechend skeptisch und befindet sich insofern wieder in gedanklicher Übereinstimmung mit Marx. Das geschützte Rechtsgut muss nach Rudolphi (wie auch nach Marx) durch die pönalisierte Verhaltensweise zumindest gefährdet oder aber verletzt sein. Daraus folge, dass „eine allzu weite Ausdehnung der Strafbarkeit in das Vorbereitungsstadium, d. h. auf nicht unmittelbar rechtsgutsgefährdende Verhaltensweisen, sich verbietet.“ 183 Nicht unproblematisch seien deshalb Straftatbestände, die „unter der Flagge des Schutzes der öffentlichen Ordnung oder des öffentlichen Friedens den Strafrechtsschutz weit in das Vorbereitungsstadium hinein erstrecken“.184 Nach Rudolphi sind also Verhaltensweisen wie die in §§ 129 ff. StGB pönalisierten nur schwerlich als strafwürdiges Unrecht zu fassen. dd) Der „liberale“ Rechtsgutsbegriff C. Roxins Den schon beschriebenen Rechtsgutslehren schließt sich Roxin im Wesentlichen an.185 Er vertritt einen „liberalen“ Rechtsgutsbegriff, sieht dessen Wurzeln in der Philosophie der Aufklärung (insbesondere in der Idee vom Staatsvertrag, mit dem freie Bürger bestimmte staatliche Organe mit der Sicherung ihrer Lebensbedingungen betrauen), will ihn aber offen halten für eine Orientierung an
181 A. a. O., Rn. 8 (Hervorhebung von Verf.). Dem schließt sich H. Otto im Wesentlichen an, wenn er das Rechtsgut definiert als „Zustand einer bestimmten, in den einzelnen Tatbeständen umrissenen, realen Beziehung der Person zu konkreten von der Rechtsgemeinschaft anerkannten Werten – ,soziale Funktionseinheiten‘ (Verweis auf Rudolphi) –, in der sich das Rechtssubjekt mit Billigung durch die Rechtsordnung personal entfaltet.“ („Rechtsgutsbegriff und Kriminalpolitik“ (1971), S. 8). Vgl. zu Rudolphis Ansatz ferner B. J. A. Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994), S. 41 ff. 182 SK-StGB-Rudolphi, Vor § 1, Rn. 10. 183 A. a. O., Rn. 11a. 184 Ebenda. 185 Vgl. dazu C. Roxin, „Zur neueren Entwicklung der Rechtsgutsdebatte“ (2010), S. 573 ff.
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modernen Lebensbedingungen. Roxin definiert Rechtsgüter als „alle Gegebenheiten oder Zwecksetzungen, die für die freie Entfaltung des Einzelnen, die Verwirklichung seiner Grundrechte und das Funktionieren eines auf dieser Zielvorstellung aufbauenden staatlichen Systems notwendig sind.“ 186 Das Strafgesetz dürfe nicht mehr verbieten, als zur Erreichung friedlicher und freiheitlicher Koexistenz erforderlich ist.187 Er hält sog. Universalrechtsgüter nicht per se für illegitim, sondern nur ihre missbräuchliche Verwendung. Ein Missbrauch bestehe darin, „dass man mit Hilfe vager Allgemeinbegriffe ein Rechtsgut der Allgemeinheit konstruiert, wo die eigentlich zu schützenden Individualgüter nicht in strafwürdiger Weise beeinträchtigt werden“ 188. Einen Anwendungsfall für diese Problematik stelle auch die Pönalisierung von Verhaltensweisen aufgrund des Schutzes des „öffentlichen Friedens“ dar; Strafdrohungen dürfen sich nach Roxin nicht nur auf die Eignung eines Verhaltens zur Störung des öffentlichen Friedens stützen.189 Bei der Legitimation von Vorfeldstrafbarkeit ist Roxin, wie auch die sonstigen Vertreter rechtsgutsgestützter Unrechtslehren, sehr zurückhaltend. Er hält es zwar grundsätzlich für legitim, neben Rechtsgutsverletzungen auch -gefährdungen unter Strafe zu stellen. Aber die „Ausweitung des Strafrechts in den Gefährdungsbereich hinein“ sei jedenfalls dort bedenklich, wo sie „zu immer weitergehenden Vorfeldkriminalisierungen mit immer unangreifbareren Schutzgütern“ führe.190 Rechtmäßig sei das strafrechtliche Verbot von (abstraktem) Gefährdungsverhalten nur dann, wenn das Verhalten „eindeutig umschrieben, sein Rechtsgutsbezug klar ersichtlich ist und auch das Schuldprinzip nicht verletzt wird“; die Pönalisierung müsse sich mit einer rechtsgutsorientierten Strafrechtskonzeption vereinbaren lassen und dürfe sich nicht einem Gesinnungsstrafrecht annähern.191 Zu kritisieren sei es, wenn eine „rechtsstaatlich problematische Vorverlagerung der Strafbarkeit (. . .) durch Berufung auf diffuse Belange der Allgemeinheit kaschiert“ werde.192 Indem man angebliche Allgemeininteressen zu Rechtsgütern erkläre, setze man die strafbarkeitsbegrenzende Funktion des Rechtsgutsbegriffs im Bereich der Vorfeldkriminalisierung außer Kraft.193
186
Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. 1, S. 16. C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, S. 16; ders., „Sinn und Grenzen staatlicher Strafe“ JuS 1966, S. 377 (381). Dazu K. Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 309 ff.; N. Funcke-Auffermann, Symbolische Gesetzgebung im Lichte der positiven Generalprävention (2007), S. 99 ff. 188 C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, S. 17. 189 Ebenda, S. 28. 190 Ebenda, S. 34 ff. (Zitat S. 35). 191 Ebenda, S. 35. 192 Ebenda, S. 37. 193 Ebenda. 187
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Dass die §§ 129 ff. StGB strafwürdiges Unrecht kodifizieren, ist aus der Perspektive Roxins also zweifelhaft. Insbesondere wegen ihres umstrittenen Schutzgutes „öffentlicher Frieden“ und der Kriminalisierung von weit vor der eigentlichen Rechtsgutsverletzung liegenden Tathandlungen, ist nach den roxinschen Kriterien eine Pönalisierung rechtsstaatlich bedenklich. ee) Zusammenfassung zu c) Die exemplarisch untersuchten Unrechtslehren Marx’, Rudolphis und Roxins, die sich übereinstimmend auf eine Rechtsgutsverletzung als materiellen Kern des Verbrechens stützen194, sehen in der Vorfeldstrafbarkeit ein rechtsstaatliches Problem und halten sie für unvereinbar mit ihrem strafrechtlichen Unrechtsbegriff. Sie lehnen deshalb – ausdrücklich oder implizit – eine Bestrafung nach den §§ 129 ff. StGB ab. Sie tun dies, obwohl sie die Legitimität strafrechtlichen Gefährdungsunrechts mit ihrem Ansatz grundsätzlich anerkennen. Sie unterscheiden allerdings nach der Art der Gefährdung: Mit je unterschiedlicher Formulierung, in der Sache aber vergleichbar, machen sie die Rechtmäßigkeit von Gefährdungsdelikten an der Nähe zur (potentiellen) Rechtsgutsverletzung fest.195 Bei den §§ 129 ff. ist eine solche Nähe nicht in ausreichendem Maße gegeben. Auch Hassemer sieht die Tendenz zur Kriminalisierung von Vorfeldverhalten zumindest skeptisch. Allerdings lässt sich mit den Kriterien seiner „personalen Rechtsgutslehre“ nicht eindeutig bestimmen, ob er die §§ 129 ff. StGB für illegitim hält oder nicht. Nach eigener Aussage würde er sie als Teil des Kernstrafrechts akzeptieren, allerdings lässt sich der Grund für diese Akzeptanz nicht eindeutig aus seiner eigenen Lehre ableiten.
194 Vgl. dazu auch U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 149 ff. 195 Vgl. dazu unten im Text S. 269 ff. Dieses Kriterium scheint auch B. Weißer („Über den Umgang des Strafrechts mit terroristischen Bedrohungslagen“ ZStW 121 (2009), S. 131 ff.) für die Frage der Legitimität von Vorfelddelikten heranziehen zu wollen. Sie schreibt: „Jede in Anspruchnahme des Strafrechts bereits im Vorfeld einer terroristischen Straftat setzt zwingend voraus, dass bereits das Projektstadium eine aktuelle Rechtsgutsbeeinträchtigung oder -gefährdung darstellt.“ (ebenda, S. 161). Allerdings wendet sie dieses Kriterium bei ihren Überlegungen zu § 129a (im selben Text) nicht an: Die extreme Vorverlagerung der pönalisierten Handlungen (sie „liegen weit im Vorfeld der Verwirklichung der Katalogtat und müssen im Einzelfall auch keinen engen Bezug zur Tatbegehung aufweisen“, ebenda S. 137), die durch die Anordnung von Versuchsstrafbarkeit (z. B. Versuch der Gründung einer terroristischen Vereinigung, der einem Versuch der Verbrechenverabredung entspreche, vgl. S. 138) und (z. T. verselbständigter) Teilnahmestrafbarkeit (siehe dazu S. 139) noch weiter aus dem Bereich einer aktuellen Rechtsgutsbeeinträchtigung oder -gefährdung herausgenommen werden, will Weißer mit Hinweis auf den immerhin gestuften Strafrahmen nicht beanstanden (vgl. S. 140).
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d) Die Lehre vom Verbrechen als „sozialunerträgliche, besonders anstößige Verletzung der Gemeinschaftsordnung“ 196 (H. Welzel) H. Welzel sieht die Aufgabe des Strafrechts nicht primär im Rechtsgüterschutz, sondern im Schutz der „elementaren Werte des Gemeinschaftslebens“ 197. Er leitet die Rolle, die das Strafrecht für diesen „Werteschutz“ spielt, folgendermaßen her: Jede menschliche Handlung unterliege zwei verschiedenen Wertaspekten. Sie könne einerseits nach dem Erfolg bewertet werden, den sie herbeiführt („Erfolgsoder Sachverhaltswert“), andererseits aber auch unabhängig vom Erreichen des Erfolges schon nach dem Sinn der Tätigkeit als solcher („Aktwert“).198 Der Unwert (einer) Handlung könne nicht nur darin gesehen werden, dass der Erfolg, den sie hervorbringt, missbilligenswert ist (Erfolgsunwert der Handlung). Unabhängig vom Erreichen des Erfolgs sei auch eine Handlung, die auf einen zu missbilligenden Erfolg abzielt, missbilligenswert (Aktunwert der Handlung). Beide Wertarten seien für das Strafrecht von Bedeutung: Das Strafrecht wolle zunächst bestimmte Lebensgüter der Gemeinschaft (Sachverhaltswerte) schützen, wie z. B. den Bestand des Staates, das Leben, die Gesundheit, die Freiheit und das Eigentum (Rechtsgüter), indem es deren Verletzung (den Erfolgsunwert) mit Rechtsfolgen belegt. Diesen Rechtsgüterschutz erreiche es dadurch, dass es die auf Rechtsgüterverletzung abzielenden Handlungen verbiete und bestrafe. Die Verhinderung der Sachverhalts- oder Erfolgsunwerte werde auf diese Weise durch Bestrafung der Aktunwerte erreicht. Dadurch sichere das Strafrecht die Geltung der positiven sozialethischen Aktwerte: „Diese in der beständigen r e c h t l i c h e n (d. h. legalen, nicht notwendig moralischen) Gesinnung wurzelnden Werte rechtmäßigen Handelns bilden den positiven sozialethischen Hintergrund der strafrechtlichen Normen. Ihre reale Befolgung sichert das Strafrecht dadurch, dass es den b e t ä t i g t e n Abfall von ihnen in den treubrüchigen, zuchtlosen, unehrlichen, unredlichen Handlungen bestraft. Die zentrale Aufgabe des Strafrechts liegt also darin, durch Strafdrohung und Strafe für den wirklich betätigten Abfall von den Grundwerten rechtlichen Handelns die unverbrüchliche Geltung dieser Aktwerte sicherzustellen.“ 199 Dabei betont Welzel, dass die „Rechtsordnung den w i r k l i c h b e t ä t i g t e n Abfall von den Werten rechtlichen Handelns bestraft und damit deren reale Geltung 196
H. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 187. H. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 1. Vgl. zu Welzels wertphilosophischem Hintergrund: „Naturalismus und Wertphilosophie“ (1935), Abdruck in: ders., Abhandlungen zum Strafrecht und zur Rechtsphilosophie (1975), S. 29 ff. Siehe zu möglichen Rechtsbegründungen aus einer Werteordnung ferner B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 188 ff. Vgl. zudem B. J. A. Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994), S. 27 ff. 198 H. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 1. 199 Ebenda, S. 2. 197
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sichert“ nicht aber, dass sie nur „schlechte oder gefährliche Vorsätze ohne verletzendes oder gefährdendes Tun verfolge und ahnde (. . .). Denn nur die w i r k l i c h e B e t ä t i g u n g jenes Abfalls löst Strafe aus (. . .).“ 200 Mit dieser Bestrafung des „wirklichen Abfalls von den rechtlichen Gesinnungswerten“ wird nach Welzel zugleich Rechtsgüterschutz bewirkt. Dennoch sei die primäre Aufgabe des Strafrechts nicht der aktuelle Rechtsgüterschutz, denn dieser komme in den Situationen, in denen das Strafrecht Anwendung findet, „regelmäßig zu spät“. Wesentlicher als der Schutz der konkreten einzelnen Rechtsgüter sei die Aufgabe, die reale Geltung (Befolgung) der Aktwerte rechtlicher Gesinnung sicherzustellen; sie seien das stärkste Fundament, das den Staat und die Gemeinschaft trage. Bloßer Rechtsgüterschutz habe nur eine negativ-vorbeugende, polizeilich-präventive Zielsetzung. Die tiefste Aufgabe des Strafrechts dagegen sei positiv-sozialethischer Natur: Indem es den wirklich betätigten Abfall von den Grundwerten rechtlicher Gesinnung verfemt und bestraft, offenbare es „in der eindrucksvollsten Weise, die dem Staat zur Verfügung steht, die unverbrüchliche Geltung dieser positiven Aktwerte, form(e) das sozialethische Urteil der Bürger und stärk(e) ihre bleibende rechtstreue Gesinnung.“ 201 Aufgabe des Strafrechts ist nach Welzel also der Schutz der elementaren sozialethischen Gesinnungs- (Handlungswerte) und erst darin eingeschlossen der Schutz der einzelnen Rechtsgüter202 oder, umgekehrt formuliert, Rechtsgüterschutz durch den Schutz der elementaren sozialethischen Handlungswerte.203 Das Problem der Vorfeldbestrafung geht Welzel dementsprechend nicht so an, dass er auf die Nähe zur Rechtsgutsverletzung abstellt. Er setzt anders an: „Jedes vorsätzliche Verbrechen ist Willensverwirklichung. Die Willenverwirklichung kann in den Anfangsstadien stecken bleiben, und sie kann bis zur vollen Durchführung des Handlungsentschlusses gehen.“ 204 Auf die Frage, wann in dieser Reihe das Verbrechen als strafwürdige Handlung beginne und wann sein voller Verbrechensgehalt erreicht sei, entwickelt Welzel die folgende Ableitung: „Der bloße Handlungsentschluss ist noch nicht strafbar: cogitationis poenam nemo patitur (Ulpian). Auch im Willensstrafrecht wird der böse Wille als solcher nicht bestraft, sondern nur der sich verwirklichende böse Wille; (. . .). Vorsatz ist Verwirklichungswille, und zwar nicht nur i. S. des auf die Verwirklichung a b z i e l e n d e n Willens, sondern auch i. S. des der Verwirklichung m ä c h t i g e n Willens. Aber 200
Ebenda. Ebenda, S. 3. Vgl. auch die folgende Präzisierung Welzels: „Nur über Sicherung der elementaren sozialethischen Handlungswerte ist ein wirklich dauerhafter und durchgreifender Schutz der Rechtsgüter zu erreichen. Durch die umfassendere sozialethische Funktion des Strafrechts wird der Rechtsgüterschutz tiefer und stärker gewährleistet als durch den alleinigen Güterschutzgedanken.“ 202 Ebenda, S. 4. 203 Ebenda, S. 5. 204 Ebenda, S. 187. 201
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nicht jedes beliebiges Tun, in das sich der böse Entschluss umsetzt, ist schon Verbrechen. Verbrechen ist die sozialunerträgliche, besonders anstößige Verletzung der Gemeinschaftsordnung. Daher beginnt das Verbrechen erst da, wo die besondere Anstößigkeit der Tat beginnt. Nicht immer setzt sich der Entschluss unmittelbar in ein solches Verhalten um, sondern vielfach geht letzterem Tun voraus, das die eigentlich verwerfliche Tat erst vorbereitet, (. . .).205 Es ist als solches noch kein Verbrechen, gegen das man mit Strafe einschreiten könnte; einmal, weil es objektiv nicht (oder kaum) anstößig ist, vor allem aber, weil das Verweilen in diesen vorbereitenden Handlungen noch nicht eine wirkliche verbrecherische Macht des Willens, also einen V e r b r e c h e n s vorsatz, manifestiert. Vorbereitungshandlungen sind daher wegen ihres unzulänglichen verbrecherischen Gehalts und ihrer geringen realen Fassbarkeit grundsätzlich straflos. (. . .)“ 206
Nach Welzel soll das Strafrecht nach dem „betätigten Abfall von Grundwerten“ (= Unrecht) die Fortgeltung dieser gemeinschaftlichen Werte manifestieren und dadurch die rechtstreue Gesinnung der Bürger stärken. Er legt Wert darauf, dass der Abfall von den Werten nicht bloß im Geiste stattfinden darf, um Strafwürdigkeit auszulösen, sondern „betätigt“ sein muss. Nicht der böse Wille als solcher wird bestraft, sondern nur der sich verwirklichende böse Wille, also ein Wirken in der Außenwelt. Hierbei belässt es Welzel aber für die Qualifizierung strafrechtlichen Unrechts nicht: Zu dem wertwidrigen Außenweltsakt muss hinzukommen, dass es sich bei ihm um eine „sozialunerträgliche, besonders anstößige Verletzung der Gemeinschaftsordnung“ handelt. Dafür genügt ausdrücklich nicht schon jede Vorbereitungshandlung. Diese sei als solche gerade noch kein Verbrechen, denn sie sei weder „objektiv anstößig“ noch zeige sich in ihr ein ausreichend wirkmächtiger wertwidriger Wille. Diese Kriterien sind nun an die in den §§ 129 ff. kodifizierten Tathandlungen (Gründung einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung, Beteiligung an ihr als Mitglied, Werbung um Mitglieder oder Unterstützer, sonstige Unterstützung der Vereinigung) anzulegen. In ihnen müsste also ein „betätigter Abfall von den Grundwerten rechtlichen Handelns“ liegen, der einerseits schon sozialunerträglich und objektiv besonders anstößig und andererseits Ausdruck eines mit echter Wirkmacht ausgestatteten wertwidrigen Willens ist. Dass die Gründung (etc.) einer menschlichen Vereinigung, die darauf gerichtet ist, in der Zukunft ernsthafte Straftaten zu begehen, ein nach außen erkennbarer Akt ist, der sich gegen die Geltung der Grundwerte in der Gesellschaft richtet, lässt sich sagen. Immerhin wird eine innere Einstellung gegen die geltende Rechtsordnung dadurch manifest, dass die Gemeinschaft mit anderen gerade zu dem Zweck hergestellt wird, in der Zukunft gegen geltendes Recht zu verstoßen und „sozialethische Aktwerte“ zu verletzen. Allerdings bleibt es in dem Stadium, das von den §§ 129 ff. erfasst wird, bei der Schaffung von Organisationsstrukturen für zukünftige Taten 205 206
Ebenda. Ebenda, S. 188.
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und Welzel will seine Konzeption von Unrecht und Strafe gerade nicht verstanden wissen als die Verfolgung und Ahndung von nur schlechten oder gefährlichen Vorsätzen – seien es auch gemeinschaftliche –, sondern nur von verletzendem oder gefährdendem Tun. Ob also im organisierten Zusammenschluss innerlich gegen die Grundwerte der Gesellschaft Eingestellter ein strafbarer „betätigter Abfall von Grundwerten“ im Sinne Welzels liegt, muss anhand zusätzlicher Bestimmungen geklärt werden. Der organisierte Zusammenschluss müsste zunächst seinerseits schon sozialunerträglich und objektiv besonders anstößig sein. Ob er dies ist, lässt sich indes nicht eindeutig beantworten. Denn die Begriffe des „Sozialunerträglichen“ bzw. der besonderen „Anstößigkeit“ sind keine subsumtionsfähigen Begriffe, solange der Maßstab des Sozialerträglichen bzw. der „Anständigkeit“ nicht feststeht. Schon dass es sich bei ihnen um Rechtsbegriffe handelt, ist zweifelhaft.207 Das zweite von Welzel entwickelte Kriterium hilft dagegen weiter: Das „Verweilen in (. . .) vorbereitenden Handlungen“ manifestiere noch nicht eine „wirkliche verbrecherische Macht des Willens, also einen V e r b r e c h e n s vorsatz“. Das Gründen der Vereinigung, die Beteiligung an ihr, das Werben für sie und das sonstige Unterstützen sind – wie oben gezeigt – primär auf den Bestand der Vereinigung gerichtet. Das Bestehen der Vereinigung als solches kann an der realen Geltung von Aktwerten in der Gesellschaft jedoch so lange keinen Schaden anrichten, wie die Vereinigung nicht nach außen tritt und „Aktwerte“ verletzt, also Straftaten begeht. Die im Zusammenschluss mehrerer wertfeindlicher Bürger liegende Manifestation wertwidriger Gesinnung ist damit noch nicht ausreichend wirkmächtig im Sinne Welzels. Eine wirkliche verbrecherische Macht des Willens, ein Verbrechensvorsatz, hat sich vielmehr auf die zukünftige Unrechtstat, den wirklich betätigten Abfall von einem konkreten Aktwert, zu beziehen. Zum Zeitpunkt der Tathandlungen der §§ 129 ff. lässt sich dies aber gerade noch nicht sagen: Das zukünftige Delikt muss noch gar nicht feststehen, muss noch nicht ins Vorbereitungsstadium vorgerückt sein und muss auch nicht unbedingt durch die Personen begangen werden, die die Tathandlungen der §§ 129 ff. ausgeführt haben. Von einer echten Wirkmacht ist der Wille zur (potentiellen) Straftat also in diesem Stadium noch weit entfernt. Dementsprechend läge nach Welzel ein nicht strafwürdiges Vorverhalten vor.208 Mit Welzels Begriff vom Verbrechen lässt sich demnach das in den §§ 129 ff. kodifizierte Unrecht ebenfalls nicht erfassen.
207 Vgl. dazu auch die Kritik bei U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005), S. 119 ff. 208 Entsprechend skeptisch ist Welzel auch in Bezug auf die Strafbarkeit nach § 49a a. F. (heute: § 30). Die Erweiterung der Strafbarkeit nach dem vor dem 3. StÄG geltenden sog. Duchesne-Paragraphen in das Gebiet der sonst straflosen Vorbereitungshandlungen hinein sei „bedenklich“ (H. Welzel, Das Deutsche Strafrecht, S. 125).
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e) Das Verbrechen als „Störung eines sozialen Systems“ 209 und die Lehre vom Unrecht als Normdesavouierung aa) Das Verbrechen als „Sozialschaden“ (K. Amelung) Während die bisher vorgestellten Unrechtslehren die Qualität des Verbrechens an der Wertwidrigkeit der Tathandlung oder ihres Erfolges in Form einer Rechtsgutsverletzung festmachten, geht K. Amelung das Problem in anderer Weise an: Er schlägt einen Perspektivwechsel vor, nach dem nicht der im Verbrechen liegende Unwert selbst, sondern die soziale Wirkung des Verbrechens210 entscheidend sei. Darin liegt eine wesentliche Neuerung bei der Bestimmung strafwürdigen Unrechts: Der Fokus der Betrachtung wird von der Tat des Täters auf die Wirkung dieser Tat verschoben, wobei mit „Wirkung“ nicht die unmittelbare Verletzungsfolge für das Opfer der Tat gemeint ist, sondern die Störung des den Täter und das Opfer umgebenden sozialen Systems.211 Amelung erklärt diesen Perspektivwechsel damit, dass die bisherigen Begründungsansätze ein Sozialmodell zugrunde legten, das „die Gesellschaft nicht als System zusammenlebender Menschen, sondern als ,wertbehaftete‘ oder ,wertdurchdrungene‘ ,Außenwelt‘ darstellte.“ Zudem könnten sie „das Medium des sozialen Schadens nicht als ein Feld sozialer Interdependenzen“ begreifen, sondern nur als aus „Wert und Wirklichkeit zusammengesetzte Güterwelt“.212 Das Strafrecht habe aber gerade die Aufgabe, die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens zu schützen und damit das System zusammenlebender Menschen. Deshalb gehört nach Amelung zum umfassenden Verständnis von Unrecht und Strafe notwendig ein ausgearbeitetes Konzept des geschützten menschlichen Interaktionssystems, dessen Spezialfall die menschliche Gesellschaft ist.213 Von diesem Gedanken ausgehend entwickelt Amelung in enger Verbundenheit mit dem Soziologen Parsons eine „Theorie der Sozialschädlichkeit“ und wendet diese auf das Strafrecht an. Amelungs Anliegen ist es, die soziologische Realität als eine Realität sui generis zu begreifen.214 Als „Gesellschaft“ definiert er ein Sozialsystem, das „sich 209
K. Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 394. K. Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 349. 211 Siehe dazu auch S. Swoboda, „Die Lehre vom Rechtsgut und ihre Alternativen“ ZStW 122 (2010), S. 24 (42 f.). 212 K. Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 350. 213 K. Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 350 ff. 214 Interessanterweise rechtfertigt Amelung seinen Ansatz damit, dass die „Soziologie sich nur dann als eigenständige Wissenschaft konstituieren kann, wenn sie die soziale Realität als eine Realität sui generis begreift.“ Auf diesem Anliegen beruhe die Idee, die Gesellschaft und andere Kollektivgebilde als soziale Systeme zu beschreiben. Dies setze voraus, dass „man die Phänomene, mit denen es die Soziologie zu tun hat, Handlungen und Interaktionen, hinreichend von den Seinsbereichen unterscheidet, die von 210
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selbst erhält, die Lebzeit eines Individuums überdauert und sich durch biologische Reproduktion ergänzt“ 215. Die Funktion des Rechts liege in einem solchen System darin, das sog. „Integrationsproblem“ zu bewältigen, d. h. einen Weg zu finden, die Handlungen der an der Interaktion beteiligten Personen zu koordinieren: „(W)enn eine der interagierenden Personen ständig die Erwartungen der anderen enttäuscht, wird diese von der Kommunikation Abstand nehmen oder einen Streit beginnen, der ebenfalls zum Abbruch der Interaktion führt, wenn man sich nicht einigt.“ 216 Das Rechtssystem habe die Stabilisierung der Verhaltenserwartungen zu leisten, um den Bestand des sozialen Systems zu gewährleisten. Sozialschädlich, also eine Störung der Bedingungen menschlichen Zusammenlebens, ist nach Amelung jede „dysfunktionale Erscheinung, ein Sozialphänomen, das es verhindert oder erschwert, dass das Sozialsystem der Gesellschaft die Probleme ihres Fortbestandes bewältigt“ 217. Ein Spezialfall eines solchen dysfunktionalen Phänomens sei das Verbrechen. Es sei dysfunktional als „Widerspruch gegen eine institutionalisierte Norm (. . .), die für die Bewältigung der Bestandsprobleme der Gesellschaft nötig ist“ 218: Es behindere die Lösung der Systemprobleme dadurch, dass es die Geltung von Normen in Frage stelle, die zu dieser Aufgabe etwas beitragen. Die Funktion des Strafrechts sieht Amelung konsequenterweise darin, dieser Behinderung als ein Mechanismus der sozialen Konanderen Wissenschaften untersucht werden.“ (S. 350, 351) Dies klingt, als gehe es bei der von Amelung angestrebten Beschreibung des Systems „Gesellschaft“ nur darum, den Soziologen ein eigenständiges Wissenschaftsterrain zu sichern. Wäre dem so, setzte man sich mit Amelungs Konzept weniger deshalb auseinander, weil es zur Sache – hier: der Suche nach einem gültigen Verbrechensbegriff – etwas beitragen könnte, sondern nur, weil man mit den Soziologen um ihren Wissenschaftsgegenstand streiten wollte. Dies ist ersichtlich nicht das Anliegen der vorliegenden Arbeit: Der soziologische Ansatz Amelungs wird hier deshalb dargestellt, weil in ihm die Behauptung liegt, durch ihn die Bedingungen menschlichen Zusammenlebens (besser als durch andere Ansätze) erklären und daraus folgernd auch eine zutreffende Vorstellung von Unrecht und Strafe entwickeln zu können. 215 K. Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 354. 216 Ebenda. 217 Ebenda, S. 361. 218 Ebenda. An anderer Stelle (S. 386) schreibt Amelung, „dass letztlich alle schädlichen Auswirkungen krimineller Taten als Auswirkungen auf die Voraussetzungen des Bestandes eines Interaktionssystems beschrieben werden müssen, zu denen, wie gezeigt, auch die Sicherung individueller Handlungsspielräume gehört, innerhalb derer nicht unbedingt Interaktionen stattzufinden brauchen. Da alle Interaktionssysteme Handlungssysteme sind, ergibt sich aus dem hier entwickelten Ansatz weiter, dass die Folgen des Verbrechens stets als Wirkungen auf menschliches Handeln zu beschreiben sind, etwa als Störung von Interaktionsprozessen oder als Beeinträchtigung individueller Handlungschancen, die im Rahmen der Integration individueller Interessen in der Form ,subjektiver Rechte‘ normativ abgesichert sind. Die Tötung eines Menschen erscheint aus diesem Blickwinkel als endgültige Beseitigung jeglicher Handlungsmöglichkeit der Person und die Abtreibung – soweit sie überhaupt sozial schädlich ist – als Vernichtung eines Wesens, das an Interaktionen und damit am menschlichen Zusammenleben teilnehmen könnte.“ (Fn. weggelassen).
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trolle entgegenzuwirken.219 Amelung arbeitet den Gedanken der Sozialschädlichkeit folgendermaßen weiter aus: „Was in einer konkreten Gesellschaft in concreto sozialschädlich ist, kann nur im Hinblick auf fundamentale Strukturentscheidungen, d. h. im Hinblick darauf beantwortet werden, wie die fundamentalen Systemprobleme in einer konkreten Gesellschaft gelöst worden sind. (. . .) Die Art der Lösung der fundamentalen Systemprobleme ist folglich – jedenfalls dort, wo positive, d. h. veränderbare Rechtsnormen als Instrument bewusster Sozialsteuerung existieren – eine Frage der politischen Entscheidung (. . .). Bei der Suche nach den strukturellen Grundentscheidungen des westdeutschen Sozialsystems stößt man zuerst auf die Verfassung. (. . .) Das Integrationsproblem (wird) in der Form des ,Rechtsstaates‘ mit einer hierarchisch gegliederten, vom politischen System (relativ) unabhängigen Justiz gelöst (. . .).“ 220
Die Bedeutung und Rechtfertigung strafrechtlich sanktionierter Normen liegt nach Amelung nun darin, einen Beitrag zur Erhaltung dieses konkreten Sozialsystems der bundesrepublikanischen Gesellschaft zu leisten;221 nur Taten, die sich im sozialen System störend auswirken, dürften unter Strafe gestellt werden. Sozialschädlich in diesem Sinne ist nach Amelung eine Tat dann, wenn sie „der Dauereinstellung des Systems auf die Lösung seiner Bestandsprobleme abträglich ist“ 222. Zwar könne das „gigantische Gebilde“ der Gesamtgesellschaft kaum jemals durch die Tat eines Einzelnen desorganisiert werden, aber es reiche schon die „generelle Geeignetheit zur Desorganisation“ 223 aus, um die Schädlichkeit einer Handlungsweise zu bejahen.224 Der Maßstab, der sich aus Amelungs Verbrechensbegriff für die Frage nach der Legitimität von Vorfeldkriminalisierungen ableiten lässt, ist demnach folgender: Mit dem inkriminierten Verhalten müsste eine Störung des sozialen Systems verbunden sein, oder das Verhalten müsste zumindest geeignet sein, zur sozialen Desorganisation der Gesellschaft beizutragen. Die in den §§ 129 ff. erfassten Handlungsweisen müssten für sich genommen also das Gesellschaftssystem stören können. Die Minimalvoraussetzung für die Störung eines Systems ist aber die Einwirkung auf dieses System: Das Gründen von, die Beteiligung an, das Werben für und das Unterstützen von kriminelle(n) bzw. terroristische(n) Vereinigungen 219
Ebenda. Ebenda, S. 368, 369. 221 Vgl. auch Amelungs eigene Zusammenfassung des Gedankengangs auf S. 382 seines Buchs. 222 K. Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 387. 223 K. Amelung, Rechtsgüterschutz (1972), S. 388. 224 Ob allerdings ein Systemproblem mittels eines strafrechtlich sanktionierten Verbotes bewältigt werden soll oder andere funktionale Äquivalente ausreichen, ist nach Amelung Gegenstand einer politischen Entscheidung. Der Jurist (im Stadium der Rechtsanwendung) sei dagegen von dieser Frage entlastet, da er dazu kaum imstande und zudem auch nach der Aufgabenteilung des Art. 20 Abs. 3 GG nicht berufen sei (vgl. S. 383). 220
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müsste überhaupt auf das Sozialsystem einwirken. Dies ist – wie oben schon beschrieben und deutlich auch von G. Jakobs hervorgehoben225 – jedenfalls so lange nicht der Fall, wie sich die Vereinigung nur im Stillen zum Zwecke der Straftatbegehung zusammenschließt (und sich die fraglichen Handlungen nur auf den Bestand dieses Zusammenschlusses beziehen). Eine Störung der gesellschaftlichen Ordnung setzt voraus, dass die Vereinigung aus ihrem Innenraum heraus nach außen tritt und auf das soziale System wirkt, wie sie es beispielsweise dann tut, wenn sie tatsächlich zur Begehung von Straftaten übergeht. Erst dann lässt sich mit Amelung von einem „Sozialschaden“ sprechen, erst dann kann ein Verhalten zum Verbrechen werden. Mangels eines solchen „Sozialschadens“ können die Tathandlungen der §§ 129 ff. StGB, jedenfalls soweit es um vereinigungsinterne Handlungen geht, nach dem Verbrechenskonzept Amelungs nicht als Strafunrecht erfasst werden. bb) Unrecht als Normdesavouierung (G. Jakobs) G. Jakobs bezweifelt wie K. Amelung, dass das Strafrecht primär Werte- oder Gütersicherheit zu garantieren habe. Im Strafrecht geht es nach Jakobs um „eine Reaktion auf das Verbrechen, die sicherstellt, dass die Rechtstreue als selbstverständliche Haltung der Mehrzahl aller Personen erhalten bleibt und potentielle Opfer deshalb gewiss sein können, ihre Rechte nicht nur ausüben zu dürfen, sondern auch unbeschadet zu können, jedenfalls soweit sie sich nicht an den Rand der Gesellschaft begeben.“ 226 Dies geschehe, „indem durch die Strafe, also durch die Wegnahme der Entfaltungsmittel des Täters, verdeutlicht wird, man halte an der vom Täter enttäuschten Erwartung fest, behandle also diese als gültig und die Handlungsmaxime des Täters als unmaßgeblich.“ 227 Nach Jakobs liegt in der Bestrafung eines Unrechtstäters also eine kognitive Untermauerung der (durch die Tat gebrochenen) Norm: „Es bedarf einer praktizierten Bereitschaft zur Strafverfolgung, notfalls auch erfolgender Bestrafung etc., um der Norm allseits Orientierungskraft zu verschaffen. Ohne kognitive Untermauerung gilt selbst eine optimal begründete Norm in der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht mehr als ein unverbindlicher Wunsch.“ 228 Wer Unrecht begeht, ist also bei Jakobs vor allem „normuntreu“ (Begriff von K.G.); er leistet die dem Staatsbürger an sich auferlegte Pflicht zur Normentreue nicht, er „nimmt sich etwas auf Kosten der anderen heraus, das wieder ausgeglichen werden muss“ 229. Dieser Ausgleich müsse in Form einer äußeren Reaktion 225
Vgl. Fn. 165 und sogleich im Text unter (2). G. Jakobs, „Staatliche Strafe“ Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge, G 390 (2004), S. 5 (31) (Hervorhebungen im Original). 227 G. Jakobs, „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“ (2003), S. 41 (49). 228 G. Jakobs, „Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit“ HRRS (8–9/2006), S. 289 (291). 226
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der Gesellschaft stattfinden, die Gewissheit darüber verschaffen soll, dass die Person trotz ihrer praktizierten Normuntreue weiterhin Adressatin normativer Erwartungen bleibt und dass die Norm, gegen die verstoßen wurde, weiter gilt. Die Bestrafung demonstriert „die mangelnde Rechtstreue des Täters als maßgeblichen Grund des Konflikts und bestätigt damit die Norm als weiterhin gültig; zudem bewirkt der Strafschmerz, dass die kognitive Untermauerung, deren auch eine normative Erwartung bedarf, um wirklich sein zu können, nicht erodiert.“ 230 Jakobs formuliert den Zusammenhang zwischen Straftat und Strafe dann folgendermaßen: „Die Tat als Tat einer vernünftigen Person bedeutet etwas, nämlich eine Desavouierung der Norm, einen Angriff auf ihre Geltung, und die Strafe bedeutet gleichfalls etwas, nämlich die Behauptung des Täters sei unmaßgeblich und die Norm gelte unverändert fort, die Gestalt der Gesellschaft bleibe also erhalten. Tat und Strafzwang sind insoweit Mittel symbolischer Interaktion, und der Täter wird als Person ernst genommen; denn wäre er inkompetent, müsste seiner Tat nicht widersprochen werden.“ 231
Vor diesem straftheoretischen Hintergrund befasst sich Jakobs selbst mit dem Problem der „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ 232. Er hebt an, indem er darauf hinweist, dass Aufgabe eines freiheitlichen Staates nicht die Kontrolle von (internen) Gedanken, Vorsätzen oder Motiven eines (potentiellen) Täters, sondern nur die Kontrolle äußerer Handlungen, der Externa, sein kann: „Die Frage nach den Interna ist nur zur Interpretation sowieso schon störender Externa erlaubt. Ein Verhalten muss daher, soll es strafbar sein, unabhängig von der subjektiven Seite und – (. . .) – überhaupt unabhängig von dem Verhalten des Täters in seinem Privatbereich als Störung verstanden werden. (. . .) Ein externes Verhalten, das stört, erlaubt die Frage nach dem internen Kontext.“ 233 Zur Erklärung dessen, was nach Jakobs eine für das Strafrecht unerreichbare „Privatsache“ im Gegensatz zur strafrechtlich relevanten „Störung“ ausmacht, führt er aus: „Sowenig ein bloßer Gedanke eine Störung des Zusammenlebens abgeben kann, sowenig kann es jedes andere Verhalten, das sich in der Privatsphäre hält, solange die Privatsphäre nicht mit derjenigen eines anderen Menschen konkurriert, und dann ist sie nicht mehr privat. Was mit seinen Wirkungen noch voll in der Sphäre liegt, in der ein Bürger sich öffentliche Kontrolle verbitten darf, von der Intimität des Körpers bis 229
G. Jakobs, „Individuum und Person“ ZStW 117 (2005), S. 247 (261). Ebenda, S. 262. 231 G. Jakobs, „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“ (2003), S. 42. Siehe auch B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 216, 217: Nach Jakobs’ Strafrechtsverständnis gehe es nicht um die Vermeidung von äußeren Verletzungsfolgen, sondern immer um die Aufrechterhaltung der Bedeutung der Norm. 232 G. Jakobs, „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 ff. 233 Ebenda, S. 761 (Hervorhebungen im Original). 230
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hin zu einvernehmlichen sozialen Kontakten, kann nicht strafbare Vorbereitung oder Versuch oder gar Vollendung des Delikts sein. Wenn beispielsweise beim (. . .) Beteiligungsversuch nach § 30 StGB Verabredungen als Straftaten definiert werden, auch wenn sie unter den Bedingungen der Privatheit vorgenommen werden, etwa zwischen befreundeten Personen, dann wird den Beteiligten insoweit ihr Internbereich genommen, sie werden als Feinde behandelt, denen der Status eines Bürgers nicht zukommt. Gewiß, dies dient dem Rechtsgüterschutz, aber für diesen Schutz muß der Täter einen Teil seiner Interna abtreten. Eine solche Diminuierung des Subjekts gehört zu einem Strafrecht eigener Art, das vom bürgerlichen Strafrecht deutlich unterschieden ist: Das Feindstrafrecht optimiert Rechtsgüterschutz, das bürgerliche Strafrecht optimiert Freiheitssphären.“ 234
Zahlreiche Vorschriften des StGB fallen nach Jakobs aus dem Rahmen des von ihm so genannten Bürgerstrafrechts heraus und gehören zum so genannten Feindstrafrecht, „nämlich alle Kriminalisierungen materieller Vorbereitungen, soweit das Vorbereitungsverhalten im Privatbereich vollzogen wird. Neben dem schon traktierten Beteiligungsversuch gehören einige Staatsschutzdelikte hierher sowie die Bildung krimineller oder terroristischer Vereinigungen (§§ 129, 129a StGB).“ 235 Als Zwischenergebnis lässt sich an diesem Punkt der jakobschen Argumentation festhalten: Strafe kann als Vorbereitungsstrafe nach seinem Konzept nur dann (im sog. Bürgerstrafrecht) legitimiert werden, wenn der Täter schon bei der Vorbereitung „in signifikanter Weise in einem fremden Organisationskreis agiert“.236 Nun denkt Jakobs von hier aus allerdings in zwei Richtungen weiter, um das Phänomen der Vorfeldkriminalität doch noch in den Bereich des Strafrechts integrieren zu können und damit das Urteil der Illegitimität zu vermeiden. Die erste Möglichkeit entwickelte er noch in seinem schon mehrfach zitierten Aufsatz aus dem Jahr 1985 unter dem Stichwort „Kriminalisierung der Verletzung vorgezogener oder flankierender Rechtsgüter“; die zweite Möglichkeit erarbeitet er in den Folgejahren bis hinein in seine aktuellen Veröffentlichungen zum sog. „Feindstrafrecht“. Im Folgenden sollen beide Lösungsmöglichkeiten vorgestellt werden. (1) Verletzung vorgezogener oder flankierender Rechtsgüter Der Grundgedanke Jakobs’ bei den „vorgezogenen oder flankierenden Rechtsgütern“ 237 lautet: 234 Ebenda, S. 756. Diesem Gedankengang zustimmend B. J. A. Müssig, Schutz abstrakter Rechtgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994), S. 219, 220. 235 G. Jakobs, „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 (756, 757). 236 So Jakobs selbst auf S. 765 seines o. g. Aufsatzes. 237 Die folgende Darstellung folgt dem Text „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 ff. (773 ff.).
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„(. . .) wenn sich das deliktische Verhalten nicht beliebig weit vor die Rechtsgutsverletzung schieben lässt, kann man vielleicht die Rechtsgutsverletzung selbst vorverlegen. Dabei ist nicht an eine Verdünnung des Rechtsgutsangriffs von der Verletzung zur Gefährdung gedacht, sondern an eine Zerlegung des Rechtsguts. Man kann das Unrecht des Verletzungsstadiums in diverses Partialunrecht zerlegen und unter Verzicht auf eine komplette Sammlung allen Partialunrechts das Unrecht durch einige frühzeitig verwirklichte Unrechtssplitter oder gar nur durch einen einzigen Splitter definieren.“
Bei Delikten mit bloßem Partialunrecht würden, so Jakobs, nicht die Hauptnormen (die Normen der Verletzungsdelikte) übertreten, sondern flankierende Normen, deren Aufgabe es sei, die Geltungsbedingungen der Hauptnormen zu garantieren. Um nun wiederum die Legitimität dieser „flankierenden Normen“ beurteilen zu können, seien die Geltungsbedingungen von Normen näher zu untersuchen. Nach Jakobs gilt eine Norm, „wenn sie leistet, was sie leisten soll: Erwartungssicherung.“ Dazu sei erforderlich, dass die Norm dem potentiell Betroffenen ex ante als stabil erkennbar ist. Akzeptiere man die Aussage, dass Normgeltung nicht nur vom Verhalten potentieller Täter abhänge, sondern auch davon, was die potentiell Betroffenen erwarten, so liege es auf der Hand, dass Normgeltung nicht nur durch Normbrüche im üblichen Verständnis beeinträchtigt werden kann, sondern überhaupt durch jegliche Beeinträchtigung des Normvertrauens der Betroffenen, gleich auf welchem Weg dies geschieht. Demnach sieht Jakobs in der Verletzung „flankierender“ Normen strafwürdiges Unrecht, weil und wenn durch die Tat berechtigtes Normvertrauen beim von der Hauptnorm Betroffenen gebrochen wird. Als Beispiel für solche legitimerweise bestehenden flankierenden Normen nennt er zunächst die Bedrohung (§ 241 StGB) und die Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten (§ 126 StGB). Bei diesen Straftaten bestehe der Kern des Unrechts darin, das sie eine „drastische Erhöhung des Risikos (nämlich Opfer der angedrohten Straftat zu werden, K.G.) nach der Sicht des Betroffenen“ bewirken, also das Vertrauen des Betroffenen in die Normgeltung erschweren, ja die „Geltung der jeweils in Rede stehenden Normen auf der Seite der Betroffenen“ in Frage stellen. Konkret bedeutet dies, dass der Grund für die Bestrafung einer Bedrohung bzw. einer Friedensstörung gem. § 126 nach Jakobs darin liegt, dass nach Kundgabe einer solchen Bedrohung deren Adressat mit einer Verletzungshandlung ernsthaft rechnen muss und sich daher des grundsätzlich garantierten Rechtsfriedens nicht mehr sicher sein kann. Diese Begründung überträgt Jakobs sowohl auf einige weitere Delikte des Besonderen Teils (z. B. §§ 98, 99, 111 Abs. 2, 130, 131 2. Variante StGB) als auch auf bestimmte Vorbereitungsnormen des Allgemeinen Teils (z. B. auf das „sich Bereiterklären zu einem Verbrechen“, soweit es gegenüber einer Person mit Repräsentationseigenschaft für die Öffentlichkeit geschieht). Bei all diesen Fällen verletze der Täter die kognitive Basis der Normgeltung durch externes Verhalten:
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Er breche zwar nicht die Hauptnorm, verletze aber eine flankierende Norm dadurch, dass er erkennen lasse, dass „demnächst eine externe Störung erfolgen werde, jedenfalls wenn seine Planungen gelängen“. Das Wesen dieses Unrechts liegt nach Jakobs also in seiner normgeltungsverunsichernden Wirkung. Bezogen auf die hier näher interessierenden §§ 129 ff. bedeutet dies, dass nach Jakobs in ihnen strafwürdiges Unrecht steckt, soweit sie tatsächlich eine solche Verletzung der kognitiven Basis der Normgeltung beinhalten. Dies sei einerseits der Fall bei „Drohungen, die von der Vereinigung publiziert werden und zu diffus sind, um schon von den Tatbeständen der Bedrohung oder Androhung erfasst zu werden, so etwa wenn die Fortsetzung des Terrors angekündigt wird, (. . .). Aber auch ohne Ankündigung kann aus den Aktionen der Vereinigung (wie jeder Bande, aber auch eines Serien-Alleintäters) deutlich werden, dass die Einzelaktionen als Teil einer fortzusetzenden Veranstaltung zu verstehen sind.“ Nach Jakobs kommt es also für die Qualifizierung der §§ 129 ff. als Strafunrecht entscheidend darauf an, ob durch sie eine ernsthafte Bedrohungswirkung erzeugt wird. Wird sie erzeugt, so hält er die Strafnormen für legitimes „Partialunrecht“, das seiner Qualität und seinem Gewicht nach allerdings dem „Hauptunrecht“ nicht gleichgestellt, sondern nachgeordnet ist. Demgemäß verlangt Jakobs für diese Delikte eine Strafrahmensenkung: Der Strafrahmen müsse deutlich unter dem des entsprechenden Hauptunrechts liegen. Der Katalog der Tathandlungen von § 129 und § 129a ist vor diesem Hintergrund nochmals, aber unter der veränderten Fragestellung zu betrachten, ob mit dem Gründen, dem Sich-als-Mitglied-Beteiligen, dem Werben um Mitglieder oder Unterstützer oder dem Unterstützen der Vereinigung potentiell eine normgeltungsverunsichernde Wirkung verbunden ist. Das Mitwirken beim Zustandekommen der Vereinigung („Gründen“) und die Beteiligung als Mitglied, also die Förderung der kriminellen oder terroristischen Ziele der Vereinigung unter Eingliederung in die Organisation238, finden typischerweise im Innenbereich der Vereinigung statt und können folglich keine normverunsichernde Außenwirkung haben. Wird eine Vereinigung „geheim“ gegründet bzw. gefördert, so liegt darin noch keinerlei Einwirkung auf die Normgeltung der Gesellschaft, auch wenn die Vereinigung zum Ziel hat, Straftaten zu begehen. Ausnahmsweise als Strafunrecht in Betracht kommen nach Jakobs allerdings solche Förderungshandlungen, die die geplante Begehung von Straftaten durch die Vereinigung nicht von innen her stützen, sondern publik machen und auf diese Weise Unsicherheit, Angst oder jedenfalls Zweifel an der Fortgeltung entsprechender Hauptnormen bei den Adressaten der Publikation auslösen. Dem238 Dazu gehört beispielsweise die Erledigung allgemeiner (z. B. logistischer) Aufgaben ohne Kenntnis der im Einzelnen geplanten Taten oder die Fertigung von „Strategiepapieren“ oder Rechtfertigungsschriften (siehe Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 13).
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entsprechend müsste der Tatbestand nach den Kriterien Jakobs’ auf solche „öffentlichkeitswirksame“ Gründungs- oder Förderungshandlungen reduziert werden. Bei der Werbung um Mitglieder oder Unterstützer, also beim planmäßigen Anwerbevorgang durch ein Nichtmitglied der Vereinigung,239 wird zwar für die Organisation nach außen gewirkt. Das Werben umfasst jede an einzelne oder an die Öffentlichkeit gerichtete Propagandamaßnahme zugunsten der Vereinigung, soweit diese Werbung auf die organisatorische Aufrechterhaltung oder Stärkung durch Beitritt von Mitgliedern oder Unterstützungshandlungen Dritter gerichtet ist.240 Aber von diesen Handlungen geht für sich genommen keine Bedrohungswirkung aus; ihr Ziel ist es nicht, Straftaten anzukündigen, sondern die innere Struktur der Vereinigung zu stützen und damit Straftaten in der Zukunft zu ermöglichen, ohne dass dies kommuniziert würde. Das gleiche gilt für die Tatalternative des Unterstützens, also die Förderung des Fortbestands der Vereinigung bzw. der Verwirklichung ihrer Ziele durch ein Nichtmitglied.241 Das Gros der unter die §§ 129 ff. fallenden Tathandlungen lässt sich also noch nicht einmal als „flankierendes“ Partialunrecht im Sinne Jakobs’ erfassen, weil eine Bedrohungswirkung in der Regel nicht erzeugt und die Strafe nach Jakobs nur wegen der nicht weiter spezifizierten Verletzung des „öffentlichen Friedens“ verhängt wird. Damit ist, so Jakobs, eine Verletzung des Tatprinzips und eine Missachtung der Privatsphäre des Täters verbunden und der Täter wird für erst zukünftiges externes Verhalten bestraft. Darin liegt nach Jakobs eine (jedenfalls ursprünglich von ihm als „unzulässig“ bewertete) „Umdefinition“ des „Täters“ zum „Feind“ und die Eröffnung des Bereichs des so genannten „Feindstrafrechts“. Was genau mit dieser Kategorisierung und Betitelung gewonnen ist, muss im Folgenden näher untersucht werden.242 Festzustellen ist insbesondere die Relevanz dieser Einordnung für die übergeordnete Fragestellung nach der Legitimität der §§ 129 ff. Sind mit der Kategorisierung als Feindstrafrecht Aussagen darüber verbunden, ob die Vorschriften zur Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen im freiheitlichen Rechtsstaat zu Recht als strafbares Unrecht ausgestaltet sind oder soll mit dem Begriff des „Feindstrafrechts“ lediglich auf die von Jakobs selbst herausgearbeitete Problematik hingewiesen werden? Anders formuliert: Sind die Vorschriften, die zum sog. Feindstrafrecht gehören, als strafbares, gesetzlich kodifiziertes Unrecht aufrecht zu erhalten?
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Vgl. Fischer, § 129, Rn. 25. Fischer, § 129, Rn. 25. 241 Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 15 (m.w. N.). 242 Vgl. dazu auch K. Gierhake, „Feindbehandlung im Recht?“ ARSP 2008, S. 337 ff. 240
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(2) Feindstrafrecht Das Konzept des sog. Feindstrafrechts ist von Jakobs in den letzten Jahren stärker konturiert und stetig inhaltlich ausgearbeitet worden.243 Nach Jakobs kann es im Staat zwei Grundformen von Strafrecht geben, erstens das sog. „Bürgerstrafrecht“ und zweitens das sog. „Feindstrafrecht“.244 Der Staat gehe im ersten Fall mit den einzelnen Straftätern als „delinquierende Bürger“ um, als „Personen, die einen Fehler gemacht haben“, im zweiten jedoch als „Individuen, die durch Zwang davon abgehalten werden müssen, die Sicherheit der Bürger zu stören.“ 245 Bei beiden Formen des Strafrechts handle es sich um Recht: Beim „Bürgerstrafrecht“ um das Recht aller, beim „Feindstrafrecht“ um das Recht derjenigen, die gegen den Feind stehen, wobei es dem Feind gegenüber nur physischer Zwang sei.246 Die Funktionen der beiden Arten des Strafrechts differenziert Jakobs folgendermaßen: „Bürgerstrafrecht erhält die Normgeltung, Feindstrafrecht (. . .) bekämpft Gefahren; (. . .).“ 247 Als Beispiel für die Kategorie dieses „Feindstrafrechts“ benennt er unter anderem auch die neuere Gesetzgebung zur Bekämpfung des Terrorismus von 1986 und 2003.248 Typisch für diese neue Gesetzgebung sei die Schaffung von Spezialvorschriften für den Bereich strafbarer Verbrechensvorbereitung, beispielsweise die Pönalisierung der Bildung terroristischer Vereinigungen (§ 129a StGB).
243 Ausführliche Darstellung bei G. L. Morguet, Feindstrafrecht – eine kritische Analyse (2009), S. 20–91. 244 Während in dem frühen Text „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ noch nicht ganz ausgemacht war, ob der Begriff des Feindstrafrechts ausschließlich beschreibenden und nicht auch legitimierenden Charakter hatte, ist durch die in jüngerer Zeit veröffentlichten Arbeiten dieser Punkt unzweifelhaft geworden: Bloß beschreibenden Charakter haben Jakobs’ Ausführungen nicht. Vgl. u. a. „Terroristen als Personen im Recht?“ ZStW 117 (2005), S. 839 ff. (insbesondere S. 846 ff.) und „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“ (2003), S. 41 ff. (S. 41 und 61). Vgl. dazu auch J. Bung, „Feindstrafrecht als Theorie der Normgeltung und der Person“ HRRS (2/2006), S. 63 ff.; M. Cancio Meliá, „Feind,strafrecht‘?“ ZStW 117 (2005), S. 267 ff. (insbesondere Fn. 34), T. Hörnle, „Deskriptive und normative Dimensionen des Begriffs ,Feindstrafrecht‘“ GA 2006, S. 80 ff., L. Greco, „Über das sogenannte Feindstrafrecht“ GA 2006, S. 97 ff. und H.-U. Paeffgen, „Bürgerstrafrecht, Vorbeugungsrecht, Feindstrafrecht?“ (2009), S. 81 ff. 245 G. Jakobs, „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“ (2003), S. 55. 246 Ebenda, S. 47. 247 Ebenda, S. 47, 48. 248 Weitere Bereiche des Feindstrafrechts lägen in den Gesetzen zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität (1986) und des illegalen Rauschgifthandels und anderen Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität (1992). Ferner gehörten in den Bereich dieses „polizeirechtlich verschmutzen Strafrechts“ das Institut der Sicherungsverwahrung gem. § 66 StGB und der Haftgrund der Wiederholungsgefahr gem. § 112a Abs. 1 StPO. Vgl. G. Jakobs, „Terroristen als Personen im Recht?“ ZStW 117 (2005), S. 839 (Fn. 1–4), S. 840.
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Das auf diese Weise geschaffene Strafrecht habe „eher die Aufgabe, Sicherheit zu gewährleisten, als Rechtsgeltung zu erhalten“, es diene der Gefahrenabwehr, es sei Kampfrecht gegen Feinde.249 Mit dieser Art des Rechts sei die Befugnis des in seiner Sicherheit bedrohten, kämpfenden Staates verbunden, Individuen, die sich zuvor als für diese Bedrohung zuständige „Feinde“ herausgestellt haben, im Vorfeld (d. h. vor Begehung der eigentlichen Straftat) zu bestrafen,250 sie durch Untersuchungshaft und Strafhaft für lange Zeit „kaltzustellen“, 251 sie außerhalb der Grenzen des § 136a StPO zu verhören252 und überhaupt bei Maßnahmen gegen sie, solange sie sich nur im Rahmen des Erforderlichen halten, kein Tabu zu kennen.253 Wen der Vorwurf trifft, Feind des Staates zu sein, könne partiell, aber eben auch ganz „entpersonalisiert“ werden, er sei aus der Gemeinschaft der Personen exkludiert und der Umgang mit ihm sei Krieg.254 Dies impliziert, dass der Staat ihm gegenüber nicht mehr Rechtsstaat sein muss; Rechtsstaat ist er nur für und gegenüber seinen Personen-Bürgern, nicht aber für und gegenüber den aus diesem Kreis ausgesonderten Nur-Individuen. Eine Beschränkung der Handlungsbefugnisse des Staates im Umgang mit seinen Feinden kann dann konsequenterweise nicht mehr dem Rechtsprinzip entnommen werden, sondern allenfalls dem Gebot der Klugheit (dessen Ausgestaltung dann der Maßstab der Erforderlichkeit ist)255 oder einer wie auch immer gearteten Selbstbeschränkung des Staates,256 die aber prinzipienlos ist. Von entscheidender Bedeutung ist dabei, dass der Staat nach Jakobs rechtsstaatliche Garantien gegenüber den exkludierten Feinden außer Kraft setzen muss, um die Sicherheit des Personen-Staates, den Bestand als Rechtsstaat in der Wirklichkeit, zu gewährleisten: Es werden Rechte genommen, „um weiterhin die Wirklichkeit des Rechts wenigstens einer um den Feind dezimierten Gesellschaft zu ermöglichen.“ 257 Verwunderlich ist nach dem Gesagten, dass es nicht Jakobs’ erklärtes Ziel ist, das Feindstrafrecht durch seine Überlegungen zu rechtfertigen. Er schreibt: „Die Legitimation wird (. . .) nicht von demjenigen geleistet, der das Notwendige beschreibt.“ Dabei ist richtig, dass eine bloß beschreibende Tätigkeit nicht auch 249
G. Jakobs, „Terroristen als Personen im Recht?“ ZStW 117 (2005), S. 839 (845). Ebenda, S. 850. 251 Ebenda, S. 840. 252 Ebenda, S. 850. 253 Ebenda, S. 848. 254 Vgl. G. Jakobs, „Staatliche Strafe“ Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge, G 390 (2004), S. 5 ff. (S. 40 ff.). 255 G. Jakobs, „Das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart“ (2000), S. 47 ff. (51). 256 G. Jakobs, „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“ (2003), S. 47. 257 G. Jakobs, „Staatliche Strafe“ (2004), S. 44. Vgl. dazu auch B. Brunhöber, „Staatsräson als strafrechtliches Argument?“ (2012), S. 163 (168 ff.). 250
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legitimierende Kraft hat. Jakobs selbst kennzeichnet sein Anliegen so, dass er „beschreiben (will), wen das Rechtssystem als Feind behandelt“ und „prognostizieren, wem es zukünftig diese Rolle zuerkennen wird.“ 258 Hätte es damit sein Bewenden, wäre die Schwierigkeit bei der Beurteilung seiner Idee vom Feindstrafrecht darauf reduziert festzustellen, ob die von ihm angestellte Analyse des Ist-Zustands unserer Gesetze zutrifft oder nicht. Bezogen auf die §§ 129 ff. ist ihm bei seiner Analyse gewiss zuzustimmen. Das Problem ist ein anderes: Der Gegenstand der Betrachtung sind Normen, d. h. Verbindlichkeit ausdrückende Sätze. Jakobs’ Argumentation geht weit über die Feststellung des Status quo bestimmter Normen hinaus. Er meint, er beschreibe notwendige Phänomene, und benennt auch den Bezugspunkt dieser „Notwendigkeit“: Der praktisch optimale Rechtsstaat benötige feindstrafrechtliche Regelungen, um Bestand zu haben. Jakobs wäre es nach eigener Aussage zwar „nicht einmal unlieb, wenn sich die hässliche Gestalt des Feindstrafrechts auflösen ließe“, aber gleichzeitig meint er, dass „der Körper des (. . .) Staates, an manchen Stellen nicht mit ordentlicher rechtsstaatlicher Kleidung bedeckt, sondern nackt ist, mehr noch, dass er unter den gegenwärtigen Bedingungen nackt sein muß, wenn er nicht insgesamt wegen rechtsstaatlicher Überhitzung Schaden nehmen soll“ 259. In diesem „muß“ liegt aber deutlich mehr als reine Beschreibung.260 Die Normen des Feindstrafrechts werden damit gerechtfertigt, dass sie für die Wirklichkeit des Rechtsstaats unabdingbar seien, weil andernfalls „der Rechtsstaat an den Attacken seiner Feinde zerbrechen“ 261 würde. Der Text changiert also zwischen beschreibenden und rechtfertigenden Elementen, so dass die Frage nach der Legitimität zumindest mit angesprochen ist. Jakobs begründet die Notwendigkeit von feindstrafrechtlichen Institutionen im Staat damit, dass ohne sie der Zustand wirklicher Rechtsgeltung im Staat in Gefahr sei und dem Recht der Bürger auf Sicherheit die Aushöhlung drohe. Problematisch daran ist, dass aus der vor Unsicherheit zu schützenden Gesellschaft einige Mitglieder schlicht heraussubsumiert werden; um ihre Sicherheit und um die Wirklichkeit ihres Rechts geht es ab dem Zeitpunkt, in dem sie zum „Feind“ definiert werden, nicht mehr; sie werden zu Unpersonen und verlieren den Anspruch auf rechtstaatliche Behandlung.262 Legitim sei dies, weil es einen „alles umfassenden Rechtsstaat“ in der konkreten Wirklichkeit nicht geben könne, und der „praktisch optimale Rechtsstaat“ 258 „Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit“ HRRS (8–9/2006), 289 ff. 259 G. Jakobs, „Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit“ HRRS (8–9/2006), 289 (290) (Hervorhebung der Verf.). 260 Ähnlich R. Ogorek, „Wie wehrhaft ist der Staat?“ (2007), S. 203 (217). 261 G. Jakobs, „Terroristen als Personen im Recht ZStW 117 (2005), S. 839 (851). 262 Vgl. dazu schon die oben auf S. 171 ff. beschriebene Vorstellung Depenheuers vom „Feind“ des Staates.
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(d. h. einer, der sich des Feindstrafrechts im Notfall bedient) alles sei, was real erreichbar ist. Fordere man ersteren kompromisslos ein und wende sich mit Gründen, die aus dem abstrakten Begriff des Rechtsstaats abgeleitet sind, gegen die Verwendung feindstrafrechtlicher Institute, so laufe man Gefahr, rechtsstaatliche Verhältnisse auf Dauer in der Wirklichkeit nicht aufrecht erhalten zu können. Richtig an dieser Überlegung ist, dass – soweit ersichtlich – kein tatsächlich bestehender Staat dem „Staat in der Idee, wie er nach reinen Rechtsprinzipien sein soll“ 263 vollkommen entspricht. Ebenso richtig ist es aber auch, dass der „Staat in der Idee“ jeder „wirklichen Vereinigung zu einem gemeinen Wesen (. . .) zur Richtschnur (norma)“ 264 dienen muss.265 Deshalb hat jedes real existierende Gemeinwesen bei bestehenden Rechtsproblemen nach Lösungen zu suchen, die sich an dem, was die Gerechtigkeit266 fordert, orientieren, auch wenn die Umsetzung Schwierigkeiten macht. Als Mindestanforderung darf dafür einerseits die „Idee des Staates“ als Maßstab nicht verloren gehen und andererseits dürfen die von den „reinen Rechtsprinzipien“ vorgegebenen absoluten Grenzen im rechtlichen Umgang miteinander nicht missachtet werden. Die Frage muss also lauten, ob das Konzept des „Feindstrafrechts“ den Rechtsstaat substanziell in Frage stellt und wenn diese Frage bejaht wird, muss die Konsequenz deutlich benannt werden: Die Vorschriften eines solchen Feindstrafrechts müssen dann nicht nur als solche betitelt, sondern abgeschafft werden. Ob eine substantielle Verletzung der Rechtsstaatlichkeit vorliegt, ist allerdings nicht pauschal zu beantworten, denn jede einzelne der mit „Feindstrafrecht“ betitelten Regelungen bedarf der gründlichen Untersuchung, ob sie den oben genannten Kriterien noch gerecht wird. Für die §§ 129 ff. soll eine solche Überprüfung im nächsten Abschnitt, im Zusammenhang mit der Unrechtslehre E. A. Wolffs, stattfinden. In der Begründung, die Jakobs gibt, gehen aber schon die genannten Kriterien verloren: Es gelte, das Recht in der konkreten Wirklichkeit zu erhalten, und es ließe sich ergänzen: Koste es, was es wolle. Damit wird nicht nur faktische (inhaltlich beliebig ausgestaltete) Normgeltung vor das Ideal einer aus Rechtsprinzipien entwickelten Rechtsordnung gestellt, sondern auch die Existenz absoluter Grenzen beim rechtlichen Umgang miteinander geleugnet. Möglich ist dies, weil in der Rechtsgrundlegung Jakobs’ die den gesamten Zusammenhang tragende, 263 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung in die Rechtslehre, § 45, A 164, B 195 (Ak.-Ausg. S. 313). 264 Ebenda. 265 Vgl. dazu die grundlegenden Überlegungen zur Begründung des Staates im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit. 266 Vgl. zu dem hier zugrunde liegenden Verständnis von „Gerechtigkeit“ oben S. 99 ff.
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Grund und Ziel aller Bemühungen bestimmende Freiheit des einzelnen Subjekts (das kraft seiner angeborenen Vernunftbegabung, und nicht erst durch äußere Zuordnung „Person“ ist) nicht vorkommt.267 Dieser Mangel im Grund setzt sich in der Rechtfertigung des „Feindstrafrechts“ konsequent um. (3) Zusammenfassung Nach Jakobs’ Auffassung können also Vorfeldkriminalisierungen, insbesondere auch die in den §§ 129 ff. angelegten, grundsätzlich nur dann als strafwürdiges Unrecht im Rahmen eines „Bürgerstrafrechts“ legitimiert werden, wenn mit ihnen eine Verletzung der kognitiven Basis der Normgeltung einhergeht. Dies sei nur dann der Fall, wenn durch die Tat eine (erhebliche) Bedrohungswirkung erzeugt wird. Andernfalls liege kein Bürger- sondern „Feindstrafrecht“ vor. Mit der Bezeichnung als „Feindstrafrecht“ ist jedoch nicht viel gewonnen. Denn das Urteil darüber, ob die Vorschriften der §§ 129 ff. in ihrer konkreten gesetzlichen Fassung als Strafnormen legitimierbar sind oder nicht, ist durch die bloße Betitelung als „Feindstrafrecht“ nicht gefällt. Jakobs kann und will mit seinem Ansatz die Frage nach der Legitimität „feindstrafrechtlicher“ Regelungen nicht klären – auch wenn seine Texte dies suggerieren –, so dass sein Konzept der vorliegenden Untersuchung nicht weiter hilft. f) Das Verbrechen als Freiheitsverletzung aa) Unrechtsbegriff im Ausgang von E. A. Wolff Strafrechtliches Unrecht ist nach E. A. Wolff weder primär Rechtsgutsverletzung, noch wertwidrige Ordnungsverletzung, noch Normgeltungsschaden. Zwar nimmt er die benannten Ansätze als wesentliche Schritte bei der Entwicklung seines eigenen Unrechtsbegriffs auf, und sie finden sich in vermittelter Form auch bei ihm wieder. Wolff setzt aber bei der Suche nach dem Begriff des Kriminalunrechts fundamentaler an als die schon dargestellten Positionen.268 Sein Gedankengang beginnt bei dem dem Unrecht vorgängigen Rechtsverhältnis vernünftiger Personen, seinen Voraussetzungen und seiner näheren Ausgestaltung.269 267 Genauer dazu K. Gierhake, „Feindbehandlung im Recht?“ ARSP 2008, S. 337 (342–352) und die Seiten 302 ff. dieser Arbeit. 268 Die folgende Darstellung folgt dem Text „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“, in: W. Hassemer (Hrsg.), Strafrechtspolitik (1987), S. 137 (S. 162 ff.). 269 Vgl. zu E. A. Wolffs rechtsphilosophischem Hintergrund im Hinblick auf den Begriff „Rechtsverhältnis“: I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, insbesondere die Passagen zum kategorischen Imperativ (BA 43, 52) und zum „Reich der Zwecke“ (BA 74, 75); dazu F. Kaulbach, Immanuel Kants ,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ (1988), S. 73 ff. und H. Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte (1998),
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Mit diesem Ansatz ist gewährleistet, dass nicht eine beliebige Normenordnung (die je nach historischen, kulturellen, geographischen und religiösen Gegebenheiten variieren und faktisch auch in ein manifestes Unrechts- bzw. Unterdrückungsregime umschlagen kann), sondern ein praktisch-vernünftiger Rechtsbegriff als Basis der Argumentation dient.270 Damit geht einher, dass sich konsequente Folgerungen aus diesem Rechtsbegriff, etwa für die Bestimmung von Unrecht und Strafe, ihrerseits immer auf ein abgesichertes, weil aus praktischer Vernunft hergeleitetes und damit allgemeingültiges Fundament stützen lassen. Der gedankliche Ausgang von dem in eine rechtliche Gemeinschaft eingeordneten Interpersonalverhältnis ist zudem deshalb notwendig, weil damit der Nukleus der Rechtsgemeinschaft, das Anerkennungsverhältnis freier Subjekte,271 in den Blick und für die Frage nach der Bestimmung von Kriminalunrecht ernst genommen wird: Es wird im Folgenden gezeigt werden, dass es gerade dieses Anerkennungsverhältnis ist, das durch Kriminalunrecht verletzt wird und durch die Strafe wieder hergestellt werden muss. (1) Recht als gemeinschaftliche Vernunftleistung E. A. Wolff bestimmt das Rechtsverhältnis zunächst noch ganz unabhängig von möglichen Verletzungen eines solchen Verhältnisses in unverletzter, „gesunder“ Form als Grund rechtlicher Verhältnisse überhaupt. In einem weiteren Schritt differenziert er zwischen diesem basalen, unmittelbar interpersonalen Anerkennungsverhältnis zweier Vernunftsubjekte zueinander und einer auf dieses Anerkennungsverhältnis gründenden rechtlichen Gesamtordnung (bürgerliche Gesellschaft, Staat).272 Erst davon abgeleitet bestimmt er den Begriff des Kriminalunrechts und grenzt von ihm andere Unrechtsformen ab.
S. 62 ff.; J. G. Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796), §§ 3 und 4, S. 30 ff., dazu R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981). Siehe zum Begriff des Rechtsverhältnisses bei Kant und Fichte auch R. Harzer, Die tatbestandsmäßige Situation der Unterlassenen Hilfeleistung gemäß § 323c StGB (1999), S. 164–179. Vgl. ferner K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 47 ff. 270 Vgl. zur Notwendigkeit dieses Ansatzes auch die grundlegenden Überlegungen zu einer Rechts- und Staatsordnung aus Freiheit oben S. 76 ff., die als Basis für das Verständnis des Verbrechens als Freiheitsverletzung dienen. 271 Siehe dazu etwa R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 165 ff.; K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 47–51. 272 Vgl. zu einem Rechtsbegriff aus Freiheit allgemein W. Bartuschat, „Zur Kantischen Begründung der Trias ,Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit‘ innerhalb der Rechtslehre“ (1999), S. 11 ff. (insbesondere S. 17 ff.); ders., „Recht, Vernunft und Gerechtigkeit“ (1994), S. 9 ff.; G. Luf, Freiheit und Gleichheit (1978), insbes. S. 47 ff. Siehe zudem die Darstellung der Rechtslehren von Kant und Hegel im zweiten dieser Arbeit, S. 76 ff. und 114 ff.
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Dieses Vorgehen unterscheidet sich insofern von vorausgegangenen Definitionsversuchen, als es nicht erst bei einer schon bestehenden Normenordnung ansetzt und von ihr ausgehend den Bruch der Norm bzw. die Verletzung der in ihr festgelegten Güter oder „Werte“ bestimmt, sondern in die Betrachtung die die Ordnung tragenden Vernunftgründe einbezieht. Dabei geht sein Ansatz auf die Grundbestimmung eines jeden Menschen zurück, durch Reflexion Einsicht in das Richtige gewinnen und gemäß dieser Einsicht handeln zu können. Diese Einsichtsfähigkeit wird bei jedem Subjekt vorausgesetzt, als Basis gegenseitiger Anerkennung ausgearbeitet und von dort zum Grund für die Notwendigkeit einer die Freiheit zum selbstbestimmten Leben erhaltenden, stützenden und sichernden Rechtsgemeinschaft erhoben. Die Rechtsgemeinschaft hat nach Wolff die Aufgabe, das gegenseitige Vertrauen der Subjekte, das auf der wechselseitig erkannten Vernunftbegabung des jeweils anderen beruht, für die Allgemeinheit zu verfestigen: „Vertrauen ist die Annahme der Möglichkeit und Verwirklichung praktisch richtigen Verhaltens. Sie ist schon im natürlichen Verhältnis vorausgesetzt. Die rechtliche Konstruktion des gemeinen Wesens verwandelt und stärkt das Vertrauen.“ 273 Das ursprüngliche Anerkennungsverhältnis erhält im Recht also eine neue Gestalt, wird zum Rechtsverhältnis, das durch allgemeingültige „Zuordnungen“ konstituiert ist. Diese „Zuordnungen“ sind aber keinesfalls so zu verstehen, dass sie „von außen ,zugeschrieben‘ “ 274 werden. Diesen Punkt arbeitet Zaczyk (der das Grundanliegen Wolffs teilt) genauer heraus als Wolff. Die „Zuordnungen“ beschreibt er als „Daseinselemente der Freiheit“, „Grundsachverhalte des Rechtsverhältnisses“, die mit dem Dasein als Vernünftigem immer schon unmittelbar verbunden sind, aber eben erst durch gegenseitige – und im zweiten Schritt allgemeine – Anerkennung rechtlich konstituiert werden;275 als Beispiele dienen ihm das Leben, der Körper, die Freiheit und das Eigentum. Das Rechtsverhältnis ist so betrachtet die auch äußere, das heißt an der tatsächlichen Lebenswirklichkeit des Einzelnen ansetzende Verfestigung interpersonaler Anerkennung. Zu den Mechanismen der Vertrauensverfestigung gehören die Gesetzgebung, die Institutionen der Rechtszuordnung und -durchsetzung, sowie die Gerichte. Das Besondere bei dieser rechtlichen Ordnung ist ihre Gründung im einzelnen Subjekt, dem zugetraut wird, kraft seiner eigenen Vernunftanstrengung die Richtigkeit der staatlichen Einrichtungen einzusehen bzw. begründet zu bezweifeln.276 273 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), S. 137 (212, 213). 274 R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 165. 275 Vgl. dazu auch M. Kahlo, „Die Weisheit der absoluten Theorien“ (2010), S. 383 (410, 411). 276 Vgl. dazu die Rechts- und Staatsbegründungen aus Freiheit, die I. Kant und G. W. F. Hegel ausgearbeitet haben (dargestellt auf den S. 76 ff. und 114 ff. im 2. Teil dieser Arbeit).
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Die Ordnung steht ihm auf diese Weise nicht gegenüber und der Normenbestand ist nicht lediglich ein ihm Vorgegebenes. Im Gegenteil wird die Rechtsordnung als von den Subjekten selbst mitbegründet verstanden und damit auch als eine vor ihnen zu rechtfertigende und ihrer Vernunft jederzeit erschließbare Welt; das Recht ist die „vernünftige Setzung der Einzelnen zur Bewältigung des gemeinsamen Daseins (in Freiheit, K.G.) in der äußeren Gesamtorganisation“ 277. (2) Verletzung eines Rechtsverhältnisses (E. A. Wolff und R. Zaczyk) Ein Rechtsbruch bleibt aber nach Wolff und Zaczyk auch bei einer vernünftigen und einsichtigen Norm und Normenordnung immer möglich, auch wenn das die Norm brechende Subjekt es besser wissen kann.278 Der Grund dafür liegt darin, dass das einzelne Subjekt in einem Staat, der die Selbständigkeit der Einzelnen als Grund und als Ziel hat, notwendig seinen selbstbestimmten Handlungsspielraum behält und in der Wirklichkeit der Begegnung mit anderen Subjekten eben auch unvernünftig, d. h. der ihm möglichen Vernunfteinsicht widersetzlich, handeln kann. Der Einzelne kann „den Bereich, in dem er in der bürgerlichen Gesellschaft zu einem Ordnungsgefüge mit Anderen verbunden ist, nicht achten, den faktisch sehr großen Raum der Bewegungsmöglichkeit ausnutzen und den Anderen angreifen. Er vermag ihn in direktem Zugriff herabzusetzen und über ihn ,den Meister‘ zu spielen.“ 279 In der Herabsetzung des Gegenübers sehen Wolff und Zaczyk gleichzeitig den Bruch des durch gegenseitiges Vertrauen in die Vernünftigkeit des anderen geprägten Anerkennungsverhältnisses; eine solche Rechtsverhältnisverletzung ist dem Einzelnen möglich, da die betroffene Konkretion der Freiheit (das „Rechtsgut“ im weiteren Sinn) ihrerseits aus interpersonaler Anerkennung entstanden ist, also für ihren Fortbestand auch auf die Anerkennungsleistung des Anderen angewiesen ist. „Dem ursprünglichen Verständnis nach ist es also keine Frage des Zufalls, ob eine Verletzung eintritt oder nicht, sondern jede Konkretion der Freiheit enthält in sich, dass ihre Zerstörung als vom Einzelnen bewirkbar verstanden wird.“ 280 Der Einzelne hat „Verletzungsmacht“, wie er überhaupt auch Handlungsmacht in dem Sinne hat, dass er das Vermögen besitzt, eine äußere Verän277 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), S. 194. Vgl. zu einem freiheitlichen Rechtsverständnis auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 9 ff. Seine Definition des Rechts lautet: „Das Recht ist der Inbegriff derjenigen Normen (Gesetze), die menschliches Handeln im interpersonalen Verhältnis gemäß dem Prinzip allgemeiner Selbstbestimmung (Freiheit) verbindlich regeln – in den Verfassungen des Rechtsstaates und eines internationalen Bundes freier Staaten.“ (a. a. O., S. 9). 278 Vgl. R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 199. 279 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), S. 210. 280 R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 235.
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derung – sei es im Recht oder im Unrecht – „im eigenen Sinn“ herbeizuführen, also über seine Einbindung in Kausalprozesse hinaus gestaltend tätig zu sein.281 Enthält eine solche Verhältnisverletzung ein Maß, welches es dem Gegenüber unmöglich macht, sich auf die Verletzung einzustellen, ihr zu begegnen bzw. sich vor ihr zu schützen, so ist damit die Qualität strafwürdigen Unrechts erreicht. Diese Qualität haben nach Wolff nur Angriffe, die die „Basis der Selbstständigkeit“, das Vertrauen in die Vernunft des Anderen betreffen. Damit ist gemeint, dass nicht schon jede Form von Verhältnisverletzung (etwa ein Vertragsbruch, unbedachte Verletzungen oder Gefährdungen, die zivilrechtliche Ausgleichspflichten rechtfertigen mögen) zum strafwürdigen Unrecht zu zählen ist, sondern nur Vertrauensbrüche fundamentaler Art (z. B. bewusste Täuschungen wie beim Betrug oder vorsätzliche oder grob unachtsame Verletzungen, oder rücksichtslose Gefährdungen des Anderen). Wolff definiert das Verbrechen dann als „die umrissene Verletzung des rechtlich konstituierten Basisvertrauens“; es setze voraus, „dass ein Anderer (. . .) in einer Art verletzt (wird), auf die er sich – in dem von der Rechtsordnung eingeräumten selbstorientierten Dasein – nicht aus eigener Kraft einstellen kann.“ 282 Diese allgemeine Definition des Verbrechens als Verletzung des rechtlich konstituierten Basisvertrauens wird von Wolff selbst auf verschiedene Problemfelder (z. B. die Abgrenzung zum bürgerlichen Unrecht und zu den Ordnungswidrigkeiten, aber auch konkret auf die Problematik der §§ 129 und 129a StGB – dazu gleich unter bb) –) angewendet und dabei konkretisiert. Zaczyk arbeitet die gegebene Definition genauer aus und entwickelt sie über den Bereich des Interpersonalverhältnisses hinaus:283 281 Siehe zur Basisbestimmung der Freiheit des Einzelnen I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, BA 109; vgl. auch MdS, Einleitung in die MdS, I., AB 6, 7 (Akademie-Ausg. Band VI, S. 213): „Die F r e i h e i t der Willkür ist (jene) Unabhängigkeit ihrer B e s t i m m u n g durch sinnliche Antriebe“; vgl. auch Kritik der reinen Vernunft I., Zweite Abtheilung, Zweites Buch, 2. Hauptstück, 9. Abschnitt, III., B 561, 562/A 533, 534 (Akademie-Ausg. Band III, S. 363): „Die F r e i h e i t i m p r a k t i s c h e n V e r s t a n d e ist die Unabhängigkeit der Willkür von der N ö t i g u n g durch Antriebe der Sinnlichkeit“; negative Bestimmung der Freiheit. Vgl. ferner F. Kaulbach, Immanuel Kants ,Grundlegung zur Metaphysik der Sitten‘ (1988), S. 45: „Da nicht der Mensch nur als Natur, sondern auch als Vernunftwesen in Frage steht, kommt es nicht auf das Studium der Eigenschaften an, welche die Natur dem Menschen mitgibt, sondern dessen, was der Mensch aus sich selbst macht.“ Siehe zur Einheit von endlichen und intelligiblen Elementen im menschlichen Dasein nochmals E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ ZStW 97 (1985), S. 786 (806–811). 282 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), S. 213. Ähnlich schon ders., „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ ZStW 97 (1985), S. 786 (819). 283 Vgl. zum folgenden R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 199, 200.
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Das Verbrechen zeichnet sich nach ihm dadurch aus, dass es einen Zustand herbeiführt, den die Beteiligten aus dem Begriff des Daseins ihrer wechselseitigen Freiheit gerade ausschließen wollten und an dessen Vermeidung sie ihr praktisches Verhalten auch ausrichteten.284 Im strafwürdigen Unrecht würden die Daseinselemente der Freiheit (die „Rechtsgüter“) in einer Weise verletzt, die neben der Rechtsgutsverletzung im herkömmlichen Sinn eine Verletzung des konstituierten Gleichheitsverhältnisses bedeute. Dieses Gleichheitsverhältnis wird nach Zaczyk durch die allgemein anerkannten „Zuordnungen“ rechtlich geformt, abgesichert und als zu respektierender Freiheitsraum eines jeden einzelnen ausgestaltet. Der Täter erweitere durch die Tat seinen eigenen Freiheitsraum auf eine Weise, die es dem oder den Angegriffenen unmöglich mache, in Gleichheit neben ihm bestehen zu bleiben, obwohl ihm dies durch die allgemeine Garantie der Nichtverletzung eigentlich möglich sein müsste. Diese Verletzung des unmittelbaren Zwei-Personen-Verhältnisses stellt den ersten Teil eines freiheitlichen Verbrechensbegriffs dar. Zaczyk arbeitet eine zweite Dimension heraus, die er in der Bedeutsamkeit des Verbrechens für die vom Rechtsbruch mitbetroffene Gesellschaft sieht: Das Unrecht habe immer auch eine allgemeine Bedeutung; das Vertrauen des Einzelnen auf ein Dasein in Freiheit richte sich in einem staatlich verfassten Gemeinwesen nicht nur auf den und die jeweils begegnenden Anderen, sondern auch auf die Gemeinschaft im ganzen.285 In einer Ausweitung dieses im Ursprung am Interpersonalverhältnis ansetzenden Unrechtsbegriffs bezieht Zaczyk den Begriff in einem weiteren Schritt dann auch auf „Rechtsgüter“ der Gesellschaft. Die Konkretionen von Freiheit könnten sowohl einzelnen Personen als auch der Gesellschaft als solcher zustehen, die dann in diesen Teilelementen der Freiheit auch verletzt werden könne.286 Mit dieser Verletzung eines Teilelements allgemeiner Freiheit gehe einher, dass das Vertrauen aller Gesellschaftsmitglieder in die rechtliche Verfestigung des Daseins von Freiheit erschüttert wird. Demnach hat das Verbrechen sowohl eine das Rechtsverhältnis – zwischen einzelnen Personen und zwischen der Einzelperson und der Gesamtheit (Staat) – verletzende als auch eine das allgemeine Vertrauen in rechtliche Verhältnisse erschütternde Seite.
284 Auch nach Wolff konstituieren die Einzelnen das Gemeinwesen insofern durch Unterlassen von herabsetzenden Verletzungen anderer mit (vgl. E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ a. a. O. (Fn. 282), S. 786 (819)). 285 R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 201. 286 Vgl. dazu auch M. Kahlo, „Über den Zusammenhang von Rechtsgutsbegriff und objektiver Zurechnung im Strafrecht“ (2003), S. 28.
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(3) Verletzung des Rechts in seiner besonderen und allgemeinen Geltung (M. Köhler) Diese beiden Dimensionen des strafrechtlichen Unrechts (Rechtsverhältnisverletzung und Vertrauenserschütterung) finden sich auch bei dem von Michael Köhler entwickelten Verbrechensbegriff wieder. Er definiert auf der Basis des auf der Freiheit des Subjekts beruhenden Rechts- und Unrechtsbegriffs das Verbrechen als „subjektiv-objektiv handelnde Verletzung des Rechts in seiner besonderen und allgemeingesetzlichen Geltung (. . .) in einem Maße, das die rechtliche Selbständigkeit der betroffenen Person oder Gemeinschaft grundlegend beeinträchtigt.“ 287 Köhler nimmt mit dieser Definition Elemente des Wolffschen Begriffs auf, legt aber den Schwerpunkt auf die in dem Verbrechen steckende, dem Täter selbst als widersprüchlich erkennbare Rechtsverletzung. Die Wurzel dieses Verständnisses liegt im Hegelschen Verbrechensbegriff:288 Hegel hat in seinen Grundlinien zur Philosophie des Rechts das Verbrechen eine „Verletzung des Rechts als Recht“ genannt; er definiert es als eine Verletzung des „Dasein(s) der Freiheit in seinem konkreten Sinne.“ 289 Dabei ist „die geschehene Verletzung des Rechts als Recht“ eine „positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist.“ 290 Im Verbrechen findet sich nach Hegel also eine objektiv-subjektive Negation des Rechts, eine Verneinung des Besonderen und des Allgemeinen zugleich: „Das eigentliche Unrecht ist das Verbrechen, wo weder das Recht an sich, noch (das Recht), wie es mir scheint, respektiert wird, wo also beide Seiten, die objektive und subjektive, verletzt sind.“ 291 Mit einer „Verletzung im konkreten Sinne“ meint Hegel „das unendliche Urteil, welches nicht nur das besondere Recht, sondern die allgemeine Sphäre zugleich negiert.“ 292 In Abgrenzung zum „unbefangenen Unrecht“ wird hier also nicht bloß eine konkrete Fehl-Zuordnung einer Rechtsposition unternommen, sondern die Rechtsfähigkeit
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M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 22. Vgl. zur Hegelschen Straftheorie zunächst die §§ 90 ff., 218 und 220 in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts. Dazu: O. K. Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie (1975); K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 110 ff.; F. Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts (1987), S. 57 ff.; D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991); H. Mayer, „Kant, Hegel und das Strafrecht“ (1969), S. 54 ff.; W. Schild, „Juristisches Denken und Hegels Rechtsphilosophie“ Österr. Z. öffentl. Recht und Völkerrecht (29) 1978, S. 5 ff.; ders., „Die Aktualität des Hegelschen Strafbegriffs“ (1979), S. 199 ff.; K. Seelmann, „Hegels Straftheorie in seinen ,Grundlinien der Philosophie des Rechts‘“ JuS 1979, S. 687 ff.; ders., „Wechselseitige Anerkennung und Unrecht“ ARSP (79) 1993, S. 228 ff. 289 G. W. F. Hegel, GPhR, § 95, S. 181. 290 G. W. F. Hegel, GPhR, § 97, S. 185. 291 Zusatz zum § 90 GPhR, S. 178. 292 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik II, S. 325. 288
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des anderen schlechthin negiert und sein Wille in seiner Gesamtheit durch (rohen) Zwang ausgeschaltet.293 In Köhlers Verständnis vom Verbrechen geht es einerseits wie bei Wolff um die Negation des Verhältnisses wechselseitiger Anerkennung als freier und gleicher Personen: Wer einen Anderen durch Unrecht verletzt, entzieht diesem die geschuldete Anerkennung, macht sich einseitig zum Subjekt über ihn und reduziert ihn zum Mittel der eigenen Willkür. Der Täter verletzt den Anderen direkt in seiner äußeren Rechtssphäre und auch in seiner Qualität als Rechtssubjekt, als Person. Darüber hinaus wird von Köhler aber eine weitere Bedeutung der Unrechtstat ausgeführt, die der Gemeinschaftsdimension gleicht, die auch Zaczyk herausgearbeitet hat: Der Unrechtstäter verletzt zugleich auch die Grundlage der gesellschaftlichen Personen-Beziehungen überhaupt, das Prinzip wechselseitiger Anerkennung. Denn „die Negativität des Verbrechens in der personalen Daseinsbestimmung des Verbrechers trifft (. . .) nicht bloß das besondere Dasein der Freiheit einer anderen Person, sondern die darin gesetzte interpersonale Geltungsallgemeinheit (. . .)“.294 Die Verletzung des Rechtsverhältnisses durch ein Verbrechen hat nach dieser Betrachtungsweise immer auch die Bedeutung, allgemeine Rechtsgeltung zu negieren. Diese beiden Verletzungsdimensionen beschreiben die Rechtsverletzung zur Seite des Opfers und zur Seite der Allgemeinheit hin. Noch offen ist aber die Perspektive des Täters bei der Begehung von Kriminalunrecht. Bei Köhler findet sich eine Begründung auch dieser dritten Dimension: Er sieht in der Unrechtshandlung, die der vernunftbegabte Täter begeht, einen verwirklichten Selbstwiderspruch, der dadurch zustande kommt, dass der Täter das auch ihm einsichtige rechtliche Verhältnis zum Opfer und die von ihm mitbegründete Rechtskonstitution der Allgemeinheit vernunftwidrig verletzt und sich damit selbstwidersprüchlich verhält. Köhler formuliert das folgendermaßen: „Die im Verbrechen durch den Täter als freie Person gesetzte Verhaltensregel beansprucht kontinuierliche Existenz, d. h. auch weitere Verallgemeinerung – im Wider293 So D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 66. 294 M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), S. 11 (S. 17 (ohne Fn)). Die Begründung, die sich bei Hegel für diesen Gedanken findet, setzt bei der inneren Logik der Unrechtstat an: „Die geschehene Verletzung des Rechts als Rechts ist zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist“ (G. W. F. Hegel, § 97 Rph, S. 185). Diese Aussage hat zwei Bedeutungsebenen: Eine Handlung hat einen bestimmten Willen nach außen hin manifestiert, der im Widerspruch zum allgemeinen Recht steht; und in eben jener Handlung verhält sich ein selbstbewusstes Wesen auf eine Art, die seiner eigenen Vernunfteinsicht widerspricht. Beides zusammengenommen bedeutet einerseits die Negation der allgemeinen Geltung des Rechts (objektiver Gesichtspunkt), andererseits die Negation des Bildes vom Handelnden als Vernunftwesen (subjektive Seite). Das Verbrechen stellt dann einen objektiv-subjektiven Vernunftrechtswiderspruch dar.
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spruch zur (vorausgesetzt) wahren Geltungsallgemeinheit personalen Respekts. Dieser Widerspruch ist (. . .) präsent in der Ebene der rechtlichen Allgemeinheit (repräsentiert in anderen Personen) und ebenso als Selbstwiderspruch der besonderen Willenssetzungen des Täters. Er selbst setzt sich in zwei miteinander unvereinbare Daseinsweisen, nämlich sich als Mitträger gültigen rechtlichen Allgemeinwillens (,sich als an und für sich seiendes Wesen‘) und in eine dieser vorgängig gültigen Bestimmung widersprechende äußerliche Existenzweise. Er will selbst anerkannt allgemeingültig personal da sein und negiert zugleich Geltungsallgemeinheit in anderer Personalität. Im Hinblick auf die eigene Person ist damit Selbstaufhebung, Selbstentmächtigung als widerspruchsfrei-allgemeiner Rechtssetzungsinstanz im Dasein angesetzt, und zwar nicht bloß punktuell-statisch, sondern als prozeßhaft fortexistierender (Selbst)Widerspruch.“ 295
Der Straftäter stellt demnach, weil er Vernunftwesen ist, durch seine Unrechtshandlung die Behauptung der Verallgemeinerbarkeit seines Handlungsgrundsatzes auf, obwohl ihm kraft seiner eigenen Vernunftbefähigung klar sein muss, dass dieser mit allgemeiner Freiheit gerade unvereinbar ist. Das Unrecht ist damit ein misslungener Prozess rechtlicher Selbstbestimmung: Das Subjekt erkennt das Allgemeine, das auch durch seinen eigenen Willen allgemein ist, will aber dennoch das dem entgegengesetzte Besondere, wissend, dass damit dem Allgemeinen widersprochen wird. Würde es sich mit diesem Resultat selbst ernst nehmen, befände es sich in einem unauflösbaren inneren Konflikt: Seine Vernunftbegabung weist ihm den Weg zur allgemeinen Freiheit (zum Recht), durch seine Unrechtshandlung manifestiert es aber gerade den gegenteiligen Willen seiner eigenen Übersteigerung (zum Unrecht). Sein eigener Wille wird auf einmal in sich selbst verkehrt.296 Die strafwürdige Unrechtstat hat nach Köhler also folgende Qualität: Sie stellt einen nach außen getretenen Widerspruch zur Vernunftrechtsordnung durch ein prinzipiell vernünftiges Rechtssubjekt dar. Der Mitkonstituent des Rechts behauptet mit seiner Tat (konkrete Freiheitsverletzung eines anderen bei gleichzeitiger Übersteigerung seiner selbst) das Gegenteil dessen, was er selbst als Vernunftwesen als richtig eingesehen hat: Nämlich die Geltung des allgemeinen Rechtsgesetzes zwischen ihm und den Anderen. (4) Zusammenfassung Das Verbrechen kann als konkrete Freiheitsverletzung in drei Dimensionen verstanden werden: – Erstens als Bruch des interpersonalen Rechtsverhältnisses, das durch das gegenseitige Vertrauen in die Vernünftigkeit des jeweils anderen begründet wird 295 M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), S. 11 (S. 18, 19 (ohne Fn)). 296 Vgl. zu diesem Zusammenhang die differenzierte Darstellung bei M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), S. 30 ff.
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und seine Ausgestaltung im Rechtsstaat darin findet, dass Gesetze die äußere Freiheitssphäre der Rechtssubjekte als verbindlich anerkennen und durch Verletzungsverbote schützen (z. B. durch Straftatbestände wie den Totschlag, die Körperverletzung oder die Sachbeschädigung). – Zweitens als Bruch allgemeinen Rechts: Der Täter negiert mit seiner Tat die Geltung des allgemeinen, durch die vernünftige Setzung der Gemeinschaft zustande gekommenes Recht und behauptet durch seine Tat, dass für ihn dieses Recht keine Bedeutung, keine Bindungswirkung habe (beispielsweise negiert er die Geltung des durch das Strafrecht besonders ausgeprägten Lebens-, Körper- und Eigentumsschutzes dadurch, dass er sich bewusst zum Unrecht entscheidet und es handelnd verwirklicht, also jemanden tötet, verletzt, bestiehlt etc.). – Drittens als Selbstwiderspruch des Täters in der Weise, dass er von ihm selbst mitkonstituiertes, vernünftiges Recht mit seiner Handlung negiert, dessen Bindungswirkung also für sich selbst suspendiert, obwohl er doch selbst als Vernunftwesen auf die Geltung dieses Rechts genauso angewiesen ist, wie alle anderen. Die genannten drei Dimensionen des Verbrechensbegriffs nehmen frühere Unrechtsbegründungen einerseits auf, weisen andererseits aber deutlich über sie hinaus und erfassen den Kriminalunrechtsbegriff in seiner Gesamtheit. In der Rechtsverhältnisverletzung liegt erstens auch die äußere Verletzung verbindlicher Freiheitszuordnungen Anderer („Rechtsgüter“), darüber hinaus ist aber auch das auf gegenseitige Anerkennung gründende innere Verhältnis, die Achtung des Anderen als Gleichbedeutsamem verletzt. Zweitens geht es auch um eine „Wertverletzung“ auf Seiten des Täters – allerdings wird der „Wert“ hier nicht verstanden als ein dem Subjekt vorgegebener, äußerlich vorfindbarer Gesinnungswert im Sinne Welzels. Die „Wertverletzung“ liegt vielmehr darin, dass sich der Täter durch seine von ihm zu verantwortende Tat gegen das durch ihn selbst mitbegründete und von seiner Einsicht getragene Gleichheitsverhältnis wendet und damit sich selbst in Widerspruch zum rechtlich gewollten, „intakten“ Zustand setzt. Drittens liegen in der Unrechtstat auch eine die Normgeltung in Frage stellende Aktion und ein „Sozialschaden“. Denn wer die allgemein verbindlich gesetzten Freiheitssphären zu seinen eigenen Gunsten übertritt, wer rechtlich konstituierte Anerkennung bewusst missachtet bzw. wer das Vertrauen in das Dasein von Freiheit durch eine Freiheitsverletzung tätig erschüttert, der handelt nicht mehr als vernünftiger Mitkonstituent dieser Normen, sondern drückt gerade seine Nichtanerkennung eben derselben Normen aus, behauptet, dass die Norm für ihn keine Geltung habe.297 297 Vgl. zu den Dimensionen eines als Freiheitsverletzung begriffenen Unrechtsbegriffs näher K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kan-
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bb) Die Unrechtsqualität der §§ 129 ff. unter Zugrundelegung des freiheitlichen Unrechtsbegriffs Wendet man sich von diesem Hintergrund aus erneut der Frage nach der Unrechtsqualität der §§ 129 ff. zu, so müssen die Tathandlungen des Gründens einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung und die Beteiligung als Mitglied, die Werbung für sie und ihre Unterstützung die Dimensionen des durch Wolff begründeten Unrechtsbegriffs erfüllen. In ihnen müsste also eine Verletzung rechtlich konstituierten Basisvertrauens liegen, die ihrem Grad nach so gravierend ist, dass fremdes selbstorientiertes Dasein in seinem Fundament – dem Grundvertrauen in die Vernunft des anderen und in den Fortbestand vernünftiger Verhältnisse im Staat – erschüttert wird. Wolff selbst wendet sich dieser Schwierigkeit nur zum Teil zu. Er behandelt in seinem nun schon mehrfach zitierten Aufsatz zur Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen explizit die §§ 129 und 129a (a. F.),298 lässt aber letztlich die Beurteilung ihrer Legitimität als Vorfelddelikte offen. Er schließt sich der Auffassung an, dass jedenfalls allein im Angriff auf die öffentliche Ordnung (oder Sicherheit) eine ausreichende Begründung für die Ausgestaltung des § 129 als Strafunrecht nicht liegen kann299 (und empfiehlt deshalb ein weiteres Nachdenken über den Ansatz Rudolphis300). Der im Gesetz als Qualifikationstatbestand ausgestaltete § 129a (Wolff geht noch von der a. F. aus)301 unterliegt nach Wolff denselben Bedenken wie § 129, so
tischen Rechtslehre (2005), S. 108–146 und B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 390 ff. 298 E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), S. 221 ff. 299 In diesem Sinne auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 33. 300 Vgl. dazu oben S. 193 ff. 301 1987 (nach der Änderung des Paragraphen durch das Gesetz zur Bekämpfung des Terrorismus vom 19.12.1986, BGBl. I 2566) hatte § 129a folgenden Wortlaut: § 129a (Bildung terroristischer Vereinigungen) (1) Wer eine Vereinigung gründet, deren Zwecke oder deren Tätigkeit darauf gerichtet sind, 1. Mord, Totschlag oder Völkermord (§§ 211, 212 oder 220a), 2. Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder des § 239b oder 3. Straftaten nach § 305a oder gemeingefährliche Straftaten in den Fällen der §§ 306 bis 308, 310b Abs. 1, des § 311 Abs. 1, des § 311a Abs. 1, der §§ 312, 315 Abs. 1, des § 316b Abs.1, des § 316c Abs. 1 oder des § 319 zu begehen, oder wer sich an einer solchen Vereinigung als Mitglied beteiligt, wird mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu zehn Jahren bestraft. (2) Gehört der Täter zu den Rädelsführern oder Hintermännern, so ist auf Freiheitsstrafe nicht unter drei Jahren zu erkennen. (3) Wer eine in Absatz 1 bezeichnete Vereinigung unterstützt oder für sie wirbt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.
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dass er jedenfalls in seiner konkreten Form nicht schon durch den Angriff auf die öffentliche Sicherheit begründet sein kann. Allerdings sieht Wolff die Möglichkeit, bestimmte Fälle eines „Angriffs gegen das Gemeinwesen“ als Ganzes tatbestandlich zu erfassen und meint, dass darin der eigentliche Gehalt des § 129a liegen müsste. Entsprechend seiner Grundlegung, nach der der Erhalt eines freiheitlichen Gemeinwesens primär der Leistung seiner Konstituenten obliegt (die Unfreiheitliches zu unterlassen haben)302, sieht Wolff in bestimmten, auch nur geplanten, Tätigkeiten terroristischer Vereinigungen Angriffe auf Teile eben dieses Gemeinwesens (etwa auf Schaltstellen und Schlüsselpersonen), die „in schwierigen Zeiten“ eine „zu Krisen führende Herabsetzung der zur Erhaltung des Gemeinwesens erforderlichen Friedensbasis“ bewirken können. Auch im Gründen und Unterhalten einer Vereinigung, die sich eben diese Herabsetzung zur Aufgabe macht, könne dann schon strafwürdiges Unrecht liegen. Zwar führt Wolff selbst diesen Gedanken nicht weiter aus, aber mit den von ihm entwickelten Kriterien und unter Berücksichtigung seiner Grundlegung muss Voraussetzung für die Erfassung der Gründung bzw. Unterhaltung von terroristischen Vereinigungen als Kriminalunrecht sein, dass die Tathandlungen selbst schon das „Gemeinwesen beeinträchtigen“ oder zumindest wesentliche Teilelemente des Gemeinwesens bedrohen; dies schließt „wertneutrale“ 303 Handlungen, die ihre Qualität als Angriff auf das Gemeinwesen allein durch die sie leitende Intention erhalten, als taugliche tatbestandsmäßige Unrechtselemente aus. Die Formen von strafrelevanter Gründung und Unterstützung einer terroristischen Vereinigung müssen objektiv „zur Herabsetzung der Friedensbasis“ eines Gemeinwesens taugen: Nicht schon jedwede Handlung, die heute als Unterstützungshandlung i. S. d. § 129 anerkannt wird (beispielsweise: die Beschaffung von Informationen, Material oder Werkzeugen, die für die Organisation von Vorteil sind, das Erbringen von Kurierdiensten, das Zur-Verfügung-Stellen von Räumlichkeiten, Kraftfahrzeugen oder Telekommunikationsmöglichkeiten, die Beherbergung von Personen, die für die Organisation Straftaten begehen sollen, die
(4) Das Gericht kann bei Beteiligten, deren Schuld gering und deren Mitwirkung von untergeordneter Bedeutung ist, in den Fällen der Absätze 1 und 3 die Strafe nach seinem Ermessen (§ 49 Abs. 2) mildern. (5) § 129 Abs. 6 gilt entsprechend. (6) Neben einer Freiheitsstrafe von mindestens sechs Monaten kann das Gericht die Fähigkeit, öffentliche Ämter zu bekleiden, und die Fähigkeit, Rechte aus öffentlichen Wahlen zu erlangen, aberkennen (§ 45 Abs. 2). (7) In den Fällen der Absätze 1 und 2 kann das Gericht Führungsaufsicht anordnen (§ 68 Abs. 1). 302 Vgl. Fn. 284. 303 So charakterisiert W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung (1992), S. 97, die Verhaltensweisen „werben“ und „unterstützen“ i. S. der §§ 129 ff.
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psychische Unterstützung durch Stärkung der „Gruppenmoral“)304 erfüllt diese Voraussetzung. Durch das Kriterium der Tauglichkeit zur Beeinträchtigung des Gemeinwesens wird die Schwelle der Erheblichkeit von Gründungs-, Beteiligungs-, Unterstützungs- und Werbungsakten deutlich angehoben. Nicht schon jede für die Vereinigung „vorteilhafte“ 305 Handlung kann dann genügen, sondern nur eine solche, die äußerlich manifest und wirkmächtig die Qualität eines Angriffs auf Fundamente des Gemeinwesens erreicht, die eine „Verletzung des Anerkennungsverhältnisses des Gemeinwesens als Ganzem“ (so Wolff) beinhaltet. Dies könnte beispielsweise der Fall sein, wenn konkrete Maßnahmen zum Vorgehen gegen Teile der Staatsmacht getroffen werden, etwa durch das Anlegen von Waffen-, Spreng- oder sonstigen Kampfstoffdepots oder durch gezielte und auf Gewalttätigkeit gegenüber Schalt- oder Schlüsselstellen des Staates ausgerichtete Planungs-, Vorbereitungs- oder Ausbildungsmaßnahmen, die schon soweit fortgeschritten sind, dass sie der Beeinträchtigung des Gemeinwesens zwar organisatorisch vorgelagert, aber für den Erfolg maßgeblich sind. Diese den Tatbestand des § 129a restriktiver fassende Unrechtsbestimmung wird durch die aktuell geltende gesetzliche Fassung des § 129a zum Teil berücksichtigt. Zwar genügt nach seinem Absatz 1 die Gründung (oder Mitgliedsbeteiligung an) einer Vereinigung, deren Zwecke oder Tätigkeiten darauf gerichtet sind, Mord, Totschlag, Verbrechen nach dem Völkerstrafgesetzbuch oder besonders schwerwiegende Delikte gegen die persönliche Freiheit zu begehen, ohne dass ein über die Qualität dieser Delikte hinausgehender Bezug zum Bestand des Gemeinwesens nötig wäre. In Absatz 2 wird für die Strafbarkeit der Vereinigungsgründung bzw. der Beteiligung an ihr als Mitglied aber zusätzlich gefordert, dass – einerseits die Ziele bzw. Tätigkeiten der Vereinigung auf die Begehung einer bestimmten Katalogtat (z. B. §§ 226, 303b, 305, 305a) gerichtet sind und dass die im Katalog benannten Taten dazu bestimmt sind, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, eine Behörde oder eine internationale Organisation rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen; – andererseits zusätzlich durch die Art ihrer Begehung oder ihrer Auswirkungen ein Staat oder eine internationale Organisation erheblich geschädigt werden kann. Der Gedanke der Beeinträchtigung der Fundamente des Gemeinwesens taucht hier also auf. Die den Zweck der Vereinigung bildende Katalogtat im Sinne des Absatzes 2 muss auf die Einschüchterung der Bevölkerung, die Nötigung einer 304 305
Vgl. zu dieser Aufzählung Fischer, § 129, Rn. 31. In diesem Sinne aber Fischer, § 129, Rn. 30.
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Behörde oder internationalen Organisation oder die erhebliche Beeinträchtigung der Grundstrukturen des Staates subjektiv gerichtet sein (terroristische Zwecksetzung) und die Katalogtat muss objektiv zur Schädigung eines Staates oder einer internationalen Organisation geeignet sein (konkrete Eignung).306 Allerdings ist fraglich, ob diese tatbestandliche Fassung des § 129a im Hinblick auf die Kriterien Wolffs als gelungen bezeichnet werden kann (und er selbst macht die Legitimität der Erfassung von Gründungs- und Unterstützungshandlungen vom „Gelingen einer entsprechenden Tatbestandsbildung“ abhängig): Erstens ist der Gedanke der Gemeinwesensbeeinträchtigung bei den im ersten Absatz aufgezählten (schweren) Straftaten nach der geltenden Gesetzesfassung unerheblich; hier genügt – wie bei § 129 – die Vereinsgründung bzw. Mitgliedsbeteiligung als solche, so die Vereinigung nur auf die Begehung der benannten Straftaten gerichtet ist. Insofern bleibt die Begründungsproblematik der Vorfeldkriminalisierung weiter offen, und die Vorschrift kann nicht im Wolffschen Sinne mit einem Angriff auf das Gemeinwesen begründet werden. Zweitens wird in Absatz 2 die nach Wolff den Grund der Vorschrift als Strafnorm ausmachende erhebliche Beeinträchtigung der Grundstrukturen eines Staates so eingeführt, dass die bei Vereinsgründung (etc.) intendierte Tat ihrerseits bestimmt sein muss, diese erhebliche Beeinträchtigung zu bewirken. Auf diese Weise wird zweifach auf die subjektive Vorstellung des Täters zum Zeitpunkt seiner die Vereinigung fördernden, selbst aber nicht unbedingt eine Katalogtat vorbereitenden oder fördernden Tathandlung abgestellt: Erstens muss er sich bestimmte zukünftige Delikte (z. B. Computersabotage, § 303b, oder die Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel, § 305a) vorstellen, die die Vereinigung begehen soll, und zweitens muss er dabei die Vorstellung einer die Grundstrukturen des Gemeinwesens erheblich beeinträchtigenden Zielrichtung dieser Delikte haben. Nicht seine Handlung muss also die Qualität haben, die Grundstrukturen des Staates erheblich zu beeinträchtigen, sondern die von der Vereinigung intendierten zukünftigen Straftaten müssen subjektiv mit dieser Zielrichtung begangen werden. Hinzukommen muss dann nach dem Gesetz eine objektive Eignung der intendierten Straftat zur erheblichen Schädigung des Staates. Auch hier bezieht sich die Eignung zur Staatsschädigung also nicht auf die Tathandlung des Täters, sondern auf die (potentiell) durch die Vereinigung begangenen zukünftigen Delikte. Wird nun an diese Tatbestandsfassung der Maßstab angelegt, den Wolff für strafwürdiges Unrecht allgemein und für einen strafwürdigen Angriff auf das Gemeinwesen im Besonderen erarbeitet, so muss differenziert werden zwischen der
306 Vgl. dazu Fischer, § 129a, Rn. 13 ff., kritisch im Hinblick auf die Tatbestandsfassung insbesondere in Rn. 17. Vgl. zudem BGHSt 52, 98 (101 ff.) und die Ausführungen im 5. Teil dieser Arbeit auf den S. 421 ff.
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Strafbarkeit der Handlungen gem. §§ 129 ff. als Vorfeldtaten einerseits und als selbständig strafwürdige Angriffe auf das Gemeinwesen andererseits. Soweit es um die in §§ 129 und § 129a Abs. 1 mit Strafe bedrohten reinen Vorfeldhandlungen geht, müsste in ihnen – wie bereits herausgearbeitet – eine Verletzung rechtlich konstituierten Basisvertrauens liegen. M. Köhler umschreibt dies leicht abgewandelt so, dass die Handlungen das „Dasein der Freiheit in seinem konkreten Sinn“ verletzen und damit das Recht in seiner besonderen und allgemeinen Geltung negieren müssten: „Soll (. . .) (Straf-)Unrecht begründet sein, so muss das jeweilige Handeln selbst schon personale oder interpersonale Freiheitsbedingungen beeinträchtigen; (. . .).“ 307 Die Gründung (etc.) einer Vereinigung, deren Ziel die Begehung von Straftaten ist, müsste also selbst schon eine fundamentale Vertrauensverletzung, eine konkrete Freiheitsverletzung entweder gegenüber einem Einzelnen oder dem Staat als ganzem darstellen. Eine Vertrauensverletzung im Sinne Wolffs liegt immer dann vor, wenn der Täter durch seine äußere Handlung manifestiert, dass er die gemeinsame Vernunftbasis gegenseitiger Anerkennung (mit einem Anderen oder der Rechtsgemeinschaft als ganzer) für sich selbst suspendiert. Im Gründungsakt (bzw. in den weiteren Tathandlungen der §§ 129 ff.) sind zukünftige Vertrauensbrüche zumindest angelegt, denn die Vereinigung selbst wird gerade zu dem Zweck gegründet (bzw. unterstützt, etc.), in Zukunft fundamentale Vertrauensbrüche in Form von Straftaten zu ermöglichen oder zu erleichtern. Fraglich ist aber, ob in dieser Anlage selbst schon eine Verletzung des Grundvertrauens der anderen Rechtssubjekte in den Fortbestand vernünftig ausgestalteter Rechtsbeziehungen zum Täter bzw. des Rechtszustands im Staat liegt. Auf die Qualität des Zusammenhangs zwischen Tathandlung und dem (potentiell) bevorstehenden Vertrauensbruch in Form eines bestimmten Delikts kann es bei dieser Frage nicht ankommen: Da die Strafbarkeit unabhängig von der tatsächlichen Begehung des intendierten Deliktes angedroht wird, muss objektiv ein Zusammenhang (etwa nach den für die (zur Haupttat akzessorischen) Beihilfe (§ 27) entwickelten Kriterien) zwischen (Vor-)Tat und Haupttat überhaupt nicht bestehen und kann folglich nicht das maßgebliche Kriterium für die Beurteilung der Strafwürdigkeit der Handlung sein. Dies bedeutet, dass der Unrechtsgehalt der Tathandlungen der §§ 129 ff. nicht mit dem jeweiligen Unrecht der zukünftigen Tat begründet werden kann, weil weder deren konkrete Planung noch deren Eintritt Voraussetzung für die Bestrafung ist. Als Vorfelddelikte in diesem engeren Sinne lassen sie sich deshalb nicht begründen.308
307 M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 33; siehe zudem W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalität (1992). 308 Vgl. dazu auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 567.
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Entscheidend muss vielmehr sein, ob in den Taten selbst schon ein Vertrauensbruch komplett enthalten ist. Da die Tathandlungen der §§ 129 ff. sich (wie gezeigt) darauf beschränken, den Bestand der kriminellen oder terroristischen Vereinigung zu ermöglichen, muss erstens im Faktum des Bestandes der Vereinigung selbst schon eine Verletzung rechtlich konstituierten Basisvertrauens liegen und der Täter muss zweitens durch seine Tathandlung den Bestand und die Tätigkeit der Organisation entscheidend mitgestalten und darf nicht nur einen untergeordneten (austauschbaren) Beitrag geleistet haben. Dass das Faktum der Existenz einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung schon selbst fremdes selbstorientiertes Dasein in seinem Fundament erschüttert, lässt sich nur sagen, wenn die Vereinigung in einer Weise wirkmächtig ist, dass schon allein durch ihre Machtstellung das Gemeinwesen in seinem Vertrauen auf den Fortbestand vernünftiger Strukturen verunsichert wird. Dafür muss die Vereinigung eine Wirkmacht haben und demonstrieren, die tatsächlich an den Grundfesten freiheitlichen Zusammenlebens rüttelt, die also in gewisser Weise in Konkurrenz zur Rechtsgemeinschaft tritt und insofern einen Angriff auf das Gemeinwesen darstellt.309 Dafür ist notwendig, dass sie objektiv die dafür notwendige strukturelle Einsatzfähigkeit besitzt, über die notwendigen Mittel und Personen verfügt und auch von ihrer Größe und ihrem Gewicht die Machtfülle erreicht, die notwendig ist, einen Staat in seinen Grundfesten zu bedrohen. Notwendig ist ferner, dass sie diese Strukturen nicht nur aufweist, sondern sie auch manifestiert. Ein Indiz dafür kann sein, dass sie durch immer wiederkehrende, gravierende Straftaten nach außen getreten ist und dadurch ihre Macht und ihre Bereitschaft bewiesen hat, andere Rechtssubjekte dauerhaft und fortwährend in ihrem freien Dasein anzugreifen. Möglich ist auch, dass sie erkennen lässt (beispielsweise durch öffentliche Drohungen, aber auch unfreiwillig, durch Observation der rechtsstaatlichen Organe), dass sie durch die Auswahl ihrer Ziele („Schlüsselstellen“ im Sinne Wolffs) das Staatswesen zu zerstören sucht. Sie muss sich als reale Bedrohung für das durch das Strafrecht zu schützende Basisvertrauen der Allgemeinheit darstellen, sie muss die Kapazität haben, die Rechtsgemeinschaft als solche umzustürzen oder aber jedenfalls in ihren Grundfesten zu erschüttern. Nicht ausreichen kann dafür, dass, wie in der geltenden Gesetzesfassung des § 129a Abs. 2 vorgesehen, die intendierte (zukünftige) Straftat ihrerseits bestimmt ist, eine erhebliche Beeinträchtigung des Gemeinwesens zu bewirken, und dass sie dazu geeignet ist. Das Abstellen auf die zukünftige Tat ist nicht tauglich, reale Wirkmacht im Hinblick auf die Gemeinwesensbeeinträchtigung festzustellen. Vorstellbar ist eine solche Qualität der Vereinigung sowohl bei terroristischen Gruppierungen, die durch ihre Terrorakte freiheitliches Dasein systematisch und 309 In eine ähnliche Richtung denkt auch Cancio Meliá, „Zum Unrecht der kriminellen Vereinigung: Gefahr und Bedeutung“ (2007), S. 27 ff. Dazu unten S. 286 ff.
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planmäßig verunsichern, als auch bei bestimmten kriminellen Vereinigungen (etwa der Mafia), deren gesamte Struktur allein dazu dient, kriminelle Taten zu begehen und dadurch den Staatsapparat zu unterwandern. Nicht ausreichen können jedoch Gruppierungen, bei denen eine reale Wirkmacht (noch) nicht besteht, etwa weil sie über Planungen im Innenverhältnis noch nie hinaus gekommen sind (und es auch nicht können) oder bei denen die bisherigen Tätigkeiten nicht gravierend genug waren, um tatsächlich von einer Verunsicherung des Basisvertrauens sprechen zu können (z. B. bei vereinzelten Aktionen, die weder ihrem Grad noch ihrer Häufigkeit nach von besonderer, vertrauens-erschütternder Qualität waren). Der Tatbeitrag des Täters muss nun darin liegen, an dem Bestand einer diesen Kriterien entsprechenden Vereinigung in qualifizierter, nicht nur in irgendeiner Weise mitzuwirken. Der Beitrag des Täters muss über die beliebige Förderung (vgl. die schon oben benannten Beispiele möglicher „vorteilhafter“ Handlungen wie etwa die Beschaffung von Informationen, Material oder Werkzeugen oder das Erbringen von Kurierdiensten)310 der Vereinigung hinaus eine wesentliche Rolle für die Existenz der Vereinigung spielen. Denn nur auf die Qualität seiner Tathandlung im Verhältnis zu der den Vertrauensbruch begründenden Existenz der Vereinigung kann es ankommen, wenn es um die Beurteilung eben seiner Handlung als strafwürdiges Unrecht geht. Damit müssen die Tathandlungen im gesetzlichen Tatbestand so gefasst werden, dass das Gewicht des Beitrags für den Bestand der Vereinigung berücksichtigt wird, und bei ihrer Auslegung muss deutlich ein enger Bedingungszusammenhang zwischen der Tathandlung des Täters und der Existenz der Vereinigung gefordert werden. Das Merkmal des „Gründens“ der Vereinigung darf dann nur diejenigen Gründungsakte erfassen, die tatsächlich für den Bestand der Vereinigung unverzichtbar waren: Der Initiator der Vereinigung kann strafbar sein, nicht aber schon jeder sonstige Mitwirkende, der sich bei der Gründung (irgendwie) beteiligt. Strafbares Unrecht liegt nur vor, wenn der Täter Urheber der Vereinigung war und sie ihm ihre Wirkmacht wesentlich verdankt. Bei der „Beteiligung als Mitglied“ reichen grundsätzlich beliebig austauschbare Dienstleistungen nicht aus, um eine Strafbarkeit zu begründen. Die Beteiligung darf sich nicht nur in „förderlichen“ Beiträgen oder der „einmaligen Betätigung für die Zwecke der Vereinigung“ 311 oder in der „Teilnahme an der Tätigkeit der Organisation“ 312 erschöpfen, sondern muss unverzichtbar für den Fortbe-
310
Vgl. Fn. 304. So aber die hM, vgl. Sch/Sch-Lenckner/Sterberg-Lieben, § 129, Rn. 13; Lackner/ Kühl, § 129, Rn. 5; NK-Ostendorf, § 129, Rn. 18. 312 Fischer, § 129, Rn. 24. 311
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stand der Vereinigung oder zumindest für ihre Wirkmacht sein. Damit scheiden ein Großteil der von der Rechtsprechung anerkannten Beteiligungshandlungen als strafwürdiges Unrecht gem. § 129 aus, soweit nicht positiv festgestellt werden kann, dass der Bestand der Organisation von diesen Tätigkeiten abhängt: Die Unterrichtung der Organisationsleitung über den Stand der Planung und Ausführung von Taten, das Zahlen von Mitgliedsbeiträgen, die Beteiligung an Planungen oder das Erbringen organisatorischer oder logistischer Leistungen zur Vorbereitung, Durchführung oder Tarnung von Straftaten.313 Solche Handlungen mögen als akzessorische Beihilfehandlungen zu einem tatsächlich begangenen Delikt strafbar sein, nicht aber als selbständiges Täter-Unrecht. Strafbare Beteiligungshandlungen i. S. d. §§ 129 ff. müssen die fortwährende Vertrauensverunsicherung durch die Existenz einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung mitbegründen, also für die Vereinigung, die von ihr ausgehende Vertrauensbedrohung und ihre Wirkmacht entscheidend sein. Dies ist beispielsweise denkbar bei Beiträgen wie der konkreten, detaillierten Ausarbeitung eines tatsächlich möglichen Anschlags unter Einbeziehung der Strukturen der Vereinigung, der gezielten Kampf- bzw. Terrorausbildung von Organisationsmitgliedern oder der Beschaffung von Waffen, Sprengstoff oder sonstigen Kampfmitteln. Die „Werbung um Mitglieder oder Unterstützer“, also die Propagandatätigkeit für die Vereinigung, ist als selbständige Unrechtshandlung dagegen nicht zu begründen. Selbst wenn die Werbung „Erfolg“ hat, also tatsächlich der Vereinigung neue Mitglieder zuführt,314 so liegt nicht schon darin eine das Vertrauen in rechtliche Verhältnisse erschütternde Tat. Denn der entscheidende Faktor für die Verletzung von Basisvertrauen steht zu diesem Zeitpunkt noch aus: Erst die tatsächliche Beteiligung als Mitglied (im oben ausgeführten Sinn) kann als entscheidende Mitgestaltung der Vereinigung das Vertrauen in die Fortgeltung rechtlicher Verhältnisse verunsichern, nicht schon die Anbahnung einer solchen Beeinflussungsmöglichkeit. Zwar mag die Anwerbung neuer Mitglieder für die Organisation förderlich sein, sie ist aber keine wesentliche Mitgestaltung der Organisation, ohne die ihr Bestand gefährdet wäre. Für das „Unterstützen“ (durch ein Nichtmitglied) gilt der Sache nach dasselbe, wie für die Beteiligung als Mitglied. Nur Handlungen, die unverzichtbar für den Fortbestand der Vereinigung sind, können als strafwürdiges Verhalten gelten. Die bloße „Förderung, Stärkung oder Absicherung“ 315 reicht für eine Unterstützung genauso wenig wie für eine strafbare Mitgliedsbeteiligung. Eine mögliche Unterstützungshandlung könnte z. B. darin liegen, dass der Vereinigung die notwendige Wirkkraft verschafft wird, etwa indem Waffen bereitgestellt werden.
313 314 315
Auflistung mit Angaben zur Rechtsprechung bei Fischer, § 129, Rn. 24. Vgl. dazu Fischer, § 129, Rn. 28. So aber Fischer, § 129, Rn. 30.
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cc) Zusammenfassung E. A. Wolff definiert das Verbrechen als „die umrissene Verletzung des rechtlich konstituierten Basisvertrauens“; R. Zaczyk konkretisiert diesen Begriff und nennt ein Verhalten verbrecherisch, das das rechtlich konstituierte Rechts- und Gleichheitsverhältnis vernünftiger Personen verletzt. Nach M. Köhler müssen Kriminalunrecht begründende Handlungen das „Dasein der Freiheit in seinem konkreten Sinn“ verletzen und damit das Recht in seiner besonderen und allgemeinen Geltung negieren. Die Anwendung dieses Verbrechensbegriffs auf die Tathandlungen der §§ 129 ff. hat ergeben, das die geltende gesetzliche Fassung gemessen an einem freiheitlichen Unrechtsbegriff unzulänglich ist. Die Vorfeldhandlungen der §§ 129 ff. können als strafbares Unrecht nur dann Bestand haben, wenn ihnen selbst verbrecherische Qualität zukommt (und nicht erst dem bloß intendierten, zukünftigen Delikt der Vereinigung). Die Verletzung einer bestimmten „Freiheitskonkretion“, gedacht als „Rechtsgut“ oder als „Daseinselement der Freiheit“, ist, wie oben herausgearbeitet, bei den Tathandlungen der §§ 129 ff. nur unter der Bedingung gegeben, dass der Tatbestand erheblich restriktiver gefasst wird als in der geltenden gesetzlichen Fassung. Dazu ist erforderlich, dass einerseits im Faktum der Existenz der kriminellen oder terroristischen Vereinigung schon eine Verletzung rechtlich konstituierten Basisvertrauens, und zwar in Form eines Angriffs auf das freiheitliche Gemeinwesen, liegt (die Vereinigung also eine bestimmte Qualität aufweist) und andererseits der Täter durch seine Tathandlung den Bestand und die Tätigkeit der Organisation entscheidend mitgestaltet. Diese beiden Kriterien sind im geltenden Recht nicht ausreichend berücksichtigt, so dass die Legitimität der §§ 129 ff. auch nach dem von Wolff begründeten freiheitlichen Verbrechensbegriff zu verneinen ist. g) Ergebnis zu 1. Keine der oben dargestellten ausgearbeiteten Unrechtslehren vermag es, das Unrecht der Tathandlungen der §§ 129 ff. als strafwürdiges Vorfeldverhalten zu erfassen: Die Unrechtslehren Marx’, Rudolphis und Roxins stützen sich übereinstimmend auf eine Rechtsgutsverletzung als materiellen Kern des Verbrechens. Nach ihnen ist die Vorfeldstrafbarkeit ein rechtsstaatliches Problem und sie lehnen deshalb – ausdrücklich oder implizit – eine Bestrafung nach den §§ 129 ff. StGB ab. Auch Hassemer sieht die Tendenz zur Kriminalisierung von Vorfeldverhalten zumindest skeptisch. Allerdings lässt sich mit den Kriterien seiner „personalen Rechtsgutslehre“ nicht eindeutig bestimmen, ob er die §§ 129 ff. StGB für illegitim hält oder nicht. Mit Welzels Begriff vom Verbrechen lässt sich das in den §§ 129 ff. kodifizierte Unrecht genauso wenig erfassen, wie mit den Unrechtslehren Amelungs und Jakobs’. Mangels eines „Sozialschadens“ können die Tathand-
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lungen der §§ 129 ff. StGB, jedenfalls soweit es um vereinigungsinterne Handlungen geht, nach dem Verbrechenskonzept Amelungs nicht als Strafunrecht erfasst werden. Und nach Jakobs’ Auffassung können Vorfeldkriminalisierungen, insbesondere auch die in den §§ 129 ff. angelegten, grundsätzlich nur dann als strafwürdiges Unrecht im Rahmen eines „Bürgerstrafrechts“ legitimiert werden, wenn mit ihnen eine Verletzung der kognitiven Basis der Normgeltung einhergeht. Dies sei nur dann der Fall, wenn durch die Tat eine (erhebliche) Bedrohungswirkung erzeugt wird. E. A. Wolff definiert das Verbrechen als „die umrissene Verletzung des rechtlich konstituierten Basisvertrauens“. Die Anwendung dieses Verbrechensbegriffs auf die Tathandlungen der §§ 129 ff. hat ergeben, dass die geltende gesetzliche Fassung gemessen an einem freiheitlichen Unrechtsbegriff unzulänglich ist. 2. Die Tathandlungen der §§ 129 ff. StGB als legitimes Gefährdungsunrecht? Nachdem im vorangegangenen Abschnitt (unter 1.) die Möglichkeit geprüft und im Ergebnis verneint wurde, das Unrecht der §§ 129 ff. als legitimes „Vorfeldunrecht“ zu fassen, soll nun der Versuch unternommen werden, die Tathandlungen der §§ 129 ff. als strafwürdiges Gefährdungsunrecht einzuordnen. Die Schwierigkeiten, die sich dabei ergeben, wurden oben316 schon angedeutet: Das Gefährdungspotential der Tathandlungen der Gründung einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung, der Beteiligung an ihr, des Werbens für sie und ihrer Unterstützung liegt nach ganz herrschender Meinung darin, dass durch die besonderen Strukturen der Vereinigung eine Eigendynamik entstehe, die die Begehung von Straftaten in der Zukunft wahrscheinlich mache.317 Diese Eigendynamik soll als Grund für die Pönalisierung jeder ihr förderlichen Handlung ausreichen: Kriminalisiert wird das in den §§ 129 ff. beschriebene Verhalten deswegen, weil es die Gefahr der Begehung zukünftiger, noch ungewisser Delikte durch im Einzelnen noch nicht bestimmte Personen erhöhe. Insofern ist also die Schaffung oder Erhaltung dieser spezifischen Gefahr der eigentliche Pönalisierungsgrund. Die strafrechtsdogmatische Kategorie, die Gefährdungsunrecht als Strafunrecht ausweist, ist die der konkreten und abstrakten Gefährdungsdelikte. Die §§ 129 ff. werden von Rechtsprechung und Lehre beinahe einhellig in die Kategorie strafwürdiger abstrakter Gefährdungsdelikte eingeordnet318; allerdings wird diese Einordnung zumeist nicht näher begründet.319 316
Vgl. dazu S. 197 ff. Vgl. insbesondere oben im Text bei Fn. 80. 318 Vgl. die Nachweise in Fn. 59. 319 Siehe nur Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 1: Die bloße Existenz krimineller Vereinigungen und die diesen innewohnende Eigendynamik stelle ein Gefahrenpotential dar („abstraktes Gefährdungsdelikt“); MüKo-Schäfer, § 129, Rn. 4: 317
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Abstrakte Gefährdungsdelikte sind nach einer gängigen Definition „solche, bei denen ein typischerweise gefährliches Verhalten als solches unter Strafe gestellt wird, ohne dass im konkreten Fall ein Gefährdungserfolg eingetreten zu sein braucht“ 320, anders formuliert: Es handelt sich um Delikte, bei denen das Gesetz „nur die Bedingungen einer generellen Gefährlichkeit“ beschreibt, „ohne die Gefährdung eines bestimmten Objekts im Einzelfall vorauszusetzen“ 321. M. Nehring322 hat nun die Einordnung und damit die Legitimation der §§ 129 ff. als abstrakte Gefährdungsdelikte mit folgenden Überlegungen angezweifelt: Die „§§ 129 und 129a StGB (gehen) als abstrakte Gefährdungsdelikte über das Wesen einer Vielzahl abstrakter Gefährdungsdelikte hinaus, die gleichsam eine Strafdrohung für nicht unmittelbar rechtsgutsverletzendes oder konkret gefährdendes Verhalten enthalten. Anders als bei jenen, ist das vom Tatbestand der §§ 129 und 129a StGB umfasste organisationsbezogene Verhalten nämlich nicht notwendig unmittelbar ,gefährlich‘, ihm selbst ist nicht ,typischerweise die Herbeiführung einer konkreten Gefahr eigen‘. Eine mögliche konkrete, in der Begehung der Ausführungsdelikte wurzelnde Gefahr für die geschützten Rechtsgüter (des Besonderen Teils) liegt gegebenenfalls weit in der Zukunft und kann von einer Vielzahl weiterer Faktoren, sowie Handlungen und Entscheidungen Dritter abhängig sein, die mit dem organisationsfördernden Verhalten nicht unbedingt in einem Abhängigkeitsverhältnis stehen. Die durch die §§ 129 und 129a StGB verbotene Tätigkeit ist isoliert betrachtet nicht notwendig sicherheitsrelevant. Stellt beispielsweise das durch das abstrakte Gefährdungsdelikt des § 316 StGB unter Strafe verbotene Steuern eines Kraftfahrzeuges im alkoholisierten Zustand selbst eine Beeinträchtigung der Sicherheit (im Straßenver-
„§ 129 ist ein abstraktes Gefährdungsdelikt. Kriminellen Vereinigungen wohnt typischerweise eine von den einzelnen Mitgliedern nicht mehr voll steuerbare Eigendynamik inne. Diese folgt aus der eine bestimmte Festigkeit aufweisenden inneren Organisationsstruktur, der auf Dauer angelegten organisierten Willensbildung und der Zweckrationalität hinsichtlich der Zielerreichung.“ Ähnlich auch Fischer, § 129, Rn. 3; LKKrauß, § 129, Rn. 4. 320 C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 11, Rd. 153. 321 Lackner/Kühl, Vor § 13, Rn. 32; ähnlich auch G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6/86 ff.: Es handelt sich um abstrakte Gefährdungsdelikte, „wenn weder der objektive noch der subjektive Tatbestand auf die Verletzung oder konkrete Gefährdung eines Guts abstellen“; E. Graul, Abstrakte Gefährdungsdelikte und Präsumtionen im Strafrecht (1991), S. 108, 109: „Abstrakte Gefährdungsdelikte sind solche Delikte, die keine Verletzungs- oder konkreten Gefährdungsdelikte im materiellen Sinne sind, d. h. (. . .) bei denen es (. . .) zur Erfüllung des (objektiven) Tatbestandes auf eine Verletzung oder konkrete Gefährdung des geschützten Rechtsguts = Rechtsgutsobjekts nicht ankommt.“ Als typische Beispiele abstrakter Gefährdungsdelikte im StGB gelten die §§ 264 (Subventionsbetrug), 265b (Kreditbetrug), 306a (Schwere Brandstiftung), 314 (Gemeingefährliche Vergiftung), 316 (Trunkenheit im Verkehr), 325 Abs. 2, 326, 327 (Umweltdelikte). Zur Diskussion um die Daseinsberechtigung der abstrakten Gefährdungsdelikte aus kriminalpolitischer Sicht und wegen grundsätzlicher Bedenken im Hinblick auf ihre Legitimierbarkeit siehe zunächst Sch/Sch-Heine, Vorbem. §§ 306 ff., Rn. 3a (m.w. N.). 322 Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland (2007), S. 422, 423, im folgenden Zitat Fußnoten weggelassen.
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kehr) dar und ist typischerweise zur Herbeiführung einer konkreten Gefahr geeignet, so gilt dies für die als Unterstützung einer Terrororganisation verbotene Lieferung eines Kraftfahrzeuges als zukünftiges Fluchtauto in Kenntnis der terroristischen Absichten der Organisation nicht unmittelbar. Die §§ 129 und 129a StGB knüpfen als abstrakte Gefährdungsdelikte an gegebenenfalls weit im Vorfeld einer möglichen konkreten Gefahr liegende Verhaltensweisen an, geschuldet der präventiven Deliktsverhütungsintention.“
Nehring benennt hier zutreffend eine Problematik der Zuordnung der §§ 129 ff. in den Bereich strafbarer abstrakter Gefährdungsdelikte: Die Tathandlungen des Gründens einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung, der Beteiligung an ihr etc. führen nicht schon selbst typischerweise zur Gefährdung oder Verletzung anderer Rechtspositionen;323 ein solcher Erfolgseintritt ist vielmehr, wie Nehring treffend betont, abhängig von vielen weiteren Faktoren, vor allem von Entscheidungen und Handlungen Dritter oder des Täters selbst. Sollen die §§ 129 ff. darauf überprüft werden, ob sie in die Deliktskategorie der abstrakten Gefährdungsdelikte einzuordnen sind und den Anforderungen an Kriminalunrecht gerecht werden, muss zunächst geklärt werden, was genau die Qualität abstrakter Gefährdungsdelikte ausmacht und wie sie als Kriminalunrecht legitimiert werden können.324 Zur Frage der Legitimation dieser Deliktskategorie wird ein breites Spektrum von Meinungen vertreten: Es reicht von der Auffassung, dass die Kategorie abstrakter Gefährdungsdelikte überhaupt keine oder jedenfalls gut lösbare Legitimationsprobleme aufwirft325 bis zur kategorischen Ablehnung der gesamten Deliktsform eben wegen mangelnder Legitimierbar-
323 Vgl. insofern auch J. Puschke, „Grund und Grenzen des Gefährdungsstrafrechts am Beispiel der Vorbereitungsdelikte“ (2010), S. 9 (insbesondere S. 31 ff.). 324 Vgl. dazu zunächst M. Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt (2001), S. 146 ff. 325 Siehe z. B. L. Kuhlen, „Zum Strafrecht der Risikogesellschaft“ GA 1994, 362 ff. (363): „Will man Risiken durch sanktionsbewehrte Verhaltensnormen minimieren (und auf diese Mittel lässt sich, so erwünscht funktionale Äquivalente sind, bis auf weiteres nicht verzichten), so muß man (auch, aber nicht nur, im Blick auf technisch bedingte Gefahrenpotentiale) bei unangemessen gefährlichen Handlungen ansetzen, die im Vorfeld später etwa auftretender Erfolge liegen. Das ist sub specie der strafrechtlichen Zurechnung übrigens weniger problematisch als die Anwendung klassischer Verletzungstatbestände. Denn das ,Gefährdungsstrafrecht‘ verzichtet darauf, die wirklich eingetretenen Rechtsgutsverletzungen einzelnen Individuen wegen eines Fehlverhaltens zuzurechnen, das für sich genommen vielleicht nur einen sehr bescheidenen Beitrag zur Herbeiführung dieser Verletzungen geleistet hat. Es lastet vielmehr, ganz unabhängig davon, ob es wirklich zu einer Schädigung gekommen ist oder nicht, dem einzelnen nur seinen eigenen Gefährdungsbeitrag an.“ (Fn. weggelassen). Vgl. ferner B. Schünemann, „Kritische Anmerkungen zur geistigen Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft“ GA 1995, S. 210 ff.; D. Kratzsch, „Prävention und Unrecht – Eine Replik“ GA 1989, S. 49 (67) und H. Koriath, „Zum Streit um die Gefährdungsdelikte“ GA 2001, S. 51 (74): „Das „Schutzkonzept (,abstrakte Gefährdungsdelikte‘) enthält keine rechtsstaatlichen Probleme.“
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keit326.327 Hier soll deshalb so vorgegangen werden, dass in einem ersten Schritt mögliche Ansätze zur Bestimmung und Rechtfertigung von Gefährdungsunrecht als Strafunrecht aufgezeigt werden, bevor in einem jeweils zweiten Schritt der Frage nachgegangen wird, ob gemessen an diesen Ansätzen die §§ 129 ff. als legitime abstrakte Gefährdungsdelikte begründbar sind oder nicht. a) Die Perspektive der Rechtsgutsverletzungstheorien Unrechtsbegründungen, die, wie die von Marx328, an der Rechtsgutsverletzung ansetzen, können in bloßen Gefährdungen von Rechtsgütern nur unter Hinzunahme zusätzlicher Kriterien Kriminalunrecht sehen. Diese zusätzlichen Kriterien richten sich im Wesentlichen auf das Erfordernis einer bestimmten Nähe des zu beurteilenden Verhaltens zur potentiellen Rechtsgutsverletzung. Marx beschreibt das Spezifikum strafwürdigen Gefährdungsverhaltens so, dass es sich „bis zu einer tatsächlichen Rechtsgutsverletzung zuende denken lassen“ können muss; ist dies nicht der Fall, so sei es dem Gesetzgeber verwehrt, ein solches Verhalten unter Strafe zu stellen. Nach diesem Kriterium muss die Rechtsgutsverletzung also schon im Verhalten selbst angelegt sein und das Verhalten muss
326 So z. B. F. Zieschang, Die Gefährdungsdelikte (1998), S. 380 ff., der von keiner der „angebotenen Begründungen zur Legitimation der abstrakten Gefährlichkeitsdelikte“ überzeugt ist: Bei vielen Delikten erfolge kein Ausschluss der Strafbarkeit bei Ungefährlichkeit im Einzelfall (z. B. bei den §§ 306a und 316); für ein vollendetes Delikt müsse aber an ein konkret gefährliches Verhalten angeknüpft werden, weil sonst nur bloßer Ungehorsam pönalisiert würde, der aber eine Strafbarkeit des Verhaltens nicht rechtfertige (S. 383). Die Deliktskategorie der abstrakten Gefährlichkeitsdelikte sei daher aus dem Kriminalstrafrecht zu entfernen (S. 384). Als Kriminalunrecht dürfe nur konkret gefährliches Verhalten erfasst werden, d. h. die abstrakten Gefährlichkeitsdelikte müssten als konkrete Gefährlichkeitsdelikte ausgestaltet werden (S. 385). Dasselbe, also die Notwendigkeit des Ausschlusses aus dem Bereich des Strafrechts, gelte für die sog. „Risikodelikte“, die sich nach Zieschang dadurch auszeichnen, dass noch nicht einmal generelle Kausalität zwischen Verhalten und Rechtsgutsverletzung nachweisbar ist (vgl. S. 273, 274, 365 ff.). Die Kategorie der Riskodelikte verwische die klassische Unterscheidung zwischen polizeilicher Prävention und Repression: „Jedenfalls die Risikodelikte stellen eine abzulehnende Form von „Risikostrafrecht“ dar, indem vorgelagert zu einem Erfolg zur Minimierung von Unsicherheit bereits ein auf bloßen Vermutungen basierendes eventuell gefährliches Verhalten pönalisiert wird.“ (S. 386). Zu sonstigen „Gefährdungsdeliktsstrukturen“ vgl. das 2. und 3 Kapitel der Arbeit Zieschangs. Vgl. zudem F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge (1991), S. 48: „Es mangelt allen (diesen) dogmatischen Bemühungen um das Gefährdungsstrafrecht an einer Aufklärung des materiellen Substrats von Gefährdungskriminalisierungen.“ (In diese Richtung kritisch auch R. Zaczyk, Besprechung zur o. a. Arbeit von Zieschang, ZStW 115 (2001), S. 192 ff.; kritisch insgesamt auch NK-Hassemer/ Neumann, Vor § 1, Rn. 260. 327 Eine informative Zusammenstellung der zur Legitimationsproblematik abstrakter Gefährdungsdelikte vertretenen Ansätze findet sich bei I. Anastasopoulou, Deliktstypen (2005), S. 79 ff. (m.w. N.). 328 Vgl. dazu die Darstellung oben S. 216 ff.
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ohne notwendige gedankliche Zwischenschritte (etwa: einem erneuten Handeln des Täters oder Dritter) zu ihr hinführen; der Hang oder die Geneigtheit zur Rechtsgutsverletzung genügen daher für strafbares Unrecht nach einem konsequent an der Rechtsgutsverletzung ausgerichteten Unrechtskonzept nicht. Zweifelhaft ist deshalb, ob auch das bloß „typischerweise gefährliche Verhalten“, das die Besonderheit abstrakter Gefährdungen ausmacht, nach den Rechtsgutsverletzungsansätzen als Kriminalunrecht einzuordnen ist. Ein konkreter Gefährdungserfolg, also eine Situation, die einer bestimmten Rechtsgutsverletzung unmittelbar vorgelagert ist, wird bei den abstrakten Gefährdungsdelikten ja gerade nicht gefordert. W. Beck329 beschränkt den Bereich legitimierbarer abstrakter Gefährdungsdelikte dementsprechend: Abstrakte Gefährdungsdelikte zeichnen sich (auch) nach ihm dadurch aus, dass durch sie keine Beeinträchtigung fremder Verhaltensfreiheit bewirkt wird, sondern bloß eine erhöhte Wahrscheinlichkeit einer Gutsgefährdung.330 Grundsätzlich sieht Beck in der Bestrafung von Verhaltensweisen, die bloß die „Besorgnis einer künftigen Rechtsgutsbeeinträchtigung begründen“ 331, kein strafbares, sondern nur ordnungsrechtliches Unrecht. Strafbares Unrecht setzt ihm gemäß entweder eine Verletzung oder zumindest eine konkrete Gefährdung eines Rechtsgutsobjektes voraus. Er begründet dies folgendermaßen: „Ebenso wie bei der Verletzung ist auch bei der Gefährdung auf die Beeinträchtigung der Betätigungschancen in bezug auf das Schutzobjekt abzustellen. Werden die Bedingungen der Gutsbetätigung aktuell beeinträchtigt und wird so eine Verletzungstendenz hervorgebracht, liegt ein unrechtsbegründender Sachverhalt vor. Hieran knüpft die Strafbarkeit des Versuchs und der konkreten Gefährdungsdelikte berechtigterweise an. Die Freiheit anderer wird konkret dem Zufall ausgesetzt.“ 332 Eine Ausnahme von der grundsätzlichen Ablehnung abstrakter Gefährdungsdelikte als Kriminalunrecht will Beck nur dann machen, wenn sich der Täter Mittel bedient, „die grundsätzlich oder aktuell unbeherrschbar sind und dadurch die Betätigungsbedingungen für die Rechtsgüter anderer konkret verschlechtern“ 333; dies sei zum Beispiel bei der Brandstiftung oder bei der Trunkenheitsfahrt der Fall. Dagegen bezwecke der überwiegende Teil der abstrakten Gefährdungsdelikte „den präventiven Schutz im Vorfeld konkreter Rechtsgutsgefährdungen“ und damit verfolgten diese Normen „legitime pädagogische Ziele mit unzulässigen strafrechtlichen Mitteln“ 334. 329 330 331 332 333 334
Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung (1992). W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung (1992), S. 87. Ebenda. Ebenda, S. 86. Ebenda, S. 87. Ebenda, S. 87, 88.
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Nach Beck müssen demnach nicht nur solche Handlungen im Vorfeld von Rechtsgutsverletzungen straflos bleiben, die „äußerlich farblos, d. h. unrechtsunspezifisch sind“ und denen nur „durch Zugrundelegung einer bestimmten Tätervorstellung eine deliktische Tendenz“ zu unterlegen wäre – so sieht es auch Jakobs (vgl. sogleich im Text) –, sondern überhaupt jedes Verhalten, das zwar abstrakte Gefahren birgt, aber die bedrohten Rechtsgüter noch nicht konkret dem Zufall ausgesetzt hat. Ist also für die Realisation der Gefahr eine weitere Betätigung des Täters oder einer dritten Person notwendig, gehörte ein diese Betätigung erleichterndes oder sonst förderndes Verhalten für sich genommen noch nicht zu den Gefahrschaffungen, die vom Strafrecht erfasst werden dürfen. Nach diesem Ansatz335 fehlt es bei den Tathandlungen der §§ 129 ff. an einer die potentiell betroffenen Rechtsgüter dem Zufall aussetzenden Handlung. Denn nicht schon der Gründungsakt, die Beteiligung, die Werbung oder die Unterstützung bedrohen das dem Tatbestand zugrunde liegende Schutzgut – welches bei den §§ 129 ff. zudem bisher nicht schlüssig benannt werden kann336 – sondern erst zukünftige, noch ungewisse Aktionen der kriminellen oder terroristischen Vereinigung.337 Die vorhandene Vereinsorganisation – die nach Rudolphi für sich genommen schon den Grund für Gefährdungsunrecht liefert338 – kann nichts daran ändern, dass für die Realisation der Gefahr ein erneutes Handeln des Täters oder das Tätigwerden Dritter notwendig ist, das als eigenständige Aktion in den durch die Tathandlung angestoßenen Gefährdungsverlauf eingreift. Demnach lassen sich die §§ 129 ff. nach den Rechtsgutsverletzungstheorien nicht in den Kreis der strafrechtlich relevanten abstrakten Gefährdungsdelikte einordnen. b) Besondere Form der Organisationsanmaßung (G. Jakobs) Strafgrund der abstrakten Gefährdungsdelikte ist nach Jakobs die „generelle (vom Einzelfall abstrahierte) Gefährlichkeit eines bestimmten Verhaltens oder eines Verhaltens mit bestimmter Folge.“ 339 Erforderlich seien diese Arten von Kriminalisierungen in sozialen Bereichen, die nur durch „Standardisierungen“ 335
Vgl. auch oben im Text S. 216 ff. Vgl. dazu die Ausführungen auf den S. 182 ff. 337 M. Fürst bemerkt in diesem Zusammenhang, dass die (einzige) abstrakt-generelle Gefährlichkeit individuellen organisationsbezogenen Handelns „in der Konstituierung einer von einer kriminellen Vereinigung ausgehenden Gefahr“ liege. Diese Gefahr werde (aber) nicht schon in jedem störenden, lediglich mittelbar oder potentiell gefährlichen Verhalten virulent, sondern nur in solchen Verhaltensweisen, die die kriminelle Schlagkraft und damit die Gefährdung der Bevölkerung gezielt erhöhen (Grundlagen und Grenzen der §§ 129, 129a StGB (1989), S. 66). 338 SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129, Rn. 3; siehe dazu auch die Umschreibung des Gefährdungspotentials krimineller und terroristischer Vereinigungen oben S. 197 ff. 339 G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6/86 ff. 336
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von Verhaltensweisen organisiert werden können: Beispielsweise der Straßenverkehr, bei dem sich jeder auf das regelförmige Verhalten der jeweils anderen verlassen können muss. In diesen Bereichen dürften abstrakte Gefährdungsdelikte (als strafwürdige Delikte) eingesetzt werden, um eine Steuerung der im jeweiligen sozialen Bereich tätigen Personen zu bewirken, welche die andernfalls (das heißt ohne solche Steuerung) zu erwartenden Schäden verhindere.340 Für legitim hält Jakobs Kriminalisierungen dieser Art, wenn der Täter sich durch sein Verhalten eine „ihm nicht zustehende Organisation“ anmaßt, das heißt, wenn er mit seiner Tathandlung nach außen erkennbar störend agiert, nicht aber schon, wenn er sich dies bloß vornimmt: „Eine Standardisierung privater (interner) Bereiche per Strafrecht scheidet (. . .) aus.“ 341 Legitime Gefährdungsdelikte seien solche, bei denen entweder das (externe) Verhalten selbst schon störe und nur die Schadensneigung dieses Verhaltens generalisierend beschrieben werde (z. B. Falschaussage, Meineid, Brandstiftung an bewohnten Gebäuden), oder bei denen sowohl die Schadensneigung als auch das Verhalten generalisierend festgelegt werde (ein Verhaltenstyp, bei dem der Täter sich manchmal fremde Organisation anmaßt, wird als generell anmaßend definiert, z. B. bei der Trunkenheit im Verkehr). Legitimationsprobleme sieht Jakobs aber bei den Delikten, bei denen ein „Verhalten kriminalisiert wird, das ohne nachfolgendes und seinerseits deliktisches Zutun des Täters oder einer anderen Person überhaupt nicht oder allenfalls minimal gefährlich ist.“ 342 Auch wenn es evident sei, dass mit dem Verhalten ein gefährlicher Verlauf beginne, so sei es auf der anderen Seite ebenso evident, dass die Realisierung der Gefahr erst von Taten drohe, die vielleicht noch nicht einmal geplant, jedenfalls aber noch nicht versucht oder sonst externalisiert worden sind. Nach Jakobs wird ein solches Verhalten nur dann zu Recht mit Strafe sanktioniert, wenn es zur Beurteilung der Gefährlichkeit der Handlung nicht notwendig ist, auf das Innere des Täters (seine Planungen, Vorstellungen, etc.) zu rekurrieren, sondern sich die Gefährlichkeit aus der Tathandlung selbst ergebe (zum Beispiel beim Herstellen von Waffen, Falschgeld oder gefälschten Pässen). Letzteres sei immer dann der Fall, wenn es um die abstrakte Gefahr gehe, dass künftige Delikte irgendeiner Person erleichtert werden, nicht aber schon, wenn die Tathandlung nur unter Hinzunahme des konkreten Täterplans gefährlich erscheine.343 340 G. Jakobs, „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 (767 f.) und ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, 6/86a. Vgl. auch ders., „Was schützt das Strafrecht: Rechtsgüter oder Normgeltung?“ (2003), S. 17 (28). 341 G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6/86a. 342 G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6/86a; ders., „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 (769). 343 G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6/86a. Siehe zu Jakobs’ Legitimationsansatz auch W. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik ,moderner‘ Gefährdungsdelikte (2000), S. 303 ff.; I. Anastasopoulou, Deliktstypen (2005), S. 123 ff.
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Nach Jakobs ist deshalb die Existenz abstrakter Gefährdungsdelikte als Strafunrecht dann gerade noch hinzunehmen, wenn das Verhalten des Täters – unabhängig von seiner inneren Verfasstheit – objektiv einen gefährlichen Verlauf in Gang setzt, auch wenn die Gefahr sich erst durch Dritte oder einen erneuten Akt des Täters zu realisieren droht. Auch nach diesem Ansatz ist also die Beurteilung solcher Gefährdungstatbestände schwierig, die ein Verhalten kriminalisieren, das „ohne nachfolgendes und seinerseits deliktisches Zutun des Täters oder einer anderen Person überhaupt nicht oder allenfalls minimal gefährlich ist“.344 So liegt es, wie gesehen, bei den §§ 129 ff. Wenn es um die Gefahr zukünftiger, ihrerseits noch beherrschbarer Schädigungen geht, hält Jakobs die Pönalisierung solcher abstrakter Gefährdungen dann für legitim, wenn auf die „generelle Gefahr des Verhaltens“ selbst abgestellt wird, „nicht aber auf die Gefahr des speziellen Planungszusammenhangs“ des Täters.345 Es soll also die der Tathandlung objektiv immanente Gefährlichkeit ausschlaggebend sein,346 nicht die mit der Handlung intendierte zukünftige, weil – so Jakobs – sonst das Tatprinzip dadurch verletzt wird, dass auf den Privatbereich des Täters in unzulässiger Weise zugegriffen wird.347 Zu untersuchen ist daher, ob bei den §§ 129 ff. in den Tathandlungen der Vereinigungsgründung und -beteiligung, sowie der Werbung und Unterstützung per se schon objektiv gefährliches Verhalten vorliegt, oder ob sich die Gefahr nur unter Hinzunahme der subjektiven Vorstellungen des Gründers etc. feststellen lässt.348 Nimmt man das Kriterium der „objektiven Gefährlichkeit“ des Verhaltens als Maßstab, muss zunächst der Bezugspunkt dieser Gefährlichkeit geklärt sein. Un-
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G. Jakobs, Strafrecht Allgemeiner Teil, 6/86a. „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 (784, 785). 346 Ähnlich U. Weber, „Die Vorverlagerung des Strafrechtsschutzes durch Gefährdungs- und Unternehmensdelikte“ (1987), S. 1 (31). 347 G. Jakobs, „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 (778). 348 So auch M. Fürst, Grundlagen und Grenzen der §§ 129, 129a StGB (1989), S. 64 ff.: Es stelle sich die Frage, unter welchen Umständen die Handlung eines Individuums als abstrakt gefährlich im Sinne der §§ 129, 129a einzustufen ist. Auszugehen sei dabei von der Einschätzung, dass abstrakte Gefährdungsdelikte, die allein auf die generelle Gefährlichkeit und nicht auf den Erfolg der Tätigkeit abstellen, eine erhebliche Vorverlagerung der Strafbarkeit bewirken und grundsätzlich eine größere Unschärfe und Unbestimmtheit des Tatbestandes mit sich bringen. Jakobs halte mit Recht nur diejenigen abstrakten Gefährdungsdelikte für mit dem Tatprinzip vereinbar, die entweder per se unbeherrschbar gefährliche Verhaltensweisen pönalisieren oder – hinsichtlich beherrschbarer Gefahren – auf die generelle Gefahr des Verhaltens abstellen, nicht aber auf die Gefahr des spezifischen Planungszusammenhangs, in dem das Verhalten steht. Nach Jakobs müsse das Unrecht in der offen zu Tage liegenden abstrakten Gefährlichkeit des Täterverhaltens liegen und dürfe nicht erst durch den Bezug auf Planungen des Täters begründet werden. 345
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ter Berücksichtigung der Grundlegung Jakobs’ 349 kann es hierbei nämlich anders als bei den Rechtsgutsverletzungstheorien nicht um eine Gefahr für ein bestimmtes Rechtsgut gehen. Für Jakobs liegt der Grund strafrechtlichen Unrechts im Normgeltungsschaden, so dass für die Gefährlichkeit einer Handlung maßgeblich sein muss, ob sie der Normgeltung – nicht einem einzelnen Rechtsgut – gefährlich werden kann oder nicht. Die „Gefahr zukünftiger, ihrerseits noch beherrschbarer Schädigungen“ bezieht sich also nicht auf zukünftige, ihrerseits beherrschbare Rechtsgutsverletzungen, sondern auf Normgeltungsschäden. Die Pönalisierung solcher Gefährdungen soll dann davon abhängen, ob die Gefahr für die Normstabilität einer Gesellschaft schon objektiv erkennbar im Tatverhalten selbst steckt oder nur unter Berücksichtigung der Tätervorstellung festgestellt werden kann. Der Gedankengang geht damit in eine Richtung, die (auch, aber nicht nur) bei Jakobs schon bei der Frage auftauchte, ob in den §§ 129 ff. strafbares Vorfeldverhalten liegt: Wird schon durch die Tat des Täters das Gemeinwesen in seinem Normvertrauen erschüttert, kann eine abstrakte Gefährdung des Normbestandes dieses Gemeinwesens bejaht und zu recht bestraft werden; bewegt sich dagegen die Tathandlung im Bereich des Vereinigungs-Innenverhältnisses, so kann auf eine solchen Gefährdung nicht schon durch Deutung des Akts selbst geschlossen werden, womit sich eine Bestrafung nach Jakobs verbietet. Konsequenterweise müsste Jakobs also auch bei der Einordnung der §§ 129 ff. in den Bereich des abstrakten Gefährdungsunrechts differenzieren nach einer Gefährdung der Normgeltung durch die Tathandlung selbst und normgeltungsirrelevantem internem Verhalten. Für die einzelnen Tathandlungen hat sich schon bei der Untersuchung der Vorfeldstrafbarkeit ergeben, dass sie nur ausnahmsweise diese Strafwürdigkeit auslösende Bedrohungswirkung entfalten.350 Im Normalfall wird die Normgeltungsverletzung oder zumindest -gefährdung erst mit Verwirklichung weiterer Handlungen der Vereinigungsmitglieder, insbesondere durch die Begehung von Straftaten aus dem Organisationszusammenhang der Vereinigung heraus, erfolgen, nicht aber schon durch die (unter Umständen geheime) Gründung, Beteiligung, Werbung oder Unterstützung. Auch nach der Lehre Jakobs’ liegt deshalb in den §§ 129 ff. kein legitimes abstraktes Gefährdungsunrecht. c) Beeinträchtigung normativ garantierter Sicherheit (U. Kindhäuser) Nach U. Kindhäuser ist es zur Begründung des Unrechts abstrakter Gefährdungsdelikte notwendig, sich von dem „Angriffsparadigma“ 351 der rechtsgutsbe349 350 351
Vgl. dazu oben S. 237 ff. Siehe dazu nochmals oben S. 237 ff. U. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989), S. 287.
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zogenen Unrechtslehren zu lösen: Ein Verhalten werde im Rahmen der abstrakten Gefährdungsdelikte nicht wegen seiner Tauglichkeit zur Herbeiführung einer Rechtsgutsverletzung verboten, sondern weil es die „zur sorgelosen Verfügung über Güter notwendigen (heteronomen) Sicherheitsbedingungen“ beeinträchtige.352 Nicht die „Verletzungsfinalität“ sei für die Bestimmung des Verbotes der Tat entscheidend, sondern die Beeinträchtigung „normativ garantierter Sicherheit“. Dem Täter werde vorgeworfen, dass die „Bedingungen, derentwegen sein (. . .) schadensrelevantes Verhalten nicht zu einer Verletzung oder konkreten Gefährdung führte, nicht das Ergebnis seiner Schadensvorsorge sind, mit der er hätte rechnen können und dürfen“ 353. Kindhäuser erklärt die Eigenart abstrakter Gefährdungsdelikte also, indem er darauf abstellt, dass sie die „Gewissheit vermitteln, dass eine bestimmte Verfügung über Güter gefahrlos“ möglich ist.354 Dieser Gewissheits-Schutz, nicht der eigentliche Rechtsgüterschutz werde durch die Kategorie der abstrakten Gefährdungsdelikte gewährleistet. Zum Beispiel dürften im Straßenverkehr alle bei Verfügung über ihre eigenen Güter darauf vertrauen, dass niemand betrunken fährt.355 Die Vermittlung solcher Sicherheit sei gerade das Spezifikum der abstrakten Gefährdungsdelikte im Gegensatz zu den Verletzungs- oder konkreten Gefährdungsdelikten. Kindhäuser selbst wirft nach dieser Unrechtsbestimmung die Frage auf, ob die so begründeten Gefährdungstatbestände als strafbewehrtes Unrecht legitimierbar sind: „Das spezifische Problem lautet (. . .), ob unter der Voraussetzung der Legitimität von Strafe als Sanktion auch die Missachtung der Normen abstrakter Gefährdungsdelikte mittels Strafe geahndet werden darf.“ 356 Problematisch könnte die Legitimation aus Kindhäusers Sicht aus zwei Gründen sein: Erstens bestünden Zweifel daran, dass die Geltung der Normen abstrakter Gefährdungsdelikte so „wichtig“ seien, „dass ihre Sanktionierung nicht die Sanktionierung anderer Normen“ entwerteten. Damit ist ein erstes Kriterium für die Qualifikation von 352 Ebenda, S. 280. Vgl. zu dem Ansatz Kindhäusers auch F. Herzog, Gesellschaftliche Unsicherheit und strafrechtliche Daseinsvorsorge (1991), S. 41 ff.; M. Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt (2001), S. 150; B. J. Müssig, Schutz abstrakter Rechtsgüter und abstrakter Rechtsgüterschutz (1994), S. 201 ff.; W. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik ,moderner‘ Gefährdungsdelikte (2000), S. 292 ff.; F. Zieschang, Die Gefährdungsdelikte (1998), S. 351 ff. 353 Ebenda, S. 293. 354 Vgl. zu einem ähnlichen Gedanken schon K. Binding, Die Normen und ihre Übertretung (Nachdruck, 1965), Band 1, S. 372, 373: Das Recht fasse „die Gefährdung (. . .) nicht als teilweise Verletzung (auf), (der Gesetzgeber erblickt) in ihr vielmehr eine eigentümliche Beeinträchtigung des gefährdeten Gutes in d e r U n g e s t ö r t h e i t s e i n e r E x i s t e n z “. „G e f ä h r d u n g i s t i m m e r E r s c h ü t t e r u n g d e r D a s e i n s g e w i s s h e i t .“ (Hervorhebungen im Original). Dazu U. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989), S. 273 ff.; I. Anastasopoulou, Deliktstypen (2005), S. 83 ff. 355 U. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989), S. 337. 356 Ebenda, S. 339.
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Kriminalunrecht benannt: Nur besonders „wichtige“ Normen dürften durch das Mittel der Strafe in ihrer Geltung gesichert werden, damit nicht durch eine Art „Inflation“ von Kriminalstrafe die Wirkkraft des Strafrechts leidet. Als zweites Kriterium dient Kindhäuser die Frage, „ob die mangelnde handlungswirksame Anerkennung der Norm eines abstrakten Gefährdungsdelikts auf ein so großes Defizit an rechtstreuer Motivation und Gerechtigkeitssinn schließen lässt, dass Strafe aus der Perspektive einer auf gerechter Vergeltung aufbauenden positiven Generalprävention angezeigt ist“ 357. Zu der „Wichtigkeit“ der Norm muss also nach diesem Konzept hinzukommen, dass die Verletzung der Norm auf der mangelnden Rechtstreue des Verletzenden beruht. Das erste Kriterium ist nach Kindhäuser nicht schon deswegen erfüllt, weil die Sicherheit den Rang eines fundamentalen Menschenrechts habe und zu einer „idée directrice“ sozialer Lebensgestaltung geworden sei.358 Denn die Sicherheit habe zwar einen hohen Stellenwert in allen Lebensbereichen, aber die Grenze zwischen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht verliefe de lege lata durch den Bereich der Sicherheitsnormen, so dass eine sichere Zuordnung in den berechtigterweise mit Strafe belegten Bereich nicht möglich sei. Auch sei dem Gedanken des Rechtsgüterschutzes kein Argument für die Zuordnung der abstrakten Gefährdungsdelikte zum strafbaren Bereich zu entnehmen: Als hinreichendes Kriterium der Sanktionslegitimation könne nicht auf den Schutz bestimmter Rechtsgüter abgestellt werden, da diese sowohl durch ordnungsrechtliche als auch durch strafrechtliche Normen geschützt werden könnten und faktisch auch würden. Versuche einer Unterscheidung beider Regelungsmaterien habe es zwar gegeben; Kindhäuser verweist hier auf die Arbeiten Goldschmidts und Wolfs. Diese Versuche seien aber nicht von Erfolg gekrönt gewesen. Und auch durch einen Blick auf die Dogmatik des Ordnungswidrigkeitenrechts sei die Abgrenzung nicht zu begründen. Jedenfalls soll aber nach Kindhäuser notwendige (wenn auch nicht hinreichende) Bedingung für die Sanktionierung einer Norm die Tatsache sein, dass sie „allseitig vorteilhaft“ ist. Eine „allseitig vorteilhafte Norm“ zeichne sich dadurch aus, „dass sich (fast) jeder an sie hält. Da jedoch die Gefahr besteht, dass man selbst der Dumme ist, wenn sich nicht auch (fast) alle anderen an die Norm halten, ist es rational, die Norm ebenfalls nicht zu befolgen. Vertrauen, das nicht reziprok abgesichert ist, nützt nicht, sondern schadet. Ein anderes Beispiel: Es ist am günstigsten keinen Fahrpreis zu entrichten, wenn die anderen dies tun und auf diese Weise ein öffentliches Verkehrsmittel finanzieren, das – dies sei unterstellt – preiswerter ist als die Benutzung eines privaten. Handeln jedoch alle rational, indem sie schwarz fahren, so wird von ihnen die Möglichkeit preisgegeben, mit einem öffentlichen Verkehrsmittel die allseitig vorteilhafteste Lösung zu realisie357 358
Ebenda, S. 340. Ebenda.
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ren. Allseitig vorteilhafte soziale Normen setzen notwendig das Vertrauen in ihre möglichst weitgehende Befolgung voraus. Doch für dieses Vertrauen gibt es keine rationale Grundlage, weil die individuell vorteilhafteste Möglichkeit das Schwarzfahren unter Ausnutzung der Normtreue der andern ist. Deshalb ist die Durchsetzung allseitiger Normbefolgung durch Zwang notwendige Bedingung der Erlangung des Vorteils, den die allseitig vorteilhafte Norm bietet. Da sich mithin jeder besser stellt, wenn die allseitig vorteilhafte Norm durch Zwang gesichert ist – ohne diesen Zwang ist die Norm nicht realisierbar –, ist der Zwang selbst allseitig vorteilhaft und damit konsensfähig. Zwang ist grundsätzlich legitim.“ 359 Der mit der Strafe verbundene sozialethische Tadel sei ähnlich zu begründen wie die Zwangssanktion. Der Normwiderspruch impliziere einen Mangel an Gerechtigkeitssinn, weil der Täter den Vorteil, den die Geltung der Norm bietet, in Anspruch nehme, ohne seinen Beitrag zu leisten. Das „Bezugsniveau der Strafe“ sei „dasjenige Maß an rechtstreuer Motivation, das erforderlich ist, damit die Norm zum allseitigen Vorteil faktisch gilt“ 360. Das Übel, auf das durch Strafe retributiv geantwortet wird, sei der Geltungsverlust der Norm durch mangelnde handlungswirksame Anerkennung, Schuld sei das sozialschädliche Defizit an Gerechtigkeitssinn. Kindhäuser selbst stellt den Zusammenhang folgendermaßen dar: Zweck der Kriminalstrafe ist „eine auf gerechter Vergeltung beruhende (positive) Generalprävention. Bezugspunkt der Strafe ist der Geltungsverlust, den die Norm durch ihre Desavouierung erfahren hat. Vergeltung meint symbolischen Ausgleich des Defizits rechtstreuer Motivation, der in der Tat zum Ausdruck gekommen ist, wobei äußeres Kriterium der Strafdistribution der Anerkennungswert ist, der der Norm in einer gerechten und die freie Entfaltung des Einzelnen sichernden Rechtsordnung zukommen soll. Subjektives Kriterium der Strafzumessung ist die Schuld des Täters, für die wiederum der Mangel an Gerechtigkeitssinn wesentlich ist: Maß der Schuld ist das Maß, in dem der Täter das berechtigterweise in ihn als Person gesetzte Vertrauen auf Achtung der schutzwürdigen Belange anderer, auf die er selbst zur freien Entfaltung angewiesen ist, verletzt.“ 361 Fasse man die beiden Kriterien schuldangemessener Strafe (Mangel an Gerechtigkeitssinn aufgrund der Missachtung einer distributiv vorteilhaften Norm) zusammen, so ergebe sich, dass „die Tat umso strafwürdiger ist, je elementarer die Geltung der Norm zur allseitig vorteilhafter Koexistenz ist“ 362. 359
Gefährdung als Straftat (1989), S. 155, 156. Ebenda, S. 156. 361 Ebenda, S. 343, siehe auch S. 153 ff. Vgl. dazu ferner U. Kindhäuser, „Personalität, Schuld und Vergeltung“ GA 1989, S. 493 ff., ders., „Strafe, Strafrechtsgut und Rechtsgüterschutz“ (1990), S. 29 ff., ders., „Rechtstreue als Schuldkategorie“ ZStW 1995, S. 701 ff. 362 U. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989), S. 343. 360
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Für eine legitime Strafsanktion verlangt Kindhäuser zudem, dass die Norm nicht bloß allgemeinen „Wohlstand zweckrational“ sichert oder hebt, sondern mit Gewissheit für „jeden einzelnen von Vorteil“, also in seiner Wortwahl „allseitig vorteilhaft“ ist. Er begründet dies damit, dass ein Widerspruch gegen eine bloße Wohlstandsnorm keinen Mangel an Gerechtigkeitssinn erkennen lasse. Die als abstrakte Gefährdungsdelikte in Frage kommenden Sicherheitsnormen seien weitgehend distributiv vorteilhaft in diesem Sinne und deswegen prinzipiell durch Kriminalstrafe sanktionierbar. Die Begrenzung des Strafrechts sei deshalb ausschließlich eine Frage rationaler und evaluativ konsistenter Kriminalpolitik363, hinter der Unterscheidung Ordnungsrecht/Strafrecht stehe nur „kriminalpolitischer Kalkül“ und die „Antwort auf die Frage nach der Legitimität der Differenzierung“ sei „teleologisch mit Blick auf die jeweiligen Sanktionszwecke zu geben“.364 Der Grundgedanke, der Kindhäuser gemäß die Kriminalpolitik leiten soll, ist, dass das Strafrecht durch zu großzügige Verwendung von Kriminalstrafe, besonders im Bagatellbereich, entwertet und dadurch in seinem Präventiveffekt geschmälert werde. Zu vermeiden sei daher die Strafbewehrung von Normen, die „dem Niveau des Anerkennungswertes der zum Kernbereich elementarer Freiheitsnormen zählenden Verhaltensregeln nicht gerecht“ werde. Wer beispielsweise eine Bagatelle durch dieselbe Form des Übels ahnde wie eine Missachtung des Tötungsverbotes (also durch Kriminalstrafe), bagatellisiere der Form nach den Anerkennungswert des Tötungsverbotes.365 Es sei daher kurzsichtig, den Stabilisierungseffekt von Normen geringerer Gravität durch Strafbewehrung erhöhen zu wollen, wenn dadurch elementare Normen allseitiger Freiheitskoexistenz abgewertet würden. Daraus folgert Kindhäuser, dass „durch jedes abstrakte Gefährdungsdelikt das Strafrecht an Gewicht verliert“ und dass die „permanente ,Vorverlagerung‘ des Strafrechtsschutzes eine permanente Schwächung der – für die Integrationsleistung der Strafe notwendigen – evaluativen Gewichtigkeit des Verbrechens als Sanktionsvoraussetzung“ bedeute. Bei der mit den Ordnungswidrigkeiten verbundenen Geldbuße handele es sich im Gegensatz zur Strafe nicht um einen rechtsethischen Tadel, sondern um bloßen Zwang, der nicht wie die positive Generalprävention wechselseitiges Vertrauen in die Rechtstreue stabilisieren soll, sondern bloßer Abschreckung diene. Mit dieser Unterscheidung positiver und negativer Generalprävention lasse sich das ultima ratio Prinzip präzisieren: „Erst dann, wenn sich Sicherheitsnormen durch Abschreckung nicht mehr ausreichend garantieren lassen, kommt Strafe statt Geldbuße überhaupt in Betracht.“ 366 363 364 365 366
Ebenda, S. 344. Ebenda, S. 342. Ebenda. Ebenda, S. 345.
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Nach Kindhäuser sind also für die Frage nach der Legitimität abstrakter Gefährdungsdelikte als Strafnormen zwei Aspekte zu beachten: Erstens muss für eine schuldangemessene Bestrafung beim Täter ein Mangel an Gerechtigkeitssinn dadurch offenkundig werden, dass er eine „allseitig vorteilhafte Norm“ bricht, wobei die Tat umso strafwürdiger ist, je elementarer die Geltung dieser Norm zur allseitig vorteilhaften Koexistenz ist. Zweitens muss hinzukommen, dass diese Norm durch eine bloß abschreckend wirkende ordnungsrechtliche Sanktion (Buße) nicht ausreichend zu garantieren sei, und deshalb die Strafe als positiv-generalpräventive Sanktion notwendig wird. Bezogen auf die in Frage stehenden abstrakten Gefährdungsdelikte sieht Kindhäuser das erste Kriterium größtenteils als erfüllt an: Die als „Gegenstand abstrakter Gefährdungsdelikte in Betracht kommenden Sicherheitsnormen“ seien „– ungeachtet einer genauen Einzelanalyse – weitgehend distributiv vorteilhaft, also prinzipiell durch Kriminalstrafe sanktionierbar.“ 367 Im Hinblick auf das zweite Kriterium sind abstrakte Gefährdungen nach Kindhäuser aber „regelmäßig“ eher durch Geldbuße als durch Strafe zu ahnden, da es sonst zu einer Abwertung derjenigen Normen kommen könnte, „die elementare Bedingungen allseitiger Freiheitskoexistenz schützen“ und damit die „für die Integrationsleistung der Strafe notwendige erhebliche Gravität der Schuld als Sanktionsvoraussetzung“ verringert werde.368 Beide Kriterien sind nun auf die Frage nach der Unrechtsqualität der §§ 129 ff. anzuwenden. Die Vorschriften haben zum Ziel, die Rechtsgemeinschaft vor Straftaten zu schützen, die durch kriminelle bzw. terroristische Vereinigungen begangen werden könnten. Diese „Sicherheit vor Straftaten“ lässt sich durchaus als Gegenstand einer besonders „wichtigen“ Norm im Sinne Kindhäusers verstehen, hängt doch von ihrer Geltung ab, ob die Bürger einer Rechtsgemeinschaft die Gewiss-
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Ebenda, S. 344. U. Kindhäuser, Gefährdung als Straftat (1989), S. 355 (Er weist zudem darauf hin, dass nach seinem Konzept die Sicherheitsnormen „gängige Abgrenzungskriterien zwischen Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht obsolet machen“). Ähnlich auch ders., „Sicherheitsstrafrecht“ Universitas 1992, S. 227 (234). Weniger restriktiv ders., „Rationaler Rechtsgüterschutz durch Verletzungs- und Gefährdungsverbote“ (1998), S. 263 (279): Es dürfe nicht übersehen werden, dass die Sicherheit zu einer „idée directrice sozialer Interaktion“ avanciert sei und damit durchaus fallweise Berücksichtigung in dem vom Strafrecht abgebildeten Tableau gesellschaftlicher Werte beanspruchen dürfe. Neuerdings aber wieder skeptischer Kindhäuser, „Schuld und Strafe‘“ (2006), S. 81 (94): „(. . .) Eine andere Frage ist es, wie zu einem Sicherheitsrecht, das sich nicht mehr in ein legitimes Schuldstrafrecht einbinden lässt, Stellung zu beziehen ist. Die sich aufdrängende Antwort dürfte wohl lauten, zur Verhinderung von Mutationen an der klaren Aufgabenteilung von Straf- und Polizeirecht festzuhalten und folglich ein solches Sicherheitsrecht sachlich wie terminologisch dem Ordnungsrecht mit seinen spezifischen, verfassungsrechtlich zu fundierenden Eingriffsvoraussetzungen zuzuweisen.“ 368
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heit haben, dass ihre rechtskonforme Verfügung über ihre eigenen Güter, also ein angstfreies Leben in Gemeinschaft, weiterhin möglich ist. Es handelt sich bei dieser Sicherheit auch um mehr als um bloßen „Wohlstandsschutz“, es geht um den Erhalt „allseits vorteilhafter“ Normen im Sinne Kindhäusers. Bei dem Versuch, das zweite Kriterium Kindhäusers auf die §§ 129 ff. anzuwenden, stellt sich allerdings eine Problematik seines Ansatzes heraus: Die Norm dürfe nicht durch eine bloß abschreckend wirkende ordnungsrechtliche Sanktion ausreichend zu garantieren, vielmehr müsse die Strafe als positivgeneralpräventive Sanktion notwendig sein. Dieses Kriterium sei „regelmäßig“ nicht erfüllt, da abstrakte Gefährdungen „eher“ durch Geldbuße als durch Strafe zu ahnden seien, da es sonst zu einer Abwertung derjenigen Normen kommen könnte, „die elementare Bedingungen allseitiger Freiheitskoexistenz schützen“ und damit die „für die Integrationsleistung der Strafe notwendige erhebliche Gravität der Schuld als Sanktionsvoraussetzung“ verringert werde. Dies bedeutet im Umkehrschluss, dass Kindhäuser die abstrakten Gefährdungsdelikte in aller Regel nicht für Normen hält, die „elementare Bedingungen allseitiger Freiheitskoexistenz schützen“; nur beim Bruch letzterer sei die für eine Strafsanktion erforderliche Gravität der Schuld gegeben. Hier führt Kindhäuser ein materielles, wenn auch nicht ausgearbeitetes Kriterium für Strafunrecht ein, dass er bei den abstrakten Gefährdungsdelikten in der Regel nicht als erfüllt ansieht. Die sich daran anschließende Frage lautet aber: Warum nicht? Das Problem liegt darin, dass dieses materielle Kriterium, „Schutz elementarer Bedingungen allseitiger Freiheitskoexistenz“, nicht weiter konkretisiert wird. Verschiebt Kindhäuser diese Konkretisierungsleistung auf die Kriminalpolitik, so leistet seine Theorie nicht das, was sie als Begründungstheorie abstrakten Gefährdungsunrechts leisten müsste: Nämlich dem Gesetzgeber Vorgaben dafür zu liefern, was inhaltlich als strafwürdiges Unrecht gelten darf und was nicht.369 Argumentiert man, wie Kindhäuser es tut, damit, dass als strafbares Unrecht nur ausgestaltet sein darf, was Strafe notwendig macht, gerät man notwendig in den folgenden Zirkelschluss: Strafbar ist ein Verhalten dann, wenn seine Verhinderung Strafe notwendig macht. Diesen Zirkelschluss kann der Gesetzgeber nur durch eine – letztlich willkürliche – Entscheidung durchbrechen, mit der er schlicht festlegt, welches Verhalten die strafrechtliche Reaktion der Gesellschaft notwendig macht und welches nicht. Materiellen Bindungen unterliegt er dann nicht. Dies sieht Kindhäusers selbst, wenn er schreibt, dass die Frage, ob (bestimmte) abstrakte Gefährdungsdelikte als Strafnormen geschaffen werden dürfen, allein Frage des „kriminalpolitischen Kalküls“ sei.370 Dass dies aber unzureichend ist, zeigt sich (spätestens) dann, wenn eine konkrete Norm, hier die §§ 129 ff., auf ihre Legi369
So sieht es auch C. Prittwitz, Strafrecht und Risiko (1993), S. 155, 156. Kritisch dazu auch W. Wohlers, Deliktstypen des Präventionsstrafrechts – zur Dogmatik ,moderner‘ Gefährdungsdelikte (2000), S. 295, 296. 370
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timität hin überprüft werden sollen: Kindhäusers Ansatz kann leider nicht dazu beitragen, diese Frage zu beantworten. d) Die Perspektive des freiheitlichen Unrechtsbegriffs (E. A. Wolff u. a.) Geht man von einem Unrechtsbegriff aus, der auf die Verletzung wechselseitigen Basisvertrauens abstellt,371 so kann Gefährdungsunrecht nur dann Kriminalunrecht sein, wenn schon durch die Gefährdungshandlung selbst fremdes Freiheitsdasein in einer Weise angegriffen wird, die es dem Gegenüber unmöglich macht, sich auf die (drohende) Verletzung einzustellen, ihr zu begegnen bzw. sich vor ihr zu schützen.372 Diese Eigenschaft haben nach Wolff nur Angriffe, die die „Basis der Selbstständigkeit“ des oder der Anderen betreffen, womit einerseits eine (unrechtsquantitative) Abgrenzung zu reinen Bagatellen möglich ist373, andererseits aber auch eine bestimmte Qualität von Kriminalunrecht beschrieben ist, die dann auch bei strafwürdigem Gefährdungsunrecht gegeben sein muss. Im (abstrakt) gefährdenden Verhalten muss schon die Verletzung des konstituierten Gleichheitsverhältnisses liegen, d. h. der zu respektierende Freiheitsraum des anderen muss durch die Tat des Täters so eingeschränkt werden, dass es dem oder den Angegriffenen unmöglich wird, in Gleichheit neben dem Täter bestehen zu bleiben. Kriminalunrecht kann deshalb nicht schon in jeder Beeinträchtigung abstrakter Bestandsbedingungen für personale Freiheit liegen.374 Köhler formuliert die Anforderungen an Gefährdungsunrecht folgendermaßen: „Erst wenn die gesetzte Gefahrenkonstellation ihrem eigenen Maß nach fremdes Freiheitsdasein schon erheblich beeinträchtigt und daher einer Gutsverletzung gleichkommt“, lasse sich abstraktes Gefährdungsunrecht als Strafunrecht begrün371 Vgl. dazu schon oben, S. 247 ff., die von E. A. Wolff, M. Köhler und R. Zaczyk begründeten Ansätze, die das Verbrechen als Freiheitsverletzung begreifen. 372 Vgl. dazu auch M. Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt (2001), S. 146, 147: Strafgesetzliche Gefährdungstatbestände dürften „legitimerweise nur solche Handlungen zu Kriminalunrecht bestimmen, die auf die Rechtssphäre eines Mit-Subjekts, auf dessen rechtlich zu schützende Daseins- und handlungsfreiheit, als personal verantwortbare ,Facta‘ unmittelbaren oder mittelbaren Einfluß haben (Können). Und da es um konkret-reale Selbstbestimmung im gegenseitig-rechtlichen Verhältnis geht, kann hierfür nicht schon jede, sei es noch so entfernte Möglichkeit solcher Beeinflussung genügen, so dass eine beliebig-unbeschränkte Strafrechtsausdehung nach dem Gdanken der Gefährdung ausgeschlossen ist.“ (Fn. weggelassen). 373 Köhler benennt hier als Beispiel für den Bagatellcharakter einer Tat die vorübergehende Besitzstörung oder Gebrauchsanmaßung im Gegensatz zum Diebstahl (M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 30). In einer kurzfristigen Unverfügbarkeit über eine Sache liegt noch keine die rechtliche Selbständigkeit des anderen betreffende Negation seines allgemeingültig anerkannten Eigentumsrechts, wohl aber in einem auf Dauer angelegten Entzug dieses Teils seiner äußeren Freiheitsbetätigungsmöglichkeit. 374 M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 30.
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den.375 Dies sei regelmäßig dann nicht der Fall, wenn Gefahrbedingungen geschaffen werden, deren Umschlagen in Verletzungen regelmäßig noch vom selbstbestimmten Verhalten, sei es des Täters, sei es eines anderen abhängt (wie beispielsweise bei der Abgabe gefahrenträchtiger Gegenstände). Kriminalunrecht sei dagegen bei abstrakten Gefährdungen gegeben, wenn Bedingungen „von einer Art gesetzt werden, durch die das Umschlagen in eine erheblichere konkrete Gefahr oder Verletzung typischerweise eröffnet wird, – und zwar auf eine Weise, dass auch selbstbestimmt-gefahrenhinderndes Handeln des Täters oder anderer ausgeschlossen ist oder nur noch zufällig erscheint“ 376. Als Beispiele für solche zu Recht als Kriminalunrecht ausgestalteten Gefährdungen nennt Köhler die Trunkenheitsfahrt (weil bei typischer Verkehrsdichte das Risiko von Verletzungen durch selbstbestimmtes Handeln des Fahrers oder anderer Verkehrsteilnehmer nicht oder nur zufällig beschränkt werden könne, wenn der Fahrer zum Führen eines Fahrzeugs nicht mehr in der Lage ist) oder die mangelnde Kontrolle schwerer Naturgefahren – gemeint sein können nur solche, die überhaupt menschlich kontrollierbar sind (Anm. der Verf.) –, weil sie, einmal freigesetzt, nicht oder kaum noch beherrschbar seien. Abzugrenzen seien solche legitimerweise mit Strafe bewehrten Gefahrschaffungen von bloß zivil- und ordnungsrechtlichem Gefährdungsunrecht. Diesem sei nicht durch Strafe zu begegnen, sondern durch staatliche Sicherheits- und Ordnungsregeln, etwa durch privatrechtliche Sorgfaltsregeln oder durch Ordnungsnormen (z. B. im Rahmen des Polizeirechts). Zu dem Kriterium Köhlers, dass die Verletzung des Rechtsverhältnisses nach der Unrechtstat nicht mehr vom freien Handeln eines Anderen oder des Täters abhängen darf, sondern dem Zufall überlassen ist, kommt ein weiteres qualitatives Erfordernis an das gefährdende Verhalten hinzu. Dieses lässt sich herleiten, wenn zunächst die Überlegungen Zaczyks zum Grund des Unrechts und näher der Versuchsstrafbarkeit377 in Erinnerung gerufen werden: Die materielle Basis des Daseins der Rechtsgüter ist die Anerkennungsleistung durch die Beteiligten selbst: „Gegenseitige Freiheit stellt sich auch im Staat nicht sekundär durch Zwang her, sondern bedarf einer Zurücknahme des Kreises instrumental möglicher Handlungen unter den Begriff der Freiheit einer anderen Rechtsperson als gleichfalls autonomer. Eine solche Zurücknahme ist nur als reflexive Leistung eines vernünftigen Wesens verständlich zu machen.“ 378 Darin liege der Grund dafür, dass Unrecht immer nur als Werk einer Rechtsperson begriffen werden könne, und es lasse sich zeigen, dass „der Wille des Einzelnen 375
Ebenda. Ebenda, S. 32. Ähnlich M. Kahlo, Die Handlungsform der Unterlassung als Kriminaldelikt (2001), S. 154–157. 377 R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989), S. 232 ff. 378 Ebenda, S. 233. 376
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(. . .) für das Recht eine überlegene Bedeutung gegenüber der äußeren Gestaltung des Daseins besitzt. Denn wenn für das Recht überhaupt nur der Bereich von Belang ist, in dem Willenssubjekte sich zueinander verhalten, liegt darin auch die Abhängigkeit der äußeren Gestaltung (. . .) vom Willen der Beteiligten beschlossen. Jede äußere Veränderung als Unrecht hat damit notwendig ihren Grund im Bewusstsein und gestaltenden Willen des Täters – seien sie auf Verletzungen gerichtet, seien sie mangelhaft in der Einbeziehung der fremden Sphäre in die eigene Handlungslenkung.“ 379 Wenn aber das Rechtsgut sein Dasein nur der Anerkennung durch die Anderen verdankt, dann wird mit der „Wandlung des anerkennenden in den verletzenden Willen“ dem Rechtsgut die Basis entzogen. „Denn wie die anerkennenden Handlungen Folge der entsprechenden Willensbestimmungen waren, so sind auch die verletzenden Handlungen im Verständnis der anderen Rechtsperson bewirkbare Folgen des Verletzungswillens.“ 380 Dieser sei nicht etwa nur generell „böser Wille“, der sich äußerlich gegen die Rechtsordnung im ganzen wendet, sondern er sei in seiner konkreten Fassung als Verletzungswille die Negation dessen, was das Rechtsgut überhaupt hervorbringt (nämlich der gegenseitigen Anerkennungsleistung, Anm. der Verf.).381 Mit diesen Überlegungen wird die Bedeutung des Entschlusses des einzelnen Subjekts zum Unrecht hervorgehoben. Wie die tätige Anerkennung – oder anders formuliert: die standhafte Nichtverletzung – des Gegenübers Leistung des einzelnen Subjekts ist, so ist auch umgekehrt die (Rechts-)Verletzung seine Fehlleistung: Das Subjekt bezieht bei der Gefährdung die fremde Sphäre in die eigene Handlungslenkung nur mangelhaft ein (Formulierung von Zaczyk); das „DemZufall-Aussetzen“ dieser fremden Freiheitssphäre ist Werk des Subjekts, es steht als Umsetzung seines gestaltenden Willens in seiner Verantwortung und kann damit Grund für die strafende Reaktion der Rechtsgemeinschaft sein. Für die Qualifikation von abstraktem Gefährdungsunrecht als Kriminalunrecht ist also nach einem solchen freiheitlichen Unrechtsbegriff entscheidend, dass in dem Verhalten des Täters schon ein verschuldeter, d. h. auf seinem selbstbestimmten Entschluss zum Unrecht beruhender382, Ansatz zum Rechtsverhältnisbruch liegt; dies ist einerseits nur dann der Fall, wenn der Täter Bedingungen für eine Verletzung anderer setzt, die ohne weitere selbstbestimmte Akte seiner selbst oder Anderer typischerweise bis zu einer Verhältnisverletzung fortwirken (können). Andererseits wird ihm dabei nicht allein die Gefahrschaffung (etwa für ein bestimmtes Gut) vorgeworfen, sondern die Verwandlung eines zu Recht auf gegenseitigem Vertrauen in das vernünftige Verhalten des anderen basierenden 379
Ebenda. Ebenda (Hervorhebung im Original). 381 Ebenda, S. 234. 382 Vgl. dazu etwa M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 348 ff.; R. Zaczyk, „Schuld als Rechtsbegriff“ (2000), S. 103 ff. 380
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Rechtsverhältnisses in ein Verhältnis notwendigen Misstrauens, das dadurch entsteht, dass der Täter die Freiheitssphäre des anderen entgegen seiner eigenen Einsicht in die grundsätzliche Berechtigung fremden Grundvertrauens bewusst dem Zufall aussetzt. Erforderlich für abstraktes Gefährdungskriminalunrecht ist also nach diesem freiheitlichen Ansatz zweierlei: Erstens muss die Gefahr für eine fremde Rechtssphäre in einer Weise geschaffen sein, dass sie sich unmittelbar verwirklichen kann, dass also ihre Realisierung nur noch vom Zufall und nicht von erneutem – freien – Handeln des Täters oder Dritter abhängt (insofern ist der Ansatz vergleichbar mit dem der Rechtsgutslehren, die ebenfalls auf eine solche unbeherrschbare Bedrohung eines Rechtsguts abstellen). Zweitens muss aber auch die Gefahrschaffung selbst von bestimmter Qualität sein: In ihr muss eine Negation des verbindenden Gleichheitsverhältnisses liegen, d. h. es muss sich um eine (verschuldete) Vertrauensverletzung handeln, bei der es nicht nur darum geht, dass überhaupt Gefahren (für den anderen) geschaffen werden, sondern darum, dass mit der (bewussten)383 Gefährdung anderer Rechtssubjekte eine angemaßte Überordnung über sie verbunden ist. Schon das erste Kriterium des freiheitlichen Unrechtsbegriffs für legitimes (abstraktes) Gefährdungsunrecht ist bei den §§ 129 ff. nicht erfüllt: Die Gefahr für eine fremde Rechtssphäre wird beim Gründen einer kriminellen bzw. terroristischen Vereinigung sowie bei der Beteiligung an ihr, der Werbung für sie oder ihrer sonstigen Unterstützung nicht in einer Weise geschaffen, dass sie sich unmittelbar verwirklichen kann. Ihre Realisierung ist gerade nicht bloß vom Zufall, sondern gerade von erneutem selbstbestimmtem Handeln des Täters oder Dritter abhängig. Insofern sind schon aus diesem Grund Zweifel an der Einordnung in den Bereich des strafbaren täterschaftlichen Gefährdungsunrechts begründet. Die zweite Bedingung des freiheitlichen Ansatzes hängt – wie beschrieben – mit der ersten zusammen: Das „Dem-Zufall-Aussetzten“ muss Produkt des gestaltenden Willens des Täters sein, er muss durch seine Tat das verbindende Gleichheitsverhältnis zwischen ihm und den anderen negieren. Da schon eine entsprechende objektive Tathandlung nicht vorliegt, kann dem Täter auch keine ihm zurechenbare Verhältnisverletzung vorgeworfen werden. Auch nach diesem freiheitlichen Unrechtsbegriff kann die Bildung krimineller oder terroristischer Vereinigungen also nicht als strafwürdiges Gefährdungsunrecht qualifiziert werden.
383 In einer unbewussten Gefährdung kann dementsprechend eine verantwortete Negation des Rechtsverhältnisses zu anderen nicht liegen; strafbar darf ein solches Verhalten also nicht sein.
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e) Zusammenfassung zu 2. Nach einer Unrechtsbegründung, die wesentlich auf die Rechtsgutsverletzung abstellt, kann strafbares Unrecht nur dann vorliegen, wenn die Gefährdungshandlung das bedrohte Rechtsgut tatsächlich schon dem Zufall ausgesetzt hat (Rechtsgutsgefährdung). Ist dagegen für die Realisation der Gefahr eine weitere Betätigung des Täters oder einer dritten Person notwendig, kann von einer für die Qualifikation als Kriminalunrecht ausreichenden Gefahrschaffung nach diesem Ansatz nicht die Rede sein. Nach Jakobs ist abstraktes Gefährdungskriminalunrecht dann gerade noch gegeben, wenn das Verhalten des Täters – unabhängig von seiner inneren Verfasstheit – objektiv einen gefährlichen Verlauf in Gang setzt, auch wenn die Gefahr sich erst durch Dritte oder einen erneuten Akt des Täters zu realisieren droht. Nach Kindhäuser sind zwei Gesichtspunkte für die Bewertung von Gefährdungshandlungen als strafbares Unrecht maßgeblich: Erstens muss für eine schuldangemessene Bestrafung beim Täter ein Mangel an Gerechtigkeitssinn dadurch offenkundig werden, dass er eine „allseitig vorteilhafte Norm“ bricht. Zweitens muss hinzukommen, dass diese Norm durch eine bloß abschreckend wirkende ordnungsrechtliche Sanktion nicht ausreichend zu garantieren und deshalb die Strafe als positiv-generalpräventive Sanktion notwendig ist. Kindhäuser sieht das erste Kriterium bei den meisten abstrakten Gefährdungsdelikten als erfüllt an, weil die als „Gegenstand abstrakter Gefährdungsdelikte in Betracht kommenden Sicherheitsnormen weitgehend distributiv vorteilhaft“ sind. Das zweite Kriterium sei hingegen „regelmäßig“ nicht erfüllt, da abstrakte Gefährdungen „eher“ durch Geldbuße als durch Strafe zu ahnden seien, da es sonst zu einer Abwertung derjenigen Normen kommen könnte, „die elementare Bedingungen allseitiger Freiheitskoexistenz schützen“ und damit die „für die Integrationsleistung der Strafe notwendige erhebliche Gravität der Schuld als Sanktionsvoraussetzung“ verringert werde. Ausgehend von einem aus der Freiheit des Subjekts abgeleiteten strafrechtlichen Unrechtsbegriff wurden zwei Bedingungen für abstraktes Gefährdungskriminalunrecht herausgearbeitet: Erstens muss – wie beim Rechtsgutsverletzungsansatz auch – die Gefahr für eine fremde Rechtssphäre in einer Weise geschaffen sein, dass sie sich unmittelbar verwirklichen kann, dass also ihre Realisierung nur noch vom Zufall und nicht von erneutem – freien – Handeln des Täters oder Dritter abhängt. Zweitens muss in der Gefahrschaffung selbst eine Negation des verbindenden Gleichheitsverhältnisses liegen, d. h. es muss sich um eine (verschuldete) Vertrauensverletzung handeln, bei der mit der (bewussten) Gefährdung anderer Rechtssubjekte eine angemaßte Überordnung über sie verbunden ist. Von keinem der ausgearbeiteten Legitimationsansätze zum abstrakten Gefährdungsunrecht werden die Tathandlungen der §§ 129 ff. erfasst, so dass es sich bei der Bildung krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen weder um legitimes
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Vorfeldunrecht (dazu unter 1.) noch um strafwürdige abstrakte Gefährdungsdelikte handelt.384 3. Die Tathandlungen der §§ 129 ff. StGB als „politische Organisationsanmaßung“ (Cancio Meliá)? M. Cancio Meliá hat in seinen Überlegungen zum Unrecht der kriminellen Vereinigung385 einen möglichen weiteren Grund für die Strafbarkeit der Tathandlungen der §§ 129 ff. vorgestellt. Weder die besondere Gefährlichkeit krimineller bzw. terroristischer Vereinigungen noch der Gedanke der Vorverlagerung der Strafbarkeit könne den Unrechtsgehalt der §§ 129 ff. begründen; die spezifische Dimension des Unrechts der kriminellen Vereinigung liege vielmehr in folgendem: „Sie beansprucht einen (illegitimen) Platz im öffentlichen Leben. Es handelt sich also um eine Organisationsanmaßung (. . .): Die kriminelle Vereinigung maßt sich die Ausübung von staatlichen Hoheitsrechten an. (. . .) Sie konterkariert das staatliche Gewaltmonopol.“ 386 Durch die terroristische Organisation werde die „Macht des (demokratischen Rechts-)Staates“ angegriffen und die spezifische Gefährlichkeit des Terrorismus läge „jenseits der konkreten Rechtsgutsverletzungen in einem (ideellen) Angriff auf den Staat“ 387. Beim Terrorismus handle es sich um „ein kollektives System“, das „eine eigene Position in der öffentlichen Sphäre, konkret: die Ausübung von Gewalt zu politischen Zwecken, beansprucht: Nur so, als eigene Größe, kann es eine wirkliche Herausforderung des Staates inszenieren.“ 388 Dies gelte ähnlich auch für kriminelle Vereinigungen, bei denen ebenfalls eine „Frontstellung gegen den Staat“ festzustellen sei. Entscheidend sei, dass der einzigen erlaubten kollektiven Gewalt (dem Staat) ein anderer kollektiver Anspruch auf Gewaltausübung entgegengesetzt werde, dass also das Gewaltmonopol des Staates bedroht werde. Cancio Meliá betont bei seiner Unrechtsbestimmung die kollektive Dimension der Organisationsanmaßung, ohne die seines Erachtens das spezifische Unrecht der §§ 129 ff. nicht erfasst werden kann. Die Zurechnung zum einzelnen Täter erfolgt bei ihm (unter Bezugnahme auf das Tatprinzip) über das Moment der Mitgliedschaft in der Vereinigung: Das Mitglied gliedere sich in solche Organisationen ein und diese Integration könne ihm dann zugerechnet werden.389 Cancio 384 Vgl. dazu auch D. Klesczewski, „Tatbestandsbildung als Feinderklärung?“ (2008), S. 109 ff. 385 „Zum Unrecht der kriminellen Vereinigung: Gefahr und Bedeutung“ (2007), S. 27 ff. Siehe auch ders., „Vorverlagerung ohne Ende und Organisationsdelikte“ (2010), S. 47 (59, 60). 386 M. Cancio Meliá, „Zum Unrecht der kriminellen Vereinigung: Gefahr und Bedeutung“ (2007), S. 49 (Hervorhebung im Original). 387 Ebenda, S. 49, 50. 388 Ebenda, S. 50. 389 Ebenda, S. 48.
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Meliá nimmt dabei Bezug auf die Überlegungen Jakobs’ und schreibt: „Betrachtet man (. . .) die Erfassung des Unrechts als Unrecht der Organisation und dessen Zurechenbarkeit zum Mitglied aus der Perspektive des von Jakobs (. . .) eingebrachten Tatprinzips, so bringt die Integration in das Kollektiv eine Verschiebung der Definition der ,Privatsphäre‘. Formlose Absprachen oder Erörterungen unter (nicht verfestigt organisierten) Personen müssen strikt als zur persönlichen Sphäre gehörend angesehen werden, sie liegen vor jeder ,Tat‘ (extern störendes Verhalten, das eine Nachfrage bezüglich der Interna zulässt). Bei hinreichend stringenter Definition der Organisation und der Integrierungsleistung des Mitglieds handelt es sich aber um ein in seiner Bedeutung feststehendes Verhalten: Auf den Planungszusammenhang, auf die Interna des Täters braucht nicht zurückgegriffen zu werden. Parallel zur Lage beim Regressverbot im Rahmen der allgemeinen objektiven Zurechnung kann hier behauptet werden, dass der Handelnde ein ex re eindeutig als störend definiertes Verhalten vornimmt: Er hat sein Verhalten so ausgerichtet, ,eingepasst‘, dass eine Deutung als nicht störend nicht mehr möglich ist.“ 390 Nach Cancio Meliá hat also das Unrecht der §§ 129 ff. zwei entscheidende Komponenten: Die Organisation, um die es geht, muss sich als „eigene Größe“ gegen den Staat stellen und der einzelne Täter muss sich in objektiv erkennbarer Weise in diese „Größe“ eingliedern. Der gedankliche Ansatz, das Delikt als „Angriff auf den Staat“ zu begreifen, ist gewinnbringend insofern, als dadurch die Legitimationsprobleme des Gefährlichkeits- und Vorverlagerungsansatzes umgangen werden können. Allerdings müsste bei dem Ansatz – auch nach seinen eigenen Prämissen – noch deutlicher herausgearbeitet werden, wie das Tatprinzip dabei gewahrt werden kann. „Tat“ wird (im Rückgriff auf die Grundlegung durch Jakobs) begriffen als „extern störendes Verhalten, das eine Nachfrage bezüglich der Interna zulässt“. Ein solches extern störendes Verhalten sieht Cancio Meliá in einem Einpassungsverhalten des Täters in die Organisation, das nicht anders als „störend“ interpretiert werden könne. Diese Formulierung zeigt, dass an dieser Stelle des Ansatzes Konkretisierungsbedarf besteht: Es wird nicht deutlich, wessen Interpretation des Einpassungsverhaltens maßgeblich sein soll und anhand welcher Kriterien diese Interpretation stattfinden soll. Bei Jakobs liegt extern störendes Verhalten vor, wenn durch die Handlung des Täters das Normvertrauen der durch die Norm Betroffenen verunsichert wird. Dies schließt – wie auch durch Cancio Meliá hervorgehoben – Handlungen aus, die allein im Privatbereich des Täters, in seinem „Inneren“ stattfinden. Allerdings ist damit ein hinreichend konkretes Kriterium dafür, was die „Einpassungstat“ zum strafbaren Unrecht macht, noch nicht geliefert. Sollen die Tathandlungen des Gründens, der Mitgliedbeteiligung, der Werbung und der Unterstützung als Einpassungstaten in die staatsfeindliche Organisation genügen? Sind sie nicht anders als „störend“ zu 390
Ebenda, S. 47, 48 (Hervorhebung im Original, Fußnoten weggelassen).
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verstehen? Ist beispielsweise die Informationsübermittlung innerhalb der Organisation als „störend“ zu interpretieren? Sie ist einerseits ein deutliches Indiz dafür, dass der „Täter“ sich in die Strukturen der Organisation „einpasst“ und sie von innen her durch eine äußere Handlung stützt – insofern wäre sie „nicht anders als störend“ zu interpretieren; andererseits verbleibt dieser Beitrag in der Binnenstruktur der Vereinigung und kann als solcher kein fremdes Normvertrauen stören. Ähnliches gilt für andere von der Rechtsprechung anerkannten „Beteiligungen als Mitglied“, aber auch für das Merkmal des Gründens der Vereinigung. Nicht umfasst zu sein scheinen dagegen Unterstützungs- und Werbungsakte „von außen“, denn bei ihnen passt sich der „Täter“ gerade nicht in die Struktur der Vereinigung ein; andererseits können solche Akte durchaus fremdes Normvertrauen erschüttern und müssten dementsprechend als „Tat“ in Betracht kommen. Um tatsächlich dem Tatprinzip gerecht zu werden, müsste die Tathandlung des Täters, wenn auch unter Bezugnahme auf den durch die kriminelle bzw. terroristische Vereinigung bestehenden Angriff auf das staatliche Gewaltmonopol, selbstständig und unter Benennung der entsprechenden Kriterien als strafwürdiges Unrecht ausweisbar sein. Wie dies gelingen kann, hat sich bei der gedanklichen Fortentwicklung des Ansatzes von E. A. Wolff gezeigt. Vergleicht man die beiden Ansätze, so zeigen sich Gemeinsamkeiten sowohl im Anliegen als auch in der Richtung, in der eine Lösung zur Frage des Unrechtsgehalts der §§ 129 ff. gesucht wird. Sowohl bei Cancio Meliá als auch bei der aus dem freiheitlichen Rechtsbegriff entwickelten Lösung wird das Unrecht in zwei, aufeinander bezogenen Teilen erfasst: Einerseits wird die Qualität der Vereinigung genauer bestimmt und anderseits wird der Tatbeitrag des Täters in Bezug auf diese Vereinigung in den Blick genommen. Nach beiden Ansätzen muss im Bestand der Vereinigung ein Angriff auf das Gemeinwesen liegen, insofern herrscht eine Einigkeit (wenn auch die Begründungswege dorthin erheblich differieren und der „Angriff auf das Gemeinwesen“ nicht ganz identisch verstanden wird). Nach dem Wolffschen Ansatz muss zudem die Tat des Täters diesen Bestand entscheidend mitgestalten. Hier wird also ein materielles Kriterium dafür eingeführt, welche Tathandlungen als strafwürdiges Unrecht zu beurteilen sind und welche nicht. Bei Cancio Meliá ist dagegen dieser letzte Punkt nur zirkulär beschrieben: Strafbar ist, was „stört“, und „was stört“ wird festgestellt dadurch, ob es als störend interpretiert werden kann. Insofern fehlt diesem Ansatz ein wesentliches Element der Unrechtsbestimmung, wenn er auch im Vergleich zu den reinen Gefährdungs- und Vorverlagerungstheorien das Legitimitätsproblem deutlich besser berücksichtigt. 4. Zusammenfassung zu II. Die §§ 129 ff. lassen sich weder unter dem Aspekt der Vorfeldkriminalisierung, noch unter dem Aspekt der (abstrakten) Gefährdung und auch nicht als politische
B. Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten
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Organisationsanmaßung als Strafunrecht legitimieren. Nach keinem der benannten Begründungsansätze sind die Vorschriften in ihrer heutigen Gesetzesfassung als begründetes, strafwürdiges Unrecht anzuerkennen; sie müssten zumindest wesentlich restriktiver gefasst werden und zwar je nach Ansatz mit unterschiedlichem Fokus. Die Verbote der Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen müssen deswegen aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit in ihrer bestehenden Fassung als „Sicherheitsgesetze“ aus dem Strafgesetzbuch entfernt werden.
B. Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten (§§ 89a, 89b, 91 StGB) Ähnliche, in ihrer Qualität sogar noch gravierendere Legitimationsdefizite als die für die §§ 129 ff. StGB soeben herausgearbeiteten, lassen sich für die (mit Gesetz vom 4.8.2009) neu eingeführten Straftaten der Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten (§§ 89a, 89b und 91 StGB) konstatieren.391 Mit der Einführung dieser Straftatbestände in das StGB sollte das bestehende strafrechtliche Instrumentarium zur Bekämpfung terroristisch motivierter Straftaten ergänzt werden. Die neuen Vorschriften sollten Lücken füllen, die sich dadurch ergeben, dass die §§ 129 ff. StGB nur die Gefährlichkeit umfassen, die von einer kriminellen oder terroristischen Vereinigung ausgeht: Nur eine von einer Personenmehrheit, einer „Gruppe“ ausgehende Gefahr wird durch die Strafbarkeit des Gründens oder Unterstützens einer solchen Vereinigung abgedeckt, nicht aber die von Tätern, die ohne feste Einbindung in einer hierarchisch aufgebauten Gruppe
391 Vgl. dazu und zum Folgenden schon die kritischen Überlegungen der Verfasserin, in: „Zur geplanten Einführung neuer Straftatbestände wegen der Vorbereitung terroristischer Straftaten“ ZIS 9/2008, S. 243 ff. und ihre Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages vom 22. April 2009 unter http://webarchiv.bundes tag.de/cgi/show.php?fileToLoad=1251&id=1134 (Archiv der öffentlichen Anhörungen). Siehe ferner ebenfalls kritisch O. Backes, „Der Kampf des Strafrechts gegen nicht-organisierte Terroristen“ StV 2008, S. 654 ff.; R. Deckers/J. Heusel, „Strafbarkeit terroristischer Vorbereitungshandlungen – rechtsstaatlich nicht tragbar“ ZRP 2008, S. 169 ff.; Fischer, § 89a, Rn. 8 f.; N. Gazeas/Th. Grosse-Wilde/A. Kießling, „Die neuen Tatbestände im Staatsschutzrecht – Versuch einer ersten Auslegung der §§ 89a, 89b und 91 StGB“ NStZ 2009, 593 ff.; Kindhäuser, LPK-StGB, § 89a, Rn. 2; NK-Paeffgen, § 89a, Rn. 1 ff.; H. Radtke/M. Steinsiek, „Bekämpfung des internationalen Terrorismus durch Kriminalisierung von Vorbereitungshandlungen? – Zum Entwurf eines Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren Gewalttaten (Referentenentwurf des BMJ vom 21.4.2008)“ ZIS 9/2008, S. 383 ff.; U. Sieber, „Legitimation und Grenzen von Gefährdungsdelikten im Vorfeld von terroristischer Gewalt – Eine Analyse der Vorfeldtatbestände im ,Entwurf eines Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten‘ “ NStZ 2009, S. 353 ff.; T. Walter, „Der Rechtsstaat verliert die Nerven“ KJ 2008, S. 443 ff.; M. A. Zöller, „Willkommen in Absurdistan“ GA 2010, S. 607 (614 ff.).
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agieren.392 Diese von Einzeltätern durch eine solche Vorbereitungshandlung ausgehende Gefahr könne aber – so die Gesetzesbegründung393 – ebenso „erheblich und deshalb strafwürdig“ sein, wie die Gefahren, die von einer terroristischen Vereinigung ausgehen. Durch die Einführung des § 89a (Vorbereitung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) wird nun bestraft, wer eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet (Absatz 1 Satz 1). Absatz 1 Satz 2 der Vorschrift definiert den Begriff der schweren staatsgefährdenden Gewalttat. Absatz 2 nennt einzelne Vorbereitungshandlungen, die nach Absatz 1 Satz 1 strafbar sein sollen, beispielsweise das „Sich-Unterweisen-Lassen“ im Umgang mit Schusswaffen, Sprengstoffen etc. oder die Herstellung solcher Waffen, Stoffe etc. Ferner wurde mit § 89b (Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) eine Vorschrift neu eingeführt, die es für strafbar erklärt, mit einer terroristischen Vereinigung i. S. d. § 129a StGB in der Absicht Beziehungen aufzunehmen oder zu unterhalten, sich in der Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat gemäß § 89a Abs. 2 Satz 1 unterweisen zu lassen. Schließlich ist § 91 (Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) eingeführt worden, der unter anderem das Zugänglichmachen und das Sich-Verschaffen von Schriften unter Strafe stellt, die als Anleitung zu einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat dienen können. Im Folgenden sollen die Legitimationsdefizite der §§ 89a, 89b und 91 kurz herausgearbeitet werden. Im Wesentlichen liegen die Gründe für diese Defizite wie auch bei den §§ 129 ff. in der Deliktsqualität der neuen Paragraphen als Vorfeld- und Gefährdungsdelikte. Insofern kann auf die Ausführungen im vorherigen Abschnitt verwiesen werden. Hinzu kommen allerdings auch noch Mängel in der Gesetzesfassung, die an der notwendigen Bestimmtheit der Normen und ihrer systematischen Stimmigkeit zweifeln lassen.394
392 Vgl. den Gesetzentwurf und die Gesetzesbegründung vom 25.3.2009 (BT/Dr 16/ 12428), die bei der Beschlussempfehlung und dem Bericht des Rechtsausschusses vom 26.5.2009 (BT/Dr 16/13145) mit nur redaktionellen Änderungen versehen wurden, inhaltlich aber unverändert geblieben sind. Dort heißt es zu Zielsetzung: „Ziel des Entwurfes ist es daher, bestimmte Fälle im Bereich der Vorbereitungshandlungen von organisatorisch nicht gebundenen Gewalttätern zu erfassen, die bislang strafrechtlich nicht verfolgt werden können.“ 393 Siehe Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz vom 21. April 2008, http://www.bmj.bund.de. 394 Vgl. dazu auch die gründliche Analyse der neuen Tatbestände bei N. Gazeas/Th. Grosse-Wilde/A. Kießling, „Die neuen Tatbestände im Staatsschutzrecht – Versuch einer ersten Auslegung der §§ 89a, 89b und 91 StGB“ a. a. O. (Fn. 391).
B. Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten
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I. § 89a StGB (Vorbereiten einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) 1. Zum Unrechtsgehalt des § 89a StGB Nach § 89a Abs. 1 Satz 1 wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zehn Jahren bestraft, wer eine schwere staatsgefährdende Gewalttat vorbereitet. Eine solche schwere staatsgefährdende Gewalttat ist gemäß Absatz 1 Satz 2 eine Straftat gegen das Leben in den Fällen des § 211 oder des § 212 oder gegen die persönliche Freiheit in den Fällen des § 239a oder des § 239b, die nach den Umständen bestimmt oder geeignet ist, den Bestand oder die Sicherheit eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beeinträchtigen oder Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland zu beseitigen, außer Geltung zu setzen oder zu untergraben. § 89a Abs. 2 erklärt bestimmte Vorbereitungshandlungen zu schweren staatsgefährdenden Gewalttaten für strafbar: Nr. 1: Eine andere Person zu unterweisen oder sich unterweisen zu lassen in der Herstellung von oder im Umgang mit Schusswaffen, Sprengstoffen, Spreng- oder Brandvorrichtungen, Kernbrenn- oder sonstigen radioaktiven Stoffen, Stoffen, die Gift enthalten oder hervorbringen können, anderen gesundheitsschädlichen Stoffen, zur Ausführung der Tat erforderlichen besonderen Vorrichtungen oder in sonstigen Fertigkeiten, die der Begehung einer der in Absatz 1 genannten Straftaten dienen, Nr. 2: die in Nummer 1 genannten Waffen, Stoffe oder Vorrichtungen herzustellen, sich oder einem anderen zu verschaffen, zu verwahren oder einem anderen zu überlassen, Nr. 3: sich erforderliche wesentliche Gegenstände oder Stoffe zu verschaffen oder zu verwahren, die für die Herstellung von Waffen, Stoffen oder Vorrichtungen der in Nummer 1 bezeichneten Art wesentlich sind, Nr. 4: für deren Begehung nicht unerhebliche Vermögenswerte zu sammeln, entgegenzunehmen oder zur Verfügung zu stellen.
Es werden damit bestimmte, gesetzlich beschriebene und für terroristische Anschläge typische Vorbereitungstaten erfasst, soweit sie sich auf eine bestimmte Gruppe von Delikten, die als „schwere staatsgefährdende Gewalttaten“ legaldefiniert werden, beziehen. Das Unrecht setzt sich also zusammen aus einer gesetzlich bestimmten Handlung, die zudem der Vorbereitung einer im § 89a Abs. 1 benannten Bezugstat dienen muss. Betrachtet man zunächst diese Bezugstat,395 so fällt auf, dass der Katalog möglicher Taten nur Delikte gegen das Leben und gegen die persönliche Freiheit erfasst, die eine bestimmte „terroristische Stoßrichtung“ aufweisen. Diese Stoßrichtung muss sowohl subjektiv, das heißt aus der Perspektive des Täters, gege395 Zu Recht kritisch zur Begrifflichkeit der „schweren staatsgefährdenden Gewalttat“ Fischer, § 89a, Rn. 12.
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Teil 4: Erscheinungsformen des Sicherheitsgedankens im Strafrecht
ben sein („bestimmt“), als auch objektiv, das heißt die vorgestellte Tat muss objektiv auch „geeignet“ sein, die terroristische Zielsetzung zu erfüllen. Die spezifisch terroristische Stoßrichtung wird so umschrieben, dass die Tat sich gegen den Bestand oder die Sicherheit eines Staates oder gegen Verfassungsgrundsätze der Bundesrepublik Deutschland richten muss. Die in Absatz 2 genannten Vorbereitungshandlungen müssen im Hinblick auf eine solche Bezugstat begangen werden. Das bedeutet, dass der Täter schon zum Zeitpunkt der Vorbereitungshandlung den Vorsatz396 haben muss, dass seine Handlung der Vorbereitung einer bestimmten Bezugstat im Sinne des Absatzes 1 der Vorschrift dient: Er muss sich beispielsweise nach der Nummer 1 im Umgang mit Sprengstoffen unterweisen lassen mit dem Vorsatz, durch dieses Unterweisen-Lassen ein Tötungsdelikt mit (subjektiv und objektiv) terroristischer Stoßrichtung vorzubereiten. Die einzelnen Tathandlungen bestehen im Wesentlichen darin, bestimmte (typisch terroristische) Tatmittel tatsächlich verfügbar zu machen: Zu den wichtigsten Tathandlungen zählen die Ausbildung im Umgang mit terroristischen Tatmitteln (z. B. Schusswaffen, Sprengstoffe, Gifte), ihre Herstellung oder Bereitstellung bzw. die Vorbereitung der Herstellung oder ihrer Bereitstellung. Eine davon abweichende Unrechtsqualität weist die Nummer 4 auf, nach der das Sammeln, die Entgegennahme und das Zur-Verfügung-Stellen von Vermögenswerten unter Strafe gestellt werden.397 2. Legitimationsproblematik: Kriminalunrecht oder strafloses Vorbereitungshandeln? Die Ausführung einer der in Absatz 2 aufgezählten Handlungen begründet die Strafbarkeit des Täters also dann, wenn er dies in der Vorstellung tut, mit ihr eine in Absatz 1 genannte schwere Gewalttat vorzubereiten. Hierin müsste, soll die Strafsanktion berechtigt sein, strafwürdiges Unrecht liegen und nicht bloß ein Kriminalunrecht nicht begründendes Straftatvorverhalten. Um dies zu beurteilen, ist es notwendig, von einem allgemein und abstrakt gefassten Begriff strafwürdigen Unrechts auszugehen, wie dies im vorangehenden Abschnitt schon für die §§ 129 ff. gezeigt wurde. Die heute vertretenen 396 So auch F. Jeßberger in seiner Stellungnahme für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages, 22. April 2009, http://webarchiv.bundestag.de/cgi/show.php?file ToLoad=1251&id=1134 (Archiv der öffentlichen Anhörungen), S. 4, der darauf hinweist, dass dolus eventualis genügt; ferner N. Gazeas/Th. Grosse-Wilde/A. Kießling, „Die neuen Tatbestände im Staatsschutzrecht – Versuch einer ersten Auslegung der §§ 89a, 89b und 91 StGB“ a. a. O. (Fn. 391), S. 595, 596. 397 Vgl. zu den einzelnen Tathandlungen und den mit ihnen einhergehenden Auslegungsschwierigkeiten nochmals N. Gazeas/Th. Grosse-Wilde/A. Kießling, „Die neuen Tatbestände im Staatsschutzrecht – Versuch einer ersten Auslegung der §§ 89a, 89b und 91 StGB“ a. a. O. (Fn. 391), S. 596 ff.
B. Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten
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Hauptströmungen stützen sich dafür entweder auf das Kriterium einer Rechtsgutsverletzung oder (unmittelbaren) -gefährdung398, auf einen durch die Tat bewirkten Normgeltungsschaden399 oder auf eine durch die Tat bewirkte Rechtsverhältnisverletzung400. Schon bei dem ersten Blick auf die neue Vorschrift wird offenkundig, worin das Legitimationsproblem der neuen Vorfeldstrafbarkeit nach § 89a liegt: Durch die Ausbildung im Umgang mit bestimmten Tatmitteln oder mit dem Herstellen oder der Bereitstellung solcher Mittel ist weder eine Rechtsgutsverletzung, noch ein Schaden an der Geltung der Norm, noch eine Beeinträchtigung fremder Freiheitssphären bzw. ein Bruch des Rechtsverhältnisses zwischen Täter und Opfer bewirkt; und zwar auch dann nicht, wenn sich der Täter vorstellt, dadurch eine bestimmte (zukünftige) terroristische Tat vorzubereiten. Sein Verhalten bewegt sich zunächst nur innerhalb der eigenen Rechtssphäre: Er lernt, er stellt her, er beschafft, etc. aber er geht (noch) nicht dazu über, strafbares Unrecht im oben definierten Sinne zu begehen. Bräche man die gedankliche Geschehenskette nach der Vorbereitungshandlung ab – kommt es also nie zur vorgestellten Gewalttat – ließe sich das Lern-, Beschaffungs- oder Herstellungsverhalten allenfalls als in einer Rechtsgemeinschaft unerwünschtes, nicht aber per se strafbares Verhalten qualifizieren (sieht man einmal ab von nebengesetzlichen Spezialregeln zum Umgang mit Waffen oder gefährlichen Stoffen, etc.).401 Untersucht man in einem zweiten Schritt den Tatbestand unter dem Aspekt der Gefährlichkeit des mit ihm verbotenen Verhaltens, so müsste § 89a als abstraktes Gefährdungsdelikt legitimierbar sein. Wie oben herausgearbeitet, liegt ein solches dann vor, wenn „ein typischerweise gefährliches Verhalten als solches unter Strafe gestellt wird, ohne dass im konkreten Fall ein Gefährdungserfolg eingetreten zu sein braucht“ 402. Unter diese allgemeine Definition abstrakten Gefährdungsunrechts ließen sich die in § 89a umschriebenen Verhaltensweisen durchaus subsumieren: Sie schaffen die abstrakte Gefahr, dass zukünftig aufgrund der Vorbereitungshandlungen schwere Gewalttaten begangen werden könnten. Allerdings müsste § 89a nicht nur als abstraktes Gefährdungsdelikt kategorisierbar, sondern auch legitimierbar sein. Geht man von dem oben ausgearbeiteten, von der Verfasserin mitgetragenen freiheitlichen Unrechtsbegriff aus, kann Gefährdungsunrecht nur dann Kriminalunrecht sein, wenn schon durch die Gefährdungshandlung selbst fremdes Freiheitsdasein angegriffen wird. Im (abstrakt) gefährdenden Verhalten muss schon 398
Vgl. dazu oben S. 216 ff. Siehe oben die Unrechtslehre von G. Jakobs, S. 237 ff. 400 Vgl. dazu den freiheitlichen Unrechtsbegriff im Ausgang von E. A. Wolff oben S. 247 ff. 401 Ähnlich Fischer, § 89a, Rn. 38, 39. 402 C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 11, Rd. 153. 399
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eine Verletzung des zu respektierenden Freiheitsraums des anderen liegen. Dies ist regelmäßig dann nicht der Fall, wenn Gefahrbedingungen geschaffen werden, deren Umschlagen in Verletzungen regelmäßig noch vom selbstbestimmten Verhalten, sei es des Täters, sei es eines anderen, abhängt (wie beispielsweise bei der Abgabe gefahrenträchtiger Gegenstände). Kriminalunrecht ist dagegen bei abstrakten Gefährdungen gegeben, wenn Bedingungen „von einer Art gesetzt werden, durch die das Umschlagen in eine erheblichere konkrete Gefahr oder Verletzung typischerweise eröffnet wird, – und zwar auf eine Weise, dass auch selbstbestimmt-gefahrenhinderndes Handeln des Täters oder anderer ausgeschlossen ist oder nur noch zufällig erscheint“ 403. Vor dem Hintergrund dieser Begründung abstrakten Gefährdungsunrechts wird deutlich, dass § 89a nicht unter die Kategorie legitimer abstrakter Gefährdungsdelikte fallen kann. Denn die Gefahrbedingungen, die durch die Ausbildung im Umgang mit terroristischen Tatmitteln, ihrer Herstellung, Verwahrung oder Überlassung geschaffen werden, sind gerade nicht so geartet, dass sie ohne weitere selbstbestimmte Handlungen des Täters oder anderer Personen in Verletzungen umschlagen können: Wer sich unterweisen lässt im Umgang mit Waffen, Sprengstoffen, radioaktiven Stoffen etc. muss sich erneut entscheiden, ob er diese Kenntnisse zur Begehung von strafrechtlichem Unrecht nutzt; wer bestimmte Tatmittel herstellt oder verwahrt oder einem andern überlässt, schafft nur die Voraussetzung dafür, dass er selbst oder ein anderer diese Mittel für die spätere Begehung von Kriminalunrecht verwenden kann; wer Vermögenswerte sammelt oder zur Verfügung stellt, ermöglicht es nur, die entsprechenden Mittel zur Begehung einer schweren Gewalttat anzuschaffen. Es ist immer erst der zwischengeschaltete, freie Entschluss einer selbstbestimmten Person zum Übergang zum Strafunrecht, der tatsächlich die Grenze zur Rechtsverhältnisverletzung überschreitet. Zu dem gleichen Ergebnis müssten auch die Vertreter der Rechtsgutsverletzungstheorien404 und Jakobs mit seiner Lehre vom Normgeltungsschaden405 kommen: Dass eine Rechtsgutsverletzung nach dem von Marx aufgestellten Kriterium des „Zuende-Denkens“ 406 schon unmittelbar in den Tathandlungen der Vorbereitung eines Delikts angelegt ist, lässt sich nicht sagen. Mit der Vorbereitung wird kein natürlicher Verlauf der folgenden Ereignisse in Gang gesetzt, dem gewissermaßen nur noch zugeschaut werden müsste bis er zu einer Rechtsgutsverletzung führt; im Gegenteil bedarf es vieler, im einzelnen noch vollkommen unbestimmter Zwischenschritte, sei es durch das Handeln Dritter, sei es durch das Handeln des Vorbereitenden selbst, sei es durch Umstände, die überhaupt von mensch403 404 405 406
M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 32. Vgl. oben S. 216 ff. Dazu oben S. 237 ff. Siehe dazu S. 216 ff.
B. Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten
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licher Beeinflussung unabhängig sind. Ein „Zuende-Denken“ ist deswegen zum Zeitpunkt der Vorbereitungshandlung nicht möglich.407 Jakobs sieht in der Verletzung „flankierender“ Normen strafwürdiges Unrecht, weil und wenn durch die Tat berechtigtes Normvertrauen bei den von der Hauptnorm Betroffenen gebrochen wird.408 Der Täter müsse die kognitive Basis der Normgeltung durch externes Verhalten verletzen, indem er erkennen lässt, dass „demnächst eine externe Störung erfolgen werde, jedenfalls wenn seine Planungen gelängen“. Eine solche normgeltungsverunsichernde Wirkung liegt aber nicht schon in den beschriebenen Tathandlungen des Unterweisens oder des Sich-Unterweisen-Lassens in der Herstellung von oder im Umgang mit Schusswaffen oder gefährlichen Stoffen aller Art, und auch nicht in der Herstellung oder dem Verschaffen oder Verwahren solcher Tatmittel, und erst recht nicht in der Sammlung, Entgegennahme oder dem Zur-Verfügung-Stellen von Vermögenswerten zum Zwecke der Begehung von schweren Gewalttaten. Durch all diese Verhaltensweisen wird keine ernsthafte Bedrohungswirkung erzeugt. Und auch als legitimes abstraktes Gefährdungsdelikt lässt sich § 89a nach Jakobs nicht fassen. Voraussetzung dafür wäre nämlich, dass das Verhalten des Täters – unabhängig von seiner inneren Verfasstheit – objektiv einen gefährlichen Verlauf in Gang setzt, auch wenn die Gefahr sich erst durch Dritte oder einen erneuten Akt des Täters zu realisieren droht. Bei § 89a liegt aber ein entscheidender Teil der Unrechtsbestimmung in der Vorstellung des Täters, mit seiner Handlung ein bestimmtes Delikt vorzubereiten. Nur diese subjektive Widmung eines ansonsten neutralen Verhaltens macht es zu einer Vorbereitung einer schweren Gewalttat i. S. d. § 89a. Insofern kommt es entscheidend auf die innere Verfasstheit des Täters an und ein legitimierbares abstraktes Gefährdungsdelikt liegt nicht vor. Aus diesem Grund ist das im neuen § 89a kodifizierte Verhalten nach keiner der aktuell vertretenen Unrechtslehren eines, das zu Recht mit der Sanktion Strafe – noch dazu mit einem Strafrahmen von bis zu zehn Jahren – belegt werden kann.
II. § 89b StGB (Aufnahme von Beziehungen zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) Die Aufnahme und das Unterhalten von Beziehungen zu einer terroristischen Vereinigung in der Absicht, sich terroristisch ausbilden zu lassen, ist nach dem
407 Kritisch auch F. Jeßberger in seiner schon zitierten Stellungnahme (Fn. 396), S. 2–4 und die Stellungnahme der Bundesrechtsanwaltskammer für den Rechtsausschuss des Deutschen Bundestages, April 2009: http://webarchiv.bundestag.de/cgi/ show.php?fileToLoad=1251&id=1134 (Archiv der öffentlichen Anhörungen), insbesondere S. 5–6. 408 Siehe dazu oben S. 239 ff.
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Entwurf strafwürdig, weil bereits zu dieser Zeit eine abstrakte Gefahr für Leib oder Leben der potentiellen Opfer begründet werde. Diese Begründung reicht jedoch für die Schaffung eines weiteren abstrakten Gefährdungsdelikts nicht aus.409 Die Bedenken, die zu § 89a vorgetragen wurden, gelten hier in gleicher Weise: Die der künftigen schweren staatsgefährdenden Gewalttat vorgelagerte Tat kann als solche nicht strafbegründend sein, weil das pönalisierte Verhalten selbst keine Rechtsverhältnisverletzung enthält, diese allenfalls anbahnt. Und auch eine strafwürdige abstrakte Gefährdung ist zu verneinen, da durch die Anbahnung selbst noch kein Rechtsgut potentieller Opfer dem Zufall preisgegeben wird; im Gegenteil müssen noch unüberschaubar viele Zwischenschritte, sowohl durch äußere Faktoren, als auch durch freie Akte des Täters oder anderer Personen, hinzukommen, bis sich die Gefahr konkretisiert. Dementsprechend ist auch die Legitimität dieses Paragraphen zu bezweifeln.
III. § 91 StGB (Anleitung zur Begehung einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat) Nach § 91 StGB macht sich strafbar, wer eine Schrift, die als Anleitung zu einer schweren staatsgefährdenden Gewalttat dienen kann, anpreist, sie anderen zugänglich macht oder sie sich selbst verschafft. Zur Begründung wird darauf verwiesen, dass Anleitungen (etwa für die Herstellung von Sprengstoff, für den Bau von Sprengvorrichtungen oder für die Ausbildung in terroristischen Trainingslagern) fortwährend auch ohne konkreten Tatbezug ins Internet eingestellt, von dort aufgerufen oder herunter geladen würden. Dadurch entstehe eine erhebliche Gefahr für den öffentlichen Frieden, da sie „ohne weitere Zwischenschritte zur Vorbereitung von schweren Gewalttaten verwendet werden können und (. . .) auch verwendet werden“ 410. Sie bereiteten zudem „dem Entstehen eines psychischen Klimas den Nährboden, in dem schwere sozialschädliche Gewalttaten gedeihen können“.411 Der Schritt zu einer terroristischen Gewaltanwendung werde durch die Propagierung von Anleitungen zur Gewaltanwendung signifikant erleichtert. Eine solche Anleitung muss nach dem neuen Gesetz vom Täter nicht einmal dazu „bestimmt“ sein, eine bestimmte Gefährdung eintreten zu lassen (wie dies in § 130a gefordert ist und regelmäßig Beweisschwierigkeiten mit sich bringt). Es soll ausreichen, dass die jeweilige Anleitung nach den Umständen ihrer Verbreitung (z. B. im Rahmen einer islamistischen oder auch rechtsextremistischen Webseite) objektiv geeignet ist, die Bereitschaft anderer zu fördern oder zu wecken, eine Gewalttat mit einer staatsschutzrelevanten Zielsetzung zu begehen. 409 In diesem Sinne auch T. Walter, „Der Rechtsstaat verliert die Nerven“ KJ 2008, S. 443 (445, 446, 450). 410 Begründung des Gesetzentwurfs, a. a. O. (Fn. 392), S. 10. 411 Ebenda.
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Bei der Lektüre dieser Begründung fällt zunächst auf, dass es nunmehr für die Strafbarkeit einer Handlung ausreichen soll, dass sie „ohne weitere Zwischenschritte zur Vorbereitung von schweren Gewalttaten“ dienen könne. Das Kriterium lautet nicht mehr, dass die Handlung unmittelbar in die Tatbestandsverwirklichung einmündet (so eine gängige Formulierung zum unmittelbaren Ansetzen im Rahmen der Versuchsdogmatik412) oder dass sie ihrerseits eine abstrakte Gefährdung begründet, die nach den oben genannten Kriterien strafwürdig ist. Das Kriterium wird dahin verschoben, dass die Handlung einer Vorbereitung unmittelbar vorgelagert sein muss. Dadurch wird das Tatgeschehen einen weiteren Schritt von der eigentlichen Begehung von Kriminalunrecht, hier: einer schweren Gewalttat, weggerückt: Die Vorbereitung der Vorbereitung wird bestraft. Auch die Begründung des Tatbestandes mit der Schaffung einer erheblichen Gefahr für den öffentlichen Frieden und der zu verhindernden Bereitung eines Nährbodens für Gewalttaten kann nicht überzeugen. Schon im Rahmen der §§ 129 ff. wird – wie oben ausgeführt413 – eine heftige Diskussion darum geführt, ob als Schutzgüter dieses Straftatbestandes auch der „öffentliche Frieden“ und ein ihm entsprechendes „friedliches Klima“ in Betracht kommen. Nach bisheriger414 höchstrichterlicher Rechtsprechung und einem Teil der Literatur ist Schutzgut der Vorschriften gegen die Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen die „Sicherheit“ im Staat, genauer der „die öffentliche Sicherheit und Ordnung mit umfassende öffentliche Friede“.415 „Öffentlicher Frieden“ wird dabei definiert als „Zustand allgemeiner Rechtssicherheit und des befriedeten Zusammenlebens der Bürger sowie das im Vertrauen der Bevölkerung in die Fortdauer dieses Zustands begründete Sicherheitsgefühl.“ 416 Die Schwächen einer solchen Schutzgutbestimmung wurden bereits erörtert: Neben die Problematik mangelnder Bestimmtheit, zu großer Abstraktheit und damit einhergehend mangelnder Eignung zur Strafbarkeitsbegrenzung durch konkretisierende Beschreibung des zu schützenden Rechtsguts tritt das Problem, dass der „öffentliche Friede“ nicht als einzelner Faktor bzw. Bestandteil einer verfassten Rechtsgemeinschaft, sondern als Ziel des gesamten Rechtsgüterschutzes begriffen werden muss. Er kann deswegen nicht selbst „Rechtsgut“ im strafrechtlichen Sinne sein, sondern nur ein – unter anderem durch das Strafrecht – zu erreichender Gesamtzustand der Rechtsgemeinschaft. Somit stellt auch das Unrecht des § 91 kein legitimes Kriminalunrecht dar. 412 Siehe z. B. BGHSt 28, 162; 35, 6 (8, 9); 43, 177; Fischer, § 22, Rn. 10; Lackner/ Kühl, § 22, Rn. 4. 413 Siehe S. 182 ff. 414 Vgl. aber OLG München NJW 2007, S. 2786 ff. 415 Vgl. die Nachweise oben in Fn. 11. 416 Sch/Sch-Lenckner/Sternberg-Lieben, § 129, Rn. 1. mit Verweis auf die Begriffsbestimmung des „öffentlichen Friedens“ im § 126, Rn. 1 (m.w. N.). Siehe zum Begriff des „öffentlichen Friedens“ auch BGHSt 34, 329 (331).
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IV. Zusammenfassung zu B. Durch die Strafandrohung (bei § 89a bis zu zehn, bei §§ 89b und 91 immerhin bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe) für ein Verhalten eines Einzeltäters weit im Vorfeld des Versuchs oder der Vollendung einer Straftat wird ein Prinzip aufgegeben, das bisher mit breitester Zustimmung gegolten hat: Die Straflosigkeit von Vorbereitungshandlungen bei Einzeltätern. Alle bisherigen Begründungen für eine Vorfeldpönalisierung gehen davon aus, dass nur die Besonderheit gruppeninterner Motivationsdynamik und bindender Gemeinschaftlichkeit die Strafe rechtfertigen kann, weil diese eine besondere Gefährlichkeit von Vorfeldtaten hervorbringe. Es wird – wie oben ausgeführt417 – sowohl bei den §§ 129 ff. StGB als auch bei der allgemeinen Regel des § 30 StGB argumentiert, dass durch die „Gruppendynamik“ eine besondere gegenseitige Bindung entstehe, die deswegen zu einer erleichterten Straftatbegehung führen könne, weil sie eine Enthemmung bzw. eine verstärkende Förderung bei der Begehung von Straftaten bewirke.418 Umgekehrt ist es beim Verhalten von Einzeltätern von jeher Aufgabe einer strafrechtlichen Versuchslehre, strafloses Vorbereitungshandeln von strafbarem Versuchshandeln zu scheiden.419 Wird eine Strafbarkeit von Vorfeldhandlungen bei Einzeltätern eingeführt, so stellt dies eine Umwälzung von strafrechtlichen Fundamentalprinzipien dar, die mit erheblichen Legitimationsproblemen einhergeht. Die vorliegenden neuen Tatbestände werden nun vor allem damit begründet, dass die von Einzeltätern durch eine terroristische Vorbereitungshandlung ausgehende Gefahr „erheblich und deshalb strafwürdig“ sein könne.420 In diesem Satz wird die Schwierigkeit sichtbar, die den neuen Paragraphen insgesamt zugrunde liegt, nämlich der Schluss („deshalb“), dass aus der Erheblichkeit einer Gefahr 417
Vgl. dazu S. 197 ff. Vgl. zum Strafgrund von § 30 StGB: Fischer, § 30, Rn. 2; Lackner/Kühl, § 30, Rn. 1; Sch/Sch-Cramer/Heine, § 30 Rn. 1. Vgl. zur systematischen Stellung des § 30 zudem H.-H. Jescheck/Th. Weigend, Lehrbuch des Strafrechts Allgemeiner Teil, S. 700 ff., C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. II, S. 285 ff. Kritisch zur Strafbarkeit von Vorfeldverhalten NK-Zaczyk, § 30, Rn. 4; W. Beck, Unrechtsbegründung und Vorfeldkriminalisierung (1992), S. 204 ff. Zum Strafgrund der §§ 129 ff. StGB: SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129, Rn. 3. Zustimmend NK-Ostendorf, § 129, Rn. 5. Die Legitimationsprobleme der §§ 129 ff. StGB benennen u. a. G. Jakobs, „Kriminalisierung im Vorfeld einer Rechtsgutsverletzung“ ZStW 97 (1985), 751 (765) und aus der Spezialliteratur zu den §§ 129 ff. M. Nehring, Kriminelle und terroristische Vereinigungen im Ausland (2007), S. 420 ff. (insbes. 426). Siehe zudem O. Backes, „Der Kampf des Strafrechts gegen nicht-organisierte Terroristen“ StV 2008, S. 654 ff., der das vorausgesetzte Gefährdungspotential terroristischer Vereinigungen mit dem von Einzeltätern vergleicht und eine Strafbarkeit für letztere nach den §§ 89a, 89b und 91 als unbegründet kritisiert. 419 Vgl. nur K. Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 15, Rn. 38 ff. 420 Pressemitteilung des Bundesministeriums der Justiz vom 21. April 2008, vgl. http://www.bmj.bund.de. 418
C. Zusammenfassung zum 4. Teil
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schon ihre Strafwürdigkeit folgt. Angesichts der anerkannten Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehrrecht auf der einen Seite und dem Strafrecht auf der anderen ist ein solcher Schluss alles andere als selbstverständlich.421 Es ist gerade nicht so, dass jede – sei es auch erhebliche – Gefahrschaffung die Möglichkeit in sich birgt, bei Strafe verboten zu werden: Jedenfalls der simple Schluss von der Gefährlichkeit eines Verhaltens auf seine Strafwürdigkeit wird von keiner der ausgearbeiteten Unrechtslehren mitgetragen. Dies bedeutet in der Folge, dass neue Gefährdungsstraftatbestände nicht beliebig geschaffen werden können, dass sie sich vielmehr vor dem Hintergrund der erhöhten, spezifisch strafrechtlichen Begründungslast rechtfertigen lassen müssen. Dies ist bei den neuen Straftatbeständen insbesondere wegen ihrer extremen Vorverlagerung des pönalisierten Verhaltens vor eine Rechtsverhältnisverletzung/ Rechtsgutsverletzung bzw. konkrete Rechtsgutsgefährdung nicht der Fall.
C. Zusammenfassung zum 4. Teil: Kritik rein präventiver Straftatbestände im gegenwärtigen materiellen Strafrecht Es hat sich durch die (exemplarische) Untersuchung der §§ 129 ff. und 89a, 89b und 91 StGB deutlich gezeigt, dass der Gedanke der Sicherheit im geltenden materiellen Strafrecht in einer Weise verankert ist, die sich mit den gegenwärtig vertretenen Ansätzen zur Unrechts- und Strafbegründung nicht vereinbaren lassen. Die strafrechtliche Grundlagenwissenschaft hat das Problem der Vermengung zwischen Strafrecht und Sicherheitsrecht zwar erkannt und versucht, es innerhalb der Diskussion um die Vorfeldpönalisierung und die abstrakten Gefährdungsdelikte zu lösen. Wird aber dabei auf den gedanklichen Ausgangspunkt des Strafrechts in Form des materiellen Verbrechens- bzw. Unrechtsbegriff rekurriert, so zeigt sich, dass als Gegenstand des Strafrechts (schuldhaft begangene) Rechtsgutsverletzungen, Verletzungen der Gemeinschaftsordnung, Normdesavouierungen oder Freiheitsverletzungen in Betracht kommen, nicht aber Gefährdungen der Sicherheit für sich genommen. Dementsprechend muss die Legitimität von Straftatbeständen, die solche Vermengungen zwischen Strafrecht und Sicherheitsrecht beinhalten, bezweifelt werden – womit sie als rechtsstaatliches Strafrecht ausscheiden. Offen ist nun allerdings die Frage, ob es für den Rechtsstaat eine ihm angemessene Lösung gibt, mit den Problemen der Sicherheitsgefährdung (beispielsweise durch den internationalen Terrorismus) umzugehen. Die Feststellung, dass das Strafrecht mit seinen engen Rechtfertigungsvoraussetzungen (jedenfalls kon421 Dazu M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 30 ff. Siehe ferner T. Walter, „Der Rechtsstaat verliert die Nerven“ KJ 2008, S. 443 ff.
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Teil 4: Erscheinungsformen des Sicherheitsgedankens im Strafrecht
sequent vom Ursprung der Unrechtsbestimmung her gedacht) nicht die geeignete Rechtsmaterie ist, um mit „Gefährdern“ (eben nicht: Straftätern) umzugehen,422 löst noch nicht das Problem, wie der Rechtsstaat mit ihnen in legitimer Weise umgehen kann.423 Mit dieser Frage werden sich die anschließenden Teile (5 und 6) der Arbeit auseinandersetzen.
422
Genauso sieht das auch M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 25–37. Zu alternativen Lösungsansätzen im Hinblick auf präventive freiheitsentziehende Maßnahmen auch U. Sieber: „Legitimation und Grenzen von Gefährdungsdelikten im Vorfeld von terroristischer Gewalt – Eine Analyse der Vorfeldtatbestände im ,Entwurf eines Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten‘ –“ NStZ 2009, S. 353 (355 ff.), der allerdings im Ergebnis keine rechtsstaatliche Alternative zum Strafrecht sieht. 423
Teil 5
Legitime Ausgestaltung moderner Sicherheitsgesetzgebung im Bereich der Terrorismus- und Kriminalprävention: Lösungsansätze, Kritik und eigene Kriterien Die untersuchten Beispiele von Vermengungen von Straf- und Präventionsrecht (§§ 129 ff., 89a, 89b und 91 StGB) haben gezeigt, dass die Grenze zwischen Sicherheitsrecht (Gefahrenabwehr, Prävention) und Strafrecht in der Praxis der Strafgesetzlichkeit nicht konsequent eingehalten wird. Eine wesentliche Fragestellung des nun folgenden fünften Teils der Arbeit soll es deshalb sein, ob und wie diese Vermengungen wegen ihrer Legitimationsproblematik in Zukunft aufgehoben und statt dessen in anderer Weise geregelt werden müssen. Zum rechtlich-richtigen Umgang mit Sicherheitsgefährdungen, auch und gerade im Zusammenhang mit dem internationalen Terrorismus, werden Vorschläge aus verschiedenen Bereichen der Rechtswissenschaft diskutiert. Sie reichen von strafrechtlichen über besondere Formen von präventions- und bekämpfungsrechtlichen bis hin zu kriegsrechtlichen oder sogar außerrechtlichen Lösungsansätzen:1 Herauszustellen ist dabei zunächst das kontrovers diskutierte und oben schon vorgestellte Jakobssche Konzept vom „Feindstrafrecht“, mit dem der Versuch verbunden ist, den (entpersonalisierenden, aus der Rechtsgemeinschaft exkludierenden) Umgang mit „Gefährdern“ als Teil des Strafrechts zu rechtfertigen (dazu unter A.). Des Weiteren hat sich Pawlik mit dem Problem befasst und in seiner Abhandlung Der Terrorist und sein Recht ein in Rechtsformen eingehegtes, am Kriegsrecht orientiertes Bekämpfungs- bzw. Präventionskonzept entworfen. Damit verbunden stellt sich die Frage, ob eine Verortung der Materie im Bereich des Kriegsrechts möglich ist, so dass Terroristen nicht als Straftäter oder „Gefährder“, sondern als feindliche Kombattanten eingeordnet werden. Ferner ist das Konzept genauer im Hinblick auf seine Einordnung als ein besonderes Präventionsrecht zu untersuchen (zu Pawliks Ansatz insgesamt: B.).
1 Siehe dazu auch E. M. Maier, „Strafrecht – Kriegsrecht – Ausnahmezustand?“ Journal für Rechtspolitik 14 (2006), S. 27 ff.
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Im Folgenden sollen die genannten Ansätze knapp vorgestellt und auf ihre Überzeugungskraft geprüft werden. Dieser kritische Durchgang durch die derzeit diskutierten Lösungsansätze soll den eigenen Vorschlag zum rechtsstaatlichen Umgang mit Sicherheitsgefährdungen gedanklich vorbereiten.
A. „Feindstrafrecht“ (Jakobs) Das von Günther Jakobs entwickelte Konzept des sog. „Feindstrafrechts“ 2 wurde bereits oben3 in seinen Grundzügen dargestellt. Entscheidendes Merkmal dieses besonderen „Rechts“ ist die Befugnis des in seiner Sicherheit bedrohten, kämpfenden Staates, Personen, die sich zuvor als für diese Bedrohung zuständige „Feinde“ herausgestellt haben, partiell oder auch vollständig zu „entpersonalisieren“, d. h. aus der Gemeinschaft der (Rechts-)Personen zu exkludieren und den Umgang mit ihnen als Krieg auszugestalten, so dass sie nötigenfalls „kaltgestellt“ 4 werden dürfen.5, 6
2 Siehe dazu G. Jakobs, „Das Selbstverständnis der Strafrechtswissenschaft vor den Herausforderungen der Gegenwart“ (2000), S. 47 ff.; ders., „Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht“ (2003), S. 41 ff.; ders., „Staatliche Strafe“ Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Vorträge, G 390 (2004), S. 5 ff. (insbesondere S. 40 ff.); ders., „Terroristen als Personen im Recht?“ ZStW 117 (2005), S. 839 ff.; ders., „Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu den Bedingungen von Rechtlichkeit“ HRRS (8–9/2006), S. 289 ff.; ders., „Zur Theorie des Feindstrafrechts“ (2010), S. 167 ff. 3 Vgl. S. 243 ff. 4 So wörtlich Jakobs in „Terroristen als Personen im Recht?“ ZStW 117 (2005), S. 839 (840). 5 Vgl. G. Jakobs, „Staatliche Strafe/Bedeutung und Zweck“ (2004), S. 40 ff. 6 Zu diesem Konzept hat es in den letzten Jahren eine Flut von darstellenden, analysierenden, kommentierenden und kritisierenden Veröffentlichungen gegeben. Zusammenstellungen finden sich z. B. bei L. Greco, Feindstrafrecht (2010); G. L. Morguet, Feindstrafrecht – Eine kritische Analyse (2009); M. Polaino-Orts, Derecho Penal del enemigo (2006) und Th. Vormbaum (Hrsg.), Kritik des Feindstrafrechts (2009). Beispielhaft seien hier folgende Beiträge genannt: P.-A. Albrecht, „,Krieg gegen den Terror‘ – Konsequenzen für ein rechtsstaatliches Strafrecht“ ZStW 117 (2005), S. 853 ff.; K. Ambos, „Feindstrafrecht“ ZStrR 124 (2006), S. 1 (6 ff.); A. Aponte, Krieg und Feindstrafrecht (2004); J. Arnold, „Entwicklungslinien des Feindstrafrechts in 5 Thesen“ HRRS 8–9/2006, S. 303 ff.; B. Brunhöber, „Staatsräson als strafrechtliches Argument?“ (2012), S. 163 ff.; J. Bung, „Feindstrafrecht als Theorie der Normgeltung und der Person“ HRRS 2/2006, S. 63 ff.; M. Cancio Meliá, „Feind,strafrecht‘?“ ZStW 117 (2005), S. 267 ff.; E. D. Crespo, „Feindstrafrecht und Rechtstheorie“ (2011), S. 57 ff.; K.-H. Gössel, „Widerrede zum Feindstrafrecht“ (2006), S. 33 ff.; L. Greco, „Über das sogenannte Feindstrafrecht“ GA 2006, S. 97 ff.; B. Heinrich, „Die Grenzen des Strafrechts bei der Gefahrprävention“ ZStW 121 (2009), S. 94 ff.; T. Hörnle, „Deskriptive und normative Dimensionen des Begriffs ,Feindstrafrecht‘“ GA 2006, S. 80 ff.; U. Kindhäuser, „Schuld und Strafe“ (2006), S. 81 ff.; D. Klesczewski, „Tatbestandsbildung als Feinderklärung?“ (2008), S. 109 ff.; F. Muñoz Conde, Über das ,Feindstrafrecht‘ (2007); H.U. Paeffgen, „Bürgerstrafrecht, Vorbeugungsrecht, Feindstrafrecht?“ (2009), S. 81 ff.; NK-Paeffgen, Vor § 32 ff., Rn. 223 f.; M. Polaino Navarrete, „Die Funktion der Strafe
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Nach Jakobs ist „Personalität“ als etwas dem Einzelnen von außen Gegebenes (nämlich vom Gewalthaber Definiertes) zu begreifen und kann dementsprechend durch „Entpersonalisierung“ auch jederzeit wieder zurückgenommen werden. Das Feindstrafrecht beruht auf diesem Gedanken der möglichen Exklusion des Einzelnen aus dem Recht: Wenn, wie Jakobs meint, die Personqualität das Individuum nur überlagert, nicht aber mit ihm ursprünglich verbunden ist, dann ist die Eigenschaft, Träger von Rechten und Pflichten zu sein, keine angeborene, sondern eine zugeschriebene Eigenschaft des Menschen. Und ganz folgerichtig ist es nach Jakobs dann auch möglich, dem Einzelnen diese Eigenschaft wieder zu entziehen – wie es in seinem Konzept mit der Erklärung zum „Feind“ geschieht.7 Beim Prozess der Entpersonalisierung wird dem Einzelnen dann nur genommen, was ihm vorher aus Gründen des Gesellschaftsinteresses und unter dem Vorbehalt der Rechtstreue gewährt worden war: Der Gewalthaber der normativen Ordnung schließt, wenn der Einzelne seine Gesellschaftstauglichkeit einbüßt, d. h. die „Garantie der Normentreue“ nicht mehr erbringt, ihn aus der Rechtsgemeinschaft aus: „(Wer) die kognitive Garantie nicht leistet, er werde sich als Person im Recht verhalten, muß auch nicht als Person im Recht behandelt werden.“ 8 Jakobs begründet dies damit, dass der Satz: „Rechtlich hat jeder Mensch den Anspruch, als Person behandelt zu werden“ unvollständig sei. Es müsse vielmehr festgelegt werden, wer welche Bedingungen der Verwirklichung dieser Personalität herbeizuführen hat, und hierbei sei selbstverständlich, dass die Sorge für eine hinreichende kognitive Untermauerung jedenfalls insoweit im „Lastenheft der Person“ selbst stehe, als es sich um die einigermaßen verlässliche Leistung von Rechtstreue handele. Der Satz müsse also richtig lauten, „jeder, der zumindest einigermaßen verlässlich Rechtstreue leistet, hat den Anspruch, als Person behandelt zu werden“, und wer die Leistung nicht erbringt, werde eben „fremdverwaltet“, was heißt, nicht als Person behandelt.9 An anderer Stelle fasst er zusammen:
beim Feindstrafrecht“ (2007), S. 529 ff.; L. K. Sander: „Menschenwürde und ,Exklusion‘“ (2007), S. 253 ff.; D. Sauer, „Das Strafrecht und die Feinde der offenen Gesellschaft“ NJW 2005, S. 1703 ff.; St. Schick, „Feindstrafrecht als regulative Idee“ ZIS 3/ 2012, S. 46 ff.; A. Sinn, „Moderne Verbrechensverfolgung – auf dem Weg zu einem Feindstrafrecht?“ ZIS 3/2006, S. 107 ff.; B. Weißer, „Der ,Kampf gegen den Terrorismus‘ – Prävention durch Strafrecht?“ JZ 2008, S. 338 ff.; B. Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse (2007), S. 335 ff. Auch die Verfasserin selbst hat bereits dem „Feindstrafrecht“ und seinen theoretischen Grundlagen in der Normen- und Straftheorie Jakobs’ eine Fundamentalkritik entgegengehalten, die ansetzt bei dem von Jakobs zugrunde gelegten Verständnis von „Individuum“ und „Person“, von dort aus aber auch seine Begriffe von „Recht“ bzw. „Norm“, „Zwang“ und „Strafe“ in Frage stellt. (K. Gierhake, „Feindbehandlung im Recht?“ ARSP 2008, S. 337 ff.). 7 Vgl. dazu auch die von Depenheuer befürwortete und im Grundgedanken mit Jakobs verwandte „Feinderklärung“ des Staates; dazu oben S. 171 ff. 8 G. Jakobs, „Staatliche Strafe/Bedeutung und Zweck“ (2004), S. 44. 9 G. Jakobs, „Terroristen als Personen im Recht?“ ZStW 117 (2005), S. 839 (843).
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„Wirklich Person zu sein, ist kein ein für allemal erreichter Status, sondern eine fragile Stellung, die immer wieder durch adäquates Verhalten legitimiert werden muss und deshalb auch verloren gehen, insbesondere verspielt werden kann.“ 10
Der Gedanke, dass sich die einzelne Person ihre Personqualität durch rechtstreues Verhalten erst verdienen muss,11 ist (jedenfalls) unter dem deutschen Grundgesetz unhaltbar.12 Dies ist nicht nur deshalb so, weil mit Art. 1 GG positiv rechtlich festgelegt ist, dass dem einzelnen Menschen seine Rechtsstellung und damit seine Qualität als Rechtsperson schon qua seines Menschseins zukommt: „Wo menschliches Leben existiert, kommt ihm Menschenwürde zu; es ist nicht entscheidend, ob der Träger sich dieser Würde bewusst ist und sie selbst zu wahren weiß. Die von Anfang an im menschlichen Sein angelegten potentiellen Fähigkeiten genügen, um die Menschenwürde zu begründen.“ 13 Dass Personalität unabhängig von jeglicher Leistung, also auch der Leistung von „Rechtstreue“, ist, ist eine notwendige Konsequenz aus der Einsicht, dass es sich beim Menschen um ein vernunftbegabtes, freies Subjekt handelt. Diese Einsicht, die spätestens seit Kant unhintergehbar ist,14 liegt auch dem Grundgesetz zugrunde: „Die der Aufklärung zu verdankende prinzipielle Anerkennung jedes Menschen als 10
G. Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft (2008), S. 84. M. Pawlik sieht in diesem Gedanken eine „Radikalisierung des Leistungsgedankens“, nach dem nicht die Natur oder die Herkunft, sondern die eigene Leistung darüber entscheidet, welche Stellung jemandem zukommt. Er meint, dass die „liberale Standardtheorie“ in gewisser Weise inkonsequent ist, wenn sie den Leistungsgedanken nicht auch auf den „harten Kern“ der rechtlichen Personalität, die Menschenwürde, anwendet, sondern ihn vom Leistungsprinzip ausnimmt und jedem, unabhängig von seinem eigenen Verhalten, diesen harten Kern zubilligt. (Vgl. Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 38, 39.) 12 Vgl. dazu schon die Ausführungen und Fundstellen oben im Text bei Fn. 89 ff. Ebenso sieht dies explizit auch K. T. Barisch, Die Bekämpfung des internationalen Terrorismus durch § 129b StGB (2009), S. 99: „Keine Frage: das Konzept ist insoweit klar verfassungswidrig!“ (Fn. weggelassen). 13 Leibholz/Rinck/Hesselberger, GG, Art. 1, Rn. 3 (mit Verweis auf BVerfGE 39, 41). Vgl. zudem Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rn. 54 ff.; Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 Abs. 1, Rn. 52, 53, u. a. mit Verweis auf BVerfGE 87, 207 (228): „Menschenwürde (. . .) ist nicht nur die individuelle Würde der jeweiligen Person, sondern die Würde des Menschen als Gattungswesen. Jeder besitzt sie, ohne Rücksicht auf seine Eigenschaften, seine Leistungen und seinen sozialen Status. (. . .) Selbst durch ,unwürdiges‘ Verhalten geht sie nicht verloren. Sie kann keinem Menschen genommen werden.“ „Menschenwürde“ wird hier ganz offensichtlich als Rechtsbegriff verstanden, nicht als nur vorrechtliches Konzept. Vgl. zur Schwierigkeit, Menschenwürde als Rechtsbegriff präzise zu erfassen, Ch. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung (1997), S. 5 ff. 14 Vgl. dazu oben S. 80 ff. Siehe insbesondere I. Kant, GMdS, 2. Abschnitt, BA 66: „Die Wesen, deren Dasein zwar nicht auf unserm Willen, sondern der Natur beruht, haben dennoch, wenn sie vernunftlose Wesen sind, nur einen relativen Wert, als Mittel, und heißen daher S a c h e n , dagegen vernünftige Wesen P e r s o n e n genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, auszeichnet, mithin so fern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Achtung ist).“ 11
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Person und Rechtssubjekt durch die allgemeine Rechtsordnung wird auch im GG als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt.“ 15 Und: „Den Menschen als Einzelwesen zu achten, weil er Teil der menschlichen Gattung ist, macht die Identität unserer Gemeinschaft aus, ist der erste und letzte Zweck des vom Grundgesetz verfassten Staates.“ 16 Da die Personqualität, d. h. Subjekt der moralisch-praktischen Vernunft zu sein, mit dem Menschsein untrennbar und immanent verbunden ist, kann sie weder von außen „gewährt“ noch „aberkannt“ werden.17 Diese Fundamentalkritik hat Jakobs – soweit ersichtlich – bisher weder kommentiert noch widerlegt. Zwar finden sich in den neueren Texten18 überarbeitete Ausführungen zur Frage der Rechtspersonalität. Die immanente Verbindung zwischen vernünftigem Dasein als Mensch und Personalität leugnet Jakobs aber weiterhin – interessanterweise unter Hinweis auf Beispiele nicht voll entwickelter Vernunftbegabung (des Kindes, des seelisch kranken Menschen). Personalität (als begründete Zurechnungsfähigkeit im Sinne Kants) sei – jedenfalls – in diesen Fällen bloß „virtuell“ vorhanden. Während Kant (und alle, die seinem freiheitlichen Rechtsgedanken folgen) unabhängig vom aktuellen Entwicklungsstand dem Menschen als Mensch Personalität zuerkennen, meint Jakobs, es handle sich allenfalls um einen „quantifizierbaren“ Rechtsstatus, der beispielsweise beim Kind geringer ausgeprägt sei als bei einem vermögenden „Hausherrn“ 19. Ein Minimum der Personalität begründenden Substanz ist aber auch nach Jakobs immer vorhanden; er will sie als „Rechtsfähigkeit“ im Sinne Hegels verstanden wissen.20 Wenn Jakobs damit lediglich auf die unterschiedlichen rechtlichen Möglichkeiten der Teilhabe an der Rechtsgemeinschaft hinweisen will (das Kind kann am rechtsgeschäftlichen Verkehr noch nicht teilnehmen, der geistig kranke Mensch kann dies nur in beschränkter Weise, der vermögende Hausherr kann die 15 Sachs, GG, Vor Art. 1, Rn. 70. Vgl. zudem B. Brunhöber, „Staatsräson als strafrechtliches Argument?“ (2012), S. 163 (176 ff.). 16 U. Di Fabio, „Einführung in das Grundgesetz“, Beck-Textausgabe des Grundgesetzes (2006), S. XII. Siehe auch H. Bielefeldt, Das Folterverbot im Rechtsstaat (2004), S. 6: „Die Menschenwürde (. . .) bildet (. . .) die Grundlage moralischer und rechtlicher Normen überhaupt und damit die Basis des Rechtsstaates. Die Formulierung in Artikel 1 des Grundgesetzes, dass Achtung und Schutz der unantastbaren Menschenwürde ,Verpflichtung aller staatlichen Gewalt‘ ist, muss daher wörtlich genommen werden: Mit der konsequenten Umsetzung dieser Verpflichtung steht und fällt der Rechtsstaat.“ (Hervorhebung im Original, Fn. weggelassen). 17 Vgl. zu dem Verhältnis der Begriffe „Würde“, „Freiheit“, „Selbstbestimmung“ und „Persönlichkeit“ zueinander Ch. Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung (1997), S. 10 ff. 18 Vgl. „Zum Begriff der Person im Recht“ (in: H. Koriath, u. a. (Hrsg.), Grundfragen des Strafrechts, Rechtsphilosophie und die Reform der Juristenausbildung (2010), S. 69 ff.) und die 3. Auflage von Norm, Person, Gesellschaft (2008). 19 Verweis auf die Begrifflichkeit Kants, in: „Zum Begriff der Person im Recht“, a. a. O. (Fn. 18), S. 74. 20 „Zum Begriff der Person im Recht“, a. a. O. (Fn. 18), S. 73, 74.
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Gesellschaft sowohl faktisch als auch rechtlich mitgestalten), so ist ihm zuzustimmen: Er weist damit nur auf die Selbstverständlichkeit hin, dass der Rechtsbetrieb nach tatsächlich vorhandener bzw. fehlender rechtlicher Zurechnungsmöglichkeit unterscheiden muss. Auf dieser Ebene ist ihm auch darin zuzustimmen, dass die Teilhabemöglichkeit an der Rechtsgemeinschaft „quantifizierbar“ ist: Es gibt beispielsweise zivilrechtliche Einschränkungen der Geschäftsfähigkeit und öffentlich-rechtliche Beschränkungen im aktiven und passiven Wahlrecht oder beim Zugang zu öffentlichen Ämtern. Damit ist aber zu dem fundamentalen Begriff der Person im Recht noch nichts gesagt. Dass Personalität (in einem fundamentalen Sinn) angeboren ist,21 dass sie es ist, weil der Mensch in seiner Anlage der Vernunftbegabung den Grund für die notwendige Respektierung als Person immer schon in sich trägt, dass dies unabhängig von tatsächlich erreichter Vernünftigkeit, also auch unabhängig etwa vom Reifegrad der Person oder ihrer rechtstreuen Gesinnung, ist, wird durch Jakobs’ Überlegungen verschleiert. Gleichzeitig (und insofern folgerichtig) werden auch die Konsequenzen aus einem solchen fundamentalen Personenbegriff von Jakobs negiert: Die zwingende Anerkennung eines jeden (durch seine Anlage als Vernunftwesen ausgezeichneten) Co-Subjekts als Rechtsperson, unabhängig von seiner Reife, geistigen Begabung, rechtsfeindlichen oder -freundlichen Gesinnung, die damit verbundene absolute, rechtliche Grenze des menschenwürde-gemäßen Umgangs mit ihm, das Verbot seiner Verobjektivierung und Nutzbarmachung, die Unverlierbarkeit des Status‘ als Rechtssubjekt, kurz: der Selbststand des Subjekts gegenüber den Interessen der Rechtsgemeinschaft. Jakobs’ Erwiderung22 auf diese Fundamentalkritik betrifft lediglich einen anderen, in gewisser Weise nachrangigen23 Aspekt der „Abtrennbarkeit“ des Personenstatus vom einzelnen Subjekt, nämlich die „Befugnis zur Fremdverwaltung“ eines Subjekts im Fall seiner Rechtsuntreue. Diese Befugnis ist, jedenfalls wenn man sie wie Jakobs versteht, die logische Konsequenz aus der Vorstellung, Rechtstreue sei eine Bringschuld, die erfüllt werden müsse, um als Person anerkannt zu werden: Wird Rechtstreue nämlich nicht geleistet, so dürfe sie erzwungen werden und zwar in einer Weise, dass der Gezwungene „als Teil der Natur“ 21 Vgl. dazu auch I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einteilung der Rechtslehre, AB 45 (Ak.-Ausg. Band VI, S. 237): „Das angeborene Recht ist nur ein einziges. Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht.“ Und: „Die m o r a l i s c h e Persönlichkeit ist also nichts anderes als die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen (. . .).“ (AB 22; Ak.-Ausg. Band VI, S. 223). „Moralisch“ ist hier im Übrigen nicht im Sinne von „ethisch“ (als Gegenbegriff zu „juridisch“) zu verstehen, sondern als überhaupt freiheitsgesetzlich. 22 Im Folgenden wird Bezug genommen auf G. Jakobs, „Zur Theorie des Feindstrafrechts“ (2010). 23 Nachrangig deshalb, weil von einer „Depersonalisierung“ sinnvoll erst nach Bestimmung der „Personalisierung“ gesprochen werden kann.
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traktiert, also „insoweit nicht als Person“ behandelt werde.24 Rechtszwang ist also nach Jakobs zwar „erlaubter“ Zwang, dem Gezwungenen gegenüber aber keine rechtliche Handlung, sondern naturhafte Nötigung; soweit der Einzelne gezwungen werde, werde er „depersonalisiert“, also als Naturwesen und nicht als Rechtssubjekt behandelt. Rechtszwang nach Jakobs ist also erlaubte (Teil-)Entpersonalisierung. Jakobs richtet sich damit gegen eine Vorstellung von Rechtszwang, die dessen rechtliche Zulässigkeit von der grundsätzlichen Begründbarkeit der Zwangsmaßnahme auch dem betroffenen Subjekt gegenüber und von der Vereinbarkeit gerade auch mit seiner Autonomie abhängig macht.25 Dierksmeier formuliert diese Vorstellung in folgender Weise: „Jeglicher Zwang muß aus der Applikation des Rechtsprinzips auf ein endliches Subjekt gefolgert und insbesondere dem gezwungenen Subjekt gegenüber als freiheitsverträgliche und freiheitsnotwendige ,V e r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s der Freiheit‘ (Kant, Metaphysik der Sitten, § D, Ak-Ausg., VI, S. 231), geltend gemacht werden. Von dem gezwungenen Subjekt aus muß sich das Recht als freiheitskonforme Selbstnötigung durch andere verstehen lassen. Nur dann wird das Subjekt im Rechtszwang nicht verneint, sondern als Freiheitssubjekt bestätigt.“ 26 24 G. Jakobs, „Zur Theorie des Feindstrafrechts“ (2010), S. 168. Fundamentale Kritik zu einem solchen Verständnis schon bei P. J. Anselm von Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinlichen Rechts (1799), Teil 1, S. 91–95. Vgl. auch G. W. F. Hegel, GPhR, § 57 (Anm.): Die Ansicht, den „Menschen als Naturwesen überhaupt nach seiner Existenz (. . .) zu nehmen, ist seinem Begriff nicht angemessen.“ Die Auffassung, die „bei der begrifflosen Existenz stehen bleibt, (enthält) den Gesichtspunkt von Vernünftigkeit und Recht gar nicht. Der Standpunkt des freien Willens, womit das Recht und die Rechtswissenschaft anfängt, ist über den unwahren Standpunkt, auf welchem der Mensch als Naturwesen und nur als an sich seiender Begriff, der Sklaverei daher fähig ist, schon hinaus.“ Vgl. zur kritischen Auseinandersetzung mit dem Verständnis Fichtes (der ähnlich wie Jakobs von der Befugnis ausgeht, den anderen nach geschehenem Unrecht als „bloßes Sinnenwesen“ zu behandeln) R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre J. G. Fichtes (1981), S. 64 ff. Er weist nach, dass in der Annahme, dass durch die Unrechtshandlung das Rechtsverhältnis zerstört wird, ein Widerspruch insofern liegt, als dann auch jeder Grund für die Begründung eines Gegen- bzw. Zwangsrechts wegfiele, somit die Zwangsbegründung (bzw. die Begründung der Befugnis, den anderen als bloßes Sinnenwesen zu behandeln) ihrerseits nicht mehr rechtlich sein kann (genauer S. 68, 69, a. a. O.). M. Köhler nennt den gedanklichen Schritt bei Fichte, in dem sich durch das begangene Unrecht das Anerkennungsverhältnis überhaupt auflöst, einen „hobbesianische(n) Absturz“ („Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“ (1992), 93 (110)). 25 So vor allem M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“ (1992) 93 ff.; ders., „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ Rechtsphilosophische Hefte, Bd. 1 (1993), S. 79 ff.; ders., Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung (1983); ders., Der Begriff der Strafe (1986); ders., „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), 11 ff. Zustimmend K. Gierhake, „Feindbehandlung im Recht?“ ARSP 2008, S. 337 (352 ff.), Vgl. ferner zu Kants Herleitung des Zwangs aus dem Rechtsbegriff unten S. 343 ff. 26 C. Dierksmeier, „Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff“ (2009), S. 42 (48) (Hervorhebungen im Original, Fußnoten weggelassen).
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Rechtszwang kann danach nur durch diese Kriterien von „illegitimen Zwangsanmaßungen“ 27 geschieden werden. Jakobs meint, dass sich eine solche Legitimation des Zwangs gegenüber dem Einzelnen nur dadurch erreichen lasse, dass man auf einen „virtuellen Willen des Gezwungenen“ 28 verweise, der aber in Wahrheit gerade nicht bestehe. Gezwungen werde nicht das verständige Rechtssubjekt, sondern das Naturwesen. In dem Augenblick, wo staatlicher Zwang auf das Einzelwesen trifft, verwandelt es sich demnach von einer verständigen Rechtsperson (die eine Rechtspflicht zur Duldung von Zwangsmaßnahmen trifft)29 in ein die Zwangswirkung bloß noch hinnehmendes Naturwesen. Nur der Grund dafür, dass gezwungen werden darf, liege im Recht, nicht aber die Zwangshandlung selber. Nimmt man zur Verdeutlichung dieses Verständnisses konkrete Beispiele staatlicher Zwangshandlungen in den Blick, so lassen sich die Konsequenzen aus einer solchen Sicht für das vom Zwang betroffene Subjekt gut demonstrieren: Entzieht etwa der Vollstreckungsbeamte nach einem rechtskräftigen Urteil dem Schuldner seinen Porsche, so wäre dies nach Jakobs ein durch das Recht gestützter faktischer Entzug, der sich aus Sicht des Betroffenen von einem gewöhnlichen Diebstahl nicht unterschiede, da er die faktische Wegnahme ohne rechtliche Sinngebung nur als Naturwesen erlebte. Wird beispielsweise ein Demonstrant auf dem Weg zur Kundgebung wegen Gewalttätigkeit in vorläufigen Polizeigewahrsam genommen, so wäre dies aus Sicht des Demonstranten nichts anderes als eine faktische Freiheitsberaubung, die ebenso gut durch natürliche Hindernisse (z. B. herabfallende Felsbrocken) hätte erfolgen können – denn er erduldete die Festnahme nicht als verständiges Rechtssubjekt, sondern als entpersonalisiertes Naturwesen. Dies gälte auch für einen verurteilten Straftäter, dem die Freiheit wegen des von ihm begangenen Unrechts entzogen wird: Er würde in der Freiheitsstrafe nicht mehr als ein natürliches Fortbewegungshindernis sehen, denn ihn träfe sie ja nicht als einsichtsfähige Rechtsperson, sondern wiederum als bloßes Naturwesen. Es zeigt sich, dass die Auffassung Jakobs’ dazu führt, dem Sinngehalt der Zwangsmaßnahme und damit dem Verständnis dieses Sinnes durch den Betroffenen jegliche Relevanz für die Zwangsbegründung zu nehmen. Dies führt in der Konsequenz dazu, die Bedeutung des Subjekts als Adressat der Zwangshandlung vollkommen zu negieren. So wird Jakobs seiner eigenen Forderung nicht gerecht, nämlich zu klären, was „Zwang gegen eine Person bezogen auf diese Person begrifflich ist“ 30. Seine Antwort, nämlich: Natureinwirkung und „Depersonalisie27 M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“ (1992), S. 93. 28 G. Jakobs, „Zur Theorie des Feindstrafrechts“ (2010), S. 168. 29 Vgl. ebenda, S. 169. 30 Ebenda, S. 167 (Hervorhebung im Original).
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rung“, kann einer differenzierten Betrachtung je nach Art und Grund des Zwangs, seiner spezifischen Wirkung beim betroffenen Subjekt und seinem Sinn nicht standhalten. Dass der Schuldner eine Zwangsmaßnahme als rechtens anerkennen kann (er weiß genau, dass er „schuldet“), obwohl sie ihm aktuell unangenehm ist, dass der Demonstrant einsehen kann, dass nur friedliche Kundgebungen erlaubt sind (eine rechtliche, auch ihn aufnehmende und ihm sein Demonstrationsrecht gewährleistende Ordnung wäre bei ungezügeltem Ausbruch von Gewalt unmöglich), obwohl er im Moment gewaltgeneigt ist, dass der Straftäter verstehen kann, dass er mit der Strafe die Konsequenz aus seinem eigenen Unrecht trägt – all dies wird bei Jakobs ausgeblendet, der Gezwungene zum Naturwesen degradiert und die Maßnahme damit jeglicher Sinnhaftigkeit beraubt. Dass die Einsicht in die Rechtmäßigkeit der Maßnahme nicht immer konkret und in der entsprechenden Situation beim Betroffenen auch tatsächlich vorliegt, heißt ganz gewiss nicht, dass bloß der „virtuelle Wille“ des Gezwungenen in Ansatz gebracht wird. Denn obwohl im Moment der zwangsweisen Inanspruchnahme diese vom Betroffenen nicht aktuell befürwortet werden wird, besteht ein – auch für ihn – erkennbarer Unterschied zu willkürlichen Gewaltanmaßungen (wie sie etwa in Unrechtsregimen vorkommen – willkürliche Enteignungen, Festnahmen, Inhaftierungen).31 Mit der Behauptung, dass der Einzelne als Gezwungener diese Unterschiede nicht wahrnimmt und nur stoisch den Zwang erduldet, werden seine intellektuellen Fähigkeiten (insbesondere die Tatsache seiner Vernunft) ganz gewiss unterschätzt.32 Und durch diese Unterbewertung des Subjekts entgeht Jakobs das entscheidende Kriterium dafür, wann eine Zwangsmaßnahme rechtens ist und wann nicht, ja die Unterscheidung wird überhaupt unmöglich. Dieser grundsätzliche Fehler setzt sich im Konzept des „Feindstrafrechts“ konsequent fort. Bei näherem Hinsehen ist nach Jakobs gar kein qualitativer Unterschied zwischen „normalen“ staatlichen Zwangsmaßnahmen (Zwangsvollstreckung, Polizei- und Ordnungsrecht, Strafrecht) und der durch die Feinderklärung ausgelösten Exklusion aus dem Recht zu verzeichnen. In beiden Fällen sorgt die staatliche Maßnahme gleichermaßen dafür, dass der Betroffene (jedenfalls partiell) entpersonalisiert wird. Eine Abgrenzung zwischen rechtlicher Zwangs- und außerrechtlicher Feindbehandlung ist qualitativ also gar nicht mehr möglich. Der 31 Vgl. M. Köhler, „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ Philosophische Hefte (1993), S. 79 (85): „Kritisch-schlüssig, auch für das Vorverständnis, muß sich legitimer Rechtszwang also von irgendwelchen naturzuständlichen Anmaßungen und Zumutungen dadurch unterscheiden, dass er in Analogie zum vernünftigen Selbstzwang konkret auch aus der Perspektive des Gezwungenen als Vernunftsubjekt noch einsichtig sein kann, sei es auch in zähneknirschendem Respekt.“ 32 Vgl. die zutreffende Kritik von B. Zabel, Schuldtypisierung als Begriffsanalyse (2007), S. 339 (mit Verweis auf S. 283 ff. derselben Arbeit): Der formalistische Personenbegriff Jakobs’ sei nur denkbar, weil er den „identitäts- und reflexionspraktischen Hintergrund des Bürgerseins, und unter Umständen des in einem rechtsstaatlichen Strafverfahren Angeklagten, einfach ausblendet.“
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einzige Unterschied liegt im Maß der „Fremdverwaltung“ durch den Staat: Während die meisten Zwangsmaßnahmen nur von kurzer Dauer, eingeschränkter Bedeutsamkeit für den Betroffenen und materiell begrenzt durch die grundsätzliche Rechtstreue des Betroffenen sind (die lebenslange Freiheitsstrafe etwa ist freilich auch ihrem Maß nach erheblich), wird beim Feindstrafrecht davon ausgegangen, dass der Betroffene sich vom Recht endgültig abgewandt hat und er deshalb solange „fremdverwaltet“ werden muss, bis er wieder Gewähr für zukünftige Rechtstreue leistet, also potentiell für immer. Insofern setzt jede Kritik des Feindstrafrechts, die nur auf das Problem der „Entpersonalisierung durch Feinderklärung“ abstellt, zu spät an. Das Fehlverständnis liegt – wie gezeigt – schon im Personen-, Rechts- und Zwangsbegriff Jakobs’. Es ist nur überwindbar durch eine Korrektur im Jakobsschen Grundverständnis von Person, Norm und Gesellschaft.
B. „Kriegsrechtlich orientiertes Präventionsrecht“ (Pawlik) Mit seinem Text Der Terrorist und sein Recht (2008) hat Michael Pawlik eine eingehende Analyse des Terrorismusproblems und einen Vorschlag zu seiner rechtlichen Bewältigung vorgelegt.33 Sein Ausgangspunkt ist die Parallele des Phänomens „Terrorismus“ zu kriegerischen Handlungen; er beschreibt den (internatonalen) Terrorismus als Form der (verdeckten) Kriegsführung.34 Drei Aspekte seien dafür maßgeblich: – Ob ein Angriff als ein kriegerischer Akt wahrgenommen werde, hänge erstens wesentlich von seiner Zerstörungswirkung ab.35 Terroristen verfügten heute über ein entsprechendes kriegsähnliches Zerstörungspotential. – Zweitens komme es auf die Ziele des Terrors an: Der internationale Terrorismus sei auf die Vernichtung der „Anderen“ gerichtet, Feindschaft werde verabsolutiert, angestrebt sei ein „totaler Krieg“.36 33 Vgl. dazu schon hier die kritische Beurteilung von H.-U. Paeffgen, „Bürgerstrafrecht, Vorbeugungsrecht, Feindstrafrecht?“ (2009), S. 81 (88–91). 34 Vgl. dazu auch H. Münkler, „Der Terror und wir“ (2006), S. 179. Kritisch zu den Konsequenzen einer solchen Gleichsetzung W. Hetzer, „Terrorabwehr im Rechtsstaat“ ZRP 2005, S. 132 (133), der darauf hinweist, dass es dann nicht mehr um die „Klärung eines Verdachts zur Verfolgung begangener Straftaten oder die Bekämpfung von Verdächtigen, denen immerhin bis zur Verurteilung die prozessualen und nach der Verurteilung die materialen Menschrechte zustehen“ gehe, sondern um die Bekämpfung des schlechthin Bösen, „welches so böse ist, dass man anscheinend glaubt, die einem Kriegsgegner zustehenden Rechte nicht mehr respektieren zu müssen“. 35 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 18. 36 Vgl. ebenda, S. 19, 20. H. Münkler, „Der Terror und wir“ (2006), S. 189 ff., versteht deshalb den modernen islamistischen Terrorismus als eine „Strategie des Verwüstungskrieges“; siehe dazu auch unten S. 316 ff.
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– Drittens fühle sich der Terrorismus bei seiner „Kriegsführung“ an keinerlei Regeln gebunden, er setze auf willkürliche Gewalt und sei unberechenbar.37 Es zeige sich, dass die herkömmliche juristische Trennung zwischen Kriegsrecht, Polizeirecht und Strafrecht dem „formensprengende(n) Phänomen“ des transnational-islamistischen Terrorismus nicht standhalte.38 Dadurch entstehe eine besondere Schwierigkeit im rechtlichen Umgang mit dieser Form der Bedrohung: Es sei unklar, mit welchem „Rechtsregime“ der Staat reagieren solle, es seien gänzlich „neue Begrifflichkeiten“ erforderlich.39 Zur Begründung schreibt er folgendes: „Wenn der Terrorismus erstens ein f u n k t i o n a l e s Ä q u i v a l e n t z u m t r a d i t i o n e l l e n S t a a t e n k r i e g darstellt, dann lässt sich der beklemmende Befund nicht umgehen, dass es dem Angegriffenen nicht grundsätzlich verwehrt sein kann, sich b e i d e r B e k ä m p f u n g d e s T e r r o r i s m u s a n W e r t u n gen kriegsrechtlicher oder doch zumindest kriegsrechtsä h n l i c h e r P r o v e n i e n z z u o r i e n t i e r e n . Da aber der Terrorismus zweitens durch die Abkehr von jeder Form symmetrischer Kriegsführung gekennzeichnet ist, kann es sich bei dem gesuchten Rechtssystem nicht um ein solches handeln, das, wie das klassische Kriegsvölkerrecht, aber auch das heutige Recht des internationalen (und letztlich auch des nicht-internationalen) bewaffneten Konflikts, auf den Prinzipien der Symmetrie und der Reziprozität beruht. Insbesondere gibt es keinen Grund, P e r s o n e n , deren Strategie gerade auf der Aufhebung der Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nichtkombattanten beruht, d i e Vo r t e i l e des Kombattanten- und des Kriegsgefangenenstatus einz u r ä u m e n .“ 40
Er folgert: „In der Verknüpfung einer asymmetrischen normativen Grundstruktur – Verteidigung des Rechts gegen das Unrecht – mit kriegsrechtsähnlichen Mitteln liegt demnach das spezifisch Neue des Rechtsregimes zur Bekämpfung des modernen Terrorismus. Die strikte Unterscheidung zwischen einer normativ symmetrischen Friedensordnung in 37 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 20, 21. Laut K. Graulich fallen politisch folgende Merkmale eines Terrorismus’, der als „Anwendungsfall der sog. neuen Kriege“ einzuordnen ist, besonders auf: „Internationalisierung, Entstaatlichung, eine Entbindung von jeglicher Gewaltbegrenzung, die Ablösung seiner Kämpfer von der herkömmlichen militärischen Kaste und die Diffusität des Kriegsziels insgesamt, insbesondere aber die Inbesitznahme von gesichertem Territorium als fehlendes Kriegsziel.“ (K. Graulich, „Terrorismus und Terrorismusbekämpfung – Folgt der Auflösung der rechtlichen Angriffsform die Auflösung der rechtlichen Verteidigungsform?“ (2007), S. 389 (398)). 38 Ähnlich G. Roellecke, „Der Rechtsstaat im Kampf gegen den Terror“ JZ 2006, 265 ff. 39 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 22. Die Frage nach dem richtigen „Instrumentarium“ zur Bekämpfung des Terrorismus taucht schon im Zusammenhang mit dem Terror der 1970er Jahre auf bei R. Wassermann, „Sicherung oder Aushöhlung des Rechtsstaates?“ (1976), S. 125 (131 ff.). 40 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 22, 23 (Hervorhebungen im Original, Fn. weggelassen, gesperrte Hervorhebungen von Verf.).
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Gestalt des Polizei- bzw. Strafrechts mit relativ eng umgrenzten Eingriffsbefugnissen auf der einen Seite und eines weitaus robusteren, auf der Prämisse grundsätzlicher normativer Symmetrie zwischen Konfliktparteien beruhenden Kriegsrechts auf der anderen Seite ist – (. . .) – durch die Realität überholt.“ 41
Das gesuchte Rechtsregime ist also nach Pawlik weder unmittelbar im Gefahrenabwehr- oder Strafrecht, noch im Kriegsrecht zu verorten, sondern muss eine „Mittelstellung“ einnehmen, um der neuartigen Bedrohung eine entsprechende neuartige Reaktion des Staates entgegensetzen zu können.42 Dieses neue Rechtsregime will Pawlik als „kriegsrechtlich orientiertes Präventionsrecht“ verstanden wissen, mit dem nicht bloß eine neue „Rubrizierung des Rechtsstoffes“, sondern eine Lösung des „Legitimations- und (. . .) Limitationsproblems“ einhergehen müsse.43 Der Gesetzgeber sei dabei gebunden durch die „spezifische Begründungslogik des (. . .) neuartigen Präventionsrechts“, für welches allerdings eine ausgearbeitete Dogmatik noch ausstehe.44 Pawlik selbst skizziert in seinem Beitrag die Eckpunkte für dieses Präventionsrecht, „das Terroristen als Feinde nicht entpersonalisiert, sondern anerkennt“. Ziel eines solchen Präventionsrechts müsse eine „rechtlich eingehegte Unschädlichmachung“ 45 der Terroristen sein. Der Leitgedanke bei der Beantwortung der Frage, wie dieses Ziel zu erreichen sei, laute, dass niemandem ein Rechtsvorteil daraus erwachsen dürfe, wenn er sich nicht der Formen des herkömmlichen Krieges, sondern eines funktionalen Äquivalents bediene. Aus diesem Grund hält Pawlik u. a. die folgenden staatlichen Maßnahmen zur Terrorismusbekämpfung für nicht prinzipiell ausgeschlossen: – Vorbeugende Inhaftierungen, die über den polizeirechtlichen Unterbindungsgewahrsam hinausgehen, – eine Sicherungshaft zur Durchsetzung ausländerrechtlicher Abschiebungsanordnungen46 und – gezielte Tötungen außerhalb der engen Grenzen des Polizei- und Notwehrrechts.47
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Ebenda, S. 23 (Fn. weggelassen). Als Gewährsleute für diese Ansicht benennt Pawlik beispielsweise Isensee, „Nachwort: Der Terror und der Staat, dem das Leben lieb ist“ (2004), S. 84 (91) und G. Roellecke, „Der Rechtsstaat im Kampf gegen den Terror“ JZ 2006, 265 ff. 43 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 40 (Hervorhebungen im Original). 44 Ebenda, S. 40, 41. 45 Ebenda, S. 42 (Hervorhebung der Verf.). 46 Ebenda. 47 Ebenda, Fn. 189, in der Pawlik auf ein Urteil des israelischen Supreme Courts zum sog. „preventive targeted killing“ verweist (und zwar mit Hochachtung vor der dort angewandten, um Rechtsstaatlichkeit bemühten argumentativen Sorgfalt), das sich mit 42
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Dabei müssten die Voraussetzungen, unter denen jemand als „feindlicher Gefährder“ inhaftiert werde, detailliert gesetzlich geregelt sein und das Gefährdungspotential der betroffenen Personen müsse jenem Maß an Gefährlichkeit gleichkommen, das auch sonst zu Freiheitsentziehungen berechtigt. Als Maßstab könnten nach Pawlik dafür die Regelungen der §§ 129a und 89a StGB herangezogen werden, denen der „Sache nach die Funktion einer vorweggenommenen Sicherungsverwahrung“ zukomme.48 Das Maß des Freiheitsentzugs und seine nähere Ausgestaltung (regelmäßige Überprüfung der Haftfortdauer, Aussetzung der Vollstreckung zur Bewährung, etc.) könne sich dabei an den Regelungen zur Sicherungsverwahrung in den §§ 66 ff. StGB orientieren.49 Den Verdächtigen müsse allerdings prozessualer Rechtsschutz zukommen – vor allem im Rahmen eines gerichtlichen Feststellungsverfahrens, durch das verbindlich der Status als „Terrorist“ zu klären wäre.50 Als Inhaftierte sollen die Betroffenen nach Pawlik zum Zwecke der Informationsgewinnung herangezogen werden können, und zwar ohne dem strikten Schutz des § 136a StPO zu unterliegen. Pawlik hält beispielsweise taktische Täuschungen über das Aussageverhalten von Mitinhaftierten, das Versprechen gesetzlich nicht vorgesehener Gegenleistungen für Aussagen oder den Einsatz eines Lügendetektors auch gegen den Willen des Betroffenen für rechtlich mögliche Maßnahmen der Gefahrabwendung. Das Verdienst der grundlegenden Auseinandersetzung Pawliks mit dem Problem des Terrorismus liegt vor allem darin, die Schwierigkeit einer zutreffenden Einordnung in eines der klassischen Rechtsgebiete deutlich herausgearbeitet zu haben: Dass das Strafrecht nicht als reines Präventionsrecht ausgestaltet werden kann, ohne damit seine eigenen grundlegenden Prinzipien (insbesondere das Tat- und Schuldprinzip) zu verletzen, hat sich auch in der vorliegenden Arbeit erwiesen – dem Status von Mitgliedern terroristischer (palästinensischer) Organisationen beschäftigt und sie (völkerrechtlich fragwürdig) als „unlawful combatants“ in einem (völkerrechtlich ebenfalls fragwürdigen) „international armed conflict“ einordnet (Public Committee against Torture in Israel vs. Government of Israel, Case-Nr. HCJ 769/02, abrufbar unter http://elyon1.court.gov.il/files_eng/02/690/007/A34/02007690.a34.pdf.) Kritisch zu diesem Urteil und seiner völkerrechtlichen Basis – auch bei Pawlik zitiert – O. Ben-Naftali/K. Michaeli, The American Journal of International Law 101 (2007), S. 459 ff.; siehe ferner K. E. Eichensehr, „On target? The Israeli Supreme Court and the expansion of targeted killings“ YLJ 116 (2007), S. 1873 ff.; W. J. Fenrick, „The targeted killings judgement and the scope of direct participation in hostilities“ JICJ 5 (2007), S. 332 ff.; H. Keller/M Forowicz, „A tightrope walk between legality and legitimacy: An analysis of the Israeli Supreme Court’s Judgement on targeted killing“ LJIL 21 (2008), S. 185 ff. Vgl. zur weiteren Entwicklung der Rechtsprechung des Supreme Court of Israel auch H. Lahmann, „The Israeli Approach to Detain Terrorist Suspects and International Humanitarian Law: The Decision Anonymous v. State of Israel“ ZaöRV 2009, S. 347 ff. 48 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 43. 49 Ebenda, S. 45. 50 Ebenda, S. 44.
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und zwar ganz unabhängig davon, welcher der vertretenen Unrechts- und Strafbegründungen man sich anschließt.51 Dass die Lösung im Bereich zwischen Gefahrenabwehrrecht auf der einen Seite und dem Kriegsrecht auf der anderen liegen könnte, ist eine plausible, aber genauer zu prüfende Möglichkeit des rechtsstaatlichen Umgangs mit dem Terrorismusproblem.52 Die Überprüfung hat anzusetzen an der Sichtung der Grundprinzipien beider Rechtsgebiete, der Rechtsstellung des „Terroristen“, der von ihm ausgehenden potentiellen Bedrohung fremder Güter bzw. staatlicher Institutionen sowie der jeweils vorgesehenen rechtsstaatlichen Reaktionsmöglichkeiten. Pawlik stellt seinem eigenen Konzept einen Vergleich zur Situation des Krieges, speziell des „Partisanenkrieges“, voran und kommt dabei zu dem Ergebnis, dass der Terrorismus, jedenfalls in seiner modernen Form als transnational-islamistischer Terror, als eine Form der Kriegsführung, als „Äquivalent zum traditionellen Staatenkrieg“ erscheint.53 Daraus schließt er, dass „Wertungen kriegsrechtsähnlicher Provenienz“ der Orientierung dienen können. Dieser Ansatz ist im Folgenden zunächst genauer zu untersuchen (unter I.).54 Anschließen sollen sich Überlegungen zu der Verortung des Problems im Gefahrenabwehrrecht, insbesondere im Polizeirecht (dazu unter II.).55 Das Rechtsgebiet der Gefahrenabwehr erscheint prädestiniert, um die Prävention von terroristisch motiviertem Unrecht rechtlich zu regeln, da es ein dogmatisch ausgearbeitetes und rechtsstaatlich abgesichertes Regelement von Gefahrenvorsorge, -aufklärung und -abwehr enthält. Allerdings gilt es, den Sonderfall des drohenden, schuldhaft bewirkten (Kriminal-)Unrechts mit besonderer terroristischer Motivation von sonstigen, etwa bloß „verursachten“ Gefahren zu unterscheiden.
I. Verortung des Terrorismusproblems im Anwendungsbereich des Kriegsrechts („Krieg gegen den Terror“)? Das Kriegsrecht (ius ad bzw. contra bellum sowie ius in bello) ist als völkerrechtlicher Begriff klassischerweise nur auf bewaffnete Konflikte zwischen Staaten anwendbar.56 Bei bewaffneten Auseinandersetzungen innerhalb von Staaten (insbesondere: bei Bürgerkriegen) sind deshalb nicht die Regeln des Kriegsrechts 51 Vgl. dazu den 4. Teil dieser Arbeit und M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 25–37. 52 In dieselbe Richtung denkt auch K. Waechter, „Polizeirecht und Kriegsrecht“ JZ 2007, S. 61 ff. 53 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 22; genauso: H. Münkler, „Der Terror und wir“ (2006), S. 181 ff. 54 Vgl. dazu auch M. A. Zöller, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 106 ff. 55 In diese Richtung tendiert G. Roellecke, „Der Rechtsstaat im Kampf gegen den Terror“ JZ 2006, 265 (269), freilich ohne sich letztlich festzulegen.
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i. e. S., sondern ein sich im Bereich des humanitären Völkerrechts herausgebildetes Rechtsregime anwendbar, das für den Fall solcher Auseinandersetzungen ein Mindestmaß an Schutz für Wehrlose und menschenrechtliche Garantien festlegt.57 Dass es sich bei dem „Kampf gegen den Terrorismus“ nicht um einen „Krieg“ im klassischen Sinne handelt, ist offensichtlich:58 Es liegt kein bewaffneter InterStaatenkonflikt vor und „Gefährder“ bzw. „Terroristen“ sind regelmäßig keine Soldaten eines mit dem deutschen Staat im Krieg befindlichen fremden Staates.59 Aber auch die Einordnung des „Kampfes“ als „bewaffnete, nicht-internationale Auseinandersetzung“ im völkerrechtlichen Sinne ist mehr als fragwürdig. Sie setzt voraus, dass bürgerkriegsähnliche Zustände herrschen,60 beispielsweise durch bewaffnete Aufstände regierungsfeindlicher Gruppen oder gewaltsame Umsturzbewegungen. Terroristische Anschläge, die wie z. B. die verhinderten Anschläge durch Kofferbomben in deutschen Bahnen,61 als einmalige, gezielte Aktionen geplant sind, lassen sich nicht als solche „Aufstandsbewegungen“ einordnen.62 56 Vgl. M. Bothe, „Kriegsrecht“ (2007), Achter Abschnitt, Rn. 2, 120. Der Begriff des Krieges soll dabei nicht von einer formellen Kriegserklärung, sondern vom faktischen Einsatz von Waffengewalt abhängen (K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 586). 57 Zu nennen sind hier insbesondere der gemeinsame Art. 3 der Genfer Konventionen von 1949 und das Zusatzprotokoll II über den Schutz der Opfer nichtinternationaler Konflikte von 1977. Relevante Passagen des Zusatzprotokolls II finden sich insbesondere in den Art. 4 (Grundlegende Garantien), Art. 5 (Personen, denen die Freiheit entzogen ist) und Art. 6 (Strafverfolgung). Vgl. auch dazu M. Bothe, „Kriegsrecht“ (2007), Achter Abschnitt, Rn. 120–125. 58 Siehe dazu auch Ch. Tomuschat, „Der 11. September und seine rechtlichen Konsequenzen“ Rechtspolitisches Forum, IRP, Bd. 5, S. 5. 59 Aus diesem Grund sind sie nach dem klassischen Völkerrecht auch keine „Kombattanten“. Vgl. dazu K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 588: „Keinen Kombattantenstatus haben Terroristen inne, die weder von einem Staat entsendet oder unterstützt sind, (. . .). Terroristen in ihrer Isolation stehen nicht unter dem Schutz der Genfer Abkommen von 1949, bzw. ihrer Zusatzprotokolle, was sich aus der Definition ihrer Geltungsbereiche ergibt; sie sind Kriminelle i. S. nationalem und internationalem Strafrecht, und ihr humanitärer Schutz ergibt sich nur aus nationalem Recht und internationalen Menschenrechtsverträgen.“ Siehe dazu auch MüKo-Ambos, 1. Auflage (2009), Vor §§ 8 ff. VStGB, Rn. 37–43; J. A. Frowein, „Der Terrorismus als Herausforderung für das Völkerrecht“ ZaöRV 2002, S. 879 (893 ff.); M. Mofidi/A. E. Eckert, „,Unlawful Combatants‘ or ,Prisoners of War‘: The Law and Politics of Labels“ 36 Cornell Int’l L.J. (Spring 2003), S. 59 ff.; M. A. Zöller, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 109 ff. 60 M. Bothe, „Kriegsrecht“ (2007), Achter Abschnitt, Rn. 120 ff. und K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 639 ff. 61 Vgl. dazu OLG Düsseldorf, Entscheidung vom 09.12.2008, Aktenzeichen: III–VI 5/07: Das OLG Düsseldorf hat im „Kofferbomben“-Prozess den Angeklagten wegen versuchten Mordes an einer unbestimmten Anzahl von Menschen in Tateinheit mit versuchtem Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. 62 So auch K. Doehring, Völkerrecht, Rn. 645. Ähnlich M. A. Zöller, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 123, 124.
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Deshalb kann von einer direkten Anwendung des Kriegsrechts auf das Terrorismusproblem nicht ausgegangen werden – und damit auch nicht von der im Kriegszustand bestehenden Berechtigung des Staates, feindliche „Kombattanten“ zu töten.63 Davon unabhängig werden aber – nicht nur von Pawlik – Parallelen zwischen kriegerischen Auseinandersetzungen und terroristischen Anschlägen gesehen, mit denen jedenfalls die sinngemäße Anwendung kriegsrechtlicher Regelungen gerechtfertigt werden könnten. 1. Terrorismus als Form der Kriegsführung? (Münkler) Einer der Vertreter einer solchen Parallele ist der Politikwissenschaftler Herfried Münkler. Er schreibt, dass „der Terrorismus zu einer der wichtigsten Formen der Kriegsführung geworden ist“ 64 und stellt dies in den weiteren Zusammenhang der Ablösung klassischer zwischenstaatlicher Kriege, die durch grundsätzliche Symmetrie der Kriegsgegner gekennzeichnet waren, durch zunehmend asymmetrische, bewaffnete Konflikte, insbesondere im Rahmen sog. „Partisanenkriege“.65 Der Terrorismus in seiner modernen islamistischen Variante sei dabei am ehesten vergleichbar mit sog. „Verwüstungskriegen“, wie sie „Reiternomaden in den imperialen Grenzräumen“ führten:66 Es handele sich dabei um nicht reziproke bewaffnete Auseinandersetzungen, bei denen ein „technologische(s), soziale(s) und ökonomische(s) Gefälle“ bestehe, das die „zurückgebliebene und eigentlich unterlegene Seite so auszunutzen sucht, dass sie die Überlegenheit des Gegners in dessen Verletzlichkeit verwandelt. Was die Nichtsesshaftigkeit für die Reiternomaden war, die sie vor entsprechenden Gegenschlägen der angegriffenen Macht schützte, ist für heutige Terroristen die Netzwerkstruktur ihrer Organisationen. (. . .) Und was für die Reiternomaden ihre Beweglichkeit und Schnelligkeit war, ist für heutige Terrororganisationen die Klandestinität, durch die sie sich massiven Gegenschlägen entziehen.“ 67 Diesen Vergleich zieht Münkler als Grund für seine Vorschläge zur Bewältigung des Terrorismusproblems heran. Es gebe drei „Verteidigungslinien“ moderner Gesellschaften gegen solche „Verwüstungskriege“:68
63 Feindliche Kombattanten sind nach dem Kriegsvölkerrecht legitime „militärische Ziele“, dürfen also getötet werden (vgl. M. Bothe, „Kriegsrecht“ (2007), Achter Abschnitt, Rn. 63); siehe auch Ch. Tomuschat, „Der 11. September und seine rechtlichen Konsequenzen“ Rechtspolitisches Forum, IRP, Bd. 5, S. 6. 64 H. Münkler, „Der Terror und wir“ (2006), S. 179 ff. Zustimmend E. Werthenbach, „Terrorismus – Eine neue Form der Kriegsführung“ (2007), S. 123 (124). 65 H. Münkler, „Der Terror und wir“ (2006), S. 181 ff. 66 Ebenda, S. 191. 67 Ebenda, S. 192. 68 Vgl. dazu ebenda, S. 193 ff.
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– Erstens den „Polizeiapparat, der im Zusammenwirken mit den Geheimdiensten an der Enttarnung terroristischer Akteure arbeitet, um sie festzunehmen oder unschädlich zu machen, bevor sie zum Angriff übergehen können.“ – Zweitens den Einsatz „des Militärs bzw. militärischer Spezialeinheiten gegen identifizierte Knotenpunkte des terroristischen Netzwerks. (. . .) Terroristen sind auf (. . .) Ruhe- und Vorbereitungsräume angewiesen, und wer sie hier angreift, kann sie in Stress versetzen und so ihre strukturelle Angriffsfähigkeit erheblich beeinträchtigen. Die Terrorgruppen sind dann mehr mit ihrer Selbsterhaltung als mit der Planung und Durchführung von Angriffen beschäftigt.“ – Drittens müsse „die Bevölkerung des mit terroristischen Mitteln angegriffenen Staates auf diese Attacken ,mit zusammengebissenen Zähnen‘ reagier(en) und sich durch sie weder in ihren wirtschaftlichen Dispositionen, noch in ihrem Urlaubsverhalten, noch in ihrer Bereitschaft zur Nutzung öffentlicher Nahverkehrssysteme erschüttern (lassen).“ Münkler will diese Eigenschaft die „heroische Gelassenheit der Bevölkerung postheroischer Gesellschaften“ nennen. Die Parallele zu kriegerischen Auseinandersetzungen führt nach Münkler also zur Notwendigkeit der „Enttarnung terroristischer Akteure“, ihrer Festnahme oder Unschädlichmachung durch die Polizei, sowie des Einsatzes des Militärs zum Angriff auf terroristische Knotenpunkte. Münkler hält diese Maßnahmen und Reaktionsmöglichkeiten für solche der „Verteidigung“ eines angegriffenen Staates. Er differenziert allerdings in keiner Weise zwischen rechtlichen und (bloß) gesellschaftlichen, zwischen innerstaatlichen und staatsübergreifenden oder gar zwischen legitimen und illegitimen Maßnahmen; ebenso fehlt eine Unterscheidung der rechtsstaatlichen Akteure (Polizei, Geheimdienst, Militär, Spezialeinheiten) nach ihren jeweiligen Kompetenzen und Befugnissen. Auch wird begrifflich unpräzise von „Verteidigung“ auch dort gesprochen, wo es um polizeiliche Aufklärungsarbeit, Ingewahrsamnahme und Gefahrenabwehr geht; die Qualität des „Angriffs“ bleibt dabei im Dunkeln. Der Einsatz des Militärs wird darüber hinaus voraussetzungslos überall dort empfohlen, wo es um die Beseitigung „terroristischer Knotenpunkte“ geht, ohne dass dabei die Grundsätze nationalen oder internationalen Rechts auch nur gesichtet würden. Diese politologisch-soziologische Perspektive Münklers verhindert eine differenzierte und durchdachte rechtliche Lösung des Terrorismusproblems eher, als dass sie ihr nützt. Besonders deutlich wird dies mit der Beschreibung, die Münkler für die Person des Terroristen, insbesondere für die des Selbstmordattentäters, gibt: „(. . .) Selbstmordattentäter sind eine Mischung aus Krieger und Bombe, wobei sie insgesamt der Bombe näher stehen als dem Krieger (. . .). Auf der Ebene des Gesamtplans eines Krieges geht es nicht darum, die Funktionsweise der Bombe zu erklären, sondern den Plan zum Einsatz der Bomben zu dechiffrieren. Diejenigen, die nach dem 11. September die Erklärung dafür in der Religion gesucht haben, haben letztlich die Gesamtstrategie des Terrorismus mit den Bauplänen menschlicher Bomben
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verwechselt. Selbstmordattentäter sind bloß die Cruise missiles und Kampfdrohnen des kleinen Mannes. Was für den Westen F16, Tornados, Kampfhubschrauber und präzisionsgesteuerte Lenkwaffen sind, sind für die Terroristen die Selbstmordattentäter. Sie sind die Funktionsäquivalente eines Krieges, der nicht mehr als ein symmetrischer Konflikt ausgetragen wird, sondern in dem die Gesetzmäßigkeiten der Asymmetrie und der Asymmetrierung zur Geltung kommen.“ 69
Münklers Fehlqualifizierung von Rechtssubjekten als bloße Kriegsmittel („Bombe“, „Cruise missile“, „Kampfdrohnen“) verrät eine geradezu naive Unterschätzung des Legitimationsproblems, welches der Rechtsstaat für den Lebenzerstörenden und Freiheit-beschränkenden Umgang mit Personen zu bewältigen hat: – Erstens ist eine Gleichsetzung wie die von „Kampfdrohne“ und „Mensch“ schon kategorisch ausgeschlossen – sie würde Objekt mit Subjekt verwechseln; – zweitens ist eine von freiheitlichen Prinzipien getragene, verfassungsrechtlich abgesicherte und in den Details strikt geregelte Normierung unentbehrlich – ohne sie handelte es sich um eine bloße Machtausübung, die selbst hinter dem Kriegsrecht als „Recht in einem rechtlosen Zustand“ 70 zurückbliebe; – drittens erfordert es jeweils einen völlig anders gearteten legitimatorischen Aufwand, Personen „festzunehmen“ oder sie „unschädlich“ zu machen; beides ist aber wiederum außerordentlich problematisch, wenn ein abzuwehrender Angriff noch gar nicht vorliegt: Die präventive Festnahme oder „Unschädlichmachung“ einer Rechtsperson ist möglicherweise überhaupt nicht zu rechtfertigen oder stellt zumindest Höchstanforderungen an die für sie aufgebotene Begründung; – viertens lassen sich gewaltsame Angriffe auf Personenansammlungen ganz gewiss nicht damit rechtfertigen, dass die betroffene Gruppe dadurch „in Stress versetzt“ und so mehr „mit ihrer Selbsterhaltung als mit der Planung und Durchführung von Angriffen beschäftigt“ ist: Das Bild erinnert allzu sehr an das Kind, das im Wald mit einem Stock in einen Ameisenhaufen sticht, um die Tiere in Stress zu versetzen und ihnen dabei zusehen zu können. Die von Münkler unternommene politologische Untersuchung neuerer Kriegsformen kann für die gesuchte Lösung des rechtsstaatlichen Umgangs mit dem Terrorismusproblem allenfalls einen informativen Hintergrund bilden; dagegen verbieten sich sowohl handlungs-leitende Parallelenziehungen zu beschriebenen Kriegsformen als auch jeglicher unmittelbarer Schluss auf rechtsstaatliche Reaktionsmöglichkeiten und -notwendigkeiten. 69
Ebenda, S. 180, 181. Vgl. dazu I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 57 (A 222, B 252; Ak.-Ausg., Band VI, S. 347), der bezogen auf das „Recht im Kriege“ von „Gesetz in diesem gesetzlosen Zustand“ spricht. 70
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Soll also die sinngemäße Anwendbarkeit kriegsrechtlicher Prinzipien für das Terrorismusproblem begründet werden, so hilft die von Münkler gezogene, rein phänomenologische Parallele zu neueren Formen der Kriegsführung allein nicht weiter – und zwar unabhängig davon, ob diese Parallelisierung überzeugt oder nicht. 2. Sinngemäße Anwendung des Kriegsrechts nach Pawlik Pawlik belässt es nicht bei diesem schlichten Schluss von der Notwendigkeit der kriegerischen Bewältigung eines Gegners auf legitime Maßnahmen des Rechtsstaates gegen gewaltbereite oder -tätige, terroristisch motivierte Personen. Er macht vollkommen zu Recht deutlich, dass ein legitimatorisches Problem zu lösen ist und dass dafür die reine Bekämpfungslogik zu kurz greift.71 Allerdings will sich Pawlik in zwei entscheidenden Punkten der Analyse Münklers anschließen: Der erste betrifft die Qualität des Konflikts zwischen Staat und Terrorist als „asymmetrische kriegerische Auseinandersetzung“, die im Grundsatz dazu führt, in dem Terroristen eine Art „Kombattanten“ zu sehen – bei Pawlik allerdings ohne ihm die damit kriegsrechtlich vorgesehenen Schutzmechanismen vor staatlicher Gewalt zuzuerkennen.72 Dies führt dazu, dass der „Terrorist“ zum legitimen Ziel militärischer Gewalt wird; die Grundregeln des Kriegsrechts besagen diesbezüglich folgendes:73 Kombattanten dürfen militärisch angegriffen werden, Zivilisten nicht. Das legitime Ziel ist es, die militärische Widerstandskraft des Gegners zu schwächen. Dazu ist diejenige Gewaltausübung zulässig, die zur Erreichung dieses Zwecks erforderlich ist: Militärische Gewaltausübung ist also durch ihre Notwendigkeit zur Ausschaltung bzw. Minderung der gegnerischen militärischen Widerstandskraft beschränkt. Beschränkt ist sie ferner durch das Verbot bestimmter Kriegsmittel, das Verbot „überflüssiger“ Leiden und das allgemeine „Humanitätsgebot“. Nimmt man mit Pawlik eine Parallele terroristischer Gewalt zur kriegerischen Auseinandersetzung an, so ist damit die Erlaubnis verbunden, den Terroristen im Rahmen des Erforderlichen militärisch auszuschalten. Das bedeutet, dass alles, was ihn militärisch schwächt, im Extremfall auch seine Tötung, grundsätzlich rechtlich möglich wäre. Damit stimmt überein, dass Pawlik als Ziel des von ihm vorgestellten Rechtsregimes die „Unschädlichmachung“ des Terroristen nennt. Beschränkt würde diese Befugnis nur durch die oben genannten Verbote bestimmter Kriegsmittel (z. B. konkrete Waffenverbote) bzw. der Zufügung „über-
71
Vgl. dazu oben bei Fn. 43. Vgl. oben bei Fn. 40. 73 Die Darstellung folgt hier M. Bothe, „Kriegsrecht“ (2007), Achter Abschnitt, Rn. 63, 64. 72
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flüssiger“ Leiden (z. B. Quälereien), und durch das „Humanitätsgebot“ (welches für sich genommen sicher zutreffend, aber konkretisierungsbedürftig ist). Der zweite Punkt grundsätzlicher Übereinstimmung mit Münkler findet sich in Pawliks Katalog staatlicher Maßnahmen, die er zur Erreichung des genannten Ziels für gerechtfertigt hält. Ganz ähnlich wie Münkler nennt er vorbeugende Festnahmen, Sicherungshaft und gezielte Tötungen außerhalb der engen Grenzen des Polizei- und Notwehrrechts. Dass diese Maßnahmen der Rechtfertigung bedürfen, erkennt Pawlik im Gegensatz zu Münkler aber durchaus. Dies zeigt sich nicht nur daran, dass er von der Notwendigkeit der „Anerkennung“ des Feindes statt von der Möglichkeit seiner Entpersonalisierung ausgeht.74 Er spricht sich zusätzlich für eine „rechtliche Einhegung“ des Kampfes aus und hält die Begrenzung der Maßnahmen durch das Verhältnismäßigkeitsprinzip für notwendig. Seine eigene Begründung für die genannten Maßnahmen hat allerdings nur ein einziges materielles Argument: Wer sich als gewalttätiger Terrorist selbst nicht an die Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-Kombattanten halte, dem dürften auch nicht die Vorteile des Kombattantenstatus eingeräumt werden. Allgemeiner formuliert: „Der Gegner wird so genommen, wie er sich selbst präsentiert: als Person, die einer dauerhaft gefährlichen Organisation angehört und sich aus diesem Grund nicht beschweren kann, wenn sie den zur Neutralisierung der Gefahr erforderlichen und nicht schlechthin unverhältnismäßigen Maßnahmen unterworfen wird.“ 75
Das Argument erinnert an Jakobs’ Diktum, dass derjenige, der die Garantie nicht leistet, er werde sich als „Person im Recht“ verhalten, auch nicht als „Person im Recht“ behandelt werden müsse.76 Zwar zieht Pawlik daraus nicht denselben Schluss auf die Befugnis zur „Entpersonalisierung“ der betroffenen Person. Er hält aber alles, was zur Neutralisierung der Gefahr notwendig und nicht schlechthin unverhältnismäßig ist, für zulässig. Damit setzt er den Betroffenen zumindest mit einem Kriegsgegner, wenn nicht gar mit einem bloßen Gefahrenherd gleich – und kommt damit der von Jakobs vorgesehenen Feindbehandlung gefährlich nahe. 3. Kritik Der Vorschlag, die Regeln des Kriegsrechts sinngemäß auf die staatliche Bekämpfung des Terrorismus anzuwenden, kann nur dann überzeugen, wenn nachgewiesen ist, dass die Regelungsmaterie beider Rechtsgebiete im Grundsatz vergleichbar ist. Dazu reicht eine Parallele in den phänomenologischen Erscheinungsformen „asymmetrischer gewaltsamer Auseinandersetzungen“ oder bei den 74 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 41, der damit dem Konzept des Feindstrafrechts, jedenfalls in der Form, die Jakobs vertritt, widerspricht. 75 Ebenda (Fn. weggelassen). 76 Vgl. G. Jakobs, „Staatliche Strafe“ (2004), S. 44.
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angewandten Gewaltmitteln (z. B. der Art der Waffen) nicht aus. Es ist vielmehr zu klären, ob die das Kriegsrecht fundierenden Prinzipien auch für die staatliche Bekämpfung des Terrorismus taugen. Dies lässt sich in zwei Schritten überprüfen. Zunächst müssen die theoretischen Grundlagen des Kriegsrechts erinnert werden, auf denen das geltende Recht fußt (dazu unter a)). Im Anschluss daran kann die Frage geklärt werden, ob diese Grundlagen auch der rechtlichen Bewältigung des Terrorismusproblems als Basis zu dienen geeignet sind (dazu b)). a) Das gedankliche Fundament des völkerrechtlichen Kriegsrechts Eine prägnante, freiheitsgesetzlich fundierte Grundlegung des geltenden Kriegsrechts findet sich in den Rechts- und Friedensschriften Immanuel Kants. Er geht dabei so vor, dass er zunächst den Bereich des öffentlichen Rechts überhaupt absteckt und in die drei Elemente Staatsrecht77, Völkerrecht und Weltbürgerrecht einteilt:78 „Alle rechtliche Verfassung aber ist, was die Personen betrifft, die darin stehen, 1. die nach dem S t a a t s b ü r g e r r e c h t der Menschen, in einem Volke (ius civitatis), 2. nach dem V ö l k e r r e c h t der Staaten in Verhältnis gegeneinander (ius gentium), 3. die nach dem W e l t b ü r g e r r e c h t , so fern Menschen und Staaten, in äußerem auf einander einfließenden Verhältnis stehend, als Bürger eines allgemeinen Menschenstaates anzusehen sind (ius cosmopoliticum).“ 79
Kant verortet nun das Kriegsrecht im Bereich des Verhältnisses der Staaten untereinander, also im Völkerrecht – eine bis für das heutige geltende Recht im Grundsatz gültige Einordnung.80 Nach Kant ist das Völkerrecht durch folgende „Elemente“ gekennzeichnet,81 die sich für das Verständnis der Regelungsmaterie des Kriegsrechts als unerlässlich erweisen: „1. (D)ass Staaten, im äußeren Verhältnis gegen einander betrachtet, (wie gesetzlose Wilde) von Natur in einem nicht-rechtlichen Zustande sind; 2. dass dieser Zustand ein Z u s t a n d des Krieges (des Rechts des Stärkeren), wenn gleich nicht wirklicher Krieg und immerwährende wirkliche Befehdung (Hostilität) ist, welche (. . .), obzwar dadurch keinem von dem anderen unrecht geschieht, doch an sich selbst im höchsten Grade unrecht ist, und aus welchem die Staaten, welche einander benachbart sind, auszugehen verbunden sind; 77
Vgl. dazu schon oben S. 94 ff. und S. 99 ff. Vgl. dazu schon Verfasserin, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 210 ff. 79 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, *-Anmerkung, BA 19. 80 Vgl. K. Doehring, Völkerrecht, § 11, Rn. 566 ff. 81 Vgl. dazu auch Th. Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Gewalt und Internationalisierung (2010), S. 110 ff. 78
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3. dass ein Völkerbund, nach der Idee eines ursprünglichen gesellschaftlichen Vertrages, notwendig ist, sich zwar einander nicht in die einheimische Misshelligkeiten derselben zu mischen, aber doch gegen Angriffe von außen zu schützen; 4. dass die Verbindung doch keine souveräne Gewalt (wie in einer bürgerlichen Verfassung), sondern nur eine G e n o s s e n s c h a f t (Föderalität) enthalten müsse, eine Verbündung, die zu aller Zeit gekündigt werden kann, mithin von Zeit zu Zeit erneuert werden muss, – ein Recht in subsidium eines anderen und ursprünglichen Rechts, den Verfall in den Zustand des wirklichen Krieges derselben untereinander von sich abzuwehren (foedus Amphictyonum).“ 82
Der natürliche Zustand, in dem sich die Staaten ursprünglich befinden, ist nach Kant ein „Zustand der Rechtlosigkeit“ insbesondere deswegen, weil für eventuelle Rechtsstreitigkeiten kein kompetenter Richter eingesetzt ist, der einen rechtskräftigen Spruch fällen könnte. Potentiell können sich Rechtsstreitigkeiten in diesem Zustand bis ins Unendliche ziehen, wenn sie nicht durch überlegene, dann aber bloß faktische Gewalt beendet werden. Der Krieg könne aber nur solange das erlaubte Mittel zur Verfolgung eigener Rechte gegen einen anderen Staat sein, solange sich beide Staaten im Naturzustand befinden und es keinen rechtlich gestützten Prozess zum Ausgleich von Zwistigkeiten gibt, der vergleichbar mit der Justiz im Rechtszustand wäre.83 Um dauerhaft Krieg zwischen den Staaten zu vermeiden, hält Kant es deshalb für notwendig, dass sich die Staaten aus ihrem naturzuständlichen Nebeneinander, in dem es stets zu Gewalttätigkeiten untereinander kommen kann, lösen und statt dessen zu einer „Verbündung“ in Form einer (besonderen) Rechtsverfassung übergehen:84 Die „rechtlich-praktische Vernunft (erklärt es) zur bedingungslosen Pflicht der Staaten, sich miteinander zu vertragen, d. h. (den) zwischenstaatlichen Zustand der äußerlich gesetzlosen Freiheit (. . .) im Verhältnis zueinander aufzugeben und gemeinsam einen dem ,bürgerlichen ähnlichen‘ Zustand, und das bedeutet in letzter Konsequenz: den allgemeinen (Welt-)Frieden zu stiften und damit nicht bloß einen Krieg zu beenden, sondern den Krieg überhaupt unmöglich zu machen; (. . .).“ 85
82 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 54, A 216, 217; B 246, 247 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 344). 83 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 56, A 220; B 250 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 346). 84 Siehe dazu u. a. O. Asbach, „Internationaler Naturzustand und Ewiger Friede“ (1998), S. 203 ff. (mit Bezügen zu Rousseaus politischer Philosophie); G. Cavallar, Pax Kantiana (1992), S. 178 ff.; J. Ebbinghaus, „Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage“, in: H. Oberer/G. Geismann (Hrsg.), Julius Ebbinghaus, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (1986), S. 1 ff., insbesondere S. 10 ff.; V. Gerhardt, Immanuel Kants Entwurf ,Zum ewigen Frieden‘ (1995), S. 91 ff.; O. Höffe, „Völkerbund oder Weltrepublik?“ (1995), S. 109 ff.; ders., „Kant als Theoretiker der internationalen Rechtsgemeinschaft“ (1998), S. 233 ff.; ders., Kategorische Rechtsprinzipien (1990), S. 249 ff. 85 G. Geismann, „Kants Rechtslehre vom Weltfrieden“ Zeitschrift f. philosophische Forschung 37 (1983), S. 363 (366) (Hervorhebungen im Original, Fußnote weggelassen).
B. „Kriegsrechtlich orientiertes Präventionsrecht‘‘ (Pawlik)
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Wie der Übergang vom Naturzustand in den bürgerlichen Zustand für eine Gesamtheit von Menschen durch die Konstitution des Staates stattfindet, hat der Übergang vom Naturzustand der verfassten Rechtsgemeinschaften in einen öffentlichen Völkerrechtszustand durch eine „der bürgerlichen ähnliche Verfassung“ zu erfolgen.86 Nach Kant ist der Völkerbund eine solche rechtliche Vereinigung verfasster (freier) Völker. Der Bund „geht auf keinen Erwerb irgendeiner Macht des Staates, sondern lediglich auf Erhaltung und Sicherung der F r e i h e i t eines Staats, für sich selbst und zugleich anderer verbündeten Staaten, ohne daß diese doch sich deshalb (wie Menschen im Naturzustande) öffentlichen Gesetzen, und einem Zwange unter denselben, unterwerfen dürfen“.87 Im Verhältnis der Staaten zueinander fehlt demnach die den staatlichen Zusammenhang entscheidend prägende Garantie der Rechtswirklichkeit durch mit Zwangsrecht ausgestattete Institutionen. Es ist lediglich die Vereinbarung friedlichen Umgangs miteinander, die die Staaten verbindet. Aussicht auf Erfolg hat eine solche Vereinbarung (trotz mangelnder übergeordneter Zwangsgewalt), weil die primäre Ebene rechtlicher Kollisionsmöglichkeiten innerstaatlich schon dem Rechtsprinzip gemäß organisiert ist, rechtliche Verfasstheit also schon flächendeckend existiert. Kommt nun die äußere Friedensvereinbarung der ohnehin schon friedenstauglichen und -willigen Einheiten hinzu, so ist die Hoffnung auf Freiheitserhalt der Einzelstaaten begründet. Der so geartete föderative Zustand der Staaten ist nach Kant der „einzige, mit der F r e i h e i t derselben vereinbare, r e c h t l i c h e Zustand“ 88. Es zeigt sich, dass das Kriegsrecht ein Relikt naturzuständlicher Inter-StaatenVerhältnisse ist und dass es nicht mehr als eine „Notlösung“ von Konflikten darstellt, die keinerlei Anspruch auf Rechtlichkeit zu erheben, sondern nur faktisch Gewissheit zu verschaffen vermag, wer sich im Einzelfall (qua Gewalt) durchsetzen wird.89 86 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 31. Siehe dazu auch Verfasserin, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 231 ff. 87 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Zweiter Abschnitt, Zweiter Definitivartikel, BA 36. 88 I. Kant, Zum ewigen Frieden, Anhang II., B 108, 109/A 101. 89 So auch Th. Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Gewalt und Internationalisierung (2010), S. 119, 120. Fraglich ist dann, ob und wenn ja, wie ein im Krieg anwendbares Recht vorzustellen ist. Ansatzpunkt dafür ist, dass der „Zustand der Rechtlosigkeit“ nicht per se bedeutet, dass in ihm das interpersonale und interstaatliche materielle Recht seine Gültigkeit verloren hätte. Es bleibt bei der Geltung des allgemeinen Rechtsgesetzes sowohl im Verhältnis der Personen als auch im Verhältnis der Staaten zueinander. Diese Fortgeltung des Rechtsprinzips ermöglicht es überhaupt erst, auch im Zustand der Rechtlosigkeit (der eben kein Zustand der Ungerechtigkeit ist) Recht von Unrecht zu trennen. Allerdings wird mit dem Beginn tatsächlicher Kriegshandlungen die latente Rechtsunsicherheit aktuell. Mehr noch, man beginnt, zu Rechtsverletzungen des anderen überzugehen und verdreht damit an sich gebotene Anerkennungsverhältnisse in vermeintlicher Recht-
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Das Recht zum Krieg (ius ad bellum) wird von Kant als mögliche Form der Rechtsverfolgung im Naturzustand dann anerkannt, wenn sich ein Staat vom anderen „lädiert“ glaubt, entweder weil der andere ihn „tätig verletzt“ (d. h. etwa gewaltsam angreift) oder weil er damit (etwa durch stetige Aufrüstung) ernsthaft droht.90 Angesprochen und für im Zustand der Unrechtlichkeit legitim erachtet ist damit (u. a.) das Selbstverteidigungsrecht eines Staates. Beim Recht im Krieg (ius in bello) geht es um ein Recht in einem „gesetzlosen Zustand“, was nach Kant nur mit größten Schwierigkeiten widerspruchslos zu denken ist.91 Denn da der Krieg selbst bloß eine Methode der Konfliktlösung des Naturzustands ist, in dem nicht die Gesetze, sondern die faktische Stärke und Machtverteilung den Ausschlag geben, ist eine Rechtsbindung durch „Kriegsgesetze“ kaum denkbar.92 Das Recht im Kriege könne deshalb nur das sein, welches den Staaten auferlegt, „den Krieg nach solchen Grundsätzen zu führen, nach welchen es immer noch möglich bleibt, aus jenem Naturzustande der Staaten (im äußeren Verhältnis gegen einander) herauszugehen, und in einen rechtlichen zu treten.“ 93 Aus diesem „Grundgesetz“ des Krieges leitet Kant konkrete Verbote für bestimmte Formen der Kriegsführung (z. B. Straf-, Ausrottungs- und Unterjochungskriege) bzw. des Einsatzes eigener Soldaten und heimtückischer Mittel (z. B. als „Meuchelmörder“, „Giftmischer“ oder „Scharfschützen aus dem Hinterhalt“) ab. Das Kriegsrecht ist also in gewisser Weise ein „Notregime“, eine Leistung der Vernunft im Zustand der Unvernunft. Es ist kein Rechtsregime, welches in einem rechtlichen Zustand Bestand hätte, sondern dient der Eindämmung unendlicher Gewalt im zu überwindenden rechtlich ungesicherten Zustand. Der völkerrechtliche Rechtszustand eines auf Frieden ausgerichteten Völkerbundes hat das Ziel, kriegerische Auseinandersetzungen zu verhindern und eine rechtsförmige Konfliktlösung an ihre Stelle zu setzen. Schon im Rahmen eines solchen Völkerbundes können also kriegsrechtliche Regeln nur als Relikte des Naturzustandes verfertigung in Anerkennungsverweigerungen: Im Krieg verkehrt sich die Vernunft, sie wird künstlich zum Schweigen gebracht, indem die Rechtsverletzungen der anderen durch „Vernünftelei“ vor sich selbst entschuldigt werden. Die Einsicht in das Unrecht des Kriegführens ist auf diese Weise verstellt, die Kriegführenden nehmen sich selbst aus der erkennbaren Geltung des allgemeinen Rechtsgesetzes heraus. In diesen aktuellen Unvernunftsbeziehungen geht nun aber trotzdem nicht jegliche Vernunfteinsicht verloren, das an sich Unrechtliche wird immerhin in seiner Art und Weise beschränkt: Es gelten Regeln beim Kriegführen. Damit ist die Vorstellung eines Rechts im Unrecht verbunden: Wenn schon der Krieg das Rechtsverhältnis verletzt, so sollen doch wenigstens die einzelnen Kriegshandlungen immer noch am Recht gemessen werden. 90 Siehe I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 56, A 221; B 251 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 346). 91 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 57, A 220; B 250 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 347). 92 Vgl. Th. Jacob, Das Individuum im Spannungsverhältnis von staatlicher Gewalt und Internationalisierung (2010), S. 128 f. 93 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 57, A 220; B 250 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 347).
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standen werden, so sie denn überhaupt schlüssig mit ihm zu vereinbaren sind. Mit prinzipiellen Schwierigkeiten behaftet ist es aber jedenfalls, eine sinngemäße Anwendung der Prinzipien des Kriegsrechts auch für Auseinandersetzungen innerhalb eines rechtlich verfassten Staates anzunehmen. Denn dort haben sich die Rechtssubjekte zu einer Einheit zusammengefunden, in der es bereits eine äußere Verfestigung der Rechtspositionen und eine äußere Macht gibt, die diese auch gegen den besonderen Willen im Einzelfall verwirklicht – rechtsstaatliche Strukturen, die die Staatsmacht an die sie gründende Freiheitsgesetzlichkeit binden und bloß gewaltsames bzw. übermächtiges Handeln gerade verhindern sollen. Das Kriegsrecht, schon im Rahmen des Völkerbundes als einer der „bürgerlichen ähnliche Verfassung“ ein Fremdkörper, steht zum staatlichen Rechtszustand in einem unüberwindlichen Widerspruch. b) Anwendung der Grundgedanken des Kriegsrechts auf den „Kampf gegen den Terrorismus“? Untersucht man vor diesem Hintergrund die Überzeugungskraft der Argumentation Pawliks für die sinngemäße Anwendung kriegsrechtlicher Regeln auf das Problem des Terrorismus genauer, so sind zunächst zwei in ihrem rechtlichen Fundament sehr unterschiedliche Fälle zu differenzieren:94 – Auf der einen Seite stehen Fälle eines möglichen Anwendungsbereichs des völkerrechtlichen Selbstverteidigungsrechts eines Staates bzw. Maßnahmen der Völkergemeinschaft gem. Art. 42 UN-Charta im Verhältnis zu terroristischen Organisationen, die einen Staat von fremdem Staatsgebiet aus angreifen und dort auch ihre Basis bzw. Stützpunkte, sowie zentrale Organisationszellen haben (dazu aa)). – Davon zu unterscheiden ist die Suche nach der richtigen Normierung der Prävention solcher terroristischer Akte, die als Angriffe auf die eigene Bevölkerung oder das eigene Staatswesen aus dem eigenen verfassten Rechtsraum (i. d. R. dem Staatsgebiet) heraus begangen werden (bb)). Diese Unterscheidung ist nicht nur deshalb notwendig, weil für Staatsgrenzen überschreitende Gewalttaten, die die Qualität eines „bewaffneten Angriffs“ haben, ein anderes Rechtsgebiet (das Völkerrecht) als für innerstaatliche Gewaltakte (hier: das Staatsrecht i. w. S.) einschlägig ist. Sie ergibt sich vor allem aus den dargestellten, das moderne Kriegsrecht fundierenden Grundsatzüberlegungen. Denn die Rechtsregime des Staatsrechts auf der einen Seite und des Völkerrechts auf der anderen zeichnen sich durch unterschiedliche Stufen verfasster Rechtlichkeit aus. Dies muss Folgen für die jeweiligen rechtlichen Befugnisse des Staates „nach außen“ und „nach innen“ haben. 94 Diese Unterscheidung trifft auch M. A. Zöller, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 112 ff.
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aa) Völkerrecht: Terrorismusbekämpfung als Form staatlicher Selbstverteidigung? Über die Frage, ob das Völkerrecht über die klassischen Regeln für den Interstaatenkonflikt hinaus Regeln auch zum „Vorgehen gegen international agierende nichtstaatliche Terrororganisationen einschließlich ihrer militärischen Bekämpfung bereitstellt“ 95, wird in der völkerrechtlichen Literatur heftig gestritten.96 Ausgangspunkt dieses Streites ist das völkerrechtliche Gewaltverbot gem. Art. 2 Nr. 4 UN-Charta, das grundsätzlich jegliche Androhung oder Anwendung von Gewalt zwischen Staaten verbietet.97 Durchbrochen wird dieses Gewaltverbot nur durch die Möglichkeit militärischer Zwangsmaßnahmen unter der Führung des Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UN-Charta und durch das Selbstverteidigungsrecht der Staaten gemäß Art. 51 der UN-Charta.98 Um letzteres begründen zu können, muss zunächst ein „bewaffneter Angriff“ i. S. d. Art. 51 der UN-Charta auch bei terroristischen Anschlägen wie etwa dem des 11. September 2001 gegeben sein.99 Die völkerrechtliche Definition der „Aggression“, die in Resolution 3314 (XXIX) der UN-Generalversammlung vom 14.12.1974100 gegeben wurde und auch zur Auslegung von Art. 51 UN-Charta herangezogen wird,101 umfasst zwar grundsätzlich nur staatliche Angriffe, die gegen die Souveränität, die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines anderen Staates gerichtet sind und mittels militärischer Waffengewalt ausgeführt werden. Es ist aber inzwischen völkerrechtlich jedenfalls dann anerkannt, dass auch Angriffe Privater eingeschlossen werden können, wenn die betreffenden Akte einem Staat zugerechnet werden können (dazu sogleich).102 95 E. Klein, „Die Herausforderung durch den internationalen Terrorismus – Hört hier das Völkerrecht auf?“ (2004), S. 9 (15 ff.) 96 Vgl. zu dieser Diskussion u. a. H.-G. Dederer, „Krieg gegen den Terror“ JZ 2004, S. 421 ff.; U. Häußler, „Der Schutz der Rechtsidee“ ZRP 2001, S. 537 ff.; M. Krajewski, „Selbstverteidigung gegen bewaffnete Angriffe nicht-staatlicher Organisationen – Der 11. September 2001 und sein Folgen“ AVR 40 (2002), S. 183 ff.; M. Ruffert, „Terrorismusbekämpfung zwischen Selbstverteidigung und kollektiver Sicherheit – Die Anschläge vom 11. 9. 2001 und die Intervention in Afghanistan“ ZRP 2002, S. 247 ff.; C. Stahn, „International Law at a Crossroards?“ ZaöRV 62 (2002), S. 183 ff. Gute Zusammenfassung des Streitstandes auch bei M. A. Zöller, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 112–123. 97 Genauer dazu M. Bothe, „Kriegsrecht“ (2007), Achter Abschnitt, Rn. 7 ff. (m.w. N. in Fn. 22). 98 Vgl. dazu H.-G. Dederer, „Krieg gegen den Terror“ JZ 2004, S. 421 und M. Ruffert (a. a. O. Fn. 96), S. 247. 99 Dazu H.-G. Dederer, „Krieg gegen den Terror“ JZ 2004, S. 421 (424). 100 Abrufbar unter http://www.un.org/Depts/german/gv-early/ar3314_neu.pdf. 101 Vgl. M. Krajewski (a. a. O. Fn. 96), S. 187. 102 Dem zugrunde liegt das der bisherigen herrschenden Meinung entsprechende Prinzip, dass sich das Gewaltverbot der UN-Charta und seine Durchbrechungen auf die Anwendung militärischer Gewalt durch einen Staat beziehen. Dem entspricht es, dass
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Dagegen wird von einem Teil der völkerrechtlichen Literatur eine solche „Zurechenbarkeit“ nicht mehr für erforderlich gehalten (dazu im zweiten Schritt).103 (1) Selbstverteidigung gem. Art. 51 UN-Charta im Interstaatenverhältnis Umstritten sind allerdings die Voraussetzungen für eine solche Zurechnung:104 Einerseits wird vertreten, dass der Staat die terroristische Organisation angeleitet oder kontrolliert haben muss, damit ihm ihre Taten zugerechnet werden können.105 Nach einem weniger strikten Kriterium reicht es aus, dass der Staat die Organisation zumindest anerkannt oder sich deren Zielsetzung zu Eigen gemacht hat.106 In den typischen Fällen des internationalen Terrorismus wird beides jedoch in der Regel nicht der Fall sein: Terroristische Attentate, deren Urheber international vernetzte Organisationen (wie etwa die al-Qaida) sind, wurden und werden gerade nicht unter der Kontrolle bzw. Anleitung eines Staates oder unter bewusster Anerkennung durch einen Staat ausgeführt. Eine Zurechnung nach diesen herkömmlichen Kriterien wird deswegen abzulehnen sein.107
auch Friedensbedrohungen und Friedensbrüche i. S. d. Art. 39 der UN-Charta einem Staat zugerechnet werden müssen (so M. Krajewski (a. a. O. Fn. 96), S. 196, der sich allerdings von diesem Prinzip nun abwenden will). 103 Vgl. z. B. E. Klein, „Die Herausforderung durch den internationalen Terrorismus – Hört hier das Völkerrecht auf?“ (2004), S. 27–29. Ähnlich M. Krajewski (a. a. O. Fn. 96), S. 195 ff.. Vgl. ferner die Literaturangaben bei M. Bothe, „Kriegsrecht“ (2007), Achter Abschnitt, Rn. 11 in Fn. 41, der sich selbst aber mit guter Begründung für ein Zurechnungserfordernis ausspricht. Siehe auch die Darstellung bei M. A. Zöller, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 116 (m.w. N.). 104 Zu den allgemein anerkannten Zurechnungsformen des Verhaltens Privater zum Staat M. Krajewski, (a. a. O.), S. 189 ff. und M. Ruffert (a. a. O. Fn. 96), S. 248. Grundlegend A. Cassese, „The International Community’s ,legal‘ Response to Terrorism“ ICQL 38 (1989), S. 589 (598 ff.). 105 Vgl. A. Cassese, „The International Community’s ,legal‘ Response to Terrorism“ ICQL 38 (1989), S. 589 (598). Vgl. auch M. Krajewski (a. a. O. Fn. 96), S. 190 mit Verweis auf Art. 3g) der Aggressionsdefinition der Resolution 3314 (XXIX) der UN-Generalversammlung vom 14.12.1974 und auf das sog. Nicaragua-Urteil des IGH, a. a. O. (unten Fn. 109), Para. 195. 106 IGH (Case concerning United States Diplomate and Consular Staff in Tehran (United States of America vs. Iran)) vom 24 May 1980, S. 34, Para. 74: „The approval given to these facts by the Ayatollah Khomeini and other organs of the Iranian State, and the decision to perpetuate them, translated continuing occupation of the Embassy and detention of the hostages into acts of that State. The militants, authors of the invasion and jailers of the hostages, had now become agents of the Iranian State for whose acts the State itself was internationally responsible.“ 107 So M. Krajewski (a. a. O. Fn. 96), S. 191. Genauso M. A. Zöller, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 119.
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Um die Bedrohung einzelner Staaten durch internationale Terrororganisationen noch vom Selbstverteidigungsrecht erfassen zu können,108 werden aber über die hergebrachten Zurechnungsmodi hinaus weitere Ansatzpunkte diskutiert: Eine Möglichkeit könnte darin gesehen werden, schon eine bloß materielle oder logistische Unterstützung der Organisation durch einen Staat ausreichen zu lassen. Dies widerspricht allerdings dem schon zitierten Nicaragua-Urteil des IGH, nach dem eine Zurechnung nur angenommen wird, wenn der Staat bewaffnete Banden auf das Gebiet eines anderen Staates entsendet, nicht aber schon dann, wenn er bloß finanzielle, logistische oder sonstige Unterstützung leistet.109 In den Minderheitsvoten des Urteils wurde allerdings festgestellt, dass logistische und andere Unterstützung ein Ausmaß annehmen könne, welches von einem eigenen Angriff des unterstützenden bzw. entsendenden Staates nicht mehr zu unterscheiden sei. Krajewski folgert daraus, dass es einer „besonders qualifizierten Form der Unterstützung“ bedarf, um eine Zurechnung bejahen zu können.110 Nach ihm soll sie gegeben sein, wenn die staatliche Unterstützung die Gewaltausübung „entscheidend prägt“ 111, was immer dann anzunehmen sei, wenn sie nicht hinweggedacht werden kann, ohne dass die Gewaltausübung entfiele. Frowein hält „verhältnismäßige Verteidigungsmaßnahmen, die das Ziel haben, eine weitere Bedrohung durch eine (. . .) terroristische Organisation auszuschalten“ dann für mit Art. 51 UN-Charta vereinbar, wenn der mit der Begründung der Selbstverteidigung angegriffene Staat „nicht nur nichts gegen die(se) Terrororganisation unternahm, sondern im Gegenteil im wesentlichen Umfang mit ihr zusammenarbei108 Vgl. dazu den Überblick über rechtliche Probleme, die kurz nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in diesem Zusammenhang diskutiert wurden, bei Th. M. Franck, „Terrorism and the Right of Self-Defense“ Am. J. Int’l L. 95 (Oct. 2001), S. 839 ff. 109 Vgl. IGH (Military and Paramilitary Activities in and against Nicaragua (Nicaragua vs. United States of America)) vom 27.6.1986, S. 93, Para 195: „There appears now to be general agreement on the nature of the acts which can be treated as constituting armed attacks. In particular, it may be considered to be agreed that an armed attack must be understood as including not merely action by regular armed forces across an international border, but also ,the sending by or on behalf of a State of armed bands, groups, irregulars or mercenaries, which carry out acts of armed force against another State of such gravity as to amount to‘ (inter alia) an actual armed attack conducted by regular forces, ,or its substantial involvement therein‘. This description, contained in Article 3, paragraph (g), of the Definition of Aggression annexed to General Assembly resolution 3314 (XXIX), may be taken to reflect customary international law. The Court sees no reason to deny that, in customary law, the prohibition of armed attacks may apply to the sending by a State of armed bands to the territory of another State, if such an operation, because of its scale and effects, would have been classified as an armed attack rather than as a mere frontier incident had it been carried out by regular armed forces.“ Abrufbar unter http://www.icj-cij.org/docket/files/70/6503.pdf. 110 M. Krajewski (a. a. O. Fn. 96), S. 191. 111 Ebenda, S. 192 (Hervorhebung der Verf.).
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tete“.112 Noch weiter gefasst wird das Zurechnungskriterium, wenn für ausschlaggebend erachtet wird, dass ein Staat pflichtwidrig den Angriff einer nichtstaatlichen (Terror-)Organisation nicht unterbindet,113 wobei dafür eine bewusste Entscheidung bzw. ausdrückliche Duldung des Staates bestehen und der Staat die tatsächliche Möglichkeit gehabt haben muss einzuschreiten.114 Klein fasst die Diskussion folgendermaßen zusammen: „Die Überlegungen zum Selbstverteidigungsrecht abschließend kann somit gesagt werden, dass es nach richtigem Verständnis eine ausreichende Basis bietet, um den Einsatz von Waffengewalt gegen internationale Terrororganisationen und die sie unterstützenden oder sie gewähren lassenden Staaten auch außerhalb des eigenen Staatsgebiets zu legitimieren. Die hier erkennbare Fortentwicklung des Völkerrechts – d. h. die Ablösung zentraler Begriffe wie ,militärischer Angriff‘ und ,Selbstverteidigung‘ aus der zwischenstaatlichen Sphäre und die Ausweitung des Zurechnungsmoments für Terroristen unterstützende Staaten, die dies selbst zu Adressaten von Selbstverteidigungsmaßnahmen macht – folgt aus der Teleologie des Völkerrechts, die vergleichbar ist der jeder Rechtsordnung: nämlich dass deren Subjekte Rechtsbrüchen nicht hilflos ausgesetzt sein dürfen.“ 115
Unabhängig davon, welche „Nähe“ des Staates zur entsprechenden terroristischen Organisation bestehen bzw. welche Qualität das Zusammenwirken bzw. die Unterstützung des Staates für eine völkerrechtliche Zurechnung haben muss, das entscheidende Prinzip des Völkerrechts bleibt bei Anerkennung des Erfordernisses einer Zurechnung jedenfalls unberührt: Dass es nämlich bei der Ausübung des Selbstverteidigungsrechts im Sinne von Art. 51 UN-Charta um ein Rechtsverhältnis zwischen zwei Staaten geht. Die Verteidigungsmaßnahme richtet sich dementsprechend gegen den Staat, auf dessen Territorium sich die Organisation 112 J. A. Frowein, „Der Terrorismus als Herausforderung für das Völkerrecht“ ZaöRV 2002, S. 879 (886, 887, Hervorhebung der Verf.). 113 Vgl. K. Ipsen, Völkerrecht, § 40, Rn. 33 (pflichtwidriges „Unterlassen“ eines Organs des Staates); U. Häußler, „Der Schutz der Rechtsidee“ ZRP 2001, S. 537 (541): „Unter welchen Umständen das Unterlassen gebotenen Einschreitens gegen ,private‘ Akte einem Staat als Handeln zugerechnet wird, hat der Internationale Gerichtshof in seinem Urteil im Teheraner Geiselfall herausgearbeitet. Eine Zurechnung ,privater‘ Akte erfolgt bereits im Falle abwartenden Zusehens, gegebenenfalls verbunden mit verbaler Unterstützung, wenn den betreffenden Staat eine Pflicht zum Einschreiten traf. Eine solche Pflicht besteht immer dann, wenn die ,privaten‘ Akte völkerrechtlich geschützte Rechtsgüter verletzen. Verlangt ist insofern mitnichten eine genaue Kenntnis dessen, welche (Terror-)Akte bevorstehen; vielmehr reicht es aus, dass die zuständigen Organe des betreffenden Staates davon Kenntnis haben, dass sich ,etwas zusammenbraut‘ – (. . .). Nach alledem trifft angesichts der in den Resolutionen 1269, 1368 und 1373 verankerten Rechtspflichten jeden Staat, der von ihm als solchen erkannten Terroristen Hilfe, Unterstützung oder Unterschlupf gewährt, die Verantwortlichkeit für die von diesen begangenen Gewaltakte, wobei eine Hilfeleistung bereits dann vorliegt, wenn eine mögliche Festnahme als solcher erkannter Terroristen und ihre Strafverfolgung oder Auslieferung unterbleibt.“ (Fußnoten weggelassen, Hervorhebungen im Original). 114 So M. A. Zöller, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 121. 115 E. Klein (a. a. O. Fn. 95), S. 31, 32 (Fn. weggelassen, Hervorhebungen der Verf.). Ähnlich die Zusammenfassung M. A. Zöllers, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 122.
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befindet; insofern handelt es sich um einen Konflikt, der in den Rahmen des klassischen Kriegsvölkerrechts fällt (ius ad bellum, ius in bello); und soweit es um diese Form der völkerrechtlichen Reaktion auf einen schon begangenen terroristischen Anschlag bzw. auf die Verhinderung weiterer Anschläge geht, müssen kriegsrechtliche Regeln, insbesondere die engen Voraussetzungen des Art. 51 UN-Charta und das humanitäre Völkerrecht, berücksichtigt werden. Daraus lässt sich schließen, dass in Fällen von transnationalen terroristischen Angriffen, die einem Staat zuzurechnen sind, tatsächlich Kriegsrecht zur Anwendung kommen kann. (2) Selbstverteidigungsrecht gem. Art. 51 UN-Charta gegenüber Privaten? Über dieses zwischenstaatliche Selbstverteidigungsrecht und der damit bestehenden Befugnis, mittels militärischer Gewalt gegen den Angreifer vorzugehen, hinaus, wird das – ebenfalls aus Art. 51 UN-Charta abgeleitete – Recht des durch terroristische Gewalttaten bedrohten Staates diskutiert, auch gegen private Bedroher militärisch vorzugehen.116 E. Klein beispielsweise kommt zu dem Ergebnis, dass unter dem Aspekt des („naturgegebenen“) Selbstverteidigungsrechts des Staates gem. Art. 51 UNCharta militärisch abzuwehrende Angriffe auch von Organisationen ausgehen können, die keinem anderen Staat zugerechnet werden können.117 Damit seien unter den engen Voraussetzungen des völkerrechtlichen Selbsthilferegimes militärische Angriffe auf terroristische Organisationen auch auf fremdem Staatsgebiet gerechtfertigt. Gebunden sei der sich verteidigende Staat dabei an den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie an die Regeln des ius in bello. Die Lösung vom staatlichen Bezug rechtfertige sich als „teleologische Weiterentwicklung völkerrechtlicher Normen“, ohne die sie „ihres Gewährleistungsinhalts zumindest partiell verlustig gehen würden“. Wenn, so Klein, „international agierende private Organisationen über eine staatlicher Gewalt ähnliche, sie in manchen Bereichen – gerade im militärischen Bereich – sogar übertreffende Machtfülle verfügen, liefe ihre Ausblendung aus den völkerrechtlichen Schutzregeln auf den auch im innerstaatlichen Recht nicht akzeptablen Satz hinaus, dass das Recht an einem bestimmten Punkt aufhöre. Die Bewährung des Rechts muss unter allen Umständen sichergestellt werden. Andernfalls führt sich die Rechtsidee selbst ad absurdum. Werden internationale Bedrohungen staatsunabhängig, können 116 Vgl. dazu zunächst die Studie von C. Kreß, Gewaltverbot und Selbstverteidigungsrecht nach der Satzung der Vereinten Nationen bei staatlicher Verwicklung in Gewaltakte Privater (1995). 117 E. Klein, „Die Herausforderung durch den internationalen Terrorismus – Hört hier das Völkerrecht auf?“ (2004), S. 27–29. Ähnlich M. Krajewski (a. a. O. Fn. 96), S. 195 ff.
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Völkerrechtsregeln nicht an der Staatsgebundenheit festhalten. Der internationale Terrorismus ist zu einer Größe geworden, die sich sehr weitgehend ohne staatliche Unterstützung entfalten kann. Es ist richtig, wenn das Völkerrecht zum Schutz des Friedens und der Freiheit und Sicherheit der Menschen hiergegen Reaktionsmöglichkeiten bereitstellt. Das Selbstverteidigungsrecht gehört wegen der damit möglichen Entfaltung militärischer Macht hierzu.“ 118
Diese Argumentation stützt Krajewski mit dem Hinweis auf die Sicherheitsratsresolutionen, die im Zusammenhang mit den Anschlägen vom 11. September 2001 ergangen sind. Dort habe der Sicherheitsrat der VN erstmals auf eine Zurechnung der Gewalt zu einem Staat verzichtet und dadurch „klar und deutlich anerkannt, dass auch nicht-staatliche Gewalt die internationale Sicherheit und den Weltfrieden bedrohen kann und, dass die Urheber derartiger Gewalt Adressaten völkerrechtlicher Pflichten sein können. Jedenfalls dann, wenn nicht-staatliche Organisationen Anschläge ausüben, die ein vergleichbares Ausmaß haben wie die Anschläge vom 11. September 2001, kann diesen nach Sicht des Sicherheitsrats partielle Völkerrechtssubjektivität im Rahmen des Artikels 39 der UNCharta zukommen.“ 119 Krajewski begründet diese Entwicklung wie folgt: „Die Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Art. 39 und 51 auf nicht-staatliche Organisationen entspricht sowohl der Realität der internationalen Beziehungen als auch dem normativen Gehalt des Friedenbegriffs der UN-Charta. Zunehmend geht bewaffnete Gewalt von nicht-staatlichen Organisationen und Gruppen aus. Soll die UN-Carta ihre zentrale Stellung für die Bewahrung der menschlichen Sicherheit nicht verlieren, müssen diese Entwicklungen in Kategorien des Charta-Rechts gefasst werden können. Der Friedensbegriff der UN-Charta, der mehr als nur die Abwesenheit von Krieg, sondern inzwischen auch den Schutz fundamentaler Menschenrechte erfasst, kann nur dann verwirklicht werden, wenn die tatsächlichen Bedrohungen der menschlichen Existenz durch bewaffnete Gewalt auch im Charta-System widergespiegelt werden.“ 120
Die Argumentation für eine Ausdehnung der Anwendung des Art. 51 auch auf nicht-staatliche bewaffnete Angriffe hat ein zentrales Ziel: Den Staaten soll ein militärisches Vorgehen gegen international tätige Terrororganisationen ermöglicht werden. Um dies zu erreichen, stützt man sich auf eine „teleologische“ Weiterentwicklung des Völkerrechts, weil es ohne eine solche Ausdehnung Frieden, Freiheit und Sicherheit nicht mehr gewährleisten könne. Wenn, so die Kernargumentation, private Organisationen mit ähnlichen Mitteln wie Staaten (Bomben, Schusswaffen, etc.) Gewalt anwenden und das Ausmaß ihrer Zerstörung vergleichbar ist mit kriegerischen Zerstörungen (also eine Vielzahl von Menschen und Sachwerten betroffen ist), dann müsse der angegriffene Staat auch wie auf 118 A. a. O. (Fn. 95), S. 28. Ähnlich sieht das auch Ch. Tomuschat, „Der 11. September und seine rechtlichen Konsequenzen“ Rechtspolitisches Forum, IRP Bd. 5, S. 16, 17. 119 M. Krajewski (a. a. O. Fn. 96), S. 197 (Fußnoten weggelassen). 120 Ebenda, S. 198 (Fußnoten weggelassen).
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einen staatlichen Angriff reagieren dürfen. Werde ihm diese Möglichkeit rechtlich nicht eingeräumt, so führe dies zu einer Desavouierung des Rechts bzw. zu einer Bestätigung des Unrechts. Eine solche Argumentation setzt weniger an den Prinzipien des Völkerrechts an, die auch der UN-Charta zugrunde liegen, als vielmehr an phänomenologisch mit Kriegshandlungen vergleichbaren Gewalttypen terroristischen Ursprungs. Die Massivität einer Attacke – gemessen beispielsweise an der Anzahl der Opfer sowie an der Verwendung von kriegsähnlichen Mitteln und Vorgehensweisen – reicht nach dieser Auffassung nicht nur dafür aus, den Einsatz effektiver, vor allem militärischer Abwehrmaßnahmen zu befürworten, sondern darüber hinaus auch dafür, ihm einen rechtsbewährenden Charakter zuzusprechen: Sollten militärische Reaktionen gegen „Private“ unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten nicht anerkannt werden, so habe dies zur Folge, dass „das Recht aufhöre“ und sich die „Rechtsidee selbst ad absurdum“ führe.121 Diese Argumentation setzt (vermeintliche) faktische Notwendigkeit mit rechtlicher Möglichkeit unter Ausblendung jeglicher rechtsprinzipieller Erwägungen in eins. Nach der inneren Logik dieser Auffassung wäre bei gesteigertem Ausmaß der Bedrohung zugleich jegliche Maßnahmenausweitung gerechtfertigt, die der Bedrohung abzuhelfen geeignet ist. Und nicht nur das: Werde die betreffende Maßnahme vom Recht nicht mehr abgedeckt, so höre damit das Recht sogar auf und die UN-Charta verlöre ihre zentrale Stellung zur Sicherheitswahrung der Menschheit. Das bedeutet, dass nicht nur einer ausnahmsweisen Ausweitung des rechtlich vorgesehenen Instrumentariums aus Gründen faktischer Bedürfnisse, sondern einer permanenten Angleichung des Rechts an diese Bedürfnisse das Wort geredet wird, – mit der Begründung, dass das Recht andernfalls an Bedeutung verlöre. Wenn aber das Recht aus guten Gründen dem Staatshandeln Grenzen zieht – wie dies die UN-Charta bei den auf das Selbstverteidigungsrecht gestützten Gewalthandlungen durch eine Beschränkung der Anwendbarkeit auf Interstaatenverhältnisse tut –, so hört nicht jenseits dieser Grenze das Recht auf, sondern der Staat, der sich über diese Grenze hinwegsetzt, begeht einen Rechtsbruch. Soll die Grenze erweitert werden, so muss dies seinerseits aus Rechtsgründen geschehen. Ausgeschlossen ist dafür eine Argumentation, die allein darauf abstellt, dass die bisher unerlaubten Maßnahmen nunmehr benötigt werden, um faktischen Entwicklungen zu begegnen. Rechtsgründe können empirische Entwicklungen zwar aufnehmen, sie können aber nicht allein von ihnen bestimmt werden. Für die Frage, ob das Selbstverteidigungsrecht i. S. v. Art. 51 UN-Charta auch militärische Abwehrmaßnahmen gegen Angriffe von „Privaten“ umfassen sollte,
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Vgl. das Zitat bei Fn. 118.
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sind daher rechtsprinzipielle Überlegungen anzustellen. Diese haben anzusetzen an der Qualität der in der UN-Charta geregelten Rechtsverhältnisse. Die primären Rechtsträger des Völkerrechts sind die Staaten.122 Die Vereinten Nationen sind als Friedensbündnis („System kollektiver Sicherheit“ 123) souveräner Staaten konzipiert; die UN-Charta ist ihrerseits ein völkerrechtlicher Vertrag zwischen Staaten; ihre Mitglieder sind Staaten (vgl. Kapitel II der UN-Charta); sie enthält Rechte und Pflichten dieser Mitglieder, insbesondere die Friedenspflicht (Art. 2 Nr. 3, Art. 33) bzw. das Gewaltverbot (Art. 2 Nr. 4), das damit wiederum Staaten (und nicht andere Akteure) bindet;124 ihr Hauptrechtsprechungsorgan (der IGH) ist zuständig für Rechtsstreitigkeiten zwischen Staaten (Kapitel XIV); ihr Regelungsgehalt insgesamt ist die Sicherung des Weltfriedens und die Herstellung von friedlichen und freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Staaten (Art. 1 UN-Charta). Wenn es nun um den Anwendungsbereich einer so zentralen Norm der Charta wie dem (das Gewaltverbot durchbrechenden) Selbstverteidigungsrecht geht, so kann die grundsätzliche Anlage der Charta als Friedensbund zwischen Staaten nicht unberücksichtigt bleiben. Das Selbstverteidigungsrecht ist so ausgestaltet, dass es innerhalb des staatlichen Systems kollektiver Sicherheit als Ausnahme zu den vorrangigen friedlichen Mitteln und auch nur so lange geduldet ist, wie der Sicherheitsrat sich nicht eingeschaltet hat (vgl. Art. 51). Daraus lässt sich schließen, dass es außerhalb des systematischen Zusammenhangs und dem Sinngefüge der UN-Charta läge, wenn es über das Rechtsverhältnis zwischen Staaten hinaus nun auch die (militärische) Gewaltanwendung von und gegenüber privaten Organisationen regeln sollte. Dies hätte Folgen für das gesamte System der kollektiven Sicherheit: Es würde konsequenterweise nicht nur implizieren, nicht-staatliche Akteure als mögliche Angreifer im Sinne der Charta einzuordnen (und ihnen damit eine Duldungspflicht gegenüber staatlicher Gegengewalt aufzuerlegen), sondern müsste dazu führen, ihnen überhaupt eine Rechtsstellung im System der kollektiven Sicherheit einzuräumen – bis hin zu der Möglichkeit, dem privaten Akteur seinerseits ein Selbstverteidigungsrecht zuzusprechen. Nun ist es zwar nicht so, dass „Private“ überhaupt unfähig wären, unter dem Völkerrecht Rechte- und Pflichtenträger zu sein. Unter dem Aspekt der Menschenrechte ist der Einzelne explizit qua Völkerrecht geschützt und unter dem Aspekt internationaler Strafbarkeit explizit verpflichtet; ersteres bedeutet eine völkerrechtliche materielle Rechtsinhaberschaft,125 letzteres eine völkerrecht122 K. Hailbronner, „Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte“ (2007), Dritter Abschnitt, Rn. 8, 77 ff. 123 Vgl. dazu K. Doehring, Völkerrecht, § 7, Rn. 419 ff. (insbesondere 457 ff.). 124 Siehe auch dazu K. Doehring, Völkerrecht, § 7, Rn. 429. 125 K. Hailbronner, „Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte“ (2007), Dritter Abschnitt, Rn. 14, 17.
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liche Pflicht, keine Normen des Völkerstrafrechts zu überschreiten.126 Eine Rechtsstellung im System kollektiver Friedenssicherung wäre aber völlig anders geartet und ihre Eingliederung in das System müsste die grundlegende Unterscheidung zwischen souveränem Staat und natürlichem Subjekt überwinden. Dies gilt auch für den Fall, dass eine private (terroristische) Organisation eine Machtfülle erreicht, die faktisch mit der der Staaten vergleichbar ist. Denn die empirische Macht (die beispielsweise auch bei internationalen Wirtschaftsunternehmen oder mafiösen Strukturen entstehen kann) und das damit verbundene Bedürfnis ihrer Bändigung werfen Rechtsfragen auf, die durch das in der UNCharta angelegte interstaatliche Friedenssicherungssystem nur unter völliger Aufgabe der eigenen Prinzipien gelöst werden können – also in konsequenter Weise gar nicht. Die völkerrechtliche Lösung des Problems transnational-terroristischer Gewalt kann deshalb nicht in der Ausweitung des Anwendungsbereichs von Art. 51 UNCharta liegen. Wird ein Staat durch Gewaltakte ausländischen nicht-staatlichen Ursprungs bedroht, so darf er im Rahmen seiner eigenen Rechtsordnung Gefahrenabwehrmaßnahmen treffen – also beispielsweise einen unmittelbar bevorstehenden Anschlag mit allen rechtsstaatlichen Mitteln verhindern. Er darf aber nicht unter Berufung auf sein Selbstverteidigungsrecht militärisch auf fremdem Staatsgebiet vorgehen. Eine Anwendung des Kriegsrechts ist insofern ausgeschlossen. (3) Zusammenfassung zur völkerrechtlichen Terrorismusbekämpfung Im Bereich des „Kampfes“ gegen den transnationalen Terrorismus ist von der Anwendbarkeit kriegsrechtlicher Regeln nur dann auszugehen, wenn die terroristischen Akte einem Staat zuzurechnen sind. In solchen Fällen kann der angegriffene Staat sich auf sein Selbstverteidigungsrecht im Sinn von Art. 51 UN-Charta berufen (ius ad bellum) und ist dabei an die kriegsrechtlichen Regeln des ius in bello gebunden. Nicht anwendbar ist Kriegrecht dagegen im Verhältnis zwischen einem Staat und einer privaten (Terror-)Organisation, die von einem fremden Staat aus agiert. Die rechtliche Bewältigung kann in diesem Fall entweder im „Heimatstaat“ der terroristischen Vereinigung unter Berücksichtigung der dort geltenden (rechtsstaatlichen) Präventions- und Strafvorschriften erfolgen, oder im „bedrohten“ Staat durch legitime innerstaatliche Terrorismus- und Kriminalprävention – wobei selbstverständlich einer bilateralen, aber auch über die VN vermittelten Zu126 K. Hailbronner, „Der Staat und der Einzelne als Völkerrechtssubjekte“ (2007), Dritter Abschnitt, Rn. 22 ff. Denkbar wäre in diesem Zusammenhang ein völkerrechtlicher Straftatbestand, der transnationale terroristische Gewalttaten umfasst.
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sammenarbeit beider Staaten rechtlich nichts im Wege steht. Ein direkter militärischer Zugriff eines Staates auf Bürger eines anderen Staates ist dagegen völkerrechtlich ausgeschlossen.127 Sollte es zu einem terroristischen Anschlag bereits gekommen sein, ist allerdings eine strafrechtliche Bewältigung auch auf völkerrechtlicher Ebene denkbar: Sollten terroristische Gewaltakte durch einen internationalen Straftatbestand erfasst werden, so ist an eine – im Verhältnis zur staatlichen Strafgewalt – subsidiäre Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag zu denken. bb) Innerstaatliche Terrorismusprävention nach kriegsrechtlichen Grundsätzen? Das klassische Kriegsrecht ist Teil des Völkerrechts und damit Teil eines durch einzelne souveräne, gleich-geordnete Einheiten gestalteten Rechtsregimes. Seine Ursprünge liegen im naturzuständlichen Verhältnis der Staaten zueinander, dessen wesentliches Charakteristikum es ist, ein unverfasstes Rechtsverhältnis zu sein.128 Beim innerstaatlichen Verhältnis zwischen Staat und Bürger handelt es sich dagegen um einen rechtlichen Zustand des öffentlichen Rechts, der sich dadurch auszeichnet, dass ein System von freiheitlichen Gesetzen für die sich selbst im Staat konstituierenden Bürger gilt.129 Es gilt die vom gemeinsamen Willen getragene Verfassung130, in der das Prinzip der Gewaltenteilung als Garant öffentlicher Gerechtigkeit131 fungiert. Die Bürger eines solchen Staates sind Mitkonstituenten der geltenden Ordnung und als solche gleichzeitig Adressaten der Gesetze. Unrechtstäter fallen aus diesem Zusammenhang nicht etwa heraus, sondern werden innerhalb der Rechtsordnung an ihren Unrechtshandlungen gemessen – sei es auf dem Gebiet der Gefahrenabwehr (als „Störer“), sei es im Strafrecht (als „Täter“). In beiden Rechtsgebieten handelt es sich um einen recht127 Vgl. dazu die entschlossene und zutreffende Stellungnahme zu der Tötung von Osama Bin Laden durch Streitkräfte der USA Anfang Mai 2011 von Kai Ambos, „Auch Terroristen haben Rechte“ in der FAZ vom 5.5.2011, abrufbar unter FazNet vom 20.5. 2011: http://www.faz.net/s/RubD5CB2DA481C04D05AA471FA88471AEF0/Doc~E18 75FEDDDAD84B09A7087A9351EFF9E6~ATpl~Ecommon~Scontent.html. 128 Vgl. dazu oben S. 321 ff. 129 Vgl. dazu oben S. 99 ff. 130 Vgl. für einen substantiellen Verfassungsbegriff M. Köhler, „Die Verfassungsstruktur des europäischen Rechts“ (2011), S. 1461 (1462): „Der Begriff der Rechtsverfassung (constitutio), unabhängig von historisch-empirischen Entstehungsweisen, äußeren Formen und Benennungen, besteht im Akt eines vereinigten Rechtswillens der Gründung und grundgesetzlichen Regelung einer relativ selbständigen Rechtsordnung mit Organen, Zuständigkeiten, Handlungsformen und Verfahren zu gemeinsamen Gesetzen öffentlichen Rechts, deren Anwendung und der urteilenden Entscheidung eines Auslegungsstreites.“ (Fn. weggelassen). 131 Genauer dazu oben S. 101 ff.
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lichen Umgang, der im Rahmen des staatlichen Gewaltmonopols stattfindet und auch dort gerechtfertigt werden muss – und kann. Ein Gleiches muss nun gelten, wenn es um die (Neu-)Bestimmung von Befugnissen des Staates zur Bewältigung terroristisch motivierten Unrechts geht. Es handelt sich auch dabei um eine Rechtsmaterie, die eingeordnet sein muss in den verfassten Rechtszustand. Dies schließt jedes Rechtsregime aus, mit dem die Tatsache des Bestandes einer Rechtsverfassung ignoriert würde. Bei der Frage nach der sinngemäßen Anwendung kriegsrechtlicher Regeln ist deshalb zu berücksichtigen, dass das Kriegsrecht seinem Grundgedanken nach gerade kein Recht eines verfassten Rechts-, sondern eines unverfassten Naturzustandes ist. Seinen Sinn hat es allein als gewalt-minimierendes Auffangrecht in einem Zustand ohne öffentliche Zwangsgewalt; es soll Krieg möglichst verhindern und, falls dies nicht gelingt, zumindest „bändigen“. Es zeigt sich, dass eine Übertragung der Rechtsgedanken des Krieges auf Staatshandeln im Verhältnis zu terroristischen Gewalttätern suggeriert, dass sich die Terrorabwehr gewissermaßen im vorstaatlichen, natürlichen Rechtsraum abspielt. Dazu passt nicht nur die Pawliksche Qualifizierung des Konflikts zwischen Staat und Terrorist als „asymmetrische kriegerische Auseinandersetzung“, sondern auch die mit der Parallelisierung von terroristischer Gewalt und kriegerischen Auseinandersetzungen verbundene Erlaubnis, den Terroristen im Rahmen des Erforderlichen „militärisch auszuschalten“ bzw. „unschädlich“ zu machen. Die von Pawlik befürwortete Bekämpfungslogik ist (allein) auf die Beseitigung des Gegners gerichtet; die von ihm für begründbar gehaltenen Maßnahmen der vorbeugenden Festnahme, Sicherungshaft und gezielten Tötung lassen sich diesem Ziel konsequent zuordnen – müssten aber richtigerweise als rechtliche Akte des Staates gegenüber seinen Bürgern unter der gemeinsamen Rechtsverfassung stehen und als solche legitimiert werden. Die genannte Parallelisierung ist bei Pawlik auf der phänomenologischen Ähnlichkeit terroristischer und kriegerischer Gewalt gegründet. Die prinzipiellen Unterschiede beider Rechtssystematiken werden dadurch aber nivelliert. Auf diese Weise fehlt der (auch von Pawlik angestrebten) Legitimierung seines Vorschlags das Fundament. Denken lässt sich das Pawliksche Konzept in konsequenter Weise nur dann, wenn man annimmt, dass terroristische Gewalttäter außerhalb der verfassten Rechtsordnung stehen; Züge einer solchen Denkweise trägt das Jakobsche Konzept vom Feindstrafrecht. Pawlik will sich dem aber gerade nicht anschließen, sondern drängt – zu Recht – auf eine rechtliche Bewältigung des Problems der Terrorismusabwehr: Er besteht auf „rechtlicher Einhegung“ des Kampfes gegen den Terror, er fordert, dass die Voraussetzungen, unter denen jemand als „feindlicher Gefährder“ inhaftiert werden kann, detailliert gesetzlich geregelt werden, er hält die „Anerkennung“ des Feindes für zwingend und will alle Maßnahmen
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vom Verhältnismäßigkeitsprinzip begrenzt wissen. All dies spricht dafür, dass er das gesuchte Maßnahmenregime als Rechtsregime, und zwar als Rechtsregime eines verfassten Staates ausgestaltet wissen will. Dies setzt voraus, dass auch die von den Maßnahmen Betroffenen „im Recht“ sind und gehalten werden – also gerade nicht als „Feinde“ aus dem Zusammenhang exkludiert werden. Bei Staatsbürgern ist dies qua Staatsbürgerschaft im Grunde selbstverständlich132 – der Einzelne ist durch Teilhabe am Ganzen mit dem Allgemeinen, dem Staat, verbunden. Wird er zur Gefahr für andere oder das Gemeinwesen als Ganzes, so hat der Staat ein noch näher zu fassendes, auch dem „Gefährder“ selbst vernunft-einsichtiges Zwangsrecht, um anstehendes Unrecht zu verhindern. Der Staat ist dabei verfasster Rechtsstaat, der Bürger ist Konstituent dieses Staates und als solcher Rechtsunterworfener – falsch ist in diesem Zusammenhang dagegen das der Anwendung des Kriegsrechts zugrunde liegende Bild sich gegenseitig bekämpfender, im Grundsatz aber gleichgeordneter Gegner im natürlichen Zustand (jedenfalls dann, wenn ein natürlicher Zustand im Sinne Hobbes’ in Ansatz gebracht wird, der den Naturzustand – anders als Kant – nicht als Rechtssondern als Machtzustand begreift)133. Bei ausländischen Gewalttätern ist die Verbindung zur staatlichen Gesamtheit nicht ganz so offensichtlich, aber ebenfalls vorhanden. Denn durch das gemeinsame Leben in derselben Rechtsordnung fügen sich auch Fremde in das verfassungsmäßig geordnete Rechtsleben ein und werden auf diese Weise Teil davon, tragen es mit, haben dieselben basalen Rechte und Pflichten, werden den geltenden Gesetzen gemäß behandelt, sind ihnen aber auch unterworfen. Auch für sie gilt, dass ihnen der Staat nicht als gleichgeordneter Gegner gegenübertritt, sondern als von ihnen (zumindest partiell) mitgetragene, übergeordnete Rechtsgesamtheit. Aus diesem Grund ist der Vorschlag Pawliks, sich im Umgang mit terroristischen „Gefährdern“ an Grundsätzen des Kriegsrechts zu orientieren, aus prinzipiellen Rechtsgründen abzulehnen. Die Kombination aus Kriegsrecht und innerem Staatsrecht ist widersprüchlich insofern, als dass nicht die basale Struktur der Gleichordnung und die mit dem Krieg verbundene Bekämpfungslogik auf der einen Seite aufrecht erhalten werden und gleichzeitig dieses Relikt des Naturzustandes auf der anderen Seite durch rechtsstaatliche Formen domestiziert und in seiner Härte abgemildert werden kann. Der Versuch, Rechtsstaatlichkeit in ein 132 Diese Selbstverständlichkeit kann durch Argumentationen wie der von Carl Schmitt, Otto Depenheuer und Günther Jakobs auch nicht erschüttert werden (vgl. dazu oben S. 140 ff., 168 ff., 243 ff., 302 ff.). 133 Zu diesem wesentlichen Unterschied zwischen dem (vollkommen) unrechtlichen Naturzustand bei Hobbes und dem immerhin materiell-rechtlich geprägten natürlichen Zustand im Sinne Kants vgl. S. 56 ff., 60 ff., 94 ff., 110 ff., 112 ff. in dieser Arbeit sowie K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 71–75.
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naturzuständliches Verhältnis zu integrieren, ohne es selbst in einen rechtlichen Zustand zu überführen, bleibt eine bloße „Trostlösung“. 4. Zusammenfassung zur Verortung des Terrorismusproblems im Bereich des Kriegsrechts Für die Frage, ob kriegsrechtliche Grundsätze für die Bewältigung des Terrorismusproblems herangezogen werden können, sind der völkerrechtliche und der innerstaatliche Anwendungsbereich zu unterscheiden: Auf der einen Seite steht das mögliche völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht eines Staates im Verhältnis zu terroristischen Organisationen, die ihn von fremdem Staatsgebiet aus angreifen. Auf der anderen Seite steht die Suche nach der richtigen Normierung der Prävention solcher terroristischer Akte, die als Angriffe auf die eigene Bevölkerung oder das eigene Staatswesen aus dem eigenen verfassten Rechtsraum heraus begangen werden (innerstaatliche Prävention). Im Völkerrecht ist von der Anwendbarkeit kriegsrechtlicher Regeln nur dann auszugehen, wenn die terroristischen Akte einem Staat zuzurechnen sind. In solchen Fällen kann der angegriffene Staat sich auf sein Selbstverteidigungsrecht im Sinne von Art. 51 UN-Charta berufen und ist dabei an die kriegsrechtlichen Regeln des ius in bello gebunden. Nicht anwendbar ist Kriegrecht dagegen im Verhältnis zwischen einem Staat und einer privaten (Terror-)Organisation, die von einem fremden Staat aus agiert, deren Akte diesem Staat aber nicht zuzurechnen sind. Ein direkter Zugriff eines Staates auf Bürger eines anderen Staates (die sich auch auf fremdem Staatsgebiet aufhalten) ist aus völkerrechtlicher Sicht nicht legitimierbar. Überdies ist es aus prinzipiellen Rechtsgründen ausgeschlossen, den innerstaatlichen Umgang mit terroristischen „Gefährdern“ an Grundsätzen des Kriegsrechts zu orientieren. Da das Kriegsrecht zwar der Eindämmung der Gewalt in einem rechtlich ungesicherten Zustand dient, aber kein Rechtsregime ist, welches in einem rechtlichen Zustand Bestand haben kann, ist es als Orientierungsmaßstab für die innerstaatliche Terrorismusprävention ungeeignet.
II. Verortung des Terrorismusproblems im Bereich der Prävention Das von Pawlik gesuchte Rechtsregime soll im Wesentlichen ein „neuartiges Präventionsrecht“ sein, welches „Terroristen als Feinde nicht entpersonalisiert, sondern anerkennt“ und gleichzeitig ihre „Unschädlichmachung“ rechtlich „einhegt“. Dem liegt der (zutreffende) Gedanke zu Grunde, dass die von der Person des Terrorverdächtigen ausgehende Gefahr der Begehung terroristisch motivier-
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ter Gewaltakte durch das Recht eingedämmt bzw. gebannt werden soll, dass sich die Rechtsgemeinschaft vor terroristischem Unrecht schützen darf. Für die Prüfung, ob das von Pawlik gesuchte und skizzierte neuartige Präventionsrecht als Teil rechtsstaatlicher Gefahrenabwehr eingeordnet und legitimiert werden kann, ist zunächst eine Sichtung der Grundlagen des geltenden Gefahrenabwehr- bzw. Präventionsrechts notwendig (dazu 1.). In einem weiteren Schritt werden in einem Überblick die geltenden Regeln der polizeilichen Unrechtsabwehr, des Rechts sichernder Maßregeln und die Regelungen zur Untersuchungshaft vorgestellt (unter 2.). Zuletzt sollen die Besonderheiten der „Terrorismusbekämpfung“ i. S. Pawliks, insbesondere die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen – vorbeugende Inhaftierungen, Sicherungshaft und gezielte Tötungen – vor dem Hintergrund der tragenden Prinzipien der rechtsstaatlichen Gefahrenabwehr auf ihre Legitimierbarkeit überprüft werden (dazu unter 3.). 1. Grundprinzipien rechtsstaatlicher Prävention Bei der Sichtung und Ausarbeitung der Grundprinzipien der Prävention soll so vorgegangen werden, dass zunächst (unter a)) in einem knappen Überblick das allgemein konsentierte Aufgabenfeld der Polizei (Gefahrenabwehr, Unrechtsprävention, Strafverfolgung) vorgestellt wird. Im Anschluss daran werden die Grundlagen der präventiven Polizei-Tätigkeiten herausgearbeitet, insbesondere die fundamentale Begründung staatlicher Zwangsgewalt (unter b)) und die Konkretisierung dieser Begründung speziell für die polizeiliche Zwangsgewalt im Bereich der Unrechtsprävention (unter c)). Ein Zwischenergebnis (d)) hält die wesentlichen Einsichten aus den Grundprinzipien rechtsstaatlicher Prävention fest. a) Überblick über die Aufgaben der Polizei Das heutige Verständnis vom Gefahrenabwehrrecht, insbesondere des Polizeirechts, hat seinen wesentlichen Ursprung in der Aufgabenzuweisung, die es mit Ende des 18. Jahrhunderts erfahren hat.134 Während vor dem Übergang zum Verfassungsstaat vor allem „die Wohlfahrt“ zu den Kernaufgaben der Polizei gehörte, hat sich im weiteren Lauf der Geschichte immer mehr die Sicherheitsgewährleistung als primärer Zweck polizeilicher Tätigkeit herauskristallisiert.135 134 Vgl. H. Boldt/M. Stolleis, „Geschichte der Polizei in Deutschland“, in: H. Lisken/ E. Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, Abschnitt A, Rn. 20 ff. 135 Boldt/Stolleis (a. a. O. Fn. 134) weisen allerdings darauf hin, dass sich der Wohlfahrtsgedanke neben dem der Sicherheitsgewährleistung noch lange in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung um die Aufgabenzuweisung der Polizei gehalten hat. Vgl. dazu z. B. das von ihnen aufgeführte Zitat von Johann Ludwig Klüber aus dem Jahr 1831: „Die StaatsPolizei (. . .) hat zwei Hauptgegenstände: Sicherheit und Wohlfahrt oder Vervollkommnung der Staatsgenossen. Die SicherheitsPolizei dient wider Rechtsverletzungen und schädliche Ereignisse, die von der Natur oder sonst veranlasst werden.
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Gut demonstrieren lässt sich dies an § 10 Teil II Titel 17 des Preußischen Allgemeinen Landrechts (1794), wonach die Polizei die öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung schützen sowie der Allgemeinheit oder dem Einzelnen drohende Gefahren abwehren sollte.136 Der polizeiliche Aufgabenkern der Wahrung der Sicherheit und damit verbunden der Gefahrenabwehr war damit gesetzlich fixiert – und gilt im Grundsatz bis heute:137 Der geltende materielle Polizeibegriff umfasst nach überwiegender Ansicht „die gesamte der Gefahrenabwehr dienende staatliche Tätigkeit“.138 Aufgabe der Polizei ist es im klassischen Bereich der Gefahrenabwehr, „vorbeugend (präventiv) zur Verhütung von drohenden Schäden tätig zu werden, also zur Bewahrung eines vorhandenen Bestandes an Rechts- und Lebensgütern.“ 139 Dabei knüpft das Polizeirecht „für die Zulässigkeit polizeilicher Maßnahmen an eine konkrete Gefahrenlage an, definiert die ,Gefahr‘ als das (bei ungehindertem Geschehensablauf) Bevorstehen eines schädigenden Ereignisses für ein Rechtsgut
Die Bestimmung der Wohlfahrt- oder VervollkommnungsPolizei ist Erlangung und Erhöhung des physischen, sittlichen und geistigen Gesellschaftswohls. Die erste ist Staatspolizei in dem engeren Sinn wegen ihrer unmittelbaren Beziehung auf den Staatszweck. Die andere ist StaatsgesellschaftsPolizei wegen ihres mittelbaren Verhältnisses zu dem Staatszweck und ihrer unmittelbaren Beziehung auf das Wohl der allgemeinen Gesellschaft der Einwohner in dem Staat (. . .).“ (aus: Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 3. Aufl. 1831, § 381, hier zitiert nach Boldt/Stolleis, a. a. O., Rn. 23). Vgl. zudem B. Zabel, „Die ordnungspolitische Funktion des Strafrechts“ ZStW 120 (2008), S. 68 (82, 83), der zu Recht darauf hinweist, dass dadurch eine Verknüpfung von Sicherheitsleistung und Herrschaftslegitimation stattgefunden hat. Zu einer typischen Umschreibung der Aufgaben der Polizei als Garantin innerer Sicherheit siehe auch J. von Sonnenfels, Grundsätze der Polizey, Handlung, und Finanz (1787): „In einem gewissen Verstande ist also die Polizey vorzüglich Vertheidigung, gegen Ereignungen, aus welchen, (. . .), der inneren Sicherheit Nachtheil zu besorgen wäre. Ereignungen dieser Art werden entweder von menschlichen Handlungen, oder von Zufällen herbeygeführt: die öffentliche Verwaltung muß daher ihre Aufmerksamkeit beiden, den Handlungen und Zufällen, zuwenden, insoweit sie nachtheilig werden können.“ (a. a. O., S. 36). Ein knapper Überblick zu den Entwicklungslinien des Polizeibegriffs seit dem 15. Jahrhundert findet sich bei V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 2. 136 Vgl. dazu F. Schoch, „Abschied vom Polizeirecht des liberalen Rechtsstaats? – Vom Kreuzberg-Urteil des Preußischen Oberverwaltungsgerichts zu den Terrorismusbekämpfungsgesetzen unserer Tage“ Der Staat 43 (2004), S. 347 (348 mit Fußnote 4). Denninger bezeichnet die Vorschrift als „Urfassung aller rechtsstaatlichen Polizeigesetze“ (E. Denninger, „Polizeiaufgaben“ (2007), Abschnitt E, Rn. 16). Gründliche Interpretation der Vorschrift bei P. Preu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre (1983), S. 291 ff. (insbesondere 310 ff.). Vgl. zudem Ph. Zeller, Systematisches Lehrbuch der Polizeiwissenschaft, 1. Teil (1828), S. 1, § 1: „Die nöthigen Anstalten zur Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, und zur Abwendung der dem Publico, oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen, ist das Amt der Policei.“ 137 Vgl. dazu z. B. W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 2. 138 So W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 9 mit Verweis auf Martens, DÖV 1982, 89, 92 (m.w. N.). Siehe auch Ch. Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 71. 139 E. Denninger, „Polizeiaufgaben“ (2007), Abschnitt E, Rn. 14.
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und benennt Gegenmittel der Gefahrenabwehr, die sich gegen bestimmte Personen richten sollen, nämlich die Verursacher der Gefahr.“ 140 Primäres Schutzgut polizeilicher Gefahrenabwehr ist die „öffentliche Sicherheit“, die definiert wird als „die Unverletzlichkeit der Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des Einzelnen sowie der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates oder sonstiger Träger der Hoheitsgewalt“.141 Ein Schaden im polizeirechtlichen Sinne ist „die ,objektive‘ Minderung des normalen vorhandenen Bestandes an geschützten Individual- oder Gemeinschaftsgütern“, wobei es unerheblich ist, ob die Bedrohung des Rechtsgutes auf menschliches Verhalten oder auf bloße Naturgewalt zurückzuführen ist.142 Für die Inanspruchnahme von Störern, die entweder Verhaltens- oder Zustandsverantwortliche sein können, gilt, dass ihnen die Gefahr zuzurechnen sein muss; dafür ist Voraussetzung, dass sie sie entweder „verursacht“ haben oder für sie „zuständig“ sind – keine Rolle spielen dagegen ihre individuellen persönlichen Verhältnisse (wie z. B. das Verschulden).143 Neben die Abwehr konkreter Gefahren für die öffentliche Sicherheit durch Inanspruchnahme der Störer tritt als weitere Polizeiaufgabe einerseits die Strafverfolgung, andererseits die Prävention künftigen Unrechts. Denninger spricht insofern von der „Dreiheit der Polizeiaufgaben“.144 Während die Strafverfolgung wegen ihres Anknüpfungspunktes an einer begangenen Straftat als repressive Polizeitätigkeit einzuordnen ist (und insofern zum Bereich des Straf- bzw. Strafverfahrensrecht gehört)145, ist die Verhinderung künftigen Unrechts im weitesten Sinne Teil der Gefahrenabwehr.146 Grundsätzlich ist damit eine deutliche Trenn140
F. Schoch, a. a. O. (Fn. 136), S. 349 (Fußnoten weggelassen). Siehe E. Denninger, „Polizeiaufgaben“ (2007), Rn. 16; Ch. Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 79; vgl. auch W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 53 ff. 142 So E. Denninger, „Polizeiaufgaben“ (2007), Rn. 40. 143 Ebenda, Rn. 70, 73, 75. 144 Ebenda, Rn. 5. Vgl. insofern auch § 1 Abs. 1 ME POlG (1986), abgedruckt beispielsweise bei W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Anhang. 145 Kritisch zu der These, dass die Regelungen zur Strafverfolgung in der StPO auch präventiven Charakter haben, SK-StPO-Wolter, Vor § 151, Rn. 36, 37; R. Zaczyk, „Prozeßsubjekte oder Störer? Die Strafprozessordnung nach dem OrgKG – dargestellt an der Regelung des Verdeckten Ermittlers“ StV 1993, S. 490 ff. 146 Ebenda, Rn. 199. Vgl. zudem M. Kniesel, „Vorbeugende Bekämpfung von Straftaten im neuen Polizeirecht – Gefahrenabwehr oder Strafverfolgung?“ ZRP 1989, S. 329 (330) mit Verweis auf § 1 des Vorentwurfes zur Änderung des Musterentwurfes eines einheitlichen Polizeigesetzes (VE ME-PolG), in dem die Aufgabe der Gefahrenabwehr dergestalt präzisiert werde, dass in „gefahrenvorsorgerischer Sicht die Gefahrenabwehr auch die vorbeugende Bekämpfung von Straftaten in ihren beiden Erscheinungsformen der Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten und der Verhütung drohender Straftaten erfasst“. In Bezug auf die Vorsorge der Strafverfolgung wird, so Kniesel, die Einordnung in den Bereich der Gefahrenabwehr mit dem Argument kritisiert, dass dadurch die Kompetenzen der Staatsanwaltschaft nach der StPO unterlaufen und die Grenze zwischen Strafverfolgung und Gefahrenabwehr verwischt werde. Bezüglich der Verhütung drohender Straftaten sei die Einordnung in den Gefahrenabwehrbereich hingegen relativ unproblematisch. Denninger weist außerdem zu Recht darauf hin, dass in 141
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linie zwischen repressiver (Strafverfolgung) und präventiver (Gefahrenabwehr, Unrechtsprävention) Polizeitätigkeit benannt. Beiden Tätigkeitsfeldern liegen auch unterschiedliche Prinzipien zugrunde:147 Die Strafverfolgung setzt den Verdacht einer begangenen Straftat voraus148 und leitet sich mit ihren Zielen, Befugnissen und deren Begrenzungen insgesamt vom staatlichen Strafrecht ab; dies gilt sowohl für die polizeiliche Ermittlungstätigkeit, als auch für den gesamten staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Strafprozess. Dementsprechend steht die Strafverfolgung in einem notwendigen Zusammenhang zur (mutmaßlich) begangenen Unrechtstat und ihrer Aufhebung durch staatliche Strafe.149 Dagegen ist die präventive Polizeiarbeit auf die Verhinderung erst noch drohender Schäden bzw. Unrechtshandlungen gerichtet; sie ist damit stets auf Gefahren- und Gefährlichkeitsprognosen angewiesen. Ihre Befugnisse richten sich u. a. danach, wie wahrscheinlich der Schadens- bzw. Unrechtseintritt ist und welche Bedeutung dem drohenden Ereignis für das zu sichernde Recht zukommt. Das staatliche Zwangsrecht ist deshalb abhängig von dem (mutmaßlich) bevorstehenden Schaden bzw. Unrecht. b) Das gedankliche Fundament der Prävention: Das staatliche Zwangsrecht Gedankliches Fundament einer jeden staatlichen Präventionsmaßnahme – sei es in Form der Gefahrenabwehr, sei es in Form der Unrechtsprävention – ist die der Praxis der Polizeiarbeit Vermengungen der präventiven und repressiven Bereiche vorkommen, dass es aber dennoch richtig ist, an der normativen Unterscheidung zwischen Prävention und Repression festzuhalten („Polizeiaufgaben“ (2007), Rn. 192 f., 204); ähnlich F. Schoch, Polizei- und Ordnungsrecht (2008), 2. Kapitel, Rn. 9 ff. A. A. insofern A. Stümper, „Die Wandlung der Polizei in Begriff und Aufgaben“ Kriminalistik 1980, S. 242. 147 Vgl. dazu auch H.-U. Paeffgen, „,Verpolizeilichung‘ des Strafprozesses – Chimäre oder Gefahr“ (1995), S. 13 (20) und M. Kniesel, H.-U. Paeffgen, J. Keppel, St. Zenker, „Strafverfolgungsvorsorge als polizeigesetzliche Aufgabe“ Die Polizei 2011, S. 333 (339). 148 Vgl. z. B. D. Klesczewski, Strafprozessrecht, Rn. 136: „Am Anfang des Ermittlungsverfahrens steht ein sog. einfacher Tatverdacht, nicht irgendeine Vermutung und generelle Lageeinschätzung, sondern ein durch konkrete Tatsachen belegter, in kriminalistischer Erfahrung begründeter Anhalt dafür, dass eine verfolgbare Straftat vorliegt, § 152 II StPO.“ Materiell muss es sich bei der Straftat um Kriminalunrecht handeln, das – wie im vierten Teil der Arbeit herausgestellt – bestimmte qualitative Voraussetzungen zu erfüllen hat. Nur wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, sind die staatliche Strafreaktion (als Aufhebung des Unrechts und Wiederherstellung des Rechts) und davon abgeleitet die Strafverfolgungsmaßnahmen, die zur Realisierung der Strafe führen, gerechtfertigt. 149 Vgl. zum Zweck des Strafverfahrens U. Murmann, „Über den Zweck des Strafprozesses“ GA 2004, S. 65 ff.
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Befugnis, Zwang gegenüber dem einzelnen Bürger in Fällen auszuüben, in denen er für eine Gefahr oder ein drohendes Unrecht zuständig bzw. verantwortlich ist. Eine Begründung dieses Zwangsrechts hat deutlich zu machen, warum der Staat in solchen Fällen in legitimer Weise auf die Freiheitssphären seiner Bürger zugreifen, sie zu einem bestimmten Verhalten zwingen darf.150 Vom legitimen Zwangsrecht zu unterscheiden sind solche Zwangsrechtsanmaßungen, die auf einer bloß faktisch überlegenen Machtstellung beruhen und sich gegenüber dem Betroffenen als reine, d. h. rechtlich unbegründete Gewaltausübung darstellen. Die Grenzlinie zwischen beidem verläuft dort, wo sich der Zwang nicht mehr aus der Autonomie/Freiheit des einzelnen Bürgers (und zwar auch des zu zwingenden Bürgers) begründen lässt.151 Eine in diesem Sinne tragende Begründung des Zwangsrechts soll Gegenstand der folgenden Ausführungen sein. Grundsätzliche Überlegungen zur staatlichen Zwangsbefugnis finden sich schon in den freiheitlichen Rechtslehren Immanuel Kants152 (dazu sogleich unter aa)) und G. W. F. Hegels153 (dazu unter bb)); aus ihnen lassen sich erste Konsequenzen für die Ausgestaltung rechtsstaatlich fundierter Zwangsgewalt ziehen (dazu unter cc)). Speziell für die Polizeirechtswissenschaft haben Robert von Mohl 154 und in der Folge Friedrich Kitzinger155 Konkretisierungen der Zwangsbefugnis vorgelegt, die insbesondere die hier primär interessierende Unrechtsprävention betreffen und deshalb in einem weiteren Schritt genauer gesichtet werden (siehe dazu c)). aa) Begründung rechtsstaatlicher Zwangsbefugnis nach Kant156 Kant begründet die staatliche Befugnis zum Zwang ausgehend von der Autonomie der den Staat als eine „Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen“ 157 selbst konstituierenden Bürger. Im ersten Schritt zeigt er, dass der Rechtsbegriff selbst die Notwendigkeit von Zwang enthält, dass also 150 Vgl. zum gleich lautenden Grundinteresse der Staatsphilosophie überhaupt oben Teil 2, S. 48 ff. 151 Vgl. dazu schon oben im Zusammenhang mit der Kritik am Jakobschen Konzept des Feindstrafrechts bei Fn. 25, 26. 152 Dort insbesondere in den Paragraphen D und E der Einleitung in die Rechtslehre, sowie in Paragraphen 42 und 44 der Metaphysik der Sitten (1797). Zur Rechtslehre Kants siehe schon oben im 2. Teil der Arbeit S. 76 ff. 153 Dort vor allem in den Paragraphen 90 ff. der Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821). Vgl. zur Rechtsphilosophie Hegels oben S. 114 ff. 154 System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei, 3. Aufl. (1866). 155 Die Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt (1913). 156 Vgl. dazu schon K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 62 ff. 157 I. Kant, MdS, Rechtslehre, § 45, A 164, B 194 (Ak.-Ausg. Band VI, S. 313).
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Recht ohne Zwang nicht denkbar ist (dazu unter (1)). Im zweiten Schritt überträgt er diesen Gedanken auf die Gründung des Staates, dem als Garant der Freiheit ein Zwangsrecht zur Herstellung, Erhaltung und Wiederherstellung freiheitlicher Verhältnisse zustehen muss, wenn Freiheit auf Dauer Wirklichkeit haben soll (dazu unter (2)).158 (1) Begründung der Zwangsbefugnis aus dem Rechtsbegriff Der Begriff des Rechtszwangs lässt sich nach Kant aus dem des Rechts159 analytisch ableiten.160 Er meint nicht nur, dass die äußere Verbindlichkeit des Rechts ohne eine ihm korrespondierende äußere Zwangsbefugnis nicht denkbar ist, sondern sogar, dass das Recht und die Befugnis zu zwingen dasselbe („einerlei“) bedeuten.161 Mit dieser „vernunftbegriffliche(n) Synthese von Recht und äußerem Zwang“ 162 wird all jenen Ansichten eine Absage erteilt, die „das Recht als aus zwei Stücken, nämlich der Verbindlichkeit nach einem Gesetze und der Befugnis dessen, der durch seine Willkür den anderen verbindet, diesen dazu zu zwingen, zusammengesetzt“ 163 verstehen. Denn durch ein solches Verständnis würde Zwang „als Durchsetzungsmodus bloß äußerlich mit der Rechtsinhaltlichkeit (verbunden), damit aber eigentlich außerhalb des Legitimationszusammenhangs (. . .) belassen.“ 164 Kant erhebt hingegen den Anspruch, rechtlichen Zwang ebenso durch praktisch rechtliche Vernunft zu begründen wie das Recht selbst. Der Begriff des Rechts sei nicht zu trennen von der „Möglichkeit der Verknüpfung des allgemeinen wechselseitigen Zwanges mit jedermanns Freiheit“ 165. Nach Kant ist der Rechtszwang also ein Bestandteil des materiellen Rechtsprinzips.166 Dies bedeutet, dass die Aussagen, die zum Rechtsgesetz getroffen wurden,167 auch für den Bereich rechtlichen Zwangs von Bedeutung sind: 158 Siehe zur Notwendigkeit dieses Zweischritts auch M. Köhler, „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ Philosophische Hefte 1 (1993), S. 79 (82). 159 Vgl. zum Kantischen Rechtsbegriff oben S. 90 ff. 160 Vgl. I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, §§ D und E, AB 35, 36 (Ak.-Ausg. Band VI, S. 231–233). 161 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § E, AB 36 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 232). 162 M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“ (1992), S. 94. 163 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § E, AB 35, 36 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 232). 164 M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“ (1992), S. 93 (96). 165 I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § E, AB 36 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 232). 166 Es lautet: „Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann etc.“ I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § C, AB 33 (Ak.Ausg., Band VI, S. 230). 167 Siehe dazu ebenfalls schon oben S. 90 ff.
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– Rechtszwang darf sich erstens nur auf die äußerliche Seite des Handelns beziehen, dagegen nicht auf den zugrunde liegenden Willensprozess des zu Zwingenden zugreifen. Zulässig sind damit ausschließlich Maßnahmen, die die äußere Freiheit beschränken (also den äußeren Rechtsstatus der Person betreffen), nicht aber solche, die wie etwa Gehirnwäsche, Zwangstherapie, zwangsweise Umerziehung oder gar Vergabe von auf die Willensbildung Einfluss nehmenden Medikamenten und manipulierende Operationen am Gehirn den inneren Raum des menschlichen Willens, das Zentrum der Persönlichkeit betreffen. – Zweitens ist die Bedeutung der Autonomie des Rechtssubjekts auch im Zusammenhang mit dem Rechtszwang nicht aufgehoben. Dies impliziert, dass die Selbstbestimmheit und Würde des zu Zwingenden von der Zwangsmaßnahme unangetastet bleiben müssen. – Drittens kann das Rechtsverhältnis nicht als solches durch Rechtszwang aufgehoben werden, es muss vielmehr als Grundlage bestehen bleiben, auch wenn es durch äußerlichen Zwang in der Waage gehalten wird. Ein Ausschluss aus dem rechtlichen Verhältnis überhaupt darf also durch Rechtszwang nicht bewirkt werden: Keine Exklusion, keine „außerrechtliche“, „nur physische“ Behandlung als Naturwesen, keine Entpersonalisierung. – Letztlich darf auch die Befugnis zum Zwang nicht bloß an die Erreichung eines bestimmten, inhaltlich festgelegten Ziels gebunden werden, sondern nur der Form nach daran, ob die Ausübung des Zwangs mit der Freiheit von jedermann vereinbar ist. Das Ziel der Maßnahme hat also die Erzwingung (Herstellung oder Bewahrung) von Recht zu sein; Zwecksetzungen anderer Art, beispielsweise ökonomischer (Gewinnerzielung, Kostenersparnis), psychologischer („Besserung“) oder gesellschaftlicher (Förderung des Wohlstands oder der Sicherheit der Gesellschaft) Art sind deswegen für die Beurteilung der Legitimität von Rechtszwang unmaßgeblich, können ihn nicht begründen.168 Wie nun Zwang als mit der rechtlichen Freiheit von jedermann vereinbar gedacht werden kann, stellt Kant im § D seiner Metaphysik der Sitten vor.169 Im 168 Vgl. zu den immanenten Schranken des Rechtszwangs, die sich aus dem Grundgedanken des Rechts selbst ableiten lassen, auch M. Köhler, „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ (1993), S. 79 (86 ff.). 169 Vgl. dazu die Auseinandersetzung mit Wolfgang Kersting bei G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“ a. a. O., S. 44 ff.: Kersting sieht in der Rechtslehre Kants den gedanklichen Weg vom Zwang zu den allgemeinen Bedingungen seiner legitimen Handhabung (W. Kersting, Kant über Recht (2004), S. 40; zitiert bei Geismann, a. a. O.), was Geismann zu Recht bestreitet; der Gedankengang müsse vielmehr umgekehrt am allgemeinen Rechtsbegriff ansetzen und sich von dort aus zur Bestimmung der Zwangsbefugnis erweitern. Schon die Fassung der §§ B bis E in der Einleitung der Rechtslehre sprechen für diese Ansicht; zur weiteren Argumentation siehe Geismann, a. a. O.
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ersten Zugriff scheint eine solche Verbindung unmöglich, hat doch Kant selbst den Zwang als ein „Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht“ 170 bezeichnet. Zwang als Beugung des Willens zu einem bestimmten Verhalten scheint überhaupt unvereinbar mit menschlicher Freiheit zu sein. Und doch stellt Kant die Befugnis zu zwingen als notwendigen Bestandteil des Rechts im folgenden Gedankengang schlüssig dar: „Der Widerstand, der dem Hindernisse einer Wirkung entgegengesetzt wird, ist eine Beförderung dieser Wirkung und stimmt mit ihr zusammen. Nun ist alles, was unrecht ist, ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen; der Zwang aber ist ein Hindernis oder Widerstand, der der Freiheit geschieht. Folglich: wenn ein gewisser Gebrauch der Freiheit selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist, so ist der Zwang, der diesem entgegengesetzt wird, als V e r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s d e r F r e i h e i t mit der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmend, d. i. recht; mithin ist mit dem Rechte zugleich eine Befugnis, den, der ihm Abbruch tut, zu zwingen, nach dem Satze des Widerspruchs verknüpft.“ 171
Diese Begründung der Zwangsbefugnis ruht damit auf der Begründung des Rechts auf. Es ist die „äußere Freiheit als Recht – (. . .) –, aus der sich die Befugnis zum Zwang allererst und dann allerdings auch notwendig ergibt.“ 172 Mittels eines logischen Schlusses lässt sich die Rechtsbegründung zur Zwangsbegründung erweitern: Rechtlich richtiges Handeln ist solches, das mit der Freiheit von jedermann nach allgemeinen Gesetzen vereinbar ist. Im Umkehrschluss handelt derjenige unrechtlich, der durch seine Handlungen ein Hindernis der Freiheit anderer nach allgemeinen Gesetzen begründet, der ihnen die selbständige Bewältigung ihres Daseins als prinzipiell gleichbedeutsam erschwert oder unmöglich macht. Die Verhinderung eines solchen Unrechts ist die Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit und daher eine sie im Ergebnis bestätigende und erhaltende Aktion. Wird äußerer Zwang so angewendet, dass im Ergebnis eine freiheitliche Position aufrechterhalten wird, dass also Unrechtliches nicht geschieht, ist diese Zwangsanwendung rechtlich vernünftig, somit rechtlich begründet. Dann ist die Erzwingbarkeit von der Wirklichkeit des Rechts tatsächlich nicht mehr zu trennen. Mit dem vorgestellten Verständnis wird deutlich, dass es sich beim Rechtszwang notwendig um Gegen- und nicht um originären (Erst-)Zwang handelt.173 Dadurch steht fest, dass es sich um eine Aufhebung eines bevorstehenden oder schon ausgeführten, den Gegenzwang auslösenden Ereignisses handeln muss; in 170
I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § D, AB 35 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 231). I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § D, AB 35 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 231); vgl. dazu auch O. Höffe, „Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalstrafe“ (1982), S. 352 ff.; ders., „Der kategorische Rechtsimperativ“ (1999), S. 55 ff. 172 G. Geismann, „Recht und Moral in der Philosophie Kants“ a. a. O., S. 44. 173 Vgl. O. Höffe, „Der kategorische Rechtsimperativ“ (1999), S. 56, 57. 171
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den Worten Kants „ein gewisser Gebrauch der Freiheit(, der) selbst ein Hindernis der Freiheit nach allgemeinen Gesetzen (d. i. unrecht) ist.“ 174 Zwischen der Zwangsanwendung und dem Unrecht besteht so eine enge, inhaltliche Beziehung; Zwang wird dem Unrecht entgegengesetzt. Das wiederum hat zur Konsequenz, dass sich das Maß für den Zwang aus dem Gewicht des Unrechts ergibt. Begrifflich bestimmt ist Rechtszwang also ganz allgemein als „Verhinderung von Unrecht“. Davon sind alle Maßnahmen erfasst, die durch (äußerliche) Einwirkung auf den Willen (nicht: durch Eingriff in den Willensbildungsprozess) des zum Unrecht Ansetzenden oder durch die Unterbreitung eines physischen Hindernisses die bevorstehende Unrechtshandlung unmöglich machen. (2) Begründung der staatlichen Zwangsbefugnis Diese Begriffsbestimmung ist die Basis für den weiteren Schritt, das Zwangsrecht als ein spezifisches Recht des Staates auszuweisen: Die freiheitsgesetzliche Begründung der Zwangsbefugnis innerhalb der (noch nicht notwendig verfassten) Rechtsverhältnisse autonomer Rechtssubjekte bedarf der Ergänzung hinsichtlich ihrer Übertragung auf den Staat. Dieses zusätzliche Begründungselement lässt sich aus der Kantischen Vorstellung der Staatsgründung, genauer: des Übergangs vom Privatrecht in den rechtlich verfassten Zustand,175 ableiten. Nach Kant ist das Ziel der Staatsgründung ein verlässlicher Rechtszustand, in dem freiheitliche Verhältnisse gesichert und garantiert werden.176 Dafür ist eine äußere Macht notwendig, die mit wirksamer Zwangsgewalt ausgestattet ist: Sie muss dafür sorgen, dass die Rechtspositionen der Einzelnen tatsächlich „zur Ausübung“ kommen können. Diese staatliche Zwangsgewalt ist jedoch nicht als äußere Gewalt zur Domestizierung der ihr untergeordneten Bürger richtig begriffen, sondern als eine aus Vernunftgründen von den Staatsbürgern um ihrer Freiheit willen selbst begründete Rechtsmacht. Damit sind die Kompetenzen, aber auch die Grenzen der Befugnisse des Staates in den Grundzügen umrissen: Der Staat hat einerseits, notfalls mittels Zwang, rechtliche Positionen zu schützen und durchzusetzen, bei der Ausübung dieser Rechtsmacht ist er aber durch das der Zwangsbefugnis immanente Freiheitsprinzip beschränkt. Die für den Zwang als Teil des Rechtsbegriffs entwickelten Prinzipien gelten damit uneingeschränkt auch für das staatliche Zwangsrecht: Es darf sich nur auf 174
I. Kant, MdS, Rechtslehre, Einleitung, § D, Ab 35 (Ak.-Ausg., Band VI, S. 231). Vgl. dazu schon oben S. 94 ff. 176 Die Notwendigkeit einer Rechtssicherung ergibt sich aus der Eigenart des Menschen, Natur- und Vernunftwesen zugleich zu sein, also im Umgang mit anderen im geteilten Raum-Zeit-Zusammenhnag auch fehl gehen und fremde Rechtssphären verletzen zu können. 175
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die äußere Sphäre des Gezwungenen und nur in einer Weise auswirken, die die Autonomie des Betroffenen wahrt; und es darf weder rechts-exkludierend wirken noch anderen Zwecken dienen als dem Rechtserhalt.177 bb) Begründung des Rechtszwangs bei G. W. F. Hegel Hegel hat sich in seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts zunächst im Rahmen des ersten Teils (des abstrakten Rechts) mit dem Problem der Zwangsbefugnis beschäftigt (dazu sogleich unter (1)). Dieser erste Teil ist untergliedert in drei Abschnitte: „Das Eigentum“, „Der Vertrag“ und „Das Unrecht“, wobei das Moment des Zwangs zusammen mit dem des Verbrechens als drittes Teilelement des letzteren nach dem „Unbefangenen Unrecht“ und dem „Betrug“ thematisiert wird (§§ 90 ff. GPhR). Diese Verortung deutet darauf hin, dass auch bei Hegel der Rechtszwang als fundamentales Moment äußerer personaler Rechtsverhältnisse begriffen wird (denn diese werden im abstrakten Recht behandelt, vgl. zur Einteilung § 33 GPhR), was das Verständnis des Rechtsbegriffs als Dasein der Freiheit (vgl. § 29 GPhR) ebenso voraussetzt, wie einen davon abgeleiteten Unrechtsbegriff (§§ 82 ff. GPhR). Auch bei Hegel wird der Rechtszwang als dem Unrecht entgegengesetzt und dadurch mit dem Recht im Einklang stehend gedacht; insofern wird der Kantische Grundgedanke bei ihm fortgeführt. Die Frage nach der staatlichen Zwangsbefugnis wird bei Hegel einesteils im Bereich der „bürgerlichen Gesellschaft“, anderenteils im „Staat“ thematisch. Dies erklärt sich aus der grundlegenden hegelschen Einteilung der Sittlichkeit in Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat:178 In der bürgerlichen Gesellschaft, die Hegel als zweckmäßige Gemeinschaft mit allgemeinen Regeln zur Ordnung und Regulierung des Geflechts von Interpersonalbeziehungen ausgestaltet,179 existiert eine „formelle Allgemeinheit“, die einerseits das „System der Bedürfnisse“, andererseits die Rechtspflege sowie die Polizei und Korporation enthält. Die Rechtspflege ist für die Sicherung der Rechtspositionen des Einzelnen zuständig, sorgt damit für eine äußere Ordnung, die das Zusammenleben organisiert, und wahrt das Interesse des Gemeinwesens als Allgemeines.180 Im Staat 177 Siehe auch C. Dierksmeier, „Zur systematischen Liberalität von Kants Politikund Staatsbegriff“ (2009), S. 42 (48, 49): „Benutzt ein Staat Rechtszwang außerhalb der ihn legitimierenden Definition, wird er zum Unrechtsstaat; egal, ob er, um den Bürgern zu den rechten Gesinnungen zu verhelfen, den Grundsatz verletzt, dass ,(d)ie Pflichten nach der rechtlichen Gesetzgebung (. . .) nur äußere Pflichten sein (. . .)‘ können (AA VI 219), oder ob er äußere Pflichten auferlegt, welche außerhalb der Rechtsverwirklichung liegende Ziele verwirklichen sollen. Wie nobel auch immer die dazu jeweils antreibenden Motive sein mögen, sie können jene Übertretungen des Rechtsgedankens doch nie rechtfertigen.“ 178 Vgl. dazu § 157 GPhR, S. 306. 179 Vgl. dazu schon oben im 2. Teil S. 123 ff. 180 Siehe zu dieser Einteilung § 188 GPhR, S. 346.
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(i. e. S.) findet im Gegensatz zu dieser bloß negativen Abgrenzung und Sicherung der einzelnen Freiheitssphären eine genuin positive Vergemeinschaftung statt; er hat eine eigenständige Substanz, die Substanz der Freiheit.181 Die Zwangsbefugnis ist nun notwendiger Teil der Rechtspflege, insofern also Teil der funktionalfreiheitlichen, formellen Allgemeinheit des „Not- und Verstandesstaates“. Soll sie im hegelschen Sinne darüber hinaus Teil der „Wirklichkeit von Freiheit“ im Staat sein, muss sie zudem als positiv-vernünftige Institution auch des Vernunftstaates ausgewiesen sein. Darauf soll unter (2) eingegangen werden. (1) Zwangsbegründung im abstrakten Recht Hegel setzt anders als Kant bei seiner Zwangsbegründung zunächst an der Begrifflichkeit von Gewalt und Zwang überhaupt an (vgl. § 90 GPhR) – ohne dabei schon den Zusammenhang mit der Unrechtsaufhebung zu integrieren. Er bestimmt beides als Angriff auf den Willen eines Subjekts,182 den dieses durch eine Einwirkung auf seine äußerliche Sphäre zu erleiden hat. Dieser Angriff auf den Willen durch äußere Einwirkung ist insofern möglich, als nach Hegel der Wille des Subjekts in seine äußerliche Sphäre (das „Eigentum“ im weitesten Sinne) gelegt183 und deshalb über eine Läsion dieser Äußerlichkeit auch selbst verletzlich ist. Auf den Willen kann also über die äußere Sphäre zugegriffen werden; und so kann der Wille auch unter „die Notwendigkeit“ gesetzt, d. h. genötigt werden. Gewalt liegt bei solch einem Angriff vor, wenn die Einwirkung unmittelbar auf die naturhafte Seite gerichtet ist und dadurch der Wille überhaupt verletzt wird; Zwang wird dem Willen angetan, indem ihm „durch die Gewalt zur Bedingung irgendeines Besitzes oder positiven Seins eine Aufopferung oder Handlung gemacht“ 184 wird. Durch die äußere Einwirkung wird also eine „Aufopferung“ oder „Handlung“ erzwungen, der Wille durch Zugriff auf seine naturhafte Seite gebeugt und in eine bestimmte Richtung getrieben. Daraus folgt dann: Der Mensch kann „als Lebendiges“ bezwungen, d. h. seine „physische und sonst äußerliche Seite unter die Gewalt anderer gebracht“ werden.185 Dies berührt nach Hegel jedoch nicht den freien Willen selbst; der Wille in der Innerlichkeit des Subjekts verliert durch Zwang, und sei dieser noch so stark, nie seine Eigenschaft, frei zu sein. Die Freiheit des Subjekts als dessen Grundbestim-
181 Vgl. §§ 257, 258 GPhR, S. 398 ff. Vgl. auch oben S. 128 ff. und D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 140. 182 Zum Zusammenhang mit Hegels Willensdialektik in den §§ 4 ff. GPhR siehe G. Mohr, „Unrecht und Strafe (§§ 82–104, 214, 218–220)“ (1997), S. 95 (100 ff.). Vgl. zum Willensbegriff auch oben S. 117 ff. 183 Vgl. G. W. F. Hegel, GPhR, §§ 41 ff., S. 102 ff. 184 G. W. F. Hegel, GPhR, § 90, S. 178. 185 G. W. F. Hegel, GPhR, § 91, S. 178.
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mung bleibt demnach unberührt, auch wenn seine äußeren Handlungen fremder Willkür unterliegen.186 Das ist insofern überraschend, als auf den ersten Blick ein freier Wille, der sich nicht ihm gemäß in der realen Welt äußern kann, weil ein anderer über seine äußerliche Seite Macht hat und die Handlungen bestimmt, keine Bedeutung zu haben scheint. Anders formuliert: Was bedeutet die Freiheit des Willens, wenn sie nicht ins Dasein umgesetzt werden kann? Eben in diesem Bedeutungsverlust ist nach Hegel aber die Begründung dafür zu finden, dass eine äußere Nötigung des an sich freien Willens Unrecht darstellt: „Weil der Wille, nur insofern er Dasein hat, Idee oder wirklich frei und das Dasein, in welches er sich gelegt hat, Sein der Freiheit ist, so zerstört Gewalt oder Zwang in ihrem Begriff sich unmittelbar selbst, als Äußerung eines Willens, welche die Äußerung oder Dasein eines Willens aufhebt. Gewalt oder Zwang ist daher, abstrakt genommen, unrechtlich.“ 187
Die Übereinstimmung innerer mit äußerer Freiheit, die dadurch besteht, dass der freie Wille sich auch äußeres Dasein gibt, macht nach Hegel einen „wirklich freien Willen“ aus und begründet das „Sein der Freiheit“. Da Hegel im „Dasein der Freiheit“ das Recht sieht,188 ist es konsequent, wenn er in Gewalt und Zwang einen inneren Widerspruch zum Recht ausmacht: Sie seien die Äußerung eines Willens, welche das Dasein eines freien Willens aufhebt und damit unrechtlich. Der Unrechtsgehalt von Gewalt und Zwang wird also so umschrieben, dass sie zu einem Widerspruch im gewaltbetroffenen bzw. gezwungenen Subjekt führen, dessen an sich freier Wille – seine Vernunft – vergewaltigt wird, indem es dem Subjekt unmöglich gemacht wird, seine Willensäußerung mit sich selbst im Einklang zu tätigen, und es stattdessen in einen Selbstwiderspruch genötigt wird.
186 M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“ (1992), S. 100, weist darauf hin, dass eine durch (Rechts-)Zwang motivierte Handlung nicht gleichzusetzen ist mit einer unfreiwilligen Handlung. Die (negative) Willensfreiheit des Gezwungen wird durch Zwang nicht aufgehoben: Wenn auch der Prozess der Wahl zwischen zwei möglichen Aktionen durch den Zwang in eine Richtung gedrängt wird, so kann Zwang nicht die Wahlmöglichkeit selbst aufheben. Resultat des Zwangs bleibt eine vom freien Willen gesteuerte Handlung, – allerdings ein freier Wille, dem es sehr schwer gemacht wird, sich anders zu entscheiden. Die Fähigkeit zur Selbstbestimmung, die positive Freiheit, wird durch Zwang ebenfalls in ihrer Existenz im Vernunftwesen nicht berührt. Der Zwang kann noch so stark sein, der einzelne bleibt doch in der Lage, inhaltlich das Gute einzusehen. Siehe nochmals G. W. F. Hegel, GPhR, § 91, S. 178, 179: „Als Lebendiges kann der Mensch wohl bezwungen werden, d. h. seine physische und sonst äußerliche Seite unter die Gewalt anderer gebracht, aber der freie Wille kann an und für sich nicht gezwungen werden (§ 5), als nur sofern er sich selbst aus der Äußerlichkeit, an der er festgehalten wird, oder aus deren Vorstellung nicht zurückzieht (§ 7). Es kann nur der zu etwas gezwungen werden, der sich zwingen lassen will.“ 187 G. W. F. Hegel, GPhR, § 92, S. 179. 188 Vgl. dazu oben S. 117 ff.
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Durch diese Argumentation wird der nächste Schritt in die Richtung der Notwendigkeit eines Rechtszwangs vorbereitet. Denn wenn sich Gewalt und Zwang begrifflich selbst zerstören, das heißt, wenn sie zu einem begrifflichen Widerspruch (im Subjekt) führen, dann wird deutlich, dass dieser Widerspruch aufgehoben werden muss. Dies geschieht nach Hegel so, dass einem Zwang Gegenzwang entgegengesetzt wird. Wird durch die Anwendung äußeren Zwangs Unrecht begangen, indem einem Subjekt selbstwidersprüchliches Verhalten aufgenötigt wird, so muss dieser Zwang aufgehoben werden, indem ein zweiter Zwang angewendet wird.189 Dieser zweite Zwang ist dann „nicht nur bedingt rechtlich, sondern notwendig“ 190. Das Zwangsrecht begründet sich damit als Wahrung des Rechts.191 Es sorgt für die Aufhebung der „Gewalt gegen das Dasein meiner Freiheit“, die ihrerseits Unrecht ist, und damit für die Erhaltung dieses Daseins. Das Zwangsrecht kann damit (wie auch bei Kant) überhaupt mit dem (abstrakten) Recht gleichgesetzt werden: „Das abstrakte Recht ist Zwangsrecht, weil (. . .) die Erhaltung d(ies)es Daseins (der Freiheit, K. G.) gegen die Gewalt (. . .) eine jene erste aufhebende Gewalt ist.“ 192
189
G. W. F. Hegel, GPhR, § 93, S. 179. Ebenda. Siehe dazu auch G. Mohr, „Unrecht und Strafe (§§ 82–104, 214, 218– 220)“ (1997), S. 102: „Die Aufhebung des Zwangs durch Zwang ist nach Hegel die ,Manifestation‘ des ,Widerspruchs seiner selbst‘ (PR 85) und als solche ,nicht nur bedingt rechtlich‘, sondern ,notwendig‘ (R § 93).“ 191 Vgl. G. W. F. Hegel, GPhR, § 94, S. 180. 192 Ebenda. In der Anmerkung zu diesem Paragraphen weist Hegel auch darauf hin, dass es einen gedanklichen Fehler darstellt, wenn das Recht von vorneherein vom Zwang bzw. von der Sanktion her definiert wird, weil damit der Zusammenhang „Recht-Unrecht-Gegenzwang“ begrifflich nicht erfasst wird. Dieser Fehler findet sich beispielsweise bei Hans Kelsen, wenn er schreibt: „Der einzig zureichende Erkenntnisgrund dafür, dass irgendein Tatbestand für die juristische Betrachtung ,Unrecht‘ sei, ist in der Tatsache gelegen, dass die Rechtsordnung in bestimmter Weise, nämlich durch Strafe oder Exekution, auf ihn reagiert, (. . .).“ (H. Kelsen, „Über Staatsunrecht“ (1968), S. 957 (961)). Kelsen nimmt damit eine Identifizierung von Recht und schlicht-empirischer Zwangsmacht vor, die den eigentlichen Begründungsschritt auslässt. G. Mohr „Unrecht und Strafe (§§ 82–104, 214, 218–220)“ (1997), S. 103 (mit Fußnote 2) meint darüber hinaus, dass Hegel sich mit seiner Anmerkung zum § 94 auch gegen die Zwangsbegründung bei Kant wende, weil Hegel sich gegen dessen analytische Herleitung aus dem Rechtsbegriff ausspreche. Hegel begreife die Zwangsbefugnis als Folge des Rechts, Kant dagegen als Definiens von Recht. Mohr zweifelt allerdings an der Analytizität der kantischen Herleitung, weil mehrere Prämissen in den Begründungsgang eingefügt seien, die sich nicht allein aus dem Rechtsbegriff ergäben, sondern zusätzliche Gedankenschritte bedeuteten. Insofern müsste auch das Kantische Zwangsrecht als Folge und nicht als Bestandteil des Rechts begriffen werden. M. E. baut Hegel auf dem Begründungsgang Kants insofern auf, als dass er dessen Gedanken der (Selbst-) Widersprüchlichkeit von Unrecht und deren Aufhebung durch Rechtszwang im Grundsatz übernimmt. Dass er dies stärker von der Willensstruktur der Subjekte und ihrem Rechtsverhältnis aus tut, erweitert den Zusammenhang, stellt aber keine Widerlegung Kants dar. 190
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Rechtszwang nach Hegel setzt damit immer einen ersten Unrechtszwang193 voraus, gegen den er sich richten muss, um selbst begründet zu sein; von dort erhält er sein Maß 194 – er ist nicht mehr und nicht weniger als die Aufhebung des Unrechts.195 Das impliziert zudem, dass jeder rechtliche Zwang sich auf konkretes Unrecht beziehen muss, weil er sich erst aus diesem Bezug begründen lässt: Eine allgemeine Unrechtsneigung oder -stimmung kann deshalb (vorweggenommene) Zwangsmaßnahmen nicht rechtfertigen; ohne die Existenz des Unrechts, der „Gewalt gegen das Dasein meiner Freiheit“, als erster Zwang wird kein Widerspruch zum Recht begründet, der durch den Gegenzwang aufgehoben werden müsste. Damit kann eine weitere Grenze zwischen rechtmäßigen und rechtswidrigen Präventivmaßnahmen angegeben werden: Möglich bleiben im Vorfeld konkreten Unrechts allenfalls Beobachtungs- und Erforschungsmaßnahmen, die klären helfen, ob und welches Unrecht unmittelbar bevorsteht; Zwangsmaßnahmen im engeren Sinne, die sich unmittelbar auf die Unrechtsverhinderung richten, setzen dagegen konkret drohendes oder bestehendes Unrecht voraus. Rechtszwang ist ferner Einwirkung auf die äußere Umsetzung eines rechtszerstörerischen Willens (auf den Willen selbst kann und darf er keinen Einfluss nehmen)196 und in seiner Wirkung nichts anderes als die Erhaltung freiheitlichen Daseins. Daraus folgt, dass er nicht in die Person hinein-, sondern nur auf sie 193 Vgl. zu den Formen des Unrechts bei Hegel im Überblick schon K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 118 ff. Hegel unterscheidet drei Formen des Unrechts: Das unbefangene Unrecht (§§ 84–86 GPhR), den Betrug (§§ 87–89 GPhR) und das Verbrechen (§§ 90 ff. GPhR). Alle drei lösen die Befugnis zum Gegenzwang aus, während nur die beiden letzteren Strafe als Folge nach sich ziehen. Gründlich zum Hegelschen Unrechtsbegriff D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 63 ff. 194 Das verwaltungs- und verfassungsrechtliche Übermaßverbot hat hier seinen Grund. 195 Dieser Grundgedanke fundiert nach Hegel auch das Strafrecht. Das Verbrechen als besondere Form des Unrechts ist erster Zwang, der als Äußerung eines freien Willens das Dasein der Freiheit und damit das „Recht als Recht“ verletzt, also eine Negation des Rechts ist. Strafe hebt diese Negation auf, stellt die Wirklichkeit des Rechts wieder her, ist insofern Negation der Negation (vgl. §§ 95–99 GPhR). Dazu K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 119 ff. und 135 ff.; D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 68 ff.; G. Mohr, „Unrecht und Strafe (§§ 82– 104, 214, 218–220)“ (1997), S. 103 ff. Zum Strafrecht bei Hegel insgesamt O. K. Flechtheim, Hegels Strafrechtstheorie (1975); F. Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts (1987), S. 57 ff.; H. Mayer, „Kant, Hegel und das Strafrecht“ (1969), S. 54 ff.; W. Schild, „Juristisches Denken und Hegels Rechtsphilosophie“ Österr. Z. öffentl. Recht und Völkerrecht 29 (1978), S. 5 ff.; ders., „Die Aktualität des Hegelschen Strafbegriffs“ (1979), S. 199 ff.; K. Seelmann, „Hegels Straftheorie in seinen ,Grundlinien der Philosophie des Rechts‘“ JuS 1979, S. 687 ff.; ders., „Wechselseitige Anerkennung und Unrecht“ ARSP (79) 1993, S. 228 ff. 196 Insofern wird das Kantische Resultat, dass Rechtszwang nur äußerlich wirkender Zwang sein kann, mit Hegels Argumentation zusätzlich gestützt.
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einwirken197 und dass er nicht für andere Zwecke als die Aufhebung von Unrecht verwendet werden darf. Er verlöre andernfalls seine Eigenschaft als Rechtszwang. (2) Zwang in der bürgerlichen Gesellschaft und im Staat Die Rechtsverfassung ist als Teil der bürgerlichen Gesellschaft nach Hegel „Mittel der Sicherung der Person und des Eigentums“.198 Die Staatsverfassung ist darüber hinausgehend Ausdruck „des Zwecks und der Wirklichkeit des substantiell Allgemeinen“ 199, die „Einheit als gewusste, bewusste, ausgesprochene und gedachte Einheit – d. i. als Freiheit als solche“ 200. Die Einordnung der Zwangsbefugnis in diese beiden Bereiche muss ihre jeweiligen Besonderheiten berücksichtigen; das Zwangsrecht muss sich aber im Ergebnis als „sittlich“, d. h. als Teil der Wirklichkeit von Freiheit ausweisen lassen. Die Rechtspflege (§§ 209 ff. GPhR) besteht aus einer positivierten Gesetzlichkeit von Recht und der Institution von Gerichten. Für eine Rechtsverfassung i. S. Hegels ist ferner die Einrichtung der Polizei als „sichernde Macht des Allgemeinen“ 201 notwendig. Beide zusammengenommen verhelfen dem Recht zu „objektiver Wirklichkeit“, erstens durch „Bewusstmachung“ dessen, was Recht ist – durch positive Gesetzgebung und gerechte Einzelfallentscheidung – und zweitens durch die „Macht der Wirklichkeit“, also die Geltungsrealisation und deren Wirkung, dass das Recht als allgemein Gültiges gewusst wird.202 An dieser Stelle lässt sich die Zwangsbefugnis, die im abstrakten Recht als notwendiges Instrument der Rechtserhaltung ausgewiesen wurde, in den Zusammenhang einordnen. Die „sichernde Macht des Allgemeinen“ hat vor allem die Sicherung der Rechtsgeltung zur Aufgabe – eine Rechtsgeltung, die nun durch Gesetze und Rechtsprechung konkretisiert ist. Die Macht ist Rechtsmacht dann, wenn sie zur objektiven Wirklichkeit des konkretisierten Rechts beiträgt, wenn sie also das Recht in der Wirklichkeit auch gegen Angriffe wahrt. Durch die Rechtspflege wird „die Verletzung des Eigentums und der Persönlichkeit getilgt“, durch die sichernde Macht der Polizei wird die „ungestörte Sicherheit der Person und des Eigentums“ tatsächlich „bewirkt“.203 Dazu gehört, 197 Vgl. dazu schon die Konsequenzen aus dem kantischen Begriff der Zwangsbefugnis oben S. 344 ff., 347 ff. und 355: Medikamente, Drogen, operative Eingriffe, die in das geistige Zentrum der Person zwangsweise eingreifen, sind damit ebenso ausgeschlossen wie durch Folter oder sonstige gewaltsame „Behandlung“ bewirkte Willensverkehrungen in der freien Person. 198 Siehe § 157 GPhR, S. 306. 199 Ebenda. 200 Zusatz zum § 157 GPhR, S. 307. 201 § 231 GPhR, S. 382. 202 Siehe dazu § 210 GPhR, S. 361. 203 G. W. F. Hegel, § 230 GPhR, S. 382.
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dass Unrechtstaten (insbesondere Verbrechen) durch „die allgemeine Macht“ verhindert oder zur gerichtlichen Behandlung gebracht werden.204 Die Verhinderung von Unrecht in der Rechtswirklichkeit der in der bürgerlichen Gesellschaft verfassten Personen ist damit Grund für die Ausstattung der „sichernden Macht des Allgemeinen“ mit der Befugnis zu zwingen. Die Begründung des Zwangsrechts im abstrakten Recht wird dadurch in die Ebene der Rechtsverfassung übernommen, womit auch ihre grundsätzlichen, oben näher gekennzeichneten Bedingungen und Konsequenzen Gültigkeit behalten. Dasselbe muss im Grundsatz für die staatliche Zwangsbefugnis gelten. Beim Staat im hegelschen Sinne handelt es sich – wie schon205 herausgearbeitet – um eine selbstzweckhafte Vernunfteinheit, die sich sowohl gegenüber dem individuellen Einzelwillen als auch gegenüber der aus Einzelwillen zusammengesetzten Allgemeinheit als etwas Selbständiges erweist. Mit dieser Staatlichkeit darf jedoch keine Instanz begründet sein, in der der Einzelne mit seinen besonderen Rechten und Interessen untergeht. Im Gegenteil muss sie auf der Anerkennung der Subjekte beruhen; die objektivierte Freiheit ist darauf angewiesen, als solche erkannt, anerkannt und gelebt zu werden; der Staat kann nur dann tatsächlich „Wirklichkeit konkreter Freiheit“ sein, wenn das einzelne Subjekt in ihm seinen eigenen substantiellen Geist erkennen kann. Die Identifikation des Einzelnen mit dem Staat ist wiederum nur möglich, wenn die Staatsstrukturen der Vernunft gemäß eingerichtet und ausgestaltet sind. Sie haben ihre Wirklichkeit in staatlichen Institutionen, die zusammengenommen die Verfassung („d. i. die entwickelte und verwirklichte Vernünftigkeit“) bilden; sie sind die „feste Basis des Staates sowie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen (. . .) und die Grundsäulen der öffentlichen Freiheit, da in ihnen die besondere Freiheit realisiert (. . .) ist.“ 206 Die Institutionen haben also das Recht in der Wirklichkeit der Bürger zur Geltung zu bringen, und sie haben den Vernunftstaat zu durchformen. Ihre objektive Vernünftigkeit ist Voraussetzung und Grund dafür, dass die Subjekte im Staat ihren eigenen freien Geist wiedererkennen, wenn auch in der Form einer verobjektivierten Struktur, und sich mit ihm insofern identifizieren. Bezogen auf die Ausübung staatlichen Zwangs bedeutet das, dass der Einzelne die Zwangsbefugnis und die Struktur der sie ausübenden Institutionen einsehen können muss; und das kann er nur, wenn die vernunftgegründete Herleitung aus dem abstrakten Recht – Rechtszwang als Gegenzwang zu unrechtlichem Erstzwang – in der Realität der Ausübung durch die staatlichen Institutionen Beachtung findet. Die objektiv-vernunftrechtliche Grundlegung ist damit Garantin dafür, dass die staatliche Zwangsbefugnis nicht als Willkürmaßnahme bloßer
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G. W. F. Hegel, § 232 GPhR, S. 383. Im 2. Teil der Arbeit, S. 128 ff. § 265 GPhR, S. 412.
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Macht, sondern als in der Rechtsvernunft der Staatsbürger gegründete Rechtserhaltungsmaßnahme ausgeübt wird und subjektiv vom Einzelnen als solche auch verstanden werden kann. Da der Staat bei Hegel diejenige Stufe der Sittlichkeit ist, in der die Entwicklung und Anerkennung des besonderen subjektiven Rechts mit der Allgemeinheit vermittelt ist (vgl. § 260 GPhR), kommt es im Falle des vom Einzelnen verübten Unrechts – also seiner Negation des allgemeinen Rechts – zu einer Entzweiung von Besonderheit und Allgemeinheit, die durch den Zwang aufgehoben werden muss. Rechtszwang ist insofern nicht nur als Nötigung eines besonderen Willens zu begreifen, der einen anderen besonderen Willen lädiert, sondern als Aufrechterhaltung der Wirklichkeit von Freiheit im Staat gegen eine das Allgemeine der Sittlichkeit negierende Besonderheit. Rechtszwang dient damit der Wahrung der Einheit von Allgemeinem und Besonderem, dem Fortbestand der im Staat verwirklichten Freiheit. cc) Konsequenzen aus den Fundamentalbestimmungen für die gegenwärtige Ausgestaltung des staatlichen Zwangsrechts Mit den genannten Grundlagen der Zwangsbegründung ist näher umrissen, welche staatlichen Maßnahmen unter dem Gesichtspunkt ihrer Rechtsstaatlichkeit schon aus rechtsprinzipiellen Gründen ausgeschlossen sind: Jede mit Zwang verbundene Einwirkung auf die innere Willenssphäre eines jeden der Staatsgewalt exponierten Rechtssubjekts; jegliche entwürdigende oder entrechtende Behandlung; jede Maßnahme, die nicht an der Aufrechterhaltung des rechtlichen, d. h. freiheitlichen Zustandes orientiert ist bzw. die nicht als Gegenzwang zu einem konkreten Unrecht begriffen werden kann. Die Notwendigkeit, die Vernunftgegründetheit der konkreten Maßnahme gegenüber dem Subjekt jederzeit ausweisen zu können, verbietet (im Grundsatz) zudem nicht nur heimliches Handeln und gebietet die Offenlegung der Gründe für die Zwangsmaßname, sondern stellt auch erhebliche Anforderungen an die materielle (Vernunft-)Begründung der Maßnahme gerade auch dem von ihr betroffenen Subjekt gegenüber. Dass diese Grundsätze faktisch in Unrechtsregimen der ganzen Welt missachtet wurden und werden (man denke nur an die mit Internierung, Gewalt und Unterdrückung verbundenen „Umerziehungsmaßnahmen“ im maoistischen China oder an die auf systematischen Entrechtungen und Morden fußenden Diktaturen Stalins und Hitlers oder an Nordkorea unter der (Willkür-)Gewaltherrschaft der Familie Kim Il-sungs und Kim Jong-ils), macht ihre Bedeutsamkeit für die Erhaltung rechtsstaatlicher Verhältnisse besonders augenfällig. Aber es sind nicht nur die ausgeprägten und offensichtlichen Tyranneien, in denen die Missachtung der Grundsätze droht: Wo die staatliche Maßnahme der
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Folter ernsthaft diskutiert wird,207 wo die staatliche Einwirkung auf Gehirne von Strafgefangenen bzw. Sicherungsverwahrten (zur „Besserung“) nicht kategorisch ausgeschlossen ist,208 wo „Feinde vernichtet“ oder aus der Rechtsgemeinschaft exkludiert209 und damit „systematisch Zonen völliger Rechtlosigkeit geschaffen werden“ sollen210, wo präventive Tötungen außerhalb akuter Notsituationen als staatliche Aktionen erwogen werden,211 wo die Bestrafung nicht kriminellen Unrechts gesetzlich vorgesehen ist und auch vollzogen wird,212 wo die Ausrichtung der Sicherheitsgesetze allein am „Effet utile“ propagiert wird213 und wo die heimliche Ausforschung privater Rechner bzw. unüberprüfbare Datenspeicherung eingeführt werden soll,214 ist die Geltung der genannten basalen Rechts- und Zwangsgrundsätze alles andere als selbstverständlich. Denn die Folter ist nichts anderes als Würdeverletzung; die mentale Zwangsbehandlung in Straf- und Sicherungsanstalten bedeutet einen Zugriff auf den Kern der Persönlichkeit bzw. die innere Willensstruktur der Inhaftierten; ein Feind“recht“ führt zur totalen Entrechtung der als „Feinde“ Exkludierten; die Tötung ist finale Entrechtung qua Absprache des Lebensrechts; Strafe ist als Reaktion auf nicht kriminelles Un207 Vgl. beispielsweise W. Brugger, „Vom unbedingten Verbot der Folter zum bedingten Recht auf Folter?“ JZ 2000, S. 165 ff.; Ch. Fahl, „Angewandte Rechtsphilosophie – ,Darf der Staat foltern?‘“ JR 2004, 183 ff. (der nach den angewendeten Foltermitteln differenzieren will, zulässig seien „jedenfalls keine großen körperlichen Schmerzen“, S. 190, Hervorhebung im Original); J. Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat (2003), S. 57 ff.; die absolute Grenze des Art. 1 Abs. 1 GG bei der „finalen Schmerzzufügung (Folter)“ anerkennend M. Herdegen, in: Maunz/Dürig, GG (2009), Art. 1, Rn. 51 u. 95. Kritisch zur Aufweichung des Folterverbots St. Stübinger, „Zur Diskussion um die Folter“ (2007), S. 277 ff.; H. Bielefeldt, Das Folterverbot im Rechtsstaat (2004). 208 Vgl. zu psychiatrischen Zwangsbehandlungen kritisch J.-Ch. Bublitz, „Habeas Mentem? Psychiatrische Zwangseingriffe im Maßregelvollzug und die Freiheit gefährlicher Gedanken“ ZIS 8–9 2011, S. 714 ff. Siehe ferner G. Detlefsen, Grenzen der Freiheit – Bedingungen des Handelns – Perspektive des Schuldprinzips (2006), S. 346, die zwar einerseits zwangsweise Operationen oder Therapien zur Bewirkung von Rechtstreue wegen Art. 1 GG ablehnt, sich andererseits aber für einen „therapeutischen Maßnahmevollzug“ ausspricht, der in Zukunft die Strafe ersetzen soll; ähnlich dies. (nach Namensänderung G. Merkel)/G. Roth, „Bestrafung oder Therapie?“ BRJ 1 (2010), S. 47 ff.; kritisch-gründlich zur Debatte um die Willensfreiheit und die Konsequenzen für das Strafrecht St. Stübinger, Das ,idealisierte‘ Strafrecht (2008), S. 352 ff. und ders., „Person oder Patient? Anmerkungen zur ,Sicht der Hirnforschung‘ auf das Schuldprinzip im Strafrecht“ BRJ 2/2010, S. 211 ff. 209 Vgl. dazu die in dieser Arbeit vorgestellten Lehren O. Depenheuers (oben S. 168 ff.) und G. Jakobs’ (243 ff., 302 ff.). 210 So formuliert es H. Bielefeldt, Das Folterverbot im Rechtsstaat (2004), S. 9. 211 Vgl. dazu das hier näher untersuchte Konzept eines kriegsrechtlich orientierten Bekämpfungsrechts nach M. Pawlik (Der Terrorist und sein Recht (2008)). 212 Vgl. dazu den vierten Teil der vorliegenden Arbeit. 213 Besonders deutlich bei O. Depenheuer, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 87a, beispielsweise Rn. 29 und 52. 214 Siehe dazu D. Klesczewski, „Straftataufklärung im Internet – Technische Möglichkeiten und rechtliche Grenzen von strafprozessualen Ermittlungseingriffen im Internet“ ZStW 123 (2011), S. 737 ff. (m.w. N.).
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recht materiell nicht begründbar; Sicherheitsgesetze lassen sich nicht allein durch ihre Effizienz als Rechtsgesetze ausweisen und heimliche Ausforschungen stehen im Widerspruch zur Pflicht offen zu legender Zwangsgründe. Die genannten Gegebenheiten offenbaren deshalb die Gefahr einer voranschreitenden Geltungserosion der rechtsstaatlichen Grundsätze auch unter dem deutschen Grundgesetz. Für die Ausgestaltung der Präventivbefugnisse des Staates, sowohl in der Form der Gefahrenabwehr als auch der Kriminal- und Terrorprävention, ist gegen diese Tendenz an den herausgearbeiteten, grundlegenden Voraussetzungen festzuhalten. Dies ist nun für die staatlichen Befugnisse im Bereich der Unrechtsprävention näher zu konkretisieren. c) Der polizeiliche Rechtszwang im Bereich der Unrechtsprävention Im Folgenden werden zwei Untersuchungen zum Problem der Unrechtsprävention näher vorgestellt, kritisch gewürdigt und auf ihre Konsequenzen für die Frage nach der Normierung legitimen Sicherheitsrechts befragt: Der 1866 in 3. Auflage erschienene grundlegende Entwurf Robert von Mohls zur „vorbeugenden Rechtspflege“ wird unter aa), das 1913 erschienene Buch Friedrich Kitzingers zur Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt unter bb) gesichtet. Die grundlegenden Konsequenzen für die Ausgestaltung polizeilichen Rechtszwangs im Bereich der Unrechtsprävention werden im Anschluss unter cc) gezogen. aa) Die „vorbeugende Rechtspflege“ nach Robert von Mohl Robert von Mohl (1799–1875)215 hat sein System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei 216 mit folgenden Worten eingeleitet: „Ein gesicherter Rechtszustand ist Bedingung nicht nur aller Gesittung, sondern selbst jedes äußerlich erträglichen Zustands. Zwar mag der Mensch auch noch andere, und zum Theile höhere, Forderungen an seine Lebensgenossen stellen, als die einer Achtung seines Rechtskreises, und es besteht die ächte Humanität nicht blos in Gesetzlichkeit; allein für das tägliche Bedürfnis kann die persönliche und dingliche Sicherheit durch nichts ersetzt werden, sei der Lebenszweck und der Stand der äußeren Verhältnisse, welcher er wolle. Die Beschaffung dieser Rechtssicherheit ist aber zu einem bedeutenden Theile Sache des S t a a t e s. Nicht nur hat er, und nur er, die Angriffe auf seine eigenen Rechte abzuwehren; sondern auch der Schutz der Einzelnrechte fällt in bedeutendem Maaße auf ihn.“ 217 215
Vgl. zu Leben und Werk E. Angermann, Robert von Mohl 1799–1825 (1962). E. Denninger schreibt über dieses Werk, es spiegele wie kein zweites „den Übergang des spätabsolutistischen Wohlfahrtsstaates in den konstitutionellen Rechtsstaat“ wider (Polizei in der freiheitlichen Demokratie (1968), S. 22). 217 Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Bd. 3, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei, 3. Auflage (1866), S. 3. 216
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Zielpunkt aller staatlichen Sicherheits-Tätigkeit ist nach v. Mohl also die Aufrechterhaltung eines gesicherten Rechtszustands – ein Gedanke, der mit den freiheitlichen Rechtslehren Kants und Hegels bereits vorbereitet wurde.218 Der Staat ist die Verwirklichungseinheit rechtlicher Verhältnisse,219 er hat die „Realisierung der Rechtsidee“ zur Aufgabe,220 wobei die persönliche und dingliche Sicherheit der Staatsbürger dafür die basale Verwirklichungsvoraussetzung darstellt, die ganz unabhängig von der je individuellen Lebensgestaltung der Einzelnen ist. (1) Unterscheidung zwischen vorbeugender und wiederherstellender Rechtspflege Nach v. Mohl lassen sich zwei wesentliche Momente der dem Staat aufgegebenen Rechtssicherung unterscheiden: Der Staat müsse erstens beabsichtigten Rechtsstörungen zuvorkommen und im Falle des Misslingens dieser Tätigkeit müsse er zweitens für die Wiederherstellung des gestörten Rechts sorgen.221 Dementsprechend gebe es auch zwei zu differenzierende Kategorien von „Anstalten des Staates zur Sicherstellung des Rechtszustands“ 222: 1. Maßregeln, welche durch äußeren Zwang verbrecherische Rechtsstörungen verhindern sollen: v o r b e u g e n d e R e c h t s p f l e g e – Präventiv-Justiz, Rechts-Polizei.223 2. W i e d e r h e r s t e l l e n d e Rechtspflege, erstens in Form der bürgerlichen und zweitens in Form der peinlichen Rechtspflege.224 218 Dass über das Moment der Rechtssicherheit hinaus der Staat Aufgaben und Befugnisse beispielsweise im Bereich der sozialen Vorsorge und des Gemeinwohls wahrzunehmen hat, ist damit nach von Mohl nicht ausgeschlossen. Sein Verständnis vom Rechtsstaat wurzelt jedoch im Kantischen Freiheitsgedanken und bildet damit eine Abkehr vom autoritär geführten „Polizei- und Wohlfahrtsstaat“ des 18. und 19. Jahrhunderts. Es ist also nicht die Idee der „guten Polizey“, die innerhalb eines straff durchorganisierten Obrigkeitsstaates für die öffentliche Wohlfahrt sorgt, die von Mohl bei der Entwicklung seiner Polizeiwissenschaft vor Augen hat. Er ging vielmehr „von der Freiheit des Bürgers als oberstem Grundsatz des Rechtsstaates“ aus und schloss daraus u. a., dass die Staatstätigkeit nicht ausufernd, sondern sehr zurückhaltend ausgeübt werden müsse. Vgl. dazu und zu v. Mohls Auseinandersetzung mit Kant und den zu seiner Zeit vorherrschenden Strömungen in der Staatslehre E. Angermann, Robert von Mohl 1799– 1825 (1962), S. 97–142 (Zitat S. 139 mit Verweis auf v. Mohls Die Polizei-Wissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, Bd. I, 1. Aufl. (1832), S. 14 ff.). 219 R. v. Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei (1866), S. 5. Vgl. zum Begriff des Rechtsstaats im Sinne v. Mohls auch R.-J. Grahe, Meinungsfreiheit und Freizügigkeit (1981), S. 61 ff. 220 R. v. Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei (1866), S. 5. 221 Ebenda. 222 Ebenda, S. 12. 223 Ebenda. 224 Ebenda, S. 13.
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Der Unterschied zwischen vorbeugender und wiederherstellender Rechtspflege liege darin, dass die Präventiv-Justiz für die Vorbeugung erst in der Zukunft drohender Verletzungen zuständig sei, die wiederherstellende dagegen für die Wiederausgleichung der bereits gestörten Verhältnisse.225 Entscheidend sei insofern der Augenblick der vollbrachten Handlung: „Sobald die Möglichkeit eintritt, dass die wiederherstellende Justiz thätig sein kann, hat die Rolle der vorbeugenden aufgehört, (. . .).“ v. Mohl wendet sich dementsprechend ausdrücklich gegen eine Strafbegründung, die auf dem Gedanken der Prävention beruht: „Nicht minder unklar und verkehrt ist es (. . .), die ganze strafende Gerechtigkeit in der Präventiv-Justiz aufgehen zu lassen. So zahlreich und berühmt die Namen der Anhänger dieser Meinung sind,226 so ist doch so viel wohl allerseits itzt anerkannt, daß die Zufügung einer Strafe wegen einer begangenen Rechtsstörung zunächst und wesentlich die Wiederausgleichung des gestörten Rechtsstandes, namentlich auch die Wiedergutmachung des durch ein gelungenes Verbrechen zugefügten idealen Schadens beabsichtigt. Dieß aber ist nicht Vorbeugung, sondern Wiederherstellung. Und wenn die mittelbare und zufällige Folge der Strafe Abhaltung des Gestraften oder Anderer von neuen Verletzungen ist, so verliert dadurch jene Rechtshandlung ihren hauptsächlichen und wesentlichen Charakter nicht.“ 227
Die Rechtsstörungen, die durch die vorbeugende Rechtspflege abzuwenden sind, lassen sich nach v. Mohl ihrerseits in zwei Kategorien einteilen: Einerseits in solche Störungen, die aus dem „unrechtlichen Willen von Menschen herrühren“, andererseits in solche, „welche aus schädlichen Naturkräften hervorgehen“.228 Je nach Eigenschaft der Rechtsstörung soll entweder die PräventivJustiz oder die Polizei für ihre Verhinderung zuständig sein: „Wenn nämlich die Polizei Übel entfernt, welche aus der Uebermacht der äußern Natur drohen, so hat die Präventiv-Justiz nur solche zum Gegenstande ihrer Tätigkeit, welche aus dem widerrechtlichen Willen von Menschen entspringen und die also, wenn sie von ihr nicht verhindert werden könnten, eine Aeußerung der wiederherstellenden Rechtspflege veranlassen würden.“ 229
225 Ebenda, S. 45. Ähnlich auch Loz, „Ueber das Verhältnis der Polizei zur Criminaljustiz“ Neues Archiv für Criminal-Recht Bd. IV (1821), S. 485 (529 ff.), auf den auch v. Mohl affirmativ verweist (System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei (1866), S. 543, Fn. 1). 226 An dieser Stelle verweist er u. a. auf K. Grolmann, Grundsätze der KriminalRechtswissenschaft (1798), §§ 105 ff. und auf E. F. Klein, Grundsätze des Gemeinen Deutschen und Preußischen Peinlichen Rechts (1796), S. 37 f. (siehe hier insbesondere § 69, Verf.). 227 Ebenda, S. 48, 49. 228 Ebenda, S. 15, 16 (Fußnote 2). 229 Ebenda, S. 18. Vgl. zur Unterscheidung Polizei und Präventiv-Justiz auch S. 43, 44: Die Polizei ist zuständig für die „Entfernung derjenigen Hemmnisse“, welche „dem Interesse der Bürger aus der Übermacht äußerer Verhältnisse drohen“; die PräventivJustiz dient der Verhinderung von Rechtsstörungen, „welche aus dem unrechtlichen Willen anderer Menschen zu entspringen drohen.“ v. Mohl schreibt: „Wenn also ein den
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Gefahren und Schäden, die natürliche Ursachen haben, müssen demnach anders behandelt werden, als drohendes menschliches Unrecht. Erstere sollen von der Polizei durch entsprechende Gefahrenabwehrmaßnahmen verhindert werden; letzterem soll entweder durch Präventionsmaßnahmen einer eigenständigen Präventiv-Justizeinheit vorgebeugt werden, oder es wird – im Falle, des Versagens der Vorbeugung – zur Aufgabe der wiederherstellenden Justiz, die Schadenersatz und Strafe verhängen kann.230 Nach v. Mohl gibt es mehrere Gründe dafür, dass es trotz der Tätigkeit der vorbeugenden Rechtspflege immer auch die Notwendigkeit der Rechtswiederherstellung nach begangenem Unrecht gibt: Nicht immer sei die Unrechts-Verhinderung möglich, etwa weil u. a. dem Staat die notwendigen Organe fehlten, weil durch eine Überwachung zu stark in die Privatsphäre der Bürger eingegriffen würde, weil die zeitliche Spanne vor der Ausführung des Unrechts zu kurz sei oder weil die vorbeugenden Mittel nicht fehlerfrei angewendet würden.231 Das auf menschlichem Willen beruhende Unrecht, das zu einer Störung des gesetzlichen Rechtszustandes führt, teilt v. Mohl wiederum in zwei Arten ein. Einerseits gebe es gewaltsame Verletzungen (Verbrechen), andererseits „ungehörige, (. . .) nicht gewaltsame, positive oder negative Zumuthungen“, in denen sich der unrechtliche Wille in einer milderen Form als beim Verbrechen äußere und allenfalls dadurch eine Störung des rechtlichen Zustandes bewirke, dass er den „gesetzlich erlaubten ruhigen Genuß und die sichere Benützung der Rechte“ beBürger beengender und ihm nachtheiliger Zustand nicht von der Art ist, dass er gegenüber von der Ursache desselben ein R e c h t auf dessen Aufhören hat, sondern wenn er nur seines Vortheils wegen w ü n s c h e n muß, dass derselbe nicht vorhanden wäre: so hat er von der Polizei, nicht aber von der Rechtspflege Hilfe zu erwarten. Und da namentlich von einem Rechte auf das Aufhören gegenüber von Naturerscheinungen und deren Folgen keine Rede sein kann, so fällt die Entfernung derselben der Polizei immer anheim. Doch schließt sich deren Geschäftskreis keineswegs damit ab, und sie hat auch theilweise gegen menschliche Handlungen zu verfahren. Wenn diese nämlich, ohne unrechtlich zu sein, die Interessen der Bürger verletzen, so kann die Rechtspflege sie nicht verhindern; und es frägt sich dann nur, ob einer der Fälle vorliegt, in welchen Rechte der Einen dem Vortheile der Anderen von der Polizei zum Opfer gebracht werden dürfen? (Hinweis auf v. Mohls Polizeiwissenschaft, Bd. 1, S. 39 ff.). Wenn dagegen ein Schaden, sei es für die ganze bürgerliche Gesellschaft, sei es für Einzelne aus der Ueberschreitung einer R e c h t s s p h ä r e entsteht, kann und muß die Rechtspflege helfen, und somit, wenn der Schaden erst noch in der Zukunft droht, die vorbeugende Rechtspflege.“ (S. 44). 230 v. Mohl meint, dass es „(e)ine Zusammenwerfung von ganz verschiedenartigen Aufgaben ist“, wenn man „zwar eine abgesonderte Rechts-Polizei (Präventiv-Justiz) anerkennt, von dieser jedoch annimmt, dass sie nicht blos Rechtsverletzungen zu verhindern, sondern überhaupt den öffentlichen Frieden zu bewachen habe, somit auch die öffentliche Ordnung, Sicherheit und Sittlichkeit.“ (Ebenda, S. 19, 20). Es sei gewiss, dass es „sowohl für die Wissenschaft als auch für das handelnde Leben Bedürfniß ist, Gegenstände der Staatsthätigkeit, welche nach wesentlich verschiedenen Grundsätzen behandelt werden müssen, zu trennen und sie als abgesonderte Zweige zu behandeln.“ (S. 20). 231 Ebenda, S. 11.
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einträchtige.232 Grundsätzlich habe sich zwar der vorbeugende Rechtsschutz auf beide Arten von Störungen auszudehnen, aber bei der Durchführung dieser Forderung bestehe „ein sehr wesentlicher Unterschied zwischen gewaltsamen Störungen und ungerechtfertigten Anmuthungen“ 233. Während erstere in der Regel längere Vorbereitungen und eine gewisse Zeit des Vollzuges erforderten und zudem häufig von einer bestimmten „Klasse der Gesellschaft“ verübt würden, könnten, dürften und müssten sie durch staatliche Abwehrmaßnahmen verhindert werden. Letztere seien dagegen erstens in tatsächlicher Hinsicht kaum zu verhindern, da die „ungerechtfertigten Anmuthungen“ (etwa: an einen anderen eine unberechtigte Forderung zu stellen oder eine berechtigte abzulehnen) auf rein innerlichen Vorbereitungen beruhten und „sodann mit einem bloßen Worte vollzogen“ würden, so dass sie durch staatliche Maßnahmen gar nicht verhindert werden könnten. Zweitens sei dies auch rechtlich unmöglich, da sich die Begründetheit einer Forderung immer erst im nachhinein (mittels rechtlicher Untersuchung, Klage), also nach ihrer Äußerung entscheiden ließe, eine unberechtigte Forderung also im Vorhinein nicht verhindert werden dürfte.234 v. Mohl konzentriert sich dementsprechend im Folgenden allein auf die Verhinderung von gewaltsamen Störungen des Rechtszustandes, also auf die Verbrechensverhütung. Sein nächster Schritt besteht in der Sichtung möglicher „Abwendungsmittel“. (2) Maßnahmen der Verbrechensvorbeugung Die erste Gruppe solcher Mittel macht er in solchen Staatseinrichtungen aus, die ganz allgemein der Vorbeugung von Verbrechen dienen (z. B. eine gute Volkserziehung, die Förderung des Volkswohlstandes und die Androhung und Vollziehung der Strafgesetze235). Spezifisch für die Verbrechensverhinderung gebe es aber zweitens die „physischen Zwangsmittel“. Da „(n)ur derjenige Zwang unerlaubt (ist), der einen in der Ausübung des Rechts begriffenen Menschen hindert,“ 236 seien solche physischen Zwangsmittel prinzipiell zulässig, müssten sich aber in ihrer Ausübung an folgenden Grundsätzen orientieren:
232
Ebenda, S. 7. Ebenda. 234 Siehe zum Ganzen ebenda, S. 7 und 8. Auch die im folgenden zitierten Seitenzahlen beziehen sich stets auf R. v. Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei (1866). 235 Im Hinblick auf die letzteren weist v. Mohl zutreffend darauf hin, dass er zwar dabei die abschreckende Wirkung der Strafgesetze in Betracht zieht, dass dies aber ganz unabhängig vom umstrittenen Grund der Strafe sei (vgl. S. 9, Fn. 5 bei v. Mohl). Das Strafrecht lässt sich nach v. Mohl also keinesfalls aus dem Gedanken der Prävention herleiten. Vgl. dazu schon oben bei Fn. 227. 236 S. 10 (Hervorhebung der Verf.). 233
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– Das Ziel sei die Verhinderung aller und jeder Rechtsstörungen, denn jede Verletzung des Rechtsstandes laufe dem Zweck des Rechtsstaates entgegen.237 – Nicht relevant seien jedoch die erlaubten Handlungen, selbst wenn sie zu Schaden führen könnten, sowie Handlungen, die allein den Täter selbst betreffen, denn er könne sich selbst wohl Nachteile, aber kein Unrecht zufügen. – Als erlaubte und notwendige Vorbeugung sei nicht bloß die gänzliche Verhinderung einer Rechtsstörung zu betrachten, sondern auch die Aufhaltung einer schon begonnen Verletzung. Für den bereits begangenen Teil sei dann die Strafjustiz zuständig. – Da die Präventiv-Justiz zukünftigem Unrecht abhelfen soll, könne nicht die Gewissheit sondern nur die Wahrscheinlichkeit des Eintretens der zu fürchtenden Handlung zur Bedingung gemacht werden.238 Es müsse einerseits eine objektive Wahrscheinlichkeit einer Rechtsstörung vorhanden sein, d. h. die Gründe dafür, dass eine rechtsverletzende Handlung begangen werden könnte, müssen gewichtiger oder bei gleichem Gewicht zahlreicher sein, als diejenigen, welche auf ein Unterbleiben schließen lassen. Andererseits müsse auch eine subjektive Wahrscheinlichkeit bestehen, d. h. ein überwiegender Grund dafür, dass gerade ein bestimmtes Individuum, oder mehrere, zu der in Frage stehenden Störung geneigt seien. Letztere könne sich aus bestimmten Äußerungen des Bedrohenden selbst oder solcher, welche in seine Absichten eingeweiht sind, aus vorbereitenden Handlungen, aus früheren Vorgängen oder aus der schlechten oder wenigstens zu einem bestimmten Unrecht besonders geneigten Persönlichkeit des Individuums ergeben.239 Die genauere Kenntnis der Menschen und eine scharfsinnige Beobachtung der Tatsachen müssten hier die richtigen Schlüsse an die Hand geben. Ohne eine vernünftige Überzeugung in diesem Punkte seien alle von der vorbeugenden Rechtspflege ergriffenen beschränkenden Maßregeln offenbares Unrecht, und es würde eine „gewisse Rechtsverletzung zur Vermeidung einer nicht einmal wahrscheinlichen“ begangen. Hieraus folge, dass wohl unterschieden werden müsse zwischen denjenigen Fällen, in welchen die vorläufigen Vorkehrungen der vorbeugenden Rechtspflege nur in einer Bereithaltung der Staatsmittel bestehen, und denjenigen, welche eine unmittelbare Beschränkung von Rechten der Bürger enthalten.240 Die in einer Rechtsbeschränkung bestehenden Vorbeugungsmittel seien an und für sich schon ein Übel, und sie dürften nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen und in gewissem Maße angewendet werden. Eine weitere 237
S. 26. S. 28. 239 S. 30. Vgl. zu dem speziellen Anhaltspunkt einer früheren Straftatbegehung für die subjektive Wahrscheinlichkeit einer erneuten Tat die Fn. 8 bei v. Mohl, der hier die wesentlichen Prinzipien für die Sicherungsverwahrung herausarbeitet. 240 S. 31. 238
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Ausdehnung dieser Bedingungen sei ein offenbares Unrecht von Seite der anordnenden Behörden.241 Die gegen die einzelne Art von Rechtsstörung anzuwendenden Mittel haben sich gemäß v. Mohl nach der Natur des zu entfernenden Übels zu richten. Dieser Grundsatz führe zu folgenden Konsequenzen: Je größer die Wichtigkeit des bedrohten Rechts ist, desto angestrengter müssen die Bemühungen des Staates zum Schutze derselben sein; je gewaltsamer und frecher der zu besorgende Angriff ist, desto bestimmter und mächtiger müsse ihm entgegen getreten werden und je häufiger eine gewisse Klasse von Rechtsstörungen vorfällt, desto ratsamer sei es, gegen dieselben bleibende Anstalten zu errichten.242 Bei all dem gebe es aber rechtliche Grenzen der Befugnisse gegenüber dem Rechte der Bürger, die sich von folgender Frage leiten ließen: „In welchen Fällen und unter welchen Voraussetzungen sind die der Vollziehung rechtspolizeilicher Maaßregeln entgegenstehenden Rechte der Einzelnen zu achten?“ 243 Für die Beantwortung dieser Frage stellt v. Mohl erstens den Grundsatz auf, dass jedenfalls nicht „nach Willkür“ verfahren werden dürfe, da sonst die unrechtsverhindernde Tätigkeit des Staates selbst zum größten Unrecht würde und folglich das Mittel schlimmer als das Übel sei. Zweitens weist er auf die Notwendigkeit der Verhältnismäßigkeit der Mittel hin.244 Als diesen Grundsätzen entsprechende Maßregeln zur Verhütung von Verbrechen benennt v. Mohl die folgenden:245 – Erstens die „Sicherstellung“ durch denjenigen, von dem die Gefahr eines zukünftigen Verbrechens ausgeht: Ihm soll entweder ein Versprechen oder ein Eid abverlangt werden, dass er das drohende Unrecht unterlassen werde. Ferner könne von ihm gefordert werden, Sicherheit zu leisten (Realkaution) oder einen Bürgen zu stellen.246 Diese Art der Verbrechensvorbeugung sei aber insgesamt an strenge Voraussetzungen geknüpft, unter anderem daran, dass das mit ihr zu verhindernde Unrecht und der Anreiz zur Begehung des Verbrechens nur gering sein dürfe, da sonst die durch Versprechen und Kaution erlangte Garantie zu schwach sei. Ferner eigne sich das Mittel der Sicherstellung dann nicht, wenn es um den Umsturz bestehender Staatseinrichtungen gehe247 oder wenn derjenige, der Sicherheit leisten solle von „schwachem und unzuverlässigem Charakter“ sei.
241 242 243 244 245 246 247
S. 32. Vgl. S. 32–34. S. 35. S. 39. Vgl. zum folgenden S. 512 ff. Vgl. S. 515. Siehe zur Begründung S. 516.
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– Zweitens die Beschränkung der persönlichen Freiheit des Verdächtigen in verschiedenen Weisen.248 v. Mohl nennt hier erstens die Eingrenzung, d. h. die Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit auf einen bestimmten Bezirk, zweitens umgekehrt die Verweisung aus bestimmten Örtlichkeiten, drittens die Verhaftung, viertens die Hausdurchsuchung und Beschlagnahme von Papieren und fünftens die Beschlagnahme leicht zu missbrauchender Gegenstände. Die Maßnahmen, die mit der Beschränkung der persönlichen Freiheit des Verdächtigen verbunden sind, arbeitet v. Mohl jeweils gründlich nach ihren Voraussetzungen und Beschränkungen aus. Die beiden ersteren setzen an der Idee an, die Gefährdung durch geplante Unrechtstaten räumlich zu beschränken, indem dem Verdächtigen aufgegeben wird, sich nicht von einem bestimmten Ort weg oder zu einem bestimmten Ort hin zu begeben. Bei der „Eingrenzung“ darf sich der Verdächtige nur innerhalb der engen Grenzen eines kleinen Bezirks bewegen, ist darin aber ansonsten „frei und in Betreibung seiner Geschäfte unbeschränkt“ 249. Zur Sicherstellung seiner fortdauernden Anwesenheit hat er sich in kurzen Zeiträumen bei der Behörde zu melden. v. Mohl meint, dass diese Vorbeugungsmaßnahme für all diejenigen potentiellen Unrechtstäter sinnvoll ist, die entweder nur durch ständige Aufsicht von weiterem Unrecht abgehalten werden können, oder für solche, die ihr Recht zur freien Bewegung zur Förderung eines ungesetzlichen Plans – insbesondere auch einer rechtswidrigen Unternehmung gegen den eigenen Staat – missbrauchen, namentlich die „Verbindung zu den zerstreuten Genossen unterhalten, um Kundschaft einzuziehen, neue Verbündete zu erwerben und sich an einem zur Vollführung geschickten Orte vereinigt zu halten“ 250. Die Dauer der Eingrenzung richtet sich nach der Dauer der von dem Eingegrenzten zu befürchtenden Gefahr; im Falle mangelnder Besserung oder mangelnder „Veränderung der Verhältnisse, welche der Betroffene missbrauchen wollte, kann sie also lebenslänglich währen“ 251. Die „Wegweisung“ ist das Gegenstück zur „Eingrenzung“ dadurch, dass dem Betroffenen mit ihr verboten wird, eine bestimmte Örtlichkeit zu betreten bzw. sich in ihr aufzuhalten. Die Gefahr, dass ein Unrecht begangen wird, soll durch sie in der Weise gebannt werden, dass bestimmte Gegenstände oder Personen außer der Reichweite des Verdächtigen bleiben, er aber ansonsten die Herrschaft über seine Person nicht verliert. Weggewiesen werden kann der Verdächtige dabei nicht nur von einem bestimmten Ort, sondern auch von größeren Gegenden 248
Vgl. S. 526 ff. S. 527. Damit wird dem „Eingegrenzten“ die Möglichkeit erhalten, sich selbst zu erhalten und zu versorgen. Sollte ihm dies nicht gelingen, so ist der Staat bzw. die Gemeinde für seinen Unterhalt zuständig (vgl. S. 529). 250 S. 528. 251 S. 529. 249
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oder sogar dem ganzen Staatsgebiet (Landesverweisung), wobei bei letzterem zwischen Ausländern und Staatsbürgern zu differenzieren sei.252 Während v. Mohl die Verweisung aus dem Staatsgebiet bei Ausländern unproblematisch erscheint (einem Fremden sei der Aufenthalt nur unter der stillschweigenden Voraussetzung gestattet, dass er sich den Gesetzen des Landes während seines Aufenthalts füge)253, sieht er es als rechtsstaatlich höchst problematisch an, als Maßnahme der Verhütung wahrscheinlicher Rechtsstörungen einen Staatsbürger des Landes zu verweisen. Dieser werde durch die Maßnahme „für unfähig erklärt, mit seinem Volke zu leben“; dies sei eines der härtesten Übel überhaupt und eine „höchst eingreifende Verfügung“.254 Notwendig und verhältnismäßig sei diese Maßnahme nur „in einem einzigen genau zu umschreibenden und ebenso genau einzuhaltenden Falle. Es giebt nämlich Menschen, deren ganzes Leben eine fortwährende Reihe von schweren Bedrohungen des Rechts bildet, sei es der gesetzlichen Ordnung des Staates selbst, sei es wichtiger Rechte der Einzelnen, und welche durch Thatsachen den Beweis liefern, daß sie sich weder durch die gegen sie ergriffenen Vorbeugungsmaaßregeln, noch selbst durch Strafen wegen bereits begangener Handlungen von der Aufsuchung immer neuer Gelegenheiten abhalten lassen. Wenn nun ein solcher eingefleischter und mit allem Fuge als unverbesserlich zu betrachtender Feind des Rechts mit großer Wahrscheinlichkeit sich mit dem Entwurfe eines abermaligen schweren Verbrechens beschäftigt, so ist offenbar eine völlige Ausstoßung und damit eine bleibende Unschädlichmachung an der Stelle. Es kann weder dem Staate zugemuthet werden, sich gegen eine bleibende unrechtliche Gesinnung eines Einzelnen fortwährend mit Vorbeugungsmaaßregeln abzumühen, noch auch den Bürgern, in beständiger Besorgniß zu leben. (. . .) Ein solcher Mensch hat sich in offenen Kriegszustand gegen die Gesellschaft gesetzt; diese muß denn auch das einzig richtige Vertheidigungsmittel gegen ihn ergreifen dürfen.“ 255
Voraussetzungen für eine solche Landesverweisung sind – erstens die überwiegende Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Rechtsstörung, – zweitens die Tatsache, dass der zu Verweisende früher schon gefährliche Unternehmungen derselben Art begangen hat oder durch staatliche Maßregeln an solchen verhindert wurde (es muss sich um einen „gewohnheitsmäßigen Rechtsfeind“ handeln) und – drittens, dass ein bestimmtes Verbrechen droht, nämlich ein gewaltsamer Angriff auf die Staatsordnung, Landesverrat, gefährliche Brandstiftung, Organisation von Diebes- und Räuberbanden oder bewaffneter Einbruch.256
252 253 254 255 256
Siehe S. 533 ff. Vgl. S. 533, 534. Siehe S. 538. S. 539. S. 540.
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Da zu verhindern sei, dass sich benachbarte Länder gegenseitig „gefährliche Menschen“ senden, müsse die Verweisung in ein „weit entferntes Land“ erfolgen, von dem die Verwiesenen nicht leicht wiederkehren können und welches sich zur Aufnahme bereit erklärt. Auf seine Rückkehr sei mit Strafe zu reagieren. Die Dauer der Abwesenheit richte sich nach der Fortdauer der Bedrohung durch den Verwiesenen. Als weiteres Mittel zur Verhinderung einer drohenden Rechtsverletzung erwägt v. Mohl die Verhaftung des Verdächtigen. Als selbstverständlich lehnt er „willkürliche und ungerechtfertigte“ Verhaftungen aus Gründen der Vorsicht ab;257 aber in den Fällen, in denen (voraussichtlich) keine anderen Mittel zur Abhaltung des Verdächtigen von der Begehung von Rechtverletzungen taugen, hält er die Verhaftung grundsätzlich für ein zu rechtfertigendes Mittel,258 allerdings nur unter den folgenden Bedingungen: Es muss eine „überwiegende Wahrscheinlichkeit der Begehung des befürchteten Verbrechens“ gerade in Bezug auf die zu verhaftende Person vorliegen; die Verhaftung muss zwar nicht das einzige, aber das sicherste Mittel der Verhinderung des Verbrechens sein259 und zwischen der Verhaftung und dem befürchteten Verbrechen muss die Verhältnismäßigkeit gewahrt bleiben, d. h. sie darf nur zur Verhinderung schweren Unrechts angewendet werden. Die Dauer der Haft sei bedingt durch den sie rechtfertigenden Grund: Die Haft sei nur so lange gerechtfertigt, wie die Gefahr besteht, dass der Verhaftete ein Verbrechen begehen will260 – in extremen Fällen ist damit eine lebenslange Präventivhaft denkbar. Dem Inhaftierten sind aber wirksame Mittel gegen „Willkür und nutzlose Freiheitsberaubung“ einzuräumen:261 Er darf über den
257 In diesem Sinne auch Loz, „Ueber das Verhältnis der Polizei zur Criminaljustiz“ Neues Archiv für Criminal-Recht Bd. V (1822), S. 184 (194, 195), der für die polizeiliche „Verhaftung und Festhaltung des von ihr als gefährlich angesprochenen Individuums“ feste Regeln vorschreibt. 258 Mit ihm treffe „das der ganzen bürgerlichen Gesellschaft und jedem einzelnen Bürger zustehende Recht auf Schutz und auf Durchführung der Rechtsidee feindlich zusammen mit dem Anspruche eines unzuverlässigen und gefährlichen Einzelnen auf persönliche Freiheit“ (S. 543). 259 Ähnlich Loz, a. a. O. (Fn. 257), S. 197, der verlangt, dass das Mittel der Verhaftung als das einzig sichere und zuverlässige Mittel erscheint, um die Rechtsstörung zu verhindern. 260 Vgl. R. v. Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei (1866), S. 546. Vgl. auch dazu ähnlich Loz, a. a. O. (Fn. 257), S. 204 ff., der folgende Hinweise für die Ermittlung der fortbestehenden oder weggefallenen verbrecherischen Absicht des Inhaftierten gibt: Erstens sei das Benehmen des Inhaftierten während seiner Haft zu beobachten (zeigt es, dass er „über die Gesetzwidrigkeit seines Vorhabens zur Besinnung gekommen ist oder zeigt er gar Reue und Abscheu gegen die von ihm früher beabsichtigte Tat?). Zweitens sei die Haft so lange aufrecht zu erhalten, bis die Mittel und Werkzeuge entfernt sein mögen, die der Verhaftete für seine Tat brauche bzw. bis die Verhältnisse bereinigt sind, die die Tat ermöglichten oder bis der Verhaftete die Kraft verloren habe, die Tat zu begehen. 261 R. v. Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei (1866), S. 548.
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Grund und die Dauer seiner Verhaftung „ungehinderte Klage bei höheren Behörden führen“.262 Ferner ist die Haft so einzurichten, dass er nicht „hart behandelt“ wird. Er sei nicht in Haft, um „eine gewisse Summe von physischen Uebeln zu erleiden, sondern nur zur Vorsicht, damit (er) seine Freiheit nicht“ missbrauche.263 Der Verhaftete müsse sich nur das gefallen lassen, was ihn vom Entfliehen oder von unbefugter Verbindung mit Außen abhält, dagegen beispielsweise nicht schlechte Kost, Gefangenen-Kleidung, harte Lagerstätten oder die Entziehung von Beschäftigung und Licht. v. Mohl schreibt: „Was sich mit der Sicherheit ihrer Aufbewahrung und mit dem Zwecke ihrer Verhaftung irgend verträgt, ist ihnen zu gestatten; auf ihre Kosten mögen sie Weiteres verlangen, als die gewöhnliche Einrichtung des Arresthauses mit sich bringt.“ Als weitere Mittel der Verbrechensvorsorge nennt v. Mohl die Haussuchung und Beschlagnahme von Papieren sowie die Beschlagnahme leicht zu missbrauchender Mittel. Erstere dienen dazu, sicheren Beweis für die Vorbereitung eines Verbrechens zu erhalten, um es noch abwenden zu können. Voraussetzungen für ihre Rechtmäßigkeit sind erstens, dass ein Verdacht einer beabsichtigten Rechtsverletzung gehörig begründet ist, dass zweitens kein anderes, weniger verletzendes Entdeckungsmittel besteht und drittens der in der Haussuchung liegende Eingriff in das Privatrecht nicht im Missverhältnis zu der Bedeutung der dadurch zu verhindernden Rechtsstörung steht.264 Die Beschlagnahme diene dem Entzug solcher Werkzeuge, ohne die bestimmte Verbrechen nicht begangen werden können (beispielsweise Waffen, Diebesinstrumente, Gift oder auch Geld).265 v. Mohl unterscheidet bei der Beschlagnahme der zu missbrauchenden Mittel solche, die nur dem Zweck dienen können, Verbrechen zu verüben, von denen, die auch neutralen oder sogar nützlichen Zwecken dienen könnten. Bezüglich der ersteren erkennt v. Mohl ein unbedingtes Beschlagnahmerecht an, hinsichtlich der letzteren mahnt er zur gewissenhaften Prüfung der Notwendigkeit ihres Entzuges.266
262 Loz, a. a. O. (Fn. 257), S. 214 ff. spricht sich für das Recht des Inhaftierten aus, zunächst vor den Instanzen der Polizeibehörde zu klagen, deren Entscheidungen dann letztlich aber auch noch von der Justiz überprüft werden müssten. Die Befugnis der Polizei, greife viel zu tief in das bürgerliche Leben ein, als dass „nicht alles angewendet werden sollte, um hier jeder möglichen Verirrung und jedem Missgriffe entgegen zu arbeiten.“ (S. 216). Die Justiz müsse sich aber sorgfältig dafür hüten, dass sie nicht die Regeln des strafgerichtlichen Verfahrens auf das Verfahren der Polizei übertrage und dass sie nicht nach strafgerichtlichen Gesichtspunkten, sondern nur nach polizeilichen (d. h. präventiven) Rücksichten urteile. 263 Auf den insofern entscheidenden Unterschied zwischen Sicherungshaft und Strafhaft geht ausführlich Loz, a. a. O. (Fn. 257), S. 210 ff., ein. 264 S. 550. 265 S. 557. 266 Näher dazu S. 558 f.
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(3) Zusammenfassung, Würdigung und Folgerungen Wesentlich für die Lehre v. Mohls ist zunächst die fundamentale Unterscheidung zwischen vorbeugender und wiederherstellender Rechtspflege: Prävention soll zukünftiges Unrecht verhindern, die Strafe sorgt dagegen für eine Wiederherstellung des Rechts nach begangenem Unrecht267 und zivilrechtlicher Schadenersatz hat einen materiellen Ausgleich für erlittenes Unrecht zum Gegenstand. Einer Vermengung von Prävention und Strafe, wie sie vor allem von den präventiven Straftheorien vertreten wird, tritt v. Mohl aus rechtsprinzipiellen Gründen entgegen. Die vorbeugende Tätigkeit des Staates teilt v. Mohl in zwei grundsätzliche Bereiche ein: Einerseits die Abwehr von Gefahren, deren Ursprung schädliche Naturkräfte sind, anderseits die Verhinderung von Unrechtstaten, die dem menschlichen Willen entspringen. Dieser Unterscheidung entsprechend begründet er jeweils auch unterschiedliche Zuständigkeiten der staatlichen Behörden: Für die Gefahrenabwehr (i. e. S.) ist die Polizei, für die Unrechtsprävention die sog. Präventiv-Justiz zuständig. Sollte es letzterer nicht gelingen, die Tat zu verhindern, geht die Zuständigkeit von der vorbeugenden auf die wiederherstellende Kriminal-Justiz über. Die qualitative Verschiedenheit der „Gefahrenarten“ ist also nicht nur Grund für unterschiedliche Abwendungs-Befugnisse, sondern auch für unterschiedliche Zuständigkeiten innerhalb der Behördenstruktur: Für menschliche Unrechtstaten ist nach v. Mohl grundsätzlich die Justiz und nicht die Verwaltungsbehörde zuständig. Zur Verbrechensverhinderung sind „physische Zwangsmittel“ zulässig, d. h. solche, die das bevorstehende Unrecht durch Beschränkung der persönlichen (äußeren) Freiheit des Verdächtigen unmöglich machen. Die Anwendung solcher Mittel setzt die Wahrscheinlichkeit der Begehung der Tat voraus; die bloße Möglichkeit genügt dagegen nicht, andererseits ist aber auch keine Gewissheit gefordert. Die Zwangsmittel haben sich nach der Art des drohenden Unrechts zu richten, d. h. sie sind sowohl in ihrem Maß als auch in ihrem Inhalt vom abzuwendenden Verbrechen abhängig. Als mögliche Zwangsmittel kommen in Betracht: Die Beschränkung der räumlichen Bewegungsfreiheit („Eingrenzung“ und „Wegweisung“), die Beschränkung der persönlichen Freiheit durch Haft, der Entzug der für die Verbrechensbegehung notwendigen Mittel sowie solche Maßnahmen, die der Erkundung des den übrigen Zwangsmitteln als Voraussetzung dienenden konkreten Verdachts einer bevorstehenden Straftat dienen. Es ist v. Mohls Verdienst, dass er für die staatliche Unrechtsprävention grundlegende Prinzipien entwickelt hat. Dazu gehört vor allem die Systematisierung staatlicher Tätigkeit in der Weise, dass die Verbrechensvorbeugung einerseits deutlich von der Bestrafung, andererseits von der reinen Gefahrenabwehr ge267
Vgl. zu diesem Grundgedanken G. W. F. Hegel, GPhR, §§ 97 ff., S. 185 ff.
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schieden wird.268 Zuzustimmen ist ihm darin, dass diese Unterscheidung im Wesentlichen an der Art des Unrechts und dem Zeitpunkt seiner Vollendung ansetzt. Das Unrecht, welches Gegenstand der Vorbeugung ist, unterscheidet sich deutlich von anderen möglichen Gefahren für Rechtsgüter: Während es der Begriff der Gefahr offen lässt, welchen Ursprungs sie ist (Gefahr ist das Bevorstehen eines schädigenden Ereignisses für ein Rechtsgut), zeigt sich im Begriff des Unrechts (Widerspruch zum Recht) seine Herkunft aus dem vernünftigen Willen eines Subjekts. Die Verhinderung von Unglück (sei es menschlichen, sei es natürlichen Ursprungs) auf der einen Seite und von Unrecht auf der anderen hat damit jeweils anderen Grundsätzen zu folgen. Die Gefahrenabwehr richtet sich gegen einen „Störer“, das heißt denjenigen, der entweder durch sein Verhalten die Gefahr verursacht hat oder der für eine Sache, von der die Gefahr ausgeht, zuständig ist.269 Die Unrechtsprävention richtet sich gegen ein verantwortliches Subjekt in dem Sinne, dass es nicht nur (unmittelbarer) Verursacher einer Gefahr ist, sondern potentieller Täter eines (im Grundsatz) objektiv und subjektiv zurechenbaren zukünftigen Rechtsbruchs. An dieser Unterscheidung lässt sich erkennen, dass es erstens einen gedanklichen Fehler bedeutet, drohendes Unrecht (also z. B. auch terroristisch motivierte Straftaten) gleichzusetzen mit einer „Gefahr“ im Sinne der „normalen“ polizeilichen Gefahrenabwehr. Zweitens ist es unzutreffend, den der bevorstehenden Straftat Verdächtigen als bloße „Gefahrenquelle“ zu qualifizieren,270 also als Ursprung der Gefahr in einem natürlich-kausalen Sinne. Die Bezeichnung „Gefährder“ deutet just in diese Richtung – als handle es sich bei dem eine Straftat Planenden nicht um ein vernunftbegabtes Willenssubjekt, sondern um den (eher zufällig) menschlichen Wirt einer Risikoquelle. Gegenstand von Präventivmaßnahmen und Strafe gleichermaßen sind also Rechtsstörungen, die aus dem „unrechtlichen Willen von Menschen herrühren“ (v. Mohl). Die Qualität des Unrechts, das Prävention einerseits und Strafe andererseits rechtfertigt, ist jedoch nicht identisch: Das die Zwangsbefugnis auslösende Unrecht ist von strafbarem Unrecht materiell deutlich unterschieden; es kann beispielsweise auch zivil- oder ordnungsrechtliches Unrecht sein, während Kriminalunrecht ganz bestimmten Kriterien zu genügen hat;271 nach hier vertre268 Dies impliziert eine prinzipielle Trennung der Rechtsgebiete Gefahrenabwehr, Unrechtsprävention und Strafrecht. 269 Vgl. beispielsweise W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 229. 270 Vgl. etwa folgende Formulierung von E. Denninger, „Freiheit durch Sicherheit?“ a. a. O. (Fn. 3), S. 22: Die Polizei habe es nicht mehr nur mit einer sichtbaren, personell individualisierbaren und zeitlich abschätzbaren, eben konkreten Gefahr zu tun, sondern mit einer „unabsehbar großen Zahl einzelner, unsichtbarer und unbekannter Risikoquellen, die nach jahre- oder jahrzehntelanger Latenz (. . .) plötzlich an unvermutetem Ort und in unvorhersehbarer Art und Weise, aber mit höchster, vor Selbstzerstörung nicht zurückschreckender Tatenergie aktiv werden.“ 271 Vgl. zu dem Kriterien von Kriminalunrecht S. 203 ff. im 4. Teil der Arbeit. Durch die genaue Herausarbeitung dieser Kriterien ist eine Abgrenzung zu anderen Unrechts-
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tener Ansicht ist letzteres „die subjektiv-objektiv handelnde Verletzung des Rechts in seiner besonderen und allgemeingesetzlichen Geltung (. . .) in einem Maße, das die rechtliche Selbständigkeit der betroffenen Person oder Gemeinschaft grundlegend beeinträchtigt.“ 272 Für die Rechtfertigung von physischem Zwang zur Unrechtsverhinderung ist im Gegensatz zur Rechtfertigung von Strafe vor allem kein „verständiger Wille“ des (potentiellen) Unrechtstäters erforderlich,273 mit anderen Worten: Kein bewusst-unrechtlicher Wille, keine Schuld.274 Ob der das Unrecht Planende schuldfähig ist, aktuelle Unrechtseinsicht besitzt und sich bewusst in einen Widerspruch zum Recht setzen will, ist nämlich für die Frage unerheblich, ob er an der Begehung des Unrechts gehindert werden darf – das Prinzip der Prävention ist nicht Schuldausgleich, sondern Vorbeugung von Rechtsstörungen. Die Strafe als Restitution des Rechts nach bewusster Negation durch den Verbrecher setzt dagegen die Schuld des Täters voraus. Diese Differenz ist begründet in dem qualitativen Unterschied zwischen Rechtszwang und Rechtsstrafe: Während der Zwang überhaupt „Verhinderung von Unrecht“ ist (gleich ob „bewußtes“ Unrecht oder nicht), soll Strafe Rechtsgeltungsrestitution leisten, weil ein vernünftiges Subjekt durch bewusste und gewollte Negation des formen möglich (siehe E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), S. 137 (S. 162 ff.)). Schon Hegel hat beispielsweise das „unbefangene (bürgerliche) Unrecht“ aus dem Kreis der strafwürdigen Unrechtsformen („Betrug“ und „Verbrechen“) herausgenommen. Das unbefangene Unrecht (§§ 84–86 GPhR) ist gekennzeichnet durch die Verneinung des „besonderen Willens“ bei gleichzeitiger Anerkennung allgemeiner Rechtsgeltung: Bei einem Streit um eine Sache bleibt es bei der „Anerkennung des Rechts als des Allgemeinen und Entscheidenden, so daß die Sache dem gehören soll, der das Recht dazu hat. Der Streit betrifft nur die Subsumtion der Sache unter das Eigentum des einen oder des anderen; – ein schlechtweg negatives Urteil, wo im Prädikate des Meinigen nur das Besondere negiert wird.“ (§ 85 GPhR, S. 175). Im bürgerlichen Unrecht wird also nicht die Rechtsgeltung als solche in Frage gestellt. Die Kollision von Freiheitssphären geschieht, weil Unklarheit über das Recht besteht – beide Seiten glauben sich im Recht, wollen subjektiv recht handeln und wollen rechtliche Verhältnisse prinzipiell aufrechterhalten; allein, es besteht objektiv ein Widerspruch zum geltenden Recht, den der (unbefangen) unrechtlich Handelnde nicht erkennt. Er will das Recht im Allgemeinen, negiert es aber im Besonderen. Nach Hegel ist auf das unbefangene Unrecht deshalb keine Strafe gesetzt, weil der „Täter“ hier „nichts gegen das Recht gewollt“ hat (Zusatz zum § 89 GPhR, S. 177), das interpersonale Anerkennungsverhältnis steht an sich nicht in Frage (vgl. F. Herzog, Prävention des Unrechts oder Manifestation des Rechts (1987), S. 69 und D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991), S. 64), es geht nicht um die Rechtsfähigkeit des anderen und die Rechtsgeltung im Allgemeinen als solche, sondern um die Frage der Zuordnung einer Rechtsposition im konkreten Fall. Unrecht, das sich auf eine solche Zuordnung bezieht, kann ausgeglichen werden, indem die Zuordnung nachträglich berichtigt wird: Durch Herausgabe des unberechtigt Erlangten, durch Schadenersatz oder durch Folgenbeseitigung. 272 Formulierung von M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 22. Zur Herleitung und Begründung oben S. 247 ff. 273 Siehe dazu Loz, a. a. O. (Fn. 257), S. 219. 274 So auch F. Kitzinger, Die Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt (1913), S. 138.
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Rechts dessen Geltung in Frage gestellt hat.275 Eine solche Geltungsnegation setzt den bewussten Entschluss zum Unrecht voraus: Nur der von einem vernünftigen Subjekt gewollte Angriff auf das von ihm selbst mitbegründete Recht kann einen Vernunftwiderspruch der Art begründen, dass die Geltung des Rechts damit in Frage gestellt ist und durch Strafe restituiert werden muss.276 Dieser wesentliche Unterschied ist relevant auch für die Frage, welche staatlichen Zwangsmittel in Betracht kommen. Zwar kann es Überschneidungen insofern geben, dass die Art der Maßnahme sowohl zur Prävention als auch als Strafe eingesetzt werden kann – Beispiele dafür sind der Entzug von Geldmitteln (Einzug der für ein Verbrechen notwendigen finanziellen Mittel oder Geldstrafe) oder die Haft (Präventiv- bzw. Sicherungshaft oder Strafhaft). Aber zwischen diesen Maßnahmen müssen wesentliche Unterschiede sowohl in ihren Voraussetzungen als auch in ihrer Ausgestaltung und ihrem Maß bestehen, je nachdem ob es sich um Präventiv- oder um Strafmaßnahmen handelt.277 v. Mohl hat für Maßnahmen der Verbrechensvorbeugung einige feste Prinzipien benannt: Von grundsätzlicher Art sind das Willkürverbot und das Gebot der Verhältnismäßigkeit sowie das Prinzip der Abhängigkeit der Abwehrmaßnahme von der Art und dem Gewicht des drohenden Unrechts. Die Zwangsmittel haben ferner physischen, nicht psychologischen Charakter, so dass es nicht um Disziplinierung durch Druck oder Verängstigung (psychologischer Zwang) bzw. Belohnung (z. B. Erziehung, Anreiz) geht, sondern um die tatsächliche, körperliche Verhinderung des anstehenden Unrechts. Wesentliche Voraussetzung für die Berechtigung, solchen Zwang auszuüben, ist die Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung, die sorgfältig zu ermitteln ist.278 Es genügt keinesfalls der diffuse Verdacht einer bloßen Tatneigung; gefordert ist ein konkreter Verdacht im Hinblick auf eine konkrete Unrechtstat und einen konkreten Täter. Die Gründe, die für die Begehung der Tat sprechen, müssen „gewichtiger“ sein als die, die auf ein Unterbleiben schließen lassen. Daraus folgt, dass ohne einen konkreten Verdacht nur solche Rechtsbeeinträchtigungen geduldet werden müssen, die mit Maßnahmen zur Ermittlung der Tatwahrscheinlichkeit einhergehen; und dies auch nur dann, wenn ein nachvollziehbarer Anlass für die Notwendigkeit einer solchen Ermittlung gerade beim betroffenen Subjekt besteht. Die unmittelbar auf die Unrechtsverhinde275
So auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 53. Zur Herleitung dieses Unrechts- und Schuldverständnisses vgl. K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 119 ff., 135 ff., 139 ff. Grundlegend M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986) und ders., „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), S. 11 ff.; R. Zaczyk, „Schuld als Rechtsbegriff“ (2000), Stuttgart, S. 103 ff. 277 Vgl. den ähnlichen Grundgedanken bei H. Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 246. Siehe ferner M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 578 ff. 278 Vgl. zu einer grundsätzlichen Kritik einer solchen Gefährlichkeitsprognose beim zurechnungsfähigen (potentiellen) Täter schon hier M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 589. 276
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rung gerichteten Zwangsmittel (bei v. Mohl: Eingrenzung, Verweisung, Haft und Entzug von Tatmitteln) sind dagegen jedenfalls so lange unberechtigt, wie die Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Unrechtstat nicht erwiesen ist. Dasselbe Kriterium dient im Übrigen auch für die Begrenzung der Dauer der Zwangsanwendung: Sie ist nur so lange erlaubt, wie die Wahrscheinlichkeit der Begehung einer Unrechtstat fortbesteht. Die einzelnen Maßnahmen haben dann jeweils noch zusätzliche Anwendungsbedingungen, die sich im Wesentlichen nach der Art des durch sie abzuwendenden Unrechts bzw. nach der Persönlichkeit des potentiellen Täters richten. Besonders interessant für die aktuellen Fragen zur Terrorismusabwehr sind die Überlegungen v. Mohls erstens im Hinblick auf die von ihm so genannten „gewohnheitsmäßigen Rechtsfeinde“ und zweitens bzgl. der von ihm für rechtsstaatlich möglich gehaltenen Präventivhaft – beides Aspekte, die auch in der aktuellen Diskussion um das sog. Feindstrafrecht bzw. das „Bekämpfungskonzept“ Pawliks eine entscheidende Rolle spielen. Als „gewohnheitsmäßige Rechtsfeinde“ beschreibt v. Mohl solche Personen, „deren ganzes Leben eine fortwährende Reihe von schweren Bedrohungen des Rechts bildet, (. . .), und welche durch Thatsachen den Beweis liefern, daß sie sich weder durch die gegen sie ergriffenen Vorbeugungsmaaßregeln, noch selbst durch Strafen wegen bereits begangener Handlungen von der Aufsuchung immer neuer Gelegenheiten abhalten lassen“. Mit „Rechtsfeinden“ dieser Art müsse sich der Staat nicht fortwährend abmühen, sondern er dürfe zu dem Mittel „völliger Ausstoßung“ durch Landesverweis greifen. Der betroffenen Person werde auf diese Weise eines der „härtesten Übel überhaupt“ aufgebürdet, nämlich der Ausschluss aus der Gemeinschaft, die Erklärung, unfähig zu sein, „mit seinem Volke zu leben“. Begründet werden könne diese extreme Maßnahme nur damit, dass die Person selbst sich durch ihr Verhalten in einen offenen Zustand des Krieges gegen die Gesellschaft versetzt habe und dass dieser Zustand eben nur durch den Ausschluss aus der Gemeinschaft beendet werden könne. v. Mohl sieht für diesen Fall eine zwangsweise räumliche Trennung des „Rechtsfeindes“ von der übrigen Gesellschaft vor: Der Rechtsfeind muss den gemeinsamen Lebensraum verlassen. Diese räumliche Trennung ist jedoch mit keiner darüber hinausgehenden Beschränkung der äußeren Freiheit und schon gar nicht mit einer „Entrechtlichung“ der Person verbunden. v. Mohl schreibt: „Uebrigens ist natürlich von einer Freiheitsbeschränkung in dem neuen Vaterlande keine Rede; nur auf gänzliche Trennung und auf eine sichere, Rückkehr nicht leicht erlaubende, Unterbringung geht das Recht des exilierenden Staates.“ 279 Im Hinblick auf die Präventiv- bzw. Sicherungshaft lässt von Mohl keine Zweifel daran, dass er sie in bestimmten Fällen für berechtigt hält – nämlich 279
R. v. Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei (1866), S. 541.
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immer dann, wenn durch sie am sichersten ein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit drohendes schweres Unrecht verhindert werden kann. Er stellt also besondere Anforderungen an den Grad der Wahrscheinlichkeit und an die Schwere des abzuwehrenden Unrechts sowie an die zu erwartende Wirksamkeit der Maßnahme. Die Ausgestaltung der Haft ist dabei allein an ihrem Sicherungszweck orientiert. Diese Überlegungen v. Mohls zum Umgang mit „gewohnheitsmäßigen Rechtsfeinden“ und potentiellen Schwerverbrechern sind aufschlussreich auch für die heutige Normierung entsprechender Präventivmaßnahmen. Zwar lassen sich die Erkenntnisse nicht unmodifiziert übertragen (beispielsweise ist die Verweisung in ein „entferntes“, zur Aufnahme bereites Land unter den heutigen Bedingungen einer kommunikativ und logistisch eng vernetzten Welt kaum noch denkbar), aber ihre Grundzüge bleiben durchaus relevant: v. Mohl spricht sich bzgl. „unverbesserlicher“ und „gewohnheitsmäßiger“ „Feinde des Rechts“ für ihre räumliche Entfernung aus der Gesellschaft aus und bzgl. potentieller Schwerkrimineller für ihre (vorbeugende) Verhaftung. Sucht man im heute geltenden Recht nach einer diesen Grundgedanken entsprechenden Regelung, so stößt man auf die Sicherungsverwahrung im Sinne von § 66 StGB: Danach kann die Unterbringung in der Sicherungsverwahrung wegen der wiederholten Begehung vorsätzlicher Straftaten bzw. wegen eines „Hanges“ zu erheblichen Straftaten angeordnet werden.280 Auch Pawlik hat bei der Ausarbeitung der Eckpunkte seines Präventionsrechts für das Maß und die Ausgestaltung vorbeugender Inhaftierungen auf diese Vorschrift verwiesen.281 Zwei Aspekte, die durch die Lektüre v. Mohls besonders deutlich werden, sind in diesem Zusammenhang aber herauszustellen und für den Fortgang der Überlegungen festzuhalten – wobei damit die endgültige Entscheidung über die Legitimierbarkeit des vorgestellten Umgangs mit potentiellen Straftätern noch nicht getroffen ist: Erstens handelt es sich nach von Mohl bei der „Verweisung“ und „Verhaftung“ um rechtsstaatlich fundierte Maßnahmen, also keinesfalls um außer- oder ausnahmerechtliche bzw. die betroffene Person rechtlich exkludierende Aktionen. Dies zeigt sich einerseits daran, dass er das Kriminalpräventionsrecht einbettet in sein System der Präventivjustiz, das Bestandteil der Polizeiwissenschaft nach den Grundsätzen des Rechtsstaates ist; andererseits macht v. Mohl deutlich, dass die von der Sicherungsmaßnahme Betroffenen nur solche Einschränkungen ihrer persönlichen Freiheit hinzunehmen haben, die für den Sicherungszweck unerlässlich sind. Im Übrigen haben sie in ihrem Rechtsstatus unangetastet zu bleiben, so dass sie – in den durch die Sicherungsmaßnahme gezogenen Grenzen – als Rechtsper280 Vgl. zu den materiellen Anordnungsvoraussetzungen T. Mushoff, Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung (2008), S. 59 ff. Näher zur Sicherungsverwahrung auch unten S. 396 ff. 281 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 45.
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sonen in ihrer Lebensgestaltung frei bleiben. Für von Mohl wäre also ein Konzept, mit dem – wie beim Feindstrafrecht – Personen ihre Eigenschaft als Rechtspersonen entzogen wird, undenkbar. Zweitens trennt von Mohl Inhaftierungen zur Verbrechensvorbeugung scharf vom Strafrecht und der ihm entsprechenden Strafhaft. Daraus ergibt sich das Gebot, zwischen der Aburteilung und Bestrafung strafbaren Unrechts auf der einen Seite und der auf einer Gefährlichkeitsprognose beruhenden Sicherungshaft auf der anderen deutlich zu differenzieren.282 bb) Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt (Friedrich Kitzinger) Friedrich Kitzinger hat mit seinem Buch Die Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt (1913) die Grundgedanken von Mohls aufgenommen und zum Teil fortentwickelt. Insbesondere an der Trennung zwischen allgemeiner polizeilicher Gefahrenabwehr und rechtspolizeilicher Unrechtsverhinderung will er gegen den Trend seiner Zeit ebenso festhalten,283 wie an der Einrichtung einer „Rechtspolizei“ für die Verhinderung von Straftaten.284 Die Befugnisse zur Abwehr von Unrecht begründet er im Wesentlichen mit dem Gedanken der „Selbsthilfe“ des Staates: „(. . .) d i e P o l i z e i g e w a l t im Sinn der Rechtspolizei ist nichts Anderes als staatliche Selbsthilfe zwecks zwangsmäßiger Realisierung eines bedrohten staatlichen Anspruchs auf normgemäß e s V e r h a l t e n.“ 285 Dem liegt die Idee zugrunde, dass der Staat in berechtigter Notwehr handle, wenn er die Rechtsordnung gegen denjenigen, der sie durch strafbare Handlung verletzen will, verteidigt.286 282 Siehe dazu bzgl. des geltenden Maßregelrechts T. Mushoff, Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung (2008), S. 204 ff. Kritisch zur Vermengung beider Gesichtspunkte auch M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 588. 283 F. Kitzinger, Die Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt (1913), S. 74: „Es ist, (. . .), begrifflich und dem juristischen Wesen nach etwas Anderes, wenn die Polizei tätig wird auf grund allgemeiner Ermächtigung, Gefahren abzuwehren, für öffentliche Ordnung, Sicherheit, Sittlichkeit, Ruhe zu sorgen, oder wenn sie gegen den einzelnen Rechtsbrecher vorgeht auf grund der Tatsache, dass er das Recht bricht oder brechen will.“ (Fn. weggelassen). Es folgt ein Verweis auf dieselbe Unterscheidung bei von Mohl. 284 F. Kitzinger, Die Verhinderung strafbarer Handlungen durch Polizeigewalt (1913), S. 76. 285 Ebenda, S. 79 (Hervorhebung im Original). Ähnlich auch auf S. 237: „Die Verhinderung strafbarer oder auch nur verbotener Handlungen durch Polizeigewalt, also jede rechts- oder präventivpolizeiliche Tätigkeit (ist) dem juristischen Wesen nach nichts anderes als Selbsthilfe, mittels der der Staat seinen bedrohten Anspruch auf normgemäßes Verhalten verwirklicht oder sichert.“ 286 Kitzinger (a. a. O., Fn. 284, S. 84) verweist auch insofern auf v. Mohl, obwohl sich dieser nicht auf „Selbsthilfe“ oder „Staatsnotwehr“ beruft, sondern die rechtspolizeili-
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Die entsprechenden Befugnisse der Rechtspolizei zur Unrechtsabwehr arbeitet Kitzinger diesem Grundgedanken entsprechend genauer aus. Dabei sichtet er u. a. die allgemeinen Voraussetzungen und Bedingungen für das Einschreiten der Rechtspolizei (dazu unter (1)) und die einzelnen „Arten und Mittel rechtspolizeilicher Tätigkeit“ (dazu (2)). Unter (3) folgt eine knappe Zusammenfassung und Kritik Kitzingers Arbeit. (1) Allgemeine Bedingungen des rechtspolizeilichen Einschreitens Zum Zeitpunkt des polizeilichen Einschreitens führt Kitzinger aus, dass es nicht an einem bestimmten Stadium des rechtswidrigen Verhaltens zu orientieren sei (etwa: Versuch oder Vorbereitung), sondern nur an der „Voraussetzung seiner Notwendigkeit behufs Zweckserfüllung, also behufs Verhinderung dieser Rechtsverletzung“.287 Schon vor Versuchsbeginn, also schon bei jeglicher Vorbereitungshandlung, sei jedenfalls dann ein Eingreifen gerechtfertigt, wenn die „Gefahr besteht, dass bei längerem Zuwarten die Ausführungshandlung nicht mehr verhindert werden kann“.288 Dies könne entweder deswegen der Fall sein, weil sie sich „zu rasch abspielt“ oder weil sie sich „zu leicht im Geheimen abspielt“ und sich dadurch polizeilichem Zugriff entziehe.289 Kitzinger ist dabei bewusst, dass in einem solchen vorverlagerten Eingreifen der Rechtspolizei eine „wesentliche, nach mancher Richtung bedenkliche Erweiterung der polizeilichen Gewalt“ liege. Sie greife damit in „Betätigungen ein, die zwar voraussichtlich bei ungehinderter Fortentwicklung sich zu Rechtswidrigkeiten auswachsen würden, bei denen aber nicht mit aller Sicherheit feststeht, ob sie dies sollen oder vermögen, und die an sich, abgesehen von ihrer voraussichtlichen Fortsetzung oder Weiterentwicklung, erlaubte Handlungen sind. Da, wo diese an sich erlaubten Handlungen sich augenscheinlich ins Rechtswidrige auswachsen sollen, wo sie also, wie bei offenkundigen Vorbereitungsakten, von rechtsfeindlicher Absicht getragen sind, wird man die gegen sie gerichtete Polizeigewalt unbedenklich in Kauf nehmen, nicht so leicht hingegen da, wo sie sich nur auswachsen können, wo die rechtsfeindliche Absicht zweifelhaft ist oder fehlt, also insbesondere bei fahrlässigem oder gar schuldlosem Verhalten, das voraussichtlich, aber nicht bestimmt zu rechtswidrigen Erfolgen führen wird.“ 290
che Tätigkeit schlicht mit der Aufrechterhaltung des Rechtszustandes durch Abwehr einer rechtswidrigen Handlung gerechtfertigt hat. 287 Ebenda, S. 146. Im Folgenden beziehen sich die Seitenzahlen in der Fußnote stets auf diesen Text. 288 S. 144. 289 S. 144, 145. 290 S. 146 (Fn. weggelassen, Hervorhebung der Verf.).
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Gleichwohl seien sogar letztere in Kauf zu nehmen, da das Vereiteln von rechtswidrigen Taten immer mit dem Risiko behaftet sei, dass „das Tun ein überflüssiges ist“.291 Der Grund dafür bestehe darin, dass im „Begriff der Gefahr“ stets ein „Unbestimmtes“ liege; treffend habe darum schon v. Mohl die rechtspolizeiliche Tätigkeit als ein Handeln auf Wahrscheinlichkeit bezeichnet.292 Es ließen sich daher hinsichtlich des Zeitpunkts polizeilicher Tätigkeit „keine schärferen begrifflichen Merkmale angeben, als sie in dem ein beträchtliches quantitatives Element enthaltenden Begriff der Gefahr und der Wahrscheinlichkeit liegen“. Als begrifflich einigermaßen scharfe Abgrenzung lasse sich daraus nur die ableiten, dass die „bloße entfernte, richtiger vielleicht abstrakte, nicht durch die konkreten Umstände des Einzelfalles nahe gelegte Möglichkeit einer Rechtsverletzung“ der Polizei noch keine Abwehrgewalt gebe.293 Als Endpunkt des Einschreitens gibt Kitzinger denselben Hinweis wie von Mohl vor ihm: Es sei solange gerechtfertigt, wie das rechtswidrige Verhalten andauere.294 Zu der Frage, nach welchen Kriterien beim rechtspolizeilichen Handeln das rechtlich Zulässige vom rechtlich Unzulässigen allgemein abzugrenzen ist,295 gibt Kitzinger nur zwei grundsätzliche Hinweise: Der erste bezieht sich darauf, dass eine Entscheidung zunächst nach der Notwendigkeit erfolgen muss, also nach dem Maß dessen, was zu dem Zweck, der Abwehr des Unrechts, erforderlich ist: Das Maß des Notwendigen dürfe nicht überschritten werden.296 Daher gelte folgender Grundsatz: Das drastischere Mittel, als die Einzelsphäre empfindlicher verletzendes Mittel, steht nur da zur Verfügung, wo ein gelinderes Mittel nicht den gleichen Zweck erfüllt.297 Der Gedanke der Notwendigkeit trage allerdings nur als negative Begrenzung, als Grenze, die nicht überschritten werden darf. Damit sei noch nichts darüber gesagt, bis wohin die polizeiliche Abwehrbefugnis überhaupt gehen dürfe. Probleme stellten sich beispielsweise dort, wo sich Polizeihandeln gegen geringfügiges Unrecht richtet und auf andere Weise nicht zu verhüten ist. Kitzinger fragt: „Sind dann Maßnahmen bis hin zur Anwendung der Schusswaffe oder bis zur Tötung des Rechtbrechers gerechtfertigt?“ 298
291
S. 146, 147. S. 147. 293 S. 147 (Fn. weggelassen). 294 S. 148. 295 S. 166 ff. 296 „Gewalt und Zwangsmittel werden der Polizei nicht um ihrer selbst willen, sondern nur um dieses Zweckes willen an die Hand gegeben und nur insoweit, als sie notwendig sind, um diesen Zweck zu erfüllen.“ (S. 167). 297 S. 167. 298 Vgl. S. 168. 292
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Um dieser Frage, die mittels der „negativen Grenze“ der Notwendigkeit nicht zu beantworten ist, näher zu kommen, weist Kitzinger zweitens auf das Prinzip der Verhältnismäßigkeit hin, also den Gedanken, dass die Schwere des in der polizeilichen Abwehr liegenden Rechtseingriffs im Verhältnis stehen müsse zur Schwere der Rechtsverletzung, die durch die Polizeigewalt verhindert werden soll.299 Diese beiden Grundsätze seien alles, was man aus dem „Begriff und Wesen der Rechtspolizei“ ableiten kann; alle weiteren positiven Angaben darüber, was erlaubt ist, müsse dagegen das positive Recht festlegen.300 (2) Konkrete Befugnisse der Rechtspolizei Bei seinen Überlegungen zu den „Arten und Mitteln rechtspolizeilicher Tätigkeit“ 301 nennt Kitzinger zunächst die typischen, auch im heutigen Polizeirecht anerkannten polizeilichen Befugnisse: Die Willenskundgebung (als „Polizeibefehl“ oder „polizeiliche Verfügung“)302, die Ersatzvornahme (als Mittel zur Erzwingung vertretbarer Handlungen)303, Beuge- bzw. Zwangsstrafen (zur Erzwingung normgemäßen Verhaltens)304, physische Gewalt bzw. körperlicher Zwang (beispielsweise Waffengewalt)305, Polizei- bzw. Präventivhaft (als Entzug der Gelegenheit zur verbotenen Tätigkeit)306, Entziehung und Unbrauchbarmachung von Gegenständen zur Tatverwirklichung307 und Eingriff in das Hausrecht oder Postgeheimnis, Durchsuchung etc. (im Rahmen der ermittelnden Polizeigewalt)308. Die körperliche Gewalt sei das wirksamste, aber auch „drastischste Mittel des Verwaltungszwangs“ und deswegen nur zulässig, wenn es zur „Erreichung des Zwecks unvermeidlich ist“, also nur subsidiär zu anderen Zwangsmaßnahmen; bei der Verhütung strafbarer Handlungen sei der Einsatz aber regelmäßig zu rechtfertigen.309 Bei der Untersuchung der Polizeihaft geht Kitzinger so vor, dass er zunächst ihre gesetzlich normierten Voraussetzungen in den verschiedenen regionalen Poli299 300 301 302 303 304 305 306 307 308 309
S. 173. S. 174. S. 158 ff. Vgl. S. 178 S. 186 ff. S. 189 ff. S. 200 ff. S. 162, 209 S. 163, 215 S. 165, 223 S. 201.
ff.
ff. ff. ff.
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zeiordnungen sichtet: Beispielsweise galt für Hessen und Sachsen-Altenburg, dass die Verhaftung bei Tumulten zum Zwecke der Verhinderung von Gewalttätigkeit an Personen und Sachen zulässig war, für Preußen (u. a.), dass die polizeiliche Verwahrung zulässig war, wenn der eigene Schutz der Person oder die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sittlichkeit, Sicherheit und Ruhe dies dringend erfordern, oder für Bayern, dass das Recht der Polizeibehörden darauf beschränkt war, bei allen strafbaren Handlungen denjenigen, welcher auf frischer Tat betroffen wird, vorläufig festzunehmen, wenn die Festnahme notwendig ist, um die Fortsetzung der strafbaren Handlung zu verhindern.310 All diesen Gesetzen sei eine zeitliche Begrenzung der Haft eigen (maximal 3 mal 24 Stunden).311 Danach müsse der Betroffene unabhängig von der Sicherheitslage entlassen werden, selbst dann, wenn er sich glaubhaft äußert, er werde alsbald ein erhebliches Kriminaldelikt begehen. Kitzinger hält insofern eine Reform des zu seiner Zeit geltenden Rechtes für erforderlich, die damit einhergehen müsse, gesetzlich die Sicherungsverwahrung anzuerkennen und auszugestalten. Sie wäre als „richterliche Maßregel wohl weniger Bedenken ausgesetzt (. . .) als die polizeiliche Haft“ und sie müsste durchaus nicht notwendig auf den Fall strafgerichtlicher Verurteilung wegen bereits begangener Straftaten beschränkt werden. Allerdings dürfte sie dann, ähnlich wie die Waffengewalt, nur zur Verhütung schwerer Verbrechen gestattet werden, könnte dann aber unbedenklich so lange fortdauern, wie die Gefahr der Begehung jener Verbrechen fortbestehe und auf andere Weise nicht verhütet werden könne.312 Die Normierung eines Systems gesetzlicher Maßnahmen, welche der Verbrechensbekämpfung dienen, müsse im oder neben dem Reichsstrafrecht erfolgen.313 Dabei sei sowohl eine „Sicherheitshaft“, die dem Rückfall in unbestimmte künftige Straftaten vorbeugen will, als auch die „Präventivhaft“, die ein bestimmtes drohendes oder bereits begonnenes Verbrechen verhüten soll, nach Voraussetzungen und Dauer zu regeln.314 (3) Zusammenfassung, Kritik und prinzipielle Folgerungen Kitzinger will an von Mohls grundsätzlicher Einsicht in die Notwendigkeit einer – in Abgrenzung zum Strafrecht einerseits und zum sonstigen Polizeirecht andererseits – eigenständigen rechtspolizeilichen Unrechtsverhinderung festhalten. Die Berechtigung zum rechtspolizeilichen Einschreiten im Falle drohenden Unrechts führt er auf den Grundgedanken der staatlichen Selbsthilfe bzw. Not310 311 312 313 314
Vgl. S. 211, 212. S. 213. S. 215. Vgl. S. 259 f. Ebenda.
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wehr zum Schutze der Rechtsordnung zurück. Die präventive Tätigkeit hat sich danach allein am Zweck der Verhinderung von Rechtsverletzungen auszurichten, womit beispielsweise auch Eingriffe weit im Vorfeld rechtswidriger Aktionen gerechtfertigt sein können, so sie denn anderenfalls (bei weiterem Zuwarten) nicht mehr (sicher) abzuwehren sind. Beschränkt wird das rechtspolizeiliche Handeln danach nur noch durch das Prinzip der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit. Neben den typischen anerkannten Handlungsbefugnissen der Polizei geht Kitzinger auch auf die Präventivhaft ein. Die (nur auf kurze Dauer angelegte) Polizeihaft, nach heutiger Terminologie: der „Polizeigewahrsam“ 315, sei in den einzelnen Polizeigesetzen zu Recht vorgesehen und diene (u. a.) der Prävention von unmittelbar bevorstehendem Unrecht. Sie könne einen potentiellen Straftäter aber nicht auf Dauer von der Begehung von Strafunrecht abhalten, da sie für einen weiterreichenden Freiheitsentzug keine gesetzliche Grundlage enthalte. Daher müsse zusätzlich zu den regionalen Vorschriften zum Polizeigewahrsam eine Ergänzung des Reichsstrafrechts um ein System gesetzlicher Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung stattfinden. Darin seien dann Voraussetzungen und Dauer sowohl der „Sicherheitshaft“ (zur Vorbeugung künftiger Rückfälle von Straftätern) als auch der „Präventivhaft“ (zur Verhütung bestimmter drohender Verbrechen) zu regeln. Die Untersuchung Kitzingers übernimmt zutreffend die grundlegenden Differenzierungen v. Mohls, der zwischen Prävention und Strafe einerseits und Gefahrenabwehr und Unrechtsprävention andererseits unterschieden hatte. Zuzustimmen ist Kitzinger auch bei seinem Hinweis, dass das rechtspolizeiliche Einschreiten wegen seines Bezugs zu einer erst zukünftigen potentiellen Unrechtstat stets auf „unbestimmter“ Tatsachen- und Rechtsbasis erfolgt, dass das Handeln aufgrund einer Gefährlichkeitsprognose bzw. einer Wahrscheinlichkeitseinschätzung notwendig mit Unsicherheit und begrifflicher Unschärfe verbunden ist. Dass dieses Faktum eine erhöhte Schwierigkeit für die Legitimation von freiheitsbeschränkenden Maßnahmen mit sich bringt, lässt sich bei Kitzinger jedoch allenfalls zwischen den Zeilen erkennen. Bei seiner Ausarbeitung der polizeilichen Befugnisse geht jedenfalls verloren, dass es für ihre Ausweisung als Rechtsinstitute nicht nur auf ihre Nützlichkeit (den „Effet utile“) zur Unrechtsverhinderung ankommt, sondern dass die Maßnahmen vom betroffenen Subjekt selbst als vernünftig eingesehen werden können müssen. Kitzingers zusätzliche Forderung nach Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen mildert zwar die Härte des reinen Notwendigkeitsmaßstabs (den im Übrigen auch schon v. Mohl hinter sich gelassen hatte), geht aber nicht auf das eigentliche Kriterium legitimer Zwangsbefugnis 315 Vgl. etwa F. Rachor, „Das Polizeihandeln“, in: H. Lisken/E. Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, Abschnitt F, Rn. 550 ff.; W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht (5. Aufl. 2007), Rn. 141 ff.
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ein: Den Ausweis der jeweiligen Maßnahme als mit der Autonomie des betroffenen Subjekts vereinbar. Diesen Kernpunkt des Legitimationsproblems muss übersehen, wer es als unproblematisch hinnimmt, dass das Vereiteln von rechtswidrigen Taten immer mit dem Risiko behaftet ist, dass „das Tun ein überflüssiges ist“.316 Dieses Risiko der Überflüssigkeit bedeutet für den Fall seiner Realisation aus der Sicht des betroffenen Subjekts den Zwang zur Duldung von Freiheitsbeschränkungen ohne Sachgrund, also eine Pflicht zur Duldung von Unrecht. Darin liegt erkennbar eine bloße Anmaßung rechtlicher Zwangsbefugnis. Soll eine Legitimation unrechtsverhindernder Zwangsmaßnahmen unter den naturgemäßen Bedingungen der Unsicherheit von Prognoseentscheidungen gelingen, so ist die Perspektive des betroffenen Subjekts gerade für den Fall einzunehmen, dass es in Wahrheit keine Rechtsverletzung plant und keine Bedrohung des Rechts darstellt. Es muss sich also nicht nur begründen lassen, dass es legitim ist, Unrecht durch den Zugriff auf die Freiheitssphäre des zukünftigen Unrechtstäters zu verhindern, sondern auch, dass es unter bestimmten, noch näher auszuarbeitenden Bedingungen rechtlich zulässig sein kann, ein Rechtssubjekt in seiner Freiheit auch auf den bloßen Verdacht hin zu beschränken, dass es zukünftig Unrecht begehen wird. Da sich ein Verdacht per definitionem auch als unberechtigt erweisen kann, müsste also die Freiheitsbeeinträchtigung auch für den Fall als rechtlich-praktisch-vernünftig ausgewiesen sein, dass sie ausnahmsweise ein „unschuldiges“ Subjekt trifft. Darin liegt ersichtlich eine Erhöhung der Begründungslast. Eine solche Begründung ist durch den Kantischen Ansatz der analytischen Herleitung aus dem Rechtsbegriff und von Hegels Gedanken des (rechtlichen) Gegenzwangs zum (unrechtlichen) Erstzwang nicht abschließend geleistet.317 Denn beiden Ansätzen ist gemein, dass sie das Vorhandensein von Unrecht als gewiss voraussetzen. Ist dies aber gerade empirisch unsicher, muss für die gesuchte Begründung der Gedankengang erweitert werden und gerade auch die empirisch-realen Bedingungen der Zwangsausübung mit einbezogen werden. Hinzu kommt, dass es bei rechtspolizeilichen Maßnahmen immer um staatliche Eingriffe in die Rechtssphäre des Betroffenen geht, dass also die Legitimation auch das Verhältnis des betroffenen Bürgers zum Staat in den Blick nehmen muss. Beides, die empirische Fehlbarkeit menschlicher Prognoseentscheidungen einerseits und die Tatsache, dass die Freiheitsbeschränkungen innerhalb einer rechtlich verfassten Gemeinschaft stattfinden, sind für eine tragende Begründung unrechtsvorbeugender Freiheitsbeeinträchtigungen zu berücksichtigen.
316 317
Kitzinger (a. a. O., Fn. 284), S. 146, 147. Vgl. dazu oben S. 342 ff.
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cc) Konsequenzen aus den Grundbestimmungen zur (polizeilichen) Unrechtsverhinderung Festzuhalten ist nach der Auseinandersetzung mit v. Mohls und Kitzingers Entwürfen zunächst, dass zwischen der Prävention künftigen, zwar menschlichen, aber nicht zwingend schuldhaften Unrechts einerseits und der Bestrafung schuldhaft begangenen Kriminalunrechts andererseits bei der Normierung von Sicherheitsgesetzen sorgfältig zu unterscheiden ist. Einer Vermengung von Prävention und Strafe stehen rechtsprinzipielle Gründe entgegen; ein Sicherheitsstrafrecht im Sinne eines reinen Präventionsstrafrechts kann es nicht geben, das Präventionsrecht hat umgekehrt keinen Strafcharakter. Die unrechtsvorbeugende Tätigkeit des Staates ist zudem nicht gleichzusetzen mit der Gefahrenabwehr, da natürliche Gefahren auf der einen und menschliche Unrechtstaten auf der anderen Seite fundamental unterschiedliche Bedrohungen der Rechtsordnung darstellen und ihnen deswegen auch unterschiedlich begegnet werden muss. Dementsprechend kann der einer bevorstehenden Straftat Verdächtige nicht als „Gefahrenquelle“ oder „Gefährder“, sondern nur als vernunftbegabtes Willenssubjekt, das potentiell Unrecht begehen wird, begriffen werden.318 Daran hat sich jede gegen dieses Subjekt gerichtete staatliche Präventivmaßnahme auszurichten; eine Behandlung, die auf bloße „Beseitigung der Gefahrenquelle“ gerichtet ist, ist damit ausgeschlossen. Unrechtshindernde Zwangsmaßnahmen sind dem betroffenen Subjekt gegenüber grundsätzlich dann gerechtfertigt, wenn es tatsächlich zum entsprechenden Unrecht ansetzt bzw. wenn sicher feststeht, dass es das Unrecht begehen wird:319 Es ist als objektiv und subjektiv vernünftig (freiheitskonform) ausgewiesen, dro318 Diese Differenzierung wird im geltenden Polizeirecht nicht ausreichend berücksichtigt. Vgl. etwa E. Denninger, „Polizeiaufgaben“ (2007), Rn. 170, der zwar deutlich zwischen präventivem und repressivem Polizeihandeln unterscheidet, innerhalb der Prävention aber zu einseitig nur auf die Gefahrenabwehr (i. e. S.) abstellt: „Geht es beim (präventiven Polizeihandeln) um eine primär ereignisbezogene, prognostisch fundierte, möglichst effektive und flexible Reaktion auf eine Schadenwahrscheinlichkeit, bei welcher der ,Täter‘ = Störer als Person, moralisches Wesen, völlig uninteressant ist und deshalb als ,black box‘ behandelt werden kann, so ist im Gegensatz hierzu die repessive Tätigkeit als Bestandteil eines tat- und täterbezogenen, vergangenheitsfundierten, an der Einzelfallgerechtigkeit orientierten Verfahrens zu sehen, bei welchem die individuelle Persönlichkeit des Täters, seine ,Schuld‘, im Hinblick auf die Findung eines ,gerechten‘ Urteils eine entscheidende Rolle zu spielen hat; deshalb ist die Stellung des beschuldigten/Angeklagten in ,seinem‘ (Straf-)Verfahren eine ganz andere als die des bloßen ,Störers‘.“ (Hervorhebungen im Original, Fn. weggelassen). 319 Eine solche 100%ige Gewissheit kann es allerdings im Hinblick auf zukünftiges Verhalten faktisch nie geben, da anders als bei natürlich-kausalen Abläufen der menschliche Wille „zwischengeschaltet“ ist und seine Freiheit eine absolute Vorhersehbarkeit nicht zulässt. Es handelt sich deshalb insofern um eine abstrakte Zwangsbegründung, die zwar einerseits als Vernunftgründung unentbehrlich ist (der Zwang ließe sich sonst überhaupt nicht allgemeingültig begründen), andererseits aber um die Momente der menschlichen Empirie ergänzt werden muss.
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hendes Unrecht zu verhindern; die Unrechtsverhinderung hat sich dabei nach Art und Maß am drohenden Unrecht zu orientieren. Bei bloßer Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung ist die Befugnis zum zwangsweisen Eingriff in die Freiheitssphäre eines Subjekts nicht mehr so gewiss, denn das Subjekt müsste dann freiheitsbeeinträchtigende Abwehrmaßnahmen unter Umständen auch dann als legitim hinnehmen, wenn es in Wahrheit kein Unrecht begehen wird bzw. will. Eine entsprechende Zwangsbegründung hat deshalb die empirische Schwierigkeit unsicherer Prognosen mit zu berücksichtigen: Selbst die einem „unschuldigen“ Subjekt aufgebürdete Freiheitsbeeinträchtigung muss von ihm selbst noch als rechtliche Maßnahme verstanden werden können. Nun kann es dem Einzelnen unter bestimmten Umständen aber durchaus erklärlich sein, dass ihn eine Maßnahme zur Unrechtsabwehr trifft, selbst wenn er kein potentieller Täter ist. Denn es ist wegen der empirischen Unsicherheit prognostischer Entscheidungen nicht möglich, die Unrechtsabwehr von der Gewissheit der folgenden Unrechtstat abhängig zu machen; unter den Bedingungen der Wirklichkeit kann das Recht nur einen bestimmten Grad von Wahrscheinlichkeit fordern. Dass dem so ist und dass es auf diese Weise vorkommen kann, dass ein Rechtssubjekt tatsächlich unberechtigten Zwangsmaßnahmen unterworfen wird, kann der Einzelne noch einsehen – gerade weil er selbst konstituierendes Mitglied des zu schützenden Rechts ist, ihm die Notwendigkeit seiner Geltung für ein in der Wirklichkeit freies Leben einsichtig ist und die Geltungsgarantie im Fall der Unrechtsprävention praktisch nicht anders ausgestaltet werden kann. Er wird aber solche Maßnahmen, wenn sie sich gegen ihn wenden, nur unter einer Reihe von zusätzlichen Bedingungen als rechtens anerkennen können: (1) Erstens muss das Subjekt selbst durch sein Verhalten, seine Äußerungen, o. ä. den Verdacht ihm gegenüber (mit)begründet haben. Nur dann ist es selbst zumindest mitverantwortlich für die staatliche Freiheitsbeeinträchtigung, nur dann liegt ein nachvollziehbarer Grund gerade seiner Duldungspflicht vor. (2) Zweitens muss das Recht im Übrigen „freiheitsoptimal“ ausgestaltet sein. Das bedeutet u. a.: Es muss einen sachlichen Grund dafür geben, warum gerade dieses konkrete Subjekt in Verdacht geraten ist; der Verdacht muss ferner die Schwelle bloßer Möglichkeit überschritten haben und ausreichend konkretisiert sein (eine bloße Unrechtsneigung genügt insofern nicht); zudem muss die strikte Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes gewährleistet sein und das beinhaltet eine Entsprechung der Qualität des potentiell drohenden Unrechts und des Grades der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts mit der Qualität des den Einzelnen treffenden Freiheitseingriffs. Hinzukommen muss, dass die Anforderungen an die Feststellung der Wahrscheinlichkeit sorgfältig ausgearbeitet und eingehalten werden; ferner, dass es für das Subjekt ein Verfahren der Überprüfbarkeit der Freiheitsbeeinträchtigung gibt (Rechtsschutzgarantie) und dass der Freiheitseingriff selbst überschaubar,
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d. h. quantitativ und qualitativ umgrenzt, gesetzlich festgelegt und justitiabel ist. (3) Die Einsicht in die Richtigkeit präventiver Maßnahmen wird dort am ehesten möglich sein, wo das drohende Unrecht das Subjekt selbst fundamental mitbetrifft, beispielsweise bei einer drohenden Auslöschung oder Auflösung der das Subjekt mitumfassenden freiheitlichen Rechtsgemeinschaft, der Bedrohung der Existenz rechtlich-staatlicher Strukturen oder bei einer drohenden Vernichtung oder unumkehrbaren Verseuchung gemeinsamer Lebensgrundlagen. (4) Die Einsicht des Subjekts hat im Gegenteil gewiss dort ihre Grenzen, wo der präventiven Zwecken dienende Freiheitseingriff nach Quantität und Qualität so intensiv ist, dass das Subjekt im Kern seiner Persönlichkeit und Lebensführung betroffen ist. Dies gilt in besonderem Maße für irreversible (z. B. die Tötung) und für zeitlich unbefristete bzw. erhebliche Eingriffe (z. B. lebenslange oder mehrjährige Haft), aber auch für Maßnahmen, die Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich (z. B. die Ausforschung des Privatlebens) oder die körperliche und geistige Integrität (z. B. Anwendung unmittelbaren körperlichen oder seelischen Zwangs) beinhalten. d) Allgemeine Kriterien legitimer Unrechtsprävention Aus den grundsätzlichen Überlegungen zur rechtlichen Zwangsgewalt320 und zur (rechts)polizeilichen Unrechtsprävention321 lassen sich drei Gruppen von Kriterien für die Normierung rechtsstaatlicher Unrechtsprävention herleiten: Die erste Bedingungsgruppe betrifft die Befugnisse, die mit der Feststellung der Wahrscheinlichkeit eines künftigen Rechtsbruchs einhergehen (aa)); die zweite umfasst materielle Kriterien und Grenzen möglicher Eingriffe in die Rechtssphäre einzelner Subjekte, die aufgrund der festgestellten Unrechtswahrscheinlichkeit erfolgen (bb)); die dritte Gruppe hat die Rechtsschutzmöglichkeiten des betroffenen Subjekts zum Gegenstand (cc)): aa) Befugnisse zur Feststellung der Unrechtswahrscheinlichkeit Für einen präventiven staatlichen Eingriff in die Freiheitssphäre eines Rechtssubjekts ist erste Voraussetzung, dass dieses Subjekt mit einem bestimmten Grad von Wahrscheinlichkeit zukünftig Unrecht begehen wird. Die Ermittlung einer solchen Wahrscheinlichkeit gerade beim betroffenen Subjekt muss aus sachlichen Gründen erfolgen und sich auf möglichst sicheres Erfahrungswissen (z. B. 320 321
Oben S. 342 ff. S. 357 ff.
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wissenschaftlich gesicherte bzw. konsentierte Methoden empirischer Prognosen, professionelles Wissen der Präventionsbehörde bzw. „Präventionsgerichte“) stützen.322 Freiheitsbeeinträchtigungen, die sich aus diesen Ermittlungsmaßnahmen für den Einzelnen ergeben, sind nur in sehr geringem Maße gerechtfertigt – schließlich gibt es über die ersten Anhaltspunkte für einen „Anfangsverdacht“ 323 hinaus keinen Grund für die Duldungspflicht des Subjekts. Wenn schon die in der StPO vorgesehenen Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden, die auf einem Anfangsverdacht bzgl. einer begangenen Straftat beruhen, (zu Recht) gesetzlich beschränkt sind,324 so muss dies erst recht und in noch stärkerem Maß für einen Verdacht im Hinblick auf nur potentielle, zukünftige Rechtsbrüche gelten. Präventive Verdachtsermittlung kann im Grundsatz deshalb nur geringere Freiheitseinbußen rechtfertigen als Ermittlungen im Bereich der Strafverfolgung. Freiheitseingriffe, die in diesem Stadium der Verdachtsermittlung nicht der Klärung der Wahrscheinlichkeit einer bevorstehenden Unrechtstat dienen, sind unzulässig. bb) Materielle Kriterien und Grenzen präventiver Freiheitseingriffe Soll dem Subjekt über die Duldung von Freiheitsbeeinträchtigungen zur Verdachtsermittlung hinaus eine präventive Freiheitsbeschränkung auferlegt werden, so muss dem zunächst ein positives Wahrscheinlichkeits- (nicht bloß Möglichkeits-)urteil vorausgegangen sein. Dieses Wahrscheinlichkeitsurteil muss im Hinblick auf das potentielle Unrecht und den potentiellen Täter ausreichend konkretisiert sein (das befürchtete Unrecht muss also in seinen Grundzügen nach Tat, Tatort und Täterkreis umrissen sein). Auf der Suche nach Kriterien für die Konkretisierung dieser Maßstäbe ist es hilfreich, die im Strafrecht entwickelten Stufen der Deliktsentwicklung in Er322 Ausführlicher Überblick zu den empirischen Problemen von Kriminalitätsprognosen bei LK-Schöch, Vor § 61, Rn. 142 ff. (m.w. N.); siehe ferner J. Kinzig, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand (1996), S. 79 ff., der zutreffend auf die Bedeutsamkeit der Zuverlässigkeit von Strafbarkeitsprognosen für die Legitimierbarkeit der Sicherungsverwahrung hinweist, und A. Dessecker, Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit (2004), S. 182 ff., der die Methoden der Gefährlichkeitsprognosen sichtet und auf ihre Aussagekraft untersucht. 323 Der Begriff kann nur in Anführungszeichen verwendet werden, da er im Rahmen der StPO eine eigenständige Bedeutung für den anfänglichen Verdacht einer vergangenen Straftatbegehung hat (vgl. zur Definition Meyer/Goßner, StPO, § 152, Rn. 4: Es muss nach den kriminalistischen Erfahrungen möglich erscheinen, dass eine verfolgbare Straftat vorliegt), die hier aber gerade erst noch bevorsteht. 324 Zulässig können beispielsweise sein: Eine körperliche Untersuchung des Beschuldigten gem. § 81a StPO, unter bestimmten Voraussetzungen die Überwachung seiner Telekommunikation gem. § 100a StPO oder die Durchsuchung beim Verdächtigen gem. § 102 StPO.
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innerung zu rufen: Von dem Vollendungszeitpunkt einer Straftat wird das gem. §§ 22, 23 StGB strafbare Versuchsstadium abgegrenzt, welches sich als strafwürdige Rechtsverletzung freiheitsgesetzlich (noch) begründen lässt.325 Zeitlich vor dem Versuchsstadium liegt das vom Strafrecht legitimerweise nicht mehr erfassbare Vorbereitungsstadium einer Tat.326 Dieses Stadium berechtigt dementsprechend nicht zur Bestrafung, wohl aber zu hindernden Präventivmaßnahmen nach Maßgabe der ihr eigenen materiellen Prinzipien. Tätigkeiten, die sich nicht einmal als Vorbereitungshandlungen qualifizieren lassen, weisen dagegen die für das Wahrscheinlichkeitsurteil entscheidende Nähe zur zukünftigen Tat nicht auf und können allenfalls die deutlich weniger einschneidenden Maßnahmen zur Ermittlung einer Wahrscheinlichkeit rechtfertigen. Hinzu kommt als weitere Bedingung: Der Verdacht muss in einem Verhalten des Subjekts selbst begründet sein; das heißt, die Wahrscheinlichkeit darf sich nicht nur aus allgemeinen Erfahrungswerten (wie zum Beispiel der sozialen Herkunft, dem formalen Bildungsstand, den Einkommensverhältnissen oder der religiösen Ausrichtung) ergeben, sondern muss ihren Grund in dem Verhalten (z. B. vorheriger Begehung von Straftaten mit ersichtlichem Hang zur Wiederholung, Anhäufung von spezifischen Tatmitteln wie Gift, explosiven Stoffen, Waffen, etc., konkretisierte und wirkmächtige Planungen von Straftaten) oder den Äußerungen (ernsthafte Verabredungen, öffentliche Ankündigungen, Drohungen, etc.) des betroffenen Subjekts haben. Grenzen für präventive Freiheitsbeeinträchtigungen ergeben sich – erstens aus den allgemeinen Prinzipien staatlicher Zwangsanwendung, – zweitens aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und – drittens aus der Eigenart präventiv-rechtlichen Staatshandelns, insbesondere in Abgrenzung zum Handeln im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts: Die allgemeinen Prinzipien schließen bestimmte Freiheitseinschränkungen von vorne herein kategorisch aus:327 Jede mit Zwang verbundene Einwirkung auf die innere Willenssphäre des betroffenen Rechtssubjekts; jegliche entwürdigende oder entrechtende bzw. „entpersonalisierende“ Behandlung; jede Maßnahme, die nicht der Aufrechterhaltung des rechtlichen, d. h. freiheitlichen Zustandes dienen soll bzw. die nicht als Gegenzwang zu einem konkreten bevorstehenden Unrecht begriffen werden kann; jede nicht – zumindest im Nachhinein – offenlegbare,328 325
Siehe R. Zaczyk, Das Unrecht der versuchten Tat (1989). Vgl. zur Problematik der Vorfeldbestrafung den 4. Teil dieser Arbeit. 327 Vgl. dazu schon oben S. 355 f. 328 Erinnert sei hier an das Kantische Konzept der Öffentlichkeit: „Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind unrecht.“ Näher dazu oben im 2. Teil, S. 107 ff. Dass Heimlichkeit eine Atmosphäre des „Ausgeliefert-Seins“ und der Willkür schafft, lässt sich empirisch gut 326
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d. h. der Öffentlichkeit und dem Betroffenen zur Überprüfung vorlegbare heimliche Zwangs- oder Ausforschungsmaßnahme. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass der Freiheitseingriff, den der Betroffene hinzunehmen hat, nicht außer Verhältnis zum Grad der Wahrscheinlichkeit und zur Schwere des zu erwartenden Unrechts stehen darf. Dies bedeutet, dass das schon von v. Mohl erkannte Prinzip gilt: Je wahrscheinlicher die künftige Tat begangen wird und je schwerer das zu verhindernde Unrecht ist, desto stärker darf der präventive Eingriff in die Freiheitssphäre sein. Daraus lassen sich erste Umrisse einer gesetzlichen Regelung des Präventivrechts ableiten: Geht es um Bagatellunrecht, so sind präventive Freiheitsbeeinträchtigungen ausgeschlossen; geht es um mittlere Kriminalität, so ist ein freiheitsrelevantes Eingreifen im Vorfeld nur dann gerechtfertigt, wenn die Wahrscheinlichkeit ihrer Begehung hoch ist, und es sind nur geringfügige Freiheitseingriffe zulässig; geht es um Schwerstkriminalität, so kann ein präventiver Eingriff auch dann gerechtfertigt sein, wenn die Wahrscheinlichkeit seiner Begehung zwar besteht (bloße Möglichkeit genügt auch hier nicht), aber nur in einem relativ geringem Maß – die Intensität der Freiheitsbeeinträchtigung durch die Präventivmaßnahme kann hier ein höheres Maß erreichen; geht es um Unrecht, das den gesamten staatlichen Zusammenhang, den Bestand der freiheitlichen Rechtsgemeinschaft oder die existentiellen Lebensgrundlagen betrifft, so sind an den Grad der Wahrscheinlichkeit geringere Anforderungen zu stellen und auch im hohen Maße freiheitsintensive Präventivmaßnahmen sind denkbar.329 am mit Spitzeln und heimlichen Abhör- und Beobachtungsmaßnahmen durchsetzten Staat der DDR zeigen. Hätten dort alle solche Maßnahmen zumindest ex post bekannt gemacht und zur Diskussion gestellt werden müssen, wäre ein ganzer Unrechtszweig der Diktatur weggebrochen. Zur Tatsache, das die Heimlichkeit eines Eingriffs seine Intensität und damit seinen Rechtfertigungsbedarf erhöht vgl. auch BVerfGE 115, 320 (353, mit Verweis auf BVerfGE 107, 299 (321)) zur Zulässigkeit präventiv-polizeilichen Rasterfahndung. 329 Kritisch zu den „Graden der Wahrscheinlichkeit“ als Kriterium für das Maß präventiver Freiheitsbeeinträchtigungen im Rahmen des Rechts der sichernden Maßregeln W. Frisch, „Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem“ ZStW 102 (1990), S. 343 (370 ff.). Frisch weist hier zutreffend darauf hin, dass eine Orientierung allein am statistisch feststellbaren Grad der Wahrscheinlichkeit „viel zu vage“ bleibt und dass stattdessen eine individuelle Prognose, das heißt die Begründung der Maßnahme gerade dem Betroffenen gegenüber, erforderlich ist: „Dementsprechend ist es zur Rechtfertigung des Eingriffs notwendig, einen Befund vorweisen zu können, der uns in den Stand setzt, der Person überzeugungskräftig zu sagen, warum uns bei ihr das nicht mehr reicht, was sonst ausreichend erscheint. Für eine solche Argumentation gerade in bezug auf eine ganz bestimmte Person taugen weder statistische Befunde noch die Begehung schon einer Tat – denn im Verhältnis zu ebenfalls Straffälligen, die wir keinen vorbeugenden Maßnahmen unterwerfen, könnten wir die Andersbehandlung hier ja ebenfalls nur mit statistischem Material erklären. (. . .) Den Hinweis auf die ihr doch nach wie vor zugestandene Fähigkeit zur Normbefolgung als ausreichende normative Garantie können wir im Grunde erst dort in einer Weise zurückwiesen, die auch die betroffene Person akzeptieren muss, wo die bisherige Lebensführung der Person deutlich macht, dass sie von dieser Fähigkeit in bestimmten Situationen kei-
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Die Eigenart der Prävention im Verhältnis zum Strafrecht ist es, dass es nicht um schon begangenes Unrecht geht, das nach Art und Maß sicher bestimmbar ist und das das Rechtsverhältnis zum Opfer sowie das allgemeine Recht bereits verletzt hat, sondern stets um einen erst bevorstehenden, potentiellen Rechtsbruch. Deswegen unterscheidet sich die Befugnis zum präventiven Freiheitseingriff erheblich von der Berechtigung zu strafen. Zunächst ist festzuhalten, dass die Unrechtsabwehr nicht von den subjektiven Eigenarten des potentiellen Unrechtstäters (insbesondere der Schuld) abhängig ist, sondern nur überhaupt darauf gerichtet ist, drohendes menschliches, d. h. in seinem Ursprung dem menschlichen Willen entspringendes Unrecht zu verhindern. Allerdings ist diese Unrechtsverhinderung nicht gleichzusetzen mit bloßer Gefahrenabwehr, da es einen wesentlichen Unterschied macht, ob eine natürlichkausale Gefahrenkette oder ein menschlicher Willenszusammenhang, der in seinem Ausgang zum Zeitpunkt der Intervention stets unvorhersehbar (weil frei)330 ist, unterbrochen werden soll. Bevorstehendes Unrecht darf deswegen zwar unabhängig von aktueller Unrechtseinsicht des Betroffenen (auch) durch physische Zwangsmaßnahmen verhindert werden; der Betroffene ist dabei aber gleichwohl als freies Willenssubjekt anzuerkennen und entsprechend zu behandeln – und die Möglichkeit der Umkehr ist stets einzurechnen. Ferner ergibt sich für den Grad der zu duldenden Freiheitsbeeinträchtigung aus der Eigenart der Prävention, dass sie sich zwar einerseits an der Notwendigkeit zur Unrechtsverhinderung – nicht etwa dem Grad der Schuld – zu orientieren hat. Andererseits liegt aber die Tat in der Zukunft, ihre Begehung ist noch unsicher, der potentielle Täter hat über die Begründung der Wahrscheinlichkeit der Tat hinaus noch keinen Anlass gegeben, ihn in seiner Freiheit zu beschränken. Daraus lässt sich Folgendes ableiten: Erstens müssen Freiheitseingriffe, die ein Subjekt aus präventiven Gründen zu dulden hat, jedenfalls qualitativ und quantitativ deutlich unterhalb der Schwelle verbleiben, denen es im Falle des Begehens der Tat ausgesetzt wäre. Ein Maßstab dafür ist das für die Tat vorgesehene Strafmaß – Maßnahmen zur Unrechtsverhinderung finden damit eine erste Obergrenze darin, dass sie deutlich unterhalb des maximalen Strafrahmens und der üblicherweise verhängten Strafe des jeweils zu verhindernden Delikts zu bleiben haben. nen Gebrauch macht, insoweit vielmehr von der Rechtsordnung abweicht.“ (S. 374). Er wendet sich zudem gegen die nicht näher differenzierte Aufteilung der Kriminalitätsstufen in Bagatellkriminalität, leichte, mittlere und schwere Kriminalität, soweit sie im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Bestimmung konkreter Maßfragen herangezogen wird, ohne konkretere Bestimmungsgründe zu benennen (S. 383). (Genauer dazu auch noch unten im Rahmen der Auseinandersetzung mit den sichernden Maßregeln des geltenden Rechts, S. 396 ff.). 330 Zu dieser Kausalität aus Freiheit im Gegensatz zur bloßen Naturkausalität siehe I. Kant, KrV, 3. Antinomie, A 444 ff.
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Zweitens ergibt sich aus der Tatsache, dass die Sicherheit, mit der eine Tat vorhergesagt werden kann, geringer wird, je weiter die potentielle Tat in der Zukunft liegt, dass unrechtshindernde Maßnahmen immer auch einen engen zeitlichen Bezug zur Tat haben müssen: Es ist kaum vorstellbar, dass mit einem hohen Grad von Wahrscheinlichkeit Aussagen über menschlich-begründete, d. h. der freien Willensentschließung unterliegende Ereignisse getroffen werden können, die erst mehrere Jahre in der Zukunft stattfinden sollen. Daraus ergibt sich als weitere materielle Begrenzung für Freiheitsbeschränkungen im Vorfeld von Unrechtshandlungen, dass sie nur für einen überschaubaren Zeitraum angeordnet werden dürfen. Darüber hinaus sind Überlegungen dazu notwendig, wie das Maß präventiver Freiheitsbeeinträchtigungen prinzipiell zu bestimmen ist, d. h. welche Regeln für die Konkretisierung eines präventiven Freiheitseingriffs gelten sollen, die (auch) aus der Sicht der betroffenen Person (noch) einsichtig sind, und welche absoluten Grenzen gelten. Ein erster Anhaltspunkt für die Intensität eines zulässigen präventiven Freiheitseingriffs könnte sich aus den gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung gem. § 66 ff. StGB ergeben. Dort ist die Verhinderung von zukünftigen Straftaten durch sichernde Verwahrung für den Fall geregelt, dass der Täter (mindestens) eine Straftat begangen hat und konkrete Hinweise darauf hindeuten, dass er weitere Straftaten begehen wird (sog. „Hang“ 331). § 67d Abs. 3 StGB gibt in seiner Neufassung332 allerdings keine absolute Höchstfrist für die Dauer der Unterbringung mehr an, sondern macht stattdessen nach 10 Jahren eine regelmäßige Überprüfung der fortgesetzten Gefährlichkeit des Täters zur Bedingung der Haftfortdauer333 – das Maß ist also nicht einmal „nach oben“ deutlich begrenzt. Die gesetzlichen Regelungen zur Sicherungsverwahrung sind daher zur Maßbestimmung nur bedingt geeignet. Zudem ist fraglich, ob die Sicherungsverwahrung überhaupt als echte Präventivmaßnahme richtig begriffen und legiti-
331 Nach ständiger Rechtsprechung des BGH wird „Hang“ definiert als eine „auf charakterlicher Anlage beruhende oder durch Übung erworbene intensive Neigung zu Rechtsbrüchen“ (siehe z. B. BGH NStZ 2002, 537; BGH NStZ 2005, 265). 332 Nach alter Regelung (§ 67d Abs. 1 und Abs. 4 a. F.) enthielt die Vorschrift eine Höchstdauer von zehn Jahren. Vgl. NK-Pollähne/Böllinger, § 67d, Rn. 44. 333 Vgl. dazu beispielsweise T. Bartsch, Sicherungsverwahrung – Recht, Vollzug, aktuelle Probleme (2010), S. 118. Zu der gegen diese Änderung gerichteten Verfassungsbeschwerde vgl. BVerfG, Urteil vom 5.2.2004 (2 BvR 2029/01), das die (nachträglich) entfristete Sicherungsverwahrung zunächst für grundgesetzkonform hielt; seit der Entscheidung des EGMR vom 17.12.2009 (Nr. 19359/04, NJW 2010, 2495 ff.) ist dies kaum noch zu halten (zu dieser Entscheidung siehe D. Klesczewski, „Strafen statt Verwahren!“ HRRS 9/2010, S. 394 ff.; weitere ausgewählte Literaturnachweise dazu bei Fischer, Vorbemerkung zu § 66).
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mierbar ist334 oder ob sie nur unter dem Aspekt schuldsteigernder Habitualität bei der Straftatbegehung schlüssig begründet ist.335 Vergleichbar ist die Situation des präventiven Freiheitseingriffs zum Zweck der Unrechtsverhinderung aber ohnehin weniger mit der die Sicherungsverwahrung nach geltendem Recht begründenden Gefährlichkeitsprognose nach begangener Straftat, als vielmehr mit der Situation, in der ein bloßer Verdacht einer Straftat vorliegt. Anhaltspunkte für das Höchstmaß dessen, was als Freiheitsbeschränkung in einer solchen Situation zulässig ist, könnten sich aus den in der StPO vorgesehenen Maßnahmen zur Sicherstellung des Strafprozesses bzw. zur Verhinderung zukünftigen Unrechts ergeben, insbesondere der Untersuchungshaft bei Wiederholungsgefahr nach §§ 112, 112a StPO bzw. der Untersuchungshaft bei bestimmten schweren Delikten ohne weiteren Haftgrund gem. § 112 Abs. 3 StPO:336 Voraussetzungen für die Untersuchungshaft sind in diesen Fällen erstens ein dringender Tatverdacht, zweitens entweder eine durch Tatsachen belegbare Gefahr der Wiederholung oder der Verdacht einer (besonders schweren) Katalogstraftat und drittens die Wahrung der Verhältnismäßigkeit.337 Gem. § 121 Abs. 1 StPO darf eine Untersuchungshaft über sechs Monate hinaus nur aufrechterhalten werden, wenn besondere Schwierigkeiten oder ein besonderer Umfang der Ermittlungen oder ein vergleichbarer wichtiger Grund dies notwendig macht; eine absolute Grenze für die Untersuchungshaft sieht allerdings weder die StPO noch die EMRK vor, wobei die Rechtsprechung des EGMR eine zweijährige Untersuchungshaft noch für rechtmäßig, eine sechsjährige dagegen für unzulässig erklärt hat.338 Für die Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr sieht § 122a StPO eine absolute Hafthöchstdauer von einem Jahr vor. Es zeigt sich, dass auch in diesem Bereich die Maßgerechtigkeit in Frage steht und ungeklärt ist; immerhin ergeben sich aber erste Richtwerte, die auf eine maximale Freiheitsbeschränkung durch Untersuchungshaft von ca. zwei bis drei Jahren hindeuten, im Falle des Haftgrundes der Wiederholungsgefahr von maximal einem Jahr. 334 So sieht es die hM, vgl. beispielsweise (aus der strafrechtlichen Literatur) C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 3, Rn. 63 und (aus der sanktionsrechtlichen Spezialliteratur) B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 236. Zu weiteren Nachweisen siehe unten Fn. 361. 335 So M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 80 ff.; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 55 ff., ders., „Die Aufhebung der Sicherungsmaßregeln durch die Strafgerechtigkeit“ (2007), S. 273 ff.; D. Klesczewski, „Strafen statt Verwahren!“ HRRS 9/ 2010, S. 394 ff. Siehe zum Ganzen unten S. 405 ff. 336 Gerade diese beiden Formen der Untersuchungshaft sind allerdings Gegenstand (berechtigter) kritischer Stellungnahmen geworden, die im Folgenden noch genauer zu sichten sind. Siehe dazu unten S. 411 ff. 337 Vgl. etwa D. Klesczewski, Strafprozessrecht, Rn. 179. 338 So Meyer-Goßner, StPO, § 121, Rn. 1a mit Hinweis auf EGMR, NJW 2001, 2694 und EGMR, NJW 2003, 1439.
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cc) Rechtsschutz Dem Betroffenen müssen gegen die Freiheitsbeeinträchtigungen wirksame Rechtsschutzmöglichkeiten offen stehen, das heißt, das Präventionsrecht muss insgesamt sowohl seinen formellen Voraussetzungen (insbesondere einer durchdachten Kompetenzregelung, die wegen der Diskrepanz zwischen der Länderkompetenz im Bereich der Gefahrenabwehr und der Bundeskompetenz im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts erhebliche Schwierigkeiten aufweist) und seinem Verfahren (präventiv-prozessuale Verfahrensgerechtigkeit), als auch seinem Inhalt nach gesetzlich geregelt und justiziabel sein. Zudem sind Entschädigungen für den Fall unberechtigter Inanspruchnahmen vorzusehen (die in der Praxis allerdings schwer beweisbar sein werden). 2. Überblick über Unrechtsprävention, sichernde Maßregeln und Untersuchungshaft im geltenden Recht Bevor näher auf das „neue Präventionsrecht“ im Sinne Pawliks eingegangen und es auf seine Legitimationsvoraussetzungen hin überprüft wird, soll das geltende Recht polizeilicher Unrechtsprävention (unter a)), das im StGB geregelte Recht der Sicherungsmaßregeln (unter b)) sowie die Vorschriften der StPO zur Untersuchungshaft im Fall der Wiederholungsgefahr (unter c)) in einem Überblick zusammengestellt und kritisch beleuchtet werden. Die Sichtung des geltenden Rechts dient dabei zur Orientierung an vorhandener Gesetzesmaterie und soll einerseits helfen, den neu zu konzipierenden Rechtsbereich der „Unrechtsprävention“, insbesondere die Terrorismusabwehr, in das geltende Recht zu integrieren, andererseits aber auch zeigen, dass eine Ausrichtung an den herausgearbeiteten Prinzipien unumgänglich ist und z. T. schon im geltenden Recht nicht in ausreichender Form vorgenommen wird. a) Unrechtsprävention nach den Polizeigesetzen Im geltenden Polizei- bzw. Strafprozessrecht finden sich gesetzliche Regelungen sowohl zum präventiven als auch zum repressiven Polizeihandeln; ersteres ist Gegenstand der im Grundsatz landesrechtlichen Polizei- und Ordnungsgesetze (Ausnahmen dazu bilden das BPolG, BGSG und BKAG), letzteres der in den Bundeskompetenzbereich fallenden StPO.339 Einordnungsschwierigkeiten gibt es beispielsweise für Maßnahmen, die der „Vorbereitung der Verfolgung künftiger
339 Vgl. E. Denninger, „Polizeiaufgaben“ (2007), Rn. 176. Siehe zur Historie der „Kompetenzverschachtelung“ im Bereich der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung J. Warschko, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung – Prävention oder Repression? (1995), S. 18 ff.
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Straftaten“ dienen (beispielsweise erkennungsdienstliche Maßnahmen nach § 81b StPO bzw. § 10 Abs. 1 Nr. 2 MEPolG 1986)340 und für Maßnahmen, die strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen mittels polizeilichen Zwangs durchsetzen sollen (eine entsprechende Regelung fehlt in der StPO und wird deshalb durch die polizeilichen Landesregelungen zum polizeilichen Zwang ergänzt).341 Auch die eigentliche Verhütung von Straftaten wird z. T. durch gesetzliche Regelungen (vgl. etwa § 1 Abs. 1 MEPolG 1986, § 1 Abs. 3 BKAG)342 in den Bereich einer „präventiv-repressiven Gemengelage“ 343 eingeordnet, vor allem dadurch, dass in den neueren Gesetzen344 die Bezeichnung „vorbeugende Bekämpfung von Straftaten“ als Oberbegriff für Straftatverhütung, die in den Bereich der Prävention fällt,345 und Straftatverfolgungsvorsorge, deren Einordnung umstritten ist,346 verwendet wird.347
340 Für die Einordnung in den Bereich der Strafverfolgung u. a. E. Denninger, „Polizeiaufgaben“ (2007), Rn. 177 und 200; W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 11. Für eine Einordnung in den Bereich der polizeilichen Gefahrenabwehr: BverwG, NJW 1990, S. 2768 f.; V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 17, Rn. 25; H. Notzon, Zum Rückgriff auf polizeiliche Befugnisse zur Gefahrenabwehr im Rahmen der vorbeugenden Verbrechensbekämpfung (2002), S. 91. Zur Gesetzgebungskompetenz im Bereich der „Verfolgungsvorsorge“ vgl. H. U. Paeffgen, „Art. 30, 70, 101 I GG – vernachlässigbare Normen? –“ JZ 1991, 437 ff. Zur Einordnungsproblematik insgesamt J. Warschko, Vorbeugende Verbrechensbekämpfung – Prävention oder Repression? (1995), S. 32 ff. (dort auch der Hinweis (S. 34) auf BVerwGE 2, 302 ff., worin das Gericht noch die Einordnung in den Bereich des Strafprozesses vertrat, und auf den Rechtsprechungswandel im Jahr 1960 durch BVerwGE 11, S. 181 ff., vgl. ebenda, S. 38). 341 E. Denninger, „Polizeiaufgaben“ (2007), Rn. 177, 178. 342 § 1 Abs. 1 MUPolG (1986) lautet: „Die Polizei hat die Aufgabe, Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung abzuwehren. Sie hat im Rahmen dieser Aufgabe auch für die Verfolgung von Straftaten vorzusorgen und Straftaten zu verhüten (vorbeugende Bekämpfung von Straftaten) sowie Vorbereitungen zu treffen, um künftige Gefahren abwehren zu können (Vorbereitung auf die Gefahrenabwehr).“ § 1 Abs. 3 BKAG lautet: „Die Verfolgung sowie die Verhütung von Straftaten und die Aufgaben der sonstigen Gefahrenabwehr bleiben Sache der Länder, soweit gesetzlich nichts anderes bestimmt ist.“ 343 Formulierung von E. Denninger, „Polizeiaufgaben“ (2007), vor Rn. 192. 344 Vgl. zur Entwicklung der „vorbeugenden Bekämpfung von Straftaten“ im Polizeirecht V. Götz, „Innere Sicherheit“ (2006), § 85, Rn. 9. 345 So sieht es auch E. Denninger, „Polizeiaufgaben“ (2007), Rn. 199, der die Zuordnung zum präventiven Bereich (zur Gefahrenabwehr im weiteren Sinne) für eindeutig hält. 346 Vgl. dazu etwa BVerfGE 113, 348 (370 f.). 347 Siehe V. Götz, „Die Entwicklung des allgemeinen Polizei- und Ordnungsrechts (1994–1997)“ NVwZ 1998, 679 f., der von einer „,Gemengelage‘ präventivpolizeilicher Maßnahmen und der Strafverfolgung“ spricht. Vgl. zum „Dualismus zwischen Strafprozessrecht (Straftatverfolgung = Repression) einerseits und Polizeirecht (Straftatvorbeugung = Prävention) anderseits“ auch SK-StPO-Paeffgen, Vor § 112, Rn. 13, der zu Recht kritisiert, dass „diese Begriffe und deren Grenzen in zunehmenden Maße zu verschwimmen“ beginnen.
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Die Befugnisse der Polizei im Rahmen der Unrechtsprävention (Straftatverhütung) sind als sog. Standardmaßnahmen neben der Generalklausel zur Gefahrenabwehr348 in den Polizei- und Ordnungsgesetzen konkret geregelt. Es finden sich einerseits „klassische“ Sicherheitsmaßnahmen wie z. B. die Durchsuchung von Personen und Sachen (inclusive der Wohnungsdurchsuchung), die Sicherstellung von Sachen, die Platzverweisung, der polizeiliche Gewahrsam sowie die Anwendung unmittelbaren Zwangs, u. a. auch mittels Schusswaffen;349 andererseits werden diese „klassischen“ Maßnahmen ergänzt durch modernere Regelungsmaterien, vor allem im Bereich der Datenerhebung, -speicherung und -veränderung, worunter auch die längerfristige Observation und verdeckte technische Beobachtung, insbesondere das Anfertigen von Bildaufnahmen und das Abhören oder Aufzeichnen des gesprochenen Wortes gehören.350 Ferner ist beispielsweise der Einsatz verdeckter Ermittler vorgesehen.351 Die Voraussetzungen, unter denen die Polizei diese Befugnisse ausüben darf, sind in den jeweiligen Vorschriften explizit geregelt; eine allgemeine, wiederkehrende Formulierung lautet, dass „tatsächliche Anhaltspunkte“ die „Annahme rechtfertigen“ müssen, dass eine Straftat (zum Teil begrenzt auf einen bestimmten Straftatenkatalog) begangen werden soll (vgl. z. B. § 8a Abs. 2 Nr. 1, § 8c Abs. 1 Nr. 2 a) und b), § 9 Abs. 1 Nr. 2a) und § 19 Abs. 3 Nr. 1 MEPolG); engere Voraussetzungen hat beispielsweise die Ingewahrsamnahme, die „unerlässlich“ sein muss, „um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr zu verhindern“ (§ 13 Abs. 1 Nr. 2 MEPolG). Für alle Maßnahmen der Polizei gilt zudem der in § 2 MEPolG positivierte Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der zum Teil für die Einzelmaßnahmen im Gesetzestext noch konkretisiert wird (vgl. etwa § 8c Abs. 1 Nr. 2 MEPolG: Die Erhebung von personenbezogenen Daten ist erlaubt, soweit dies zur vorbereitenden Bekämpfung bestimmter Katalogstraftaten352 oder sonsti348 Vgl. § 8 Abs. 1 MEPolG: „Die Polizei kann die notwendigen Maßnahmen treffen, um eine im einzelnen Fall bestehende Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung (Gefahr) abzuwehren, soweit nicht die §§ 8a bis 24 die Befugnisse der Polizei besonders regeln.“ 349 Vgl. dazu §§ 17–19 (Durchsuchung von Personen, Sachen und Wohnungen), § 21 (Sicherstellung), § 12 (Platzverweisung), §§ 13 ff. (Gewahrsam), §§ 33, 36, 41 (Unmittelbarer Zwang, Schusswaffengebrauch) des MEPolG. Für die entsprechenden Regelungen in den einzelnen Ländern wird auf die einzelne Landesgesetzgebung verwiesen, die im Grundsatz ähnliche Vorschriften enthält. Vgl. etwa die Darstellung der Standardmaßnahmen bei W.-R. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rn. 110 ff. und V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 8, S. 50 ff., die jeweils in der Fußnote die Vorschriften in den einzelnen Bundesländern benennen. 350 Vgl. §§ 8a–8d, 9, 10, 10a MEPolG. Siehe dazu die Darstellung bei C. Hoppe, Vorfeldermittlungen im Spannungsverhältnis von Rechtsstaat und der Bekämpfung Organisierter Kriminalität (1999), S. 27 ff. 351 § 8c Abs. 2 Nr. 3 MEPolG. 352 Genauer: Die in § 100a StPO und die in §§ 176 bis 181a, 243, 244, 260, 263 bis 265, 266 oder 324 bis 330a StGB genannten Straftaten.
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ger gewerbsmäßiger, gewohnheitsmäßiger oder von Banden begangener Straftaten „erforderlich ist und die Datenerhebung ohne Gefährdung der Aufgabenerfüllung auf andere Weise nicht möglich ist und die Maßnahme nicht außer Verhältnis zur Bedeutung des aufzuklärenden Sachverhalts steht.“). Für die „Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus“ gelten zum Teil Sonderregeln, die sich insbesondere in Abschnitt 3 des BKAG finden. Im § 4a BKAG353 wird die Aufgabe der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus354 in bestimmten Fällen (länderübergreifende Gefahr, keine Zustän-
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§ 4a BKAG lautet: Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus (1) Das Bundeskriminalamt kann die Aufgabe der Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus in Fällen wahrnehmen, in denen 1. eine länderübergreifende Gefahr vorliegt, 2. die Zuständigkeit einer Landespolizeibehörde nicht erkennbar ist oder 3. die oberste Landesbehörde um eine Übernahme ersucht. Es kann in diesen Fällen auch Straftaten verhüten, die in § 129a Abs. 1 und 2 des Strafgesetzbuchs bezeichnet und dazu bestimmt sind, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern, eine Behörde oder eine internationale Organisation rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Staates oder einer internationalen Organisation zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen, und durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat oder eine internationale Organisation erheblich schädigen können. (2) Die Befugnisse der Länder und anderer Polizeibehörden des Bundes bleiben unberührt. Die zuständigen obersten Landesbehörden und, soweit zuständig, anderen Polizeibehörden des Bundes sind unverzüglich zu benachrichtigen, wenn das Bundeskriminalamt die Aufgabe nach Absatz 1 wahrnimmt. Die Aufgabenwahrnehmung erfolgt in gegenseitigem Benehmen. Stellt das Bundeskriminalamt bei der Aufgabenwahrnehmung nach Absatz 1 Satz 1 Nr. 2 die Zuständigkeit einer Landespolizeibehörde fest, so gibt es diese Aufgabe an diese Polizeibehörde ab, wenn nicht ein Fall des Absatzes 1 Satz 1 Nr. 1 oder 3 vorliegt. 354 Zum Hintergrund dieser Aufgabenzuweisung siehe BT-Drucksache 16/813, S. 12: „Die neue Bundeskompetenz zur Regelung präventiver Befugnisse des Bundeskriminalpolizeiamts (BKA) trägt der besonderen Bedrohungslage im Bereich des internationalen Terrorismus Rechnung. Beispielsweise kommen zahlreiche Hinweise zum internationalen Terrorismus aus dem Ausland, ohne dass in allen Fällen bereits eine örtliche Zuständigkeit einer deutschen Polizeibehörde erkennbar sein muss, gleichwohl aber weitere Sachaufklärung veranlasst sein kann. Der Begriff des internationalen Terrorismus ist durch das internationalen und nationalen Normen zugrunde liegende Verständnis vorgeprägt, aber zugleich für künftige Entwicklungen offen. Der Begriff des Terrorismus wird insbesondere auch in den Regelungen des EU-Vertrags (Artikel 29 Abs. 2 und Artikel 31 Abs. 1 Buchstabe e verwendet und im EU-Rahmenbeschluss vom 13. Juni 2002 (ABl. EU Nr. L 164 S. 3)) näher ausgefüllt. Die dortige Definition greift das nationale Recht durch die terrorismusqualifizierenden Merkmale des § 129a Abs. 2 StGB auf. Die Beschränkung auf den internationalen Terrorismus nimmt auf Deutschland begrenzte terroristische Phänomene aus. Eine länderübergreifende Gefahr liegt regelmäßig dann vor, wenn sie nicht nur ein Land betrifft. Eine Zuständigkeit einer Landespolizeibehörde ist dann nicht erkennbar, wenn die Betroffenheit eines bestimmten Landes durch sachliche Anhaltspunkte im Hinblick auf mögliche Straftaten noch nicht bestimmbar ist.“
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digkeit einer Landespolizeibehörde, Ersuchen um eine Übernahme durch die oberste Landesbehörde) dem BKA zugewiesen, und ihm werden besondere Befugnisse (vgl. §§ 20a ff.) erteilt.355 Zu diesen Befugnissen gehören (neben den auch aus den landesrechtlichen Polizeigesetzen bekannten Standardmaßmaßnahmen wie Platzverweisung, Gewahrsam, Durchsuchung von Personen und Sachen, Sicherstellung von Sachen, Betreten und Durchsuchen von Wohnungen)356 beVgl. ferner Art. 1 Abs. 1 des EU Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung (Rahmenbeschluss 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung, Amtsblatt Nr. L 164 vom 22/06/2002 S. 3 ff.): „Art. 1: Terroristische Straftaten sowie Grundrechte und Rechtsgrundsätze (1) Jeder Mitgliedstaat trifft die erforderlichen Maßnahmen, um sicherzustellen, dass die unter den Buchstaben a) bis i) aufgeführten, nach den einzelstaatlichen Rechtsvorschriften als Straftaten definierten vorsätzlichen Handlungen, die durch die Art ihrer Begehung oder den jeweiligen Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen können, als terroristische Straftaten eingestuft werden, wenn sie mit dem Ziel begangen werden, – die Bevölkerung auf schwer wiegende Weise einzuschüchtern oder – öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder – die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören: a) Angriffe auf das Leben einer Person, die zum Tode führen können; b) Angriffe auf die körperliche Unversehrtheit einer Person; c) Entführung oder Geiselnahme; d) schwer wiegende Zerstörungen an einer Regierungseinrichtung oder einer öffentlichen Einrichtung, einem Verkehrsmittel, einer Infrastruktur einschließlich eines Informatiksystems, einer festen Plattform, die sich auf dem Festlandsockel befindet, einem allgemein zugänglichen Ort oder einem Privateigentum, die Menschenleben gefährden oder zu erheblichen wirtschaftlichen Verlusten führen können; e) Kapern von Luft- und Wasserfahrzeugen oder von anderen öffentlichen Verkehrsmitteln oder Gütertransportmitteln; f) Herstellung, Besitz, Erwerb, Beförderung oder Bereitstellung oder Verwendung von Schusswaffen, Sprengstoffen, atomaren, biologischen und chemischen Waffen sowie die Forschung und Entwicklung im Zusammenhang mit biologischen und chemischen Waffen; g) Freisetzung gefährlicher Stoffe oder Herbeiführen von Bränden, Überschwemmungen oder Explosionen, wenn dadurch das Leben von Menschen gefährdet wird; h) Störung oder Unterbrechung der Versorgung mit Wasser, Strom oder anderen lebenswichtigen natürlichen Ressourcen, wenn dadurch das Leben von Menschen gefährdet wird; i) Drohung, eine der in a) bis h) genannten Straftaten zu begehen. M. Bäcker identifiziert danach drei wesentliche Komponenten einer terroristischen Handlung: 1. eine schwere Straftat, 2. eine spezifisch terroristische Zielsetzung des Täters und 3. die objektive Eignung, ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft zu schädigen. (Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalamt (2009), S. 33, 34 und 52 ff.). 355 Vgl. dazu B. Zabel, „Terrorgefahr und Gesetzgebung“ JR 2009, S. 453 (454 ff., kritisch zu den einzelnen Befugnissen S. 457 ff.). 356 Vgl. §§ 20o, 20p, 20q, 20r, 20s und 20t BKAG.
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sondere Mittel der Datenerhebung (§ 20g, beispielsweise längerfristige Observation, Einsatz verdeckter Ermittler), Einsatz technischer Mittel in oder aus Wohnungen (§ 20h), Rasterfahndung (§ 20j), Verdeckter Eingriff in informationstechnische Systeme (§ 20k), Überwachung der Telekommunikation (§ 20l) und die Erhebung von Telekommunikationsverkehrsdaten und Nutzungsdaten (§ 20m).357 Die erarbeitete Systematik und Einordnung von Präventionsmaßnahmen einerseits in solche, die der Erforschung eines Verdachts bzw. der Feststellung der Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Unrechtstat, und andererseits in solche, die unmittelbar der Unrechtsverhinderung dienen, lässt sich im geltenden Polizeirecht kaum ausmachen. Das führt dazu, dass sich die klaren Kriterien, die sich für die grundverschiedenen Eingriffsbefugnisse aufstellen lassen, in den gesetzlichen Regelungen nicht systematisch umgesetzt finden. Auch fehlt es an der präzisen Differenzierung nach Gefahrenabwehrmaßnahmen auf der einen Seite und Maßnahmen der Unrechtsverhinderung auf der anderen. Die gesetzliche Kodifikation reiht stattdessen einzelne Standardmaßnahmen aneinander, geordnet allenfalls nach dem praktischen Bedürfnis, bestimmte Maßnahmen, die sowohl der Gefahrenverdachtsermittlung wie der Unrechtswahrscheinlichkeitsprognose, bzw. sowohl der Gefahrenabwehr wie der Unrechtsverhinderung dienen können, ihrer tatsächlichen Erscheinung nach typisiert gesetzlich zu regeln. Dabei wird auf der Voraussetzungsseite das Vorliegen einer Gefahr oder eines – wie auch immer bestimmten und ermittelbaren – Unrechtsverdachts zwar benannt und die rechtsfolgenden polizeilichen Befugnisse konkret geregelt, aber die mangelnde Ausrichtung an den Prinzipien bewirkt doch, dass nicht zwischen den nur freiheits-schonende Eingriffe zulassenden Befugnissen, die der Ermittlung der Wahrscheinlichkeit der Unrechtsbegehung dienen, und denen, die nach Feststellung eines bestimmten Grades von Wahrscheinlichkeit zulässig sind, unterschieden wird. Das heißt nun nicht, dass die wesentlichen Anforderungen, die an freiheitsbeschränkende Präventivmaßnahmen zu stellen sind, in den polizeigesetzlichen Regelungen flächendeckend oder auch nur überwiegend missachtet würden. Das Willkürverbot, das Gebot der Verhältnismäßigkeit sowie das Prinzip der Abhängigkeit der Abwehrmaßnahme von der Art und dem Gewicht des drohenden Unrechts werden im Grundsatz berücksichtigt. Indirekt ergibt sich bei näherer Betrachtung auch, dass die Höhe der Wahrscheinlichkeit der Begehung von Unrecht und die Freiheitsintensität des Eingriffs ins Verhältnis gesetzt wurden: Beispiels357 Der Kernbereich der Neuregelungen im BKAG betrifft die Befugnisse zu heimlichen Ermittlungen im Rahmen der Terrorismusabwehr. Siehe dazu M. Bäcker, Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalamt (2009), S. 65 ff., der zwischen dem „Gefahrentatbestand“, der eine konkrete Gefahr voraussetzt, und der Verhütung von Straftaten, die auch Vorfeldmaßnahmen rechtfertige, wenn noch keine Gefahr besteht, differenziert. Näher und kritisch zu den Vorfeldbefugnissen ebenda, S. 70 ff.
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weise müssen für die (relativ) geringen Beeinträchtigungen durch Datenerhebungen nur überhaupt „tatsächliche Anhaltspunkte“ für einen Verdacht bestehen, während die relativ freiheitsintensive Ingewahrsamnahme „unerlässlich“ sein muss, „um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Straftat oder einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Gefahr zu verhindern“. Dennoch sind aber insbesondere die neueren Befugnisse, hier vor allem die weit gefassten Informations- und Ausforschungseingriffe des BKA, auf ihre Freiheitsintensität kritisch zu überprüfen – Eingriffe in das Persönlichkeitsrecht lassen sich beispielsweise nicht ohne weiteres schon im Stadium der Wahrscheinlichkeitsermittlung rechtfertigen und erhebliche Eingriffe u. U. sogar selbst dann nicht, wenn eine Unrechtswahrscheinlichkeit schon festgestellt ist, etwa weil absolute Begrenzungen staatlicher Zwangsgewalt dies verbieten. b) Sichernde Maßregeln (§§ 61 ff. StGB): Wesen und Legitimation Die Maßregeln der Besserung und Sicherung sind als Rechtfolge von Straftaten im Dritten Abschnitt des StGB in den §§ 61 ff. geregelt. Von den in § 61 StGB genannten Maßregeln sind zwei für den vorliegenden Zusammenhang der Unrechtsprävention bei voll verantwortlichen (potentiellen) Tätern besonders relevant: Erstens die freiheitsentziehende Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff. StGB) und zweitens die Anordnung von Führungsaufsicht (§ 68 StGB), in deren Rahmen Weisungen mit unrechtspräventiver Zielsetzung an den Betroffenen ergehen können: Beispielsweise die in § 68b Abs. 1 StGB normierten Verbote, den Wohnoder Aufenthaltsort oder einen bestimmten Bereich ohne Erlaubnis der Aufsichtsbehörde zu verlassen (Nr. 1), sich an bestimmten Orten aufzuhalten, die Gelegenheit oder Anreiz für weitere Straftaten bieten könnten (Nr. 2), mit bestimmten Personen Kontakt aufzunehmen (Nr. 3), bestimmte Tätigkeiten auszuüben (Nr. 4) oder bestimmte Gegenstände zu besitzen, bei sich zu führen oder verwahren zu lassen (Nr. 5) – allesamt Verbote, die schon von Mohl als Maßnahmen der Unrechtsprävention herausgearbeitet hatte.358 Das Wesen der Sicherungsmaßregeln hat Hans Welzel Ende der 1960er Jahre359 folgendermaßen knapp zusammengefasst: Ihr Grund sei die über die Schuld hinausgehende Tätergefährlichkeit.360 Ihr Zweck liege in der künftigen Sicherung der Gemeinschaft vor den zu erwartenden Rechtsbrüchen des Täters;361 die begangene Tat habe dabei nur Erkenntnis und Symptomwert für die 358
Vgl. oben S. 361 ff. H. Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 244. 360 Vgl. dazu auch A. Dessecker, Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit (2004). 361 Diese Zielbestimmung wird bis heute von der ganz hM geteilt: Vgl. B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 236 („Verhinderung von Straftaten, die von einer bestimmten Person in Zukunft drohen“); ähnlich BVerfG, Urteil vom 5.2.2004 (2 BvR 2029/01), Leitsatz 1a) und Abs. 74; BGH, StV 2000, S. 254 ff.; A. Dessecker, Gefähr359
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auch anderweitig festzustellende Gemeingefährlichkeit des Täters. Art und Maß der sichernden Maßnahme richteten sich dementsprechend nicht nach der Schuld, sondern nach Art und Dauer der Gefährlichkeit des Täters.362 Die sichernden Maßregeln haben seit ihrer Einführung im Jahre 1933 nun allerdings, anders als diese Umschreibung ihres Wesens es vermuten ließe, nicht den Status reiner Präventivmaßnahmen, sondern wurden „als zweite Spur“ der Rechtsfolgen einer Straftat in das StGB integriert.363 Sie treten damit als mögliche Unrechtsfolge neben die Strafe, teilen ihr Erfordernis einer bereits begangenen Straftat, unterscheiden sich aber im Übrigen von ihr in folgenden wesentlichen Punkten:364 • Durch ihre Vorbeugungsaufgabe, die unabhängig von der Tatschuld ist, also durch ihren spezifischen Zweck der Gefahrenabwehr im Hinblick auf die Begehung weiterer Straftaten, • durch ihre Abhängigkeit von der Zweckerreichung insofern, als dass sie aufgehoben werden müssen, sobald die Gefährlichkeit des Täters nicht mehr besteht, • durch das Subsidiaritätsprinzip, dass als Ausformung des Verhältnismäßigkeitsprinzips365 dazu führt, dass sie nur angeordnet werden dürfen, wenn keine milderen Mittel geeignet sind, die Gefahr weiterer Straftaten auszuschließen, • durch ihre Tendenz zu unbestimmter Dauer und • durch das Vorhandensein bestimmter Persönlichkeitszüge des Betroffenen („Hang“), aus denen sich die spezifische Gefährlichkeit ergeben muss. Sichernde Maßregeln (insbesondere die Sicherungsverwahrung) sind nach geltendem Recht damit einerseits Rechtsfolgen schuldhaft-deliktischen Verhallichkeit und Verhältnismäßigkeit (2004), S. 17 (der die Maßregeln als „individualpräventiv“ kennzeichnet); T. Mushoff, Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung (2008), S. 204–205; SK-Sinn, § 61, Rn. 2; LK-Schöch, Vor § 61, Rn. 29; MüKo-Radtke, Vor §§ 38 ff., Rn. 69; Sch/Sch-Stree/Kinzig, Vorbem. §§ 61 ff., Rn. 2. 362 Zusammenfassend Fischer, Vor § 61, Rn. 1 und § 66, Rn. 2. 363 Das RStGB (1871) kannte diese „Zweispurigkeit“ noch nicht, sondern sah als Rechtsfolge einer Straftat allein die Strafe vor. Mit dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher vom 24.11.1933 (RGBl. I, S. 995) wurden die Maßregeln als selbständige Rechtsfolgen neben der Strafe in das StGB eingeführt (vgl. SK-Sinn, § 61, Rn. 1). Zu der dieser Gesetzesänderung vorausgehenden Diskussion siehe E. Kohlrausch, „Sicherungshaft. Eine Besinnung auf den Streitstand.“ ZStW 44 (1924), S. 21 ff. 364 Zusammenfassung ist orientiert an LK-Schöch, Vor § 61, Rn. 37. 365 Für die Maßregeln der Besserung und Sicherung ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit ausdrücklich in § 62 StGB geregelt: „Eine Maßregel der Besserung und Sicherung darf nicht angeordnet werden, wenn sie zur Bedeutung der vom Täter begangenen und zu erwartenden Taten sowie zu dem Grund der von ihm ausgehenden Gefahr außer Verhältnis steht.“ Vgl. auch A. Dessecker, Gefährlichkeit und Verhältnismäßigkeit (2004), S. 331 ff.
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tens,366 gehen also von einem voll verantwortlichen, zurechnungsfähigen Täter aus und damit von einem vernünftigen Co-Subjekt, das nicht naturhaft-konstitutionell (etwa durch Krankheit) daran gehindert ist, das Unrecht seiner Tat einzusehen und sich dieser Einsicht gemäß zu verhalten. Andererseits setzen sie einen feststellbaren „Hang“ zur Begehung von Straftaten voraus, der den Täter trotz grundsätzlich bestehender Unrechtseinsichtsfähigkeit dazu bewegt, wiederholt gegen seine eigene Vernunfteinsicht zu handeln. In dem „Hang“ können sich Selbstkorrumpierung, soziale Fehlentwicklungen und damit verbundene Haltlosigkeit manifestieren; er sorgt aber nicht für einen Verantwortungsausschluss. Während die Strafe das begangene schuldhafte Unrecht auszugleichen hat und ihr Maß wesentlich nach dem Grad der Schuld bestimmt wird (§ 46 Abs. 1 S. 1 StGB), sollen die sichernden Maßnahmen den Straftäter daran hindern, zukünftig erneut Unrecht zu begehen, wobei sich ihr Maß im Prinzip nur danach bestimmen lässt, inwiefern der Täter (weiterhin) für „gefährlich“ gehalten wird (§ 67d Abs. 3 S. 1 StGB, § 68c Abs. 2 und Abs. 3 StGB); damit ist eine potentiell unendliche Dauer des präventiven Freiheitseingriffs möglich. Beide Straftatfolgen können nacheinander zur Anwendung kommen, so dass sich nach der Verbüßung der schuldangemessenen Strafe je nach individueller Prognose eine dauerhafte Sicherungsverwahrung oder Führungsaufsicht anschließen kann. Aus Sicht des Betroffenen kann also eine Wiederkehr in Freiheit vollkommen ungewiss sein. Die systematisch zweifelhafte Zwitterstellung367 zwischen Unrechtsverhinderung und Straftatfolge, die Erheblichkeit des Freiheitseingriffs sowie die prinzipielle Maßlosigkeit der sichernden Maßregeln führen zu spezifischen Legitimationsproblemen,368 deren Lösung entweder vom Grundgedanken der Strafe oder vom Grundgedanken der Prävention her angegangen werden muss. Die konsequente Begründung der Strafe als Ausgleich schuldhaft begangenen Unrechts zur Wiederherstellung des Rechts in seiner allgemeinen und besonderen Dimension369 trägt die Maßregeln der Besserung und Sicherung als Präventions366 Maßregeln, die nicht voll verantwortlich handelnde Täter treffen (z. B. Unterbringung in einem psychiatrischen Krankenhaus, § 63), werden hier wegen des die Arbeit leitenden Interesses an allgemeinen Prinzipien der Unrechtsprävention, insbesondere im Bereich der Terrorismusprävention, nicht genauer behandelt. 367 Diesen Begriff wählt auch T. Hörnle, „Verteidigung und Sicherungsverwahrung“ StV 6/2006, S. 383 (384). 368 G. Stratenwerth, „Zur Rechtfertigung freiheitsbeschränkender sichernder Maßnahmen“ ZStrR 105 (1988), S. 105, hat das Problem der Legitimation zu Recht als „Grundfrage des Rechts der freiheitsbeschränkenden Maßnahmen“ bezeichnet. 369 Zu dieser Begründung schon ausführlich K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der kantischen Rechtslehre (2005), S. 129 ff.; grundlegend u. a. M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986); ders., „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), S. 11 ff.; K. Seelmann, „Wechselseitige Anerkennung und Unrecht, Strafe als Postulat der Gerechtigkeit?“ ARSP 79 (1993), S. 228 (230); E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ ZStW 97 (1985), S. 786 ff.; R. Zaczyk, „Staat und Strafe –
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mittel nicht, weil sie gerade unabhängig von der Schuld des Täters und nicht als Unrechtsausgleich verhängt werden.370 Soll die Begründung gleichwohl vom Gedanken der Strafe abgeleitet werden, so sind die Sicherungsmaßregeln nicht als schuldunabhängige Gefährlichkeitsmaßregeln, sondern als mit der Tatschuld des Täters immanent verbundene Teile der Strafgerechtigkeit einzuordnen, indem der „Hang“ zur Begehung von Straftaten als habituelles Moment der Entscheidung zum Unrecht im Rahmen der Schuld des Täters berücksichtigt wird und damit auch verschärfte Strafen rechtfertigt.371 Begründungen der Strafe, die ihrerseits auf den Präventionsgedanken abstellen, sind in sich widersprüchlich und damit schon im Ansatz ungeeignet, Strafe zu legitimieren.372 Folgerungen aus diesen Strafzweckansätzen für die Maßregeln sind folglich schon ihrer Prämisse nach zweifelhaft.373 Eine tragende eigenständige Begründung des sichernden (präventiven) Freiheitsentzugs steht in Rechtsprechung und bisheriger Fachliteratur noch aus. Zwei grundsätzliche Herangehensweisen werden vertreten: Erstens die „Begründung“ Bemerkungen zum sogenannten ,Inselbeispiel‘ in Kants Metaphysik der Sitten“ (1999), S. 73 ff. 370 In diesem Sinne auch T. Mushoff, Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung (2008), S. 204–205 und H. Radtke, „Schuldgrundsatz und Sicherungsverwahrung“ GA 2011, S. 636 (640 ff.). 371 So M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 80 ff.; ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 55 ff.; ders., „Die Aufhebung der Sicherungsmaßregeln durch die Strafgerechtigkeit“ (2007), S. 273 ff.; zustimmend D. Klesczewski, „Strafen statt Verwahren!“ HRRS 9/2010, S. 394 (insbesondere 399 ff.), mit Verweis und kritischer Begutachtung der jüngeren Rechtsprechung des EGMR und des BVerfG); ders., Strafrecht Allgemeiner Teil, § 1, Rn. 27–30. Auch Fischer, § 66, Rn. 3, weist darauf hin, dass die „Gewohnheit, Straftaten zu begehen“ sehr wohl etwas mit der Schuld des Täters zu tun habe (wer das Gegenteil behaupte, folge einer „wunderlichen ,Theorie‘ “), was sich im Übrigen auch an der regelmäßig strafschärfenden Bewertung des Rückfalls und der Unbelehrbarkeit zeige. Im Grundgedanken schon ähnlich H. Mayer, Strafrechtsreform für heute und morgen (1962), S. 166. und ders., Strafrecht Allgemeiner Teil (1967), § 49, II. (gute Darstellung von Mayers Ansatz bei LK-Hanack, 11. Auflage (1992), § 66, Rn. 8). Dezidiert gegen einen solchen Ansatz aber G. Stratenwerth, „Zur Rechtsstaatlichkeit der freiheitsentziehenden Massnahmen im Strafrecht. Eine Kritik des geltenden Rechts und des Entwurfs 1965 für eine Teilrevision“ ZStrR 82 (1966), S. 337 (345). Zum Ansatz Köhlers genauer unten im Text S. 405 ff. 372 Vgl. dazu schon oben in dieser Arbeit bei Fn. 227 und 276. Zur Begründung K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der kantischen Rechtslehre (2005), S. 157 ff. (insbesondere S. 161 ff., m.w. N.). 373 Zu den gedanklichen Ursprüngen des Maßregelrechts in der Theorie der Spezialprävention Franz von Liszts und deren Ausgestaltung durch Carl Stooss vgl. W. Frisch, „Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem“ ZStW 102 (1990), S. 343 (345 ff.). Frisch weist zutreffend darauf hin, dass die „gewichtigsten der gegen das Maßregelkonzept vorgebrachten Einwände in Wahrheit nicht nur dieses, sondern auch die individualpräventive Zweckstrafe treffen. Dies gilt für die Frage, ob es rechtsethisch haltbar ist, Personen im Interesse anderer die Freiheit zu nehmen, ebenso wie die prognostischen Probleme oder die Schwierigkeiten der Feststellung der für die Diagnosen und Prognosen benötigten Daten im Prozess.“ (S. 354).
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aus dem „überwiegenden Gemeininteresse“ (dazu unter aa)) und zweitens die Vorstellung, dass bestimmte Straftäter „infolge schlechter Anlagen, Lastern und Gewohnheiten nicht mehr hinreichend mächtig“ sind, ihre „volle soziale Freiheit“ zu beanspruchen374 und dementsprechend in dieser Freiheit auch beschränkt werden dürfen (dazu bb)). Beide Ansichten können bei näherer Betrachtung als Legitimationsansätze nicht überzeugen. Aus diesem Grund hält Michael Köhler eine Rechtfertigung der sichernden Maßregeln aus dem Gedanken der Prävention überhaupt für unmöglich (dazu unter cc)). Dem ist nach der hier vertretenen Ansicht jedoch nur bedingt zuzustimmen. Unter dd) schließen sich deshalb Überlegungen zu den Kriterien und Grenzen legitimer Sicherungsmaßregeln aus der Perspektive eines – im Grundsatz auch Köhlers Überlegungen zugrunde liegenden – freiheitlichen Rechtsverständnisses an. aa) Legitimation durch überwiegendes Gemeininteresse Nach dem wohl herrschenden Erklärungsansatz375 ist die Rechtfertigung sichernder Maßregeln mit dem Hinweis auf das Gemeininteresse an der Verbrechensverhütung bereits geleistet. Die Maßregeln seien zulässig, wenn das „Gemeininteresse gewichtiger ist als die aufzuopfernden Interessen des Individuums“ 376. Die Rechtfertigung soll sich danach aus dem „Prinzip des überwiegenden Interesses“ nach folgenden Grundsätzen ergeben:377 Bei jeder vorbeugenden Maßnahme liege ein Kollisionsfall vor, bei dem der Gesetzgeber von zwei widerstreitenden Interessen nur eines berücksichtigen und schützen könne. Sinnvollerweise müsse er sich dann für das höherwertige entscheiden. So stehe auf der einen Seite das Sicherungsbedürfnis der Gesellschaft, auf der anderen die Persönlichkeitsrechte, in die zu dessen Befriedigung eingegriffen werden müsse. Die Kollision sei durch Abwägung zu lösen, die dann zu einer Rechtfertigung der 374
Dazu H. Welzel, Das deutsche Strafrecht, S. 244 ff. Vgl. F. Nowakowski, „Zur Rechtsstaatlichkeit der vorbeugenden Maßnahmen“ (1963), S. 98 (103 ff.); ihm folgend G. Stratenwerth, „Zur Rechtsstaatlichkeit der freiheitsentziehenden Massnahmen im Strafrecht. Eine Kritik des geltenden Rechts und des Entwurfs 1965 für eine Teilrevision“ (a. a. O.), S. 346 ff.; ders., „Zur Rechtfertigung freiheitsbeschränkender sichernder Maßnahmen“ (a. a. O.), S. 114; aus der neueren Literatur: W. Frisch, „Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem“ (a. a. O.), S. 129–132 (mit Hinweis auf die Schutzpflicht des Staates); J. Kinzig, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand (1996), S. 34 ff.; LKSchöch, Vor § 61, Rn. 38; C. Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Bd. I, § 3, Rn. 66; Sch/Sch-Stree/Kinzig, Vorbem. §§ 61 ff., Rn. 2; aus der Rechtsprechung BVerfGE 109, 174 ff. (mit bloßem Verweis auf die „Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit des Individuums“); kritische Darstellung m.w. N. bei T. Mushoff, Strafe – Maßregel – Sicherungsverwahrung (2008), S. 252 ff. 376 Formulierung von J. Kinzig, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand (1996), S. 34. 377 So F. Nowakowski, „Zur Rechtsstaatlichkeit der vorbeugenden Maßnahmen“ (1963), S. 103 ff. 375
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vorbeugenden Maßnahme führe, wenn sie „auf einer richtigen Wertentscheidung beruht“ 378. Das Gewicht des kriminalpolitischen Bedürfnisses müsse gegen das Gewicht der Rechtsguts- und Persönlichkeitsbeeinträchtigungen abgewogen werden und nur wenn die „Verbrechensverhütung eindeutig höherwertig ist, kann sie die Maßnahme rechtfertigen“. Dabei lägen „Wert und Würde des Menschen (. . .) mit ihrem vollen Gewicht auf der einen der Waagschalen. Je höher sie von der Rechtsordnung eingeschätzt werden, umso enger wird der Kreis der Gefahren gezogen sein, gegen die vorbeugende Maßnahmen in Betracht kommen, und um so sorgfältiger wird darauf geachtet werden, dass sie vor der Kernsubstanz der Persönlichkeit haltmachen. Ist es gewährleistet, dass der Mensch in seiner Persönlichkeit, ihrer Entwicklung und Entfaltung voll gewertet wird, so verliert die Befürchtung, dass er zum ,bloßen Objekt‘ erniedrigt werde, ihren materiellen Gehalt.“ 379 Bei der Ermittlung des erforderlichen „Übergewichts“ der Interessen der Gemeinschaft gegenüber den Persönlichkeits- und Freiheitsrechten des Betroffenen sollen folgende Faktoren zu berücksichtigen sein:380 Erstens das „Rangverhältnis der einander gegenüberstehenden Interessen“, also vor allem die Schwere der drohenden Delikte im Verhältnis zu einer potentiell lebenslangen Haft; zweitens die Größe der Gefahr, das heißt der Grad der Wahrscheinlichkeit, mit der zukünftige Straftaten zu erwarten sind; drittens die Härte des Eingriffs durch die Maßregel, die sich insbesondere daran zeigt, dass der Eingriff seinem Maß nach unbestimmt bleibt; und viertens die Form des Vollzugs, der allein am Sicherungszweck ausgerichtet sein muss. Eine Zusammenfassung des damit aufgestellten „Prüfungsmaßstabs“ für die Rechtfertigung sichernder Maßregeln findet sich bei Kinzig: „Insoweit ist die Sicherungsverwahrung nur zu rechtfertigen, wenn der reale Zugewinn an öffentlicher Sicherheit die individuelle Einbuße des Rückfalltäters übersteigt, mithin das Interesse an der Wahrung der öffentlichen Sicherheit in Gestalt eines nachweisbaren Präventionserfolges die Lasten mehr als aufwiegt, die der Verwahrte durch die Erduldung seines Freiheitsentzuges erbringt.“ 381 378
A. a. O., S. 103. A. a. O., S. 105. 380 In Ausarbeitung des Grundgedankens Nowakowskis hat G. Stratenwerth, „Zur Rechtsstaatlichkeit der freiheitsentziehenden Massnahmen im Strafrecht. Eine Kritik des geltenden Rechts und des Entwurfs 1965 für eine Teilrevision“ (a. a. O.), S. 346 ff. die folgenden Faktoren benannt. An anderer Stelle weist er zutreffend darauf hin, dass es sich bei den konkretisierenden Faktoren im Prinzip um Ausgestaltungen des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes handelt (ders., „Zur Rechtfertigung freiheitsbeschränkender sichernder Maßnahmen“ (a. a. O.), S. 114, 115). 381 J. Kinzig, Die Sicherungsverwahrung auf dem Prüfstand (1996), S. 36. Erst nach „Abschätzung des Zugewinns an kollektiver Sicherheit einerseits und des Verlustes der Individualfreiheit andererseits“ könne eine Aussage darüber getroffen werden, ob das Prinzip des überwiegenden Interesses eine tragfähige Grundlage für die derzeitige Praxis der Sicherungsverwahrung liefere (ebenda, S. 39). Kinzig selbst sieht dies vor allem 379
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Nach dem beschriebenen Ansatz steht und fällt das Konzept sichernden Freiheitsentzugs also mit dem Aufweis des „überwiegenden Gemeininteresses“ an der Unrechtsverhinderung im Verhältnis zur personalen Freiheitsbeeinträchtigung des potentiellen Täters (die „Verbrechensverhütung (muss) eindeutig höherwertig“ sein). Diese Lösung der Abwägung von Gemein- und Individualinteressen verabsolutiert den Gedanken der Verhältnismäßigkeit als Legitimationskriterium; sie übersieht dadurch das eigentliche Rechtsproblem freiheitskonformer Präventivmaßnahmen. Denn es ist nicht nur zweifelhaft, wie das „Überwiegen“ des Interesses der Gemeinschaft in einem konkreten Fall zu bestimmen ist, sondern auch, ob es als Begründung zulässigen präventiven Rechtszwangs überhaupt zureichen kann. Soll beispielsweise ein potentieller Täter aufgrund seiner individuellen Gefährlichkeitsprognose daran gehindert werden, in Zukunft bestimmte Straftaten – z. B. Sexual-, Gewalt- oder Tötungsdelikte – zu begehen, so ist ganz offen, inwiefern sich ein überwiegendes Interesse der Gemeinschaft im Verhältnis zum Freiheitsinteresse des einzelnen (der mit einem potentiell lebenslangen Freiheitsentzug rechnen muss) feststellen lässt. Soll maßgeblich sein, dass mehrere Opfer betroffen sein können, mit dem potentiellen Täter aber nur eine einzelne Person in seiner Freiheit betroffen ist? Soll maßgeblich sein, dass das drohende Unrecht gewichtiger ist, als die Freiheitsbeschränkung, die der Verdächtige zu ertragen hat? Woran wäre letzteres festzumachen? Wäre es bei (potentiell) lebenslangem Freiheitsentzug des möglichen Täters überhaupt je zu begründen – liegt doch das Höchstmaß dessen, was der Staat dem Einzelnen zwangsweise auferlegen kann, im lebenslangen Freiheitsentzug? Wie, an Hand welchen Maßstabs, soll erwiesen werden, dass „der reale Zugewinn an öffentlicher Sicherheit die individuelle Einbuße des Rückfalltäters übersteigt“? Wann lässt sich denn sagen, dass die „Wahrung der öffentlichen Sicherheit in Gestalt eines nachweisbaren Präventionserfolges die Lasten“, die „der Verwahrte durch die Erduldung seines Freiheitsentzuges erbringt,“ „mehr als aufwiegt“? Wie sehr man sich auch um konkretisierende Faktoren dieser Abwägung bemüht, der Grundfehler des fehlenden Abwägungsmaßstabs lässt sich dadurch nicht beseitigen: Es fehlt die Benennung des übergeordneten Prinzips, das jeder Abwägung voraus liegen muss, um mit ihrem Ergebnis eine staatliche Maßnahme als rechtens begründen zu können.382 Mit der bloßen „Wert“- oder „Interessensabwägung“ kann eine Hierarchie von „Wertigkeiten“ behauptet werden, aber ohne Kriterium für die „Höherwertigkeit“ bleibt der Prozess stets haltlos-relativ: Heute wird dieses höher geschätzt, morgen jenes, und gegen beides lässt sich solange nichts einwenden, wie nicht benannt ist, warum es zur jeweiligen Einschätzung kommt. Dies scheint auch den Vertretern unter dem Aspekt der Unsicherheit von Gefährlichkeitsprognosen und der Qualifikation eines Täters als „Hangtäter“ kritisch. 382 Vgl. auch M. Köhler, „Prozessrechtsverhältnis und Ermittlungseingriffe“ ZStW 1995 (107), S. 10 ff.
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der Abwägungslösung bewusst zu sein, denn in ihrer Argumentation kommt der Gedanke des notwendigen Kriteriums für die „Höherwertigkeit“ zumindest versteckt vor: Liegen auf der einen Seite die Sicherungsbedürfnisse der Gesellschaft und auf der anderen die Persönlichkeitsrechte des einzelnen, so soll die Legitimation der Maßnahme von einer Abwägung abhängen, „die auf einer richtigen Wertentscheidung beruht“ 383. Nun müsste aber ausgewiesen werden, was die Richtigkeit der „Wertentscheidung“ ausmacht – dass sie sich nicht ihrerseits aus einer Abwägung ergeben kann, ist dabei augenfällig. Der Grundfehler der herrschenden Ansicht liegt also darin, das Rechtsproblem „Legitimation präventiven Freiheitsentzugs unter den Bedingungen empirischer Unsicherheit“ mittels Abwägung lösen zu wollen. Nicht aber das Gegeneinanderhalten verschiedener Interessen, sondern die Herleitung und Ausarbeitung eines Prinzips ist notwendig, um das Begründungsproblem zu lösen. Nach den bisherigen Überlegungen zu den Grundlagen der Prävention384 steht soviel fest, dass maßgeblich für die Legitimation präventiven staatlichen Zwangs die mit ihm einhergehende Wahrung des auch den potentiellen Täter mitumfassenden freiheitlichen Rechts ist. Nur von diesem Prinzip ausgehend lässt sich auch dem Täter gegenüber erklären, dass er an der Begehung von Unrecht gehindert werden darf: Es ist das von ihm selbst mitkonstituierte Rechtsverhältnis zu anderen Rechtssubjekten (und allgemein gedacht zum Staat), das durch den präventiven Eingriff gewahrt werden soll. Der Maßstab der Verhältnismäßigkeit kann erst an dieser Stelle als Regulativ für das Maß des Eingriffs Bedeutung erlangen, nicht aber als eigenständige Begründung der Rechtmäßigkeit unrechtshindernden Zwangs. bb) Verlust der äußeren Freiheit als Folge mangelnder „innerer Freiheit“ (Welzel) Hans Welzel beginnt seinen Gedankengang zur Frage der Rechtfertigung sichernder Maßnahmen damit, dass er an den auch in der vorliegenden Arbeit ausgewiesenen Grundsatz erinnert, nach dem sich aus der Nützlichkeit oder Zweckmäßigkeit der Sicherungsmaßregel noch keineswegs die Rechtfertigung des Eingriffs gegen den einzelnen ergebe: „Die Ausmerzung (Vernichtung oder Unschädlichmachung) sozialschädlicher Menschen (Verbrecher, Geisteskranker, ansteckend Kranker, politisch Missliebiger) mag für den Gemeinschaftsschutz höchst zweckmäßig und wirksam sein, aber ob und inwieweit der Eingriff gegenüber dem Betroffenen gerechtfertigt werden kann, ergibt sich nicht aus der bloßen Nützlichkeit für die Allgemeinheit, sondern aus der sittlichen Zulässigkeit gegenüber dem Betroffenen. Da die Person niemals bloß als Mittel für einen beliebigen Zweck benutzt werden darf, genügt es für die Zulässigkeit eines 383 Vgl. F. Nowakowski, „Zur Rechtsstaatlichkeit der vorbeugenden Maßnahmen“ (1963), S. 103. 384 Vgl. die begründenden Abschnitte oben, S. 342 ff.
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Eingriffs in die Sphäre der Person nicht, dass der Eingriff für irgendwelche allgemeineren Zwecke nützlich oder erforderlich ist.“
Zweckmäßigkeitserwägungen alleine seien untauglich, Sicherungsmaßregeln zu rechtfertigen, da diese sie „bestenfalls als nützlich und opportun erweisen, aber niemals ihre ethische Unangreifbarkeit festzustellen vermögen.“ Nach Welzel müsse der Begründungsansatz deswegen anders lauten: Allen Sicherungsmaßregeln liege der allgemeine sozialethische Gedanke zugrunde, dass am Gemeinschaftsleben nur der ungeschmälert teilnehmen kann, der sich von den Normen des Gemeinschaftslebens leiten lassen kann. Alle äußere oder soziale Freiheit rechtfertige sich letztlich aus dem Besitz der inneren oder sittlich gebundenen Freiheit. Wer dieser inneren, von sittlicher Selbstbestimmung gelenkten Freiheit überhaupt nicht fähig (wie Geisteskranke) oder infolge schlechter Anlagen, Lastern und Gewohnheiten nicht mehr hinreichend mächtig ist, könne die volle soziale Freiheit nicht beanspruchen. Hieraus rechtfertige sich das Institut der Sicherungsverwahrung gegenüber Zustandsverbrechern. Welzel ist in seinem Grundanliegen insofern zuzustimmen, dass die Sicherungsmaßregel „gegenüber dem Betroffenen gerechtfertigt“ werden können muss. Grund für dieses Erfordernis ist, dass der Betroffene als vernünftiges Co-Subjekt in Ansatz gebracht wird, welches die gemeinsame Rechtsordnung mitkonstituiert und -trägt, weil es die konstitutionelle Fähigkeit zur Einsicht in die Notwendigkeit freiheitlichen Rechts hat. Zwar mag das Subjekt durch wiederholte Straftaten gezeigt haben, dass es sich immer wieder selbst korrumpiert, dadurch ist in den Fällen verantwortlicher Täter aber nicht ihre Vernunftseinsicht überhaupt in Frage gestellt.385 Für die Rechtfertigung ist also nicht die Annahme maßgeblich, dass den Tätern die Fähigkeit zur Selbstbestimmung fehlt (dann dürften sie im Übrigen nicht als schuldige Straftäter bestraft werden),386 sondern vielmehr die Möglichkeit der vernünftigen, auch dem Täter einsichtigen Begründung der Notwendigkeit unrechtshindernden Zwangs.
385 Für die Fälle nichtverantwortlicher Täter (also solcher, die konstitutionell nicht in der Lage sind, vernünftig zu handeln) müsste ein zusätzlicher Begründungsgang entwickelt werden, den die vorliegende Arbeit wegen ihrer Ausrichtung an der Problematik von terroristisch motiviertem Unrecht, bei dem in der Regel von vollverantwortlichen Tätern auszugehen ist, nicht mehr leisten kann. Welzels Ansatz könnte in diesen Fällen ein erster Schritt sein, denn die Rechtsgemeinschaft ist tatsächlich angewiesen und ausgerichtet auf sittlich freie Subjekte, so dass sie im Umgang mit konstitutionell Unfreien von vorneherein deren äußerlich beschränkten Freiheitsraum unterstellt (z. B. durch ausgeschlossene oder verminderte Geschäftsfähigkeit, die Notwendigkeit von Betreuung, Aufsicht oder notfalls auch sichernder Unterbringung). Ähnlicher Gedanke bei D. Klesczewski, „Strafen statt Verwahren!“ (a. a. O.), S. 401. M. Köhler denkt hier in die Richtung einer Rechtfertigung, die auf den „Notstand einer nicht mehr durch das autonome Rechtsverhältnis vermittelten Beziehung bzw. Kollision Bedacht“ nimmt (Der Begriff der Strafe (1986), S. 81). 386 Ähnlich schon M. Köhler, Der Begriff der Strafe (1986), S. 82 (Fn. 133).
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cc) Kritik der Sicherungsmaßregeln nach Michael Köhler Es ist diese Grundeinsicht, dass es auch bei der Unrechts-Prävention immer um den Umgang der Rechtsgemeinschaft mit einsichtsfähigen Vernunftsubjekten geht, die Michael Köhler dazu bewegt, eine Begründung der Sicherungsmaßregeln aus dem Gedanken der Prävention überhaupt für unmöglich zu halten.387 Er sieht in der Tatsache, dass Schuld volle Unrechtseinsicht und Freiverantwortlichkeit voraussetzt, den Grund dafür, jegliche Argumentation, die am gleichzeitig vorhandenen Mangel der Einsichtsfähigkeit ansetzt, abzulehnen. Dem ist insofern zuzustimmen, als dass nicht einerseits Zurechnungsfähigkeit und Verantwortlichkeit angenommen werden kann und gleichzeitig darauf abgestellt werden kann, dass der Täter im Sinne einer „Naturgefahr“ unberechenbar und damit als Vernunftsubjekt gar nicht mehr ansprechbar wäre. Mit der Reduktion des Subjekts auf eine reine Gefahrenquelle (wie sie in der Ansicht der hM anklingt) geschieht jedoch genau dies. Deswegen ist Köhler in diesem Teil seiner Argumentation darin zuzustimmen, dass die hM in sich widersprüchlich ist. Andererseits gibt die schuldhafte Begehung mehrerer Straftaten, also ein habituelles Unrechtsverhalten einer an sich vernünftigen Person, durchaus einen Grund dafür, dieser Person begreiflich zu machen, dass sich aus ihrem Verhalten die berechtigte Sorge der Rechtsgemeinschaft vor erneuten Unrechtstaten ergibt und dass es gilt, diese in der Zukunft zu verhindern. Der Präventionsgedanke ist insofern nicht überhaupt unvereinbar mit der Annahme vollverantwortlicher Unrechtstäter: Ihre Verantwortlichkeit ist zwar Gewähr dafür, dass sie überhaupt als vernunftzugänglich zu begreifen sind, nicht aber dafür, dass sie sich nicht doch unter bestimmten Bedingungen oder in bestimmten Situationen zum Unrecht hinreißen lassen. Wäre dem nicht so, dann könnte es für den Regelfall des zurechnungsfähigen, vernünftigen Co-Subjekts überhaupt keine legitimen Präventionsmaßnahmen geben – Zwang zur Unrechtsverhinderung wäre durch die vorausgesetzte Vernünftigkeit des potentiellen Unrechtstäters ihm gegenüber niemals als berechtigt auszuweisen, da ihm wegen seiner Vernünftigkeit ein Unrecht nicht zuzutrauen wäre. Der hier vorgeschlagene Weg zur Begründung präventiver Zwangsmaßnahmen unterscheidet sich damit wesentlich von der gängigen Auffassung, die in ihnen eine „Bannung“ oder „Domestizierung“ naturhafter Gefährlichkeit des Täters sieht. Im Gegenteil ist die schuldhafte Straftatverwirklichung eine Äußerungsform des freien Subjekts – wenn auch eine in sich widersprüchliche, d. h. der eigentlich vorhandenen Vernunfteinsicht in die Notwendigkeit eines intakten Rechtsverhältnisses im konkreten Fall widersprechende.388 Daraus ergibt sich 387
Vgl. dazu die Nachweise in Fn. 371. Zur Herleitung und Begründung dieses Unrechtsbegriffs siehe oben Teil 4, S. 247 ff. 388
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dann, dass der Maßstab der Legitimation präventiver Maßnahmen nicht (allein) ihre Effizienz zur „Gefahrenausschaltung“ sein kann; sicherungsverwahrte und sonstigen sichernden Maßnahmen unterworfene Personen sind keine gefährlichen Naturwesen,389 sondern vernunftbegabte Subjekte. Insofern kann die Legitimation präventiven Zwangs ihnen gegenüber nur gelingen, wenn sie, wie in der vorliegenden Arbeit ausgearbeitet, als mitkonstitutive Teilnehmer des ursprünglichen Rechtsverhältnisses wahr und ernst genommen werden, das heißt, wenn sich die Maßnahme ihnen gegenüber damit rechtfertigen lässt, dass auch das von ihnen mitbegründete Recht durch sie aufrechterhalten werden soll. Köhler ist allerdings darin zuzustimmen, dass eine erhöhte Schuld aus habitueller Straftatbegehung und eine daraus abgeleitete erhöhte Strafzumessung bei zusätzlicher Freiheitsbeeinträchtigung durch Präventivmaßnahmen zu einem Gerechtigkeitsproblem insbesondere im Hinblick auf das Maß der Freiheitsbeeinträchtigung führen muss. Die derweilige Praxis der Sicherungsverwahrung sieht vor, dass sich an die Strafverbüßung eine unbestimmte Zeit gleich gearteter Verwahrung anschließt, der Täter also zuerst wegen seiner persönlichen Schuld Strafe verbüßt und danach wegen prognostizierter Gefährlichkeit weiter, häufig auf unbestimmte Zeit, festgehalten wird. Köhler meint, dass ein „Gipfel der Widersprüchlichkeit“ darin liege, „(d)en identischen Täter zuerst tatschuldangemessen zu bestrafen, damit ausdrücklich als rechtsvernünftig zu bestätigen, und sodann unbestimmt sicher zu verwahren, darin implizit seine Rechtsvernunftssubjektivität und den Sinn strafrechtsvernünftiger Rechtsgeltungsrestitution auch für ihn leugnend.“ Köhler benennt hier zutreffend den schon oben beschriebenen Grundfehler der gängigen Maßregeltheorie, die in der unbestimmten Verwahrung eine reine Gefahrenabwehrmaßnahme sieht. Aber auch unter Zugrundelegung des dargestellten freiheitsgesetzlichen Präventivansatzes ist es problematisch, das Moment der Habitualität faktisch doppelt, und zwar in belastender Weise zu berücksichtigen: Als Grund der Schuldund Straferhöhung einerseits und der Präventivmaßnahme andererseits. Voraussetzung für legitime Präventivmaßnahmen ist, wie bereits herausgearbeitet,390 ein Wahrscheinlichkeitsurteil, das im Hinblick auf das potentielle Unrecht und den potentiellen Täter ausreichend konkretisiert ist, d. h. bei dem über die Feststellung einer (wenn auch erheblichen) Tatneigung hinaus das befürchtete Unrecht seinen Grundzügen nach umrissen ist. Das Moment der Habitualität allein kann ein solches konkretes Wahrscheinlichkeitsurteil jedoch nicht begründen, sondern liefert nur den Hinweis, dass weitere Ermittlungen, Beobachtungen 389 In diesem Sinne auch K. A. Hall, der nach eigener Aussage nicht darüber hinwegkomme, dass die „Sicherungsverwahrung (. . .) in dem Verbrecher nur den Schädling (sehe), den sie aus der Gemeinschaft der Menschen ausstoße („Sicherungsverwahrung und Sicherungsstrafe“ ZStW 70 (1958), S. 41 (54). 390 Vgl. oben S. 384 ff.
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und Aufsichtsmaßnahmen etc. gerechtfertigt und angezeigt sind.391 Dementsprechend lassen sich nach Verbüßung der Strafhaft zwar Maßnahmen der Führungsaufsicht, nicht aber die freiheitsintensive Sicherungsverwahrung allein mit der Habitualität des Unrechtsverhaltens begründen.392 Sicherungsverwahrung kommt dagegen dann in Betracht, wenn der Täter – u. U. unter den Augen der Führungsaufsicht – in das Vorbereitungsstadium einer erneuten Straftat eintritt, wobei zur Beurteilung der dann wahrscheinlich werdenden zukünftigen Tat berücksichtigt werden darf, dass der Täter sich in der Vergangenheit mehrfach in vergleichbaren Situationen gegen das Recht und für das Unrecht entschieden hat. Das Moment der Habitualität hat demgemäß Bedeutung für die Feststellung der Unrechtswahrscheinlichkeit, insbesondere dafür, ob eine Präventionsbefugnisse auslösende Deliktsvorbereitungsphase vorliegt, kann aber nicht für sich genommen freiheitsintensivste Präventivmaßnahmen wie die Sicherungsverwahrung begründen. Hinzukommen muss, dass die Ausgestaltung der sichernden Maßnahmen, d. h. auch der Sicherungsverwahrung, dem Unrechtsverdächtigen ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit belässt. Es ist insofern zwingend, dass die Sicherungsverwahrung im Verhältnis zur Strafhaft grundsätzlich anderen Prinzipien folgt – das betrifft die Art der Freiheitsbeschränkung (beispielsweise den Vollzug in zwar gesicherten, nicht aber haftähnlichen Anstalten), den Zugang zu Ausbildung und sinnstiftender Arbeit, die Freizeitgestaltung sowie die Teilhabe an familiären und freundschaftlichen Beziehungen. Sichernde Maßregeln dürfen keine über den Sicherungszweck hinausgehende Freiheitsbeeinträchtigung beinhalten. dd) Kriterien legitimer Sicherheitsmaßregeln nach einem freiheitlichen Rechtsverständnis Aus den oben herausgearbeiteten Kriteriengruppen für die Bestimmung rechtmäßigen Unrechtshinderungszwangs393 (1. Wahrscheinlichkeitsfeststellung, 2. materielle Kriterien und Grenzen der präventiven Freiheitsbeeinträchtigung, 3. Rechtsschutz) lassen sich nun für die Sicherungsverwahrung und die Führungsaufsicht als besondere Anwendungsfälle präventiven Freiheitsentzugs bzw. präventiver Freiheitsbeschränkung folgende Voraussetzungen und Grenzen ableiten: 1. Die Ermittlung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Rechtsbrüche durch den Täter darf sich nicht nur auf wissenschaftlich gesicherte, allgemeine Prognosetechniken (insbesondere die Eingruppierung in verschiedene „Wahrscheinlich391 Ähnlich schon R. v. Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei (1866), S. 30, 31, Fn. 8. 392 Kritisch insofern auch H.-U. Paeffgen, „Bürgerstrafrecht, Vorbeugerecht, Feindstrafrecht?“ (2009), S. 81 (101). 393 Vgl. die Zusammenfassung auf S. 383 ff.
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keitsgrade“) stützen, sondern auch und gerade auf die besonderen persönlichen Umstände des bereits mehrfach straffällig gewordenen Täters, die auf den „Hang“ zur Straftatbegehung hinweisen. Dafür ist eine genaue Rekonstruktion der wiederkehrenden tätlichen Selbstwidersprüchlichkeit durch Unrechtstaten notwendig, die sich aus der Vita des Betroffenen ablesen lassen. Es ist Frisch darin zuzustimmen, dass in dieser Hinsicht keinesfalls statistische, bloß allgemeine Aussagen über die Wahrscheinlichkeit erneuten Unrechts ausreichen und auch nicht die Begehung bloß einer Tat.394 Es ist vielmehr notwendig, „einen Befund vorzuweisen, der uns in den Stand setzt, der Person überzeugungskräftig zu sagen, warum uns bei ihr das nicht mehr reicht, was sonst ausreichend erscheint“,395 warum also das Basisvertrauen in das vernünftige Verhalten der Person, das Grund für jeden rechtlichen Zusammenhang ist, dermaßen erschüttert ist, dass es seiner Stabilisierung und Sicherung durch Freiheitsbeeinträchtigungen zum Zwecke der Unrechtsverhinderung bedarf. Diese „Diagnose“ des Verlustes von Basisvertrauen kann nur dann gestellt werden, wenn die „bisherige Lebensführung der Person deutlich macht, dass sie von d(ies)er Fähigkeit (zur Normbefolgung, K. G.) in bestimmten Situationen keinen Gebrauch macht, insoweit vielmehr von der Rechtsordnung abweichend handelt.“ 396 Es ist der Hinweis auf seine eigene dauernde Selbstwidersprüchlichkeit durch konkrete Unrechtstaten, der dem betroffenen Subjekt gegenüber deutlich macht, warum die Präventivmaßnahme ihm gegenüber verhängt werden soll. Es sind deshalb, wie Frisch zutreffend ausführt, eine „Reihe von vergleichbaren Straftaten, die im Grunde nur durch eine in bestimmter Hinsicht vorhandene Entscheidungshaltung oder eine manifeste, herausgesteigerte Schwierigkeit zu normkonformem Verhalten in bestimmten Situationen erklärt werden können,“ 397 notwendig. Zudem müssen sich für die Frage der „Zukunftsrelevanz“ der bisherigen Vita mit Frisch folgende Fragen klären lassen:398 Ob der Wiedereintritt solcher Situationen, in denen der Täter bisher falsch gehandelt hat, eine realistische Möglichkeit darstellt, ob vom Fortbestand der entsprechenden Entscheidungshaltung oder sonstiger Dispositionen zu normwidrigem Verhalten ausgegangen werden darf und ob der Täter die Fähigkeit zur Ausführung der Tat noch hat oder bereits verloren hat. Da das Wahrscheinlichkeitsurteil im Hinblick auf das potentielle Unrecht ausreichend konkretisiert sein, das befürchtete Unrecht also in seinen Grundzügen 394 W. Frisch, „Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem“ ZStW 102 (1990), S. 343 (374). 395 Ebenda. 396 Ebenda. 397 Ebenda, vgl. auch W. Frisch, Prognoseentscheidungen im Strafrecht (1983), S. 72 f. (nur wahrscheinliche besondere Persönlichkeitsstruktur des Täters genügt nicht), 118 ff. (Rückschluss von der Begehung mehrerer Straftaten in bestimmten Situation und unter bestimmten Voraussetzungen auf die Persönlichkeitsstruktur des Täters). 398 W. Frisch, „Die Maßregeln der Besserung und Sicherung im strafrechtlichen Rechtsfolgensystem“ ZStW 102 (1990), S. 343 (375).
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umrissen sein muss, genügt es für präventive Maßnahmen im Übrigen nicht, eine bloße Unrechtsneigung festzustellen. Die aus der Betrachtung der Vergangenheit (und der daraus erkennbaren Persönlichkeitsstruktur) abgeleiteten Anhaltspunkte für zukünftiges Straftatverhalten müssen so gewichtig sein, dass sich sagen lässt, dass sich der Täter in vergleichbaren Lebenssituationen ständig vernunftwidersprüchlich verhalten, sich zum Unrecht „hat hinreißen lassen“, und dass deswegen jedenfalls dann von erneuter Unrechtsbegehung ausgegangen werden muss, wenn der Eintritt solcher Situationen nicht verhindert wird oder sich die Persönlichkeitsstruktur des Täters gefestigt hat. Eine solche Feststellung rechtfertigt dann allerdings nicht zwangsläufig schon die freiheitsintensivste Maßnahme der Sicherungsverwahrung, sondern in der Regel nur präventive Aufsichtsmaßnahmen der Behörde nach Art der Führungsaufsicht. So kann es dem Täter verboten werden, sich bestimmten Situationen, Gelegenheiten oder Anlässen auszusetzen (beispielsweise sich bestimmten Personen oder Orten zu nähern, bestimmte Tätigkeiten auszuüben, etc.). Er muss seine Beaufsichtigung und Beobachtung (u. U. auch seiner Kommunikation und seiner Kontakte zu potentiellen Opfern, Mittätern oder krimineller bzw. terroristischer Organisationen) seitens der Behörde dulden. Eine präventive Haft kommt dagegen nur dann in Betracht, wenn zusätzlich zur Vita des Täters Hinweise auf ein konkretes, zumindest in Umrissen beschreibbares zukünftiges Delikt vorliegen, beispielsweise wenn die Beobachtung seiner Person (als Maßnahme der Aufsicht nach Entlassung aus der Strafhaft) ergibt, dass er sich den (unrechtshindernden) Weisungen widersetzt und erkennbar erneut Unrecht plant bzw. vorbereitet. 2. Materielle Grenzen für präventive Freiheitsbeeinträchtigungen ergeben sich, wie oben herausgearbeitet, a) aus den allgemeinen Prinzipien staatlicher Zwangsanwendung, b) aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie c) aus der Eigenart präventiv-rechtlichen Staatshandelns in Abgrenzung zum Handeln im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts: a) Nach den allgemeinen Prinzipien ist sowohl die Sicherungsverwahrung als auch die weniger beeinträchtigende Führungsaufsicht so auszugestalten, dass keine mit Zwang verbundene Einwirkung auf die innere Willenssphäre des Betroffenen stattfindet und dass der Betroffene würdig untergebracht bzw. behandelt wird – dass er insbesondere keine über den Sicherungszweck hinausgehende Freiheitseinschränkungen erfährt und eine realistische Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit hat (therapeutische Angebote schließt dies selbstverständlich ebenso wenig aus wie etwa freiwillige Berufs- und Bildungs- sowie Sozialmaßnahmen). Für die besonders freiheitsrelevante Sicherungsverwahrung bedeutet dies, dass eine Höchstdauer anzuordnen ist, die nicht beliebig erweitert werden darf, wie es derzeit nach § 67d Abs. 3 StGB möglich ist. Wie auch im Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur lebenslangen Freiheitsstrafe festgestellt, ist es mit einem die
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Würde des Einzelnen achtenden Freiheitsentzug unvereinbar, die Dauer der Maßnahme unbeschränkt zu lassen.399 b) Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlangt, dass der Freiheitseingriff, den der Betroffene hinzunehmen hat, nicht außer Verhältnis zum Grad der Wahrscheinlichkeit und zur Schwere des zu erwartenden Unrechts stehen darf. Hier gelten die konkretisierenden Faktoren, die die hM zur Feststellung des „überwiegenden Gemeininteresses“ entwickelt hat. Dass für einen gewichtigen Freiheitsentzug wie die Sicherungsverwahrung die Befürchtung etwa wiederholter Vermögensdelinquenz nicht ausreicht, lässt sich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit begründen; notwendig ist insofern drohendes Schwerstunrecht gegen das Leben, die körperliche oder sexuelle Integrität, die Existenz der Gesamtstaatlichkeit oder die Unversehrtheit natürlicher Lebensgrundlagen bei drohenden irreversiblen Schädigungen.400 Bei der Führungsaufsicht lässt sich die Qualität des Freiheitseingriffs staffeln und auch hier gilt, dass das drohende Unrecht zum gewählten Mittel im Verhältnis stehen muss. c) Aus der Eigenart der Prävention im Verhältnis zum Strafrecht ergibt sich für den Grad der zu duldenden Freiheitsbeeinträchtigung durch Sicherungsverwahrung bzw. Führungsaufsicht, dass er sich an der Notwendigkeit zur Unrechtsverhinderung zu orientieren hat. Freiheitseingriffe, die ein Subjekt aus präventiven Gründen zu dulden hat, müssen aber jedenfalls qualitativ und quantitativ deutlich unterhalb der Schwelle verbleiben, denen es im Falle des Begehens der Tat ausgesetzt wäre.401 Sicherungsmaßnahmen, die sich der verbüßten Haftstrafe anschließen, dürfen also insgesamt (d. h. Führungsaufsicht und evtl. Sicherungsverwahrung) das Maß nicht überschreiten, dass gesetzlich als Sanktion für die Begehung des entsprechenden Delikts angeordnet ist. Ferner müssen die unrechtshindernden Maßnahmen immer einen engen zeitlichen Bezug zur potentiellen Tat haben, so dass sie nur für einen überschaubaren Zeitraum (maximal ein bis zwei Jahre) angeordnet werden dürfen. Nach Ablauf dieses Zeitraums muss eine erneute (ergebnisoffene) Überprüfung der Voraussetzungen der Präventivmaßnahme erfolgen; wiederum müssen für die Fortdauer sichernder Maßnahmen konkrete Hinweise auf zukünftig drohende Unrechtstaten gegeben sein. Dabei ist eine beliebig häufige Verlängerung der Dauer präventiver Maßnahmen durch die Festlegung eines bestimmten Höchstmaßes zu verhindern.402 399 BVerfGE 45, 187; in ständiger Rechtsprechung weist das BVerfG (beispielsweise: E 86, 288 (326 ff.)) ferner darauf hin, dass Art. 2 Abs. 2 GG verlangt, dass der Betroffene über das Ausmaß des Freiheitsentzugs nicht im Ungewissen gelassen wird. 400 Vgl. dazu in Auseinandersetzung mit dem Urteil des EGMR vom 17.12.2009 (Mücke v. Deutschland, Az. 19259/04) genauer D. Klesczewski, „Strafen statt Verwahren!“ HRRS 9/2010, S. 394 (399). 401 Siehe auch zu diesem Gedanken D. Klesczewski, „Strafen statt Verwahren!“ HRRS 9/2010, S. 394 (399, 400).
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Für die sichernde Verwahrung, die als freiheitsintensivste Maßnahme nur zulässig ist, wenn sich das zu verhindernde Unrecht konkret bestimmen lässt, bedeutet dies, dass sie ihrerseits maximal für ein bis zwei Jahre angeordnet werden darf, da sich bei längeren Zeiträumen im Vorfeld einer Tat kaum noch der Bezug zu einer konkret zu verhindernden Tat feststellen lassen wird. Nach Ablauf dieser Zeit ist fortdauernde Führungsaufsicht und u. U. – bei erneutem Zuspitzen der Unrechtsneigung und Umschlagen in eine Vorbereitungsphase – eine erneute Sicherungsverwahrung innerhalb der Höchstfrist möglich. Hinzu kommt, dass die Qualität der Freiheitsbeeinträchtigung sich allein am Sicherungszweck zu orientieren hat. Das bedeutet, dass dem Betroffenen ein möglichst freier Raum persönlicher Entfaltung verbleiben muss (beispielsweise zur Berufsausübung und Bildung, zur Freundschafts- und Familienpflege, zur Freizeitgestaltung) und die sichernden Maßnahmen (auch die Unterbringung) nur insofern greifen dürfen, wie sie gerade das befürchtete Unrecht physisch verhindern. Für die Sicherungsverwahrung bedeutet das, dass sie nicht wie eine Strafhaft ausgestaltet sein darf, sondern wesentlich stärker auf die Persönlichkeit des potentiellen Täters abgestimmt werden und ihm wesentlich mehr Freiraum zugestehen muss.403 Zudem folgt aus dem Präventivcharakter, dass alles getan werden muss, um dem Täter die Möglichkeit zur Festigung seiner im Grundsatz bestehenden Vernunftbegabung zu geben, ihm insbesondere eine Perspektive für ein Leben in Freiheit zu eröffnen. Eine reine „Verwahrung“ wird dem nicht gerecht. 3. Dem Betroffenen müssen gegen die sichernden Freiheitsbeeinträchtigungen wirksame Rechtsschutzmöglichkeiten offen stehen, das heißt, das Verfahren und der Inhalt der Maßnahmen müssen gesetzlich geregelt und justiziabel sein. Die gesetzliche Regelung muss dabei nicht nur die Voraussetzungen der Anordnung festlegen, d. h. insbesondere die Art und Weise der Wahrscheinlichkeitsbestimmung unter besonderer Berücksichtigung der persönlichen Umstände des Täters sowie die notwendige Anzahl und Qualität der den „Hang“ begründenden Taten, sondern auch das Maß der Freiheitsbeeinträchtigung. Zudem sind Entschädigungen für den Fall unberechtigter Inanspruchnahmen vorzusehen (die in der Praxis allerdings schwer beweisbar sein werden). c) Untersuchungshaft (insbesondere wegen Wiederholungsgefahr gem. § 112a StPO) Die Untersuchungshaft (U-Haft) ist in den §§ 112 ff. StPO geregelt. In ihrer Grundform ist sie nach hM die „Entziehung der Freiheit des Beschuldigten zum 402 Genauer zur notwendigen Maßregelbemessung D. Klesczewski, „Strafen statt Verwahren!“ HRRS 9/2010, S. 394 (397, 398). 403 Vgl. D. Klesczewski, „Strafen statt Verwahren!“ HRRS 9/2010, S. 394 (396).
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Zwecke der Sicherung des Erkenntnisverfahrens oder der Vollstreckung“ 404; im Einzelnen soll sie die Anwesenheit des Beschuldigten im Strafverfahren sichern,405 eine ordnungsgemäße Tatsachenermittlung durch die Strafverfolgungsorgane gewährleisten406 und nach hM die Strafvollstreckung sicherstellen.407 Sie gehört damit zu den strafprozessualen Zwangsmaßnahmen, die „ohne oder gegen den Willen des Betroffenen zum Zwecke der Sicherung des Verfahrensziels angewandt werden.“ 408 Die Voraussetzungen, unter denen die U-Haft angeordnet werden darf, sind in den §§ 112 f. StPO geregelt: Notwendig sind nach § 112 Abs. 1 S. 1 StPO ein dringender Tatverdacht, d. h. eine große Wahrscheinlichkeit, dass der Beschuldigte Täter oder Teilnehmer einer Straftat ist,409 und das Vorliegen einer der besonderen Haftgründe, die in § 112 Abs. 2 StPO und in § 112a StPO genannt sind. In Betracht kommen insofern die Flucht- oder Verdunklungsgefahr gem. § 112 Abs. 2 StPO und die Wiederholungsgefahr gem. § 112a StPO. Gem. § 112 Abs. 1 S. 2 StPO darf die U-Haft nicht angeordnet werden, wenn sie „zur Bedeutung der Sache und der zu erwartenden Strafe oder Maßregel der Besserung und Sicherung außer Verhältnis steht“. Zu der Grundform der U-Haft, die im Wesentlichen der Verfahrenssicherung in Fällen dient, in denen entweder der Beschuldigte droht, sich dem Verfahren zu entziehen (Fluchtgefahr) oder in denen die Gefahr besteht, dass auf Beweismittel in einer Weise eingewirkt wird, die die Wahrheitsermittlung erschwert (Verdun404 C. Roxin/B. Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 30, Rn. 1. Ähnlich Meyer-Goßner, StPO, Vor § 112, Rn. 4 mit Verweis auf BVerfGE 19, 342 (348) und 32, 87 (93). Kritisch SK-StPO-Paeffgen, Vor § 112, Rn. 5 ff., der nur die Verfahrens-, nicht aber die Vollstreckungssicherung als legitimes Ziel der U-Haft ansieht (vgl. zur Begründung ebenda). Ähnlich sehen das U. Neumann, „Die ,Zwischenhaft‘ – ein verfassungswidriges Institut der Rechtspraxis“ (2007), S. 601 (610–613); Th. Weigend, „Der Zweck der Untersuchungshaft“ (2008), S. 739 (740, 741), der den Zweck der U-Haft auf Sicherung der prozessualen Abläufe bis zum Ergehen einer rechtskräftigen Entscheidung begrenzt wissen will. Gründlich zur Rechtfertigung des Instituts der U-Haft, insbesondere unter Berücksichtigung der Zielsetzung der Strafprozessordnung überhaupt, H.-U. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 13–163. 405 So u. a. J. Wolter, „Untersuchungshaft, Vorbeugehaft und vorläufige Sanktionen“ ZStW 93 (1981), S. 452 (453); vgl. zudem genauer H.-U. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 87 ff. 406 So ebenfalls J. Wolter, „Untersuchungshaft, Vorbeugehaft und vorläufige Sanktionen“ ZStW 93 (1981), S. 452 (453) und H.-U. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 100 ff. 407 So C. Roxin/B. Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 30, Rn. 1; W. Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 208. Kritisch zu letzterem u. a. Paeffgen und Weigend, a. a. O. 408 Vgl. K. Peters, Strafprozeß, § 46 I, S. 391. Er ergänzt: „Es sind im Gegensatz zu Strafmaßnahmen solche Maßnahmen, die nicht der Reaktion auf begangene Ordnungsoder Pflichtwidrigkeiten, sondern der Verfahrensdurchführung im Hinblick auf die Erreichung der Verfahrenszwecke dienen.“ 409 Vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 112, Rn. 5. Zum Tatverdacht als Haftvoraussetzung siehe auch H.-U. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des UntersuchungshaftRechts (1986), S. 75 ff.
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kelungsgefahr),410 treten zwei Formen der U-Haft, die sich diesen beiden Haftgründen nicht oder jedenfalls nicht unmittelbar zuordnen lassen: § 112 Abs. 3 StPO (U-Haft im Falle des Verdachts einer besonders schweren Straftat) und § 112a StPO (U-Haft im Falle sog. Wiederholungsgefahr). § 112 Abs. 3 StPO sieht vor, dass U-Haft auch ohne Haftgrund dann angeordnet werden kann, wenn der Beschuldigte einer besonders schweren Straftat (u. a. § 6 Abs. 1 Nr. 1 VStGB, §§ 129a Abs. 1 oder Abs. 2 StGB, auch in Verbindung mit § 129b Abs. 1 StGB, §§ 211, 212 StGB) verdächtig ist. Nach dem Wortlaut des Gesetzes wäre es möglich, einen Beschuldigten ohne Haftgrund (Fluchtoder Verdunkelungsgefahr, Wiederholungsgefahr) in U-Haft zu nehmen, obwohl die Maßnahme zur Erfüllung des der U-Haft zugrunde liegenden Sicherungszwecks im Hinblick auf den ungehinderten Ablauf des Strafverfahrens dann nicht erforderlich ist. Diese Unverhältnismäßigkeit hat das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 15.12.1965 im konkreten Fall eines des Mordes Verdächtigen, bei dem aber weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr bestand, festgestellt. Es verlangt für eine U-Haft nach § 112 Abs. 3 StPO entgegen dessen Wortlaut seither „stets Umstände“, „die die Gefahr begründen, dass ohne Festnahme des Beschuldigten die alsbaldige Aufklärung und Ahndung der Tat gefährdet sein könnte.“ 411 Eine Verhaftung nur aufgrund der Schwere der (vermuteten) Tat verstoße gegen das Grundgesetz; die U-Haft sei als Ausnahme zu dem rechtsstaatlichen Grundsatz, dass nur rechtskräftig verurteilte Straftäter ihrer Freiheit beraubt werden dürfen, nur unter Berücksichtigung des Verfahrenssicherungszwecks (also bei Flucht- oder Verdunkelungsgefahr) oder des Schutzes der Allgemeinheit vor weiteren Taten (also bei Wiederholungsgefahr) zulässig. Unter Berücksichtigung dieser verfassungskonformen Auslegung (bzw. „Umdeutung“ 412) der Norm ist es also auch bei § 112 Abs. 3 StPO erforderlich, dass Hinweise auf Flucht- oder Verdunkelungsgefahr vorliegen, wenn auch an deren Feststellung nicht dieselben hohen Anforderungen gestellt werden wie bei Absatz 2 der Vorschrift.413 Als zweite besondere Form der U-Haft erweitert § 112a StPO die Möglichkeit ihrer Anordnung auf Fälle, in denen zu dem dringenden Tatverdacht einer bestimmten, in Abs. 1 der Vorschrift genannten Straftat414 hinzukommt, dass „be410
Vgl. zu diesen beiden Haftgründen Meyer-Goßner, StPO, § 112, Rn. 17 und 26. BVerfG NJW 1966, S. 243 (244) (= BVerfGE 19, 342). Knapp dazu I. G. Anagnostopoulos, Haftgründe der Tatschwere und der Wiederholungsgefahr (§§ 112 Abs. 3, 112a StPO) (1984), S. 29–32, m.w. N.; kritisch-gründlich H.-U. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 111–129, ebenfalls m.w. N. 412 So sehen es in kritischer Intention C. Roxin/B. Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 30, Rn. 10. 413 Siehe auch W. Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 214. 414 Nach § 112a Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 StPO muss der Beschuldigte dringend verdächtig sein, eine Straftat nach §§ 174, 174a, 176 bis 179 oder 238 Abs. 2 und Abs. 3 StGB 411
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stimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass (der Beschuldigte) vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erhebliche Straftaten gleicher Art begehen (. . .) werde, die Haft zur Abwendung der drohenden Gefahr erforderlich“ ist und in den Fällen der Nr. 2 eine Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr zu erwarten ist (Haftgrund der Wiederholungsgefahr). Für die vorliegende Arbeit ist dieser letztere Haftgrund von besonderem Interesse, denn nach herrschender Auffassung in Rechtsprechung und Literatur wird diese Form der U-Haft nicht mit dem Ziel der Verfahrenssicherung, sondern als vorbeugende Maßnahme zum Schutz der Rechtsordnung vor weiteren erheblichen Straftaten begründet.415 Damit stellt sie eine besondere, gesetzlich geregelte Präventivhaft dar, die in ihrer Intensität und Dauer (gem. § 122a StPO bis zu einem Jahr) deutlich über den unmittelbaren Polizeigewahrsam hinausgeht. Allerdings ist für sie ähnlich wie bei den Maßregeln der Besserung und Sicherung charakteristisch, dass sie ihren Voraussetzungen nach eine Zwischenform von repressiver Strafverfolgung und präventiver Straftatverhinderung darstellt: Sie setzt einerseits einen dringenden Tatverdacht bzgl. einer bereits begangenen Tat und andererseits den zukunftsorientierten Verdacht voraus, dass der Beschuldigte erneut Straftaten gleicher Art begehen wird. Das Bundesverfassungsgericht hat der Rechtfertigung der Haft aus dem Gedanken der Prävention in zwei Entscheidungen ausdrücklich zugestimmt: „Der Haftgrund der Wiederholungsgefahr in § 112 Abs. 3 StPO (alte Fassung, Anmerkung K. G.) geht zwar darüber hinaus (d. h. über den Zweck der Verfahrens- und Vollzugssicherung, Anmerkung K. G.), indem er dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, also einen präventiv-polizeilichen Gesichtspunkt, für die Verhängung der Untersuchungshaft genügen lässt. Er kann jedoch damit gerechtfertigt werden, dass es hier um die Bewahrung eines besonders schutzbedürftigen Kreises der Bevölkerung vor mit hoher Wahrscheinlichkeit drohenden schweren Straftaten geht; auch erscheint es zweckmäßiger, diesen Schutz den bereits mit der Aufklärung der begangenen Straftat befassten Strafverfolgungsbehörden und damit dem Richter anzuvertrauen als der Polizei.“ 416
begangen zu haben, nach Nr. 2 muss sich der dringende Tatverdacht darauf beziehen, dass der Beschuldigte „wiederholt und fortgesetzt eine die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigende Straftat nach § 89a, nach § 125a, nach den §§ 224 bis 227, nach den §§ 243, 244, 249–255, 260, nach § 263, nach den §§ 306 bis 306c oder § 316a des Strafgesetzbuches oder nach § 29 Abs. 1 Nr. 1, 4, 10 oder Abs. 3, § 29a Abs. 1, § 30 Abs. 1, § 30a Abs. 1 des Betäubungsmittelgesetzes“ begangen hat. 415 Zustimmend: Meyer-Goßner, StPO, § 112a, Rn. 1; W. Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 215; indifferent: U. Kindhäuser, Strafprozessrecht, § 9, Rn. 30; mit kritischer Intention: SK-StPO-Paeffgen, § 112a, Rn. 3, m.w. N.; C. Roxin/B. Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 30, Rn. 12; Th. Weigend, „Der Zweck der Untersuchungshaft“ (2008), S. 741 ff.; J. Wolter, „Untersuchungshaft, Vorbeugehaft und vorläufige Sanktionen“ ZStW 93 (1981), S. 452 (485); knapp auch D. Klesczewski, Strafprozessrecht, Rn. 184. 416 Vgl. BVerfG NJW 1966, S. 243 (244) (= BVerfGE 19, 342). Die Entscheidung erging zur alten Fassung der Vorschrift, die die Möglichkeit der U-Haft aus dem Grund
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In der zweiten Entscheidung heißt es: „Der Gesetzgeber darf die Einschließung des Beschuldigten in einer Haftanstalt nur anordnen, wenn überwiegende Belange des Gemeinwohls dies zwingend gebieten. Dabei hat er diese Belange mit dem verfassungsrechtlich geschützten Interesse des Einzelnen an der Bewahrung seiner persönlichen Freiheit abzuwägen.“ Das Interesse der Rechtsgemeinschaft an wirksamer Verbrechensbekämpfung könne freiheitsbeschränkende Maßnahmen rechtfertigen. „Das BVerfG hat daher als weiteren Haftgrund die Wiederholungsgefahr anerkannt, obwohl hierbei nicht die Sicherung des Strafverfahrens, sondern der Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, also ein präventiver Gesichtspunkt maßgebend ist.“ Allerdings seien dem Gesetzgeber nach dem GG enge Grenzen gesetzt. „Nur unter bestimmten Voraussetzungen überwiegt das Sicherungsbedürfnis der Gemeinschaft den verfassungsrechtlich geschützten Freiheitsanspruch des noch nicht verurteilten, lediglich verdächtigten Beschuldigten. Bei dem wiederholt oder fortgesetzt begangenen ,Anlaßdelikt‘ muss es sich um eine Straftat handeln, die schon nach ihrem gesetzlichen Tatbestand einen erheblichen, in der Höhe der Strafandrohung zum Ausdruck kommenden Unrechtsgehalt aufweist und den Rechtsfrieden empfindlich stört. (. . .) Darüber hinaus muss verlangt werden, dass die Tat, deren der Beschuldigte dringend verdächtig ist, auch in ihrer konkreten Gestalt, insbesondere nach Art und Ausmaß des angerichteten Schadens, die Rechtsordnung schwerwiegend beeinträchtigt hat und im Einzelfalle eine hohe Straferwartung begründet. (. . .) Weiterhin ist zu fordern, dass auch die Straftaten, denen die Haftanordnung vorbeugen soll, in dem beschriebenen Sinne erheblich sind.“ 417
Das Bundesverfassungsgericht hat in der Norm des § 112a StPO die von ihm postulierten Voraussetzungen als erfüllt betrachtet und deswegen ihre Verfassungsmäßigkeit bejaht. Bei § 112a StPO handelt es sich also um eine Form von Sicherungs- oder Vorbeugehaft, deren Zweck anders als bei der eigentlichen U-Haft allein darin liegt, den Beschuldigten von der Begehung zukünftiger Straftaten abzuhalten.418 Wegen dieses deutlichen Präventionszwecks und der damit bestehenden Diskrepanz zur Grundform der U-Haft als Mittel der Verfahrenssicherung ist allerdings die Verortung der Regelung im Bereich der U-Haft aus systematischen Gründen mehr als fragwürdig;419 sie führt zu einer Art „Verdachtsstrafe“ und damit zu der Wiederholungsgefahr auf Fälle beschränkte, in denen bestimmte Sexualdelikte begangen wurden. 417 BVerfG NJW 1973, 1363 (1364, 1365) (= BVerfGE 35, 185). 418 Zur Historie der Vorbeugehaft vgl. die knappe Darstellung bei J. Baumann, „Wird die U-Haft ,umfunktioniert‘?“ JZ 1969, S. 134 (135 f.). 419 So auch Th. Weigend, „Der Zweck der Untersuchungshaft“ (2008), S. 741–743. Ähnlich kritisch, u. a. im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Kompetenzgefüge, welches Prävention im Grundsatz den Ländern und Repression im Grundsatz dem Bund zuordnet, SK-StPO-Paeffgen, § 112a, Rn. 3. Kritisch zudem C. Roxin/B. Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 30, Rn. 12; C. von Nerée, „Zur Zulässigkeit der Sicherungshaft gemäß § 112a StPO, insbesondere bei Anwendung von Jugendstrafrecht“ StV 1993, S. 212 (213). J. Baumann, „Wird die U-Haft ,umfunktioniert‘?“ JZ 1969, S. 134 (138)
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einer Kollision mit dem Prinzip der Unschuldsvermutung.420 Reine Präventivnormen lassen sich im Rahmen des Strafprozessrechts genauso wenig im systematischen Zusammenhang mit Regelungen verorten, die der Durchführung des repressiven Strafverfahrens dienen, wie sie als materielle Straftatbestände im StGB legitimierbar sind. Das Strafverfahren folgt anderen Prinzipien als die Unrechtsabwehr; beides muss deswegen gesondert geregelt sein.421 Die Regelung im Zusammenhang mit den strafverfahrenssichernden Formen der U-Haft in der StPO kann auch nicht etwa allein dadurch gerechtfertigt werden, dass es unter rechtsstaatlichem Aspekt erforderlich ist, die Entscheidung über einen so weit reichenden Freiheitseingriff wie die (Sicherungs-)Haft von einem Richter und nicht der Polizeibehörde treffen zu lassen.422 So sehr dieses Erfordernis auch zutreffend beschrieben ist – es ließe sich besser durch die Einrichtung einer „Präventivjustiz“ im Sinne von Mohls erreichen, der in seinem Entwurf bereits streng zwischen der wiederherstellenden Strafjustiz und der vorbeugenden Präventivjustiz unterschieden hatte und dabei schon deutlich die Notwendigkeit einer richterlichen im Gegensatz zur nur behördlichen Entscheidung immer dort betont hat, wo es um substantielle präventive Freiheitseingriffe ging.423 Neben das Problem der systematisch fehlerhaften Verortung der Sicherungshaft in der StPO424 tritt aber mit noch größerer Bedeutung das Problem ihrer Legitimation als Präventivmaßnahme überhaupt.425 Das Bundesverfassungsgericht glaubt, dieses Problem mit einem Abwägungsprozess lösen zu können, wie formuliert das Problem prägnant: „Damit spitzt sich die Frage darauf zu, ob man in einem Verfahren (und in einer Verfahrensordnung), dessen Prozessgegenstand eine begangene Tat ist (und die sich mit der Aufklärung dieser Tat befasst, (. . .)), eine Maßregel einbauen will, die rein präventivpolizeilichen Zwecken dient.“ (Hervorhebung im Original). 420 So u. a. U. Klug, „Rechtsstaatswidrige Vorbeugehaft“ ZRP 1969, S. 1 (2); SKStPO-Paeffgen, § 112a, Rn. 5a; H.-U. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 159 ff. (mit Fn. 661); J. Wolter, „Untersuchungshaft, Vorbeugehaft und vorläufige Sanktionen“ ZStW 93 (1981), S. 452 (485); Th. Weigend, „Der Zweck der Untersuchungshaft“ (2008), S. 741. 421 Ähnliche Kritik auch bei H. Lesch, „Zur Einführung in das Strafrecht: Über den Sinn und Zweck staatlichen Strafens (2. Teil)“ JA 1994, S. 590 (592). 422 So aber BVerfG NJW 1966, S. 243 (244). 423 Ähnlich auch J. Baumann, „Wird die U-Haft ,umfunktioniert‘?“ JZ 1969, S. 134 (138), der sich für die Zuständigkeit eines „Präventivhaftrichters“ ausspricht. 424 Th. Weigend, „Der Zweck der Untersuchungshaft“ (2008), S. 741 bezeichnet die Vorbeugehaft in der StPO als „Fremdkörper“. 425 Eine „grundlegende Aufarbeitung dessen, was polizeilich möglich und zulässig ist“ fordert in diesem Zusammenhang auch H.-U. Paeffgen, Vorüberlegungen zu einer Dogmatik des Untersuchungshaft-Rechts (1986), S. 160, der auch darauf hinweist, dass damit „Spannungen abzuarbeiten (sind), die zwischen einem Schuldstrafrecht und einem Sicherungsrecht bestehen“. (Fn. weggelassen). Die vorliegende Arbeit versteht sich als Beitrag zu einer solchen „grundlegenden Aufarbeitung“.
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es die hM auch für die Rechtfertigung der sichernden Maßregeln vertritt.426 Die „Einschließung des Beschuldigten“ dürfe nur dann angeordnet werden, so das Bundesverfassungsgericht, wenn „überwiegende Belange des Gemeinwohls“ dies gebieten; dies sei festzustellen anhand der Abwägung dieser Belange mit dem „verfassungsrechtlich geschützten Interesse des Einzelnen an der Bewahrung seiner persönlichen Freiheit“.427 Ein überwiegendes Sicherungsbedürfnis der Gemeinschaft könne dann festgestellt werden, wenn sowohl die Anlasstat (also diejenige Tat, die den dringenden Tatverdacht auslöst) als auch die Tat, der vorgebeugt werden soll, „erheblich“ in dem Sinne sind, dass sie einen hohen Unrechtsgehalt aufweisen und den Rechtsfrieden empfindlich stören. Diese Argumentation kann aber selbst dann nicht überzeugen, wenn man der Abwägungslösung für einen Moment folgt. Denn erstens überrascht schon das Kriterium der Erheblichkeit der Anlasstat. Der Haftgrund des § 112a StPO verweist gerade nicht auf die begangene Tat, sondern dient der Verhinderung zukünftiger Unrechtstaten; das durch die U-Haft wegen Wiederholungsgefahr verfolgte Ziel liegt erklärtermaßen nicht in der Sicherung des ordnungsgemäßen Ablaufs des Strafprozesses, der auf die vermutete Anlasstat folgt. Das Gewicht dieser Tat kann somit keine Bedeutung für die Rechtmäßigkeit der Maßnahme haben. Zweitens wendet das Bundesverfassungsgericht aber auch bzgl. der vermuteten zukünftigen Tat seine eigenen Prämissen nicht an. Mit der Feststellung, dass die drohende Tat einen hohen Unrechtsgehalt und die Eignung zur empfindlichen Rechtsfriedensstörung hat, scheint die „Abwägung“ schon geleistet zu sein, und die Haft wird ohne weitere substantielle Prüfung zugelassen. Die substantiellen Bedenken, die gegen die Abwägung als begründenden Prozess bereits geäußert wurden,428 kommen nun aber auch für die Rechtfertigung des § 112a StPO zum Tragen und stellen die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts von Grund auf in Frage. Bei dem (einer Straftat nur verdächtigen) Beschuldigten stellt sich das Problem, inwiefern sich ein überwiegendes Interesse der Gemeinschaft im Verhältnis zu seinem grundlegenden Freiheitsrecht feststellen lässt und warum das (vermutete) Wohl der Gemeinschaft ein Recht gegen den Einzelnen begründen soll, mindestens so dringlich wie beim Institut der Sicherungsverwahrung. In beiden Fällen ist vollkommen offen, welche Kriterien für das „Überwiegen“ der Gemeinschaftsinteressen angesetzt werden sollen, und bei beiden fehlt das übergeordnete Prinzip, das jeder Abwägung voraus liegen muss, um mit ihrem Ergebnis eine staatliche Maßnahme als rechtens begründen zu können.429
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Vgl. dazu oben S. 400 ff. BVerfG NJW 1973, 1363 (1364, 1365). Vgl. oben Teil 3, S. 161 ff., Teil 4, S. 203 ff., Teil 5, S. 400 ff. Vgl. zu dieser Kritik schon oben S. 400 ff.
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§ 112a StPO muss sich als Präventivmaßnahme auch dem von ihr Betroffenen gegenüber als vernünftig begründen lassen, d. h. es muss dem Einzelnen einsichtig sein, warum ihm – zusätzlich zu dem Strafprozess wegen des dringenden Tatverdachts bzgl. einer begangenen Tat430 – die massiv belastende Freiheitsbeeinträchtigung einer Sicherungshaft auferlegt wird. Um dies zu rechtfertigen, muss einer hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für eine zukünftige schwerwiegende Unrechtstat sprechen und diese muss ausreichend konkretisierbar sein. Dies kann der Fall sein, wenn der Beschuldigte bereits in das Vorbereitungsstadium einer erneuten Tat eingetreten ist, ist aber nicht zwangsläufig immer schon dann anzunehmen, wenn sich aus seiner Vita ergibt, dass er in der Vergangenheit bereits ähnliche Taten begangen hat. Bei § 112a StPO kommt erschwerend hinzu, dass die Ermittlung der Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Tat des Beschuldigten auf noch schwächerer tatsächlicher Basis erfolgt als bei der Sicherungsverwahrung. Die sog. „Anlasstat“, wegen derer dem Beschuldigten der Strafprozess gemacht wird, ist zum Zeitpunkt der Haftentscheidung nicht erwiesen und darf demgemäß für die Prognose keine Rolle spielen. Deswegen beruht die Vermutung, dass der Beschuldigte zukünftig Straftaten begehen wird, allein auf einer Einschätzung seiner Person, die sich im Wesentlichen auf seine Vortaten stützt. Die Tatsache, dass Vortaten vorliegen, kann für sich genommen aber eine Präventivhaft nicht rechtfertigen. Insofern gilt hier im Grundsatz dasselbe, wie bei der Entscheidung über sichernde Maßregeln: Die Tatsache wiederholter Straftatbegehung kann die Pflicht des Beschuldigten begründen, Aufsichtsmaßnahmen und behördliche Beobachtung zu dulden – das Basisvertrauen, das im Grundsatz das Rechtsverhältnis zum Bürger prägt und prägen muss, ist im Fall einer mehrfach straffällig gewordenen Person, gegen die erneut ein dringender Tatverdacht besteht, latent erschüttert. In einem solchen Fall ist es zulässig, Maßnahmen zu ergreifen, die der Ermittlung der Wahrscheinlichkeit einer erneuten Unrechtsbegehung dienen. Unzulässig ist es dagegen, das Wahrscheinlichkeitsurteil allein auf die vergangenen Straftaten zu stützen und dem Beschuldigten eine freiheitsintensive Präventivmaßnahme, gar in Form von Präventivhaft, aufzuerlegen.431 d) Zusammenfassung Mit Blick auf die von Pawlik geforderte Normierung eines „neuartigen Präventionsrechts“, welches zur „Unschädlichmachung“ terroristischer „Gefährder“ 430 Zur Rechtfertigung von freiheitsrelevanten Ermittlungseingriffen im Zusammenhang mit dem Strafprozess vgl. M. Köhler, „Prozessrechtsverhältnis und Ermittlungseingriffe“ ZStW 1995 (107), S. 10 ff. 431 Zweifel an der Vereinbarkeit einer länger als der polizeiliche Gewahrsam andauernden Präventivhaft mit Art. 5 Abs. 1 lit c, 2. Mod. EMRK äußert i. Ü. auch H.-U. Paeffgen unter Berufung auf die Rechtsprechung des EGMR (SK-StPO-Paeffgen, § 112a, Rn. 5).
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auch Maßnahmen wie vorbeugende Inhaftierungen, Sicherungshaft und gezielte Tötungen vorsieht,432 ist nach Sichtung des geltenden Rechts folgendes festzuhalten: – Das geltende Polizei- und Ordnungsrecht, auch die Sonderregeln des BKAG, erlauben nur wesentlich weniger freiheitsintensive Eingriffe in die Sphären der Bürger. Polizeirechtlich zulässig ist nach geltendem Recht ein kurzzeitiger (max. 48 Stunden dauernder)433 Gewahrsam zur Verhütung einer unmittelbar bevorstehenden Straftat,434 in einigen Bundesländern äußersten Falls ein bis zu zwei Wochen dauernder „Unterbindungsgewahrsam“ 435, nicht aber eine länger andauernde „vorbeugende Inhaftierung“ weit im Vorfeld der eigentlichen Tat. Der Gebrauch von Schusswaffen ist, wenn der „Schuss mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit tödlich wirken kann, nur zulässig, wenn er das einzige Mittel zur Abwehr einer gegenwärtigen Lebensgefahr oder der gegenwärtigen Gefahr einer schwerwiegenden Verletzung der körperlichen Unversehrtheit ist.“ 436 Gezielte Tötungen nach Art der in Israel praktizierten „preventive killings“ 437 sind damit ausgeschlossen; als letztes Mittel darf die Polizei nur in gegenwärtigen Notsituationen zur Rettung anderer eine unvermeidbare Tötung in Kauf nehmen. – Die im StGB geregelten Sicherungsmaßregeln setzen (mindestens) eine begangene Straftat und einen feststellbaren Hang zur Begehung weiterer Straftaten voraus.438 Zulässig sind nach der gesetzlichen Regelung einerseits die Sicherungsverwahrung (§§ 66 ff. StGB) und andererseits die Anordnung von Führungsaufsicht (§§ 68 ff. StGB). Die Sicherungsverwahrung ist dabei als gegebenenfalls mehrjähriger (nach geltendem Recht möglicherweise sogar unbefristeter) Freiheitsentzug ausgestaltet, die Führungsaufsicht als behördliche Aufsichts- und Beobachtungsmaßnahme, die dem Verdächtigen Freiheitsbeschränkung unterschiedlichster Art auferlegen kann (beispielsweise das Verbot, den Wohn- oder Aufenthaltsort oder einen bestimmten Bereich ohne Erlaubnis der Aufsichtsbehörde zu verlassen, sich an bestimmten Orten aufzuhalten, mit bestimmten Personen Kontakt aufzunehmen, bestimmte Tätigkeiten auszuüben oder bestimmte Gegenstände zu besitzen, bei sich zu führen oder verwahren zu lassen). Die freiheitsentziehenden Maßnahmen, die Pawlik als 432 Vgl. nochmals Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 42 f. und die Darstellung oben S. 310 ff. 433 Vgl. Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG, § 16 MEPolG, § 20p Abs. 2 BKAG mit Verweis auf § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 BPolG. 434 Vgl. § 13 Abs. 1 Nr. 2 MEPolG, § 20p I Nr. 1 BKAG. 435 Vgl. F. Rachor, „Das Polizeihandeln“, in: H. Lisken/E. Denninger (Hrsg.), Handbuch des Polizeirechts, F., Rn. 626 ff. 436 Vgl. § 41 Abs. 2 S. 2 MEPolG. Vgl. dazu auch V. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 13, Rn. 50. 437 Vgl. dazu oben bei Fn. 47. 438 Vgl. dazu oben S. 396 ff.
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Präventionsmaßnahmen zur Terrorismusbekämpfung erwägt („vorbeugende Inhaftierungen“), sind in Bezug auf die Intensität der Freiheitsbeschränkung mit denen der Sicherungsverwahrung nach geltendem Recht vergleichbar (zumal Pawlik für das Maß des präventiven Freiheitsentzugs explizit auf die Regelungen der Sicherungsverwahrung verweist).439 Die Zielrichtung, die Pawlik mit diesen Maßnahmen verfolgt, ist die „rechtlich eingehegte Unschädlichmachung“ der betroffenen Person; auch insofern lässt sich eine Übereinstimmung mit dem Wesen der Sicherungsverwahrung zumindest nach der herrschenden Auffassung konstatieren. Als Voraussetzung für eine vorbeugende Inhaftierung als „Gefährder“ ist nach Pawlik ein Maß an Gefährlichkeit zu fordern, das sich den Regelungen der §§ 129a und 89a ff. StGB entnehmen lasse, denen er die Funktion einer „vorweggenommenen Sicherungsverwahrung“ beimisst.440 Inwieweit sich diesen Normen tatsächlich Kriterien für eine fundierte Wahrscheinlichkeitsprüfung entnehmen lassen, muss allerdings noch näher untersucht werden. Die Anordnungsvoraussetzungen der sichernden Maßregeln, die das geltende Recht vorschreibt, sind jedenfalls durch den Bezug auf eine begangene Tat und einen erwiesenen „Hang“ zu weiteren Taten nicht vergleichbar mit der präventiven Inhaftierung mutmaßlicher Terroristen im Stadium der Planung oder Vorbereitung terroristisch motivierten Unrechts. Hinzu kommt, dass die an den sichernden Maßregeln des geltenden Rechts aus freiheitsgesetzlicher Perspektive geübte Kritik441 in ihren Grundzügen auch auf ein Präventionskonzept, insbesondere eines mit länger andauernden Haftmaßnahmen, zu übertragen ist. Es gilt deshalb, bei der Entwicklung der Prinzipien des von Pawlik geforderten „neuartigen Präventionsrechts“ diese Fundamentalkritik zu berücksichtigen. – Die U-Haft im Falle der Wiederholungsgefahr (§ 112a StPO) lässt nach geltendem Recht einen Freiheitsentzug von bis zu einem Jahr zu, wenn ein dringender Tatverdacht bzgl. einer bestimmten Katalogtat vorliegt und Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass der Tatverdächtige erneut erhebliche Straftaten gleicher Art begehen wird. Auch hierfür gilt, dass die Kritik, die gegen diese Form der U-Haft in ihrer geltenden gesetzlichen Fassung spricht,442 in ihren Grundzügen auf jeglichen neu zu regelnden präventiven Freiheitsentzug übertragbar ist – mit dem Ergebnis, dass mit präventivem Freiheitsentzug wesentlich zurückhaltender umzugehen ist, als es § 112a StPO zulässt. Die im geltenden Recht existierenden Präventionsnormen sind erkennbar kein systematisch ausgearbeitetes und an Prinzipien ausgerichtetes Regime zur Un439
M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 45. Ebenda, S. 43. 441 Vgl. dazu die in Auseinandersetzung mit den Legitimationsansätzen zur Sicherungsverwahrung entwickelte Argumentation auf S. 400 ff. 442 Vgl. dazu oben S. 411 ff. 440
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rechtsverhinderung, sondern eine in verschiedenen Rechtsbereichen verortete, teilweise system- und legitimitätswidrige Ansammlung einzelner Präventionsvorschriften. Die schon durch von Mohl ausgearbeitete notwendige Trennung zwischen wiederherstellender und vorbeugender Rechtspflege wird im Bereich der Sicherungsverwahrung und der U-Haft wegen Wiederholungsgefahr durch das geltende Recht aufgehoben. Zudem wird der zweite wesentliche Grundsatz v. Mohls, die Unterscheidung zwischen Gefahrenabwehr gegen im Ursprung natürliche Gefahren einerseits und der Verhinderung von Unrechtstaten, die dem menschlichen Willen entspringen, andererseits, im geltenden Polizeirecht nivelliert. Ein freiheitlich-rechtlich konzipiertes Präventionsrecht kann sich also nur bedingt auf Normen des geltenden Rechts stützen; insofern ist – in prinzipieller Übereinstimmung mit Pawlik – festzuhalten, dass es der Entwicklung eines dogmatisch ausgearbeiteten und rechtsstaatlich fundierten neuartigen Präventionsrechts bedarf.443 3. Der „Kampf gegen den Terror“ als Teil rechtsstaatlicher Prävention Pawlik fordert ein neuartiges Rechtsregime insbesondere für das Feld der „Terrorismusbekämpfung“. Bei der Abwehr terroristischer Sicherheitsgefährdungen geht es um einen besonderen Fall der Prävention, genauer: um die Verhinderung oder Verhütung künftigen kriminellen, terroristisch motivierten Unrechts. Pawlik ist darin zuzustimmen, dass dieses Regelungsgebiet innerhalb der bereits vorhandenen Präventions- und Sicherungsnormen nur unvollkommen umgesetzt ist. Es bedarf einer systematisch und dogmatisch durchgearbeiteten sowie an Legitimationsprinzipien ausgerichteten Neuregelung, die auf die Besonderheiten der Verhinderung terroristisch motivierten Unrechts Bedacht nimmt. a) Besonderheiten der Prävention im Bereich des Terrorismus am Beispiel des Prozesses um die sog. Sauerland-Gruppe An dem konkreten Fall der sog. Sauerland-Gruppe,444 deren Mitglieder vom OLG Düsseldorf zu langjährigen (5, 11 und zwei Mal 12 Jahre langen) Freiheits443 Dieser Forderung schließt sich auch H.-U. Paeffgen, „Bürgerstrafrecht, Vorbeugerecht, Feindstrafrecht?“ (2009), S. 81 (102 ff.) an: Normen wie § 129a StGB und die damit verbundenen strafprozessualen Befugnisse (z. B. Telefon und akustische Wohnraumüberwachung nach §§ 100a Abs. 1 Nr. 1d, 100c Abs. 2 Nr. 1b StPO) sollen aus dem Strafrecht ausgesiedelt werden. „Ihre Überleitung in das apostrophierte vorbeugende Sicherungsrecht könnte freilich erst erfolgen, wenn eine diesbezüglich zureichende Dogmatik entfaltet worden wäre, die über eine schlichte polizeirechtliche Störungsbeseitigung hinausginge.“ (S. 102). Ähnlich K. Hawickhorst, § 129a StGB – Ein feindstrafrechtlicher Irrweg zur Terrorismusbekämpfung (2011), insbesondere S. 290 ff. 444 Anfang September 2007 haben Sicherheitskräfte in einem Ferienhaus im sauerländischen Medebach die beiden zum Islam konvertierten Deutschen Fritz G. und Da-
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strafen insbesondere wegen der Mitgliedschaft bzw. Unterstützung einer terroristischen Vereinigung im Ausland (§ 129b StGB) und wegen der Vorbereitung eines Explosionsverbrechens (§ 310 StGB) verurteilt wurden,445 sollen im Folgenden die Besonderheiten der Prävention von terroristisch motiviertem Unrecht herausgearbeitet werden. Im Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung stellt das Gericht den Verfahrenshergang sowie das Vorgehen der Ermittlungsbehörden dar; es weist hin auf die konkreten Maßnahmen zur Verhinderung des durch die Sauerland-Gruppe geplanten Anschlags (Observation und sonstige Ermittlungsmaßnahmen, insbesondere auch Wohnraumüberwachung, Austausch der gefährlichen Tatmittel durch harmlose chemische Substanzen), die Qualität der geplanten Unrechtstat (Bomben-Anschlag auf US-amerikanische Armeeangehörige und auf Zivilisten in zeitlicher Nähe zur Entscheidung des Deutschen Bundestages über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen der ISAF-Truppen am 12.10.2007), die Vorbereitungshandlungen der Täter (Ankauf von Wasserstoffperoxid-Lösung und Fässern zur Aufbewahrung, Anmietung einer Garage, Beschaffung von Sprengzündern) sowie den persönlichen Hintergrund der Täter (islamistische Beeinflussung, Terror-Ausbildung im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet, Mitgliedschaft in bzw. Unterstützung der terroristischen Vereinigung „Islamische Jihad Union“).446 An dem Verfahren lässt sich zunächst gut zeigen, dass es bei der staatlichen Terrorismusabwehr in der Form, wie sie im Prozess gegen die Sauerland-Gruppe unternommen wurde, weniger um strafrechtliche Unrechtsreaktion geht, als vielmehr um die Verhinderung terroristischen Unrechts im zeitlichen Vorfeld der konkreten Tat:447 Zu dem gefürchteten Anschlag ist es – mutmaßlich gerade wegen des Einschreitens der Sicherheitsbehörden448 – nicht mehr gekommen. Zwar niel S. sowie den türkischen Staatsbürger Adem Y. festgenommen. Diese sogenannte Sauerland-Gruppe hatte Sprengstoffanschläge insbesondere gegen US-amerikanische Einrichtungen in Deutschland geplant. 445 OLG Düsseldorf, 04.03.2010, Ak.Z. III-6 StS 11/08; III-6 StS 15/08. Das Urteil ist nicht veröffentlicht und wurde auch auf Anfrage beim GBA, der aktenführenden Behörde, wegen der Geheimhaltung personenbezogener Daten nicht ausgehändigt. Trotzdem hat es der Verfasserin im Original vorgelegen. Öffentlich zugängliche Informationen über das Urteil lassen sich dementsprechend nur der Presseerklärung des OLG Düsseldorf vom 4.3.2010 entnehmen: http://www.olg-duesseldorf.nrw.de/presse/05presse 2010/2010-03-04_pm_sauerland_urteil/index.php. 446 Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung, abrufbar bei der Pressemitteilung des OLG Düsseldorf vom 4.3.2010 (a. a. O., Fn. 445). 447 Vgl. dazu im Zusammenhang mit §§ 89a, 89b und 91 StGB auch U. Sieber: „Legitimation und Grenzen von Gefährdungsdelikten im Vorfeld von terroristischer Gewalt – Eine Analyse der Vorfeldtatbestände im ,Entwurf eines Gesetzes zur Verfolgung der Vorbereitung von schweren staatsgefährdenden Gewalttaten‘ –“ NStZ 2009, S. 353 (354, 355). 448 Siehe Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung, a. a. O., S. 1, 2.
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wurden die Mitglieder der Gruppe im Ergebnis u. a. wegen §§ 129b, 310 StGB und der Verbrechensverabredung zu Mord, Herbeiführen einer Sprengstoffexplosion und Nötigung von Verfassungsorganen (§§ 30, 211, 308, 105 StGB) verurteilt, aber die diese Verurteilung vorbereitenden Ermittlungsmaßnahmen sind nach Aussagen des Gerichts primär zur Verhinderung des Anschlags eingesetzt worden, hatten also im Wesentlichen präventive, nicht repressive Bedeutung.449 Darin liegt eine Umgehung des Grundsatzes, dass die Ermittlungsbefugnisse der StPO den Behörden und Gerichten zur Strafverfolgung eingeräumt sind, nicht zu präventiven Zwecken.450 Möglich wird diese Umgehung durch die – in dieser Arbeit bereits grundlegend kritisierte – materiellrechtliche Pönalisierung reiner Vorfeldhandlungen, insbesondere im Rahmen der geltenden §§ 129, 129a, 129b und 89a, 89b, 91 StGB.451 Das Verfahren verdeutlicht zudem, dass die Behörden anders als im klassischen Gefahrenabwehrrecht nicht zur Verhinderung oder Bewältigung einer nach Ort, Zeit und Geschehnissen schon konkretisierten Gefahren- oder Unrechtslage tätig werden, sondern zur Abwehr einer inhaltlich und zeitlich noch unbestimmten Gefahr für im einzelnen noch nicht feststehende Rechtsgüter. Das Gericht umschreibt als „Tatgeschehen“ (richtiger wäre der Begriff „Vorgeschichte“) eine Entwicklung, die mit der ersten Auseinandersetzung der Betroffenen mit Inhalten des Islams mehrere Jahre zuvor beginnt, über die steigende „Faszination“ im Hinblick auf die Inhalte bestimmter radikal-islamischer Predigten, die zu einer Solidarisierung mit der „Islamischen Jihad Union“ führte und schließlich in Anschlagsplanungen und konkrete Vorbereitungen mündete.452 In der Zeit zwischen Dezember 2006 und der Festnahme im September 2007 haben die Mitglieder der Gruppe u. a. Wasserstoffperoxid und (nur zum Teil funktionstüchtige) Sprengzünder angeschafft, für Lagerungsmöglichkeiten gesorgt und erste Planungen angestellt („Sie beabsichtigten (. . .), Sprengstoffe auf Wasserstoffperoxidbasis herzustellen und diese in Mietfahrzeugen als Autobomben zur Explosion zu bringen. Als Anschlagsziele zogen sie Örtlichkeiten wie Pubs, Diskotheken und amerikanische Einrichtungen in Betracht. Als Tatorte erwogen sie u. a. wegen der dortigen Militärbasen Ramstein und Kaiserslautern, aber auch Düsseldorf, Köln oder
449
Vgl. das Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung, a. a. O., S. 1. Kritisch in diesem Zusammenhang SK-StPO-Wolter, Vor § 151, Rn. 36, 37; H.-U. Paeffgen, „,Verpolizeilichung‘ des Strafprozesses – Chimäre oder Gefahr“ (1995), S. 13 (20); NK-Paeffgen, § 89a, Rn. 1–3; R. Zaczyk, „Prozeßsubjekte oder Störer? Die Strafprozessordnung nach dem OrgKG – dargestellt an der Regelung des Verdeckten Ermittlers“ StV 9/93, S. 490 ff. Gründlich zum Zweck des Strafprozesses U. Murmann, „Über den Zweck des Strafprozesses“ GA 2004, S. 65 ff. 451 Vgl. dazu den 4. Teil der vorliegenden Arbeit. Für § 129a StGB weist dies auch K. Hawickhorst (§ 129a StGB – Ein feindstrafrechtlicher Irrweg zur Terrorismusbekämpfung (2011)) gründlich nach. 452 Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung, a. a. O., S. 4 ff. 450
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Leverkusen.“).453 Kurz vor dem Zugriff der Ermittlungsbehörden (besser: Präventionsbehörden) beschäftigte sich die Gruppe mit dem Bau von Zündauslösevorrichtungen und dem Aufkochen der Wasserstoffperoxidlösung mit dem Ziel der Herstellung einer sprengfähigen Konzentration.454 Es zeigt sich, dass zur Verhinderung des Anschlags eine – zum Teil engmaschige – Überwachung der Verdächtigen (das Gericht spricht von der „außergewöhnlichen Leistung“, die Angeklagten „hautnah“ und „effizient“ zu überwachen)455 über einen längeren Zeitraum vorgenommen wurde, die insbesondere Observation, Wohnraum- sowie Telekommunikationsüberwachung einschloss. Diese Überwachungsmaßnahmen wurden einerseits aufgrund der in der StPO vorgesehenen Ermittlungsbefugnisse, andererseits aber unter Einbindung des Verfassungsschutzes und des Bundesnachrichtendienstes durchgeführt – die Dienste seien, so das Gericht, „Teil des ganzheitlichen Bekämpfungsansatzes“ 456. Zudem hatte das Bundeskriminalamt im Juli 2007 die hochkonzentrierte und damit sprengstofftaugliche Wasserstoffperoxidlösung durch eine ungefährliche (3%ige) Lösung ersetzt, somit also das Anschlagsmittel wirkungslos gemacht, bevor es zum Einsatz kommen konnte. Durch die Manipulation des Tatmittels und die Festnahme der Mitglieder der Sauerland-Gruppe konnten die Sicherheitsbehörden verhindern, dass die Betroffenen ihre Anschlagsplanung in die Tat umsetzten. Dadurch haben sie keine naturhaft ablaufende Gefahrenentwicklung, sondern menschliches Unrecht unterbunden. Durch die Festnahme, U-Haft und rechtskräftige Verurteilung zu langjährigen Haftstrafen ist die von den Terrorverdächtigen ausgehende Gefahr des geplanten Anschlags gebannt worden (hierin liegt der wahre Zweck und Charakter der fälschlicherweise als strafrechtliche Sanktion ausgestalteten langjährigen 453
Ebenda, S. 6. Ebenda, S. 8. Das Gericht wertete „die relative Erfolgsferne der verabredeten Verbrechen bzw. der geplanten Anschläge, für die S. die Zünder beschaffte,“ auf Strafzumessungsebene als für die Angeklagten entlastend. „Die Angeklagten G., Y. und Sch.“, so das Gericht, „hatten die Sprengsätze noch nicht hergestellt; sie hatten auch noch nicht alle Materialien für die Herstellung der Sprengsätze erworben. Außerdem hatten sie die Örtlichkeiten, an denen sie Anschläge verüben wollten, noch nicht bis ins Detail festgelegt. Überdies bestand objektiv keine Gefahr für die geschützten Rechtsgüter. Denn die Angeklagten G., Y. und Sch. Sind schon in einem frühen Stadium an der Umsetzung des Anschlagsvorhabens durch die Strafverfolgungsbehörden gehindert worden, indem von den angeklagten unbemerkt die Fässer mit dem 35 %igen Wasserstoffperoxid gegen eine nahezu ungefährliche, lediglich 3 %ige Lösung ausgetauscht wurden. Daneben waren von den 26 Zündern vier lediglich Übungszünder, und von den restlichen 22 Sprengzündern waren nur wenige – mindestens drei – funktionsfähig.“ (Urteilstext, S. 119). Angesichts dieser „Erfolgsferne“ stellt sich die kaum abweisbare Frage, ob überhaupt strafwürdige Tathandlungen begangen wurden. Jedenfalls ist es angesichts der objektiven Ungefährlichkeit mehr als fragwürdig, bei zwei der Angeklagten auf 12 Jahre, bei einem auf 11 Jahre und beim vierten immerhin auf 5 Jahre Freiheitsstrafe zu erkennen. 455 Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung, a. a. O., S. 11. 456 Ebenda, S. 9. 454
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Freiheitsstrafen); die Verdächtigen wurden dadurch als „Gefahrenquellen“ „ausgeschaltet“. Allerdings lässt sich das Maß der Freiheitsbeeinträchtigung weder mit dem Gedanken des Unrechtsausgleichs (Strafe)457, noch mit dem Präventionsgedanken rechtfertigen – wie noch genauer auszuführen sein wird. An dem Fall der Sauerland-Gruppe lässt sich ferner die besondere Schwierigkeit der Einordnung der zu verhindernden Delikte (hier: Anschläge auf US-militärische Einrichtungen) als terroristisches Unrecht demonstrieren. Während ein allgemeines Verbrechensverhütungsrecht kriminelles Unrecht aller Art zu umfassen hat, ist terroristisch motiviertes Unrecht durch bestimmte Charakteristika gekennzeichnet, die auch für die Normierung entsprechender Präventionsvorschriften zu berücksichtigen sind. Wenn auch eine allgemein anerkannte und präzise Definition von „Terrorismus“ noch aussteht,458 lassen sich Eckpunkte für die Bestimmung terroristischen Unrechts aus Art. 1 Abs. 1 des EU Rahmenbeschlusses zur Terrorismusbekämpfung vom 13.6.2002459 ableiten: Terroristische Straftaten sind danach solche schweren Delikte,460 die durch die Art ihrer Begehung oder den jeweiligen Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen können, und die mit dem Ziel begangen werden, entweder (1) die Bevölkerung auf schwer wiegende Weise einzuschüchtern oder (2) öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder (3) die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren oder zu zerstören. Damit lassen sich drei wesentliche Ele457
Vgl. dazu den 4. Teil der Arbeit. Vgl. zu den Schwierigkeiten von Abgrenzung und Definition des Terrorismusbegriffs M. Zöller, Terrorismusstrafrecht (2009), S. 99 ff. (auf S. 213 schlägt Zöller als Synthese seiner Überlegungen folgende Definition vor: „Terrorismus ist die vorsätzliche Anwendung oder Androhung von Gewalt gegen Personen oder die Anwendung von Gewalt gegen Sachen, die geeignet ist, durch die Art ihrer Begehung oder ihre Auswirkungen einen Staat oder eine internationale Organisation ernsthaft zu schädigen, und die dazu bestimmt ist, die Bevölkerung auf erhebliche Weise einzuschüchtern oder einen Staat mit seinen öffentlichen Stellen oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu nötigen oder ihre Grundstrukturen zu beseitigen oder erheblich zu beeinträchtigen, um ideologische Zielvorstellungen durchzusetzen. (. . .).“ Siehe zudem D. S. Lutz, „Was ist Terrorismus?“ (2002), S. 9 ff. und E. v. Bubnoff, „Terrorismusbekämpfung – eine weltweite Herausforderung“ NJW 2002, 2672, der zusammenfasst: „Terrorismus zielt auf eine Destabilisierung unserer Zivilisation und auf eine Verunsicherung der Bevölkerung. Er gefährdet geordnete politische, wirtschaftliche und soziale Strukturen und deren rechtsstaatliche Grundlagen. Terrorspezifische Elemente sind die Einschüchterung, die Druckausübung und die Destabilisierung. Die angewandten Mittel sind vielschichtig.“ (Fn. weggelassen). 459 Rahmenbeschluss 2002/475/JI des Rates vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung, Amtsblatt Nr. L 164 vom 22/06/2002 S. 3 ff. 460 Zu den in Art. 1 Abs. 1 des Rahmenbeschlusses genannten einzelnen Straftathandlungen vgl. den Wortlaut der Norm oben Fn. 354. 458
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mente terroristischen Unrechts festhalten: Es muss sich 1. um eine schwere Straftat handeln, die 2. objektiv geeignet ist, ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft zu schädigen und 3. mit einer spezifisch terroristischen Zielsetzung des Täters begangen wurde.461 Ob der von der Sauerland-Gruppe geplante Anschlag tatsächlich als terroristisches Kriminalunrecht in diesem engeren Sinn zu qualifizieren ist, ist indes fraglich. Es müsste sich erstens um Schwerstunrecht handeln, was bei einem Mordanschlag auf eine Vielzahl von Personen gewiss zu bejahen ist. Zweitens müsste er aber durch die Art der Begehung oder den jeweiligen Kontext ein Land oder eine internationale Organisation ernsthaft schädigen können und mit einer terroristischen Zielsetzung begangen werden. Dass die Sauerland-Gruppe mit dem Ziel agierte, auf die Entscheidung des Bundestages über die Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr Einfluss zu nehmen, lässt sich aus der zeitlichen Planung des Anschlags ablesen und somit bejahen. Das Gericht beschreibt die Mitglieder der Sauerlandgruppe zudem als „hasserfüllte, verblendete und von verqueren Jihadideen verführte junge Menschen“,462 so dass auch eine terroristische Motivation nahe liegt, nämlich die Überwindung und der Umsturz des „westlichen“ Lebensstils zugunsten eines islamistisch geprägten Gemeinwesens463 (dessen gewünschte nähere Ausgestaltung in der Beschreibung des Gerichts jedoch nicht deutlich wird). Ob der Anschlag in seinem Umfang und seiner Intensität aber tatsächlich geeignet gewesen wäre, die Bundesrepublik als solche (oder ein anderes Land bzw. internationale Organisation) ernsthaft zu schädigen, ist bei näherem Hinsehen zweifelhaft. Zwar spricht das Gericht von der Verhinderung des „möglicherweise größten Anschlags von islamistischen Terroristen in der Bundesrepublik Deutschland“ 464, von einem „Blutbad mit einer unübersehbaren Vielzahl von Toten und Verletzten vornehmlich unter US-amerikanischen Armeeangehörigen“ 465 bzw. von einem „ungeheuren Tatgeschehen“, das in der „Verabredung zu Sprengstoffanschlägen mit dem Ziel der Tötung von mindestens 150 amerikanischen Militärangehörigen“ liege. Darin liegt unzweifelhaft zu verhinderndes und im Fall seiner
461 So u. a. M. Bäcker, Terrorismusabwehr durch das Bundeskriminalamt (2009), S. 33, 34 und 52 ff. 462 Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung, a. a. O., S. 2. 463 Vgl. dazu auch LK-Krauß, § 129a, Rn. 61. Vgl. zu den gedanklichen Wurzeln der terroristischen Jihad-Idee beispielsweise Th. Vollmer, Der militante Islamismus als neuer Totalitarismus (2007), S. 45 ff.; L. Karg, Staatsversagen und Dschihadistischer Terrorismus als sicherheitspolitische Herausforderung (2011), S. 79 ff.; informativ zur inhaltlichen Definition und demokratie-theoretischen Bewertung des Islamismus A. Pfahl-Traughber, „Islamismus in der Bundesrepublik Deutschland“ Aus Politik und Zeitgeschichte (B 51/2001), S. 43 (44 ff.). 464 Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung, a. a. O., S. 1. 465 Ebenda.
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Verwirklichung strafbares Kriminalunrecht. Aber dass diesem (potentiellen) Schwerstunrecht auch die Eignung zur ernsthaften Schädigung der Bundesrepublik innewohnt, ist doch begründungsbedürftig, da der Umfang des geplanten Unrechts für sich genommen eher nicht auf eine die Grundstrukturen des deutschen oder eines anderen Staates erschütternde Dimension hinweist. Die Anforderungen an das „Eignungserfordernis“ sind durch den BGH im Rahmen der Auslegung des § 129a Abs. 2 StGB466 relativ restriktiv in folgender Weise gefasst worden: „Das objektive Element des § 129a Abs. 2 StGB ,einen Staat erheblich schädigen kann‘ ist für sich ohne Konturen und wenig aussagekräftig. Es bedarf daher, namentlich mit Blick auf das verfassungsrechtliche Gebot der Vorhersehbarkeit staatlichen Strafens durch Bestimmtheit strafrechtlicher Normen (Art. 103 Abs. 2 GG), in besonderer Weise einer strukturierenden und konkretisierenden Auslegung durch die Rechtsprechung. Soweit es den Grad der Realisierung des Nachteils anbelangt, ergibt sich schon unmittelbar aus dem Wortlaut (,schädigen kann‘), dass ein Schaden für den Staat nicht tatsächlich eintreten muss. Es genügt, dass die Straftat oder die Straftaten im Falle ihrer Ausführung – unmittelbar oder durch ihre Auswirkungen – konkret geeignet sind, den Schaden für den Staat herbeizuführen. Dazu reicht die realistische Möglichkeit aus, dass der Schaden nach den Umständen der (vorgestellten) Tatbegehung eintritt (vgl. Miebach/Schäfer in MünchKomm-StGB § 129a Rdn. 54; Rudolphi/Stein in SK-StGB – Stand März 2005 – § 129a Rdn. 11). Die Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts (Tröndle/Fischer, StGB 54. Aufl. § 129a Rdn. 16) oder eine erhöhte Wahrscheinlichkeit sind nicht erforderlich. (. . .). Schwierigkeiten bereitet vor allem die Konkretisierung des Merkmals ,einen Staat schädigen‘. (. . .). Nach Auffassung des Senats ist für eine der ratio der Norm entsprechende Auslegung des Merkmals ,schädigen‘, die eine sinnvolle Begrenzung der erfassten Schäden ihrer Art und Natur nach ermöglicht, insbesondere der Blick auf die nähere Beschreibung der vom Gesetz vorausgesetzten subjektiven Zielrichtungen der Straftaten hilfreich. Es liegt fern, dass die beiden neu eingeführten eingrenzenden Tatbestandsmerkmale (,bestimmt sind‘ und ,schädigen können‘), die in einem einheitlichen Konditionalsatz zusammengefasst sind, beziehungslos neben einander stehen. Näher liegt ein Verständnis dahin, dass das an den Anfang gestellte subjektive Merkmal, das mehrere besonders gravierende Nachteile für den Staat näher beschreibt, in der nachfolgenden objektiven Voraussetzung wieder aufgenommen wird (vgl. Rudolphi/Stein aaO Rdn. 12): Für die Annahme einer terroristischen Vereinigung, deren Tätigkeit oder Zwecke auf die in Absatz 2 erfassten Straftaten gerichtet sind, soll nicht ausreichen, dass sie die Straftaten mit dem Ziel bestimmter Nachteile anstrebt. Vielmehr will das Gesetz bei sachgerechter Auslegung erkennbar zum Ausdruck bringen, dass die Vereinigung, die mit der erforderlichen subjektiven Zielsetzung Straftaten der in 466 § 129a StGB n. F. ist das Ergebnis der Umsetzung des Rahmenbeschlusses des Rates der Europäischen Union vom 13. Juni 2002 zur Terrorismusbekämpfung in das deutsche Recht (vgl. a. a. O. Fn. 354).
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Absatz 2 bezeichneten Art begeht, nur dann als terroristische eingestuft werden soll, wenn die Delikte auch objektiv für den Staat gefährlich sind und nach der Art ihrer Begehung oder ihren Auswirkungen gerade solche Nachteile herbeiführen können, wie nach dem subjektiven Tatbestandsmerkmal notwendigerweise angestrebt. Mit anderen Worten: Ein im Sinne des objektiven Merkmals relevanter Schaden droht dem Staat, wenn die Straftaten geeignet sind, die Bevölkerung in erheblicher Weise einzuschüchtern, eine Behörde rechtswidrig mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen des Staates erheblich zu beeinträchtigen. (. . .) Insbesondere dieser Gesichtspunkt der Konkordanz verlangt zugleich, dass an die von § 129 a Abs. 2 StGB vorausgesetzte Eignung zu einer „erheblichen“ Schädigung des Staates, einem seinerseits wenig bestimmten Merkmal, das aber immerhin verdeutlicht, dass nicht jede geringfügige Schädigung ausreichen kann, keine zu geringen Anforderungen gestellt werden dürfen. Wann eine drohende Schädigung erheblich ist, entzieht sich naturgemäß jedem Versuch einer abstrakten Beschreibung. Ob das Merkmal erfüllt ist, kann jeweils nur unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls entschieden werden. Nur zur Verdeutlichung sei darauf hingewiesen, dass etwa im Falle der Zerstörung von Einrichtungen der Infrastruktur – beispielsweise des öffentlichen Verkehrs oder zur Versorgung der Bevölkerung mit Energie und Wasser – entscheidend sein kann, wie gravierend die Folgen für die Bevölkerung (unter dem Aspekt einer beabsichtigten Einschüchterung) oder die Wirtschaft (unter dem Gesichtspunkt der bezweckten Beseitigung oder erheblichen Beeinträchtigung der wirtschaftlichen Grundstrukturen des Staates) sind und wie schnell die Schäden gegebenenfalls behoben werden können (vgl. Rudolphi/Stein aaO Rdn. 11). Ähnliches gilt etwa für Taten, die sich gegen Einrichtungen der Polizei, der Feuerwehr oder ähnlicher Institutionen richten.“ 467
Die geplanten Delikte müssen demnach objektiv für den Staat gefährlich sein, wobei sich dies daran bemisst, ob „die Straftaten geeignet sind, die Bevölkerung in erheblicher Weise einzuschüchtern, eine Behörde rechtswidrig mit Gewalt oder Drohung mit Gewalt zu nötigen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen des Staates erheblich zu beeinträchtigen.“ Der von der Sauerland-Gruppe geplante Anschlag richtete sich primär gegen US-Amerikanische Einrichtungen und sollte Angehörige der US-Armee, aber auch zufällig anwesende Zivilisten treffen. Dass durch Gewaltakte gegen Teile des in Deutschland stationierten US-Militärs die deutsche Bevölkerung in erheblicher Weise eingeschüchtert würde (wie etwa bei Anschlägen auf Ziele, bei denen große Menschenmengen zufällig und schutzlos der Gewalt preisgegeben werden, z. B. auf Bahnhöfen, Flughäfen, öffentlichen Plätzen, in Zügen oder bei unkontrollierter Freisetzung giftiger, strahlender, o. ä. Substanzen)468, ist eher 467
BGHSt 52, 98 (102 ff., Rn. 17–22, Kursivierungen der Verf.). Vgl. dazu LK-Krauß, § 129a, Rn. 57: „Das erforderliche Maß an Einschüchterung dürfte deshalb immer dann erreicht sein, wenn über den engeren örtlichen Bereich 468
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zweifelhaft. Denn damit dieses Merkmal erfüllt ist, müsste „sich ein nennenswerter Teil der Gesamtbevölkerung aus Furcht vor weiteren Aktionen der Vereinigung in einer der Vereinigung genehmen Weise in erheblichem Maße in ihrem Verhalten beeinflussen“ lassen,469 was bei gezielten Anschlägen auf das US-Militär für die breite Masse der Bundesbürger nicht zu erwarten ist. Auch kann nicht von einer „Nötigung einer Behörde durch Gewalt oder Drohung mit Gewalt“ gesprochen werden, denn einer „Erzwingung eines der Vereinigung genehmen Verhaltens einer Person bei der Wahrnehmung hoheitlicher Kompetenzen“ 470 hätte der geplante Anschlag nicht dienen können. Dass der Anschlag möglicherweise das Abstimmungsverhalten im Bundestag beeinflusst und damit zu einer Beseitigung oder erheblichen Beeinträchtigung der politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen des Staates geführt hätte, lässt sich ebenfalls kaum annehmen. Es ging bei dem geplanten Gewaltakt weder um bundesrepublikanische Schlüsselstellen oder Verfassungsorgane (beispielsweise Bundestag oder Ländervertretungen, Bundes- oder Landesregierung, Bundespräsidialamt, Bundeswehr) noch um einen Angriff auf rechtliche Grundstrukturen (Justiz, Staatsanwaltschaften, Polizei). Mit ihm wäre keine „vollständige oder ein erhebliches Ausmaß erreichende partielle Beseitigung von tatsächlich vorhandenen staatlichen oder gesellschaftlichen Grundstrukturen“ 471 verbunden gewesen, sondern maximal eine sich gegen das US-Militär richtende Verunsicherung der deutschen Standorte. Insofern ginge zwar von den geplanten Anschlägen eine Signalwirkung aus, die die Gewaltbereitschaft der „Islamischen Jihad Union“, ihre Kritik am westlichen Lebensstil und ihren Hass auf die USAmerikanische Nation ausdrückten. Aber eine objektive Eignung zur erheblichen
der Tatbegehung hinaus bei dem betroffenen Bevölkerungsteil ein allgemeines Klima der Angst vor willkürlichen, grundlosen Angriffen und eine Unsicherheit darüber hervorgerufen wird, ob das friedliche und gewaltfreie Zusammenleben der Bevölkerung noch gewährleistet ist und die durch die Katalogtaten geschützten Rechtsgüter noch sicher sind.“ 469 Vgl. zu diesen Anforderungen an das Tatbestandsmerkmal „Einschüchterung der Bevölkerung auf erhebliche Weise“ etwa SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129a, Rn. 10. Siehe ferner BGH NStZ-RR 2006, 267, 268; Fischer, § 129a, Rn. 15; Kindhäuser, LPKStGB, § 129a, Rn. 8 (das Sicherheitsgefühl eines zumindest wesentlichen Teils der Bevölkerung müsse derart betroffen sein, dass „das Vertrauen in die öffentliche Rechtssicherheit und das befriedete Zusammenleben der Bürger massiv beschädigt oder gar erschüttert ist, so dass die Wahrnehmung elementarer, für das Zusammenleben unabdingbarer Grundfreiheiten des Einzelnen gefährdet wird“, mit Verweis auf Helm, StV 2006, S. 719 (721)). 470 Siehe SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129a, Rn. 10. 471 Vgl. SK-StGB-Rudolphi/Stein, § 129a, Rn. 10. Ähnlich LK-Krauß, § 129a, Rn. 59, der verlangt, dass die „Integrität eines Staates (. . .) auf eine Art und Weise angegriffen“ wird, dass die „Sicherung der das Gemeinwesen konstituierenden Strukturen und die Gewährleistung grundlegender (rechtsstaatlicher) Prinzipien tatsächlich wesentlich gefährdet oder beseitigt würde“; NK-Ostendorf, §§ 129a, 129b, Rn. 6b; Kindhäuser, LPK-StGB, § 129a, Rn. 8.
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Schädigung472 der Bundesrepublik Deutschland oder eines anderen Landes (auch den USA) lässt sich ohne weiteres nicht annehmen. Wird also die Terrorismusdefinition des EU-Rahmenbeschlusses vom 13. Juni 2002 in der Auslegung, die sie durch den BGH erfahren hat, zugrunde gelegt, so handelt es sich bei den geplanten Straftaten der Sauerland-Gruppe nicht um solche, die den Unrechtsgrad und die objektive Qualität von terroristischen Akten erreichen. Wenn sie auch schwerstes Unrecht darstellen und subjektiv mit terroristischer Zielsetzung begangen werden sollten, so fehlt ihnen doch die objektive Dimension der Staatsschädigungseignung. Für die Befugnisse der Präventivbehörden bedeutet dies, dass sich ihre Tätigkeit zwar auf die Verhinderung von schwerstem Unrecht richtete und sie damit auch zu erheblichen Eingriffen in die Freiheitssphären der Verdächtigen berechtigt waren, dass es aber nicht um Unrechtsverhinderung ging, deren Dimension die Grundfesten des Staates selbst oder die Lebensbedingungen der Bevölkerung betrafen. Diese Differenzierung im Bereich des zu verhindernden Unrechts soll bei der nun folgenden Entfaltung der Grundzüge eines freiheitsgesetzlich fundierten und rechtsstaatlich begründeten Präventionsrechts, das auch den Besonderheiten der terroristischen Bedrohung Rechnung trägt, berücksichtigt werden. b) Zur Ausgestaltung legitimer Terrorismusprävention Aus den Grundprinzipien rechtsstaatlicher Prävention lassen sich – wie gezeigt – drei Gruppen von Kriterien für die Normierung legitimer staatlicher Unrechtsverhinderung herleiten, die nun für den besonderen Fall der Terrorismusabwehr zu konkretisieren sind: Erstens die Befugnisse zur Feststellung der Wahrscheinlichkeit eines künftigen Rechtsbruchs (dazu aa)), zweitens die materiellen Kriterien und Grenzen möglicher Eingriffe in die Rechtssphäre einzelner Subjekte, die aufgrund der festgestellten Unrechtswahrscheinlichkeit erfolgen (unter bb)) und drittens die Rechtsschutzmöglichkeiten, die dem betroffenen Subjekt einzuräumen sind (cc)). aa) Befugnisse zur Ermittlung der Wahrscheinlichkeit eines künftigen (terroristisch motivierten) Rechtsbruchs Für einen präventiven staatlichen Eingriff in die Freiheitssphäre eines Rechtssubjekts ist – wie bereits in der Grundlegung herausgearbeitet – erste Vorausset472 Eine erhebliche Schädigung setzt die „vollständige oder zumindest partielle Unfähigkeit des Staates oder der internationalen Organisation“ voraus, „die ihm oder ihr obliegenden Aufgaben (etwa Bereitstellung von Infrastruktur, Sozialwesen, Wahrung der öffentlichen Sicherheit) ordnungsgemäß zu erfüllen.“ (Kindhäuser, LPK-StGB, § 129a, Rn. 9).
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zung, dass dieses Subjekt mit einem bestimmten Grad von Wahrscheinlichkeit zukünftig Unrecht begehen wird. Da diese Wahrscheinlichkeit in den seltensten Fällen offen zu Tage treten wird, ist es in einem ersten Schritt notwendig und berechtigt, sie durch staatliche Maßnahmen zu ermitteln. Die Ermittlung einer solchen Wahrscheinlichkeit gerade beim betroffenen Subjekt muss zunächst aus sachlichen Gründen erfolgen und sich auf möglichst sicheres Erfahrungswissen stützen. Das schließt es aus, Personen willkürlich, d. h. ohne Sachgrund, unter Beobachtung zu stellen oder ihnen sonstige freiheitsrelevante Maßnahmen zuzumuten. Flächendeckende, d. h. verdachtsunabhängige, zumal heimliche Beobachtungs- oder Ausforschungsmaßnahmen sind deshalb unzulässig.473 (1) Erste Verdachtsermittlungsphase: Anfänglich diffuser Verdacht aufgrund objektiver Erfahrungswerte Die Rechtmäßigkeit präventiver, freiheitsbeschränkender Maßnahmen gegenüber terrorismusverdächtigen Personen, etwa den Mitgliedern der SauerlandGruppe, ist demnach in der ersten Verdachtsermittlungsphase davon abhängig, dass es objektiv einen Anlass dafür gibt, dass (gerade) sie unter Beobachtung der Behörden geraten, und dass die Notwendigkeit dieser Beobachtung gemessen an den empirischen Erfahrungen der Terrorismusbekämpfung als erwiesen oder zumindest plausibel gelten kann. Im Falle der Mitglieder der Sauerland-Gruppe berichtet das Gericht von einem langen Prozess der Identifikation mit radikal-islamischen Inhalten und einer steigenden Gewaltneigung, die sich über Jahre entwickelt hat.474 Es ist deshalb empirisch schwierig bis unmöglich, den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, in dem aus einer privaten (und deswegen dem staatlichen Zugriff notwendig entzogenen) Beschäftigung mit Glaubensfragen eine terroristische, d. h. gewaltbereite und auf 473 Kritisch zu einer „eingreifend generalüberwachenden Geheimpolizei ohne Justizkontrolle“ schon M. Köhler, „Prozessrechtsverhältnis und Ermittlungseingriffe“ ZStW 107 (1995), S. 10 (11). 474 Hier wird das Beispiel des islamistischen Terrorismus näher betrachtet. Im Wesentlichen lassen sich die folgenden Erkenntnisse aber auch auf rechts- und linksextremistischen Terrorismus übertragen. Sowohl bei den rechtsextremistischen Gruppierungen lassen sich bestimme Kristallisationspunkte (z. B. Vereins- und Gasthäuser, „SzeneTreffpunkte“) und personelle Gruppierungen (z. B. Heimatvereine, rechtsradikale Musikszene, politische Parteien mit rechtem Gedankengut) ausmachen, die den Weg zum gewalttätigen Terrorismus begleiten und ebnen, als auch beispielsweise bei der (vor allem in den 1970er bis 1990er Jahren aktiven) linksradikalen RAF, deren Inhalte, politischen Ziele und Mitglieder im wesentlichen aus der linken Studentenszene stammten. Vgl. zum Rechtsextremismus etwa den Überblick der Bundeszentrale für politische Bildung unter http://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/und für die linksradikale RAF http://www.bpb.de/geschichte/deutsche-geschichte-nach-1945/ge schichte-der-raf/.
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die Verletzung Anderer bzw. die Zerstörung rechtlicher Grundstrukturen gerichtete Tätigkeit wird.475 Aus diesem Grund muss es dem Staat möglich sein, eine Beobachtung derjenigen möglicherweise betroffenen Personen durchzuführen, die sich in einem Umfeld bewegen, das erfahrungsgemäß die genannte Entwicklung anstößt oder unterstützt. Dazu gehören Treffpunkte, die bekannt sind für radikalisierende Einwirkungshandlungen, und Personengruppen, deren Mitglieder terroristische Ziele verfolgen bzw. mit terroristischen Vereinigungen in Verbindung stehen.476 Die Beobachtung darf sich dabei zunächst auf die Strukturen der Gruppen, auf ihre öffentlichen Aussagen und Taten und auf mögliche Zusammenhänge mit bekannten kriminellen/terroristischen Taten bzw. Vereinigungen und deren jeweiligen Strukturen richten. 475 Zu den Schwierigkeiten empirischer Forschung im Bereich „verdeckt und aus dem Untergrund agierender nichtstaatlicher Gewaltakteure“ vgl. z. B. U. Schneckener, Transnationaler Terrorismus (2006), S. 8 ff., der von einem „notorischen Mangel an für Wissenschaftler zugänglichen Primärquellen“ spricht. Die mit der mangelnden empirischen Erkenntnis einhergehenden Fragestellungen fasst zutreffend BfV-Vizepräsident H. E. Remberg in seinem Vortrag „Die Bekämpfung des islamistischen Terrorismus“ im Rahmen der BKA-Herbsttagung (21. November 2007) zum Thema „Tatort Internet – eine globale Herausforderung für die Innere Sicherheit“ zusammen. Er schreibt: „Wir müssen die Wirkungskräfte begreifen, die hinter der terroristischen Gewalt stehen und sie antreibt. Was macht die Al-Qaida-Ideologie so attraktiv für manche Muslime, besonders, das ist aktuell zu befürchten, so attraktiv für Jüngere und Konvertiten? Wie verläuft der Prozess der Radikalisierung? Wie derjenige der Rekrutierung? Was ermöglicht uns, Wandlungsprozesse schon frühzeitig zu erkennen? Was spielt sich ab, wenn eine Person aus der Phase einer puren Abwehrhaltung gegenüber unserer Gesellschaft heraustritt und sich sodann bewusst und zielgerichtet der islamistischen Ideologie zuwendet, um schließlich zum Terroristen zu werden?“ (abrufbar unter https://www.bka.de/ nn_196810/sid_6A33EFEE4F2BA12665C98B2EAB4AA86D/SharedDocs/Downloads/ DE/Publikationen/Herbsttagungen/2007/herbsttagung2007rembergLangfassung.html?__ nnn=true). 476 Vgl. zu den tatsächlichen und rechtlichen Problemen einer solchen Beobachtung zusammenfassend M. Klink, Erster Direktor a. D. (BKA), „Vom Staatsterrorismus zum islamistischen Terrorismus/Auswirkungen unterschiedlicher Formen terroristischer Bedrohung in Deutschland“ auf der Veranstaltung des BKA zu „60 Jahre Staatsschutz im Spannungsfeld zwischen Freiheit und Sicherheit“ (abrufbar unter https://www.bka.de/ nn_196810/sid_6A33EFEE4F2BA12665C98B2EAB4AA86D/SharedDocs/Downloads/ DE/DasBKA/Historie/07__STVeranstaltungRedeKlink.html?__nnn=true): „Vorrangiges Ziel der Terrorismusbekämpfung war und ist angesichts der bestehenden Bedrohungslage die Verhinderung neuer Anschläge und der Schutz gefährdeter Personen und Einrichtungen. Wegen der Vielzahl gefährdeter Einrichtungen kommt der täterorientierten Prävention besondere Bedeutung zu. Potentielle Gefährder, insbesondere die Personen, die sich einer Terrorausbildung in Afghanistan unterzogen haben, müssen mit den rechtsstaatlich gebotenen Instrumenten von Polizei und Nachrichtendiensten beobachtet werden. Die Tatplanungen zu den Anschlägen in den USA fanden u. a. in der Al Quds Moschee in Hamburg statt. Nach unseren Erkenntnissen ist dies kein Einzelfall. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die Sicherheitsbehörden auch an Orten, die der religiösen Betätigung gewidmet sind, Erkenntnisse in rechtsstaatlich einwandfreier Weise gewinnen können. Hier ist in dem Spannungsfeld Freiheit und Sicherheit der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz streng zu beachten und ein hohes Maß an Fingerspitzengefühl erforderlich.“
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Soweit allerdings die Beobachtung die Freiheitssphäre der betroffenen Subjekte in einer Weise berührt, die über die Überwachung öffentlich oder in einem semi-öffentlichen Umfeld (z. B. in allgemein zugänglichen Räumen oder über allgemein zugängliche Quellen, z. B. Internetseiten, soziale Netzwerke, Publikationen, frei zugängliche Gottesdienste, Versammlungen o. ä.) stattfindenden Kontakte hinaus geht, insbesondere die Privatsphäre betrifft, so ist die rechtliche Zulässigkeit abhängig von weiteren Voraussetzungen. Wie bereits herausgearbeitet, sind Freiheitsbeeinträchtigungen, die sich aus diesen ersten Ermittlungsmaßnahmen für den Einzelnen ergeben, nur in geringem Maße gerechtfertigt. Während die StPO Ermittlungsmaßnahmen wie beispielsweise die Überwachung der Telekommunikation gem. § 100a StPO477 oder die Durchsuchung beim Verdächtigen gem. § 102 StPO zumindest vom Vorliegen eines Anfangsverdachts478 bzgl. einer begangenen Straftat abhängig macht, so müssen Präventivermittlungen gesetzlich noch restriktiver geregelt werden, weil eine „Anlasstat“ – noch nicht einmal eine vermutete – nicht vorliegt und somit dem betroffenen Subjekt (noch) nichts vorzuwerfen ist. Die Unvorhersehbarkeit menschlicher Handlungen, die Tatsache, dass im präventiven Tätigkeitsfeld stets auf empirisch unsicherer Basis eingegriffen wird und deswegen die Gefahr besteht, den Betroffenen zu Unrecht in seiner Freiheit zu beschränken, muss zu zurückhaltender Normierung freiheitsrelevanter Ermittlungsbefugnisse führen. Als Maßstab für die Normierung muss gelten, dass die Überwachungsmaßnahme selbst dann noch als gerechtfertigt gelten kann, wenn sie „den Falschen“, also eine Person betrifft, die objektiv kein Unrecht plant bzw. vorbereitet. Die leitende Fragestellung muss in dieser Anfangsphase der Verdachtsermittlung lauten: Welches Maß an Überwachung kann derjenige Bürger noch als rechtlich-begründet hinnehmen, dem sie allein deswegen zugemutet wird, weil gegen ihn eine Art „Präventivanfangsverdacht“ besteht – beispielsweise, weil er Kontakt zu Menschen pflegt, die sich im Umfeld einer „verdächtigen“ Moschee bewegen? Die Duldungspflicht des Subjekts ist in dieser Situation nur durch eine erste, häufig vage Annahme begründet, die sich allenfalls auf objektive Erfahrungswerte, nicht aber auf ein Fehlverhalten des Subjekts selbst stützen kann. Vergleichbar ist die Begründungsproblematik solcher Freiheitseingriffe in bestimmter Hinsicht mit dem Problem der Duldungspflicht von strafprozessualen Ermittlungsmaßnahmen:479 In beiden Fällen trifft das Rechtssubjekt eine staatliche Zwangsmaßnahme in einer Situation, in der empirische Unsicherheit im Hinblick auf den Anlass der Maßnahme besteht. Im Strafprozess liegt es in der Natur der Sache, dass Täterschaft und Schuld des Betroffenen im Zeitpunkt der Ermitt477 Vgl. zur Überwachung der Telekommunikation gem. §§ 100a, 100b StPO C. Roxin/B. Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 36, Rn. 1 ff. 478 Vgl. Meyer-Goßner, StPO, § 100a, Rn. 9 und § 102, Rn. 3. 479 Dazu M. Köhler, „Prozessrechtsverhältnis und Ermittlungseingriffe“ ZStW 107 (1995), S. 10 ff.
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lungsmaßnahmen noch ungeklärt sind. Im Falle der Präventivmaßnahmen ist es wegen der Unvorhersehbarkeit menschlicher Handlungszusammenhänge stets so, dass Unsicherheit in Bezug auf die zukünftige Tat herrscht – in der Phase der Ermittlung einer Unrechtswahrscheinlichkeit ist allenfalls von einer möglichen zukünftigen Tat auszugehen. Die Duldungspflicht lässt sich in beiden Fällen nur mit der auch dem betroffenen Subjekt einsichtigen Notwendigkeit einer funktionierenden Strafrechtspflege und Präventivtätigkeit des Staates für den Bestand einer freiheitlichen Rechtsgemeinschaft rechtfertigen – eine Rechtsgemeinschaft, die auch das betroffene Subjekt umfasst, ihm ein Leben in Freiheit real möglich macht und deshalb auch aus seiner Sicht vernunftnotwendig ist. Sowohl die Ausübung des unrechtsausgleichenden Strafrechts, als auch die Verhinderung von Unrecht sind vernunftgegründete Staatsaufgaben, die von den Bürgern als Teile einer freiheitsrealisierenden, verfassten Gemeinschaft mitgetragen und akzeptiert werden. Ist ihre Realisierung nun darauf angewiesen (weil in der praktischen Umsetzung alternativlos), im Prozess auch objektiv Unschuldigen bzw. grundlos Verdächtigen nachzugehen, so kann jeder Bürger einsehen, dass ihn bestimmte Maßnahmen (objektiv zu Unrecht) treffen können, und dass er sie zu einem gewissen Grad als Teil seiner Bürgerpflicht zu dulden hat. Diese Bürgerpflicht lässt sich so umschreiben, dass die Realisierungsmechanismen für ein freiheitliches Recht eine Teilnahme fordern, die auch belastende Momente mit sich bringt.480 Allerdings sind dem Maß der Belastung Grenzen gesetzt. Im Bereich des Strafprozesses ergeben sich zwar bestimmte allgemeine Justizpflichten (beispielsweise sich als Person identifizieren zu lassen, Erscheinensund Anwesenheitspflichten), allgemeine Beweismittelpflichten zur Tatverdachtsklärung (Duldungspflicht zur Beobachtung äußeren Handelns, Durchsuchung von Räumen und Sachen, Sicherstellung, Beschlagnahme, partikuläre körperliche Untersuchung) sowie Zeugenpflichten.481 Aber ebenso deutlich lassen sich die Grenzen der Bürgerpflicht zur Mitwirkung am Strafprozess bestimmen: Ausgeschlossen sind einerseits „irreversibel-schwere Eingriffe in substantielle Freiheitsrechtsgüter wie Leben, Körperintegrität, Freiheit“, andererseits Beeinträchtigungen der grundrechtlich gewährleisteten Selbstverständigungs- und Kommunikationsrechte (Art. 2 Abs. 1, 1 Abs. 1 GG, Art. 13 GG, Art. 10 GG). Köhler nennt diese Bereiche „unverfügbare Aufopferungsgrenzen höchstpersönlicher und interpersonaler Selbstbestimmung“.482 480 In eine ähnliche Richtung geht auch die Begründung der Ermittlungsbefugnisse bei M. Köhler, der die Einschränkung personaler Rechte um der „Einrichtung und Erhaltung des freiheitsgewährleistenden Staates und seiner Funktionen“ willen als berechtigt ausweist und sich dabei – wie auch in der vorliegenden Arbeit vertreten – von einer reinen Interessenabwägung (Gemeinwohl gegen Einzelinteresse) absetzt. („Prozessrechtsverhältnis und Ermittlungseingriffe“ ZStW 107 (1995), S. 10 (18, 19). 481 Näher dazu M. Köhler, „Prozessrechtsverhältnis und Ermittlungseingriffe“ ZStW 107 (1995), S. 10 (22 ff.) 482 Ebenda, S. 24.
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Für den Bereich präventiver Ermittlungen sind die Grenzen anhand der Eigenart unrechtshindernden Zwangs zu bestimmen. Es gilt, dass in der Phase der nur möglichen, noch nicht wahrscheinlichen Unrechtsbegehung die Freiheit eines unter Verdacht Geratenen nicht erheblich (schon gar nicht: gravierend oder substantiell) eingeschränkt werden darf. Er muss zwar beispielsweise dulden, dass seine äußeren, öffentlichen und semi-öffentlichen Kontakte beobachtet und registriert werden (beispielsweise seine Anwesenheit bei Veranstaltungen, die Tatsache, mit bestimmten Personen in Kontakt zu stehen) und dass dabei seine Identität und die der Kommunikationspartner sowie die Gewohnheiten der Kontaktaufnahme festgestellt werden, nicht aber, dass (auch nicht unter Verwendung technischer Hilfsmittel oder sog. „verdeckter Ermittler“) private Kontakte ausgehorcht, dass private Kommunikation überwacht oder beispielsweise genutzte Internetdienste gesichtet bzw. aufgezeichnet werden. Die Grenze muss dort verlaufen, wo die (zulässige) Beobachtung des allgemein wahrnehmbaren Verhaltens, die innerhalb besonders fokussierter Gruppen oder an „verdächtigen“ Orten durchaus intensive Ausmaße annehmen darf, übergeht in den Bereich privater Lebensgestaltung inklusive der damit einhergehenden Kommunikation. Im Fall der Mitglieder der Sauerlandgruppe ist deshalb die zeitliche Phase, in der sie sich zunächst allgemein mit Inhalten des Islams auseinandersetzten, zu diesem Zweck Moscheen besuchten, in Gesprächen Kontakt zu anderen Gläubigen (auch radikal-islamischen) suchten, sich Predigten (auch extremistischen Inhalts) anhörten, etc. als eine solche erste vage Anfangsverdachtsphase zu beschreiben,483 in der Freiheitsbeeinträchtigungen nur in geringem Maße zulässig sind. Die Personen dürfen zwar als solche wahrgenommen, registriert und beobachtet werden, die sich in verdächtigen Kreisen aufhalten, nicht aber selbst schon als Verdächtige. (2) Zweite Verdachtsermittlungsphase: Subjektiv begründete, reale Möglichkeit einer Straftatbegehung Eine höhere Intensität dürfen präventive Freiheitsbeeinträchtigungen zur Verdachtsermittlung erst dann annehmen, wenn die betroffenen Subjekte durch eigenes Verhalten (z. B. Äußerungen, Drohungen, erste Vorbereitungshandlungen) zu einer Nährung des („Anfangs“-)Verdachts beigetragen haben und damit zur all483 Bezogen auf den Angeklagten G. beschreibt das Gericht den Prozess der Radikalisierung in dieser ersten Phase folgendermaßen: „Der Angeklagte G. konvertierte 1995 zum Islam; nach den Anschlägen vom 11. September 2001 begann er, sich verstärkt mit dem bewaffneten Jihad zu befassen. Seit Sommer 2002 besuchte er regelmäßig das (. . .) Multikulturhaus in Neu-Ulm, einen damals bekannten Islamisten-Treffpunkt, der von den Behörden 2005 geschlossen wurde; den Angeklagten faszinierten dort insbesondere die Vorlesungen und Predigten des Dr. Yehia Yousif alias Scheich Abu Omar; ferner suchte er das Islamische Informationszentrum Ulm auf und arbeitete dort aktiv mit.“ (Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung, a. a. O., S. 4, 5).
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gemeinen Möglichkeit der Unrechtsbegehung aufgrund objektiver Erfahrungswerte (= erste Verdachtsermittlungsphase) ein subjektiv begründetes, besonderes Verdachtsmoment hinzu tritt (= zweite Verdachtsermittlungsphase). Dieses subjektiv begründete Moment kann beitragen zu einer Zuspitzung des anfänglich diffusen Verdachts, hin zu einer realen Möglichkeit, die sich weiter entwickeln kann zu der weitere Präventivmaßnahmen rechtfertigenden Unrechtswahrscheinlichkeit. Ein solches verdachtsnährendes Verhalten kann beispielsweise darin liegen, dass die betroffenen Subjekte sich öffentlich oder semi-öffentlich zur Gewalt als Mittel der Auseinandersetzung bekennen, dass sie extremistisches (insbesondere gewalt-rechtfertigendes) Gedankengut in zustimmender Weise weitergeben oder dafür ihre Sympathie bekunden, dass sie dazu übergehen, nach außen kenntlich terroristische Zielsetzungen zu verfolgen, sich beispielsweise üben im Umgang mit Waffen, Sprengmitteln etc., oder mittels krimineller Handlungen die für Gewaltakte notwendigen Mittel beschaffen. In das Feld dieser ersten Vorbereitungshandlungen, die zu einer realen Unrechtsmöglichkeit führen, gehören auch manche der in §§ 89a und 91 StGB genannten „Tathandlungen“ wie etwa die Ausbildung in der Herstellung oder im Umgang mit Schusswaffen, Sprengstoffen, Sprengvorrichtungen etc. (vgl. § 89a Abs. 2 Nr. 1 StGB), beispielsweise in einem ausländischen terroristischen Lager; die Beschaffung von Vermögenswerten, die erkennbar terroristischen Zwecken dienen sollen (vgl. § 89a Abs. 2 Nr. 3 StGB), insbesondere wenn diese Beschaffung ihrerseits auf kriminellem Weg erfolgt; das sich Verschaffen von Bombenbauanleitungen, o. ä. (vgl. § 91 StGB). Ferner können dazu einige der „Tathandlungen“ des § 129a StGB zählen: Das Gründen einer (echten)484 terroristischen Vereinigung, die mitgliedschaftliche Beteiligung an ihr und ihre Unterstützung, soweit die Beiträge über „neutrale Handlungen“ hinaus gehen, und das Werben für sie. Die Verdachtsnährung durch eigene Handlungen des Subjekts rechtfertigt eine über die allgemeine Bürgerpflicht hinausgehende Duldungspflicht im Hinblick auf Freiheitsbeeinträchtigungen, die der weiteren Verdachtsermittlung dienen. Da in dieser Phase insbesondere die Beobachtung der Betroffenen als unabdingbare Voraussetzung für eine wirksame Unrechtsprävention gelten kann, ist zu klären, ob und welche Befugnisse den Präventivbehörden im Bereich der Datenerhebung und -sammlung (z. B. längerfristige Observation, Einsatz technischer Mittel bei Bildaufnahmen und Abhören bzw. Aufzeichnung des nicht-öffentlich gesprochenen Wortes, Einsatz verdeckter Ermittler, Überwachung der Telekommunikation, Online-Durchsuchung), beim Betreten und Durchsuchen von Wohnungen und bei der technischen Wohnraumüberwachung in dieser Phase der Ermittlung zu Recht zustehen: Welche Qualität dürfen Freiheitseingriffe haben, die der präventiv han484 Vgl. dazu die Kriterien, die an „terroristische Taten“ anzulegen sind, die das Ziel der Vereinigung darstellen müssen, oben bei Fn. 428.
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delnde Staat in dieser Phase der subjektiv begründeten, real möglichen, nicht aber schon wahrscheinlichen terroristischen Unrechtsbegehung vornimmt? Das charakteristische Merkmal der Freiheitsbeeinträchtigungen solcher (im weitesten Sinne) Beobachtungsmaßnahmen liegt darin, dass sie nicht mehr nur allgemein wahrnehmbare Verhaltensweisen einer Person betreffen, sondern typischerweise ihren grundrechtlich geschützten Privatbereich. Ein Eingriff in diese Privatsphäre ist aber bei bloß möglicher Straftatbegehung nur in geringem Maße und auch nur in bestimmter Weise zu rechtfertigen. Ausgeschlossen sind daher zunächst Eingriffe in die Intimsphäre und alle Formen einer Totalüberwachung (beispielsweise langfristige, den gesamten Privatbereich betreffende Observation, auch durch Bild- oder Tonaufnahmen, flächendeckende Überwachung der Telekommunikation, Online-Durchsuchung der privaten Rechner). Ansatzpunkt für einen zulässigen Eingriff müssen die verdacht-begründenden Handlungen des betroffenen Subjekts selbst sein. Nur in Bereichen, wo es durch sein eigenes Verhalten den Verdacht in besonderer Weise begründet und dadurch den Fokus staatlicher Beobachtung auf sich zieht, muss es dulden, genauer beobachtet zu werden. Das bedeutet, dass beispielsweise der Kreis derjenigen privaten oder öffentlichen Kontakte näher gesichtet werden darf, in dem sich das Subjekt offen zur Gewalt bekennt, extremistisches Gedankengut austauscht oder weitergibt, in dem der Umgang mit Waffen, Sprengmitteln, etc. geübt oder erprobt wird, oder in dem andere Vorbereitungshandlungen oder Planungen für Gewaltakte stattfinden. Dies schließt die typischen Treffpunkte (z. B. Gemeindezentren, Gebetsräume, Vereinshäuser, Gaststätten) oder etwa Waffenübungsplätze („Ausbildungslager“, auch im Ausland) ein; möglich sind auch Überwachungen, die die Kommunikation innerhalb der gewaltbereiten Zirkel betreffen, beispielsweise die Überwachung der von diesen Gruppen betriebenen Internetseiten, ihren Emails oder ihren physischen und virtuellen Versammlungsräumen. Nicht überwacht werden darf dagegen der Teil des Privatbereichs, der in keinem ersichtlichen Zusammenhang zu diesen Tätigkeiten steht – etwa der nähere Bereich der Familie, des Berufs oder der Nachbarschaft. Bezogen auf die zulässigen Mittel ist nach der Typik und Intensität der Freiheitsbeeinträchtigung zu differenzieren. Der Einsatz technischer Mittel (etwa in Form von Bildaufnahmen, dem Abhören bzw. Aufzeichnen des nicht-öffentlich gesprochenen Wortes, der Überwachung der Telekommunikation sowie der Online-Durchsuchung), aber auch der Einsatz verdeckter Ermittler ist grundsätzlich deswegen mit besonderen Legitimationsproblemen verbunden, weil es sich typischerweise um heimliche Maßnahmen handelt, die den Betroffenen in einer Weise belasten, gegen die er sich erst mit Offenlegung ihm gegenüber wehren könnte.485 485 Die Regelungen im 2. Abschnitt des BKAG zur „Abwehr von Gefahren des internationalen Terrorismus“ (Unterabschnitt 3a, §§ 20a–20x BKAG) enthalten einen entsprechenden Maßnahmenkatalog.
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Sie können nur dann zulässig sein, wenn sichergestellt ist, dass nur der Kreis der privaten und öffentlichen Kontakte „ausgeforscht“ wird, der tatsächlich in unmittelbarem Zusammenhang mit den verdachts-begründenden Handlungen des betroffenen Subjekts steht. Zulässig können dann beispielsweise Abhörmaßnahmen innerhalb der üblichen Treffpunkte oder Aufenthaltsräume sein, in denen Gewalt propagiert oder ihre Anwendung geplant wird; im Zusammenhang mit dem Umgang mit Waffen kann dies auch für Ausbildungs- oder Lagerstätten gelten. Die üblichen Kommunikationswege (Internetseiten, Foren, E-Mail- und Telefonverkehr) dürfen nur insoweit überwacht werden, wie sie nicht auch der privaten Kommunikation im Übrigen dienen. Im Zweifel ist in dieser Phase der noch nicht wahrscheinlichen zukünftigen Unrechtsbegehung auf eine Kommunikationsüberwachung zu verzichten. Insbesondere die Ausforschung familiärer Kontakte (etwa zwischen Eheleuten) und die technische Überwachung der Privatwohnungen, -telefone und -computer der Betroffenen sind unzulässig.486
486 Diesen Anforderungen genügen die geltenden Vorschriften (§§ 20a–20x BKAG) im BKAG nicht. Die Voraussetzungen, unter denen die einzelnen Maßnahmen zulässig sein sollen, sind nicht in der notwendigen Weise materiell restriktiv, nach dem Grad des Verdachts und seiner Begründung gerade durch das betroffene Subjekt systematisiert, widerspruchsfrei, bestimmt und klar gesetzlich gefasst. Dies sei an einigen Beispielen gezeigt: • Die Erhebung personenbezogener Daten ist beispielsweise überhaupt nur an das „Vorliegen von Tatsachen“ geknüpft, „die die Annahme rechtfertigen, dass die betroffene Person eine Straftat gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 BKAG begehen will“ oder mit einer solchen Person „nicht nur flüchtig oder in zufälligem Kontakt steht“ (§ 20b Abs. 2 Nr. 1 und 2 BKAG). Der Verweis auf § 4 Abs. 1 Satz 2 bezieht sich auf die aus § 129a Abs. 2 StGB bekannte Definition terroristischer Straftaten, die in ihrer Auslegung u. a. die bereits benannte Konkretisierungsschwierigkeit bzgl. der Staatsschädigungseignung aufwirft. Im BKAG wird die ursprünglich im europäischen Rahmenbeschluss als Terrorismusdefinition auftauchende, im StGB in Tatbestandsform gegossene Formulierung unvermittelt zur Befugnisnorm für das BKA, wobei nun nicht nur die bloß intendierte Tat einer Vereinigung zum Strafgrund mutiert, sondern auch noch manifeste Freiheitseingriffe im Vorfeld ermöglicht. Offen bleibt dabei u. a. welcher Art diese Tatsachen sein müssen, welchen Verdachtsgrad (einen „anfänglich diffusen Verdacht“, eine „subjektiv begründete reale Möglichkeit“ oder eine „Wahrscheinlichkeit“) sie begründen müssen, worauf genau sich der Verdacht beziehen muss (nach dem Wortlaut scheint es zu genügen, dass Tatsachen darauf hindeuten, dass die betroffene Person oder die Person, mit der sie nicht nur flüchtig in Kontakt steht, eine Straftat begehen will (nicht auch realistischerweise in einem überschaubaren Zeitraum auch kann), die ihrerseits eine terroristische Zielsetzung und eine Staatsschädigungseignung aufweist) und warum selbst Außenstehende („Kontaktpersonen“) eine Duldungspflicht treffen soll. • Der Einsatz besonderer Mittel der Datenerhebung, die mit einer deutlich höheren Beeinträchtigung der Privatsphäre einhergehen (z. B. längerfristige Observation, Einsatz technischer Mittel für heimliche Bildaufnahmen bzw. zum heimlichen Abhören oder Aufzeichnung des nicht öffentlich gesprochenen Wortes außerhalb von Wohnungen, Einsatz von „Vertrauenspersonen“ oder verdeckten Ermittlern) hat im Grundsatz keine strengeren Voraussetzungen als die in § 20b BKAG geregelte „offene“ Datenerhebung: Gem. § 20g Abs. 1 Nr. 2 BKAG ist der Einsatz der besonderen Mittel zur Straftatverhütung ebenfalls nur an einen vagen „Anfangsverdacht“ gebunden: „Tat-
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sachen müssen die Annahme rechtfertigen“, dass die betroffenen Personen Straftaten gemäß § 4a Abs. 1 Satz 2 begehen“ werden (§ 20g Abs. 1 Nr. 2 BKAG) bzw. dass es sich bei der betroffenen Person um eine „Kontakt- oder Begleitperson“ (Nr. 3) einer im Sinne der Nr. 2 „verdächtigen“ Person handelt, wenn die „Verhütung der Straftaten auf andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre“. Letzteres lässt sich fast immer bejahen, denn eine Maßnahme gem. § 20g BKAG wird sich stets als besonders effektiv, d. h. als praktisch alternativlos darstellen lassen. Da die Maßnahmen im Verhältnis zur Datenerhebung gem. § 20b BKAG eine wesentlich höhere Eingriffsintensität aufweisen, müssten sie an engere Voraussetzungen geknüpft sein. • Auch für die (heimliche) Überwachung der Telekommunikation (§ 20l BKAG) genügt es nach geltendem Recht, dass „bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, dass die betroffene Person terroristische Straftaten „vorbereitet“ und die Verhütung der Straftaten auf „andere Weise aussichtslos oder wesentlich erschwert wäre“ (§ 20l Abs. 1 Nr. 2 BKAG); es genügt sogar, dass zwar nicht die von der Maßnahme betroffene Person unter einem solchen Verdacht steht, sondern dass „bestimmte Tatsachen die Annahme rechtfertigen“, dass sie für eine solche Person „bestimmte oder von dieser herrührende Mitteilungen entgegennimmt oder weitergibt“ (Nr. 3) oder eine solche Person den überwachten Telekommunikationsanschluss oder das Endgerät benutzen wird (Nr. 4). Insbesondere bei den letztgenannten Personengruppen (reine Mitteilungsempfänger, Inhaber eines einer verdächtigen Person zugänglichen Telekommunikationsgeräts) ist eine Duldungspflicht bzgl. einer so einschneidenden Maßnahme nicht zu begründen. • Für den verdeckten Eingriff in informationstechnische Systeme (z. B. heimliche Onlinedurchsuchung) sollen nach der tatbestandlichen Fassung (§ 20k Abs. 1 Satz 1 BKAG) „bestimmte Tatsachen“ genügen, die die „Annahme rechtfertigen“, dass eine „Gefahr“ besteht für „Leib, Leben oder Freiheit einer Person oder für Güter der Allgemeinheit, deren Bedrohung die Grundlagen oder den Bestand des Staates oder die Grundlagen der Existenz der Menschen berührt“, wobei diese relativ restriktive Fassung im folgenden Satz 2 dadurch aufgeweicht wird, dass entsprechende Maßnahmen auch dann zulässig sein sollen, „wenn sich nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststellen lässt, dass ohne die Durchführung der Maßnahme in näherer Zukunft ein Schaden eintritt, sofern bestimmte Tatsachen auf eine im Einzelfall durch bestimmte Personen drohende Gefahr für eines der in Satz 1 genannten Rechtsgüter hinweisen“. Die Vorschrift ist in ihrem Wortlaut so undeutlich gefasst, dass ihr Gehalt kaum zu ermitteln ist: Schon die Formulierung, dass Tatsachen die Annahme rechtfertigen müssen, dass eine Gefahr besteht, ist im Bereich der Gefahrenabwehr (von Straftatverhütung ist im Tatbestand nicht die Rede) zumindest ungewöhnlich: Entweder es wird eine Gefahr (auch in Form einer Anscheinsgefahr) oder es wird ein Gefahrenverdacht vorausgesetzt. Ist letzteres gemeint, dann handelt es sich um eine Gefahrerforschungsmaßnahme, die nicht unmittelbar der Schadensabwehr, sondern eben der Erforschung der Gefahr dient; Satz 2 scheint allerdings (im Umkehrschluss) für den „Normalfall“ des Satzes 1 eine Schadensabwehreignung des Eingriffs in Informationssysteme vorauszusetzen, was eigentlich nur denkbar ist, wenn das gefährliche Ereignis durch das entsprechende System gesteuert wird und der verdeckte Eingriff diesen Steuerungsprozess schadenshindernd manipuliert. Gemeint ist vermutlich eher, dass im Falle eines Gefahrenverdachts eine Informationsgewinnung zulässig sein soll, die die Gefahrenlage weiter aufzuklären geeignet ist und als deren Ergebnis u. U. eine Gefahr konstatiert werden kann, die dann die eigentlichen Schadensabwehrmaßnahmen rechtfertigen könnte. Satz 2 scheint im Übrigen die Zulässigkeit der Maßnahme von ihrer quasi-kausalen (eine echte Kausalität kann wegen der stets bestehenden Prognoseunsicherheit bei Gefahrenabwehrmaßnahmen nicht gemeint sein) Wirkung als Schadensverhinderungsmaßnahme in abweichender Regelung zu Satz 1
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Bezogen auf den Fall der Sauerland-Gruppe ist von dem Eintreten in die zweite Verdachtsermittlungsphase ab dem Zeitpunkt der Kampfausbildung der Verdächtigen in einem von der IJU im afghanisch-pakistanischen betriebenen Ausbildungslager im Jahr 2006 auszugehen. Dort durchliefen die Mitglieder der Gruppe eine „ideologische und paramilitärische Schulung“.487 Im Anschluss an den Aufenthalt dort begannen sie, erste Vorbereitungen für einen späteren Anschlag zu treffen: Der Verdächtige Gelowicz suchte ab Dezember 2006 geeignete Anbieter für große Mengen Wasserstoffperoxid und mietete zur Lagerung der Chemikalie eine Garage an. Die Mitglieder der Gruppe richteten zur Kommunikation unter fiktiven Namen E-Mail-Accounts ein, die sie unter Umgehung des eigentlichen E-Mailverkehrs als „tote Briefkästen“ zur „Hinterlegung von Entwurfsnachrichten“ nutzten, die unter Verwendung eines Passworts eingesehen und abgeändert werden konnten.488 Ab diesem Zeitpunkt haben sich die Mitglieder der Sauerland-Gruppe in einer Weise verhalten, die es rechtfertigt, ihnen eine erhöhte Duldungspflicht im Hinblick auf staatliche Beobachtungsmaßnahmen aufzuerlegen. Dass sie sich im Umgang mit Waffen und Sprengstoff ausbilden ließen, dass sie erste Schritte zur Verwirklichung gewalttätiger Anschläge unternahmen (Ankauf entsprechender Chemikalien, Anmietung eines Lagerplatzes) und sie sich zu diesem Zweck spezifische, geheime Kommunikationswege schufen, lässt die zukünftige Begehung von Unrecht nicht bloß abstrakt und vage, sondern auch konkret möglich erschei-
in Fällen unabhängig machen zu wollen, in denen eine „im Einzelfall durch eine bestimmte Person drohende Gefahr“ vorliegt. Nun fragt sich, ob also für alle anderen Fälle eine solche Quasi-Kausalität gefordert ist (was bei einer reinen Gefahrerforschungsmaßnahme schwerlich zu begründen ist) – und ob es sich im Satz 1 nicht um eine bestimmte Person und nicht um einen Einzelfall handeln muss (worum aber sonst?). Letzterem widerspricht wiederum Abs. 4 der Norm, der anordnet, dass sich die Maßnahme nur gegen eine Person richten darf, die entsprechend der § 17 oder § 18 des Bundespolizeigesetzes verantwortlich ist; diese Anordnung wird allerdings im Satz 2 des Abs. 4 dadurch zurückgenommen, dass die Maßnahme auch dann zulässig sein soll, wenn andere als die verantwortlichen Personen unvermeidbar betroffen werden. Vgl. zum Gefahrbegriff Ch. Gusy, Polizei- und Ordnungsrecht, § 3, Rn. 111–113, 196: „Eine Gefahr liegt vor, wenn zureichende Anhaltspunkte dafür vorhanden sind, dass bei ungehindertem Ablauf des objektiv zu erwartenden Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein polizeiliches Schutzgut geschädigt wird, (. . .). Liegen im Einzelfall hinreichende Anhaltspunkte vor und werden die Prognoseregeln richtig angewendet, tritt aber doch im Einzelfall kein Schaden ein – (. . .), so wird diese Situation ex-post auch als ,Anscheinsgefahr‘ qualifiziert.“ Ein Gefahrenverdacht zeichnet sich dadurch aus, dass die wahrgenommenen tatsächlichen Anhaltspunkte dafür ausreichen, die Möglichkeit einer Gefahr nahe zu legen, aber noch nicht, um eine tatsächliche Gefahr im Einzelfall schon bejahen zu können. „Gefahrverdacht rechtfertigt allenfalls Gefahraufklärung und – in Fällen besonderer Dringlichkeit – vorläufige Sicherungsmaßnahmen.“ 487 Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung, a. a. O., S. 5. 488 Vorwort zur mündlichen Urteilsbegründung, a. a. O., S. 6.
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nen. Dementsprechend müssen sie dulden, dass sie in ihren jeweiligen Treffpunkten sowie bei der Mittelbeschaffung und -lagerung beobachtet und dass ihre Kommunikationswege, die sie eigens für die Anschlagsplanung eingerichtet und genutzt haben, überwacht werden. Eine solche Beobachtung und Überwachung kann in einem weiteren Schritt dazu führen, dass sich der Verdacht im Hinblick auf die geplante Unrechtstat weiter zuspitzt und ihre Begehung nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich erscheint. bb) Zulässige präventive Freiheitseingriffe (insbesondere zur Terrorismusabwehr) bei bestehender Unrechtswahrscheinlichkeit Ein positives Wahrscheinlichkeits- (nicht bloß Möglichkeits-)urteil kann zur Berechtigung führen, dem Subjekt über die Duldung der genannten Freiheitsbeeinträchtigungen zur Verdachtsermittlung hinaus weitere präventive Freiheitseingriffe zuzumuten. Ein solches Wahrscheinlichkeitsurteil muss im Hinblick auf das potentielle Unrecht und den potentiellen Täter ausreichend konkretisiert sein, das befürchtete Unrecht muss also in seinen Grundzügen nach Tat, Tatort und Täterkreis umrissen sein. Dies wird in der Regel dann der Fall sein, wenn die Verdächtigen unmittelbar dem Versuchsstadium vorgelagerte Tatvorbereitungen vornehmen. Dazu können gehören: Das Herstellen oder sich Verschaffen von gefährlichen Tatmitteln wie Waffen, Sprengstoff, o. ä. (vgl. § 89a Abs. 2 Nr. 1 StGB), inklusive des Baus funktionsfähiger Bomben, die konkrete Tatplanung mit Realisierungsmacht, etwa durch einen konkreten Einsatzplan und Tatortsichtung oder die konkrete Ankündigung von Straftaten. Ab diesem Stadium können die Ermittlungseingriffe in die Privatsphäre der betroffenen Personen eine höhere Intensität aufweisen und Maßnahmen der unmittelbaren Straftatverhinderung dürfen in den Grenzen, die für präventive Freiheitsbeeinträchtigungen bereits herausgearbeitet wurden, durchgeführt werden. Die Ermittlungseingriffe, die zur weiteren Aufklärung des Verdachts, insbesondere zur Klärung des wahrscheinlichen Tatverlaufs (Zeit, Ort, Vorgehensweise des geplanten Delikts), vorgenommen werden, dürfen zwar auch in dieser Phase nicht die Ausforschung der Intimsphäre beinhalten: Eine Überwachung der Privatwohnungen durch Abhören und/oder Bildaufnahmen ist damit ebenso unzulässig wie eine präventive Wohnungsdurchsuchung (Art. 13 Abs. 2, 7 GG), soweit nicht gerade diese Wohnung für die genannten Vorbereitungshandlungen genutzt wird bzw. soweit dies nicht zumindest wahrscheinlich (nicht bloß möglich) erscheint. Aber eine längerfristige Observation, die Überwachung der auch private Kontakte im engeren Sinne einschließenden Telekommunikation und auch
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die Überwachung privater Rechner sind in dieser Phase der konkreten Unrechtsvorbereitung grundsätzlich zulässig.489 Ergeben diese Maßnahmen eine sich zuspitzende Wahrscheinlichkeit, so sind unmittelbar unrechtshindernde Maßnahmen notwendig und berechtigt. Alle präventiven Freiheitsbeeinträchtigungen (auch die Ermittlungseingriffe) haben allerdings – wie in der Grundlegung herausgearbeitet – Grenzen, die sich aus den allgemeinen Prinzipien staatlicher Zwangsanwendung, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit und der Eigenart präventiv-rechtlichen Staatshandelns ergeben. 1. Ausgeschlossen sind zunächst alle Ausforschungs- und Befragungsmethoden, die mit einer zwangsweisen Einwirkung auf die innere Willenssphäre der betroffenen Person verbunden sind; hier kann die Regelung des § 136a Abs. 1 StPO als Maßstab für den Umgang mit straftatverdächtigen Personen auch im Bereich der Prävention dienen; dadurch sind jedenfalls Ermüdung, körperliche Eingriffe zur Willensbeugung, Verabreichung von Mitteln, Quälereien, Täuschung oder Hypnose explizit unzulässig. Ausgeschlossen ist gewiss auch jede Form von Folter, selbst wenn die Vorbereitungshandlungen drohen, in das Versuchs- bzw. Ausführungsstadium umzuschlagen. Eine jede den Verdächtigen zum Objekt machende Maßnahme ist in ihrem Fundament unrechtlich und damit unzulässig. Während Pawlik es in seinem Bekämpfungskonzept für zulässig hält, dass verdächtige Personen zum Zwecke der Informationsgewinnung ohne den strikten Schutz des § 136a StPO vernommen werden (sie beispielsweise durch taktische Täuschungen, das Versprechen gesetzlich nicht vorgesehener (Gegen-) Leistungen oder den Einsatz eines Lügendetektors auch gegen ihren Willen zu Aussagen bewegt werden sollen),490 ist aus der Sicht eines freiheitsgesetzlich begründeten staatlichen Zwangsrechts an dem strikten Verbot von Einwirkungen auf den inneren Willensprozess und jeglicher entwürdigender Maßnahmen festzuhalten. 2. Strikt ausgeschlossen sind ferner Maßnahmen, die das Rechtsverhältnis zum Verdächtigen endgültig aufheben: Das sog. „preventive targeted killing“ ist entgegen der Auffassung Pawliks491 als rechtsstaatliche Maßnahme außerhalb von Situationen akuter Not (Notwehr, finaler Rettungsschuss) untragbar. Die Tötung als finale und totale Entrechtung qua Absprache des Lebensrechts widerspricht dem Recht fundamental, fällt demnach aus dem Kanon möglicher rechtlicher Umgangsformen prinzipiell heraus. 3. In Betracht kommen dagegen die im Grundsatz schon durch von Mohl herausgearbeiteten und durch staatlichen Zwang auch effektiv durchzusetzenden 489 Sie müssen allerdings eingestellt werden, sobald sich der Verdachtsgrad entschärft, und sie müssen nach Wegfall der Wahrscheinlichkeit einer Unrechtsbegehung den Betroffenen gegenüber offen gelegt und damit justiziabel gemacht werden. 490 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 46, 47. 491 M. Pawlik, Der Terrorist und sein Recht (2008), S. 42, Fn. 189.
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Präventionsmaßnahmen, wie etwa die Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit des Verdächtigen auf einen bestimmten Ort (z. B. Meldepflicht bei bestimmten Behörden, Duldungspflicht bzgl. technischer Überwachung der Handy-Ortungsdaten, Hausarrest), die Weisung, bestimmte Orte nicht betreten zu dürfen (z. B. öffentliche Politikerauftritte, Sportveranstaltungen, belebte Plätze, wie Flughäfen, Bahnhöfe, o. ä.), die Beschlagnahme bzw. Manipulation (z. B. Entschärfung) von Tatmitteln und, unter weiteren Voraussetzungen, eine präventive Haft und u. U. ein Landesverweis.492 Diese Maßnahmen dürfen grundsätzlich eingesetzt werden, soweit sie nach (professioneller) Erfahrung dazu dienen oder jedenfalls dazu beitragen können, den bevorstehenden potentiellen Rechtsbruch zu verhindern. Sie sind in ihrer Anwendung allerdings strikt an das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden, d. h. sowohl der Grad der Wahrscheinlichkeit als auch die Schwere des zu erwartenden Unrechts sind maßgebend dafür, wie stark der präventive Eingriff in die Freiheitssphäre der Betroffenen sein darf. Dementsprechend muss die Straftatprognose möglichst genau angeben, wie weit die Vorbereitungen gediehen sind, welche Ziele anvisiert und welche Tatgegebenheiten wahrscheinlich sind. Geht es um Unrechtsprävention im Bereich der Terrorismusabwehr, so wird es in der Regel nicht um die Verhinderung von Bagatellunrecht (z. B. Sachbeschädigung, Diebstahl geringwertiger Sachen) oder mittlerer Kriminalität (z. B. Raub, Erpressung, Betrug) gehen, sondern um interpersonales Schwerstunrecht (z. B. Tötungsdelikte, gefährliche Körperverletzung mit potentieller Lebensgefährdung durch Anschläge oder Attentate). In den Fällen „echten“ terroristischen Unrechts kommt hinzu, dass der gesamte staatliche Zusammenhang, der Bestand der freiheitlichen Rechtsgemeinschaft oder die existentiellen Lebensgrundlagen gefährdet werden (Anschläge auf Schalt- und Schlüsselstellen des Staates, Gewaltakte mit einer hohen Anzahl von Opfern, die dem Terror unter zufälligen, unvorhersehbaren Bedingungen ausgesetzt sind, Anschläge auf Atomkraftwerke oder mittels unbeherrschbarer Stoffe wie Chemikalien, Viren, Strahlung etc.). Die Wahrscheinlichkeit, dass der Betroffene Unrecht dieser Art begehen wird, rechtfertigt intensive Eingriffe in seine Freiheitssphäre, wobei bei sich zuspitzender Wahrscheinlichkeit (etwa: die Vorbereitungshandlungen nähern sich erkennbar dem Versuchs- oder Ausführungsstadium, der geplante Zeitpunkt für die Unrechtstat nähert sich) auch die gewichtigsten Eingriffe, die Präventivhaft und u. U. der Landesverweis in Betracht kommen. Die Zulässigkeit einer solchen Präventivmaßnahme, die mit intensiver Freiheitsbeeinträchtigung verbunden ist, hat ihren Grund in der Gewichtigkeit des abzuwehrenden Unrechts: Nach den Überlegungen, die im Zusammenhang mit der Strafwürdigkeit der in § 129a StGB geregelten Tathandlungen angestellt wur492 Vgl. R. von Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei (1866), S. 526 ff.
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den,493 lässt sich sagen, dass terroristisches Unrecht bezweckt und bei Umsetzung bewirkt, dass über die in jedem Kriminalunrecht steckende konkrete Freiheitsverletzung hinaus das Gemeinwesen in seinem Vertrauen auf den Fortbestand rechtlich-vernünftiger Strukturen verunsichert wird.494 Es handelt sich also um interpersonales Unrecht, das um das Moment einer bewussten Negation des gesicherten Rechtszustands erweitert ist. Mit ihm geht das Signal einher, man wolle den rechtlichen Zustand als solchen aufheben, sich gegen die geltende Rechtsordnung selbst stellen. Durch diesen Bezug zum Bestand der rechtlichen Ordnung erhält terroristisches Unrecht eine Dimension, die die Rechtgemeinschaft als solche betrifft und in ihrer rechtlichen Gestalt als Freiheitsordnung gefährdet. Diese Besonderheit der Unrechtsform betrifft auch den von der Präventivmaßnahme in seiner Freiheit beschränkten potentiellen Unrechtstäter: Es ist der sichernde Zusammenhang, der auch ihm seine Rechtlichkeit, seine verwirklichten Freiheitspositionen nachhaltig gewährleistet. Diese Besonderheit terroristischen Unrechts hat Bedeutung für das Maß der zu duldenden Freiheitsbeeinträchtigung, insbesondere im Falle einer Präventivhaft. Während ein kurzfristiger Polizei- bzw. Unterbindungsgewahrsam (nach den Vorschriften des Polizei- und Ordnungsrechts) zulässig ist, um Straftaten aller Art zu verhüten, ist eine länger andauernde Präventivhaft nur zu rechfertigen, wenn sie der Verhinderung einer wahrscheinlichen Schwerstunrechtstat dient. Das zulässige Maß einer solchen Haft richtet sich erstens nach der Erforderlichkeit für die Unrechtsverhinderung und zweitens nach der Qualität des zu verhindernden Unrechts (bei terroristischen Straftaten darf sie ein Höchstmaß annehmen); eine absolute Grenze ergibt sich allerdings durch ihren Charakter als Präventivmaßnahme. Letzterer bewirkt, dass eine unrechtshindernde Haft im engen zeitlichen Bezug zur potentiellen Tat stehen muss, sie also nur für einen überschaubaren Zeitraum angeordnet werden darf. Die Auseinandersetzung mit den beiden präventiven Haftformen des geltenden Rechts, der Sicherungsverwahrung und der Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr, hat ergeben, dass ein solcher Zeitraum, in dem tatsächlich von einer wahrscheinlichen Unrechtsbegehung gesprochen werden kann, maximal ein Jahr, in extremen Fällen – wie bei mit langem Vorlauf geplantem, von prinzipieller Rechtsfeindlichkeit getragenem Unrecht – maximal zwei Jahre andauern kann. Menschliche Handlungen lassen sich nicht für einen beliebig langen Zeitraum mit einer Sicherheit voraussagen, die für eine hinreichende Wahrscheinlichkeit im Hinblick auf eine zukünftige Tat vorausgesetzt werden muss. Dementsprechend darf in Abhängigkeit zum Grad der Wahrscheinlichkeit und der Qualität des zu verhindernden Unrechts bei (terroristischem) 493
Vgl. dazu oben im 4. Teil, S. 257 ff. Vgl. den Vorschlag zur begrifflichen Fassung des Terrorismusphänomens M. Cancio Meliá, „Zum strafrechtlichen Begriff des Terrorismus“ GA 2012, S. 1 ff. 494
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Höchstunrecht zwar ein längerfristiger (bis zu maximal zwei Jahren andauernder) präventiver Freiheitsentzug, nicht aber eine mehrjährige (im geltenden Recht nach § 129a StGB bis zu zehn Jahren dauernde) Freiheitsstrafe bzw. sonstige Haft angeordnet werden. Die Besonderheit terroristischen Unrechts kann dagegen nicht dazu führen, dass das Verhältnis zwischen Staat und Unrechtsverdächtigem von einem rechtlich verfassten in einen natürlichen Zustand zurückfällt, dass im Umgang mit „Terroristen“ also eine qualitative Differenz zu „gewöhnlichen“ Unrechtsverdächtigen bestünde. Zwar ist das Ziel terrroristischen Unrechts die Negation des gesicherten Rechtszustands in seiner konkreten Staatsform mitsamt seiner Institutionen und Rechtsstrukturen. Terrorismus lässt sich insofern zu Recht als rechts- und staatsfeindliche Gewaltform beschreiben. Durch den (potentiellen) Angriff auf den allgemeinen Rechtszustand wird aber nicht schon bewirkt, dass das verfasste allgemeine Rechtsverhältnis aufgelöst wird. Solange der Staat Bestand hat, steht nicht Gewalt gegen Gewalt, sondern rechtlich verfasste Allgemeinheit gegen ein oder mehrere rechtsfeindlich gesinnte Rechtssubjekte, die Teile dieser Allgemeinheit bilden. Ihr materieller Rechtsstatus ist unverlierbar. Daraus folgt, dass der „Terrorist“ als rechtliches Co-Subjekt anerkannt bleiben muss, allerdings an der Verwirklichung des vom rechtsfeindlichen Willen getragenen Unrechts gehindert werden darf und diese Hinderung auch quantitativ mehr erlaubt als „normale“ Unrechtsabwehr. Ihm wird durch die Haft aufgezwungen, den grundsätzlich von allen Vernunftsubjekten aus Einsicht mitgetragenen Rechtsfrieden einzuhalten. Vom gemeinsamen Rechtsleben wird er solange und so intensiv ausgeschlossen, wie von ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Bedrohung für das Recht in Form krimineller Handlungen erheblichen Ausmaßes ausgeht. Für Bürger fremder Staaten kommt bei wahrscheinlicher Begehung rechtsfeindlich gesinnten Unrechts darüber hinaus eine Ausweisung aus dem Bundesgebiet in Betracht.495 Bezogen auf die Mitglieder der Sauerland-Gruppe ist mit dem Beginn der Herstellung bombenfähigen Materials (Aufkochen der Wasserstoffperoxid-Lösung) ein Eintreten in die Phase der Wahrscheinlichkeit des künftigen Anschlags gegeben. Zwar ist diese Handlung dem konkreten Anschlagsgeschehen noch immer relativ weit vorgelagert, aber mit Entstehen eines wirkmächtigen Mittels wird die Gefahr „greifbar“ und die Realisierung hängt nur noch von logistischen Umständen und der konkreten Tatgelegenheit ab. Da es sich bei dem geplanten Anschlag 495 Dieser schon bei v. Mohl angelegte Gedanke der „Landesverweisung“ resultiert aus der Einsicht, dass eine Rechtsgemeinschaft ihre Gäste dann nicht länger dulden muss, wenn sich diese gewaltsam bzw. unrechtlich gegen den Bestand der sie aufnehmenden Gemeinschaft wenden. Der Gedanke müsste allerdings sowohl seinem Grund nach als auch bzgl. seiner Konsequenzen für eine konkrete Gesetzgebung noch näher ausgearbeitet werden.
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um Schwerstunrecht (potentiell 150 Tote) handelte, war den Mitgliedern der Sauerland-Gruppe zuzumuten, eine auch ihre Privatsphäre betreffende Überwachung zu dulden. Die Präventivbehörden waren darüber hinaus befugt, die gefährlichen Chemikalien – auch mittels des heimlichen Betretens der genutzten Räumlichkeiten – auszutauschen. Eine Präventivhaft als erforderliche und berechtigte Maßnahme der Unrechtsverhinderung wäre im vorliegenden Fall jedoch nur in sehr geringem Umfang zulässig gewesen: Um den Anschlag zu verhindern, hätte die Manipulation der Anschlags-Chemikalie vermutlich ausgereicht, zumal auch die Sprengsätze zum größten Teil nicht einsatzfähig waren. Um sicher zu gehen, dass es zu den Anschlägen nicht kommt, wäre jedenfalls ein Freiheitsentzug von ein bis zwei Monaten (Anfang September (= Zeitpunkt der Herstellung sprengfähigen Materials) bis zum 12. Oktober 2007 (= Zeitpunkt der Entscheidung des Deutschen Bundestags über die Verlängerung des AfghanistanMandates deutscher Truppen)) ausreichend und zulässig gewesen. dd) Rechtsschutz Dem Betroffenen müssen gegen die Freiheitsbeeinträchtigungen wirksame Rechtsschutzmöglichkeiten offen stehen, das heißt, das Präventionsrecht muss formell und materiell gesetzlich geregelt und justiziabel sein. Dies bedeutet u. a., dass jedwede heimliche Überwachungsmaßnahme (Observation, Überwachung der Telekommunikation, Online-Durchsuchung, Wohnraumüberwachung etc.) nach Beendigung der Unrechtswahrscheinlichkeit offen gelegt und einer rechtlichen Überprüfung zugänglich gemacht werden muss – inklusive der Möglichkeit, für rechtswidrige Maßnahmen Entschädigung zu verlangen. Ferner müssen dem Betroffenen bei allen freiheitsrelevanten Präventivmaßnahmen prozessuale Rechte zustehen, die vergleichbar sind mit denen der Strafprozessordnung, u. a. das Recht auf Rechtsbeistand und die Rechte aus § 136a StPO. Die Kompetenzen einer „Präventivjustiz“ im Sinne von Mohls müssen in Abgrenzung zur polizeilichen Gefahrenabwehr und zu den Strafverfolgungsbehörden explizit geregelt werden; für freiheitsintensive Maßnahmen hat ein Richtervorbehalt zu gelten. 4. Zusammenfassung zur Verortung des Terrorismusproblems im Bereich der Prävention Die Verhinderung (terroristisch motivierten) Kriminalunrechts ist als besondere Form staatlicher Prävention zu normieren. Sie ist weder im Bereich des Strafrechts noch als reine Gefahrenabwehr im Sinne des Polizei- und Ordnungsrechts richtig begriffen. Unrechtsprävention hat ihren eigenen Prinzipien zu folgen, die ihren Ursprung im staatlichen Zwangsrecht haben, das sich als freiheitskonform dann begründen lässt, wenn es der Aufrechterhaltung freiheitlicher Verhältnisse in der Realität der Rechtsgemeinschaft dient.
C. Zusammenfassung des 5. Teils
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Zur Verbrechensverhinderung sind Zwangsmittel zulässig, die das bevorstehende Unrecht durch Beschränkung der persönlichen (äußeren) Freiheit des Verdächtigen unmöglich machen. Entscheidende Voraussetzung für die Anwendung freiheitsbeschränkender Zwangsmaßnahmen ist die Wahrscheinlichkeit der Tatbegehung, also ein konkreter Verdacht im Hinblick auf eine konkrete Unrechtstat und einen konkreten (potentiellen) Täter. Für nicht nur marginal freiheitsrelevante Maßnahmen der Wahrscheinlichkeitsermittlung und Unrechtsprävention muss das betroffene Subjekt selbst durch sein Verhalten, seine Äußerungen, o. ä. den Verdacht ihm gegenüber (mit)begründet haben. Zudem gilt der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, der eine Entsprechung der Qualität des potentiell drohenden Unrechts und des Grades der Wahrscheinlichkeit seines Eintritts mit der Qualität des den Einzelnen treffenden Freiheitseingriffs gewährleistet. Freiheitsintensive präventive Maßnahmen sind nur dort möglich, wo Schwerstunrecht droht; bei einer drohenden Auslöschung oder Auflösung der das Subjekt mitumfassenden freiheitlichen Rechtsgemeinschaft, der Bedrohung der Existenz rechtlich-staatlicher Strukturen oder bei einer drohenden Vernichtung oder unumkehrbaren Verseuchung gemeinsamer Lebensgrundlagen ist eine bis zu zwei Jahren andauernde Präventivhaft zulässig. Der Freiheitseingriff muss dabei immer überschaubar, d. h. quantitativ und qualitativ umgrenzt, gesetzlich festgelegt und justitiabel sein. Ausgeschlossen sind dagegen präventiven Zwecken dienende Freiheitseingriffe, die nach Quantität und Qualität so intensiv sind, dass das Subjekt im Kern seiner Persönlichkeit und Lebensführung betroffen ist. Dies gilt für irreversible (z. B. die Tötung) und für zeitlich unbefristete bzw. erhebliche Eingriffe (z. B. die lebenslange oder mehrjährige Haft), aber auch für Maßnahmen, die Eingriffe in den Persönlichkeitsbereich (z. B. die Ausforschung des Privat- und Intimlebens) oder die körperliche und geistige Integrität (z. B. Anwendung unmittelbaren körperlichen oder seelischen Zwangs, Zwangsmedikation) beinhalten.
C. Zusammenfassung des 5. Teils Weder das von Günther Jakobs entwickelte „Feindstrafrecht“ noch das „kriegsrechtlich orientierte Präventionsrecht“ i. S. v. Michael Pawlik kann als rechtsstaatliches Konzept der Bewältigung von terroristischem Unrecht überzeugen. Das „Feindstrafrecht“ leidet an einer schon in seinem Fundament fehlerhaften Bestimmung des Begriffs der „Person“ und damit zusammenhängend an einer unzutreffenden Vorstellung von Rechtszwang und Rechtsstrafe. Pawliks Vorschlag, den „Kampf gegen den Terrorismus“ parallel zum Kriegsrecht zu normieren (als eine Form „asymmetrischer Kriegsführung“), krankt an der mangelnden Übertragbarkeit kriegsrechtlicher Grundsätze auf den Innenraum rechtlich verfasster Gemeinschaften. Die Kombination aus Kriegsrecht und Präventionsrecht ist ohne Prinzipienbruch nicht möglich.
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Teil 5: Legitime Ausgestaltung moderner Sicherheitsgesetzgebung
Allerdings ist Pawliks Hinweis auf die Schwierigkeit der Verortung der Materie im geltenden Recht zutreffend und weiterführend. Weder im Gefahrenabwehrrecht noch im Strafrecht findet sich derzeit eine schlüssige Normierung der Unrechtsprävention. Sie müsste eine Mittelstellung einnehmen und ihren eigenen Prinzipien gemäß (Unrechtsverhinderung als besonderer Fall staatlichen Zwangsrechts) geregelt werden. Dabei können jedoch nicht alle von Pawlik in die Diskussion eingeführten Maßnahmen als legitim ausgewiesen werden. Insbesondere das sog. „preventive killing“, die unbeschränkte Präventivhaft und alle Befragungsmethoden, die über das strafprozessual Zulässige hinausgreifen, müssen aus dem Kanon rechtlicher Zwangsmaßnahmen ausscheiden.
Zusammenführender Teil 6
Sicherheitsgesetzgebung nach einem freiheitlichen Rechtsverständnis Die Reflexionen zu den Grundlagen einer Sicherheitsgesetzgebung, die in den vorangegangenen Teilen der Arbeit beginnend mit den rechtsphilosophischen Grundlagen (Freiheit und Sicherheit im Rechtsstaat), fortgeführt durch Überlegungen zum Verfassungs-, Straf- und Kriegsrecht bis hin zu einer besonderen Form des Präventionsrechts angestellt wurden, sollen nun zusammengeführt werden.
A. Lösung als Rechtsproblem Zu beginnen hat die Zusammenführung der einzelnen Grundsatzüberlegungen mit der Feststellung, dass die Materie überhaupt als Rechtsmaterie zu behandeln ist. Ansätze, die die Lösung jenseits des Rechts suchen, müssen deshalb aus dem denkbaren Kanon der Bewältigung (terroristisch motivierter) Sicherheitsgefährdungen ausscheiden. Dies gilt insbesondere für Überlegungen, nach denen neben der Geltung einer freiheitlich geprägten, rechtsstaatlich ausgearbeiteten Rechtsordnung ein Ausnahme-„Recht“ platz greifen müsse, um „feindlichen“, durch Abkehr von der Rechtsordnung geprägten, gewaltsamen Angriffen begegnen zu können. Diese Notwendigkeit wird etwa durch das von Carl Schmitt geprägte Konzept vom „Ausnahmezustand“ 1, durch die Idee des „Feindrechts“ im Sinne Otto Depenheuers2 oder des „Feindstrafrechts“ im Sinne Günther Jakobs’ 3 behauptet: Bei Schmitt werden Situationen staatsexistenz-bedrohender Art als Ausnahmesituationen umschrieben, in denen die Geltung von Rechtsregeln suspendiert werden könne und müsse, um die Politik von hinderlichen rechtlichen Schranken zu befreien und es ihr zu ermöglichen, alles zum Bestand des Staates Notwendige zu tun. Depenheuer unterscheidet daran anschließend die Sphäre des „Bürgerrechts“, innerhalb derer sich auf der „Grundlage einer im wesentlichen wirksamen Rechtsordnung“ eine „Normalität der Lebensverhältnisse etablieren“ kann, vom Ernstfall des Rechts („Ausnahmerecht“), in dem die Rechtsordnung 1 2 3
Vgl. oben Teil 2, S. 143 ff. Dazu oben Teil 3, S. 168 ff. Vgl. oben Teil 4, S. 243 ff. und Teil 5, S. 302 ff.
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Teil 6: Sicherheitsgesetzgebung nach freiheitlichem Rechtsverständnis
prinzipiell in ihrer Legitimation abgelehnt, die staatliche Garantiemacht offen in Frage gestellt und das rechtlich verfasste Gemeinwesen bewaffnet bekämpft wird. Eine solche Situation sei nicht mehr normierbar und an die Stelle positivierter Normen müsse dann die (bloße) Souveränität der Staatsmacht treten. Jakobs’ Feindstrafrecht schließlich gibt dem in seiner Sicherheit bedrohten, kämpfenden Staat die Befugnis, Individuen, die sich zuvor als für diese Bedrohung zuständige „Feinde“ herausgestellt haben, partiell, aber auch ganz zu „entpersonalisieren“ und sie aus der Gemeinschaft der Personen zu „exkludieren“. Der Staat muss ihnen gegenüber dann nicht mehr Rechtsstaat sein; Rechtsstaat ist er nur für und gegenüber seinen Personen-Bürgern, nicht aber für und gegenüber den aus diesem Kreis ausgesonderten Nur-Individuen. Allen drei Konzeptionen ist gemein, dass sie die dem Rechtsstaat zur Verfügung stehenden rechtlichen Bewältigungsmöglichkeiten jedenfalls dann für unzureichend halten, wenn die Angriffe auf einzelne Rechtsgüter oder das rechtliche Gemeinwesen insgesamt auf eine grundsätzliche Rechtsabkehr der Gewalttäter schließen lassen, sich diese also „selbst außerhalb des Rechts stellen“ und sie die Rechtsordnung als Ganze ablehnen. Dann, so die Logik der Ausnahme, müsste der Staat sich seinerseits im Umgang mit diesen Subjekten ebenfalls nicht innerhalb des Rechts bewegen, sondern dürfe „mit gleicher Münze zurückschlagen“, also mittels bloßer Gewalt reagieren. Ein diese Gegengewalt beschränkendes Prinzip lässt sich dann nicht mehr benennen. Die Qualität des Angriffs wird zum Grund für die Qualität der Gegenwehr; Gewalt steht gegen Gewalt; der Ausgang der Auseinandersetzung ist bloß noch eine Frage der Macht. Im Rahmen der (schon erfolgten) Auseinandersetzung mit den einzelnen Konzepten ist deutlich geworden, dass sie – neben vielen anderen fundamentalen Kritikpunkten – ein grundsätzliches Problem gemein haben, das sie nicht zu lösen vermögen: Für die jeweilige Konzeption wird implizit oder explizit Legitimität in Anspruch genommen: Ohne das Recht der Ausnahme, das Feindrecht oder das Feindstrafrecht lasse sich der Staat (einige ergänzen: als Rechtsstaat) nicht erhalten; er sei sonst bloßer Gewalt preisgegeben, könne seine Aufgabe als Hüter der Rechtsgemeinschaft nicht mehr wahrnehmen und die rechtliche Ordnung drohe damit insgesamt zu zerfallen; und, so könnte man hinzufügen, falle der Staat, so fällt alles andere mit. Der Erhalt des Staates rechtfertige deshalb alle dafür notwendigen Maßnahmen, ja im Grunde erfordere die Wirksamkeit des Rechts (die nur im und durch den Staat bestehe) selbst die Suspendierung des Rechts in bestimmten Ausnahmefällen: Die Geltung des Rechts verlange im Extremfall seine Nichtgeltung. Die Autoren nehmen also für sich und ihre Konzeptionen in Anspruch, um der Geltung des Rechts willen seine Suspendierung möglich zu machen. Sobald aber eine solche Rechtfertigung für die Maßnahmen des Staates behauptet wird, handelt es sich um eine Argumentation im Bereich des Rechts, um
B. Strafrecht als „Sicherheitsstrafrecht‘‘?
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eine rechtliche Begründung – der Verweis auf die Grenzen des Rechts mutet da widersprüchlich an: Ein Konzept, das gerechtfertigt werden soll, kann sich unmöglich durch seine Nicht-Rechtlichkeit auszeichnen. Keiner der Autoren zieht aber den (einzig konsequenten) Schluss, dass er mit der Suspendierung des Rechts einem bloßen Machterhalt das Wort spricht. Insofern gilt dann aber folgendes: Entweder man spricht sich für einen bloßen Machtkampf („Gewalt gegen Gewalt“ oder: „Kampf gegen den Terrorismus“) aus, ohne die Frage der Legitimität damit überhaupt zu berühren. Dann behauptet man die Überlegenheit der Staatsmacht qua purer Staatlichkeit, negiert jegliche prinzipielle Bindung und nimmt in Kauf, dass der Ausgang des Machtkampfes allein von der faktischen Überlegenheit abhängt – dies stellt einen Rückfall in naturzuständliche Verhältnisse à la Hobbes dar und damit die vollständige Kapitulation des Rechtsstaates. Oder man misst seine Konzeption an Rechtsprinzipien, bleibt damit im Recht, muss dann aber auch seine immanenten Beschränkungen hinnehmen – der dem rechtlichen Zustand allein angemessene Weg. Da die genannten Autoren für sich und ihre Konzeption Legitimität in Anspruch nehmen, können sie widerspruchsfrei keine außerrechtliche Lösung vertreten. Damit sind die Ansätze, die eine Suspendierung von Recht in „Ausnahmesituationen“ bzw. gegenüber „Feinden“ befürworten, keine ernst zu nehmenden Alternativen zu rechtsstaatlich fundierten Lösungen. Wenn damit feststeht, dass allein rechtliche Lösungen möglich sind, stellt sich im nächsten Schritt die Frage, welches Recht anwendbar ist und wie eine rechtsstaatliche Lösung dort ausgestaltet sein muss.
B. Strafrecht als „Sicherheitsstrafrecht“? Wie in den vorangegangenen Kapiteln der Arbeit gezeigt, wird von einem Teil der (Straf-)Rechtswissenschaft und von der Praxis in Form von Gesetzgebung und Rechtsprechung die Lösung für den rechtsstaatlichen Umgang mit Sicherheitsgefährdungen (auch) im Strafrecht gesucht. Hassemer hat dies so umschrieben, dass „Sicherheitsbedürfnisse einer durch vielerlei verunsicherten Gesellschaft“ auch das Strafrecht ergriffen habe und sich die Frage stelle, „was das Strafrecht zum Paradigma von Prävention und Sicherheit theoretisch und praktisch beizutragen hat“.4 Durch die Überlegungen im 4. Teil der Arbeit ist deutlich geworden, dass ein legitimes Strafrecht auf eine bestimmte Qualität des zu strafenden Unrechts angewiesen ist und sich insofern nicht durch präventive Erwägungen begründen lässt. Um die Frage der Eignung des Strafrechts als Regelungsmaterie der Sicherheitsgewährleistung gültig und abschließend zu beantworten, ist der freiheitliche 4
W. Hassemer, „Strafrecht, Prävention, Vergeltung“ ZIS 7/2006, S. 271, 272.
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Teil 6: Sicherheitsgesetzgebung nach freiheitlichem Rechtsverständnis
Strafbegründungsansatz, der im Zusammenhang mit dem Kriminalunrechtsbegriff schon eingeführt5 und an anderer Stelle6 gründlich ausgearbeitet wurde, kurz in Erinnerung zu rufen (unter 1.) und auf seinen Bezug zur Sicherheitsgewährleistung im Staat zu untersuchen (vgl. dazu 2.).
I. Skizze der Strafbegründung auf der Grundlage eines freiheitlichen Rechtsverständnisses7 Gegenstand der Strafbegründung ist die staatliche Reaktion auf Kriminalunrecht, d. h. die der geschehenen Unrechtstat „nachfolgende Negation des Grundrechtsstatus des Täters wegen der Tat.“ 8 Dementsprechend müssen die Überlegungen bei der zeitlich und sach-logisch vorgehenden Unrechtstat ansetzen und ihren Zusammenhang mit der auf sie folgenden gemeinschaftlichen Gegenbewegung in Form der Strafe klären. Dieser Zusammenhang ist zutreffend umschrieben, wenn Strafe als „tätiger Ausgleich eines durch die schuldhafte Straf-Unrechtstat, also unter spezifischen Zurechnungsvoraussetzungen, fortwirkend gestörten gleichen Anerkennungsverhältnisses (Rechtsverhältnisses) zwischen Täter und Allgemeinheit“ 9 begriffen wird.10 Davon deutlich zu trennen ist die darge5
Vgl. dazu im 4. Teil der Arbeit, S. 247 ff. K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 104 ff., insbesondere S. 129 ff. (m.w. N.); grundlegend M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), S. 11 ff.; ders., Der Begriff der Strafe (1986). 7 Eine gelungene Zusammenstellung (m.w. N.) derzeit vertretener Straftheorien findet sich bei M. Pawlik, Person, Subjekt, Bürger (2004), der auf den S. 69 ff. auch die hier vertretene Ansicht kritisch darstellt. 8 M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 37 ff., dort auch Auseinandersetzung mit den Gegenpositionen der präventiven Straftheorien. Vgl. dazu auch die Fundamentalkritik bei E. A. Wolff, „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ ZStW 97 (1985), S. 786 ff., ihm folgend K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 157 ff. (m.w. N.). 9 Formulierung von M. Köhler, „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ Rechtsphilosophische Hefte 1992, S. 94. 10 Vgl. zur Herleitung dieses Verständnisses aus einem freiheitlichen Rechtsverständnis schon oben Teil 4, S. 247 ff. Siehe ferner K. Seelmann, „Hegels Straftheorie in seinen ,Grundlinien der Philosophie des Rechts‘“ JuS 1979, 687, insbes. 690: „Ist das Verbrechen die Störung einer Anerkennungsbeziehung zweier Selbstbewußtseine, so kann die Verletzung nur dadurch ,vernichtet‘ werden, dass die Beziehung der Anerkennung wiederhergestellt wird, womit freilich qua Wiederherstellung nicht (nur) der ursprüngliche Zustand, sondern zugleich dessen Bewährung – Hegels ,Wirklichkeit des Rechts‘ – entsteht.“ Vgl. ferner M. Köhler, Strafrecht Allgemeiner Teil, S. 37: „Rechtsgrund der Strafe ist die notwendige ausgleichende Wiederherstellung des durch die Tat in seiner Allgemeingültigkeit verletzten Rechtsverhältnisses in schlüssiger Negation/Aufhebung des Verbrechens (. . .).“ Derselbe, Der Begriff der Strafe (1986), insbesondere S. 50 ff.; ders., „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“, S. 11 ff.; K. Seelmann, „Wech6
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legte Zwangsbegründung, die im Kern die „Verhinderung von Unrecht“ zum Gegenstand hat. Die formale Grenze zwischen beidem verläuft dort, wo eine Kriminalunrechtstat (auch in Form eines Versuchs) bereits begangen wurde und dementsprechend nicht mehr verhindert werden kann.11 Nach einem freiheitlichen Rechtsverständnis12 liegt im Kriminalunrecht eine konkrete Freiheitsverletzung,13 die sich in drei Dimensionen14 auswirkt: Erstens ist sie der Bruch eines interpersonalen Rechtsverhältnisses zwischen Täter und Opfer, zweitens ist sie der Bruch allgemeinen, im Rechtsstaat verfassten Rechts und drittens liegt in der Freiheitsverletzung ein Selbstwiderspruch des Täters in der Weise, dass er von ihm selbst mitkonstituiertes, vernünftiges Recht mit seiner Handlung negiert, dessen Bindungswirkung also für sich selbst suspendiert, obwohl er doch selbst als Vernunftwesen auf die Geltung dieses Rechts genauso angewiesen ist, wie alle anderen Subjekte der Rechtsordnung. Die Strafbegründung hat nun an diesen drei Unrechtsformen anzusetzen und zu klären, inwiefern durch die Strafe das geschehene Unrecht aufgehoben wird:
selseitige Anerkennung und Unrecht“ ARSP 79 (1993), S. 228 (230); W. Schild, „Ende und Zukunft des Strafrechts“ ARSP 70 (1984), S. 71 ff. 11 Vgl. zur strikten Trennung von präventiven Eingriffsbefugnissen und reagierender Strafe schon P. J. A. von Feuerbach, Revision der Grundsätze und Grundbegriffe des positiven peinliche Rechts (1799), Teil 1, S. 19 ff. 12 Vgl. zu dem auf Freiheit beruhenden Begriff von Recht und Staat, der hier zugrunde gelegt wird, oben Teil 2, S. 80 ff. 13 Vgl. dazu die ausführliche Herleitung oben, Teil 4, S. 247 ff. Zum Begriff der Freiheit als Ausgangspunkt für die Strafrechtsbegründung vgl. nochmals E. A. Wolff, „Die Abgrenzung von Kriminalunrecht zu anderen Unrechtsformen“ (1987), S. 137 (162 ff.); ders., „Das neuere Verständnis von Generalprävention und seine Tauglichkeit für eine Antwort auf Kriminalität“ ZStW 97 (1985), S. 786 ff., insbesondere 805: „Man wird deswegen Lehren, die das selbstbegründete Verständnis (Autonomie) der Person nicht zu ihrer unumgänglichen Basis haben, nicht mehr anerkennen können.“; diesen Grundgedanken in verschiedene Richtungen fortentwickelnd K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005); Th. S. Hoffmann, „Über die Freiheit als Ursprung des Rechts“, ZRph 2002, 17 ff.; M. Köhler, Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung (1983); ders., Der Begriff der Strafe (1986); ders., „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), 11 ff.; B. Kelker, Der Nötigungsnotstand (1993); dies., Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007); D. Klesczewski, Die Rolle der Strafe in Hegels Theorie der bürgerlichen Gesellschaft (1991); U. Murmann, Die Selbstverantwortung des Opfers im Strafrecht (2005); B. Noltenius, Kriterien der Abgrenzung von Anstiftung und mittelbarer Täterschaft (2003); R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes (1981); ders., Das Unrecht der versuchten Tat (1989); ders., „Über Begründung im Recht“ (1998), S. 509 ff.; ders., „Zur Einheit von Freiheit und Sozialität“, in: A. Söllner, u. a. (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Meinhard Heinze (2005), 1111. 14 Vgl. zu den drei Dimensionen eines als Freiheitsverletzung begriffenen Unrechtsbegriffs und zu seiner Herleitung K. Gierhake, Begründung des Völkerstrafrechts auf der Grundlage der Kantischen Rechtslehre (2005), S. 108-146 und B. Kelker, Zur Legitimität von Gesinnungsmerkmalen im Strafrecht (2007), S. 390 ff.
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Teil 6: Sicherheitsgesetzgebung nach freiheitlichem Rechtsverständnis
– Ihren ersten Wirkkreis hat die Strafe dementsprechend im interpersonalen Rechtsverhältnis, das durch die Unrechtstat gestört wurde und nun wieder auf die Ebene einer funktionierenden Vernunftbeziehung der einzelnen Rechtssubjekte gehoben werden muss. Dafür ist auf der Seite des Täters dessen Überhebung über den anderen durch einen Eingriff in seine Freiheitssphäre auszugleichen; das Ungleichheitsverhältnis soll nicht von Bestand sein und muss durch restituierenden Eingriff zum ursprünglichen Gleichheitsverhältnis zurückgeführt werden.15 Dabei ist dies der Zustand der Gleichheit, der auch dem Unrechtstäter, einem Vernunftsubjekt, als vernunftnotwendig einleuchten wird, wenn er sich nicht jene Einsicht künstlich verstellt. Er wird also durch die Strafe nicht zu etwas gezwungen, dessen Richtigkeit er nicht selbst einsehen kann – damit wird in Hegels Terminologie „das Recht des subjektiven Willens“, „das höchste Recht des Subjekts“ gewahrt.16 – In einem zweiten Schritt ist die Strafe nach der Bedeutung der Unrechtshandlung für die allgemeine Rechtsgeltung in der Gemeinschaft zu bestimmen. Es geht dabei um tätige Aufhebung des durch den Verbrecher in die Welt gebrachten konkreten Geltungswiderspruchs, um Rechtsbewährung in dem Sinne, dass sich das Allgemeine gegen das widersprüchliche Besondere durchsetzt. Strafe soll die Wirklichkeit des Rechts auch gegen einen besonderen Einzelwillen wiederherstellen. Nach Hegel ist dies in der Logik des Verbrechens zwingend angelegt: „Die Tat des Verbrechens ist nicht ein Erstes, Positives, zu welchem die Strafe als Negation käme, sondern ein Negatives, so dass die Strafe nur Negation der Negation ist. Das wirkliche Recht ist nun Aufhebung dieser Verletzung, das eben darin seine Gültigkeit zeigt und sich als ein notwendiges vermitteltes Dasein bewährt.“ 17 Es geht also um ein Aufheben des Verbrechens, das sonst gelten würde, um Wiederherstellung des Rechts.18 Die Strafe ist mit dem Verbrechen also nicht bloß lose verbunden, sondern hat nur durch seine negative Existenz überhaupt ihrerseits Existenz. Anders ausgedrückt: Die Strafe ist im Begriff des Verbrechens angelegt. Der (öffentliche, allgemeine) Widerspruch, die kollektive Bekundung, sich nicht dem besonderen Willen des Täters zu unterstellen, sondern an der Allgemeinheit festzuhalten, wird in der Strafe manifest. Der Täter muss, so wie er selbst durch seine Handlung kon15 Vgl. dazu die Überlegung bei K. Seelmann, „Wechselseitige Anerkennung und Unrecht, Strafe als Postulat der Gerechtigkeit?“ ARSP 79 (1993), S. 228 (230): „Die Rechtsbeziehung mit den anderen könne dann erst wieder hergestellt werden, wenn der Täter sich mit dem unmittelbaren Opfer und mit den anderen erneut auf gleicher Ebene bewege, sich mit ihnen in ein neuerliches Anerkennungsverhältnis begebe. In dem Maße, wie er sich einseitig über die anderen aufgeschwungen hat, muss er dazu selbst in seinem Rechtsstatus gemindert werden. Nur dann ist wechselseitige Anerkennung wieder möglich.“ 16 G. W. F. Hegel, GPhR, § 132 und Anm., S. 245. 17 G. W. F. Hegel, GPhR, Zusatz zum § 97, S. 186. 18 Vgl. G. W. F. Hegel, GPhR, § 99, S. 187.
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krete Freiheit verletzt und dadurch die Rechtsgeltung in Frage gestellt hat, Einbußen an seinen äußeren Rechtspositionen hinnehmen und dadurch die Wirklichkeit des Rechts bestätigen. Durch die Strafe wird „widerspruchsfreie Allgemeinheit des Rechts im interpersonalen Dasein restituiert.“ 19 Entscheidend bei diesem Verständnis von der Restitution der Rechtsgeltung ist, dass sie als Realisierung allgemeiner Freiheit auch vom Unrechtstäter selbst (auch aus seiner subjektiven Vernunftperspektive) als unbedingt notwendig begreiflich ist. Nur wenn das Recht, wie in dieser Arbeit zugrunde gelegt, als eine auch durch den (späteren) Unrechtstäter mitbegründete Freiheitsordnung begriffen wird, kann die Wiederherstellung der Rechtsgeltung durch Strafe auch vom Täter selbst als rechtlich-richtig eingesehen werden. Damit unterscheidet sich das hier Vertretene von jeglicher Form bloß heteronomer Übelszufügung um der Stabilisierung einer dem Straftäter bloß äußerlich auferlegten Sollensnorm willen. – Zu der allgemein-sozialen Freiheitsrestitution durch die Strafe kommt wegen der Eigenschaft des Verbrechens als auch im Subjekt stattfindender Widerspruch ein dritter Grund für die Strafe hinzu, der die Innenseite des Täters betrifft. Der Straftäter hat, weil er Vernunftwesen ist, durch seine Unrechtshandlung die Behauptung der Verallgemeinerbarkeit seines Handlungsgrundsatzes aufgestellt, obwohl ihm kraft seiner eigenen Vernunftbefähigung deutlich sein musste, dass dieser mit allgemeiner Freiheit gerade unvereinbar ist. Durch die Strafe soll dieser Widerspruch im Subjekt, nach allgemeiner Terminologie: die Schuld des Täters, behoben werden. Nach Hegel 20 liegt der Grundgedanke darin, die vom Täter selbst aufgestellte Regel („ich darf die konkrete Freiheit anderer verletzen“) gedanklich zu verallgemeinern („konkrete Freiheitsverletzungen anderer sind erlaubt“) und anschließend den Täter selbst unter die Geltung dieses vermeintlich allgemeinen Gesetzes zu stellen, „ihn unter sein Recht zu subsumieren“. Der Täter erleidet dann seine eigene Maxime gedacht als allgemeines Gesetz, indem er äußere Freiheitseinbußen hinnehmen muss. Der „Prozess der Restitution wirklicher Freiheit“ 21, die Strafe, hat also neben der Seite des Ausgleichs einer im Zwei-Personen-Verhältnis entstandenen Ungleichheit eine weitere Dimension dadurch, dass sie auch die Aufhebung partieller Negation allgemeiner Rechtsgeltung bedeutet: Objektiv durch Wiederherstellung der Rechtsgeltung nach außen und subjektiv durch Aufhebung des Selbstwiderspruchs im Subjekt. Strafe ist in diesem Sinne Ausgleich begangenen Unrechts. Keine grundlegende Aufgabe des Strafrechts ist es dagegen, zukünftiges Unrecht zu verhindern. 19 20 21
M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), S. 19. Vgl. G. W. F. Hegel, GPhR, § 100, S. 190. M. Köhler, „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), S. 11.
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Teil 6: Sicherheitsgesetzgebung nach freiheitlichem Rechtsverständnis
Prävention als solche kann deswegen niemals als Strafgrund fungieren. Inwiefern das Strafrecht dennoch – auf seine eigene Weise – der Sicherheit im Staat dient, wird durch die folgenden Überlegungen deutlich.
II. Sicherheit durch ein freiheitliches Strafrecht Die Wirklichkeit freiheitlichen Rechts, also seine tatsächliche Geltung und Umsetzung innerhalb der Rechtsgemeinschaft, wird nach begangener Verletzung durch den Unrechtstäter durch die restituierende Wirkung der Strafe wiederhergestellt. Dadurch wird die Rechtsordnung, die als Garantin freiheitlicher Verhältnisse dient, aufrechterhalten bzw. bestätigt und restituiert. Damit wiederum ist eine Stabilisierung rechtlicher – auf Freiheit beruhender – Verhältnisse verbunden, und es werden die Bedingungen für ein auf Verlässlichkeit im äußeren Umgang gestütztes Gemeinwesen erhalten. Es zeigt sich, dass das Strafrecht also tatsächlich eine „Sicherungsfunktion“ in der Gesellschaft erfüllt, allerdings nicht in der Form der Unrechtsprävention, sondern als rechtliche Ausgleichsmöglichkeit begangenen Unrechts. Das Strafrecht setzt eine freiheitliche Rechtsordnung voraus und ist begründet durch die verschuldete Kriminal-Unrechtstat des Täters, die sich gegen diese Rechtsordnung richtet. Die Tat muss Freiheitsverletzung (im beschriebenen Sinn) sein; es genügen insofern keine Vorstadien der Verletzung (Vorfeldunrecht im weitesten Sinn) und auch keine bloße Beschränkung bestehender Sicherheitsbedingungen (etwa durch das Verbreiten eines „Gefühls der Unsicherheit“). Handelt es sich aber um „echtes“ Kriminalunrecht, so darf der Staat legitimerweise das verletzte Recht wiederherstellen und dadurch Rechtssicherheit, verbunden damit auch Lebenssicherheit der Bürger stützen. Das Strafrecht ist insofern im System des Staatsrechts ein Bestandteil der Sicherung freiheitsgesetzlicher Normgeltung und als solches „Sicherheitsstrafrecht“.
C. Rechtsstaatliche Unrechtsprävention Wenn demnach die Verhinderung von Unrecht, insbesondere von terroristisch motivierten Gewaltakten, nicht Aufgabe des Strafrechts ist, so lässt sie sich allein im Bereich staatlicher Prävention verorten und als solche in legitimer Weise gesetzlich regeln. Nicht möglich ist dagegen das Verständnis von Terrorismusabwehr als Form der Kriegsführung, weil damit eine Form der Rechtsdurchsetzung gewählt würde, die ihrem Ursprung und Sinn nach allenfalls für nicht rechtlich verfasste Verhältnisse taugt.22
22 Die fundamentale Normordnung einer verfassten Rechtsgemeinschaft folgt anderen Prinzipien als das in seinem Ursprung naturzuständliche Kriegsrecht. Vgl. dazu oben S. 321 ff.
C. Rechtsstaatliche Unrechtsprävention
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Ganz allgemein stellt sich im Bereich des Sicherheitsrechts, insbesondere auch der Terrorismusabwehr, die Frage, in welcher Weise der Staat mit „Gefährdern“ umgehen kann und soll, d. h. mit solchen Personen, bei denen der Verdacht besteht, dass sie zukünftig (terroristisch motiviertes) Unrecht begehen werden. Sobald die Bedeutung der Freiheit des einzelnen Bürgers als entscheidende Grundlage unserer Rechtsordnung erinnert wird, muss ein bloß instrumenteller Umgang mit ihnen ausscheiden. Ein freiheitliches Recht beruht auf der Einsicht, dass jedes einzelne Gesellschaftsmitglied – auch ein potentieller „Gefährder“ oder Straftäter – vernunftbegabt ist und wegen dieser Vernunftbegabung eine konstitutive Rolle für die Gesamtheit hat.23 Das Grundgesetz geht von diesem Bild der freien, d. h. grundsätzlich zur Selbstbestimmung fähigen Person als Rechtssubjekt aus.24 Dieses Verständnis von Freiheit schließt es dann aber aus, in mündigen Bürgern bloße „Gefahrenquellen“ zu sehen und das Recht als Instrument der Bannung dieser Gefahren auszugestalten. Das damit entstehende Begründungsproblem staatlicher Zwangsgewalt liegt darin, dass sich jede freiheitsbeeinträchtigende Präventivmaßnahme auch vor der Vernunft des von ihr betroffenen Subjekts als rechtlich richtig ausweisen lassen können muss.25 Es hat sich gezeigt, dass unrechtshindernde Zwangsmaßnahmen objektiv rechtlich-vernünftig und damit auch dem betroffenen Subjekt grundsätzlich einsichtig sind, wenn durch sie ein von ihm drohendes Unrecht verhindert wird. Dies liegt daran, dass es die auch das betroffene Subjekt umfassende und auch ihm rechtliche Freiheit garantierende Rechtsgeltung ist, die dann durch das Zwangsrecht gewahrt wird. Bei in der Rechtsrealität allein möglicher Wahrscheinlichkeit der Unrechtsbegehung ist die Befugnis zum zwangsweisen Eingriff in die Freiheitssphäre eines Subjekts allerdings nur unter zusätzlichen Bedingungen und auch nur mit bestimmten Einschränkungen rechtlich begründet, welche sich aus den allgemeinen Prinzipien staatlicher Zwangsanwendung, dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sowie der Eigenart präventiv-rechtlichen Staatshandelns entwickeln lassen. 23 Zum Zusammenhang von Recht, Vernunft und Gerechtigkeit vgl. W. Bartuschat, „Recht, Vernunft und Gerechtigkeit“ (1994), S. 9 ff. 24 Vgl. beispielsweise U. Di Fabio, „Einführung in das Grundgesetz“ Textausgabe des Grundgesetzes, Becktext im dtv, 41. Auf. 2007, S. XII–XV. 25 Vgl. dazu nochmals C. Dierksmeier, „Zur systematischen Liberalität von Kants Politik- und Staatsbegriff“ (2009), S. 42 (48): „Jeglicher Zwang muß aus der Applikation des Rechtsprinzips auf ein endliches Subjekt gefolgert und insbesondere dem gezwungenen Subjekt gegenüber als freiheitsverträgliche und freiheitsnotwendige ,V e r h i n d e r u n g eines H i n d e r n i s s e s der Freiheit‘ (Kant, Metaphysik der Sitten, § D, Ak.-Ausg., VI, S. 231), geltend gemacht werden. Siehe ferner M. Köhler, „Zur Begründung des Rechtszwangs im Anschluß an Kant und Fichte“ (1992), S. 93 ff.; ders., „Rechtsbegriff und Rechtsgeltung“ Rechtsphilosophische Hefte 1993, S. 79 ff.; ders., Über den Zusammenhang von Strafrechtsbegründung und Strafzumessung (1983); ders., Der Begriff der Strafe (1986); ders., „Strafbegründung im konkreten Rechtsverhältnis“ (1987), S. 11 ff.
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Teil 6: Sicherheitsgesetzgebung nach freiheitlichem Rechtsverständnis
Absolute Grenzen des Zwangsrechts ergeben sich aus seiner Herleitung aus dem freiheitlichen Rechtsverhältnis zwischen Zwingendem und Gezwungenem. Maßnahmen, die dieses Rechtsverhältnis zerstören oder in seinem Fundament (der wechselseitigen Anerkennung als Vernunftwesen) verletzen, fallen aus dem Kanon möglicher Zwangsmaßnahmen heraus. Ausgeschlossen sind damit zunächst Ausforschungs- und Befragungsmethoden, die mit einer zwangsweisen Einwirkung auf die innere Willenssphäre der betroffenen Person verbunden sind, insbesondere auch jede Art von Folter. Eine jede den Verdächtigen zum Objekt machende Maßnahme ist in ihrem Fundament unrechtlich und damit unzulässig. Strikt ausgeschlossen sind ferner Maßnahmen, die das Rechtsverhältnis zum Verdächtigen endgültig aufheben: Die Tötung als finale und totale Entrechtung qua Absprache des Lebensrechts und auch jede andere Form von Entrechtlichung stellen einen Fundamentalwiderspruch zum Recht dar. Ferner sind vom Zwangsrecht solche Maßnahmen nicht gedeckt, die sich nicht als Gegenzwang zu einem konkreten Unrecht verstehen lassen. Das bedeutet den Ausschluss solcher Freiheitseingriffe, die sich nicht auf einen Unrechtsverdacht gerade dem betroffenen Subjekt gegenüber stützen.26 Die Notwendigkeit, die Vernunftgegründetheit der konkreten Maßnahme gegenüber dem Subjekt jederzeit ausweisen zu können, gebietet zudem die Offenlegung der Gründe für die Zwangsmaßname und stellt erhebliche Anforderungen an die materielle Begründung der Maßnahme gerade auch dem von ihr betroffenen Subjekt gegenüber. In Betracht kommen die im Grundsatz schon durch von Mohl 27 herausgearbeiteten Präventionsmaßnahmen, wie etwa die Beschränkung der Fortbewegungsfreiheit des Verdächtigen auf einen bestimmten Ort, die Weisung, bestimmte Orte nicht betreten zu dürfen, die Beschlagnahme bzw. Manipulation (z. B. Entschärfung) von Tatmitteln und, unter weiteren Voraussetzungen, eine präventive Haft bzw. bei Ausländern die Ausweisung aus dem Bundesgebiet. Diese Maßnahmen sind in ihrer Anwendung nicht nur strikt an das Verhältnismäßigkeitsprinzip gebunden, sondern finden spezifische Grenzen auch durch ihren Charakter als Präventivmaßnahmen. Die unrechtshindernden Maßnahmen sind inhaltlich abhängig vom drohenden Unrecht und müssen darüber hinaus in engem zeitlichen Bezug zur potentiellen Tat angeordnet werden. Das Präventionsrecht hat dann den in dieser Arbeit entwickelten materiellen Prinzipien gemäß eine systematische und schlüssige gesetzliche Regelung zu erfahren, die eine Mittelstellung zwischen Gefahrenabwehr und Strafrecht einnehmen müsste. 26 Ob sie sich aus einem anderen Grund rechtfertigen lassen, ist damit noch nicht entschieden. Denkbar sind Duldungspflichten bezüglich marginaler Freiheitseingriffe auf der Grundlage des allgemeinen Solidaritätsgedankens, der auch der Rechtsfigur des Notstands zugrunde liegt. 27 Vgl. R. von Mohl, System der Präventiv-Justiz oder Rechtspolizei (1866), S. 526 ff.
D. Resümee
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Die formell-rechtliche Umsetzung eines solchen Präventionsrechts müsste im Detail ausgearbeitet werden. Insbesondere drei wesentliche Bereiche bedürfen einer verfassungsrechtlich abgesicherten und dogmatisch-schlüssigen Normierung: Erstens ist die Gesetzgebungskompetenz für ein neu zu entwickelndes Präventionsrecht zu klären: Nach geltendem Recht ist die Gefahrenabwehr klassische Ländermaterie, das Strafrecht dagegen Bundesrecht. Die Unrechtsprävention hat insofern eine Zwitterstellung. Zweitens ist die Einrichtung einer Präventivjustiz, die über freiheitsrelevante Eingriffe entscheidet, erforderlich. In der entsprechenden Behörden- und Gerichtsstruktur muss der Richtervorbehalt gewährleistet sein und wie bei Staatsanwaltschaften im Strafverfahren muss das Präventivverfahren maßgeblich in den Händen ausgebildeter Juristen liegen. Drittens muss es überhaupt ein geregeltes Verfahren geben, das u. a. Informations-, Beteiligungs- und Verteidigungsrechte der betroffenen Personen regelt. Ein solches Verfahren kann Anleihen bei der Strafprozessordnung und dem Polizei- und Ordnungsrecht machen, ist aber im Prinzip unabhängig von ihnen auszugestalten.
D. Resümee Die vorliegende Arbeit hat gezeigt, dass die Integration von Sicherheitsinteressen der Gesellschaft in eine freiheitliche Rechtsordnung das Fundamentalverständnis von Freiheit, Recht, Zwang und Strafe betrifft. Sie hat die Kriterien einer freiheitlich-rechtlichen Sicherheitsgesetzgebung ausgewiesen und Prinzipien der Normierung dieses Rechtsgebiets benannt. Dass das „Sicherheitsstrafrecht“ in seiner gegenwärtigen Form als „Präventivstrafrecht“ eine Fehlform ist, konnte ebenso demonstriert werden, wie die Unzulässigkeit kriegsrechtlicher Elemente in der Unrechtsabwehr innerhalb einer rechtlich verfassten Gemeinschaft. Den Abschluss des Gedankengangs bildet die Forderung nach der gesetzlichen Regelung eines auf Prinzipien beruhenden Präventionsrechts, das seinen Grund in der Freiheit der Person hat.
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Personen- und Sachverzeichnis Abstraktes Recht (Hegel) 348 ff. Abwägung 161 ff., 211 f., 400, 402 f., 417 Aktunwert 230 Aktwert 230 ff. Anerkennung 51, 85, 90, 94, 113, 125, 130, 134, 171, 173, 176, 216, 249, 250, 254, 256, 261, 276 f., 283, 304, 306, 320, 327, 329, 336, 354 f., 458 Anerkennungsverhältnis 122, 216, 248 ff., 452 Angriff, bewaffneter 326 ff. Art. 51 UN-Charta 327 ff. Ausnahmerecht 170 ff. Ausnahmezustand 143 ff. Balance von Freiheit und Sicherheit 27 ff. Begriff des Politischen 141 Beschlagnahme 367 Bildung krimineller und terroristischer Vereinigungen 180 ff. BKA-Gesetz 23, 26, 390 ff. Bürgerliche Gesellschaft (Hegel) 116, 123 ff. Bürgeropfer 172 ff. Demokratie 161, 176, 205, 208 demokratisch legitimiert 207 ff. demokratisches Verfahren 208 Dritte Antinomie (Kant) 81 effet utile 176, 356, 379 Eingrenzung 364 Erfolgsunwert 216, 230 Ernstfall vs. Normallage 170 ff. Europäische Union 189 Exklusion 303
Feinde 57, 73, 74, 170, 171 ff., 239, 244 f., 245, 302, 312, 337 f., 356, 373, 450 Feindrecht 169 ff., insbes. 171 ff. Folter 356 Fragmentarische Natur des Strafrechts 201 Freiheit – bei Hegel 117 ff. – bei Hobbes 56 ff. – bei Kant 80 ff. – Daseinselemente der ~ 186, 249, 252 – Gewissheit der gesetzmäßigen ~ 53, 74 – Verletzung der ~ 247 ff. Freund – Feind 141 ff. Führungsaufsicht 396 Funktionseinheit, werthafte 226 Gefährder 313, 457 Gefährdungsdelikte – abstrakte 266 ff. – konkrete 266 Gefährdungsunrecht 180, 197 ff., 219 ff., 266 ff., 281 ff. Gefahrenabwehr 20, 24, 26, 32, 34 f., 38 f., 43, 170 ff., 193, 201, 244, 301, 314, 317, 334 f., 339 ff., 357, 368 f., 374, 379, 381, 387, 390, 392, 395, 397, 421, 446, 458 f. Gemeininteresse 400 Gemeinschaftsordnung 215, 230, 232 Gerechtigkeit, öffentliche 76, 99, 101 ff., 135, 150, 335 Gewaltenteilung – bei Hegel 131 ff. – bei Kant 99 ff.
Personen- und Sachverzeichnis Gewalttaten, staatsgefährdende 290 f. Gewaltverbot 326 ff. Grundlinien der Philosophie des Rechts 114, 348 Grundrecht auf Sicherheit 22 f., 152 ff., 178 Haussuchung 367 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 114 ff., 348 ff. Hobbes, Thomas 56 ff. Humboldt, Wilhelm von 72 ff. Inhaftierung, vorbeugende 312 Inzestentscheidung BVerfG 206 ff. iustitia – commutativa 104 – distributiva 105 – tutatrix 103 f. Jakobs, Günther 237 ff., 302 ff. Kampf gegen den Terror 421 ff. Kant, Immanuel 76 ff., 321 ff., 343 ff. Kelsen, Hans 135 ff. Köhler, Michael 253 ff. Kombattant 311, 316, 319 Kommunikation 235, 409, 435, 437, 438, 440 Kontaktsperre-Gesetz 155 Kriegsführung 310 ff., 316 ff. – asymmetrische 311, 316 ff., 319 – symmetrische 311 Kriegsrecht 46 f., 301, 310 ff. Kriminalpolitik 31, 41, 225, 278, 280 Kriminalunrecht 43, 46, 182, 201 ff., 247 ff., 269 f., 276, 281 ff., 292 ff., 381, 426, 444, 446, 452 Landesverweisung 365 Leviathan 56 ff., 143 Luftsicherheitsgesetz 23, 164
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Metaphysik der Sitten 80, 81, 85, 91, 106, 307, 345 Mohl, Robert v. 357 ff. Moralität 116, 119 Motivation, terroristische 426 Naturkausalität 85 Naturzustand 50, 54, 56, 57 ff., 77 ff., 143, 322 ff., 336 ff. Normdesavouierung 215, 234 ff. Normen, bei Jakobs 245 Normgeltung 147, 215, 240 ff., 256, 266, 274, 295, 456 Normgeltungsschaden 215 f., 274 Öffentlicher Friede 183 ff. Öffentlichkeit, Prinzip der 107 ff. Organisationsanmaßung, politische 197, 202, 271, 286, 289 Pawlik, Michael 43, 310 ff. Personalität 303 f. Polizei 339 ff. Polizeihandeln – präventiv 390 ff. – repressiv 390 ff. Prävention 338 ff. Präventionsrecht 310 ff., 338 ff. Präventionsstaat 21, 30 Präventiv-Justiz 357 Privatrecht 68, 80, 94 ff., 99, 102, 106, 108, 110, 347, 367 Rechtsgut 216 ff. Rechtsgüter 193 ff., 239 ff. – der Gesellschaft 252 – vorgezogene oder flankierende 239 ff. Rechtsgüterschutz 156, 188, 196, 214, 216, 223, 224, 226, 230, 231, 239, 275, 297 Rechtsgutsbegriff 185, 207, 217, 219, 227 ff. Rechtsgutsbegriff, liberaler 227 ff.
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Personen- und Sachverzeichnis
Rechtsgutslehre, personale 222 ff. Rechtsgutsverletzung 203, 214, 216 ff., 269 ff. Rechtslehre 53, 56, 68, 70, 76, 79, 80, 84 f., 95, 112, 114, 136 ff., 143, 168, 188, 343, 358, Rechtspflege 353 – vorbeugende 357 ff. – wiederherstellende 358 f. Rechtspolizei 374 ff. Rechtspositivismus 136 ff. Rechtsschutz 390, 446 Rechtssicherheit 22, 44, 54 f., 94 ff., 136, 183 ff., 221, 225, 291, 357, 456 Rechtsverhältnis 33, 122, 186, 247 ff., 335, 387, 403, 418, 442, 445, 454, 458 Reine Rechtslehre 136 ff. Sauerland-Gruppe 421 ff. Schmitt, Carl 140 ff. Schutzpflicht des Staates 153 Selbstbestimmung 52, 64, 71, 81, 85, 88 f., 98, 119 ff., 129, 132, 143, 149, 150, 160, 167, 210, 218, 255, 404, 457, Selbsterhalt 50, 52, 54, 57 ff., 145, 149, 317 f. Selbstverteidigung 326 ff. Sicherheit 153 – als Menschenrecht 340 – bei Isensee 153 ff. – normativ garantierte ~ 274 ff. Sicherheitsgefühl 190 ff. Sicherheitsgesetze 180, 289, 356 f., 381 Sicherheitsgewährleistung 339 ff. Sicherheitsstaat 56 ff., 76, 117, 142, 148, 174 Sicherheitsstrafrecht 451 ff. Sicherstellung 363 Sicherungshaft 312 Sicherungsverwahrung 396 ff. Sittlichkeit 116 f., 119, 120, 122 ff., 348, 355, 378 Souverän 145 Sozialkontrolle 37, 40
Sozialschaden 215, 234 ff., 237 Staat – bei Hegel 128 ff. – bei Kant 99 ff. – bei von Humboldt 72 ff. – Not- und Verstandes-Staat 124 ff. Staatsgewalt 50, 61, 67, 98, 100, 111, 131, 133, 144, 150, 167, 355 Staatsrecht 321 ff. status civils 99 Strafbegründung 452 ff. Strafrecht – „Feind-Strafrecht“ 243 ff. – „klassisches“ ~ 31, 35, 40 – „modernes“ ~ 224 – „Sicherheits-Strafrecht“ 32, 33, 35, 41, 47, 381, 451 ff. Strafverfolgung 342 System, soziales 234 ff. Tatprinzip 203 f., 242, 273, 286 ff. Terrorcamp 25 Terrorismus 310 ff., 316, 421 ff., 425 Terrorismusprävention 430 ff. Terrorismusstraftatbestand 180 ff. Terrorist 310 ff., 317 Tötung – gezielte 312 – präventive 356, 442 Universalrechtsgüter 180, 184, 224 ff. Unrechtsprävention 456 ff. Unschädlichmachung 312 Untermauerung, kognitive 237 f. Untersuchungshaft 389, 411 ff. Verbrechen 360 Verbrechensvorbeugung 361 ff. Verdachtsermittlung 384, 431 ff. Vereinigung, terroristische 180 ff. Verfassungsstaat 152 Verfassungswerte 152 ff. Verhaftung 366
Personen- und Sachverzeichnis Verhältnismäßigkeit 371, 386 Vertrauen bei E. A. Wolff 249 Verweisung 364 Völkerbund 323 Völkerrecht 321 ff., 326 ff. Vorbereitung schwerer staatsgefährdender Gewalttaten 289 ff. Vorbereitungshandlungen 291 ff. Vorbereitungsstadium 193 ff., 227, 233, 385, 407, 418 Vorbeugung 370 Vorfeldkriminalisierung 220 ff., 260, 266 Vorfeldstrafbarkeit 203 ff. Vorfeldüberwachung 21 Vorverlagerung 193, 196, 198, 222, 228, 278, 286, 299 Wahrscheinlichkeit 362, 368, 371, 382, 383
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Weltbürgerrecht 321 ff. Welzel, Hans 230 ff. Werben um Mitglieder oder Unterstützer 197 f., 241 Wesensgehalt 165 f. Wiederholungsgefahr 414 ff. Willkürverbot 371 Zielsetzung, terroristische 292 Zwang 38, 40, 80, 99, 108, 113, 139, 192, 201 f., 243, 254, 277 f., 282, 307 ff., 323, 343 ff., 358, 361, 370 f., 377, 380, 383, 385, 391, 403 ff., 435, 442, 447, 459 – bei Hegel 348 ff. – bei Kant 343 ff. – polizeilicher 357 Zwangsbefugnisse 49, 205 Zwangsrecht 342 ff.