Der Weg zum Nationalstaat : Die deutsche Nationalbewegung vom 18.Jahrhundert bis zur Reichsgründung 3423045035

4. Aufl.

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German Pages [195] Year 1994

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Der Weg zum Nationalstaat : Die deutsche Nationalbewegung vom 18.Jahrhundert bis zur Reichsgründung
 3423045035

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Deutsche Geschichte der neuesten Zeit Hagen Schulze: Der Weg zum Nationalstaat Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung

Der Autor Prof. Dr. Hagen Schulze, geb. 1943 in Tanger/Marokko, stu­ dierte Geschichte, Politische Wissenschaft und Soziologie in Bonn und Kiel, war Mitarbeiter der Edition >Akten der Reichs­ kanzlei« am Bundesarchiv Koblenz und wiss. Angestellter der Stiftung Preußischer Kulturbesitz Berlin, habilitierte sich 1977 für Neuere Geschichte und ist seit 1979 Professor für Neuere Geschichte sowie Theorie und Methodologie der Geschichts­ wissenschaften am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Uni­ versität Berlin. Wichtige Veröffentlichungen u. a. >Freikorps und Republik 1918—1920< (1969); >Akten der Reichskanzlei. Das Kabinett Scheidemann< (1972); >Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung< (1977); >Weimar. Deutschland 1917—1933« (1982); >Mitten in Europa. Deutsche Geschichte« (zus. m. H. Boockmann/H. Schilling/M. Stürmer, 1984); Edi­ tionen und Aufsätze zur deutschen und europäischen Ge­ schichte und Geschichtstheorie vom 18. bis zum 20. Jahrhun­ dert.

Hagen Schulze: Der Weg zum Nationalstaat Die deutsche Nationalbewegung vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung

Deutscher Taschenbuch Verlag

dtv

Die Karten zeichnete Karl-Friedrich Schäfer

Originalausgabe i. Auflage September 1985 3. Auflage März 1992: 26. bis 28. Tausend ©Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, München Umschlaggestaltung: Celestino Piatti Vorlage: Deutschland/Revolution 1848 Die Abgeordneten der deutschen Nationalversammlung in der Paulskirche in Frankfurt a. M. auf einem zeitgenössischen Gemälde (Bilderdienst Süddeutscher Verlag) Gesamtherstellung: C. H. Beck’sche Buchdruckerei, Nörd­ lingen Printed in Germany ■ ISBN 3-423-04503-5

Inhalt

Das Thema...............................................................................

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I. Drei Wochen im März. Berliner Revolutionschronik 1848 ....................................................................................

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II. Der Weg der deutschen Nationalbewegung bis zur Reichsgründung 1. Der Hintergrund: Europas Wandel von der Agrarge­ sellschaft zur modernen Massenzivilisation.............. 49 2. Was ist des Deutschen Vaterland?.............................. 58 3. Die Nationalbewegung auf dem Weg vom Elitenzum Massenphänomen................................................. 70 4. Von der Rheinkrise zur Revolution........................... 80 5. 1848: Das ganze Deutschland soll es sein................... 86 6. Auf dem Weg zur Wirtschaftsnation........................ 95 7. Reden und Majoritätsbeschlüsse................................... 101 8. Eisen und Blut................................................................. 109 9. Revolution von oben und von unten........................... 119 Dokumente......................................................................... 126 Forschungsstand................................................................. 172 Quellenlage......................................................................... 181 Zeittafel................................................................................. 185 Karten.................................................................................... 189 Die Reihe >Deutsche Geschichte der neuesten Zeit< . . . 191 Personenregister................................................................. 193

Das Thema

Kaum ein Phänomen der neueren deutschen Geschichte ist so vielgesichtig, so proteusartig verschwommen wie die deutsche Nationalbewegung, die soziale Trägerschicht des Nationalisie­ rungsprozesses im 19. Jahrhundert. Daß die Forschung bisher trotz der unübersehbaren Geschichtsmächtigkeit der National­ bewegung vor diesem Thema weitgehend kapituliert hat, liegt an dieser Undeutlichkeit und Vielgestaltigkeit als Folge der lan­ ge verzögerten nationalstaatlichen Einigung des mitteleuropä­ ischen Raums, was dazu führte, daß über Generationen hinweg eine Vielzahl widersprüchlicher Projekte und Programme, Ent­ würfe und Utopien zur deutschen Einigung möglich blieb. Zu­ dem war die Idee der nationalstaatlichen Einheit der einzige Gedanke, der für die Unzahl konkurrierender Ideologien und Parteien der Zeit als gemeinsamer Nenner dienen konnte: Die Nationalidee war es, die im Zeitalter der wirtschaftlichen Revo­ lutionierung Europas, des rasanten Bevölkerungswachstums, der permanenten sozialen Mutation und der Umwertung aller Werte Legitimation, Gemeinschaft und neue Ordnung verhieß. Die Idee der Nation war organisatorisch schwer zu orten, sie war mehr Stimmung als Programm, aber sie dominierte das kollektive Meinungsklima der zwei Generationen vor der Reichseinigung, sie trug geradezu Züge einer neuen Religion des beginnenden Industriezeitalters. Die Nationalbewegung und das machte den entscheidenden Teil ihrer Wirkung aus — war eine Glaubensbewegung. Wir wollen den Weg dieser Bewegung von seinen Anfängen in kleinen bildungsbürgerlichen Zirkeln des ausgehenden 18. Jahrhunderts bis zum Vorabend der deutschen Reichseini­ gung verfolgen, als die Idee, um mit Karl Marx zu reden, längst die Massen ergriffen hatte und zur materiellen Gewalt gewor­ den war. Die Geschichte der deutschen Nationalbewegung ist zugleich die Geschichte der gesellschaftlichen und politischen Opposition gegen die Ordnungskräfte der Zeit - zuerst gegen die Ordnung Napoleons, dann gegen die des Deutschen Bun­ des; das ist der Grund dafür, warum diese Darstellung nicht 1871 mit der Kaiserproklamation im Spiegelsaal von Versailles, sondern 1866 mit der Schlacht von Königgrätz endet. Denn unmittelbar danach schlossen die Kräfte der deutschen Natio-

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nalbewegung ihren Frieden mit Bismarck und dessen kleindeut­ schem Staatswesen und hoben sich dadurch als eigenständige, oppositionelle gesellschaftliche Kraft auf: die Selbstauflösung des »Deutschen Nationalvereins«, die Gründung der »Natio­ nalliberalen Partei« im Jahr des Zusammentritts des Norddeut­ schen Reichstags, 1867, markieren dieses Ende auch organisa­ tionsgeschichtlich. Daß dieses Ende gleichwohl keinen Unter­ gang der Nationalbewegung bedeutete, daß entgegen der kon­ ventionellen Interpretation die Reichsgründung nicht nur eine »Revolution von oben«, sondern eine Revolution von beiden Seiten, Bismarcks wie der Nationalbewegung, gewesen ist, daß das neue Reich ohne die Kämpfe der deutschen Nationalbewe­ gung in dieser Form nicht entstanden wäre, das ist die These dieses Buchs.

I. Drei Wochen im März Berliner Revolutionschronik 1848

Vorfrühling 1848 in Berlin: Seit Menschengedenken ist die Wit­ terung in dieser Jahreszeit nicht so milde gewesen. »Der Febru­ ar voller Sonnenschein und im März die schönste Frühlingsluft, die sich denken ließe«, erinnert sich später der Schriftsteller Wilhelm Angerstein. »Die Reaction hat hinterher behauptet, daß die Revolution weder in Berlin, noch sonst irgendwo hätte ausbrechen können, wenn nicht ein so schöner, vorzeitiger Frühsommer gewesen wäre. Es kann dies vielleicht richtig sein, ich will dies dahingestellt sein lassen - aber sicher ist, daß der liebe Herrgott seine wahre Freude über das Geschehene zu haben schien, denn der Himmel lachte stets im herrlichsten Sonnenglanze auf die sündige Erde herab.«1 Von Revolution kann allerdings Ende Februar in Berlin keine Rede sein. Während in Italien, Frankreich, selbst in München die ersten Unruhen und Volksaufläufe kommende Umwälzun­ gen ankündigen, ist es in Berlin, der größten deutschen Indu­ striestadt, mit 400000 Bürgern bereits die Einwohnerzahl der Rivalin Wien erreichend, ganz ruhig - 204 Polizisten genügen, Ruhe und Ordnung zu bewahren. Dabei drängen sich die Men­ schen bei der warmen Witterung auf den Straßen, namentlich auf Berlins Prachtboulevard Unter den Linden - »da sieht man den zierlichen Stutzer neben dem Bettler, den Offizier und den Studenten, den arbeitslosen Handwerker und den pensionierten Rath, die vornehme Dame, die aufgeputzte Dirne und das Kin­ dermädchen oder die Amme vom Lande mit der gleichen Be­ schäftigung, mit dem gleichen Ziele, nämlich um zu >bummelnEvangelium eines armen Sünders< gelesen und dessen Botschaft vom notwendig revolutionären Weg zu einer gerechten Gesellschaft gleicher Menschen verbreitet hatten. Die Urteile waren milde gewesen, und der württembergische Gesandte Reinhard hatte wohl recht, wenn er am 4. März nach Stuttgart meldete, in Berlin seien »die niederen Klassen weniger als anderswo mit socialistischen und kommunistischen Doctrinen inficirt«’.

’Nach: Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848-49. Bd. 1, Berlin 1930, S. 418.

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•Ein Ministerium für Arbeiter' Der 13. März ist ein Montag, derjenige Tag der Woche, an dem die Handwerksgesellen zu feiern pflegen; außerdem herrschen prächtiger Sonnenschein und frühlingshafte Wärme. Die Men­ schenmenge im Tiergarten und in den »Zelten«, auf dem Schloßplatz und Unter den Linden hat einen anderen Charakter als in der vorangegangenen Woche; Angehörige des Handwer­ ker- und Arbeiterstands überwiegen. Neue Nachrichten und Gerüchte machen die Runde: die revolutionäre Regierung in Paris habe einen Arbeiter zum Minister berufen; der Prinz von Preußen, Bruder des Königs, habe am frühen Morgen die Ka­ sernen besucht und die Truppen zum mutigen Kampf aufgefor­ dert. Zuerst habe es geheißen, die Truppen sollten unter dem Kommando des Prinzen Wilhelm an den Rhein gehen, um dem befürchteten französischen Angriff entgegenzutreten, aber jetzt blieben Prinz und Soldaten in Berlin: sollte etwa der Kampf gegen das Volk vorbereitet werden? Das ist zwar in Wirklich­ keit nicht der Fall, aber es sind militärische Vorsorgemaßnah­ men getroffen worden, die allgemein ins Auge fallen und den Gerüchten Auftrieb geben: die Wachen vor dem Schloß, dem Zeughaus, der Seehandlung sind vervielfacht, an einzelnen Punkten werden Kanonen aufgefahren, unablässig sprengen Meldereiter und Adjutanten durch die Straßen. In den Debatten, die seit einer Woche Tag für Tag in den »Zelten« geführt werden, herrscht seit heute ein neuer Ton. Jetzt sind es zum erstenmal Arbeiter und Handwerker, die von der Orchestertribüne und von Stühlen herab Ansprachen hal­ ten. Alles geht chaotisch durcheinander; während auf der Tri­ büne ein Zimmermann die sozialen Errungenschaften der Pari­ ser Revolution preist, hält nebenan ein Handwerker eine Rede über die deutsche Flotte; nationale, liberale und soziale Forderungen werden laut, und in einer Ecke bildet sich gar eine Versammlung von Arbeitern, die eine eigene Adresse an den König beschließt: »Der Staat blüht und gedeiht nur da, wo das Volk durch Arbeit seine Lebensbedürfnisse befriedigen und als fühlender Mensch seine Ansprüche geltend machen kann«, heißt es darin. »Wir werden nämlich von Capitalisten und Wu­ cherern unterdrückt; die jetzigen bestehenden Gesetze sind nicht im Stande, uns vor ihnen zu schützen. Wir wagen daher Ew. Majestät untertänigst vorzustellen, ein Ministerium bestel­ len zu wollen, ein Ministerium für Arbeiter, das aber nur von

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Arbeitgebern und Arbeitern zusammengesetzt werden darf...« Trotz des untertänigen Tonfalls ein Manifest der sozialen Revo­ lution, ein ferner Vorläufer der Ideen Ferdinand Lassalles, der das Bündnis von preußischem Staat und Arbeiterschaft gegen das ausbeuterische Besitzbürgertum suchen wird. Wie sehr die­ se Arbeiter dem Staat vertrauen, wird auch an einer anderen Ecke der Zelten-Versammlung sichtbar: Polizeipräsident von Minutoli erscheint dort in voller Uniform und zu Pferde, um die Lage zu rekognoszieren; ein Arbeiter tritt an ihn heran und klagt darüber, daß er sieben Kinder, aber seit Tagen keine Ar­ beit habe. Der Präsident verspricht darauf allen, daß für sie gesorgt werde, wenn sie sich weiterhin friedlich verhalten, wor­ auf ihm die Menge ein Hoch ausbringt. Vor seinem Ausritt hat Minutoli allerdings in einem ganz anderen Ton Meldung an das Gouvernement gemacht: Truppen seien bereitzustellen, um das Schloß zu besetzen, die Wachen der Stadtvogtei, des Brandenburger Tors und des Staatsgefäng­ nisses Moabit zu verstärken und von sieben Uhr abends an Ka­ vallerieeinheiten durch Stadt und Tiergarten reiten zu lassen, um der Volksversammlung »zu imponieren oder solche ausein­ anderzujagen oder behufs von Verhaftungen zu umzingeln«. Als Grund für solche Vorkehrungen führt der Polizeipräsident an, es sei bisher nichts eingetreten, »was die Vermutung wider­ legen könnte, daß es heute zu einer ernstlichen Reibung mit den Arbeitern kommen wird, da vielmehr die Haltung dieser Klasse eine entschiedene und freche zu sein scheint.. ,«10

Die Garde schreitet ein Man kann nur annehmen, daß der Polizeipräsident angesichts des Mißverhältnisses zwischen seinen 204 Gendarmen und den Tag für Tag weiteranwachsenden debattierenden und politisie­ renden Menschenmassen auf den Straßen den Kopf verloren hat; er hatte seinen Posten im April vergangenen Jahres nach dem »Kartoffelkrieg« angetreten und fürchtet jetzt, ebenso zu versagen wie damals sein Vorgänger von Puttkamer, wenn er nicht rechtzeitig das Militär um Hilfe riefe. Das Militär er10 Polizeipräsident an Gouvernement Berlin, 13. 3. 1848 nachm. In: Klein, 1848, S. 146f.

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scheint pünktlich am Abend in Gestalt zweier GardekürassierSchwadronen vor dem Brandenburger Tor, die die Menge im Tiergarten auseinandertreiben. Etwa 20000 Bürger strömen durch den Engpaß des Tores in die Stadt zurück, eingekeilt zwischen den Soldaten, die rücksichtslos in die Menge hinein­ reiten und niemanden seitlich aus dem Zug herauslassen. Die Menge zischt, pfeift, lärmt, die Soldaten finden sich in der Er­ wartung eines zu Ausschreitungen bereiten »Pöbels« bestätigt. »Immer gefährlicher verwandelte sich das Bild«, erinnert sich später ein Augenzeuge, »ohne daß von dem Volke eine tatsäch­ liche Veranlassung gegeben worden wäre, weder durch Heraus­ forderung, noch durch Ungezogenheit, in das Kriegerische und Feindliche. Auf der Schloßfreiheit vermehrten sich die Zusam­ menstöße, nahm das Gedränge einen beängstigenden Charakter an.«11 In der Stechbahn, zwischen Schloßplatz und Brüderstra­ ße, hauen die Kürassiere mit gezogenem Pallasch auf die Menge ein; Frauen werden durch Säbelhiebe verletzt, andere geraten unter die Pferdehufe, ein junger Mann wird erstochen. Die em­ pörte Menge greift zur Gegenwehr; Steine fliegen, man ver­ sucht Waffenläden zu stürmen, und in der Grünstraße errichten Handwerker aus Pflastersteinen die erste Barrikade. Aber es gibt auch besonnene Bürger, die zur Ruhe mahnen und von Gewalttätigkeiten abraten. »>Der König wird schon nachge­ ben«, hieß es, >wir brauchen keine Revolution!« >Aber die Solda­ ten müssen fort«, schrien andre, >fort!< wiederholte die Menge mit einem drohenden Akzent, der nichts Gutes und einen star­ ren Entschluß verhieß.«11 12 Zwischen Garnison und Bürgertum sind die Beziehungen seit langem gespannt. Die Generation der Reformer, die nach Jena und Auerstedt Soldaten und Bürger miteinander zu versöhnen gesucht hat, ja sie in eins hat setzen wollen, ist längst abgetreten, als letzter Hermann von Boyen, der 1841 als Siebzigjähriger noch zum Kriegsminister berufen wurde, sich aber nicht mehr gegen die neu herangewachsene, stockkonservative Offiziersge­ neration durchzusetzen vermochte und deshalb 1847 resignierte und zurücktrat. Die Armee hat längst auf ihre Weise auf die Auflösung der vorrevolutionären ständischen Gesellschaftsord­ nung, auf die Politisierung der Öffentlichkeit, auf das Aufbre­ chen der sozialen Frage in Preußen und Deutschland reagiert, 11 Karl Frenzei, Die Berliner Märztage. Leipzig o.J., S. 43. 12 Ebd.

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indem sie sich gegen alles verschlossen hat, was dem »Zeitgeist« zugehörig zu sein scheint. Das preußische Offizierskorps be­ greift sich jetzt ganz als königliche Garde, nicht mehr nur im Sinne des aristokratischen Überlegenheitsgefühls des friderizianischen Offizierskorps, sondern bewußt politisch-ideologisch: hier monarchische Legitimität und ständische Ordnung, dort demokratischer und sozialistischer Umsturz. Der Feind steht im Innern: 1844 in den schlesischen Bezirken Langenbielau und Peterswalde gegen Aufstände hungernder Weber, 1846 während der Kölner Martinskirmes-Krawalle, 1847 in der Hauptstadt anläßlich des »Kartoffelkriegs« hat man die »Umsturz-Partei« am Werk gefunden, und der militärische Ernstfall heißt nicht in erster Linie Krieg, sondern Revolution. Potsdam ist eine andere Welt als Berlin, und der Gegensatz zwischen Uniform und Zivil ist allseits dauernd bewußt und führt immer wieder zu Zusammenstößen; wenn etwa ein Leut­ nant auf der Straße einen Landsturmmann verhaftet, weil der nicht grüßt, kann das zu einem Tumult von zweistündiger Dau­ er führen, und umgekehrt kommt es vor, daß eine Gruppe von Brauereiarbeitern mit brennenden Tabakspfeifen - Rauchen in der Öffentlichkeit ist polizeilich verboten - an der Wache des Hamburger Tors vorbeizieht, höhnische Lieder auf die Soldaten singt, ihnen Tabakrauch ins Gesicht bläst und sie mit Steinen bewirft. Für Offiziere ist Berlin ein unbehagliches Pflaster, und man bemäntelt seine Unsicherheit, indem man forciert und selbstbewußt auftritt, gelegentlich auch provozierend und arro­ gant. Das Volk, zu Zeiten des Freiheitskriegs noch ein emphati­ scher, positiv gemeinter Begriff, der Nation und Staat mitum­ schloß, bedeutet für die Armee jetzt das gleiche wie »Pöbel«, unverständig und von fremden Agenten leicht aufzuhetzen, weshalb strenge und unnachsichtige Vorbeugemaßnahmen an­ gebracht erscheinen. In den Straßen Berlins macht der Aus­ spruch eines höheren Offiziers die Runde, der auf die Frage von Bürgern, ob das Militär auf das Volk schießen werde, geantwor­ tet haben soll: »Wenn der König befiehlt, schießen wir und gern.«13 Ob das wirklich gesagt wurde, ist nicht zu beweisen, aber es hätte gesagt werden können und wird jedenfalls ge­ glaubt. Der König denkt aber nicht daran, den Schießbefehl zu ge­ ben, und das schmerzt manchen Offizier, denn der König 13 Angerstein, Berliner März-Ereignisse, S. 23.

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scheint von falschen und weichen Beratern umgeben. »Man suchte zu beschwichtigen«, so ein Gardeleutnant im Rückblick, »man hoffte durch Nachgiebigkeit etwas zu erreichen. Soldaten und Offiziere, die ihre Pflicht gethan, genau nach Vorschrift gehandelt hatten, wurden im Stich gelassen und womöglich noch getadelt, daß sie schroff verfahren seien und das >Volk< gereizt hätten. Der Begriff >Volk< war ein unbestimmter, nicht ganz geklärter. Mancher ließ sich durch solchen Tadel ein­ schüchtern, der sich nicht durch einen Pöbelhaufen von 10000 hätte einschüchtern lassen, und das war natürlich, denn wir waren Alle daran gewöhnt, unbedingt zu gehorchen ... Aber bald griff eine Unsicherheit Platz. Offiziere, die genau nach den Wachvorschriften gehandelt hatten, waren getadelt worden. Was sollte man denn thun?«14 Die Unsicherheit des Militärs geht bis in die höchsten Ränge; auf der einen Seite steht der Gouverneur und Oberbefehlshaber der Garnison, General von Pfuel, ein besonnener Mann, der das Militär so wenig wie mög­ lich in Erscheinung treten lassen will und es verabscheut, Poli­ zeidienste zu übernehmen, und auf der anderen Seite General von Prittwitz, Kommandeur des Gardekorps, der als einseitig militärisch denkender Haudegen gilt und sich des besonderen Vertrauens des Prinzen Wilhelm erfreut, der von Anfang an für ein entschiedenes Einschreiten der Truppe eintritt und später von den Berlinern den Beinamen »Kartätschenprinz« bekom­ men soll. Die Unsicherheit der militärischen Führung führt da­ zu, daß man auf alle Fälle große Truppenverbände in die Stadt verlegt, um allen Möglichkeiten gewachsen zu sein. Irgendwel­ che Einsatzbefehle bestehen nicht, aber die Massierung von Uniformen wird von der Bevölkerung als Zeichen dafür gese­ hen, daß das Militär eingreifen will, und nach den Geschehnis­ sen des 13. März steigen Gereiztheit und Verbitterung bei allen Beteiligten, Bürgern wie Militär, weiter an.

Was will der König? Was will der König? Auch Friedrich Wilhelm IV. ist unsicher. Am 14. März, gegen Mittag, empfängt er eine Deputation der städtischen Behörden, die ihm die vor drei Tagen von der Stadt14 Prinz Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen, Aufzeichnungen aus meinem Le­ ben. Bd. 1, Berlin 1897, S. 20.

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verordneten-Versammlung beschlossene Adresse verlesen. Der König äußert sich huldreich und spricht mit großer Sicherheit und Zuversicht: freie Völker, freie Fürsten, sei seine Losung; der Vereinigte Landtag solle zum 27. April einberufen werden, die weitere Entwicklung werde dann dessen Sache sein; man müsse »kühn und bedächtig« vorgehen; die gute alte deutsche Ordnung dürfe nicht unbeachtet bleiben; auch die Gliederung der Stände sei deutsch, wer dagegen anstrebe, der setze sich Gefahren aus. Was aber Deutschland angehe, so liege dessen Schicksal nicht in seiner Hand, er werde aber alles, was seine Kraft vermöge, redlichst und ernst anwenden, damit auch diese Zeit der Krise zur deutschen Einigkeit, Kraft und Größe aus­ schlage. Die königliche Ansprache ist so beredt wie unklar; klar ist nur, daß der Landtag nicht, wie von allen Seiten gefordert, sogleich, sondern erst in anderthalb Monaten einberufen wer­ den soll. Daß der König bereits den Auftrag erteilt hat, eine Verfassung auszuarbeiten, die die Gesetzgebung und das Be­ steuerungsrecht zwischen Krone und Ständen teilen und ein beiden Seiten gleichermaßen verantwortliches Ministerium be­ gründen soll, teilt er ebensowenig mit wie die Entsendung des Gesandten von Radowitz nach Wien, der dort auf die Einberu­ fung eines deutschen Fürstenkongresses zu dringen hat, um die »Reorganisation und Consolidation Deutschlands anzubah­ nen«15. Auf die Öffentlichkeit wirken die Worte Friedrich Wil­ helms IV. schwach, ängstlich, ausweichend; was er eigentlich will, weiß niemand. Das ist das Eigentümliche in diesen Wo­ chen: Eine diffuse Mischung von Aufregung und Furcht be­ herrscht die Szene, dauernd genährt von Nachrichten und Ge­ rüchten aus den anderen Teilen des Königreichs, aus Deutsch­ land und Europa. Allenthalben weichen die Regierungen vor dem Druck der Öffentlichkeit zurück; selbst der Bundestag in Frankfurt hebt die Zensur für Druckschriften auf, erklärt den alten deutschen Reichsadler zum Bundeswappen und SchwarzRot-Gold, die Farben der liberalen Nationalbewegung, zu den deutschen Bundesfarben. Seit dem 13. März befindet sich auch Wien im Aufstand; radikal-demokratische Studenten bilden die Speerspitze einer breiten Volksbewegung, die den Rücktritt des Fürsten Metternich fordert, während in den Wiener Vorstädten 15 So Innenminister von Bodelschwingh in der Neuen Preußischen Zeitung, Nr. 15 vom 19. 1. 1849, Beilage.

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eine Arbeiterrevolte tobt. In Berlin dagegen fehlt das klare Ziel, auf das sich energische Entschlossenheit hätte richten können: das Schwanken des Königs läßt Hoffnung auf einen friedlichen Übergang zu parlamentarischen und konstitutionellen Verhält­ nissen weiter zu; sein Zögern dagegen und die Truppenmassie­ rungen in der Stadt tragen zur dauernden Unruhe bei. So bleibt die Situation in der Schwebe.

Erste Ausschreitungen

Am Abend des 14. März wiederholt sich das Schauspiel des Vortags, nur noch heftiger und grausamer: Wieder drängen sich die Menschenmassen auf den Straßen und vor den Toren, wie­ der tauchen starke und berittene Patrouillen auf, die diesmal aber allenthalben durch Pfiffe und Gejohle begrüßt werden. Die Unruhe steigert sich, die Soldaten reagieren ihrerseits zuneh­ mend gereizt, sind überanstrengt, wittern in den Schreiern Agenten der Umsturz-Partei, deren man nicht habhaft wird, weil nach allgemeiner Meinung der Armee die Polizei zu lasch ist, und weil die feindseligen Menschenmassen die Schreier dekken. Einige ältere Bürger halten es für klüger, nach Hause zu gehen, biegen vom Schloßplatz in die Brüderstraße ein, als von dem entgegengesetzten Ende der Straße her eine Schwadron Kürassiere in wildem Galopp auf sie zukommt, schreiend, wie von Sinnen, ihre Pferde spornend, daß einige stürzen, mit dem Pallasch an die Haustüren schlagend, und schließlich auf die ihnen entgegenkommenden Passanten einsäbeln. Zwei schwer-, acht leichtverwundete Bürger, allesamt geachtete, ältere, ganz harmlose Männer, liegen hinterher auf dem Pflaster. Ähnliche Ausschreitungen kommen auch in anderen Straßen vor. Am nächsten Vormittag erscheinen Bürgerabordnungen aus den Stadtteilen, in denen es zu Zusammenstößen gekommen war, bei Innenminister von Bodelschwingh, dem Stadtkommandan­ ten General von Ditfurth und beim Oberbürgermeister, um Klage über das Verhalten des Militärs zu führen. Sie erhalten das Versprechen, die Soldaten sollten sich nur noch zeigen, wenn ihr Eingreifen unbedingt notwendig sei; Polizeipräsident von Minutoli erklärt sich sogar höchst entrüstet über das Mili­ tär, das eingeschritten sei, ohne von ihm dazu gerufen worden zu sein; am selben Tag allerdings meldet er dem Gouvernement:

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»Die Haltung der Masse ist nicht mehr zweifelhaft, es handelt sich nur noch um den Moment des Ausbruchs.« Allerdings empfehle er, die Schloßbewachung in den inneren Höfen ver­ deckt stehen zu lassen, um die Bevölkerung nicht zu provozie­ ren: »Den Angriff bitte ich dem Publicum zu überlassen; alle guten Bürger halten sich fern, das Gesindel wird weichen oder vernichtet.«16 Am Abend des 15. März wiederholen sich die Szenen der vergangenen Tage; wieder fühlen sich die Soldaten, diesmal die Schloßwachen, durch pfeifende und schreiende Zivilisten pro­ voziert; der Generalmarsch wird geschlagen, Infanterie rückt vor und vertreibt die Menschen mit Bajonett und Gewehrkol­ ben vom Schloßplatz; in den angrenzenden Straßen werden daraufhin Barrikaden aus Pflastersteinen errichtet, um die Sol­ daten am weiteren Vordringen zu hindern, und in der Breiten Straße suchen einige entschlossene Handwerker, eine Waffen­ handlung zu erbrechen. Sie werden durch Schüsse daran gehin­ dert; auch bei der Erstürmung der Barrikaden feuern die Solda­ ten Schüsse ab. Ein Toter und fünfzehn durch Schüsse Verwun­ dete werden gegen Mitternacht bei der Schloßwache abgeladen. Am folgenden Tage, dem 16. März, werden endlich jene bür­ gerlichen Schutz-Commissionen aufgestellt, deren Einrichtung schon Gegenstand der Stadtverordnetendebatten am 11. März gewesen war. In jedem der 102 städtischen Bezirke sollen unter der Leitung eines Kommunalbeamten Bürger zusammentreten, die mit einer weißen Armbinde, auf der das Wort »Schutzbeam­ ter« aufgedruckt ist, sowie mit einem weißen Stab versehen werden; das Vorbild der Londoner Polizisten steht hier Pate. An sämtlichen Straßenecken werden Plakate angeschlagen: Wer sich den Anordnungen eines Schutzbeamten widersetzt, dem droht dieselbe Strafe, die auf Widersetzlichkeit gegen einen Sol­ daten im Dienst oder einen Polizeibeamten steht. Bei Unruhen dürfe Militär erst dann einschreiten, wenn die zuständige Schutzkommission erklärt, daß ihre Wirksamkeit zu Ende sei; erst dann dürfe das Aufruhrgesetz von 1835 verlesen und ein dreimaliges Warnsignal mit der Trommel oder der Trompete gegeben werden.

16 Bericht des Polizeipräsidiums an das Gouvernement Berlin, 15. 3. 1848. In: Klein, 1848, S. 150.

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Der Prinz von Preußen will schießen Die erste Gelegenheit der Schutzbeamten, sich mäßigend zwi­ schen Volk und Militär zu stellen, ergibt sich noch am selben Nachmittag. Auf dem Opernplatz, zwischen Universität und Zeughaus, staut sich eine Menschenmenge, hauptsächlich aus Studenten bestehend; das Gerücht hat sich verbreitet, ein an­ geblich erschossener Student solle hier aufgebahrt werden. Mit den Abzeichen ihrer Würde geschmückte Schutzbeamte versu­ chen, die Menschen zum Verlassen des Platzes zu überreden. Das aufgeblasene Benehmen der Stabträger reizt die Menge zum Spott: »Leichenbitter mit Ballkellen«. Die aufgestauten Aggressionen machen sich in einzelnen Übergriffen Luft; einige Schutzbeamte werden tätlich angegriffen, fliehen und verstekken sich in der Neuen Wache. Ein Haufen Verfolger lärmt vor der Wache; der Chef einer soeben vorbeimarschierenden Infan­ teriekompanie läßt seine Leute einschwenken, trommeln und gleich anschließend schießen. Es gibt zwei Tote und mehrere Verwundete. Auch vor dem Schloß kommt es wieder zu Tu­ multen. Die vor dem Portal gegenüber der Breiten Straße ste­ henden Wachen werden aus der hin und her wogenden Menge heraus beschimpft und mit Steinen beworfen; die Schutzkom­ missionen werden ausgelacht, das Trommelsignal zum Ausein­ andergehen richtet nichts aus. Wieder scheint es zum Blutver­ gießen zu kommen; da tritt General von Pfuel aus dem Tor, stellt sich zwischen Menge und Soldaten und gibt dem warnen­ den Kompaniechef die Antwort: »Ich bin alt genug und setze gern mein Leben ein, wenn ich Bürgerblut schonen kann.«17 Ihm gelingt es, die Menge zu beruhigen, und der Schloßplatz kann ohne weitere Aufregung geräumt werden. Der zufällig anwesende Prinz von Preußen macht dem General im Schloß­ hof vor Zeugen die heftigsten Vorwürfe wegen seiner Geduld und erklärt »lebhaft und ein wenig zu laut«, daß man auf das Volk kräftig schießen müsse18. Pfuel beschwert sich beim König und bittet um seine Entlassung; Friedrich Wilhelm IV. erteilt seinem Bruder einen Verweis, er muß sich bei dem General entschuldigen. Der Zusammenstoß im Schloßhof macht die Spannungen 17 Emst Kaeber, Berlin 1848. Berlin 1948, S. 47. 18 Otto Hoetzsch, Peter von Heyendorff. Politischer und privater Briefwech­ sel. Bd. 2, Berlin 1923, S. 47, Schreiben vom 17. 3. 1848.

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sichtbar, die in der Umgebung des Königs herrschen. Da ist auf der einen Seite die Militärpartei unter der Führung des Prinzen Wilhelm; ihr Rezept lautet, mit den Worten des königlichen General-Adjutanten Leopold von Gerlach: »Die einzige Art der Revolution zu widerstehen, war, jedwede Concession zu vermeiden, statt Landtag eine Armee zu versammeln .. .«*’ Da­ her die Überschwemmung Berlins mit Truppen; am 16. März werden noch zusätzlich zwei Bataillone des 1. Garderegiments aus Potsdam herangezogen, am 17. folgen je drei Bataillone aus Frankfurt/Oder und Halle sowie zwei aus Stettin, die allesamt auf den Plätzen in der Stadt und vor den Toren biwakieren und den Anschein erwecken, als befinde man sich im Kriegszustand. Gegen die militärische Ruhe- und-Ordnung-Politik ä tout prix arbeitet am Hofe die Verständigungspartei, allen voran Innen­ minister Ernst von Bodelschwingh, der am 15. März den König darauf hinweist, daß fast alle deutschen Fürsten bereits gezwun­ gen seien, »ihr Ministerium zu verändern und sich dem Radicalismus oder Ultra-Radicalismus in die Arme zu werfen; Gott verhüte, daß bei uns nichts ähnliches geschehe! es kann und wird aber nur verhütet werden, wenn Ew. Königliche Majestät, solange es noch Zeit ist, auch in dieser Beziehung die nötigen Reformen vornehmen. «19 20

Friedrich Wilhelms Pläne Der König ist beeindruckt, um so mehr, als aus den übrigen Teilen des Staats, vor allem aus dem Rheinland, die Nachricht von den Aufständen und sogar von Separationsbestrebungen nach Berlin dringt, und weil der Sieg der Revolution in Wien, der Sturz des Fürsten Metternich die Strafe für politischen Starrsinn vor Augen führt. Zudem ist mit den Wiener Ereignis­ sen die Grundlage für das System der Heiligen Allianz fortge­ fallen, auf dem die preußische Politik seit dem Wiener Kongreß geruht hat; »der Sturz Metternichs«, meldet der hessische Ge­ schäftsträger aus Berlin, »war eine Art der Befreiung auch für die preußische Regierung. Preußen will jetzt mit Offenheit und Energie in die neue Bahn eintreten - alles mit Deutschland und 19 Leopold von Gerlach, Denkwürdigkeiten. Bd. 1, Berlin 1891, S. 130. 20 Nach: Klein, 1848, S. 149f.

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alles für Deutschland!«21 Bis jetzt hat Friedrich Wilhelm IV. seine deutsch-romantischen Ambitionen gezügelt, denn in sei­ nen Augen hat der Habsburger Ferdinand I. die älteren Rechte auf den Kaiserthron eines erneuerten Deutschen Reichs. Aber Österreich scheint jetzt am Ende zu sein. Preußen dagegen könnte das Kunststück gelingen, sich an die Spitze der deut­ schen Einigungsbewegung zu setzen und zugleich mit vorsich­ tigen Reformen der Revolution das Wasser abzugraben: das ist die Linie, die im Ministerrat am 16. März abgesteckt wird, zur gleichen Zeit, da vor der Neuen Wache die Schüsse fallen. Am Tag darauf arbeitet Bodelschwingh im Auftrag des Königs und des Staatsministeriums eine Bekanntmachung aus: Deutschland müsse sich vom Staatenbund zum Bundesstaat wandeln, mit Bundesrepräsentation, Bundesverfassung und gemeinsamer Wehrverfassung unter einem Bundesfeldherrn; »allgemeines deutsches Heimathsrecht und volle Freizügigkeit in dem gesammten deutschen Vaterlande«; Konstitution auch für Preu­ ßen, und Einberufung des Vereinigten Landtags bereits auf den 2. April. Zugleich wird ein Gesetz über die Presse erlassen, das die Aufhebung der Zensur in Preußen zum Inhalt hat. Alles das sind Taten, die noch eine Woche zuvor das Volk auf der Straße begeistert und hinter den König geschart haben würden; auch heute, am 17. März, würde ihre Bekanntmachung der revolutio­ nären Bewegung die Spitze abbrechen, doch die Proklamation verzögert sich hauptsächlich wegen des hinhaltenden Wider­ standes des Prinzen Wilhelm, und zudem glaubt Bodel­ schwingh, daß die revolutionäre Welle in der Hauptstadt bereits abebbe, denn anders als an den vorangegangenen Tagen bleibt Berlin heute ruhig.

Ruhe vor dem Sturm Es ist die Ruhe vor dem Sturm. Daß es am 17. März nicht wieder zu Krawallen und Schießereien kommt, liegt allein dar­ an, daß sich das erste Mal seit Beginn der Unruhen Aussichten auf eine entschiedene, organisierte Aktion der Bürgerschaft eröffnen. Seit dem frühen Morgen treffen sich an mehreren Orten der Stadt Bürger, hauptsächlich Mitglieder der »Schutz21 Generalmajor von Schaeffer-Bernstein an das hessische Staatsministeriüm, 18. 3. 1848; nach Valentin, Geschichte der deutschen Revolution, Bd. 1, S. 424.

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Commissionen«, um zu beraten, was gegen die Wiederholung der Exzesse der vergangenen Tage getan werden kann. Ihnen allen sitzt der Spott der Menge über die stabtragenden »Lei­ chenbitter« in den Knochen, darüber, daß sie niemanden gegen militärische Übergriffe haben schützen können, sondern sich sogar öfters in den Schutz der Soldaten flüchten mußten. Es gibt nur ein Thema: Die Soldaten müssen Berlin verlassen; eine bewaffnete Bürgergarde soll ihre Aufgaben übernehmen. Am folgenreichsten ist eine Versammlung in der im Tiergarten gele­ genen Bierkneipe »Kemperhof«; sie entscheidet sich für eine »sehr kräftige Vorstellung« an den König, wozu Näheres der Beratung einer weiteren Versammlung am Nachmittag überlas­ sen bleiben soll. Symptomatisch für den Wandel der Stimmung: als ein in Zivil gekleideter Polizei-Commissarius erscheint und die Versammelten zum Auseinandergehen auffordert, wird ihm freundlich bedeutet, man denke gar nicht daran, er sei aber eingeladen, zu bleiben und sich an der Beratung zu beteiligen, was auch geschieht. Nachmittags findet man sich, durch eine große Zahl weiterer Schutzbeamter verstärkt, in einem Lokal in der Köpenicker Straße ein. Das Wort führt hier der Redakteur der liberalen Zeitschrift >Der Staats Dr. phil. et jur. August Theodor Woeniger, eine Figur, wie sie in den Inkubationsphasen von Revolu­ tionen oft auftauchen, um bald wieder von der Bildfläche zu verschwinden: Rhetorisch begabt, vom Feuer der Rede wie vom Beifall der Zuhörer mitgerissen und deshalb leicht geneigt, viel weiter zu gehen, als man bei kühler Überlegung gewollt hätte. Solche Figuren treten Lawinen los, unter denen sie leicht selbst begraben werden. So auch Dr. Woeniger; er plädiert für nicht weniger als eine »Friedensmanifestation der Volkswün­ sche«, und um die Regierung zu nötigen, darauf einzugehen, sollen am folgenden Tag alle Berliner Schutzbeamten mit den Insignien ihrer Würde, Tausende an der Zahl, vor dem Schloß aufmarschieren, um der Überreichung der Resolution an den König die nötige Glaubwürdigkeit zu verschaffen. Die Forderungen, von Woeniger in schwungvolle Floskeln ver­ packt, lauten in der Hauptsache: Zurückziehung des Militärs aus Berlin, Organisation einer bewaffneten Bürgergarde, Ge­ währung »der uns seit einem Menschenalter verbürgten, unbe­ dingten Preßfreiheit«, Einberufung des Vereinigten Landtags daß die beiden letzten Punkte von der Regierung bereits be­ schlossen sind, weiß außerhalb des Schlosses niemand. 31

Etwas später erscheint der von seiner Idee und vom Erfolg wie berauschte Woeniger im Cöllnischen Rathaus, wo ihn eine Menge Stadtverordneter und Schutzbürger erwartet. »Er be­ stieg eine Rednertribüne, setzte der Versammlung mit lebendi­ gen Farben die Bedeutsamkeit des Augenblicks auseinander, wies auf die Schmach Preußens hin, wenn es Österreich nach­ stehen wolle, verlangte, daß das Schutzbürgertum sich nicht daran genügen lassen solle, die Straßenunruhen zu dämpfen, sondern daß es auch die Regierung an ihre Pflicht mahne. Zu dem Ende las er die Adresse vor und forderte die Versammlung auf, sich dem Zuge nach dem Schlosse am anderen Tage anzu­ schließen.« Einige weniger aufgeregte Stadträte wenden ein, das könne unberechenbare Folgen haben und man müsse nicht in allem das Ausland nachäffen. Nun wächst Woeniger über sich selbst hinaus. »Meine Herren«, erklärt er, »es ist zu spät; unsere Aufforderungen durchlaufen die Stadt, erwäge jeder mit seinem Gewissen, was er dem Vaterlande schuldig ist; verwerfen Sie die Demonstration, so erhalten Sie die Revolution.«22 Es ist noch später, als der Redner meint; tatsächlich ist mit seiner Initiative die akute revolutionäre Situation geschaffen. Sämtliche Erwartungen richten sich auf die Demonstration am nächsten Tag; die Parole geht um: »Morgen geht’s los, morgen wird es sich entscheiden.« Sie erreicht auch die Handwerker und Arbeiter der Vorstädte, die sie auf ihre Weise verstehen und beginnen, Waffen zusammenzutragen, und sie erreicht das Ohr des Polizeipräsidenten Minutoli, der jetzt schon davon über­ zeugt ist, daß der 18. März der Tag der Revolution sein werde. Die Polizei, bislang hauptsächlich damit beschäftigt, Tabakrau­ cher auf offener Straße zu arretieren, erhält nun Befehl, poli­ tisch Verdächtige zu verhaften; man sucht auch nach Woeniger, doch der meidet das häusliche Bett und bleibt unauffindbar.

Der 18. März

Am Morgen des 18. März liegt Berlin in strahlender Frühlings­ sonne da, und im Magistrat herrscht die glücklichste Stimmung: die Kabinettsbeschlüsse über die Einberufung des Landtags und die Gewährung der Pressefreiheit werden durch Boten zuge­ 22 Berliner Revolutions-Chronik, Bd. 1, S. 97.

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stellt und finden begeisterten Beifall; die Stadtverordneten und die im Cöllnischen Rathaus weilenden Bürger umarmen sich »im Rausch des Entzückens«, und für den Abend wird die Illumination der ganzen Stadt geplant. Der König hat mehr gewährt, als die kühnsten Optimisten gehofft haben, und nun vereinen sich alle Anstrengungen darin, die geplante Demon­ stration vor dem Schloß zu verhindern, die im Licht der neuen Nachrichten überflüssig und manchem auch bedenklich scheint; namentlich Polizeipräsident von Minutoli prophezeit Unheil, und Außenminister Freiherr von Canitz will bereits einen Verschwörungsplan entdeckt haben: die Demonstranten sollen das Schloß scheinbar friedlich besetzen, um den König zu weiteren Zugeständnissen zu nötigen. Aber das Vorhaben ist nicht mehr zu verhindern; seit der Mittagsstunde strömen die Menschenmassen auf dem Schloß­ platz zusammen, darunter auch die meisten Berliner Schutzbe­ amten, die sich in Reih und Glied aufstellen und der weiteren Ereignisse harren. Nichts von aufrührerischer, gereizter Stim­ mung, wie sie in den letzten Tagen auf den Straßen spürbar gewesen ist. Ein vom Magistrat verantwortetes Plakat ist mitt­ lerweile erschienen, auf dem das Pressefreiheitsgesetz und die Einberufung des Landtags verkündet wird, und die Menge ju­ belt. General von Pfuel begibt sich sorglos zu seiner Wohnung und ruft dem späteren Flügeladjutanten von Manteuffel zu: »Nun wollen wir gehen und die Hurras in Empfang nehmen!«23 Die dankbaren Bürger wollen ihren König sehen; der Monarch erscheint auf dem Balkon, von rauschenden Lebehochs empfan­ gen, und von Bodelschwingh verkündet mit donnernder Stim­ me: »Der König will, daß Preßfreiheit herrsche; der König will, daß der Landtag sofort berufen werde; der König will, daß eine Constitution auf der freisinnigsten Grundlage alle deutschen Länder umfasse; der König will, daß eine deutsche National­ flagge wehe; der König will, daß alle Zollschlagbäume fallen; der König will, daß Preußen sich an die Spitze der Bewegung stelle.«24 Die Begeisterung auf dem Schloßplatz kennt keine Grenzen mehr, der König muß sich ein zweites Mal zeigen, Bodelschwingh hält eine weitere Rede und endet mit dem Wunsch des Königs, daß die Versammlung sich nun doch zer­ streuen möge. 2i Kaeber, Berlin 1848, S. 55. 24 Berliner Revolutions-Chronik, Bd. 1, S. 125.

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Es ist fast schon ein Ritual, wie es in nahezu allen deutschen Residenzen stattgefunden hat: der Zug der Bürger vor das Schloß, die Ansprache des Fürsten, die Gewährung freiheitli­ cher Errungenschaften verheißend, darauf Begeisterung der Menge und friedlicher Abzug. Heute allerdings versagt die Re­ gie in einem Punkte: die auf dem Schloßplatz stehende Men­ schenmasse ist so groß, der Lärm so gewaltig, daß nur die Vornstehenden die Reden vom Balkon verstehen können. So zer­ streut sich die Menge keineswegs, im Gegenteil, aus den Seiten­ straßen strömen immer mehr Menschen hinzu, die Enge auf dem Platz wird unerträglich, die vorderen Reihen werden wei­ ter nach vorn geschoben, und jetzt sieht man auch in den Tor­ durchfahrten und Höfen des Schlosses Soldaten stehen. Die Stimmung kippt um, wird ärgerlich, mancher erwacht aus der royalistischen Begeisterung und erinnert sich daran, daß von der Erfüllung einer wichtigen Forderung noch nicht die Rede gewesen ist. »Das Militär zurück!« wird gerufen, schließlich von der gesamten wogenden Menschenmasse skandiert. Neuer Ärger, als am Balkon eines dem Schloß gegenüberliegenden Hauses eine preußische, also schwarz-weiße Fahne, entrollt wird. Unten in der Menge wird das als Provokation empfun­ den, lebhaft fordert man die Farben Schwarz-Rot-Gold. Im Schloß herrscht Verblüffung, beim König wachsende Ver­ ärgerung über den anhaltenden Lärm. Das nutzen die Anhänger des Prinzen von Preußen, die ihre Ahnung bestätigt finden, daß eine Verschwörerbande die Bevölkerung an unsichtbaren Fäden dirigiere; sie setzen beim König die Übertragung des Oberbe­ fehls von dem bei der Hofclique verhaßten und als weich gel­ tenden Generals von Pfuel, der gerade nicht anwesend ist, auf den General von Prittwitz durch. Und weiterhin erwirken sie von dem König den Befehl zur Räumung des Schloßplatzes. General von Prittwitz soll mit der Kavallerie den Schloßplatz säubern und, wie der König erklärt, dem dort herrschenden Skandal ein Ende bereiten. An der Spitze einer Dragonerschwadron zieht von Prittwitz durch das Nordtor, schwenkt zur Stechbahn ein; der General wird durch eine wütende Menschenmenge von den übrigen Reitern abgedrängt. Das sieht Major von Falkenstein vom Kaiser-Franz-Regiment, glaubt seinen Oberkommandierenden in Lebensgefahr und läßt befehlswidrig zwei Infanteriekompanien ausschwärmen. Im Handumdrehen ist der Schloßplatz leerge­ fegt, nur zwischen der Breiten Straße und der Langen Brücke

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stehen noch schimpfende, mit Stöcken drohende Menschen. Gegen sie schickt der Major einen Schützenzug aus, und wäh­ rend die Soldaten, »Gewehr fertig«, auf die Brücke zumarschie­ ren, fallen aus ihrer Reihe heraus zwei Schüsse.

Die zwei Schüsse

Kein Geschehnis der Berliner Märztage hat die Phantasie der späteren Betrachter so bewegt wie diese beiden Schüsse, die Auslöser des folgenden Unheils. Zum einen: da die beiden Schüsse unzweifelhaft den Ausbruch der Straßenkämpfe provo­ ziert haben - war diese Provokation möglicherweise geplant? Der konservativen Legende von den unbekannten, die Massen manipulierenden Verschwörerbanden trat die Legende von der den Kampf bewußt herbeiführenden Militärclique zur Seite. Keine der beiden Annahmen hat den Schatten eines Beweises für sich. Die Aussage des Unteroffiziers Hettgen, ein Zivilist habe ihm mit einem Stock auf das Gewehr geschlagen, worauf dieses sich entladen habe, ist ebensowenig widerlegt worden wie die des Grenadiers Kühn, er habe ohne Befehl sein Gewehr zur Attacke rechts genommen, wobei das Gewehr losgegangen sei. Gewiß ist namentlich die letztere Aussage recht fragwürdig; die Vermutung Veit Valentins hat manches für sich, nach der Grenadier Kühn den ersten Schuß für das Signal zum Feuern gehalten und daraufhin seinerseits absichtlich, wenn auch unge­ zielt, geschossen habe. Für irgendeinen höheren Befehl, der die­ se Schüsse verursacht haben könnte, findet aber auch Valentin keinen Hinweis25. Viel interessanter als die Verschwörungstheorie ist die Über­ legung, ob die Revolution tatsächlich durch den Zufall dieser beiden Schüsse unvermeidlich geworden sei; Max Weber hat diesen klassischen Fall zur Erörterung seiner Theorie der ad­ äquaten Verursachung benutzt: Ein Ereignis ist dann historisch relevant, wenn man es gedanklich nicht aus seiner Kausalkette lösen kann, ohne daß die Folgen sich notwendigerweise ändern 25 Valentin, Geschichte der deutschen Revolution, Bd. 1, S. 428 f.; der amtliche Untersuchungsbericht: Generalleutnant von Meyerinck, Die Tätigkeit der Trup­ pen während der Berliner Märztage 1848. In: Beiheft zum Militär-Wochenblatt 1891, S. 99ff.

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müssen26. Wer die großen Zusammenhänge jener Märztage in Augenschein nimmt, wird dazu neigen, den Schüssen keine Wichtigkeit beizumessen; die revolutionäre Stimmung in der Berliner Bevölkerung erscheint in dieser Sicht wie zunehmen­ der Druck, der früher oder später das Gefäß sprengen muß. Aber stimmt das Bild? Ist nicht durch die königlichen Patente soviel Druck abgelassen, daß bei glücklicherer Konstellation der friedliche Weg in konstitutionelle Verhältnisse offensteht wie in fast allen anderen deutschen Staaten auch? Am Nachmit­ tag des 18. März stehen die Dinge auf der Kippe, und der leise­ ste Stoß kann die künftige Richtung entscheiden. Wohl mög­ lich, daß die beiden Gewehrschüsse jenen Stoß darstellen.

Der Kampf beginnt

In Sekundenschnelle ändert sich das Bild. Hals über Kopf flie­ hen die Menschen in die Seitenstraßen; der Ruf »Verrat! Man schießt auf uns« ertönt allenthalben und verbreitet sich in Win­ deseile durch die ganze Stadt. In den Köpfen der Bürger, der Handwerker und Arbeiter, die soeben noch dem König zugeju­ belt haben, formt sich ein undeutliches, aber gewisses Bild von einer Falle der Militärs, in die die Bürgerschaft bei ihrer De­ monstration auf dem Schloßplatz gelaufen ist. Selbst der brav­ ste, königstreue Spießbürger ist vom Entsetzen gepackt wie je­ ner Apotheker, der bei seiner Rückkehr vom Schloßplatz aus­ ruft: »Ja, meine Herren, sowas ist noch nicht dagewesen; das ist ja die reine Verhöhnung, alles versprechen und dann schießen lassen, und auf wen? auf uns, auf ganz reputierliche Leute, die Front machen und grüßen, wenn eine Prinzessin vorbeifährt, und die prompt ihre Steuern bezahlen!«27 Es ist nicht irgendein Programm, nicht der Gedanke an liberale oder nationale Güter, kein klar umrissenes Freiheitsverlangen, das aus Bürgern Barri­ kadenkämpfer werden läßt, sondern eine elementare Massen­ psychose, die automatische Massenreaktionen hervorruft. »Haufen flüchten durch die Königstraße«, erzählt ein Augen26 Max Weber, Objektive Möglichkeit und adäquate Verursachung in der hi­ storischen Kausalbetrachtung. In: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissen­ schaftslehre. Hrsg. v. J. Winckelmann. Tübingen 4. Aufl. 1973, S. 266ff. 27 Theodor Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig. Berlin 1982, S. 348.

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zeuge, »Bürger kommen, aufgeregt bis zur rasenden Wut, knir­ schend, bleich, atemlos. Sie rufen: man hat auf dem Schloßplat­ ze soeben auf uns geschossen. Wut- und Rachegeschrei erhebt sich durch die Königstraße, durch die ganze Stadt. Als ob sich die Erde öffnete, braust es durch die Stadt; das Straßenpflaster wird aufgerissen, die Waffenläden werden geplündert, die Häu­ ser sind erstürmt, Beile, Äxte werden herbeigeholt. 12 Barrika­ den erheben sich im Nu in der Königstraße, aus Droschken, aus Omnibuswagen, aus Wollsäcken, aus Balken, aus umgestürzten Brunnengehäusen bestehend, tüchtige, musterhaft gebaute Bar­ rikaden. Haus an Haus werden die Dächer abgedeckt. Oben am schwindelnden Rande stehen die Menschen, mit Ziegeln in der Hand die Soldaten erwartend. Die bedrohten Schwertfeger werfen ihre Waffen zu den Türen hinaus; alles ist bewaffnet, mit Mistgabeln, mit Schwertern, mit Lanzen, mit Pistolen, mit Planken; die Knaben dringen in die Häuser, um große Steine mit Körben auf die Dächer zu tragen ... «28 Nichts ist vorbereitet, es gibt keinen Plan, keine Anführer. Barrikaden wachsen aus dem Boden, wo sich eben genügend Hände finden, sie aus dem greifbaren Material aufzuführen. Die erste fertige Barrikade an der Ecke Oberwall- und Jägerstraße besteht aus zwei Droschken, einer Kutsche, dem Schilderhaus der Wache vor dem Bankgebäude, den Rinnsteinbrücken und einigen Fässern; die Barrikade in der Friedrichstraße wird mit Hilfe der jedem Berliner bekannten Obstbude von Mutter Schmidecke gegenüber der polnischen Apotheke hergestellt, nachdem die kämpfenden Bürger ihr geholfen haben, wenig­ stens die Äpfel in Sicherheit zu bringen; am Königstädtischen Theater baut man Straßenhindernisse aus den Theaterkulissen, eher malerisch als fortifikatorisch wirkend. In manchen Straßen erheben sich mehrere Barrikaden kurz hintereinander, an stra­ tegisch wichtigen Punkten dagegen, wie an der Ecke Friedrichund Behrenstraße, gibt es überhaupt keine Hindernisse. Ähn­ lich überstürzt und spontan steht es mit der Bewaffnung. Die Waffenläden werden geplündert, aber mit dem Versprechen, nach dem Kampf die Waffen zurückzugeben, was meist tatsäch­ lich geschieht. Man versieht sich mit Planken, Knüppeln, Mist­ gabeln, Hämmern und räumt sogar den Fundus der Theater aus. Schießprügel aller Größen und Epochen werden herbeige­ schleppt, Pulver gibt es in den Apotheken, als Geschosse dienen 28 Berliner Revolutions-Chronik, Bd. 1, S. 159.

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Murmeln und Geldstücke. Nur die Mitglieder der Berliner Schützengilde sind gut bewaffnet; ihr Feuer von den Hausdä­ chern um den Alexanderplatz und am Cöllnischen Rathaus setzt den Soldaten erheblich zu. Dieses Beispiel zeigt auch, daß sich die Straßenkämpfer keineswegs nur, wie dies später von der Regierung wie von Historikern behauptet wird, aus »Jugend, Studenten, Gesellen, Fabrikarbeitern« zusammensetzen29, son­ dern das ganze Spektrum jener Schicht umfassen, die im vor­ märzlichen Sprachgebrauch »ehrbare Bürger« heißt. Manch einer versucht das Blutvergießen noch zu verhindern. Bodelschwingh läßt hastig ein Plakat drucken, auf dem er als Augenzeuge erklärt, daß »nur zwei zufällig sich entladende Ge­ wehre das entsetzliche Gerücht verursacht hätten, es sei auf friedliche Bürger geschossen worden«. Drei Herren wandern, vom Hohn und Spott der Menge verfolgt, über den Schloßplatz und durch die anliegenden Straßen, im Auftrag des Königs ein großes Transparent umhertragend, auf dem zu lesen ist: »Ein Mißverständnis! Der König will das Beste!« Stadtrat Nobiling eilt von Barrikade zu Barrikade und verliest dort die königli­ chen Patente über Pressefreiheit und Einberufung des Landtags, stößt aber überall auf entrüstete Ablehnung. Von der Universi­ tät her ziehen Rektor und Dekane in feierlichem Ornat zum Schloß, um den König zu bitten, das Militär zurückzuziehen; ihnen schließen sich der Berliner Oberbürgermeister Krausnick und mehrere Stadtverordnete an. Friedrich Wilhelm IV. emp­ fängt sie freundlich, aber er zeigt sich unerbittlich: nicht er habe das Volk verraten, das Volk habe ihn verraten, es habe sich in einen Rebellenhaufen verwandelt und müsse nun demgemäß behandelt werden. Der Stadtverordnete Schauß widerspricht, doch der König reagiert so wütend, daß Schauß ohnmächtig umfällt und von der Prinzessin von Preußen mittels eines Riechfläschchens zum Bewußtsein zurückgebracht werden muß. Dem Bischof Neander gesteht der König immerhin zu, der Sturm auf die Barrikaden beim Cöllnischen Rathaus solle aufgeschoben werden, damit die Bürger Gelegenheit erhielten, sie wieder abzureißen; die Nachricht gelangt aber nicht zu den Soldaten und den Bürgern hinter den Hindernissen. Um 5 Uhr beginnt die Armee mit dem Sturm; der Geschützdonner zer­ mürbt den König, er kann keinen weiteren Gedanken fassen, er 25 Heinrich von Sybel, Die Begründung des Deutschen Reiches durch Wilhelml. Bd. 1, München, Leipzig 1889, S. 139.

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verbirgt den Kopf in den Händen, sitzt apathisch da, bricht einige Male in Schluchzen aus.

Auf den Barrikaden Die Armee macht sich daran, systematisch Straßenzug für Stra­ ßenzug einzunehmen. Man geht frontal gegen die Barrikaden vor, wobei sich die Kavallerie als vollständig nutzlos erweist. Die Infanterie ist gut ausgerüstet, mit Helm, Tornister und Le­ derzeug gegen Steinwürfe geschützt, zudem durch 36 Geschüt­ ze unterstützt. Die Verteidiger verfügen neben ihrem vorsint­ flutlichen 'Waffensammelsurium lediglich über drei Böller, ge­ nannt »Murmeltiere«, weil sie mit Murmeln geladen werden. Sie verfügen aber auch über ein Heer von Helfern, dazu über bessere Ortskenntnis und vor allem über die bessere Stimmung, über Zorn und Begeisterung. Eine Nacht für Heldentaten, die später untrennbarer Teil der Revolutionslegende werden sollen: Der siebzehnjährige Schlossergeselle Ernst Zinna, der die Barri­ kade an der Jägerstraße, lediglich mit einem rostigen Säbel be­ waffnet, völlig auf sich selbst gestellt verteidigt, bis er den tödli­ chen Schuß erhält. Jener namenlose Blusenmann, der offen auf der Freitreppe der d’Heureusischen Konditorei beim Cöllnischen Rathaus auf einer Trommel den Generalmarsch schlägt und wie durch ein Wunder unverwundet bleibt, während das Gebäude hinter ihm in Trümmer geht. Der Drechslergeselle Gustav Hesse rettet einen von der Barrikade am Alexanderplatz gestürzten Verwundeten unter dem Kugelhagel der an­ greifenden Soldaten, seine Genossen bekränzen ihn mit Eichen­ laub. Auf der Barrikade in der Taubenstraße steht während des gesamten Kampfes ein Student, in der einen Hand einen Säbel, in der anderen die schwarz-rot-goldene Fahne, »so ruhig, als ob ihn keine Kugel treffen könne. Diese Kühnheit erregte eine solche Bewunderung und Begeisterung, daß trotz der Gefahr Damen von den Fenstern aus dem Jüngling mit ihren Tüchern entgegenwehten. «30 Da wir aber in Preußen sind, begeben sich auch andere Szenen: Der Premierleutnant von Kräwell hört in seiner Wohnung das Schießen, besteigt sein Pferd und begibt sich zu seiner Kaserne. Eine Barrikade versperrt ihm den Weg, 30 Angerstein, Berliner März-Ereignisse, S. 50.

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Gewehre starren ihm entgegen. »Er sagte ruhig: >Ihr seid wohl toll, seht Ihr denn nicht, daß ich in den Dienst muß?< Darauf wurde bereitwilligst eine Lücke in die Barrikade gemacht, und als er noch gehörig gezankt hatte, die Lücke sei für sein Pferd zu schmal, und sie infolgedessen verbreitert war, passierte er die Barrikade, die hinter ihm wieder geschlossen und besetzt wur­ de. Sie ist übrigens unbesiegt geblieben, denn sie wurde nie angegriffen.«31 Auf militärischer Seite ist die Lust zu Heldentaten gering. Auf den Straßenkampf gegen einen revolutionären Gegner ist die Truppe schlecht vorbereitet, taktisch wie psychologisch. »Das heisere Geschrei der Kämpfenden, das ununterbrochene Rollen des Infanteriefeuers, dazu der Baß, den die Kanonen brummten, deren Erschütterung die Fenster der benachbarten Häuser zu Staub zertrümmerte ..., das fortwährende Sturmläu­ ten mit allen Glocken der im Bereich der Aufständischen be­ findlichen Kirchen, die Dunkelheit und die daraus sich abhebenden großen Feuersbrünste machten den Abend zu ei­ nem grauenerregenden«, so der Artillerie-Leutnant Prinz Kraft zu Hohenlohe. »Der Lärm in Schlachten ist zwar weit größer ..., die Lebensgefahr ist weit größer, aber der Straßenkampf im eigenen Lande, mitten im Frieden, hat etwas unbeschreiblich Unheimliches, wie etwa das Toben eines Erdbebens. Man weiß nicht, wer und wo der Feind ist. Die Tücken, das Mordähnliche des Verfahrens der Aufrührer ist entsetzlich widerlich und reizt zur Wut und Grausamkeit.«32 Die Soldaten sind müde, gereizt und desorientiert; niemand versteht, was da eigentlich vor sich geht. Außerdem ist der Gegner nicht uniformiert, kämpft irre­ gulär, die gewohnten sicheren Unterscheidungsmerkmale zwi­ schen Kombattanten und Zivilisten fehlen. In der Regel suchen die Offiziere zwischen bewaffneten Gegnern und Unbeteiligten zu unterscheiden, aber die Unterscheidung fällt schwer, wenn halbwüchsige Jungen Steine von den Dächern schleudern oder Frauen mit schweren Eisenstangen umgehen. Zudem bricht die Nacht herein, und die Offiziere haben die Mannschaften nicht mehr fest in der Hand. So kommt es zu Übergriffen und Exzes­ sen; als das Cöllnische Rathaus nach langer Gegenwehr der Verteidiger endlich von Soldaten des 1. Garderegiments ge­ stürmt ist, werden die Aufständischen, die sich längst ergeben 31 Hohenlohe-Ingelfingen, Aus meinem Leben, Bd. 1, S. 27. 32 Ebd., S. 34.

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haben, ohne Federlesens umgebracht. Die Gefangenen werden oft mit ungezügelter Roheit behandelt; selbst Prittwitz gesteht ein, daß »die Aufregung und Erbitterung der Soldaten einen ungemein hohen, kaum mehr zu zügelnden Grad erreicht« habe33. Dennoch muß der Oberbefehlshaber bald einsehen, daß seine Machtmittel nicht ausreichen, um die gesamte Stadt freizu­ kämpfen und zu behaupten. Gegen Mitternacht begibt er sich zum König; die Innenstadt zwischen Spree, Neuer Friedrich­ straße, Spittelmarkt und Leipziger Straße sei eingenommen, meldet er, aber weiter werde man nicht kommen. Sein Vor­ schlag: anstatt die Truppen auszudünnen und im Straßenkampf aufzureiben, sollten sie aus der Innenstadt abziehen, Berlin zernieren und die Widerstandsnester von außen zusammenschie­ ßen. Der König geht auf die Vorschläge des Generals nicht ein; er befiehlt, den Kampf einzustellen und lediglich die Stellungen zu halten, und verabschiedet Prittwitz mit einem »überaus gnä­ digen Gute Nacht und Wohl zu schlafen«.

Der Kampf wird abgebrochen Der König hat mittlerweile seine Fassung wiedergewonnen. Am späten Abend hat er den Oppositionsführer im Vereinigten Landtag, Georg von Vincke, empfangen, und der hat zweierlei erklärt: zum einen sei die Truppe nicht in der Lage, den Bürger­ krieg durchzustehen, und zum anderen dürfe man die Situation nicht nach rein militärischen Gesichtspunkten beurteilen. Das Band zwischen Monarchie und Bürgertum dürfe nicht durch­ trennt werden, und deshalb komme jetzt alles darauf an, den Kampf auf versöhnliche Weise beizulegen. Das trifft sich durch­ aus mit Friedrich Wilhelms Überlegungen. Im Verlauf der letz­ ten Tage hatte der Plan in ihm immer festere Form angenom­ men, die Volksbewegung in Deutschland zu nutzen, um ein erneuertes Reich unter preußischer Führung zu errichten. Der Kampf gegen die Volksbewegung gerade in Berlin droht jetzt alles über den Haufen zu werfen und beschwört darüber hinaus die Gefahr der Abtrennung des Rheinlands und der russischen Intervention. Zudem ist der Kampf gegen das Volk für den 33 Nach Kaeber, Berlin 1848, S. 70.

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christlich-patriarchalisch empfindenden König eine Sünde; so kommt jetzt alles darauf an, die Hand zur Versöhnung auszu­ strecken. Kaum ist der General von Prittwitz gegangen, setzt der König sich an den Schreibtisch, um eine Proklamation »An meine lie­ ben Berliner« zu entwerfen. Alles sei ein unseliger Irrtum gewe­ sen, schreibt er, verursacht durch »eine Rotte von Bösewich­ tern, meistens aus Fremden bestehend«. Die Bevölkerung brau­ che nur die Barrikaden zu räumen und Abgesandte in das Schloß zu schicken, »voll des ächten alten Berliner Geistes mit Worten, wie sie sich eurem Könige gegenüber geziemen«, und er gebe sein königliches Wort, daß Berlin sogleich von den Truppen geräumt werden solle; nur Schloß und Zeughaus soll­ ten auf kurze Zeit ihre militärischen Wachen behalten. Berliner wie König sollen das Geschehene vergessen, »um der großen Zukunft willen, die unter dem Friedens-Seegen Gottes, für Preußen und durch Preußen für Teutschland anbrechen wird«34. Bodelschwingh sorgt sogleich dafür, daß der Aufruf gedruckt wird, und im Morgengrauen des 19. März sind in der ganzen Stadt Ausrufer unterwegs, die das königliche Friedens­ angebot unter das Volk bringen. Es bleibt wirkungslos. Die Ausrufer treffen nur auf Spott und beißende Ablehnung, und bald klebt auf einer Granate, die in der Breiten Straße, ohne detoniert zu sein, in ein hölzernes Brunnengehäuse eingeschlagen war, die säuberlich ausgeschnit­ tene Überschrift: »An meine lieben Berliner«, darunter »Fried­ rich Wilhelm«. Im Schloß gibt derweil eine Deputation der anderen die Türklinke in die Hand, und der König, übernäch­ tigt und deprimiert, hört kaum zu, wartet nur auf ein Zeichen aus der Stadt, daß seine Botschaft Erfolg gehabt habe. Da er­ scheint Bürgermeister Naunyn und berichtet, in der Königstra­ ße sei das Volk dabei, eine Barrikade niederzureißen. Der König fragt gar nicht nach; Naunyn müßte sonst gestehen, daß dies der einzige Fall in ganz Berlin sei, daß im übrigen die Straßen­ kämpfer entschlossen seien, den Kampf wieder aufzunehmen. Stattdessen erscheint Minister Bodelschwingh und ruft, da die Barrikaden niedergerissen würden, sei es an der Zeit, gemäß dem königlichen Versprechen die Truppen zurückzuziehen. Es folgt ein dramatisches Rencontre zwischen dem Minister und dem Prinzen von Preußen, der vergeblich darauf beharrt, daß 34 In: Klein, 1848, S. 178f.

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von einer Räumung der Barrikaden noch keine Rede sein kön­ ne, und daß auch dann wenigstens Schloßplatz und Lustgarten durch Truppen abgesperrt werden müßten. Aber der König und sein Minister wollen nichts mehr von militärischen Argu­ menten hören, und so geht der Befehl an die Truppen heraus, die Stellungen zu räumen.

Das Militär zieht ab

Der Vorgang trägt alle Zeichen der Niederlage; während die Kompanien sich zurückziehen, werden sie von den Barrikaden herab verhöhnt und mit Steinen beworfen. Die Truppen wer­ den zunächst zwischen Schloß und Zeughaus zusammengezo­ gen, dann verlassen sie »mit klingendem Spiel und in der Ord­ nung, aber in schrecklich deroutiertem Zustande« die Stadt35. Im Offizierskorps wird die Schmach dieses Abzugs unverges­ sen bleiben; das zutiefst verwundende Erlebnis, daß der König anscheinend die Interessen der absolutistischen Monarchie mit geringerem Nachdruck verfolgt als die Armee, führt zu jener zunehmenden politischen und ideologischen Selbstisolierung des preußischen Militärs, die tiefgreifende Folgen für die deut­ sche Geschichte haben soll. Ein noch unberühmter Gardemajor namens Albrecht von Roon notiert am Abend dieses Tages die psychologisch aufschlußreichen Sätze: »Mein Gott, mein Gott, warum hast du uns verlassen? ... Das beste, was jetzt werden kann, was noch möglich, ist jene corruptible RepräsentativConstitution, gegen die sich jeder Unbefangene bis dahin zu sträuben Recht und Anlaß hatte .. .«36 Erst spät stellt sich heraus, daß in der allgemeinen Hektik des Tages, im Gewirr der sich kreuzenden Weisungen und Befehle, niemand die Übersicht behalten hat. Entgegen der Ankündi­ gung der königlichen Proklamation liegt im Zeughaus über­ haupt keine Wache mehr, und das Schloß wird von nur mehr zwei Bataillonen bewacht - angesichts der Weitläufigkeit des 35 Adolf von Menzel an Carl Heinrich Arnold, 23. 3. 1848. In: Else Cassirer (Hrsg.), Künstlerbriefe aus dem neunzehnten Jahrhundert. Berlin 1919, S. 23. 36 Denkwürdigkeiten aus dem Leben des General-Feldmarschalls Kriegsmini­ sters Grafen von Roon. Hrsg. v. Waldemar Graf v. Roon. Bd. 1, Breslau 1892, S. 143.

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Gebäudes viel zu wenig, um den sicheren Schutz des Königs zu gewährleisten. Die Umgebung des Königs ist demoralisiert und von der Angst vor dem revolutionären Schaffott besessen; Offi­ ziere suchen die Uniform mit Zivilkleidung zu vertauschen, und der Flügeladjutant Oberstleutnant von Brauchitsch bringt, um sich unkenntlich zu machen, seinen Schnurrbart zum Op­ fer. Nach langem Zögern gibt der König seinen Ratgebern nach, die ihn beschwören, den Truppen nach Potsdam zu folgen, aber zu spät: die Straßen sind von Menschenmassen verstopft, die sich auf das Schloß zuwälzen. Die Barrikadenkämpfer führen auf Leiterwagen und Bahren die Leichen der in der vergangenen Nacht Gefallenen mit sich, mit Blumen, Zweigen und Lorbeer geschmückt, die Wunden entblößt. Der wachhabende Offizier läßt den Zug in den Schloßhof ein; General von Prittwitz befiehlt den Soldaten, den Helm abzunehmen, und die Menge fordert das Erscheinen des Königs. Friedrich Wilhelm erscheint, begleitet von der Königin, beide todbleich, dem Umfallen nah. Leichnam für Leichnam wird vor dem Königspaar niedergesetzt, und die Träger verkün­ den laut: »15 Jahre alt, mein einziger Sohn.« - »Ohne Pardon niedergetreten, nachdem er sich ergeben hat.« - »Ein Familien­ vater von fünf unerzogenen Kindern.« Die Erregung steigt, die Menge schreit »Hut ab«, der König nimmt seine Militärmütze vom Kopf und will reden, aber der Lärm übertönt ihn. Die Menschen stimmen den Choral »Jesus meine Zuversicht« an, Friedrich Wilhelm hört bis zum Ende barhäuptig zu, und Köni­ gin Elisabeth murmelt: »Nun fehlt bloß noch die Guillotine.« Dann führt der König seine weinende Gemahlin in das Schloß zurück; nie zuvor oder später hat ein deutscher Monarch eine so tiefe Demütigung erlebt.

Rauchen erlaubt Die Menge bleibt im Schloßhof, mehr Menschen drängen nach, und man ist nahe daran, in das Schloß einzudringen. Da er­ scheint als Retter in der Not der junge Fürst Lichnowsky, klet­ tert auf einen Tisch und redet mit klarer, lauter Stimme: der König habe dem Kampf ein Ende gemacht, die Soldaten aus der Stadt geschickt und sich dem Schutz der Bürger anvertraut. Alle Forderungen seien bewilligt, und man möge ruhig nach Hause

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gehen. »Auf die Frage aus dem Volke, ob auch wirklich Alles bewilligt sei, antwortete er >Ja, Alles, meine Herrenk >Ooch det Roochen?< - erscholl eine andere Stimme, >Ja, auch das Rau­ chern, war die Antwort. >Ooch im Dierj arten ?< - wurde weiter­ gefragt. >Ja, auch im Tiergarten darf geraucht werden, meine Herren.< Das war durchschlagend.«37 Neben der Abschaffung des Rauchverbots in der Öffentlichkeit, seit dem Vormärz das jedermann einleuchtende Sinnbild des Polizeistaats, ist es vor allem die Volksbewaffnung, der der König zustimmt. Die Stim­ mung auf dem Schloßplatz schlägt um, man läßt den König hochleben, und im Handumdrehen werden aus Revolutionären wieder königstreue Bürger, die nach Hause eilen, um sich ihrer Bürgerbriefe zu versehen; jedermann, der sich als Berliner Stadtbürger ausweisen kann, erhält sofort aus dem Zeughaus ein Gewehr. Um 5 Uhr nachmittags zieht die Schützengilde in glänzenden Uniformen, die Hüte mit wallenden Federn besteckt, vor dem Schloß auf und übernimmt die Wache. Die Menge jubelt bei ihrem Aufmarsch, die Frauen winken mit ihren Tüchern, Freu­ denschüsse werden abgefeuert: »Das ist der erste Sonnenblick in diesen Schreckenstagen«, ruft der Korrespondent der Bres­ lauer Zeitung< begeistert aus, »der erste Sonnenblick! Möge er festgehalten werden! Nicht Kartätschen, Kanonen und Bajonet­ te sind heutzutage die Beschützer der Könige; Bürgertreue, Bürgertugend, Bürgerfreiheit ist die einzige Schutzwehr der Fürsten. «38 Am Abend sind alle Fenster erleuchtet, und man ist sich einig, daß Berlin noch nie eine so prächtige Illumination gesehen habe. Einige Studenten ziehen vor die Häuser ehemali­ ger Minister und des Oberbürgermeisters, um ihnen Katzen­ musiken darzubringen, werden aber von bewaffneten Bürger­ wehrabteilungen nach Hause geschickt. In Berlin herrschen Ru­ he und Ordnung.

Feiertag der Revolution

Der 20. März ist ein Feiertag. Kaum jemand arbeitet. Die Stadt ist ohne Polizei, ohne Militär, ohne Behörden, die zurückge37 Werner von Siemens, Lebenserinnerungen. Berlin 1901, S. 48f. 38 Nach Berliner Revolutions-Chronik, Bd. 1, S. 251 f.

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bliebenen Offiziere und Hofbeamten zeigen sich in Zivilklei­ dern, die öffentlichen Gebäude sind von bewaffneten Bürgern, Studenten und Mitgliedern der Handwerkervereine besetzt. Die Bevölkerung promeniert glücklich in den Straßen, die Damen tragen Schwarz-Rot-Gold an den Hüten oder als zierliche Rosette an der Brust, die Herren als Schleifen, Uhrbänder oder Kokarden. Die Leihhäuser sind von Menschentrauben umlagert, denn laut königlichem Dekret sind alle Pfänder bis zum Wert von fünf Talern auf Staatskosten ausgelöst. Zigarre und Tabakspfeife in der Öffentlichkeit haben sich emanzi­ piert, Schlapphut und Stiefel signalisieren freiheitliches Be­ wußtsein, und allenthalben versperren noch Barrikaden den Weg - sie werden erst allmählich auf Kosten der Stadtkasse abgetragen. Die politischen Gefangenen werden freigelassen, darunter der polnische Aufrührer Mieroslawski, eine romanti­ sche Heldenfigur, Liebling der Berliner Damenwelt, der nun, mit einer schwarz-rot-goldenen Fahne versehen, an der Spitze eines Triumphzuges durch die Straßen gefahren wird. Auf dem Balkon des Schlosses stehen der König, neben ihm die neuen liberalen Minister Arnim, Schwerin und Bornemann, und als der Zug naht, zieht der König seine Mütze und schwenkt sie dem polnischen Revolutionär entgegen. Freneti­ scher Jubel begrüßt diese Geste, und der gerührte Pole hält eine lange Rede, in der er das Freundschaftsbündnis preist, das in der Zukunft das freie Polen mit einem freien Preußen Zusammenhalten soll.

Preußen geht in Deutschland auf Am nächsten Morgen erscheint ein in der Deckerschen Gehei­ men Oberhofbuchdruckerei hergestelltes Plakat »An die deut­ sche Nation«, sonderbarerweise ohne Unterschrift, mit den verheißungsvollen Sätzen: »Eine neue glorreiche Geschichte hebt mit dem heutigen Tage für euch an! Ihr seid fortan wieder eine einige große Nation, stark, frei und mächtig, im Herzen von Europa! Preußens Friedrich Wilhelm IV. hat sich, im Ver­ trauen auf euren heldenmütigen Beistand und eure geistige Wie­ dergeburt, zur Rettung Deutschlands an die Spitze des Gesamt­ vaterlandes gestellt. Ihr werdet ihn mit den alten ehrwürdigen Farben deutscher Nation noch heute zu Pferde in eurer Mitte

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erblicken.«39 Und richtig, gegen Mittag erscheint Friedrich Wil­ helm IV. auf einer sanften Stute - er kann nicht gut reiten angetan mit der Uniform des 1. Garde-Regiments, den Adler­ helm auf dem Kopf, am Arm eine breite schwarz-rot-goldene Binde. Der Zug ordnet sich: vorneweg zwei Generale zu Pfer­ de, darauf drei Mitglieder des neuen, liberalen Ministeriums. Zu Fuß folgt ein Mitglied der Schützengilde mit wallender schwarz-rot-goldener Fahne, flankiert von zwei bewaffneten Bürgern.. Dann der König, begleitet von zwei Stadtbeamten. Dahinter zu Fuß der Tierarzt Urban, der vor kurzem noch auf der Barrikade gestanden hat; jetzt trägt er gemessenen Schritts eine gemalte Kaiserkrone vor sich her. Schließlich die Prinzen, mit Ausnahme des Bruders des Königs, der zur allgemeinen Zufriedenheit nach England geflohen ist, und einige weitere Generale, allesamt mit den deutschen Nationalfarben angetan. Der Zug nimmt seinen Weg durch die Innenstadt, und an mehreren Ecken wird angehalten, um dem König Gelegenheit zu einer kleinen Ansprache zu geben. Der Tenor der königli­ chen Worte ist stets der gleiche: die Einheit Deutschlands sei nun der nächste Schritt, auf den Grundlagen einer konstitutio­ nellen deutschen Verfassung. Vor der Universität ruft ein Stu­ dent: »Es lebe der Kaiser von Deutschland!« Friedrich Wilhelm wehrt unwillig ab, er murmelt, daß nur seine engste Umgebung ihn versteht: »Nicht doch, das will, das mag ich nicht!« Das Ganze hat den Anstrich eines Festzuges, die nachfolgende Men­ schenmenge vergrößert sich ständig, und der Jubel ist allge­ mein. Der junge Theodor Fontane begegnet in Begleitung sei­ nes Vaters dem Zug; der Alte ist bestürzt: »>Es hat doch ein bißchen was Sonderbares... so rumreiten... Ich weiß nicht.. .< Eigentlich«, so der Sohn, »war ich seiner Meinung. Aber es hatte mir doch auch wieder imponiert, und so sagt ich denn: >Ja, Papa, mit dem Alten ist es nun ein für allemal vorbei. So mit Zugeknöpftheiten, das geht nicht mehr. Immer an der Spitze .. .< >Ja. Ja.< Und nun gingen wir auf Puhlmanns Kaffeegarten zu.«40 Am Abend flattert die deutsche Nationalfahne vom Gerüst der noch unvollendeten Schloßkuppel. An den Mauern hängt ein Anschlag, betitelt »An mein Volk und an die deutsche Na­ tion«, unterschrieben vom König und dem neuen Ministerium, der alle guten Vorsätze für eine Reform Preußens und Deutsch39 Angerstein, Berliner März-Ereignisse, S. 65. 40 Fontane, Von Zwanzig bis Dreißig, S. 370.

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lands zusammenfaßt; der Text gipfelt in dem Absatz: »Mein Volk, das die Gefahr nicht scheut, wird Mich nicht verlassen und Deutschland wird sich Mir mit Vertrauen anschließen. Ich habe heute die alten deutschen Farben angenommen und Mich und Mein Volk unter das ehrwürdige Banner des deutschen Reiches gestellt. Preußen geht fortan in Deutschland auf. «41

41 Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte. Hrsg. v. Emst Rudolf Huber. Bd. 1, 3. Aufl. Stuttgart 1978, S. 448f.

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II. Der Weg der deutschen Nationalbewegung bis zur Reichs­ gründung

1. Der Hintergrund: Europas Wandel von der Agrargesellschaft zur modernen Massenzivilisation Am Anfang stand das demographische Problem. Nach jahrhun­ dertelangem Gleichgewicht, brutal ausbalanciert durch Kriege, Epidemien und Hungersnöte, begann seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Bevölkerung Europas sprunghaft zuzu­ nehmen. 1750 zählte der Kontinent, grob gerechnet, um 130 Millionen Einwohner; um 1800 waren es bereits etwa 185 Millionen, 1850 266 Millionen, 1900 401 Millionen und am Vorabend des Ersten Weltkriegs 468 Millionen Menschen. Deutschland machte da keine Ausnahme: 1750 dürften in den Grenzen des Deutschen Reichs von 1871 ungefähr 17 Millionen Menschen gelebt haben; um 1800 zählte man bereits rund 25 Millionen, 1850 35,4 Millionen, 1900 56,4 und um 1913 67 Millionen Deutsche. Selbst die Millionenströme der Aus­ wanderer im zweiten und letzten Drittel des 19. Jahrhunderts änderten daran nichts, und Katastrophen, die in früheren Jahr­ hunderten zu schweren Rückschlägen geführt hätten, machten sich jetzt im Bevölkerungswachstum kaum bemerkbar; nach­ dem beispielsweise Schlesien während der Hungersnot von 1771/72 etwa 50000 Einwohner verloren hatte, kamen inner­ halb der nächsten drei Jahre bereits wieder mehr als 70 000 hinzu. Es stieg also nicht nur die Bevölkerungszahl, sondern auch deren Wachstumsrate ständig an, und das, obgleich Europa um 1800 bereits der am dichtesten bevölkerte Teil der Welt war. Verantwortlich für diese Bevölkerungsexplosion war ein gan­ zes Ursachenbündel. Da war der steile Anstieg der landwirt­ schaftlichen Produktivität durch neue Anbaumethoden. Die al­ te Dreifelder-Wirtschaft wich der modernen Fruchtwechsel­ wirtschaft, der Bodenertrag stieg allenthalben an; die Einfüh­ rung der Kartoffel ergänzte das Nahrungsmittel-Angebot, und Regierungen wie Landwirte waren vom »fanatisme de l’agriculture« ergriffen, wie ein Zeitgenosse sagte, von der Leidenschaft für den Ackerbau: Heideflächen wurden umgebrochen, Moore trockengelegt, Wälder gerodet und Weiden in Ackerfläche um­ gewandelt. Die großen Schwankungen zwischen den jährlichen 49

Ernteerträgen wurden immer geringer, Hungerkatastrophen wurden seltener und blieben schließlich aus. Besser genährte Menschen wurden auch gegen Krankheiten widerstandsfähiger, neue Mittel zur Krankheits- und Seuchenbekämpfung wie die Impfung, aber auch verbesserte Hygiene taten ein übriges, um Epidemien einzudämmen und das durchschnittliche Lebensal­ ter der Menschen zu erhöhen. Namentlich die Kindersterblich­ keit, aber auch die Häufigkeit des Todes der Frauen im Kind­ bett gingen zurück; nicht nur der Fortschritt der Medizin war daran beteiligt, sondern auch eine veränderte Einstellung der Menschen zu Kind und Familie. In weiten Gebieten Europas entfielen ständisch oder zünftig begründete Heiratsbeschrän­ kungen, man heiratete häufiger und früher, die Ehepartner leb­ ten länger miteinander, und so kumulierten zahlreiche Einflüs­ se, die großenteils noch nicht einmal zureichend erforscht sind, in einer Bevölkerungswelle, wie sie die Welt bis dahin nicht gekannt hatte. Die Menschen begannen zu wandern. Die alte europäische Agrargesellschaft löste sich allmählich auf, denn trotz der stei­ genden Nahrungsmittelproduktion blieb in vielen landwirt­ schaftlichen Regionen der Zuwachs des Bodenertrags hinter dem Bevölkerungsanstieg zurück. Die Wanderungsströme flös­ sen zum Teil in die noch unbevölkerten Regionen der Erde ab, nach Amerika, Australien, Kanada, oder sie mündeten dort, wo bereits viele Menschen lebten, in den Städten, die rasant wuch­ sen, und in denen es deshalb im Laufe des 19. Jahrhunderts zu sozialen, hygienischen und moralischen Mißständen kam, die der Beschreibung spotten — die Romane eines Charles Dickens, eines Eugène Sue bieten nur eine matte, romantisch überhauch­ te Ahnung der krassen und elenden Wirklichkeit. Tatsächlich hätte diese Entwicklung in einer Katastrophe un­ geheuren Ausmaßes enden können. Der schottische Geistliche Thomas Malthus (1766-1834) hatte bereits die düstere Progno­ se gestellt, das dauernde Bevölkerungswachstum bei gleichblei­ benden Ressourcen müsse unweigerlich zum Kollaps führen, und die massenhaften Verelendungstendenzen in vielen Gebie­ ten Europas, in den preußischen Ostprovinzen beispielsweise oder in Irland, stützten diese Voraussage. Daß sie nicht eintraf, daß Europa nicht in einer Hungerkatastrophe zusammenbrach, wie sie hundert Jahre später die Dritte Welt heimsucht, lag an der gleichzeitig stattfindenden wirtschaftlichen Umwälzung, die wir gewöhnlich als Industrielle Revolution bezeichnen.

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Es ist kaum möglich, die Fülle der Voraussetzungen darzule­ gen, die notwendig waren, um diesen weltgeschichtlich einmali­ gen Prozeß in Gang zu setzen - ein Thema, das im übrigen auch heute noch dankbarer Gegenstand gelehrter Debatten ist. Der Prozeß ist jedenfalls undenkbar ohne den Hintergrund der wis­ senschaftlichen, philosophischen, kulturellen, religiösen und in­ stitutionellen Geschichte Alt-Europas seit der Antike. Im gro­ ßen und ganzen kennzeichneten ihn vier grundlegende Tenden­ zen. Erstens setzten sich neue Techniken durch, vor allem in Gestalt von Maschinen, die Arbeit leisteten und Energie er­ zeugten - die Dampfmaschine mit ihren vielfältigen Verwen­ dungsmöglichkeiten war hier wegweisend. Zweitens wurden neuerdings die Rohstoffe Eisen und Kohle massenhaft gefördert und genutzt - die Produktionsweise war nicht mehr, wie bisher, auf die Grenzen der Verwendung menschlicher und tierischer Muskelkraft und organischer Stoffe beschränkt. Drittens setzte sich das Fabriksystem durch, die Organisationsform arbeitstei­ liger gewerblicher Produktion, und viertens wurde die freie Lohnarbeit die herrschende Erwerbsweise. Alles das vollzog sich zuerst seit den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in England; hier fanden sich besondere Vor­ aussetzungen für die Industrialisierung: günstige Lage der Koh­ len- und Eisengruben, eine dichte Verkehrs-Infrastruktur aus Straßen, Flüssen, Kanälen und küstennahen Seewegen, die nicht, wie im übrigen Europa, von Handelsbarrieren durch­ kreuzt waren. Hinzu traten eine hochentwickelte Investitions­ bereitschaft von Gewerbe und Adel, ein weitgediehenes Han­ dels-, Banken- und Kreditsystem, eine liberale Wirtschaftspoli­ tik, die die Freizügigkeit von Kapital und Arbeit begünstigte, und einiges andere mehr, das insgesamt innerhalb weniger Jahr­ zehnte eine ungewöhnliche Produktionssteigerung ermöglichte und zu einem Wirtschaftswachstum führte, das sich, wenn auch durch Krisen unterbrochen, weiterhin selbständig fortsetzte — ein Vorgang, der im gleichen Maße auf die Länder des europä­ ischen Kontinents Übergriff, indem dort vergleichbare politi­ sche, wirtschaftliche, soziale sowie nicht zuletzt geistige Vor­ aussetzungen bestanden oder geschaffen wurden. Der Anstieg von Bevölkerung und Produktion wurde beglei­ tet durch eine dritte säkulare Umwälzung, durch die Revolu­ tion im Kommunikationswesen. Güter- und Menschentrans­ port, aber auch die Übermittlung von Nachrichten erreichten ganz neue Dimensionen. Wo seit Urzeiten die Geschwindigkei­ 51

ten der Pferdestafette und später der Postkutsche Inbegriff der Beziehungen von Raum und Zeit gewesen waren, dort wurden jetzt durch den Ausbau von Dampfschiffahrt und Eisenbahn Menschenmengen in viel kürzerer Zeit in viel größerer Zahl über weitere Strecken zu niedrigeren Kosten transportiert. Da konnten landwirtschaftliche Produkte, ohne zu verderben, über Meere und Kontinente hinweg zu den städtischen Ballungsge­ bieten geschafft und Rohstoffe an weit entfernte Verarbeitungs­ orte gebracht werden. Großflächige Markträume, Vorausset­ zung des Wachstums und der Verflechtung der europäischen Wirtschaft, wurden auf diese Weise erst möglich, denn solange es wegen der unzureichenden vorindustriellen Verkehrsverhält­ nisse regional beschränkte Wirtschaftsinseln gegeben hatte, hat­ ten sich Angebot, Nachfrage und Preise unterschiedlich ausbil­ den können; die Eisenbahn sorgte nun dafür, daß der Wettbe­ werbsdruck fast überall gleichmäßig stark wurde, was zur Ver­ lagerung der wirtschaftlichen Zentren Europas entscheidend beitrug. Die Nachricht von einem militärischen Sieg oder von einem wirtschaftlich bedeutsamen Ereignis hatte bislang Wo­ chen gebraucht, um Europa zu durchqueren; mit der Erfindung der Telegraphie, später des Telephons, waren nun alle Entfer­ nungen auf ein Nichts geschrumpft, und das ungemein aufblü­ hende Zeitungswesen tat ein übriges, die Neuigkeiten massen­ haft zu verbreiten. Dies alles, die demographische, die wirtschaftliche, die Kom­ munikationsrevolution, hing eng miteinander zusammen und bedingte sich gegenseitig. Daß das politische System Europas auf diese fundamentale, nie dagewesene Umwälzung reagierte, war unausweichlich. Alle Verfassungen Alteuropas, ob mon­ archische oder republikanische, hatten auf der Herrschaft klei­ ner, geschlossener Adelseliten beruht, legitimiert durch göttli­ chen, von kirchlichen Instanzen interpretierten Auftrag. Gewiß bestand schon seit geraumer Zeit die Tendenz, Machtausübung örtlich und personell zu zentralisieren, rivalisierende Adels­ gruppen zugunsten einer einzigen Herrscherperson zu ent­ machten, durch die Einführung einer rational konzipierten Bü­ rokratie die staatliche Verwaltung zu versachlichen und effekti­ ver zu gestalten, die Rechtsverhältnisse zu vereinheitlichen, das herrscherliche Machtmonopol auf sämtliche regionalen, gesell­ schaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Bereiche auszu­ dehnen und die Legitimität der Gewaltausübung den ständi­ schen Kräften zu entwinden und staatlich zu zentralisieren und 52

monopolisieren. Dies alles gehörte wiederum zu den Vorausset­ zungen der Industriellen Revolution, aber mit ihr veränderten sich auch entscheidende Bedingungen der politischen Herr­ schaft. Der absolutistische Staat des 18. Jahrhunderts, wie er in den unterschiedlichsten Spielarten und Mischformen das Euro­ pa dieser Epoche kennzeichnete, konnte seine Aufgabe auf den drei entscheidenden Ebenen politischer Machtausübung nicht mehr erfüllen: auf der Ebene der Machtteilhabe, auf der Ebene der Leistung für das politische System, auf der Ebene der Legi­ timation. Politisch am sinnfälligsten wurde die Krise des politischen Systems angesichts des Problems der Partizipation, der Macht­ teilhabe. Neben der alten adligen Machtelite stiegen allenthal­ ben in Europa neue Funktionseliten auf; staatliche und militäri­ sche Führungsaufgaben wurden zunehmend von Mitgliedern bürgerlicher Schichten wahrgenommen, die jedoch von den po­ litischen und statusverleihenden Vorrechten ihrer adligen Chefs abgeschnitten waren. Die Industrialisierung brachte einen neu­ en sozialen Typ hervor, den des bürgerlichen Industriellen, spä­ ter zudem den des Managers, des leitenden Angestellten, die allesamt beträchtliche wirtschaftliche Macht ausübten und da­ nach drängten, diese Macht auch im politischen Raum durchzu­ setzen. Nicht zuletzt stellte sich im Zeitalter der Massen dem Staat zunehmend das Problem der Steuerbewilligung und der Rekrutierung für die Armee; der Ruf der amerikanischen Revo­ lution »No taxation without representation« ging durch Europa und zwang zu neuen Formen der Repräsentation, die dem Zer­ fall der ständischen Ordnung und den neuen Ideologien Rech­ nung trugen. Was die Leistung des politischen Systems angeht, so führte der noch nie dagewesene Bevölkerungsanstieg, aber auch die Entwicklung der neuen Kommunikationsmittel und nicht zu­ letzt der durch die Industrialisierung ausgelöste Zwang zur staatlichen Rationalisierung und Effektivierung zum Ausbau ei­ nes zentralisierten und hierarchisierten Leitungs- und Verwal­ tungsapparats. Nur so war der Staat in der Lage, die natürlichen und gesellschaftlichen Ressourcen der Nation möglichst total zu erfassen und alle Bevölkerungsschichten und -gruppen zu erreichen, um sein Gewaltmonopol durchzusetzen und als Aus­ gleich für die ungeheuren sozialen Probleme, die die Industriel­ le Revolution aufwarf, für eine möglichst gerechte Verteilung von Gütern, Werten und Lebenschancen zu sorgen. 53

Am tiefsten wurde die europäische Umwälzung von den Zeit­ genossen jedoch als Legitimationskrise empfunden. Die alther­ gebrachten Mythen und Sinngebungen trugen nicht mehr, Gottesgnadentum und »gutes altes Recht« wurden unglaubwürdig. Dabei ist bemerkenswert, daß die Wertekrise Europas bereits begann, bevor Bevölkerungsexplosion und Industrialisierung die ständische Gesellschaftsordnung auflösten. Der Prozeß der Dechristianisierung großer Teile des Kontinents war bereits seit dem Ausgang des 17. Jahrhunderts im Gange, und er ist nicht nur als elitäre Philosophie der Aufklärung nachweisbar, son­ dern auch als Wandel vérbreiteter kollektiver Mentalitäten des einfachen Volkes, ob man nun beispielsweise den sich ändern­ den Diskurs über das Sterben untersucht, oder ob man die zu­ nehmende Kenntnis und Praktizierung der durch die Kirche untersagten Methoden der Geburtenkontrolle im Ancien régi­ me erforscht. Die Wirklichkeitswahrnehmung der Menschen wandelte sich ebenfalls tiefgreifend und damit ihre Einstellung zur Legitimität gesellschaftlicher und staatlicher Ordnung. Bisher war die Ge­ genwart kaum von der Vergangenheit und Zukunft verschieden gewesen; eingebunden in feste familiäre, dörfliche oder klein­ städtische Milieus und in den immerwährenden jahreszeitlichen Kreislauf agrarischer Produktion, wurden geschichtliche Ent­ wicklungen kaum erlebt, die erwartete Zukunft war die Wie­ derholung des Vergangenen, die künftige Ordnung mithin not­ wendigerweise die »gute alte Ordnung«. In der neuen Zeit da­ gegen erlebten die Menschen ihre Gegenwart als rasend be­ schleunigt, schwindelerregend und unsicher, sie waren betäubt vom Andrang des Neuen und Unerhörten, das scharf gegen die frühere Ruhe im eingehegten und überschaubaren Bereich des Altgewohnten abstach. Große Wanderungen waren bisher stets mit Katastrophen verbunden gewesen, mit Krieg und Hungers­ not, und die Wandernden selbst hatten die Epidemien verbrei­ tet: Untergangsboten, ein elendes, zerlumptes Volk. So wurden auch jetzt die massenhaften Ortsveränderungen als katastrophal empfunden, oder aber, sozialpsychologisch mit gleichen Aus­ wirkungen, euphorisch in Erwartung des gänzlich Neuen. Je­ denfalls veränderte sich das tägliche Leben großer Menschen­ massen radikal, und damit verblaßten die alten Bindungen, My­ then und Loyalitäten; der einst feste, auch im Geistigen und Religiösen verankerte Sozialkörper der ständisch-agrarischen Gesellschaft brach auf und entließ Myriaden von Einzelwesen, 54

die nach neuen Sinngebungen suchten, sofern sie nicht allein mit der nackten Daseinsfürsorge befaßt waren. Der Ruf der Zeit nach Umwertung aller Werte wurde aus vielen Richtungen beantwortet. Nicht mehr die göttliche Ord­ nung wurde geglaubt, sondern das Recht des Einzelnen auf Freiheit und Glückseligkeit - »pursuit of happiness«, wie die Amerikanische Revolution und in ihrer ersten Phase auch die Französische Revolution verhießen, die säkulare Devise des eu­ ropäischen Liberalismus. Zudem gewann die Idee der Nation Gestalt, die durch Wille und Entscheidung oder aber durch Sprache und Geschichte geschaffene Einheit von Volk und Staat. Beides gemeinsam, Freiheit des Einzelnen und National­ idee, mündeten in den Gedanken der Volkssouveränität. Und daneben tauchte mit fortschreitender Industrialisierung und mit der Entstehung eines vierten Standes als Konkurrenz zur identi­ tätsstiftenden Macht der Nation der Mythos der Klasse auf, die Beschwörung der Solidarität der Massen gegen den Eigennutz der Herrschenden, Ausdruck des Selbstgefühls jener Unter­ schichten, deren Arbeit in den Fabriken den zunehmenden Wohlstand der Gesellschaft erst ermöglichte. Die alte Welt mo­ bilisierte Abwehrkräfte, die ihrerseits wiederum massenwirksa­ me Ideologien ausbildeten - der Konservativismus verlor seinen elitären Charakter als Abwehrfront traditioneller Führungs­ schichten gegen den Aufstand des »Pöbels* und erhielt gele­ gentlich, auch bereits im Bündnis mit antisemitischem Boden­ satz, selbst einen entschiedenen Zug ins Pöbelhafte. Der politi­ sche Katholizismus schließlich stellte die Reaktion einer von gesellschaftlichem Normverlust weniger erfaßten Bevölke­ rungsminderheit auf den Herrschaftsanspruch des aggressiv auftretenden Liberalismus dar. So gebar das Europa des ausgehenden 18. und des beginnen­ den 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von konkurrierenden Ordnungs- und Legitimationsideen, die in »Bewegungen« und Par­ teien gerannen, die allesamt imstande waren, Menschenmengen zu entflammen und auf die Barrikaden zu bringen, ohne sich doch jeweils ganz gegen die übrigen Konkurrenzideen durch­ setzen zu können. Keine staatliche Ordnung war auf die Dauer imstande, mit der in unterschiedliche Glaubens- und Weltan­ schauungsgemeinschaften zerfallenen Gesellschaft in Frieden zu leben, wenn sie sich nicht als fähig erwies, eine Vielzahl auch gegensätzlicher Ideologien einzubinden. Den demographischen und wirtschaftlichen Umwälzungen

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Europas entsprachen daher tiefgreifende soziale, politische und kulturelle Umbrüche; und da der gesamte europäische Trans­ formationsprozeß von der ständisch-agrarischen Gesellschaft Alt-Europas zur modernen Massendemokratie des 20, Jahrhun­ derts nicht auf allen Ebenen gleichmäßig und linear verlief, da die zahlreichen Entwicklungstendenzen teils schneller, teils langsamer vor sich gingen, stockten oder sogar gelegentlich rückläufig waren, und da zudem die traditionellen Elemente der alten Ordnung sich in der Regel nicht widerstandslos im Neuen auflösten, kam es zu revolutionären Krisen. Die Historiker ha­ ben lange Zeit fasziniert auf den Mythos der Französischen Revolution geblickt und dabei oft übersehen, daß in Frankreich lediglich in besonders dramatischer Weise geschah, was vom letzten Drittel des 18. Jahrhunderts bis ins 20. Jahrhundert hin­ ein die europäische Geschichte und darüber hinaus den atlanti­ schen Raum insgesamt entscheidend prägte und strukturierte. Die revolutionären Ereignisse konnten sehr unterschiedlichen Charakter besitzen; es gab Revolutionen, die zu tiefen Verände­ rungen führten, die langwirkende Mythen hervorbrachten und die politische Kultur für Generationen bestimmten, wie die Amerikanische Revolution (1775-1763), die Französische Re­ volution (1789-1815), die ganz Europa erfassende und dennoch so merkwürdig erfolglose Revolution von 1848. Andere revolu­ tionäre Ereignisse waren zeitlich und regional stärker begrenzt, erfaßten nur Teilbereiche des politisch-sozialen Ganzen oder haben einfach die Phantasie der Zeitgenossen und die Aufmerk­ samkeit der Historiker weniger befeuert, wie die Genfer Revo­ lution von 1768, die belgische Revolution der Joyeuse Entrée 1789/90, die polnische Revolution von 1791 oder die französi­ sche, belgische und polnische Revolution von 1830, um nur einige Fälle zu erwähnen. Schließlich erweisen sich bei näherem Hinsehen die Grenzen zwischen Revolution und friedlichem Übergang als fließend. Die preußischen Reformen (1807-1820) lassen sich ohne weiteres als »Revolution von oben« beschrei­ ben, in der kein Tropfen Blut geflossen war, während die briti­ sche Verfassungsgeschichte im 19. Jahrhundert, gemeinhin als Muster friedlichen Wandels gepriesen, zugleich eine Geschichte immer wiederkehrender, blutiger Revolten und Gewaltausbrü­ che war. Das Zeitalter der großen europäischen Transformation war also insgesamt ein revolutionäres Zeitalter, und die einzelnen Revolutionen müssen als Teil des gesamten Umformungspro-

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zesses gesehen werden, als Krisen, in denen die Reibungen und Widersprüche der säkularen Umwälzung Europas gipfelten. Es ist deshalb auch wenig hilfreich, aus diesem dichten Wirkungs­ geflecht einzelne Revolutionen herauszuoperieren, um sie als »bürgerliche« oder »kapitalistische« Revolutionen zu beschrei­ ben. Keine der europäischen Revolutionen ist auch nur annä­ hernd auf derart simple Formen zu bringen; in jedem Fall kreuzten und überlagerten sich vielfältige wirtschaftliche, sozia­ le, traditionelle, kulturelle und sonstige Tendenzen und Interes­ sen, und in keinem Fall wurde gänzlich Neues eingeleitet, son­ dern lediglich die bestehende Entwicklung beschleunigt, gele­ gentlich aber sogar auch verlangsamt wie die Industrialisierung im Fall der Französischen Revolution. Daraus folgt, daß für auffallende Sonderentwicklungen in Europa, also auch für die deutsche, nicht eine fehlende »bürgerliche« oder sonstige Revo­ lution verantwortlich gemacht werden kann, denn die Revolu­ tionen waren insgesamt nicht Motoren des geschichtlichen Fortschritts, sondern lediglich ein mehr oder weniger lautes Knirschen im Getriebe der europäischen Modernisierung, an deren vorläufigem Ende die heutige Industriegesellschaft steht. Das sind gesamteuropäische Konstanten, die es rechtfertigen, von einem überwiegend gleichartigen Prozeß europäischer Reichweite zu sprechen, und es gibt keinen Grund, Deutsch­ land hiervon auszunehmen. Allerdings läßt die große europä­ ische Revolution des 18. bis 20. Jahrhunderts, die »Achsenzeit« (Karl Jaspers) zwischen Alteuropa und der Moderne, genügend Verschiebungen im allgemeinen Modernisierungsprozeß und darüberhinaus regionale Besonderheiten bestehen, um jeder Nation, jedem Staat den eigenen, unverwechselbaren Weg in das 20. Jahrhundert zu sichern. Das Bevölkerungswachstum be­ gann in einigen Gebieten sehr viel später als in anderen und fand in regional sehr unterschiedlichem Tempo statt; so betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate zwischen 1850 und 1910 in Frankreich 2,2 Promille, in England dagegen 15,3 Pro­ mille, während die Daten der übrigen Länder Europas irgend­ wo dazwischen liegen. Zudem gab es Gebiete ohne nennens­ werte Wanderungsbewegungen, etwa Frankreich oder Bayern mit Ausnahme der Pfalz, andere mit einer ungeheueren LandStadt-Binnenwanderung wie Preußen oder England, andere wiederum, in denen das Übervölkerungsproblem hauptsächlich durch Auswanderung gelöst wurde, wie das Oberrhein-Gebiet, Norddeutschland und Irland, und alles das konnte sich auch

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innerhalb derselben Region gleichzeitig oder nacheinander abspielen. Die Industrialisierung fand in England früher statt als in Belgien oder der Schweiz, dort wiederum früher als in Preu­ ßen oder Frankreich; einige Länder mußten den Industrialisie­ rungsverlauf sehr schmerzhaft in sehr kurzer Zeit durchmachen wie Deutschland in den Grenzen des Zollvereins, andere, wie Frankreich, erlebten ein langsames, relativ stetiges, über das ganze Jahrhundert reichendes Wachstum, ohne daß von einem ausgesprochenen Industrialisierungsschub überhaupt die Rede sein konnte. Umgekehrt führte Frankreich in Kontinentaleuro­ pa, begünstigt durch die verhältnismäßig modernen Verwal­ tungsstrukturen des Ancien régimes, in der Verkehrs- und Kommunikationstechnik; hier wie in vielen anderen Teilen des Modernisierungsprozesses wird ein kontinuierliches zeitliches West-Ost-Gefälle in Europa sichtbar. Und das waren nur einige grundsätzliche materielle Verschie­ denheiten. Hinzu kamen solche der unterschiedlichen Aus­ gangsbedingungen, der geographischen Situation, der Moderni­ tät der staatlichen Verwaltung, des Alphabetisierungsgrads, der Dichte der Verkehrswege, der Bodenschätze, der landwirt­ schaftlichen Anbauflächen, der Wirtschafts- und Zunftordnun­ gen, des Klimas, der Konfessionen, der Traditionen, der Wirt­ schaftsgesinnungen, der kollektiven Mentalitäten etc. — Genug jedenfalls, um jetzt von Deutschland zu reden und die Verände­ rungen der nationalen Legitimationsordnung als das Besondere, als eine charakteristische Variante im allgemeinen Prozeß der europäischen Geschichte zwischen Französischer Revolution und der Gründung des Bismarckreichs nachzuzeichnen.

2. Was ist des Deutschen Vaterland?

Was sind die Deutschen? fragte 1766 der Reichshofrat Friedrich Carl von Moser seine Leser, und er gab die Antwort: »So, wie wir sind, sind wir schon Jahrhunderte hindurch ein Räthsel politischer Verfassung, ein Raub der Nachbarn, ein Gegenstand ihrer Spöttereyen, ausgezeichnet in der Geschichte der Welt, uneinig unter uns selbst, kraftlos durch unsere Trennungen, stark genug, uns selbst zu schaden, ohnmächtig, uns zu retten, unempfindlich gegen die Ehre unseres Namens, gleichgültig ge­ gen die Würde der Gesetze, eifersüchtig gegen unser Ober­ 58

haupt, mißtrauisch untereinander, unzusammenhängend in Grundsätzen, gewaltthätig in deren Ausführung, ein großes, aber gleichwohl verachtetes, ein in der Möglichkeit glückliches, in der That selbst aber sehr bedauernswürdiges Volk.«1 Die Gründe für Mosers Klage waren offenbar: Das Reich in 314 Territorien und Städte sowie 1475 freie Rittertümer zer­ splittert, die allesamt über nichts eifersüchtiger wachten als über ihre seit dem Westfälischen Frieden von den europäischen Mächten garantierten Libertäten; durchzogen zudem von tiefen konfessionellen Gräben, denn anders als in den meisten anderen europäischen Staaten war in Deutschland der Kampf zwischen Reformation und Gegenreformation nicht entschieden, sondern mittels des Grundsatzes von »cuius regio, eius religio« petrifiziert. Da waren die unzähligen Zollschranken, die kaum über­ sehbaren Münz- und Maßsysteme, die Vielzahl der Rechtsnor­ men. Die wirtschaftliche Entwicklung lag deshalb weit hinter westeuropäischen Maßstäben zurück, wozu auch die Kriege das ihre beitrugen: Mitteleuropa war das europäische Kriegstheater, und die ungeheuren Zerstörungen und Verluste aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs waren noch hundert Jahre später nicht ganz aufgeholt. Der Altertümlichkeit und Starre der Reichsverfassung ent­ sprach die Sozialstruktur. Während in Frankreich, den Nieder­ landen, vor allem in England die ständischen Grenzen längst zu fließen begonnen hatten und sich ein wirtschaftlich zunehmend mächtiges Gewerbe- und Handelsbürgertum ausgebildet hatte, das nach politischer Partizipation und wirtschaftlicher Freiheit drängte, hatte dieser Prozeß im Reich, sieht man von einigen vorwiegend norddeutschen Reichsstädten ab, kaum begonnen. Begünstigt durch die ökonomische Rückständigkeit und die Zersplitterung des Reiches hatte sich die ständische und zünfti­ ge Ordnung in Mitteleuropa fast überall gehalten; selbst das noch von Friedrich dem Großen inaugurierte Preußische Allge­ meine Landrecht von 1794, in ganz Europa als fortschrittlich und human gepriesen, schrieb zwar gleiches Recht für alle, aber zugleich auch eine strikte Trennung der Stände vor: Adel, Bür­ ger und Bauern waren in ihren Pflichten und Privilegien von­ einander unterschieden. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts, verstärkt seit dem Ende1 1 Friedrich Carl von Moser, Von dem Deutschen Nationalgeist. Leipzig 1766, S. 5f.

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des Siebenjährigen Krieges, zeigten sich nun Tendenzen, die für unser Thema von großer Bedeutung sind. Es bildete sich eine neue gesellschaftliche Schicht, bestehend aus ziemlich heteroge­ nen Elementen. Zu ihr gehörten vor allem Staatsbeamte, dane­ ben auch Hochschul- und Gymnasiallehrer, evangelische Pfar­ rer, Schriftsteller, Buchhändler und Verleger, Ärzte und Nota­ re, überhaupt Mitglieder gehobener freier Berufe, die allesamt eins verband: Sie übten ihre Ämter und Berufe nicht dank ihres Standes, sondern aufgrund ihrer Befähigung aus, und der Aus­ weis dieser Befähigung bestand in aller Regel in ihrer akademi­ schen Bildung. Der zunehmende Bedarf des absolutistischen Staates an geschulter Intelligenz zur Rekrutierung der höheren Beamtenschaft hatte am Entstehen dieser Schicht entscheidend Anteil. Zu ihrer Heranbildung sorgte der Staat für Bildungsan­ stalten, die in Zahl und Qualität die der meisten übrigen euro­ päischen Staaten übertrafen; das galt insbesondere für die deut­ schen Groß- und Mittelstaaten, für Preußen, Österreich, Bay­ ern, Sachsen und Württemberg. In den meisten deutschen Ter­ ritorien war diese Schicht privilegiert, sie genoß oft Steuerbe­ freiung, war vom Kriegsdienst eximiert und lediglich den lan­ desherrlichen Gerichten untergeordnet. So entstand allenthal­ ben eine außerständische, adlig-bürgerliche Bildungselite, mit einem vereinfachenden und typisierenden Begriff als »Bildungs­ bürgertum« zu bezeichnen. Diese neue bürgerliche Schicht unterschied sich nicht uner­ heblich vom Dritten Stand westeuropäischer Provenienz. Ihr Entstehen war nicht wirtschaftlich oder politisch, sondern ad­ ministrativ und kulturell begründet. Und mit ihrem Entstehen hing eine weitere wichtige Entwicklung zusammen: das Werden einer eigentlichen deutschen Nationalkultur im gleichen Zeit­ raum. Erst um diese Zeit wuchsen die deutschen Mundarten und Dialekte zur Sprache deutscher Hochkultur zusammen, zu einem Hochdeutsch, entstanden aus mitteldeutsch-sächsisch­ lutherischen Wurzeln. Deutsche Nationalliteratur, deutsches National- und Musiktheater schufen über die Territorialgren­ zen hinweg eine Einheit des Urteils und des Geschmacks. Wer jetzt deutsch schrieb, tat dies nicht nur, weil der literarische Markt es forderte, sondern er bekannte sich damit auch zur Einheit eines aufgeklärten bürgerlichen Geistes, der über den Territorialgrenzen stand und sich bewußt von der französischen Sprachkultur abgrenzte, wie sie an den Höfen herrschte. In der kulturellen Abgrenzung erfuhr die deutsche Bildungselite ihre

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nationale Identität, und Justus Möser forderte sie bereits 1785 auf, sie solle nicht mehr »Affen fremder Moden sein«.2 Schon sang Klopstock seine Vaterlandsode: Nie war, gegen das Ausland, Ein anderes Land gerecht, wie du! Sei nicht allzu gerecht. Sie denken nicht edel genug Zu sehen, wie schön dein Fehler ist!3 Klopstock meinte die deutsche Nation, eine Nation allerdings, die sich lediglich in den Köpfen ihrer Gebildeten fand. Wo vier von fünf Deutschen noch im bäuerlichen Lebensmilieu wurzel­ ten und die große Politik allenfalls in kirchlichen Fürbitten für die landesherrliche Familie oder aber in den Drangsalen von Krieg, Einquartierungen und Plünderungen durch fremde Sol­ daten erlebten, wo die städtische Jugend, wie der junge Goethe, allenfalls »fritzisch« fühlte und den Preußenkönig Friedrich verehrte, der mit seinen Siegen über die russischen und franzö­ sischen Heere das Beispiel eines nationalen Helden gestiftet hat­ te, da fehlte noch jeder Humus für das Entstehen einer Volksna­ tion. Nach Schätzung des Berliner Buchhändlers und Aufklä­ rers Friedrich Nicolai waren es etwa 20000 Menschen, die sich um 1770 am nationalen Diskurs beteiligten, ohne das dies je­ doch irgendwelche politischen Folgen gehabt hätte. Die deut­ sche Identität war vorerst ganz sprachlich-kultureller Natur, und die zunehmende Verdichtung der Kommunikation zwi­ schen den Gebildeten aller deutschen Territorien, der enorme Anstieg von Buchtiteln und Buchauflagen, die erhebliche Zu­ nahme publizistischer Organe, das Florieren der Lesegesell­ schaften bis in die Kleinstädte hinab schufen zwar eine räsonie­ rende Öffentlichkeit neuer Art, aber, wie noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts die französische Schriftstellerin Madame de Staël feststellte: »Die Gebildeten Deutschlands machen einan­ der mit größter Lebhaftigkeit das Gebiet der Theorien streitig und dulden in diesem Bereich keine Fessel, ziemlich gern aber überlassen sie dafür den irdischen Machthabern die ganze Wirklichkeit des Lebens. «4 2 Justus Möser, Der Autor am Hofe. In: Sämtliche Werke, 2. Abteilung. Bearb. v. Ludwig Schirmeyer. Bd. 6, Berlin 1943, S. 12. 3 Friedrich Gottlieb Klopstocks Oden. Hrsg. v. Franz Munker. Bd. 1, Stutt­ gart 1889, S. 222. 4 Germaine de Staël, De l’Allemagne (1813). Deutsch: Stuttgart 1962, S. 68.

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Der Grund dafür liegt nach dem zuvor Gesagten nahe: Bei aller prinzipiellen Adels- und Fürstenkritik, bei aller aufkläreri­ schen und philanthropischen Grundstimmung war diese Schicht in erheblichem Maße an Staat und Monarchie gebun­ den, und zudem spielte hier die Erbitterung über Unterprivile­ gierung und gesellschaftliche Zurücksetzung, die in Frankreich den Nährboden für für eine revolutionäre Bourgeoisie schuf, eine geringere Rolle; die Französische Revolution wurde zwar vom deutschen Verwaltungs- und Bildungsbürgertum fast durchweg begrüßt, doch auch fast durchweg in der Gewißheit, im eigenen deutschen Staatswesen dergleichen nicht nötig zu haben - deutsche Jakobiner waren ein ausgesprochenes Rand­ phänomen, und der bremische Beamte und namhafte Aufklärer Adolph Freiherr von Knigge fand keinen Widerspruch, als er postulierte: »... ich behaupte, wir haben in Teutschland keine Revolution weder zu befürchten, noch zu wünschen Ursache .. ,«5 Der jeweilige Territorialstaat wurde von den Gebildeten selten in Frage gestellt; als preußischer, bayerischer, sachsengothaischer oder schwarzburg-sondershausenscher Untertan konnte man sich durchaus als »Teutscher« fühlen, aber die »Teutschheit« konkurrierte ohne weiteres mit einem verbreite­ ten aufgeklärten Kosmopolitismus wie auch mit der kaum be­ fragten Loyalität zum jeweiligen Landesherrn, und wenn von »Nation«, von »Vaterland«, von »Patriotismus« die Rede war, dann konnte irgendein vage umgrenztes Deutschland ebenso gemeint sein wie der Gegenwartsstaat, in dem man lebte, aber auch ohne weiteres beides gemeinsam. Seit den 1790er Jahren war allerdings ein neuer Ton zu hören, der im Verlauf der napoleonischen Ära lauter wurde und schließlich dominierte: Das Volk und seine Sprache als einzige und letzte legitimierende Begründung der Nation wurden ent­ deckt. Während bis dahin der überwiegende Tenor des Natio­ nalverständnisses von Aufklärern wie Thomas Abbt, Friedrich Carl von Moser, Johann Jacob Bühlau und Justus Möser auf ein Staatswesen gerichtet gewesen war, das im Sinne der Amerika­ nischen oder auch der beginnenden Französischen Revolution das größte Glück der größten Zahl seiner Bürger verwirklichte, wurde nun, in der Konfrontation mit dem aggressiven französi­ schen Nationalismus, die Idee Johann Gottfried Herders von 5 Adolph Freiherr von Knigge, Joseph von Wurmbrand (1792). Hrsg. v. Ge­ org Steiner. Frankfurt a. M. 1968, S. 11.

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der durch die Sprache begründeten fundamentalen Sozialindivi­ dualität des Volkstums virulent. Im Winter 1807 auf 1808 hielt Johann Gottlieb Fichte im französisch besetzten Berlin vor be­ geistertem Publikum seine »Reden an die deutsche Nationc Das deutsche Volk ist das ursprüngliche, das unverfälschte Volk, das gegen die militärische wie kulturelle Unterjochung durch Frankreich um seine Freiheit und Identität kämpft und dabei im Dienste eines höheren geschichtlichen Auftrags handelt. Dieser neue, romantische Volksbegriff wurde ergänzt und überhöht durch eine wesentlich pietistisch geprägte Religiosität. Schon bei Herder besaßen die nationalen Eigentümlichkeiten religiöse Weihe, und in der Folgezeit verschränkten sich beide Bereiche ins Untrennbare: von der Heiligung Gottes nach Eigenart der Nation war es nur ein Schritt bis zur Heiligung der Nation durch Gott. Für Friedrich Ludwig Jahn, den »Turnvater«, der die deutsche Jugend zum Turnen aufrief, damit sie tüchtig wur­ de für den Kampf gegen Napoleon, waren die Deutschen ein »heiliges Volk«, und der Dichter Ernst Moritz Arndt predigte: »Einmüthigkeit der Herzen sey eure Kirche, Haß gegen die Franzosen eure Religion, Freiheit und Vaterland seyen die Hei­ ligen, bei welchen ihr anbetet!«6 Das war der Grundton, der, wenn auch in durchaus unter­ schiedlicher Schärfe und Betonung, im intellektuellen Milieu der Zeit Fuß faßte, der in Predigten und Vorlesungen ebenso erkennbar wurde wie in den Diskussionen der Lesezirkel und Salons, und er bildete sich in einem intellektuellen Milieu aus, in dem unter dem Eindruck der napoleonischen Okkupation Be­ griffe wie »Vaterland«, »Volk« und »Nation« zu politischen Schlüsselwörtern wurden. Der zunehmende Haß gegen das Okkupationsregime hatte keineswegs von Anfang an ge­ herrscht. Selbst der künftige preußische Staatskanzler Karl Au­ gust Hardenberg, der auf ein gutes Verhältnis zu Frankreich sah, um die Lasten des preußischen Staates nicht noch weiter zu vermehren, beklagte sich in einem Schreiben an Finanzminister Altenstein noch 1808 über den fehlenden »Sinn für Aufopfe­ rung ganz vorzüglich [bei] den Gebildeten«, wofür er den »herr­ schenden kalten Kosmopolitismus« verantwortlich machte7. 6 Emst Moritz Arndt, Geist der Zeit. Teil 3. Altona, London, Berlin 1814, S. 430. 7 Hardenberg an Altenstein, 26. 3. 1808. In: Heinrich Scheel, Das Reformmi­ nisterium Stein. Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus dem Jahre 1807/08. Berlin 1966, S. 468.

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Es wurde aber bald offenkundig, daß Napoleon in Deutsch­ land hauptsächlich die imperiale Rekrutierungsbasis der Grande Armée und das Objekt finanzieller und wirtschaftlicher Aus­ beutung sah. Zu den lästigen Einquartierungen und verheeren­ den Durchmärschen fremder Armeen, zu den Finanzlasten, die insbesondere Preußen nach dem Tilsiter Frieden zu tragen hat­ te, und die eine Verarmung sämtlicher Bevölkerungsschichten nach sich zogen, kam ein Zollsystem, das die französische Wirt­ schaft auf Kosten der übrigen europäischen Staaten schützte, so daß Teuerung und wirtschaftliche Zusammenbrüche die Folge waren. Die ursprüngliche Gleichgültigkeit der Bevölkerung schlug deshalb innerhalb weniger Jahre in Haß gegen die Ok­ kupationsmacht um. In den Jahren zwischen dem österreichi­ schen Krieg gegen Napoleon von 1809, den der österreichische Oberbefehlshaber Erzherzog Karl im Namen der »Völker Deutschlands« führte, und der mit dem französischen Sieg bei Wagram endete, und dem Freiheitskrieg von 1813/14 bildeten sich hauptsächlich in Preußen konspirative Gruppen, um den Widerstand zu organisieren und eine zögernde, oft verräterisch erscheinende Staatsführung zum Kampf gegen den korsischen Eindringling zu ermuntern: Gesprächskreise und Tischgesell­ schaften, nach bildungsbürgerlicher Tradition wie Lese- oder Bürgervereine organisiert, aber mit neuen Anliegen. Da war der Mitte November 1810 in Berlin von dem Studen­ ten Friedrich Friesen und dem Lehrer Friedrich Ludwig Jahn gegründete »Deutsche Bund«, der die Propaganda zur »Erhal­ tung des deutschen Volkes in seiner Ursprünglichkeit und Selb­ ständigkeit, Neubelebung der Deutschheit, aller schlummern­ den Kräfte, Bewahrung unseres Volkstums, ... Hinwirken zur endlichen Einheit unseres zersplitterten, geteilten und getrenn­ ten Volkes« zum Ziel hatte8, straff organisiert, wenn auch mit überschaubarer Mitgliederzahl. Der Berliner Hauptverein zähl­ te 1812 etwa 80 Mitglieder, und in wenigstens sieben preußi­ schen und vier außerpreußischen Orten gab es Zweigvereine. Von Königsberg her breitete sich die »Gesellschaft zur Übung öffentlicher Tugend«, kurz »Tugendbund« genannt, aus, der neben der Förderung der staatlichen Reformpläne die Vater­ landsliebe, »deutsche Selbstheit« und militärische und körperli8 Aus der »Bundesverfassung«, nach Aussage eines seiner Mitglieder vor einer Untersuchungskommission in Zusammenhang mit der Demagogenverfolgung 1821. Nach: Percy Stulz, Fremdherrschaft und Befreiungskampf. Berlin (Ost) 1960, S. 124f.

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ehe Ertüchtigung für eine gesamtdeutsche Erhebung und für einen liberal verfaßten deutschen Gesamtstaat unter einem Kai­ ser als einzigem deutschem Souverän eintrat. Das waren frühe Kristallisationspunkte einer deutschen Nationalbewegung, so unscheinbar sie nach der Zahl ihrer Mitglieder auch einstweilen unter den Bedingungen der Illegalität waren. Hinzu trat Jahns »Turngesellschaft«, 1811 auf der Berliner Hasenheide gegrün­ det: zunächst etwa 200 Turner, hauptsächlich Gymnasiasten und Studenten, denen sich aber in der Folgezeit zahlreiche Bür­ ger anschlossen. Man turnte, um, gemäß der Jahnschen Pro­ grammatik aus dem »Deutschen Volkstum« von 1810, nicht nur die körperlichen Kräfte, sondern auch Willenskraft, Gemein­ schaftsgeist und Charakterstärke zu üben. Aber man unter­ nahm auch Nachtmärsche und militärische Geländespiele und übte sich im Fechten und Armbrustschießen, um für den Auf­ stand gegen die Besatzungsmacht vorbereitet zu sein; vor allem aber wirkte die Turnbewegung durch ihr öffentliches Auftreten im nationalpädagogischen Sinne, durch ihr mobilisierendes Vorbild. Wie stark nach wie vor der Rückhalt der langsam an Einfluß gewinnenden Nationalidee im bildungsbürgerlichen Bereich lag, machte auch die dritte Säule der Nationalbewegung sicht­ bar, die neben den Vereinen und der Turnerschaft entstand: die in enger Verbindung mit dem »Deutschen Bund« sich formie­ rende »Deutsche Burschenschaft«. Die im Februar 1812 von Friesen entworfene und von den Bundesmitgliedern genehmig­ te »Ordnung und Einrichtung der deutschen Burschenschaf­ ten« verwarf die bisherige landsmannschaftliche Organisation der Studenten an deutschen Universitäten und forderte an ihrer Stelle die Vereinigung sämtlicher Studenten an allen Hochschu­ len, um dem Partikularismus entgegenzuwirken und auf natio­ nale Einheit hinzuwirken. »Über Alles hoch«, hieß es zu den Pflichten des Studenten, »muß ihm das deutsche Volk und das deutsche Vaterland gelten, und er muß deutsch sein in Worten, Werken und Leben.«9 Neben der Studentenschaft der neuge­ gründeten Berliner Universität fand dieses Programm vor allem an der Universität Jena frühe Zustimmung, wo der Historiker Heinrich Luden im Sinne des »Deutschen Bundes« wirkte. So hatte sich am Vorabend des Freiheitskrieges, zur Zeit der napoleonischen Niederlagen in Rußland, eine politische Atmo’ Zit. ebd., S. 128.

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sphäre gebildet, in der Wörter wie »deutsch«, »Vaterland«, »Volk« und »Patriotismus« zu Schlüsselbegriffen geworden wa­ ren. Die Trägerschicht dieses Diskurses war nach wie vor eine kleine Elite, aber die propagandistische Wirkung ging weit über die wenigen Bildungsbürger und aufgeklärten Adligen, die ihr angehörten, hinaus. Einer der führenden preußischen Reformer, der Oberst Neidhardt von Gneisenau, hatte dem König entgegengehalten, als dieser die Vorstellung einer Armee von Staatsbürgern als »bloße Poesie« abgetan hatte: »Auf Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet.«10 Für Poesie brauchte nicht gesorgt zu wer­ den, sie war längst da, entstanden aus dem Haß und der Verbit­ terung patriotischer Bildungszirkel, bisher freilich aus Furcht vor französischem Druck durch rigorose Zensur unterdrückt. Mit dem Beginn des Freiheitskrieges wurde die Zensur im März 1813 aufgehoben, und eine Flutwelle nationalistischer Zweck­ dichtung ergoß sich über Deutschland in Broschüren, Flugblät­ tern, Liederbüchern, Aufrufen, Bilderbögen, Handzetteln und Zeitungen, und kaum ein deutscher Dichter, der nicht, vom neuen Zeitgeist erfaßt, vorübergehend die Suche nach der blau­ en Blume der Romantik aufgegeben und schauerlichste Haßund Totschlagslyrik verfaßt hätte, von Heinrich von Kleist

Alle Plätze, Trift’ und Stätten Färbt mit ihren Knochen weiß; Welchen Rab und Fuchs verschmähten, Gebet ihn den Fischen preis; Dämmt den Rhein mit ihren Leichen; Laßt, gestäuft von ihrem Bein, Schäumend um die Pfalz ihn weichen, Und ihn dann die Grenze sein! bis zum sanften Clemens Brentano:

Bajonette Um die Wette Stoßt die Kette Nieder an des Flusses Bette Daß kein Deutschlands Feind sich rette! 10 Gneisenau an den König, 20. 8. 1811. In: Karl Griewank (Hrsg.), Gneise­ nau. Ein Leben in Briefen. Leipzig 1939, S. 175.

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Das verbreitete sich hunderttausendfach im Volk und schürte eine nie dagewesene nationale Massenbegeisterung. »Der König rief, und alle, alle kamen«, so nahmen sich die Freiheitskriege später aus der Perspektive des wilhelminischen Deutschland aus. Tatsächlich kam es zu einer Massenstimmung, vergleichbar in manchem den spontanen Aufständen der Fran­ zösischen Revolution, als Friedrich Wilhelm III. am 17. März 1813 nach langem und ängstlichem Zögern seinen Aufruf »An mein Volk« erließ und »Preußen und Deutsche« zum Kampf aufforderte. Aber selbst jetzt waren nur bestimmte Schichten von jenem Begeisterungstaumel erfaßt; die Stammrollen der preußischen Freiwilligen-Einheiten belegen das in aller Deut­ lichkeit: Schüler, Studenten, Männer der gebildeten Stände und höhere Beamte machten etwa 12 Prozent der Freiwilligen aus; gemessen an ihrem Anteil an der Gesamtbevölkerung von etwa 2 Prozent war die Bildungsschicht also um ein Sechsfaches überrepräsentiert. Ein gleiches gilt für die Schicht der weiteren Staatsbediensteten, der mittleren und unteren Beamten, der Se­ kretäre, ehemaligen Soldaten, Ökonomen, Jäger und Förster, für die sicher eher die Loyalität zum König als weitergehende nationale Motive vermutet werden dürfen. Auffällig ist aber die namhafte Überrepräsentanz einer anderen Bevölkerungs­ schicht, die bisher nicht als ausgesprochen national orientiert aufgefallen war: Handwerker, an der preußischen Gewerbesta­ tistik mit etwa 7 Prozent beteiligt, machten volle 41 Prozent der Kriegsfreiwilligen aus, waren also um fast das Sechsfache über­ repräsentiert. Da wir aus dieser Schicht über zu wenige direkte schriftliche Zeugnisse verfügen, um sichere Aussagen über ihre Motive zu machen, bleiben Hypothesen: Viel spricht dafür, daß diese enorme Mobilisierung von vorwiegend Handwerksgesel­ len mit der Einführung der Gewerbefreiheit in Preußen seit 1810 und der damit verbundenen Beseitigung des Zunftzwan­ ges, der fast vollständigen Niederlassungsfreiheit und Liberali­ sierung des gewerblichen Marktes zu tun hatte. Ein aus den Reformen erwachsener Zukunftsoptimismus dürfte in dieser Schicht eine besondere Empfänglichkeit für die nationale, anti­ französische Zeitstimmung geschaffen haben. Aufschlußreich ist schließlich, wer von der Begeisterung der Freiwilligen nicht berührt war. Alle anderen Berufsschichten waren in den Freiwilligeneinheiten etwa gemäß ihrer Repräsen­ tanz in der Gesamtbevölkerung vertreten, bis auf eine: die bäu­ erliche und unterbäuerliche Bevölkerung, die zu dieser Zeit 67

noch ungefähr drei Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachte, deren Anteil an den Kriegsfreiwilligen aber nur bei 18 Prozent lag. Schaut man genauer hin, findet man hier vorwiegend Tage­ löhner und Knechte, die vermutlich in erster Linie in die Frei­ korps eintraten, um ihrer elenden Lage zu entfliehen. Die übri­ gen knapp 5 Prozent Bauern kamen so gut wie ausschließlich aus den westelbischen und außerpreußischen Gebieten, also solchen mit einem hauptsächlich freien Bauernstand, während die erst kürzlich befreiten, ehemals erbuntertänigen Bauern Osteibiens in der Freiwilligenstatistik schlechterdings nicht auf­ tauchen. Die nationale Idee, dürfen wir wohl schlußfolgern, war um 1813 in Preußen - für die übrigen deutschen Staaten besitzen wir kein vergleichbares Zahlenmaterial - Sache eines Teils der städtischen Bevölkerung, die etwa 20 Prozent der Ge­ samtbevölkerung ausmachte, und hier wiederum der Bildungs­ schicht, der gehobenen Beamtenschaft sowie, aus vermutlich anderen Motiven, der Handwerkerschaft, insbesondere der Handwerksgesellen. Die Freiwilligenverbände fühlten sich während der knapp an­ derthalb Jahre währenden Freiheitskriege als »Nation in Waf­ fen«. In der Gestalt des gefallenen Dichters Theodor Körner und der unerkannt in Männerkleidung vor dem Feind gebliebe­ nen Eleonore Prohaska besaß die entstehende Nationalbewe­ gung ihre Märtyrer. Die politischen Ziele der in den Freikorps versammelten Jugendlichen und Bürger scheinen offensichtlich zu sein, faßt man die allgegenwärtige programmatische, meist in Liedform gefaßte Lyrik ins Auge, die das entscheidende Aus­ drucksmittel jener Freiwilligen darstellte: von »Vaterland«, »Deutschland« und »Freiheit« ist da im wesentlichen die Rede aber was hieß das konkret? »Was ist des Deutschen Vaterland?« fragte 1813 Ernst Moritz Arndt,

Ist’s Preußenland? Ist’s Schwabenland? Ist’s, wo am Rhein die Rebe glüht? Ist’s, wo am Belt die Möwe zieht? O nein! Nein! Nein! Sein Vaterland muß größer sein! Es muß sein - Deutschland als Wille und Vorstellung, als blo­ ßer Optativ. In seinem strophenseligen Vaterlandslied, das zwei Generationen von Turnern, Burschenschaftern und Sängern die

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Nationalhymne ersetzte, nannte Arndt Provinz für Provinz, Land für Land - in aller Unschuld auch

Ist’s Land der Schweizer? Ist’s Tirol? Das Land und Volk gefiel mir wohl; verworfen wird auch »Österreich, an Ehren und an Siegen reich«: Das Vaterland muß größer sein.

Und Arndt kommt zum Schluß: So weit die deutsche Zunge klingt Und Gott im Himmel Lieder singt Das soll es sein! Das, wackrer Deutscher, nenne dein!

Deutschland: nach wie vor eine Sprachnation, ohne klare Gren­ zen, unter allen Umständen nur vage poetisch ausgedrückt, ein Kulturbegriff, der einen deutschen Nationalstaat auch nicht an­ satzweise projektierte. Ein Begriff von Nation im Sinne späterer Einigungsparolen ist in dieser Epoche noch nicht genau auszu­ machen; das deutsche Vaterland der Freiheitskriege besaß keine feste Gestalt, es war poetisch, historisch und utopisch, ein Ideal, das in seiner irdischen Inkarnation einstweilen den Namen Preußen oder Österreich trug. Der Aufruf Friedrich Wil­ helms III. an sein Volk, »Preußen und Deutsche« zu sein, der ihm ironischerweise bei den Rheinbundfürsten das Verdikt des Jakobiners ein trug, bezeichnete das einstweilen unproblemati­ sche Ineinander-Aufgehen Preußens und Deutschlands. Der Begriff Freiheit war dabei durchaus ambivalent. Entge­ gen späteren Zeugnissen drückt dieser Begriff in der Dichtung und Programmatik der Freiheitskriege nirgendwo das Verlan­ gen nach liberalen Verfassungsformen, sondern durchweg nach nationaler Befreiung von feindlicher Unterdrückung aus. Ge­ wiß, manche Äußerung, wie Max von Schenkendorfs außeror­ dentlich populärer Gesang >Freiheit, die ich meines konnte in doppeltem Sinne verstanden werden, und Strophen wie »Ich zieh ins Feld um Himmelsgüter, und nicht um Fürstenlohn und Ruhm« (Max von Schenkendorf) oder »Es ist kein Krieg, von dem die Kronen wissen, es ist ein Kreuzzug, ’s ist ein heil’ger 69

Krieg« (Theodor Körner) lassen Rückschlüsse auf bürgerliches Selbstbewußtsein, auf adelsfeindliche Beweggründe zu, aber trotz vorübergehender völliger Zensurfreiheit finden sich nir­ gendwo Freiheitsforderungen im Sinne innenpolitischer Pro­ grammatik. Es ist deshalb durchaus fragwürdig, wenn später die nationale Bewegung der Freiheitskriege je nach Standpunkt als Zeuge liberal-oppositionellen Geistes oder als Vorläuferin des kleindeutschen Nationalstaats verstanden worden ist. Die von der Geschichtswissenschaft in aller Regel behauptete Einbahn­ straße zwischen 1813 und 1871 beruht tatsächlich auf einer te­ leologischen Fehlinterpretation; viel spricht dafür, daß die Ge­ schichte anders verlaufen wäre, hätten die deutschen Fürsten, hätte vor allem der preußische König die Reformen fortgesetzt und das Versprechen einer Repräsentation zumindest des gebil­ deten und besitzenden Teils der Bürgerschaft wahrgemacht die Loyalität der politisch aktiven Bevölkerung dem jeweiligen Landesherrn gegenüber wäre möglicherweise erhalten geblie­ ben, die Legitimation der deutschen Territorialstaaten wäre wohlfundiert gewesen, ihnen und dem Deutschen Bund hätte möglicherweise die Zukunft gehört.

3. Die Nationalbewegung auf dem Weg vom Eliten- zum Mas­ senphänomen

Die Chance, die Loyalität der am politischen Diskurs beteilig­ ten Schichten an die deutschen Einzelstaaten zu binden, wurde in den auf die Freiheitskriege und den Wiener Kongreß folgen­ den Jahren vertan. Schon unmittelbar nach Kriegsende kündig­ te sich das an. Auf den enormen kollektiven seelischen Auf­ schwung folgte die Ernüchterung, die Poesie begann zu verblas­ sen. Da waren vor allem die Kriegsfreiwilligen, die Studenten und Handwerker in der Hauptsache, die mit unerhörtem En­ thusiasmus in den Krieg gezogen waren, die nicht nur von ei­ nem erheblichen Aktionsdrang, von der Suche nach Erregung und nach neuem, abenteuerlichem Leben angetrieben waren, sondern die auch ihr Erlebnis auf die Begriffe zu bringen ver­ mochten: »Gott«, »Freiheit«, »Vaterland«, »Deutschland«, »Altar«, »Geweihte«, »Volk«, »heilig« - in den Liedern, die da gesungen und gedichtet wurden, entfaltete sich eine neue Spra­ che, stark, unmittelbar, mitreißend, die die Vorstellung von ver­ 70

schworener Gemeinschaft und Harmonie, von Opferbereit­ schaft und religiös gefärbter Transzendenz des einzelnen in das Ganze der Nation hervorrief. Mit der Einnahme von Paris und dem abermaligen Sieg über Napoleon bei Waterloo sollte der Rausch mit einemmal beendet sein, die jungen Leute sollten Vernunft annehmen, zurückkehren in die Hörsäle, Kontore und Werkstätten und der Weisheit der bürokratischen und fürstlichen Obrigkeit trauen, die in Wien daranging, die alte Ordnung Europas zu restaurieren, die Träume der Jugend von der Einheit und Freiheit des Vaterlandes zu zerreden und, wie es manchem schien, zu verraten. Auch wirtschaftlich stand nicht alles zum besten; die Ernteergebnisse von 1816 und 1817 waren miserabel, der Getreide- und Brotpreis stieg enorm an, und während die mittleren und großen Landwirte trotz der Mißernten goldene Jahre erlebten, sank die durch den Krieg bereits erschöpfte Kaufkraft der Bevölkerung weiter ab. Die Depression hatte vor allem in dem durch die Gewerbereform ökonomisch unsinnig ausgeweiteten Handwerk Massenbank­ rotts zur Folge, und gerade jene Handwerksgesellen, die 1813, von der Hoffnung auf eine freie unternehmerische Zukunft be­ flügelt, in die Freiwilligenverbände geeilt waren, sahen sich nun nur um so nachdrücklicher ins Elend gestürzt. Der Stimmungsumschwung der nationalen Bewegung mani­ festierte sich das erste Mal im Wartburgfest vom 18. Oktober 1817, anläßlich der dreihundertsten Wiederkehr des lu­ therischen Thesenanschlags zu Wittenberg. Es waren haupt­ sächlich Vertreter der deutschen Burschenschaft aus fast allen Teilen Deutschlands, die sich an diesem Tag auf der Wartburg unter der schwarz-rot-goldenen Fahne versammelten, den Far­ ben der Montur des Lützowschen Freikorps. Man feierte das Fest wie einen Gottesdienst, und seine expressive Symbolik war eindeutig: Mußte nicht Deutschland wieder durch eine kühne Tat reformiert werden? Ging es nicht erneut um die Freiheit von fremden, drückenden Mächten? Zum ersten Mal ging es nicht um die Freiheit vom korsischen Tyrannen, sondern von den vielen einheimischen Tyrannen; in den Festreden wurden, wenn auch noch in recht moderater Form, die Fürsten kritisiert, die ihr in der Not gegebenes Verfassungs- und Einheitsverspre­ chen nicht erfüllt hatten, und eine Minderheit ging einen Schritt weiter: »Ein großer Korb ward jetzt ans Feuer gebracht«, so der Bericht eines Zeugen, »voll Bücher, die hier öffentlich, im An­ gesichte des deutschen Landes der Flamme übergeben wurden,

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im Namen der Gerechtigkeit, des Vaterlandes und des Gemein­ geistes. Ein gerechtes Urteil sollte hier gehalten werden über die schlechten, das Vaterland entehrenden, unseren Volksgeist ver­ derbenden Schriften; zum Schrecken der Schlechtgesinnten und aller derjenigen, die mit ihrem seichten Wesen, leider! die alte keusche Volkssitte entstellt und entkräftet haben. Der Titel ei­ nes jeden Buches ward von einem Herold laut ausgerufen; dann erscholl jedes Mal ein lautes Geschrei der Anwesenden, ein Ausspruch ihres Unwillens: Ins Feuer! Ins Feuer! Zum Teufel mit demselben! Somit ward das corpus delictum den Flammen überantwortet.«11 Neben den »Schandschriften des Vaterlan­ des« - unter anderm Werke des als russischer Agent verschrie­ nen Dramatikers August von Kotzebue, Ludwig von Hallers >Restauration der StaatswissenschaftenCode Civil< - wanderte ein hessischer Zopf, ein preußi­ scher Ulanenschnürleib und ein österreichischer Korporalstock ins Feuer, Symbole illiberaler Reaktion. Das Ineinandergreifen von Nationalismus und Liberalismus, das weiterhin die Ent­ wicklung der deutschen Nationalbewegung kennzeichnen soll­ te, wurde hier schon sichtbar. Mit dem Wartburgfest hatten sich die »Deutschen Burschen­ schaften« und die mit ihnen sympathisierenden Professoren in der Öffentlichkeit als wirksame Propagandisten der National­ bewegung vorgestellt; sie waren hauptsächlich an den prote­ stantischen deutschen Universitäten organisiert und zahlenmä­ ßig eher unbedeutend - von den etwa 10000 deutschen Studen­ ten gehörten den Burschenschaften um 1817 ungefähr 10 Pro­ zent an. Den Behörden jedoch schien diese Bewegung gefähr­ lich. Als zudem zwei Jahre darauf der Jenaer Student Karl Lud­ wig Sand den Schriftsteller August von Kotzebue ermordete, weil der die studentischen Ideale verspottet hatte, reagierten die Bundes- und Staatsbehörden mit den Karlsbader Beschlüssen, mit Vorzensur, Verbot der Burschenschaften und der mit ihnen verbündeten Jahnschen Turnbewegung, mit der Entlassung als aufrührerisch geltender Professoren wie Fries und Oken in Jena und Arndt in Bonn und mit der Überwachung der Universi­ täten. Das war einstweilen der Todesstoß für die organisierte Natio­ nalbewegung. Zwar wurden die Karlsbader Beschlüsse in der1

11 Zit. nach: Michael Hodann, Wilhelm Koch, Die Urburschenschaft als Ju­ gendbewegung. Jena 1917, S. 15 f.

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Mitgliedsstaaten des Deutschen Bundes höchst unterschiedlich ausgeführt - in Bayern, Württemberg und Sachsen-Weimar bei­ spielsweise zögernd und nachlässig, in Preußen, Österreich und Baden dagegen mit aller Schärfe -, und in einigen Ländern, so in den beiden Mecklenburg und in den Hansestädten, konnten Turngemeinden überleben, während burschenschaftliche Ver­ bindungen an den Universitäten insgeheim weiterbestanden und gelegentlich Staats- und Bundesbehörden beunruhigten, aber das spielte keine Rolle: die Wirksamkeit der Turner und Burschenschafter lag in ihrem öffentlichen Auftreten, ihren propagandistischen Aktivitäten, ihrer Fähigkeit, dem nationa­ len Gedanken durch symbolische Handlungen Sinnfälligkeit zu verleihen, und in dem Beispiel der Tat. Das alles fiel nun fort, und wo selbst das Tragen »altdeutscher Tracht« und das Rau­ chen in der Öffentlichkeit, Signal der Widersetzlichkeit gegen polizeiliche Repression, durch drakonische Strafen bedroht wurde und die »Demagogen«, die »Jakobiner im Bärenfell«, wie man die Enthusiasten der deutschen Einheit nannte, scha­ renweise in die Gefängnisse und auf die Festungen wanderten, da stellte sich schnell Resignation und Rückzugsbereitschaft in das zeitgemäße biedermeierliche Idyll der Innerlichkeit ein. Für ein gutes Jahrzehnt gab es keine organisierte Nationalbewegung in Deutschland, sieht man von den Anfängen unpolitischer ge­ samtdeutscher Organisierungen ab, so der 1822 gegründeten »Gesellschaft deutscher Naturforscher und Arzte« oder dem »Börsenverein deutscher Buchhändler« von 1825. Die Hoffnung auf die Entstehung eines deutschen National­ staats blieb, aber sie besaß keine politische Perspektive mehr, seit sich die europäischen Mächte auf dem Wiener Kongreß darauf geeinigt hatten, die europäische Mitte, wie schon nach dem Dreißigjährigen Krieg, nicht als kompakten Machtstaat, sondern als politisch zersplittertes Feld des europäischen Inter­ essenausgleichs zu ordnen. Der Deutsche Bund, der mit der Unterzeichnung der Bundesakte am 8. Juni 1815 das Tageslicht erblickte, ein lockeres Bündnis der 39 souveränen deutschen Staaten und Städte, war ordentlicher Nachfolger des alten Rei­ ches, aber ihm mangelte es an Legitimität. In einem Zeitalter, in dem der nationale Machtstaat mit zunehmender Machtteilhabe der besitzenden Klassen in Europa der Normalfall war, in dem als Echo der Amerikanischen und Französischen Revolutionen die Idee der »nation une et indivisible«, gepaart mit dem Glau­ ben an das Recht auf Freiheit und Glückseligkeit des einzelnen

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Staatsbürgers, europäisches Gemeingut der Gebildeten war, stellte der Deutsche Bund, präsent eigentlich nur in einem ana­ chronistischen Gesandtenkongreß in Frankfurt und einer »Zen­ tralkommission zur Untersuchung revolutionärer Umtriebe« in Mainz, ein vorsintflutliches Monstrum dar: im besten Fall we­ gen seiner Vielzahl von Zollschranken, Währungen und Maßsy­ steme ein Ärgernis für Handel und Wandel, im schlimmsten ein Repressionsinstrument im Namen des fürstlichen Legitimismus und der nationalen Zersplitterung. Die deutsche Nation dagegen verwandelte sich immer stärker in eine utopische Projektion aus der Vergangenheit. Der Reichsfreiherr vom Stein hatte bereits in seiner Denkschrift vom 18. September 1812 gefordert, anstelle der Verfassung des Westfälischen Friedens müsse das mittelalterliche Kaiserreich wiedererstehen, und Max von Schenkendorf dichtete: Deutscher Kaiser! Deutscher Kaiser! Komm zu rächen, komm zu retten, Löse deiner Völker Ketten, Nimm den Kranz, dir zugedacht! Gemeint war nicht der Habsburger in Wien, sondern Kaiser Rotbart, der Hohenstaufe im Kyffhäuser. Die Geschichte des Mittelalters erlebte eine mächtige Konjunktur; Freiherr vom Stein gründete die >Monumenta Germaniae HistoricaGeschichte des Deutschen VolkesGeschichte des Deutschen Ritterordens«, Friedrich von Räumers >Geschichte der Hohen­ staufen«, Gustav Adolf Stenzels Werk über die fränkischen Kai­ ser, sie alle erschienen in den 1820er Jahren und erlebten be­ trächtliche Auflagen. Auf diese Weise blieb die Öffentlichkeit im Bannkreis natio­ naler Themen, wenn auch in scheinbar unpolitischer Weise. 74

Wenngleich das öffentliche Räsonnement über die deutsche Einheit in der Windstille des Jahrzehnts ganz zurücktrat, wenn sich auch stattdessen die ohnehin stark eingeschränkte politi­ sche Diskussion jener Jahre zwischen den Verfassungs- und Teilhabeforderungen des süddeutschen und rheinischen Frühli­ beralismus und den konservativen Staatsentwürfen restaurativer Theoretiker wie Adam Müller, Friedrich Gentz und Carl Lud­ wig von Haller ganz im Hinblick auf die gegenwärtige partiku­ larstaatliche Ordnung des Deutschen Bundes bewegte, so gab es doch Tendenzen, die die kommenden Unruhen im Zeichen na­ tionalstaatlicher Forderungen vorbereiteten. Da war zum einen die Ausweitung der Öffentlichkeit, also derjenigen Personen­ gruppe, die an der politischen Diskussion über Staat, Gesell­ schaft, Wirtschaft und Geschichte teilnahm. Das hing mit der zunehmenden Alphabetisierung zusammen; an den preußi­ schen Volks- und Mittelschulen stieg zwischen 1820 und 1850 die Zahl der Schüler um rund 80 Prozent, im sekundären Schul­ bereich sogar um das Dreifache an; die Zahl der jährlichen Neu­ erscheinungen von Büchern und Zeitschriften verdoppelte sich im selben Zeitraum, und Buchhandlungen wurden allenthalben, selbst in den kleinsten Städten, gegründet. Die Zunahme derje­ nigen, die lesen konnten, ist von etwa 15 Prozent der erwach­ senen Bevölkerung Deutschlands um 1770 auf ungefähr 40 Pro­ zent um 1830 geschätzt worden: eine »Leserevolution« (Rolf Engelsing), Voraussetzung dafür, daß Meinungen, Programme, Parolen, Aufrufe nunmehr nicht nur auf eine bürgerliche Bil­ dungselite, sondern ein massenhaftes Publikum trafen. Und es kam hinzu, daß Staat und Gesellschaft weit auseinan­ dertraten. Die einzelstaatlichen Reformen versandeten; die wirtschaftliche Modernisierung durch Agrar-, Gewerbe- und Steuerreformen hatte zudem beträchtliche soziale Kosten zur Folge. Neben dem Absinken zahlloser Kleinstellenbesitzer und Bauern mit schlechten Besitztiteln in ein zunehmend verelen­ dendes Landproletariat zeigte sich, daß gerade diejenige städti­ sche Schicht, die von den Gewerbereformen am meisten erhofft hatte, nämlich das Handwerk, ohne den zünftigen Gewerbe­ schutz den Marktkräften hilflos ausgesetzt war und zu einem großen Teil von wirtschaftlichem und sozialem Abstieg bedroht war. In der Gesellschaft bildeten sich unter der Oberfläche bür­ gerlicher Selbstgenügsamkeit gefährliche Spannungslinien und Bruchzonen heraus, und es kam hinzu, daß der Griff der preu­ ßischen Reformer in das »Zeughaus der Revolution« (Gneise75

nau) nicht ohne Strafe blieb. Man konnte nicht die allgemeine Wehrpflicht einführen, die Nationalerziehung verbessern, das Instrument der öffentlichen Meinung spielen bis zur rasenden Aufpeitschung in den Freiheitskriegen und dann damit rechnen, daß das Volk sich weiterhin auf die Dauer den Erziehungsmaß­ nahmen einer aufgeklärten Beamtenelite unterordnete. Zu den wachsenden sozialen Spannungen gesellte sich die Verbitterung über gebrochene Verfassungsversprechen und über eine Obrig­ keit, die, erschrocken ob der radikalen Töne in der oppositio­ nellen öffentlichen Meinung und voller Furcht vor einer Wie­ derholung der Französischen Revolution auf deutschem Boden, die Zensurschraube anzog und der Forderung, wirtschaftliche Freiheit mit politischer Partizipation zu verbinden, mit polizei­ lichen Mitteln Herr zu werden suchte. Einen neuen Schub erhielt die nationale Frage durch die fran­ zösische Julirevolution 1830, die auf ganz Europa wirkte. Wäh­ rend in Paris an die Stelle des reaktionären Bourbonen-Königs KarlX. und seines Premierministers Polignac das »Bürgerkö­ nigtum« Louis Philippes von Orléans trat, zerbrach das erst 1815 gebildete Vereinigte Königreich der Niederlande im Auf­ stand des überwiegend katholischen flämisch-wallonischen Volksteils, der sich zu einem neutralen, liberal verfaßten belgi­ schen Staatswesen zusammenschloß. Im Winter 1830/31 fegte ein Aufstand in Kongreß-Polen für einige Monate die russi­ schen Truppen aus dem Land, und in den mittelitalienischen Staaten kam es zu blutigen Rebellionen. Die europäische Mitte blieb von den revolutionären Umwälzungen an der kontinenta­ len Peripherie naturgemäß nicht unbeeinflußt; die französi­ schen und mehr noch die belgischen Ereignisse strahlten unmit­ telbar auf das Rheinland aus, das polnische Beispiel begeisterte das liberale deutsche Bürgertum so sehr, wie es die preußischen Behörden beunruhigte. Wie allenthalben in Europa überkreuz­ ten sich auch in Deutschland die sozialen, liberal-konstitutio­ nellen und nationalen Antriebe. Die sozialen Spannungen ent­ luden sich in einer Serie gewaltsamer örtlicher Konflikte - von Jülich bis Prag, von Chemnitz bis Wien kam es zu Teuerungs­ und Arbeitslosenunruhen, und die liberale Honoratiorenschaft in jenen norddeutschen Staaten, die bislang ohne Verfassung geblieben waren, nutzte die Unruhen, um von den verängstig­ ten Regierungen maßvolle konstitutionelle Reformen zu verlan­ gen. In Braunschweig, Sachsen, Hannover und Kurhessen kam es zur Einberufung der Landstände und zur Verkündung von

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Verfassungen, zudem zu Agrar- und Verwaltungsreformen un­ terschiedlicher Reichweite. Preußen allerdings wurde von den Auswirkungen der Julirevolution kaum berührt - die Einrich­ tung von Provinziallandtagen 1823 mag hier einen gewissen Druck beseitigt haben, und die Loyalitätsgefühle des preußi­ schen Bürgertums aus der Zeit der Freiheitskriege waren noch nicht erloschen. Zweierlei wurde in der Bewegung von 1830 sichtbar: Die liberale Bewegung war eine gesamteuropäische Erscheinung, und insofern waren die Befürchtungen der Souveräne auf dem Wiener Kongreß, die zur Bildung der »Heiligen Allianz« ge­ führt hatten, gerechtfertigt gewesen; und zum zweiten zeigte sich, daß allenthalben die liberalen, konstitutionellen und sozia­ len Zeitströmungen einem gemeinsamen Nenner zustrebten, dem des nationalen Prinzips. Europaweit wiederholte sich, was in der Französischen Revolution von 1789 begonnen hatte: die traditionellen, a-nationalen, spätabsolutistischen Staatswesen erschienen in Zeiten beschleunigten gesellschaftlichen Wandels funktionsuntüchtig und legitimationsschwach. Freiheit im libe­ ralen, Einheit im nationalen Sinne: das waren die sinnstiftenden Ideologeme, die die kollektiven Weltbilder besetzten und Ver­ heißungen künftigen Glücks trugen. Die politischen Erschütterungen des Jahres 1830 brachen die Resignationskruste auf, die sich in den vergangenen zehn Jah­ ren über der politischen Öffentlichkeit in Deutschland gebildet hatte. In einigen Staaten, hauptsächlich in Baden, war die Zen­ sur gemildert worden, und eine lebhafte publizistische Diskus­ sion brach sich Bahn. Die Forderung nach einem deutschen Nationalstaat mit einer einzigen exekutiven Spitze, vor allem aber einem Nationalparlament, wurde vielfach laut; der Darm­ städterjournalist Wilhelm Schulz veröffentlichte seine vielgele­ sene Schrift Deutschlands Einheit durch NationalrepräsentationTrierischen Zeitung< das Gedicht eines unbedeutenden Hilfsgerichtsschreibers aus Geilenkirchen bei Aachen, Nikolas Becker: Der deutsche Rhein

Sie sollen ihn nicht haben, Den freien deutschen Rhein, Ob sie wie gier’ge Raben Sich heiser darnach schrei’n. Solang er ruhig wallend Sein grünes Kleid noch trägt, Solang ein Ruder schallend In seine Woge schlägt!

Sie sollen ihn nicht haben, Den freien deutschen Rhein, Solang sich Herzen laben An seinem Feuerwein,

So lang in seinem Strome Noch fest die Felsen steh’n, So lang sich hohe Dome in seinem Spiegel seh’n! ... Sie sollen ihn nicht haben, Den freien deutschen Rhein, Bis seine Flut begraben Des letzten Mann’s Gebein! Das Stück war literarisch wie gedanklich unerheblich, aber es war das rechte Wort zur rechten Zeit. Binnen eines Monats gab es keine deutsche Zeitung, die es nicht nachgedruckt hätte; ein wahrer Rheinlied-Rausch vereinte gehobene wie niedere Stän­ de, man sang das Lied auf der Straße wie im Salon, von Köln bis 81

Königsberg, von Hamburg bis Stuttgart. Die Zahl der Verto­ nungen war Legion, Wettbewerbe erbrachten Hunderte von Einsendungen, die großen Komponisten des Jahrzehnts, von Robert Schumann über Konradin Kreutzer bis Heinrich Marschner, waren sich nicht zu schade, die Becker-Hymne in Töne zu setzen. Trotz der Unzahl der Vertonungen wurde das Rheinlied bald als deutsches »Nationallied« apostrophiert, als »deutsche Marseillaise«, und in seinem Gefolge ergoß sich eine Flut weiterer nationaler Dichtungen und Gesänge über das Volk, darunter Max Schneckenburgers >Wacht am Rheins das in leicht abgewandelter Form erst seit 1870 seine große Zeit hatte; auch Hoffmann von Fallerslebens >Deutschlandlied< entstand 1841 im Sog der Rheinlied-Bewegung. Es war eine Massenstimmung, die in manchem der des Früh­ jahrs 1813 ähnelte. Die Themen, die Begriffe, das Feindbild waren die gleichen, und mit dem Rhein-Motiv hatte sich zudem ein ungemein wirkungsmächtiges Symbol der Nationalbewe­ gung gebildet, das einer romantisch-heroisch gestimmten Gene­ ration zum Sinnbild ihrer Träume wurde. Die Parallele zu 1813 war auch insoweit gegeben, als die Nationalidee in der Rhein­ krise ihr innenpolitisch-oppositionelles Profil verlor und die Einheit von Obrigkeit und Volk wiederhergestellt schien. Der neue preußische König Friedrich Wilhelm IV., aber auch der bayerische König und der badische Großherzog verlautbarten ihre Sympathien mit dem neu erwachten Massennationalismus, und das erste Mal in der deutschen Geschichte verspürten die Kabinette der Bundesstaaten eine Art von Basisschub, der ihnen den politischen Kurs aufzwang. Metternich witterte die Gefahr, die von der Massenstimmung ausging, und widerstand dem Drängen Preußens und mehrerer Mittelstaaten, die Bundes­ kriegsverfassung zu reformieren und Gegenmaßnahmen vorzu­ nehmen. Immerhin aber einigten sich die beiden Vormächte des Deutschen Bundes im November 1840 unter ausdrücklicher Berufung auf die allgemeine »Nationalgesinnung«, die dies fordere, auf einen gemeinsamen Operationsplan im Kriegsfälle, und im Jahr darauf beschloß der Bundestag die Errichtung der Bundesfestungen Rastatt und Ulm. Die Rheinkrise von 1840 versandete, nachdem das Ministe­ rium Thiers Ende Oktober vom König entlassen und durch die Regierung Guizot ersetzt worden war, die zur Politik des euro­ päischen Gleichgewichts zurückkehrte. Aber in Deutschland hatte sich mehr bewegt, als die Strategen des Wiener Systems

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gehofft hatten. Der Nationalismus hatte sich als politische Macht ersten Ranges gezeigt. Jenseits von Liedbewegungen und lyrischen Moden waren die Motive sichtbar geworden, die in politischen Krisen der Massenunruhe die Begriffe und explizi­ ten Inhalte lieferten und ihre Stoßrichtungen bündelten. Zwar gab es auf dem linken Flügel der Nationalbewegung, der noch auf dem Hambacher Fest tonangebend gewesen war, scharfe Kritik an der deutschtümelnden Einseitigkeit und der emotio­ nalen Franzosenfeindlichkeit der Rheinlied-Bewegung, aber die Front der - vorwiegend in der Emigration lebenden - liberalen Demokraten wie Georg Herwegh, Karl Gutzkow oder Robert Prutz, denen die innenpolitische Freiheit in Deutschland vor der nationalen Einheit kam, und die in französischen Freiheits­ traditionen ihre Vorbilder sahen, bröckelte ab. Gerade namhaf­ te Protagonisten des linken Lagers, wie der Organisator des Hambacher Festes, Johann August Wirth, und die emigrierten Publizisten und Dichter Jakob Venedey und August Ludwig von Rochau gaben jetzt glühende Solidaritätserklärungen ab. Daher das neue Gewicht der nationalen Frage in der Öffent­ lichkeit der 1840er Jahre, nachdem dieses Thema seit den libera­ len Kraftakten der Julirevolution und des Hambacher Festes in Resignation untergegangen zu sein schien. Nationale Organisa­ tionen waren jetzt nicht mehr aufzuhalten; 1842 wurde die preußische Turnsperre aufgehoben, die Turnbewegung entfal­ tete sich über ganz Deutschland, und mit ihr die Jahnsche Ideo­ logiemixtur von Körperertüchtigung, Charakterschulung und nationaler Zielrichtung. Am Vorabend der 48er Revolution dürfte es in Deutschland etwa 300 Turnvereine mit insgesamt rund 90 000 Mitgliedern gegeben haben: ein beachtliches Poten­ tial, diszipliniert, körperlich trainiert, politisch mobilisierbar. Und parallel dazu breitete sich das Gesangvereinswesen aus; es war angesichts der herausragenden Bedeutung der Musik und des lyrischen Worts für die massenhafte Verbreitung sinnstif­ tender Begriffe und Parolen für die Nationalisierung der deut­ schen Öffentlichkeit in seiner Bedeutung kaum zu überschät­ zen. Die patriotischen Gesangvereine, Sängerbünde und Lie­ dertafeln waren zunächst regional organisiert, doch schon 1845 fand in Würzburg das erste »Deutsche Sängerfest« statt, mit anderthalbtausend Mitgliedern von 94 Gesangvereinen aus allen Teilen Deutschlands; weitere gesamtdeutsche Sängerfeste in Köln und Lübeck folgten. Erste gesamtdeutsche Gelehrtenkon­ gresse, so die Germanistentage in Frankfurt 1846 und in Lübeck

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ein Jahr darauf, betonten die Einheit von Wissenschaft und Nationalidee. Die vierziger Jahre waren auch Blütejahre der Nationaldenk­ mal-Bewegung, vorwiegend von bürgerlichen Vereinen getra­ gen, wenn auch meist von Zuschüssen aus fürstlichen Schatul­ len abhängig, ob es um die Planung des Hermannsdenkmals im Teutoburger Wald ging, um die Walhalla bei Regensburg, die 1842 eingeweiht wurde, oder um die Befreiungshalle bei Kel­ heim, deren Bau 1842 begonnen wurde. Der Kölner DombauVerein, der die Vollendung des größten deutschen Sakralbaus als deutsches Nationaldenkmal betrieb, organisierte sich bis nach Österreich und Ostpreußen hinein auf Ortsvereins-Ebene, und das Kölner Dombau-Fest von 1842 war die Demonstration einer vorübergehenden, in ihren Möglichkeiten aber doch im­ merhin sichtbar werdenden Einigkeit zwischen Krone und Volk, Katholizismus und Protestantismus, preußischem Staat und rheinischem Selbstbewußtsein im Zeichen der nationalen Einheitsidee. Dies war die eine Seite des Vormärzes: die zunehmende Kon­ stituierung und Organisation der Kulturnation. Zugleich aber verschärfte sich die Krise des politischen wie des ökonomischen Systems. Wie 1815 und dann 1830 hatte auch 1840 bis 1842 das liberale Bürgertum mit der allgemeinen Herstellung konstitu­ tioneller Verhältnisse gerechnet und erlebte nun eine neue Fru­ stration. Die enttäuschte Erwartung machte sich in einer breit anschwellenden publizistischen Diskussion der Verfassungsfra­ ge Luft, die fast durchweg bereits im nationalen Rahmen gese­ hen wurde. Den Höhepunkt bildete 1847 die Gründung der »Deutschen Zeitung< als Sprachrohr der nationalen wie der kon­ stitutionellen Forderungen des bürgerlichen Liberalismus. Da­ neben stand die zunehmende politische Opposition der libera­ len Fraktionen in den zweiten Kammern der süddeutschen Par­ lamente und in den preußischen Provinzialständen. Außerdem organisierte sich der politische Katholizismus als Opposition gegen die preußische Verwaltung und Kulturpolitik in den westlichen Provinzen und in Schlesien; auch hier, im Umkreis der von Joseph Görres 1838 gegründeten »Historisch-Politi­ schen Blätter für das katholische Deutschlands wurde die Forderung nach einem geeinten deutschen Nationalstaat, frei­ lich in Anlehnung an das alte Reich und unter der Führung der katholischen Habsburger, verfochten. In der zweiten Hälfte des Jahrzehnts formierte sich in Südwestdeutschland und Sachsen

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wieder der demokratische Radikalismus, der sich von der Siche­ rung der Freiheitsrechte durch Verfassungsgarantien nichts ver­ sprach und Deutschland als demokratische Republik projek­ tierte; vor allem in Baden und in der Pfalz fand diese Richtung eine bedeutende Unterstützung im Kleinbürgertum und in der Landbevölkerung. Ihre eigentliche Brisanz erhielt diese vielgestaltige nationale Opposition durch die zunehmende soziale und ökonomische Misere. Das Elend des Pauperismus, in seinem Kern ein malthusianisches Ubervölkerungsphänomen, rückte in den Vorder­ grund. Die Gesamtbevölkerung des Deutschen Bundes war von 1815 bis 1848 von 22 auf 35 Millionen Menschen angewachsen, innerhalb einer einzigen Generation also um ein gutes Drittel. Die Landwirtschaft konnte trotz ihrer Modernisierung in der Folge der Reformen diese Menschenmassen nicht aufnehmen, geschweige denn ernähren. Das Elend der bäuerlichen Einlie­ ger, Kätner und Tagelöhner wurde ungeheuerlich, ohne daß die Behörden Abhilfe schaffen konnten. Wer aber in die Städte zog, dem erging es nicht besser; er vergrößerte nur das Heer unge­ lernter Gelegenheitsarbeiter, die froh sein mußten, wenn sie die Mieten für die miserablen, von Spekulanten errichteten Massen­ quartiere bezahlen konnten, um nicht in die Arbeitshäuser abgeschoben zu werden. Dieses oft grauenhafte Elend wurde durch den Strukturwandel von der alten Handwerks- zur neuen Industriegesellschaft verstärkt; ganze Handwerksbereiche, na­ mentlich die Hausbetriebe, waren der Konkurrenz durch billige Fabrikerzeugnisse nicht mehr gewachsen - unmenschliche Ar­ beitszeiten, Kinderarbeit, Hungerlöhne, kaum vorstellbare Le­ bensverhältnisse waren die Folge. Auf die soziale Katastrophe, die erst im Laufe der Hochindu­ strialisierung der zweiten Jahrhunderthälfte an Wirkung verlie­ ren sollte, traf die wirtschaftliche Misere. Im Ausgang der vier­ ziger Jahre trafen zwei Krisen aufeinander: da war 1846/47 die letzte Wirtschaftskrise »alten« Typs, eine Hunger- und Gewer­ bekrise, ausgelöst durch Mißernten und daraus folgende enor­ me Preissteigerungen der Grundnahrungsmittel bei gleichblei­ benden Löhnen. Und hinzu kam 1847/48 eine »moderne« indu­ strielle Wachstumskrise, hervorgerufen durch einen Einbruch in der Konsumgüterkonjunktur. Wie stets, wenn ökonomische Krisen auf die politische Legi­ timationskrise stoßen, verstärkt sich die Protestbewegung um ein Vielfaches. Von den drei großen Oppositionsideen, der Na­

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tionalidee, der liberalen Verfassungs- und der sozialen Protest­ bewegung, spielte die Nationalidee als herrschendes Legitima­ tionsmuster die verbindende Rolle zwischen den übrigen, sich teilweise im Widerspruch zueinander befindlichen Fraktionen der Protestpartei. Da war der konstitutionelle Liberalismus, dessen führende Vertreter sich am 10. Oktober 1847 in Hep­ penheim an der Bergstraße trafen und einen deutschen Bundes­ staat mit einer kraftvollen parlamentarisch verantwortlichen Zentralregierung forderten, da war der demokratische Radika­ lismus in der Nachfolge der 1830er Bewegung, der sich auf einer Versammlung am 12. September 1847 in Offenburg pro­ grammatisch zu Wort meldete und einen republikanischen Nationalstaat plante, und da waren erste sozialistische Gruppierungen um Wilhelm Weitling, Moses Hess und die radikalen deutschen Gesellenvereine in der schweizerischen, französischen und englischen Emigration. Dieser vielstimmige Chor wurde durch die umfassende Forderung nach der Herstellung des deutschen Nationalstaats zusammengehalten. Die Märzrevolution von 1848, ungeachtet ihrer sozialen und liberalen Antriebe, war in der Hauptsache eine Nationalrevolu­ tion.

5. 1848: Das ganze Deutschland soll es sein Wie 1830 begann es mit der Nachricht aus Paris: wieder war dort ein König gestürzt worden, es hatte Barrikadenkämpfe und revolutionäre Märtyrer gegeben. In fast allen deutschen Residenzen kam es daraufhin zu Tumulten auf den Straßen. In den Parlamenten forderte die gemäßigt-liberale wie die demo­ kratisch-radikale Opposition Pressefreiheit, Versammlungsfrei­ heit, Zulassung von Parteien und Volksbewaffnung, also die Aufstellung von Bürgermilizen, um den Armeen der Einzel­ staaten, den Garanten der alten Ordnung, ein bürgerliches Machtmittel entgegenzustellen, schließlich auch als Krönung des Umsturzes ein deutsches Nationalparlament. Den »März­ forderungen« folgten die »Märzregierungen« - allenthalben, von Sachsen bis Kurhessen, von Bayern bis Oldenburg, wurden Kabinette aus liberalen Honoratioren gebildet. In Heidelberg trafen sich Abgesandte der liberalen süddeutschen Parlaments­ fraktionen, um ein Vorparlament, die Vorstufe zu einer Natio­ 86

nalvertretung aller Deutschen, zu begründen. Wieder einmal herrschte nationale Frühlingsstimmung, und das Schwarz-RotGold der Nationalbewegung flatterte, ohne auf erheblichen Wi­ derstand gestoßen zu sein, fast über ganz Deutschland. Alles kam nun auf die Entwicklung der beiden Vormächte des Deutschen Bundes, auf Österreich und Preußen, an. Die Ereig­ nisse der Berliner März-Revolution sind ausführlich geschildert worden. Sie endeten vorläufig mit der Demütigung des Königs und der Armee, Säule des absolutistischen Regimes, mit Bür­ gerbewaffnung, Berufung eines liberalen Ministeriums und dem Bekenntnis Friedrich Wilhelms IV.: »Preußen geht fortan in Deutschland auf.« In Wien hatte es zunächst ähnlich begonnen wie in den deut­ schen Mittelstaaten; bereits Mitte März wurde aber das gemä­ ßigte liberale Element von einem Strom radikalerer Revolutio­ näre fortgeschwemmt. Radikal-demokratische Studenten bilde­ ten die Speerspitze einer breiten Volksbewegung, die den Rück­ zug des Militärs und den Rücktritt Metternichs erzwang, wäh­ rend in den Wiener Vorstädten eine Arbeiterrevolte tobte, Leih­ häuser, Fabriken und Steuerämter gestürmt und Geschäfte ge­ plündert wurden. Die Bewegung radikalisierte sich also ähnlich wie in Berlin, ließ sich aber nicht, wie dort, durch kluges Entge­ genkommen des Monarchen beschwichtigen. Metternich floh nach England, der Hof rettete sich nach Innsbruck, und wäh­ rend sich in Wien eine Art revolutionärer Nebenregierung in Gestalt eines hundertköpfigen »Sicherheitsausschusses« instal­ lierte, erhoben sich in den italienischen Provinzen, in Ungarn und in Böhmen nationale Bewegungen gegen die habsburgische Zentralmacht, wobei sich der Widerstand gegen das repressive Metternichsche Regierungssystem mit dem Aufstand gegen die deutsche Vormachtstellung im Vielvölkerstaat überkreuzte. Binnen weniger Wochen war Österreich, Vormacht des Deut­ schen Bundes und Garant des »System Metternich«, politisch handlungsunfähig, seine Auflösung schien nur noch eine Frage der Zeit. Die Ereignisse entwickelten sich, wiewohl durchweg spontan und ungeplant, zunächst nach dem Fahrplan vormärzlicher li­ beraler Theorie. Auf die Herstellung innerer Freiheit in den deutschen Einzelstaaten folgte die Begründung der nationalen Einheit durch die deutsche Nationalversammlung, die am 18. Mai 1848 in Frankfurt am Main zusammentrat, um eine freiheitliche Verfassung für ganz Deutschland zu beschließen

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und eine nationale Regierung zu wählen. Die 585 Abgeordneten bildeten eine Heerschau der großen Namen des geistigen und freiheitlichen Deutschland. Dichter wie Ludwig Uhland und Friedrich Theodor Vischer wurden ebenso gewählt wie die Führer aus den Zeiten des Freiheitskrieges, Ernst Moritz Arndt und Friedrich Ludwig Jahn. Auffallend viele Historiker gehör­ ten dazu, wie Friedrich Christoph Dahlmann, Johann Gustav Droysen und Georg Gottfried Gervinus, aber auch Priester wie der Mainzer Bischof und Sozialtheoretiker Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteier, dazu die Führer des politischen Libera­ lismus sämtlicher Couleurs, Altliberale wie Heinrich von Gagern ebenso wie die Republikaner Gustav von Struve oder Ja­ kob Venedey. Drei Viertel der Abgeordneten waren Akademi­ ker, jeder fünfte Professor, jeder weitere fünfte Richter oder Staatsanwalt, und nur etwa ein Sechstel der Abgeordneten kam aus wirtschaftlichen Berufen, waren also Kaufleute, Bankiers oder Fabrikanten. Noch um die Mitte des 19. Jahrhunderts war das Bildungsbürgertum der eigentliche Träger des nationalen Einheitsgedankens. Die erste Aufgabe, die sich die Nationalversammlung stellte, war die einzige, bei der sie erfolgreich war. Bereits am 28. Juni 1848 einigte man sich auf die Einsetzung einer provisorischen deutschen Zentralregierung, an ihrer Spitze als Reichsverweser der österreichische Erzherzog Johann, »nicht weil, sondern ob­ gleich er ein Fürst« war, wie Heinrich von Gagern, der Präsi­ dent des Parlaments, betonte. Der Reichsverweser ernannte umgehend ein Reichsministerium unter der Ministerpräsident­ schaft des liberalen Fürsten Karl von Leiningen: die erste parla­ mentarisch legitimierte deutsche Regierung. Die beiden näch­ sten Schritte ergaben sich von selbst. Die Nationalversammlung hatte dem neuen, auf Volkssouveränität und Menschenrechten gegründeten deutschen Nationalstaat eine Verfassung zu geben, und der provisorischen Reichszentralgewalt oblag es, ihre Au­ torität in Deutschland durchzusetzen. Mit der Autorität war es aber schlecht bestellt. Als der Reichskriegsminister Eduard von Peucker, selbst preußischer General, am 16. Juli verfügte, daß alle deutschen Truppen dem Reichsverweser feierlich zu huldigen und die deutschen Farben anzulegen hätten, folgten nur die meisten Klein- und Mittelstaaten, während sich Öster­ reich, Preußen, Bayern, Sachsen und Württemberg dieser Zu­ mutung stillschweigend entzogen. Auch die im September be­ schlossene Matrikulanjmlage, mit der die Reichsausgaben fi88

nanziert werden sollten, ging nur schleppend und völlig unge­ nügend ein. Die Reichszentralgewalt war kaum mehr als eine Versammlung einiger idealistischer Liberaler, deren Macht an der Tür ihres Sitzungszimmers endete. Wie in Deutschland, so regten sich allenthalben in Europa die nationalen Bewegungen und forderten ihre Unabhängigkeit. Die 48er Revolution war eine europäische Revolution gegen die Prinzipien von 1815. Die europäische Friedensordnung des Wiener Kongresses war der letzte Versuch gewesen, mit den Mitteln rationaler Kabinettspolitik den Kontinent als Feld des internationalen Interessenausgleichs zu ordnen. Eine Genera­ tion lang, länger als je zuvor in der Geschichte Europas, hatte der Frieden gedauert, aber die Starre des Systems der Heiligen Allianz kontrastierte je länger, desto heftiger gegen die funda­ mentale Dynamik der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Kräfte, die durch die Auflösung der ständischen Gesellschafts­ ordnungen und die beginnende Industrialisierung freigesetzt worden waren und nach neuer Ordnung und Sinnstiftung rie­ fen. Das europäische Staatensystem beruhte auf der Zersplitte­ rung Mitteleuropas und dem gegenrevolutionären Bündnis der drei a-nationalen und restaurativen östlichen Pfeilern der Pentarchie, auf Rußland, Österreich und Preußen. Die ganze Wucht der neuen säkularen Heilslehren, des Nationalismus und des Liberalismus, wandte sich daher gegen den Bestand dieser Reiche und damit gegen das europäische Friedenssystem über­ haupt, zu dessen Garanten auch die westlichen Säulen der Pentarchie, Frankreich und England, gehörten. Kompliziert wurde das Problem zudem durch die Entstehung eines großen Natio­ nalstaats inmitten Europas, dessen pure Existenz den Prinzipien von 1815 widersprach, und dessen nationaler Impetus weit in die Interessengebiete anderer Staaten und anderer Nationalitä­ ten ausgriff. Da war zum Beispiel die schleswig-holsteinische Frage. Auch Dänemark war ein Mehrvölkerstaat; neben den dänischen Ge­ bieten Jütlands und der Inseln umfaßte er die Herzogtümer Schleswig, Holstein und Lauenburg, die der dänischen Krone durch Personalunion verbunden, aber von einer deutschen Be­ völkerungsmehrheit bewohnt und mit besonderen Erb- und Landesrechten begabt waren, die ihnen eine begrenzte Autono­ mie sicherten. Seit Anfang der vierziger Jahre forderte die na­ tionalliberale »eiderdänische« Bewegung die Eingliederung Schleswigs in den dänischen Teil des Königreichs; der deutsch89

dänische Volkstumskampf in den Herzogtümern wurde von der empörungsbereiten nationalen Öffentlichkeit in Deutschland wie in Dänemark mit Anteilnahme beobachtet und zusätzlich angeheizt, und als nach dem dänischen Thronwechsel im Januar 1848 die eiderdänische Partei in Kopenhagen an Einfluß ge­ wann, erklärten die schleswig-holsteinischen Stände am 24. März 1848 die Unabhängigkeit von Dänemark, bildeten eine provisorische Regierung und riefen den Bundestag, dann die Frankfurter Nationalversammlung um Hilfe an. Die schleswig-holsteinische Frage beunruhigte die deutsche Öffentlichkeit zutiefst. Die deutsche Irredenta lag nördlich der Elbe, und in den Augen der deutschen Nationalbewegung konnte sich die nationale Repräsentation, die Nationalver­ sammlung und deren provisorische Reichszentralgewalt, nur dann legitimieren, wenn es ihr gelang, die Herzogtümer der Nation einzuverleiben. Aber die Nationalversammlung besaß keine eigene Macht, man mußte sich preußische Truppen aus­ borgen, die auch weit nach Jütland hineinstießen. Aber das rief die europäischen Mächte auf den Plan, die den deutschen Ein­ heitsbemühungen ohnehin skeptisch gegenüberstanden und jetzt, mit dem Ausgreifen der deutschen Nationalbewegung auf die Länder der dänischen Krone, ihre Befürchtungen bestätigt sahen. Der britische Botschafter in Berlin predigte der preußi­ schen Regierung, sie müsse ihre Politik »an dem System des internationalen Rechts ausrichten, der besten Garantie des Frie­ dens, das die Enthusiasten der deutschen Einigung so eifrig zu überwinden suchen, und das die Apostel der Unordnung mit so großem Erfolg der Verachtung und Vergessenheit zu überant­ worten streben .. ,«14 Die Unordnung: das war in den Augen der europäischen Kabinette die deutsche Einigung, der schiere Aufruhr wider die Prinzipien des europäischen Gleichgewichts. Britische Kriegs­ schiffe demonstrierten in der Nordsee, russische Truppen ma­ növrierten an der preußischen Ostgrenze, französische Gesand­ te forderten Garantien für die fortbestehende Souveränität der deutschen Teilstaaten. Unter dem massiven Druck der europä­ ischen Mächte zog Preußen seine Truppen aus Schleswig-Hol­ stein zurück und schloß mit Dänemark Frieden, mochte das Frankfurter Parlament noch so laut protestieren. 14 Sir Stratford Canning an Lord Palmerstone, 3. 4. 1848. Auszug aus dem Original in Michael Stürmer, Die Geburt eines Dilemmas. Nationalstaat und Massendemokratie im Mächtesystem 1848. In: Merkur 35 (1981) 1, S. 5.

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Daß zwischen nationaler Hochstimmung und nationaler Wirklichkeit Welten lagen, erwies sich auch bei der Debatte der Frage nach dem Geltungsbereich der künftigen Reichsverfas­ sung. »Das ganze Deutschland soll es sein«, unter dieser Arndtschen Devise fand die Debatte statt, und wie jede Professoren­ debatte verlief sie ins Uferlose. Heinrich von Gagern beantrag­ te, »Österreich als in den zu errichtenden deutschen Bundes­ staat nicht eintretend zu betrachten« - ihm schwebte eine klein­ deutsche Lösung vor, wie sie in Gestalt des Zollvereins bereits bestand, und deshalb stimmte er auch für den preußischen Kö­ nig als künftigen deutschen Kaiser. Da waren sie, die festen Grenzen, die klaren Umrisse, die vernünftigen Lösungen - war Österreichs Macht nicht ohnehin durch die Revolutionswirren im Vielvölkerstaat gebrochen, hatte sich Friedrich Wilhelm IV. nicht zu den Idealen von deutscher Einheit und Freiheit be­ kannt? Aber für diese Lösung sprach nur der Verstand, nicht das Herz; seit 1813 war Deutschland »soweit die deutsche Zun­ ge klingt«, und deshalb war der Widerspruch erregt, kam aus allen Fraktionen der Nationalversammlung. Das »Riegelwerk der Karpathen« wurde beschworen, das »unüberwindliche Bollwerk von Tirol«, Böhmen, »das Haupt und die Stirne Deutschlands«, und auch von der zivilisatorischen Sendung der Deutschen im Osten und auf dem Balkan war verschiedentlich die Rede. Daß dort andere Nationen ebenfalls um ihre Freiheit und staatliche Unabhängigkeit kämpften, fiel in den Paulskirchen-Debatten kaum ins Gewicht. Da war die polnische Frage: Gegen den Widerstand eines Teils der linken Fraktion beschloß die Nationalversammlung am 27. Juli 1848 die Eingliederung aller überwiegend deutsch besiedelten Teile Posens in den deutschen Staat - angesichts der sprachlichen Gemengelage in den preußischen Ostprovinzen gab es zweifellos keine Lösung, die den nationalen Forderungen der dort lebenden Deutschen wie der Polen gleichermaßen ge­ recht werden konnte, aber das Prinzip »im Zweifel für Deutschland« regierte die Entschlüsse der deutschen National­ versammlung, wie auch in der böhmischen Frage. Am 28. Ok­ tober beschloß die Nationalversammlung bei nur 80 Gegen­ stimmen die Zugehörigkeit der österreichischen Länder des Deutschen Bundes zum neuen Deutschland; der Selbstbestim­ mungsanspruch der tschechischen Nation wurde von den Abgeordneten der Rechten hauptsächlich mit machtpolitischen, von denen der Linken mit kulturell-humanitären Argumenten 91

abgewiesen. Der Anspruch der welschtiroler Gebiete auf Auto­ nomie wurde unter Hinweis auf die Reichsgeschichte und mit beträchtlicher Empörung (»Ein halber Verrat an der Nation«, so Heinrich von Gagern) abgelehnt, das Herzogtum Limburg, Bestandteil der Niederlande, als ausschließlich innerdeutsches Gebiet proklamiert. Großdeutschland unter dem Habsburger Kaiser, das wiedererwachte alte Reich mit einem Tropfen libe­ ralen und volksstaatlichen Salböls, das war das Ziel, dem die Mehrheit der in der Paulskirche versammelten Honoratioren entgegenträumte. Aber das waren Schattengefechte ohne praktische Folgen. In einer Revolution siegt, wer die Machtfrage zu seinen Gunsten beantwortet, und die Paulskirche war völlig machtlos. Das wur­ de auch dem letzten Idealisten klar, als der demokratische Radi­ kalismus, bisher von den bürgerlichen Liberalen überspielt, sei­ nerseits die Machtfrage aufwarf. Republik und Volkssouveräni­ tät, Einheitsstaat und egalitäre Demokratie - das waren die Forderungen der zweiten Revolution, getragen von der äußeren liberalen Linken, aber auch von Intellektuellen und Handwer­ kern, die bereits nach der sozialen, der roten Revolution riefen. Der Ruf nach direkter Aktion wurde laut, die Parole vom Parla­ ment als liberaler Schwatzbude machte das erste Mal in der deutschen Geschichte die Runde. Am 18. September 1848 ver­ suchten radikale Demokraten die Paulskirche zu stürmen; zwei konservative Abgeordnete wurden von der randalierenden Menge umgebracht, und die verängstigten Volksvertreter muß­ ten von preußischen und österreichischen Truppen herausge­ hauen werden. Der Vorgang versinnbildlichte im kleinen, was den weiteren Verlauf der Revolution bestimmen sollte. Das li­ berale Bildungs- und Besitzbürgertum sah sich mit einem Mal in der Rolle des Zauberlehrlings, der die Mächte, die er be­ schworen hatte, nicht mehr los wurde. Einheit und Freiheit hatten auf dem Programm gestanden, nicht Umsturz, Blutver­ gießen und Besitzgefährdung, und angesichts radikaler Auf­ stände am Rhein, in der Pfalz, in Hessen, in Baden, in Mittel­ deutschland war man geneigt, das Erreichte hastig zu konsoli­ dieren und im Bündnis mit den alten Mächten für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Die alten Mächte, Österreich und Preußen, hatten sich mitt­ lerweile vom Revolutionsschock erholt. Nach den Märzereig­ nissen hatte es geschienen, als sei das Ende der habsburgischen Monarchie gekommen, aber die Revolutionen in Österreich 92

hatten sich gegenseitig paralysiert - die konstitutionelle, die soziale, die nationale Bewegung überkreuzten sich, und dem schwarz-rot-gold gesonnenen deutschen Bürgertum schien der Zerfall des Reiches und der Verlust des deutschen Vorrangs nachteiliger als der Kompromiß mit Krone und Armee, So er­ hielten die Streitkräfte der Feldmarschälle Windischgrätz und Radetzky die notwendige Rückenfreiheit, um mit teilweiser Hilfe russischer Truppen in Ungarn, Böhmen und Norditalien die Heere der dortigen Aufständischen zu schlagen und schließ­ lich Ende Oktober 1848 das von Radikalen beherrschte Wien einzunehmen. Nicht anders in Preußen; hier hatte den Sommer über und in den Herbst hinein eine preußische Nationalversammlung an einem Verfassungsentwurf gearbeitet, einem liberalen Papier mit starkem parlamentarischem Anstrich, reduzierten königli­ chen Rechten und Aufbau einer Volksmiliz. Das mißfiel Fried­ rich Wilhelm IV., und als zudem auch in Berlin Arbeiterunru­ hen ausbrachen, Barrikadenkämpfe zwischen der gemäßigt libe­ ralen Bürgerwehr und den Kräften der »Straßendemokratie« stattfanden, war es der Militärpartei ein leichtes, den König für ein staatsstreichartiges Vorgehen gegen die preußische Natio­ nalversammlung zu gewinnen. Am 8. November 1848 zogen Truppen unter General vonWrangel kampflos in die Haupt­ stadt ein, das Parlament wurde aus der Stadt gejagt, und der König oktroyierte eine Verfassung, die allerdings stark an den ursprünglichen Verfassungsentwurf angelehnt war. Ende 1848 hatte die Gegenrevolution dort gesiegt, wo in Deutschland die wirkliche Macht lag, in Berlin und Wien, und das geängstigte Bürgertum war nur zu gerne bereit, sich gegen konstitutionelle Zusagen mit den alten Gewalten zu vertragen. Der Rest war eine Tragikomödie. In Frankfurt hatte man sich mittlerweile darauf geeinigt, die gesamtdeutsche Verfassung auf das Gebiet des Deutschen Bundes in den Grenzen von 1815 zu beschränken. Paragraph 2 lautete: »Kein Teil des Deutschen Reiches darf mit nichtdeutschen Ländern zu einem Staat verei­ nigt sein.« Ein halbes Jahr zuvor hätte das eine realistische Grundlage dargestellt, aber die neuerstarkte österreichische Re­ gierung dachte gar nicht daran, um des Schemens eines deut­ schen Nationalstaats willen die soeben errungenen Siege über die nichtdeutschen Nationalitäten des Vielvölkerstaats preiszu­ geben. So blieb nur die ungeliebte kleindeutsche Lösung übrig, die Einigung Deutschlands unter preußischen Vorzeichen, und

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so erschien am 3. April 1849 eine Delegation des Paulskirchenparlaments bei Friedrich Wilhelm IV., um ihm tiefbewegt die deutsche Kaiserkrone anzutragen. Der aber hatte mittlerweile seine schwarz-rot-goldenen Gefühle vom März vergangenen Jahres vergessen, nicht jedoch die Demütigungen, denen er aus­ gesetzt gewesen war, und lehnte den »Reif aus Dreck und Let­ ten«, an dem »der Ludergeruch der Revolution« hinge, ab. Nicht alle seine Gründe waren unvernünftig. Neben dem Haß auf die Revolution, neben dem Glauben, daß das Recht der Krone nicht auf parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen, sondern auf göttlicher Legitimität ruhe, neben der Achtung vor den älteren geschichtlichen Ansprüchen der Habsburger war da die wohlbegründete Befürchtung, daß ein solcher Schritt zum Krieg mit Österreich führen mußte. Ein neuer Siebenjähriger Krieg war aber Sache des friedfertigen und konfliktscheuen Kö­ nigs nicht. Die deutsche Revolution war damit gescheitert; die Paulskirchenversammlung lief auseinander, das geisterhafte Wirken ei­ nes Rumpfparlaments in Stuttgart wurde am 18. Juni 1849 durch württembergische Dragoner beendet. Vier Wochen spä­ ter trat in Frankfurt der Gesandtenkongreß des Deutschen Bundes, der Bundestag, wieder zusammen, und es war, als sei nichts geschehen. Mit der Revolution war auch der Traum von der Errichtung eines alle Deutschen umfassenden Nationalstaates auf freiheitli­ cher Grundlage gescheitert. Aber die Revolution hatte auch in manchem Klarheit geschaffen: das erstemal machten die Deut­ schen die Erfahrung, daß ihre nationale Hoffnung eines, die Wirklichkeit Europas ein anderes war. Im ostmitteleuropä­ ischen Raum, das hatte sich gezeigt, war eine reinliche Tren­ nung der deutschen, polnischen und tschechischen Ambitionen nicht möglich, und mit ihrer Mißachtung der nationalen Wün­ sche der östlichen Nachbarn hatte die deutsche Nationalbewe­ gung ihre Unschuld verloren. Ohne Verzicht oder aber Unter­ werfung war die nationale Frage in Ostmitteleuropa nicht zu lösen, wenn übernationale Ordnungsvorstellungen ihre Legiti­ mität eingebüßt hatten. Und es hatte sich auch zum Exempel gezeigt, wie eng die Grenzen einer Duldung der deutschen Na­ tionalbewegung im europäischen Rahmen gezogen waren. Je­ der Versuch, den deutschen Nationalstaat auf Kosten des euro­ päischen Friedenssystems von 1815 zu begründen, stieß auf die entschlossene Gegnerschaft anderer europäischer Staaten.

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Und schließlich hatte sich in den Redeschlachten der Paulskirche die Frage geklärt, was denn das deutsche Vaterland sei. Die Alternativen hießen Groß-Deutschland unter habsburgi­ scher Führung und unter Einbeziehung der österreichischen Teile des Deutschen Bundes, oder aber Klein-Deutschland ohne Österreich unter preußischer Hegemonie.

6. Auf dem Weg zur Wirtschaftsnation Die Revolution lag zurück, die großen Hoffnungen hatten sich verflüchtigt, zurückgeblieben waren Ernüchterung und Abwendung von der erfolglosen »idealistischen« Politik. 1853 erschien ein Buch des früheren Burschenschaftlers und Revolu­ tionärs August Ludwig von Rochau mit einem Titel, der den Schlüsselbegriff der neuen Epoche kreierte: Grundsätze der Realpolitik, angewendet auf die staatlichen Zustände DeutschlandsO Deutschland hoch in Ehren« von Ludwig Bauer, später im Ersten Weltkrieg viel gesungen, entstand unter dem Eindruck der Italienkrise:.

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Lasset hoch das Banner wehn, Lasset uns treu und kühn Mit den Völkern Österreichs gehn!

Oberitalien erschien in dieser Beleuchtung als tragende Säule des alten staufischen Reiches, die moderne Nationalstaatsidee verband sich mühelos mit der Erinnerung an die alte nationali­ tätenüberwölbende Reichskonstruktion, die jetzt ganz im Zei­ chen der deutschen Herrschaft in Italien gedeutet wurde. In dem Maße jedoch, in dem die militärische Niederlage der Donaumonarchie sich abzeichnete, breitete sich in der Natio­ nalbewegung eine andere Stimmung aus: Ließ sich die öster­ reichische Verwicklung in außerdeutsche Händel nicht ausnut­ zen, um den Ballast des Vielvölkerstaats abzuwerfen und ein kleindeutsches Reich unter preußischer Führung, ohne Habs­ burg, zu begründen? Ferdinand Lassalle, der vier Jahre später die erste deutsche Arbeiterpartei gründen sollte, forderte un­ umwunden die Zerschlagung Österreichs als Opfer der nationa­ len Wiedergeburt: »Mit der Zerstückelung von Österreich fällt das besondere Preußen von selbst, wie der Satz mit seinem Ge­ gensatz verschwindet. Österreich vernichtet, und Preußen und Deutschland decken sich.«18 Ähnliches schrieben Liberale wie Constantin Rößler, aber auch Radikaldemokraten wie Arnold Rüge oder Ludwig Bamberger. Während der deutsche Konser­ vativismus ganz, der Altliberalismus überwiegend im Lager Österreichs stand und Preußens abwartende Haltung verurteil­ te, war es in erster Linie die linke Fraktion der Nationalbewe­ gung, die für die Trennung von Österreich und den nationalen Krieg gegen Frankreich zur Wiedergewinnung des Elsaß ein­ trat. Und noch ein anderer argumentierte so entgegen der zu­ rückhaltenden Stimmung in der preußischen Regierung: der preußische Bundestagsgesandte Otto von Bismarck, der soeben wegen seiner österreichfeindlichen Haltung von seinem Posten entbunden und als Botschafter nach St. Petersburg geschickt worden war. Er schrieb am 5. Mai 1859 an den Generaladjutan­ ten von Alvensleben, es sei jetzt an der Zeit, die »deutsche Frage« im Bündnis mit Frankreich und bei wohlwollender Neutralität Rußlands gewaltsam zu lösen und das Königreich 18 Ferdinand Lassalle, Der italienische Krieg und die Aufgabe Preußens. Eine Stimme aus der Demokratie. Berlin 1859, S. 52.

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Preußen in ein »Königreich Deutschland« zu verwandeln. »Die gegenwärtige Lage hat wieder einmal das große Los für uns im Topf, falls wir den Krieg Österreichs mit Frankreich sich scharf einfressen lassen, und dann mit unseren ganzen Armeen nach Süden aufbrechen, die Grenzpfähle im Tornister mitnehmen und die entweder am Bodensee oder da wo das protestantische Bekenntnis aufhört vorzuwiegen, wieder einschlagen ...«” Aber ob für oder gegen Preußen, mit oder ohne Österreich, die deutsche Nationalbewegung war wie aus einem Winter­ schlaf erwacht. Die ein Jahrzehnt lang aufgestauten nationalen Empfindungen explodierten förmlich in Vereinsgründungen, Dichtungen, Festen, Zeitungsartikeln. Ihren Höhepunkt er­ reichte die neue nationale Welle in den Feiern zu Schillers hun­ dertstem Geburtstag am 10. November 1859, die im gesamten deutschsprachigen Raum abgehalten wurden. Jede Stadt richte­ te ihre eigene Schillerfeier aus; in aller Regel wurden die Feiern durch Sammlungen der Bürger finanziert, Männergesang- und Schützenvereine bildeten den organisatorischen Kern, und von der Arbeiterschaft bis zu den Honoratioren beteiligte sich die gesamte Bevölkerung. Ein Festzug leitete die Feier ein, belebt durch Festwagen, auf denen Szenen aus Schillers Dramen dar­ gestellt waren; Fahnen und Festabzeichen wogten über der sorgfältig nach Berufen und Handwerkssparten geordneten Menge. Der Festzug löste sich gewöhnlich auf dem Marktplatz auf, wo Reden gehalten und Hochrufe auf Schiller und die deut­ sche Nation ausgebracht wurden. Lebende Bilder und symboli­ sche Darstellungen spielten eine große Rolle; neben Schillersta­ tuen fand sich gewöhnlich die Figur der Germania, seit der Rheinkrise von 1840 ein poetisches Symbol für die deutsche Einheit mit deutlichem antifranzösischem Akzent. Kaum eine Schillerfeier, auf der nicht ein Transparent mit einer Nachbil­ dung des populären Gemäldes >Germania auf der Wacht am Rhein« von Lorenz Clasen zu sehen gewesen wäre. Schiller und Germania, Freiheit und Einheit: darin verkörperte sich die alte Spannung der deutschen Nationalbewegung, die auch an eini­ gen Orten aufbrach, so beispielsweise in Berlin, wo unter dem Schillerdenkmal demokratische Reden gehalten wurden und die Polizei einschritt. Aber es war auch deutlich zu sehen, daß Liberalismus und Nationalismus immer noch die beiden Seiten ” Erstmals im vollen Wortlaut veröffentlicht in: Deutsche Allgemeine Zeitung vom 14. 3. 1937, Beiblatt.

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derselben Medaille waren, nunmehr zu einer breiten Volksbe­ wegung angewachsen. Das zeigte sich in den folgenden Jahren immer deutlicher. Im Zeichen der liberalen »Neuen Ära« fielen die vereinsrechtlichen Restriktionen oder wurden von den Behörden immer laxer ge­ handhabt, und die alten Trägerorganisationen der Nationalbe­ wegung erlebten einen enormen Aufschwung. 1861 entstand als erste nationale Dachorganisation der »Deutsche Schützen­ bund«, dem ein Jahr darauf der »Deutsche Sängerbund« folgte; nachdem bereits 1861 ein »Ausschuß der deutschen Turnverei­ ne« sich als nationaler Zusammenschluß gebildet hatte, konsti­ tuierte sich schließlich 1868 die »Deutsche Turnerschaft«. Ge­ samtnationale Veranstaltungen führten wahre Massen organi­ sierter Patrioten zusammen - zum »Deutschen Schützenfest« in Frankfurt am Main kamen 1862 mehr als 8000 Schützen, zum »Deutschen Turnfest« in Leipzig im folgenden Jahr 20000 Tur­ ner, und das »Deutsche Sängerfest« von 1864 in Dresden sah 16000 Sänger aus allen Teilen Deutschlands, Österreichs und sogar der deutschsprachigen Schweiz. Bis zu dieser Zeit war die deutsche Nationalbewegung, jenes schwer zu fassende Konglomerat von bürgerlichem Vereinswe­ sen, liberaler Publizistik, wirtschaftsbürgerlicher Initiative und parlamentarischer Opposition, insofern eine Einheit geblieben, als man sich als gemeinsames Lager empfunden hatte. In den Fragen der Grenzen, der Verfassung und der Vormacht eines deutschen Nationalstaates gab es zwar ein kaum zu ordnendes Gewirr von unterschiedlichen Standpunkten, aber in Krisenla­ gen waren diese Streitigkeiten hinter dem gemeinsamen Ruf nach der deutschen Einheit zurückgetreten. Selbst in der Paulskirchenversammlung von 1848/49 hatte es in der Frage der Rol­ le Österreichs und Preußens bei der deutschen Einigung keine festen Gruppierungen gegeben, sondern frei fluktuierende Mehrheiten, die sich ständig nach den politischen Tagesereig­ nissen und den Meinungswechseln stimmführender Abgeord­ neter änderten. Die Frage »groß- oder kleindeutsch« erschien überwiegend als ein taktisches Problem, wobei allerdings die weit überwiegende Mehrheit mit dem Herzen bei der großdeut­ schen Lösung war, und diejenige Fraktion konnte mit einer Mehrheit rechnen, die die im Moment aussichtsreichste Lösung der Nationalstaatsfrage anbot. Das änderte sich jetzt. Die Italienkrise von 1859 hatte die Handlungsunfähigkeit des Deutschen Bundes im hellsten Licht

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gezeigt, und beide Vormächte hatten sich der öffentlichen Mei­ nung gegenüber Blößen gegeben, Österreich wegen der Kriegs­ niederlage, Preußen wegen seines abwartenden Taktierens. Dennoch erhielt nach der Niederlage der Donaumonarchie der Gedanke eines Bundesstaates unter preußischer Führung als Al­ ternative zum handlungsunfähigen, legitimationsschwachen Deutschen Bund neuen Auftrieb. Mitte September 1859 trat der Deutsche Nationalverein ins Leben, gegründet von Liberalen und gemäßigten Demokraten aus allen nicht-österreichischen deutschen Ländern. Die Führung lag bei dem liberalen hanno­ verschen Oppositionsführer Rudolf von Bennigsen, dem ehe­ maligen Präsidenten der preußischen Nationalversammlung Hans Victor von Unruh und Hermann Schulze-Delitzsch, dem Begründer der handwerklichen Genossenschaften. Sitz des Na­ tionalvereins war Coburg, Residenz des liberal und national gesonnenen Herzogs Ernst II. von Sachsen-Coburg-Gotha. Das Programm knüpfte an die Reichsverfassung von 1849 an; die Frage der Einrichtung der Reichszentralgewalt blieb zwar ebenso unbeantwortet wie die des Verhältnisses zu Österreich, aber die publizistische Begleitmusik macht die Ausrichtung auf die preußische Führungsmacht deutlich. Und noch in anderer Hinsicht dominierte ein neuer Ton: »Erst das Joch der Fremd­ herrschaft von Deutschland abwehren, den Übermut des Lan­ desfeindes dämpfen«, schrieb Schulze-Delitzsch im ersten Flug­ blatt des Nationalvereins, »erst die Unabhängigkeit unseres Va­ terlandes, die Beteiligung des Volks an den Fragen seiner natio­ nalen Existenz feststellen, ehe an den Ausbau der inneren Zu­ stände im einzelnen gedacht werden kann: eine deutsche Zen­ tralgewalt also vor allem mit einer Volksvertretung an der Seite .. ,«20 Erst also die Zentralregierung, dann das Nationalparla­ ment - auch das war »Realpolitik« aus Einsicht in die Schwä­ chen der Nationalbewegung in der 48er Revolution, ein ent­ scheidender Schritt auf dem Weg zum späteren Nationallibera­ lismus, zur Lösung der deutschen Frage von oben. Der Deutsche Nationalverein war ein reiner Honoratioren­ verband, durchaus in deutscher Vereinstradition, aber der klein­ deutsche Gedanke brauchte keineswegs erst propagiert zu wer­ den: vor allem das protestantische Deutschland war längst auf die preußische Führung bei der nationalen Einigung vorberei20 Hermann Schulze-Delitzsch, Flugblätter des Deutschen Nationalvereins. Bd. 1, Coburg 1860, S. 16: Hervorhebung im Original.

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tet. Da waren besonders die preußischen Geschichten und Le­ genden, die die Schulbücher füllten und die Erinnerungen der Alteren verklärten: Menzels Illustrationen der Kuglerschen Biographie Friedrichs des Großen, das Flötenkonzert von Sans­ souci, der Alte Fritz zu Pferde - das war bereits nationales Gemeingut, Bilder, die in jedermanns Kopf erschienen, wenn die Erinnerung an deutsche Größe beschworen wurde. Und die deutsche Geschichtsschreibung setzte mit ganz wenigen Aus­ nahmen auf Preußen. Eine Generation politischer Gelehrter, wie es sie hernach in Deutschland nicht wieder geben sollte, rückte in die deutschen Hochschulen ein: Dahlmann in Bonn, Häusser in Freiburg, Duncker, dann Treitschke in Berlin, Droysen in Jena, Sybel in München: allesamt Liberale, über­ zeugt von der deutschen Sendung Preußens, von der Angemes­ senheit des monarchischen Konstitutionalismus für die Deut­ schen und von der Verderblichkeit des süddeutschen, des ultra­ montanen, des »anti-nationalen« Katholizismus. Diese Männer hielten es nicht mehr mit Leopold von Ranke, der der Ge­ schichte rundweg die Berechtigung abgesprochen hatte, der Ge­ genwart Lehren zu erteilen. Sie wirkten allesamt politisch als Abgeordnete in den Landtagen, als Mitarbeiter der führenden Zeitungen, als Hochschullehrer - »Kathederpropheten«, wie Max Weber später sagen sollte - und vor allem als Schriftsteller, die das Geschichtsbild der Deutschen formten. Den größten Publikumserfolg erzielte Johann Gustav Droysens schon 1833 erschienene >Geschichte Alexanders des Großen«, die Erzäh­ lung vom Reich im Norden Griechenlands, halb barbarisch noch, aber imstande, mit harter Hand im kleinstaatlichen Chaos des Südens Ordnung zu schaffen. Das so geeinte griechische Reich bildete den Ausgang für Alexanders traumhaften Zug nach Osten im Zeichen einer griechischen, einer höheren Hu­ manität. Keine bürgerliche Bibliothek ohne Droysens Alexanderbuch, und jedermann verstand: Mazedonien war Preußen, Griechenland Deutschland, Asien Europa. In Bismarck sollte dann das Bürgertum Alexander wiedererkennen, sein Aufstieg und Erfolg war durch die Geschichtswissenschaft in den Köp­ fen der Menschen vorgebahnt. Aber es gab Widerstand. Der katholische Hannoveraner On­ no Klopp schrieb 1860 über Friedrich II. von Preußen als den Verderber der deutschen Geschichte, warnte vor der preußi­ schen Eroberungsgier und rühmte die Legitimität des Hauses Habsburg. Berühmt wurde der Streit zwischen dem katholi107

sehen Westfalen Julius von Ficker, Ordinarius in Innsbruck, und Heinrich von Sybel: während Sybel die universalistische Politik der mittelalterlichen Stauferkaiser kritisierte und in de­ ren Italienpolitik den Krebsschaden für die nationale Integra­ tion des Reichs erblickte, beharrte Ficker auf der Legitimität der transnationalen Kaiserherrschaft, die er bis in die Gegen­ wart und Zukunft verlängert sehen wollte - nur scheinbar ein Wissenschaftsdisput, tatsächlich von höchster gegenwärtiger Brisanz und vom Publikum auch so verstanden. Und der Widerstand gegen die kleindeutsche Idee nahm zu. Der liberale Preußenenthusiasmus war auf dem Hintergrund der »Neuen Ära« in Preußen zu verstehen; die Führer des Na­ tionalvereins sahen daher auch keinen Widerspruch zwischen ihren freiheitlichen Idealen und den nationalen, wenn sie Preu­ ßen aufforderten, in Deutschland moralische Eroberungen zu machen, zumal man sich auch von dem Einfluß der Mittelstaa­ ten in einem preußisch dominierten Kleindeutschland eine Stär­ kung des liberalen Geistes versprach. Die Hoffnungen wurden jedoch durch den Ausbruch des preußischen Heereskonflikts 1861 gedämpft, der sich zu einem grundlegenden Verfassungs­ konflikt zwischen dem preußischen Liberalismus und der Mon­ archie ausweitete und die liberalen Preußensympathien stark abklingen ließ. Hinzu trat die äußerst kühle Reaktion der mei­ sten Regierungen des »dritten Deutschland« auf die Aktivitäten des Nationalvereins. Als Antwort auf den preußischen Hegemonialanspruch orga­ nisierte sich daher 1862 der großdeutsche Flügel der National­ bewegung im »Deutschen Reformverein«, neben liberal-partikularistischen und konservativ-klerikalen Kräften auch ent­ täuschte Anhänger des preußischen Erbkaisertums, die in der Politik des 1862 ernannten Kabinetts Bismarck nur mehr groß­ preußische und reaktionäre Ziele erkennen konnten. Während jedoch der Nationalverein eine einheitliche, geschlossene Orga­ nisation von Ortsvereinen aufbauen konnte, mit einer funk­ tionstüchtigen Spitze, wohldurchdachter Kassenführung, regel­ mäßigen Versammlungen und einem eigenen Vereinsorgan, blieb der Reformverein im organisatorischen Vorfeld stecken. Nicht nur die Heterogenität der politischen Zielrichtungen machte der großdeutschen Bewegung zu schaffen, sondern auch die geringe Mitgliederzahl, die höchstens 1500 betrug. Anders als dem 25000 Mitglieder umfassenden Nationalverein gelang es dem Reformverein nicht, zwischen dem organisatorischen

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Überbau und der Vielzahl lokaler Vereine eine feste Verbindung herzustellen. Doch auch der Nationalverein wandelte sich. Die in ihm ver­ sammelten Preußenfreunde verloren angesichts des sich zuspit­ zenden preußischen Verfassungskonflikts den Mut, sich offen für die preußische Vorherrschaft einzusetzen. Die Beiträge für eine Reichsflotte, die der Nationalverein sammelte und bis 1862 an die preußische Regierung für deren Flottenrüstung abliefer­ te, wurden jetzt einbehalten, und ein Jahr später trat der Verein offen gegen die preußische Regierung auf, indem er in der schleswig-holsteinischen Frage ein eigenes Programm formu­ lierte und sich zu dessen Durchführung sogar mit dem Gegner, dem Reformverein, verbündete. Um die Mitte der sechziger Jahre war von moralischen Eroberungen Preußens in der deut­ schen Öffentlichkeit kaum etwas zu spüren. Der Nationalver­ ein sprach sich jetzt im offenen Bruch mit seiner einst prokla­ mierten Idee von der preußischen Sendung dafür aus, daß erst ein allgemeines deutsches Parlament über die Träger der deut­ schen Zentralgewalt zu befinden habe. Am Vorabend von Königgrätz war der Grundtenor der publizistischen Nationalbe­ wegung tiefe Resignation; die Neutralität der Mittel- und Kleinstaaten, erklärte das Wochenblatt des Nationalvereins noch am 14. Juni 1866, sei »die einzige sachgemäße Losung der Nationalpolitik«, da »das Banner der Nation« weder im preußi­ schen noch im österreichischen Lager wehe.

8. Eisen und Blut

Nach der Entstehung des Kaiserreichs von 1871 scheint es mü­ ßig, der Frage nachzugehen, ob der deutsche Nationalstaat denn entstehen mußte, und wenn ja, ob in dieser Form. Den Zeitgenossen und den beiden nachfolgenden Generationen schien der Bismarck-Staat eine historische Notwendigkeit ohne Alternative - die Menschen neigen dazu, das Hegelsche Diktum von der Vernunft des Seienden zu akzeptieren, und überdies führte der von Jacob Burckhardt ironisierte »siegesdeutsche Anstrich der Historie« seit 1871 dazu, das 19. Jahrhundert als providentielle Einbahnstraße vom Alten Reich zum Zweiten Reich zu betrachten. Und sprach nicht auch vieles für diese Sicht? Holten die Deutschen nicht lediglich nach, was die mei-

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sten europäischen Nationen längst hinter sich gebracht hatten: »Verspätete Nation«? Sprach nicht die Macht des wachsenden Nationalbewußtseins als ausschlaggebende Massenideologie ebenso für die Bismarcksche Lösung der deutschen Frage wie das Argument der wirtschaftlichen Modernisierung, des Schwergewichts der ökonomischen Strukturen? Darf man überhaupt die Frage nach historischen Alternativen stellen? Man muß sie stellen, denn erst die Rekonstruktion vergange­ ner Möglichkeiten und Chancen befreit uns von teleologisch­ fatalistischen Geschichtsklitterungen und ermöglicht das Urteil über tatsächliche historische Entwicklungen. Und aus der Per­ spektive der politischen Beobachter vor der Reichseinigung war das, was dann wirklich geschah, nur eine von vielen möglichen Ereignisketten und vielleicht nicht einmal eine besonders wahr­ scheinliche. Es gab viele Lösungsmodelle für die deutsche Frage. Der Deutsche Bund von 1815 war eins davon, und dafür sprachen gewichtige Tatsachen: die verbliebenen Reste der Reichstradi­ tion, die Rücksichtnahme auf bestehende Herrschaftsinteres­ sen, die Ausgewogenheit der Bundesakte, die realistischerweise den beiden Vormächten ein erhebliches Gewicht zumaß, ohne es ihnen aber zu ermöglichen, die übrigen deutschen Staaten zu majorisieren, und nicht zuletzt das Interesse der europäischen Mächte an der Aufrechterhaltung des Gleichgewichts der Kräf­ te, das durch jeden mitteleuropäischen Einigungsprozeß gefähr­ det schien. Daß der Deutsche Bund dennoch nicht von Dauer sein konnte, lag in erster Linie an der Pattsituation zwischen Österreich und Preußen, die jede Modernisierung des Bundes, aber auch jede Machtzentralisierung verhinderte, und an der ideologischen Rückständigkeit dieses Staatengebildes, dessen Machtlegitimation und Machterhaltungssystem quer zu den massenwirksamen und sinnstiftenden Strömungen des Jahrhun­ derts standen. Die zweite Lösungsmöglichkeit wurde 1848/49 durchpro­ biert: die Begründung eines modernen deutschen, zentralisti­ schen Nationalstaates auf den Grundlagen von Volkssouveräni­ tät und Menschenrechten. Auch dieses Modell erwies sich nicht als lebensfähig - es scheiterte an der sozialen und ideologischen Heterogenität seiner liberalen und nationalen Trägerschichten ebenso wie am Widerstand der europäischen Mächte, die ein Ausgreifen des deutschen Nationalismus über die Grenzen des Deutschen Bundes als Revolution gegen die europäische 110

Gleichgewichtsordnung empfanden. Kein deutsches National­ parlament konnte aber auf Legitimation vor den deutschen Pa­ trioten hoffen, das auf die »Befreiung« der deutschen Irredenta im Westen, Norden und Osten verzichtete. An weiteren Möglichkeiten war auch nach dem Scheitern der 48er Revolution kein Mangel, sie wurden seit dem Wiedererwa­ chen der Nationalbewegung um 1859 heiß diskutiert, und jede besaß ihr Lager. Da war der großdeutsche Gedanke, von allen Konzepten das berauschendste, weil umfänglichste und durch die Erinnerung an eine verklärte Reichsgeschichte emotional ansprechendste. Dennoch war dieser Gedanke auch schon aus der Perspektive der frühen sechziger Jahre der hoffnungslose­ ste; dagegen sprach zwar nicht unbedingt der preußische Hege­ monieanspruch - das war hauptsächlich Sache der hohen preu­ ßischen Bürokratie, während König und hochkonservativer Adel die habsburgischen Vorrechte sehr wohl respektierten. Aber dagegen sprach zum einen angesichts der fortgeschritte­ nen wirtschaftlichen Integration des Zollvereins, der relativen Rückständigkeit der Donaumonarchie und deren vorsintflutli­ cher merkantilistischer Wirtschaftspolitik die ökonomische Vernunft und zum anderen die längst angetretene Wanderung Österreichs aus Deutschland hinaus, seine Verwicklungen auf dem Balkan und in Italien in außerdeutsche Konflikte, die Mul­ tinationalität der Verfassung, die bei einem Aufgehen des Habs­ burgerstaats in einen deutschen Nationalstaat zu unlösbaren Problemen geführt hätte. Eine andere Möglichkeit war die einer dualistischen Hegemo­ nie beider Vormächte im Deutschen Bund, wie sie Preußen zeitweise favorisierte und in Bundesreform-Konzepte zu gießen suchte. Das lief auf eine Teilung Deutschlands längs der Mainli­ nie hinaus, mit einem preußisch-norddeutschen Bund im Nor­ den und einer süddeutschen, von Wien aus regierten Donaufö­ deration im Süden. Noch 1864 hat Bismarck diese Lösung der deutschen Frage vorgeschlagen, die zugleich eine Lösung des ein Jahrhundert alten preußisch-österreichischen Dauerkon­ flikts gewesen wäre: eine realistische Alternative der deutschen Geschichte, die allerdings daran scheiterte, daß Österreich nicht ganz grundlos der preußischen Selbstbescheidung mißtraute und immer neue Forderungen der Berliner Regierung fürchtete. Und da war die Trias-Idee der deutschen Mittelstaaten, die vor einer preußischen Hegemonie ebenso zurückschraken wie vor einem preußisch-österreichischen Duumvirat. Das Konzept 111

eines »Dritten Deutschland« gehörte zu den großen Gestal­ tungselementen der deutschen Geschichte seit Jahrhunderten: der Zusammenschluß der kleinen und mittleren Territorien mit dem Ziel der Abwehr hegemonialer Großmachtbestrebungen und der Bewahrung der überkommenen Libertäten. Das »Drit­ te Deutschland« war von jeher reichstreu in dem Sinne gewe­ sen, daß die jeweilige Reichsverfassung am besten geeignet schien, die einzelstaatlichen Rechte zu garantieren. Allerdings gehörte dazu auch die Versuchung, sich an eine Großmacht anzulehnen, um dem Druck anderer Mächte zu widerstehen das Modell des »Deutschen Fürstenbundes« von 1785 unter preußischem Patronat war ebenso denkbar wie das Bündnis mit einer außerdeutschen Macht, von dem schwedisch dominierten »Heilbronner Bund« von 1633 bis zum Rheinbund der napo­ leonischen Ära. Seit 1859 regte sich das »Dritte Deutschland« wieder, suchte die Bundesverfassung im Sinne der Stärkung fö­ derativer Rechte zu reformieren und die Bundeskompetenzen gegen die Vormächte Preußen und Österreich zu stärken. Aller­ dings zeigte sich schnell, daß die bayerischen, sächsischen und badischen Bundesreform-Pläne zu weit auseinandergingen, um zu einem einheitlichen Vorgehen der Mittelstaaten zu führen, doch die Trias war stark genug, um zwischen Österreich und Preußen zu manövrieren und die beiden deutschen Großmächte im Bundestag gegeneinander auszuspielen. Im übrigen bestand aufgrund der Bundesakte von 1815 nach wie vor das Recht jedes Einzelstaats, Bündnisse mit nichtdeutschen Mächten abzu­ schließen, und eine Neuauflage der Rheinbundpolitik blieb denkbar. Die kleindeutsche Lösung der deutschen Frage unter preußi­ schen Vorzeichen war also nur eine Option unter vielen, und wenn sie auch durch Zollverein, österreichische Schwäche und zeitweilige liberale Sympathien begünstigt war, so war doch ihre Verwirklichung nicht vorgezeichnet. Zweierlei mußte hin­ zukommen: eine internationale Ausnahmesituation, die den In­ terventionsmechanismus der europäischen Balanceordnung im Fall einer mitteleuropäischen Machtballung außer Kraft setzte, und eine preußische Staatsführung, die die Gunst der Stunde erkannte und ihr gemäß handelte. Was das erste anging, so war in der Tat das europäische Konzert seit dem Krimkrieg (1853—1856) gestört. Die europäischen Flügelmächte, England und Rußland, waren weit auseinandergerückt; eine gemeinsame Intervention wie noch 1848 anläßlich der deutschen Frontwen112

düng gegen Dänemark war unwahrscheinlicher geworden. Und das Frankreich Napoleons III. hofierte Wien wie Berlin in schöner Unparteilichkeit und hoffte, im Fall eines deutschen Entscheidungskampfes als lachender Dritter dazustehen. Die Manövrierfähigkeit Preußens war also vergrößert, ohne daß aber die neuen Bewegungsgrenzen klar gezogen waren. Die Ri­ siken der Grenzüberschreitung bei Strafe des Rückfalls auf den Status einer zweitrangigen Macht blieben enorm. Es lag nun keineswegs im Wesen der preußischen Politik, diese Konstellation mit dem Ziel einer Lösung der deutschen Frage unter den Auspizien preußischer Hegemonie auszunut­ zen. Wenn auch der Konflikt zwischen Österreich und Preußen um die Vorherrschaft in Deutschland seit den Schlesischen Kriegen bestimmendes Element deutscher Geschichte gewor­ den war, so hatten sich doch die Nachfolger des großen Fried­ rich stets gehütet, die Präsenz Österreichs im Deutschen Bund oder gar die höhere Legitimität der habsburgischen Krone grundsätzlich zu bestreiten; Hegemonialkonflikte wurden auf diplomatischer oder wirtschaftspolitischer Ebene ausgetragen, aber jedes Berliner Kabinett hatte bislang alles unternommen, um kriegerischen Auseinandersetzungen mit der Donaumonar­ chie aus dem Weg zu gehen - nicht aus prinzipieller Friedenslie­ be, sondern weil das Risiko eines verlorenen Krieges für den preußischen Staat zu groß schien. Das änderte sich erst mit der Berufung Bismarcks zum preu­ ßischen Ministerpräsidenten am 24. September 1862. Für die liberale und nationale Öffentlichkeit war er der Mann der Ge­ genrevolution, Werkzeug der Armee und des Hochkonservati­ vismus mit dem Auftrag, den Verfassungskonflikt zwischen Krone und liberaler Kammermehrheit um das Heeresbudget mit allen Mitteln zu beenden und den parlamentarischen Libe­ ralismus in die Knie zu zwingen, und ähnlich sahen ihn anfangs auch König Wilhelm I. und dessen Militär-Kamarilla. Worin aber alle Seiten Bismarck falsch beurteilten, das waren die An­ nahmen über die Motive seiner Politik. Die preußische Mini­ sterpräsidentschaft war für ihn nicht das Ziel, sondern nur Mit­ tel zur Erreichung eines höheren Zwecks. Ihm ging es um die Machterweiterung und um die Konsolidierung Preußens in ei­ nem revolutionären Europa, ein Weg, der nach seiner Überzeu­ gung nur durch die Errichtung der preußischen Hegemonie in Deutschland zu gehen war, auf Kosten Österreichs, aber im Einklang mit den Interessen der übrigen europäischen Mächte.

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Das Mittel revolutionär, das Ziel konservativ: mit den Begriffen des Jahrhunderts war dieser »weiße Revolutionär« (Henry Kis­ singer), war sein Prinzip der »schöpferischen Antirevolution« (Michael Stürmer) nicht zu fassen. Und dazu gehörte auch seine Bereitschaft zum Extrem, seine Lust, im Entscheidungsfall bis an die Grenzen zu gehen. Seine überragende Fähigkeit, mit vielen Kugeln gleichzeitig zu jonglieren, eine Lage in ihren komplexen Zusammenhängen stets völlig zu überschauen, tak­ tische Mittel und strategische Ziele strikt zu trennen und den­ noch zugleich im Auge zu behalten, schließlich die ans Selbst­ zerstörerische streifende Neigung zum Vabanque-Spiel, wenn eine Situation auf die Spitze getrieben wär - darin lag seine Überlegenheit gegenüber seinen innen- wie außenpolitischen Gegnern. »Nicht durch Reden und Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden - das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen-, sondern durch Eisen und Blut«21. Diese Einsicht Bismarcks, vor der die Liberalen aller Lager sich entsetzten, war nur die logische Schlußfolgerung aus den Erfah­ rungen vergangener Niederlagen. Die Eisen-und-Blut-Metapher war auch keineswegs einem kriegslüsternen Junkerhirn entsprungen, sondern sie stammte aus dem Lied eines jener Kriegsfreiwilligen von 1813, die später den Kern der studenti­ schen Einheits- und Freiheitsbewegung bilden sollten, von Max von Schenkendorf:

Denn nur Eisen kann uns retten, Und erlösen kann nur Blut Von der Sünde schweren Ketten, Von des Bösen Übermut. Das war ein revolutionäres Bekenntnis gewesen, und daß Bis­ marck diesen Gedanken gewissermaßen adoptierte, während Schenkendorfs liberale Nachfahren vor der Ultima ratio der Politik, dem Griff zur Waffe, zurückschraken, machte deutlich, daß die Mächte der Veränderung keineswegs in erster Linie »unten«, in der Bevölkerung, zu suchen waren. Revolution in Deutschland - wie anderswo in Europa zu dieser Zeit auch fand nicht von unten, sie fand von oben her statt. 21 Otto von Bismarck, Die gesammelten Werke. Friedrichsruher Ausgabe, Bd. 10, Berlin 1926, S. 139.

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Es ist im nachhinein frappierend, die Stellungnahmen aus Kreisen der liberalen Nationalbewegung zu Bismarck in den Jahren zwischen 1862 und 1866 zu lesen; sie reichen von hoch­ mütiger Verachtung (Bluntschli an Sybel: »In untergeordneter, dienender Stellung wäre er gut zu brauchen, in herrschender Stellung ist er absurd und unerträglich«22) bis zu blankem Haß (Baumgarten an Sybel: »Menschen, die Verfassung, Vernunft und Recht wie böse Buben verachten, muß man zittern machen. Man muß ihnen die lebhafte Besorgnis erregen, daß sie eines Tages wie tolle Hunde totgeschlagen werden.«23* ) Verachtung 25 und Haß besaßen ihre guten Gründe, denn Bismarck war ange­ treten, den Kampf der liberalen Opposition in Preußen um die Parlamentarisierung des Obrigkeitsstaates ein für allemal zu be­ enden. Da in der Programmatik der Nationalbewegung, unge­ achtet aller inneren Differenzen im einzelnen, nationale Einheit und innenpolitische Freiheit untrennbar verknüpft waren, galt der preußische Ministerpräsident, mit den Worten der »Wo­ chenschrift des NationalvereinsDe la Littérature Allemande< sechsundzwanzig Millionen Seelen für Deutschland, und diese Angabe scheint mir unter allen die zu­ verlässigste zu sein. Die Kaiserin von Rußland sagte in ihrem Manifest an den Hof zu Wien in betreff der letzten bayerischen Streitigkeit, »alle Mächte Europens müßten darauf sehen, daß das Gleichgewicht in Deutschland nicht gehoben werde, indem wegen der Stärke dieses Reiches und seiner Lage zugleich auch das Gleichgewicht von ganz Europa dadurch gehoben würde«. Gewiß eine unwidersprechliche Wahrheit. Nur Frankreich und Italien können sich im Verhältnis der Bevölkerung zur Größe des Landes mit Deutschland messen. Dieses weite Reich hat noch lange nicht den Grad von Anbau erreicht, dessen es fähig ist; nicht einmal jenen, den unser Vater­ land schon erreicht hat. Der Hubertusburger Friede (1763) war die Epoche seiner Kultur. Erst seit dieser Zeit ward der Acker­ bau und Kunstfleiß allgemein. Deutschland macht ungleich schnellere und größere Schritte zu seinem Anbau als irgendein anderes europäisches Reich. Auf einmal strengte es alle seine Kräfte an, um die Lücken auszufüllen, welche die verheerenden Kriege seit Gustav Adolf in seinem Busen gemacht haben. Selbst die Zerteilung, die ihm im äußeren Gebrauch seiner Kräfte so nachteilig ist, beförderte den inneren Anbau. Nun 127

wetteifern die Fürsten Deutschlands in Verbesserung des Justizwesens, der Polizei, Erziehung, in Aufmunterung zu In­ dustrie und Handel, wie sie ehedem in Pracht und leerem Ge­ pränge miteinander wetteiferten. Nirgends ist man über den Wert der Menschen und ihrer verschiedenen Beschäftigungen so aufgeklärt, und nirgends bestrebt man sich mehr, diesen Wert geltend zu machen, als in Deutschland. Über die Gesetz­ gebung und das Interesse eines Staates hat man in den meisten Teilen dieses Reiches ein wohltätiges Licht verbreitet, welches nicht nur, wie in vielen Ländern, besonders in Frankreich, die Lücken sehen läßt, sondern auch die Fürsten und ihre Bedien­ ten zur Verbesserung der Mängel erwärmt. Ohne Widerrede hat Deutschland, so wie ganz Europa, dem jetzigen König von Preußen ungemein viel zu verdanken. Er war in neuern Zeiten der erste praktische Philosoph auf dem Thron. Er gab die Losung zu der glücklichen Revolution, die Deutschland seit zwanzig Jahren umgeschaffen hat. Er war es, der seine Nachbarn lehrte, daß das Interesse des Regenten mit jenem seiner Untertanen parallel läuft. Er fing an, die Hülle abzustreifen, womit Religion, Gerechtigkeit und Politik be­ deckt waren. Er stürzte die kleinen Tyrannen, die Geistlichen und Adeligen, die sich auf Kosten des Bürgers und Bauern mästeten, und so militärisch auch die Verfassung seines Staates dem Anschein nach ist, so hat doch Deutschland dieser so fürchterlichen Verfassung und den Kopien derselben eine Frie­ densepoche von zwanzig Jahren zu verdanken, worin es sich zu fühlen begann und die es seit Jahrhunderten nicht genoß. Die Gesetzgebung ist jetzt Deutschlands größter Stolz. Sie ist auch ohne Widerrede der Gipfel der Philosophie und alles menschlichen Wissens. Sie allein kann uns glücklich machen. Religion, Erziehung, ja sogar das Klima stehen ihr zu Gebot. Sie allein schafft den gesellschaftlichen Menschen und bestimmt seinen Wert. Und wie stolz muß nicht Deutschland auf Fried­ rich, Joseph und Katharina sein, drei gleichzeitig gesetzgeberi­ sche Genies, wie sonst Jahrtausende kaum eines zeugen konn­ ten! Nebst diesen großen Regenten, die Millionen ihrer Lands­ leute und Ausländer glücklich machen, hat Deutschland noch mehrere Genies dieser Art, die nur durch Eingeschränktheit ihres Wirkungskreises von jenen verschieden sind. Die Philosophie scheint überhaupt die Sache der Deutschen zu sein. Kalte und richtige Beurteilung, verbunden mit unermü­ detem Fleiß, zeichnet sie vor allen anderen Europäern aus. Erst 128

warfen sie Licht über die Mathematik und Physik, worin wir ihnen so viel zu danken haben, dann beleuchteten sie die Theo­ logie, dann die Geschichte und endlich die Gesetzgebung mit dem nämlichen philosophischen Geist. Sie tun wohl daran, wenn sie anderen Nationen die Spiele des Witzes überlassen, worin sie es denselben doch schwerlich gleichtun können. Wenn sich Deutschland ganz geltend machen könnte; wenn es unter einem Regenten vereint wäre; wenn nicht das gegensei­ tige Interesse der einzelnen Fürsten gar oft dem Wohl des Gan­ zen widerspräche; wenn alle Teile genau in einen Körper ver­ bunden wären, daß die überflüssigen Säfte eines Teiles leicht in die anderen Glieder geleitet werden könnten, so würde das Reich noch viel schnellere Schritte zu seiner Kultur machen können. Aber dann könnte Deutschland auch ganz Europa Ge­ setze vorschreiben. Wie mächtig sind nicht schon die Häuser Österreich und Brandenburg, deren größte Stärke auf ihren deutschen Staaten beruht und die doch bei weitem nicht die Hälfte und auch nicht den besten Teil von Deutschland besit­ zen! Man denke sich dieses Reich in der Lage, wo keine Akzi­ sen den inneren Handel der verschiedenen Provinzen erschwer­ ten, keine Zölle die Ausfuhr in die übrige Welt hemmten; wo so ungeheure Summen für ausländische Waren, die Deutschland selbst liefert, erspart würden; wo es eine Seemacht bilden könn­ te, wozu es die günstigste Lage und alle Bedürfnisse in Überfluß hat; wo es die Kolonisten, die es so häufig für fremde Staaten liefert, für sich selbst benutzte - welches europäische Reich könnte sich mit den Deutschen messen? Der Charakter der Menschen ist größtenteils das Resultat der Regierung. Der Charakter der Deutschen ist im ganzen so we­ nig glänzend als die Verfassung ihres Reiches. Sie haben nichts von dem Nationalstolz und der Vaterlandsliebe, wodurch sich die Briten, Spanier und unsere Landsleute auszeichnen, so sehr auch ihre Dichter seit einiger Zeit diese Charakterzüge besin­ gen. Ihr Stolz und ihr vaterländisches Gefühl beziehen sich bloß auf den Teil von Deutschland, worin sie geboren sind. Gegen ihre übrigen Landsleute sind sie so fremd als gegen jeden Aus­ länder. Im Gegenteil, in vielen Gegenden Deutschlands ist man ungleich mehr für einige fremde Nationen eingenommen als für seine eigenen Landsleute. Das Gefühl der Schwäche der kleineren Völkerschaften Deutschlands dämpft den Nationalstolz. Auch bloß deswegen, weil Deutschland seine Kräfte nicht vereint gebrauchen und 129

seine Stärke andere Nationen fühlen lassen kann, werden seine Einwohner von anderen Völkern verachtet, die nichts voraus­ haben als eine festere Verbindung unter sich oder eine lächerli­ che Eitelkeit. Wir beurteilen die Menschen selten nach ihrem inneren Wert, sondern bloß nach ihrem äußeren Bezug. Wir schätzen den Russen, Briten und so weiter nach dem Gewicht der ganzen Nation, aber nicht nach seinen Eigenschaften; und wenn er auch zehnmal mehr Barbar ist als der Deutsche, so macht ihn die Stärke seiner vereinten Landsleute in Bezug auf andere Völker doch schätzbarer in unseren Augen. Wenn der Charakter der Deutschen nicht das Glänzende an­ derer Völker hat, so hat er doch seinen guten inneren Gehalt. Der Deutsche ist der Mann für die Welt. Er baut sich unter jedem Himmel an und besiegt alle Hindernisse der Natur. Sein Fleiß ist unüberwindlich. Polen, Ungarn, Rußland, die engli­ schen und holländischen Kolonien haben den Deutschen viel zu verdanken. Auch sind die ersteren europäischen Staaten einen Teil ihrer Aufklärung den Deutschen schuldig. Nebst dem Fleiß ist die Redlichkeit immer noch ein allgemei­ ner Charakterzug der Deutschen. Die Sitten der Landleute und Bürger in den kleineren Städten sind auch noch lange nicht so verdorben als in Frankreich und anderen Ländern. Sie sind auch eine Ursache, warum Deutschland bei der starken Auswande­ rung noch so bevölkert ist. Übrigens ist Nüchternheit auf Seiten der protestantischen und Freimütigkeit und Gutherzigkeit auf Seiten der katholischen Deutschen ein schöner Charakterzug.

2. Christian Ulrich Detlev Freiherr von Eggers, Deutschlands Erwartungen vom Rheinischen Bunde, 1808 Daß der an Frankreich angelehnte Rheinbund eine Schöpfung Napole­ ons war und mit dessen Reich unterging, hatte zur Folge, daß die deutsche Geschichtswissenschaft dieses Gebilde später ganz überwie­ gend unter dem Blickwinkel des Verrats an der deutschen nationalen Sache dargestellt hat. Tatsächlich war aber die deutsche Frage in der napoleonischen Ära noch so offen, daß auch der Rheinbund, in seinen Reformansätzen vielfach liberaler als Preußen oder Österreich, als Rah­ men künftiger nationaler Einheit gedacht werden konnte, wie diese Flugschriften des Juristen von Eggers, als Berater der österreichischen Regierung separatistischer Neigungen unverdächtig, ausweist. Der Text ist auf dem Hintergrund der Tradition des »Dritten Deutschland«

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zu verstehen, der deutschen Mittelstaaten und Reichsstädte, die sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in steter Gefahr gesehen hatten, von den Großmächten Preußen oder Österreich majorisiert zu werden, und in denen sich der ältere Reichspatriotismus und der Stolz darauf, anders als die deutschen Vormächte ausschließlich deutsche Territorien zu umfassen, noch längere Zeit halten sollten. Quelle: Die Erhebung gegen Napoleon 1806-1814/15. Hrsg. v. Hans-Bernd Spies. Darmstadt 1981, S. 60-70 (Auszug).

Vor allen Dingen sollte man bei allen Unterthanen der Fürsten des Rheinischen Bundes die Idee der Einheit des Staats zu er­ wecken und zu nähren suchen. Sie ist von der größten Wichtigkeit für die Macht des Bundes, für die Kultur der Nazion, für den Wohlstand der Einzelnen. In einem gewissen Sinn liegt sie selbst in der Natur, wie sehr auch oft politische Einrichtungen wieder davon abziehen. Baiern, Sachsen, Franken, Schwaben, Rheinländer, Westfalinger - sie reden und schreiben doch alle Deutsch, haben doch viele gemeinschaftliche Sitten, Bedürfnisse, Verbindungen. Jetzt umschlingt sie alle Ein politisches Band, das ihnen gegen Aus­ wärtige die Einheit des Staats wieder giebt, welche Deutschland schon seit dreihundert Jahren verloren hatte. Dieses Ereigniß ist entscheidend, kann die wichtigsten Folgen haben, wenn die Re­ genten es in allen seinen Ausflüssen gehörig benutzen. Alle diese Staaten haben von nun an nur ein gemeinschaftli­ ches Interesse gegen auswärtige: sie haben unter sich nur das der Eintracht, des Genusses. Läßt sich eine glücklichere Bun­ desfeste denken? Was sollte nun auch die Völker abhalten, sich als Zweige eines Stammes zu betrachten? als wiedergeborene Deutsche? Dahin müssen die Regierungen zu wirken suchen, jede in ihrem Kreise. Nichts darf vernachlässigt werden, was zu diesem großen Ziele führen kann. In einem solchen Verhältniß ist nichts gleichgültig, was einen Einfluß auf die Meinung hat. Man sollte jetzt schon den Namen ändern. Der Rheinische Bund ward für einen weit beschränkteren Kreis errichtet. Er ist jetzt der wahre germanische Bund. Die Länder, die sonst noch zu Deutschland gehörten, sind nun andern Staaten einverleibt, bis auf wenige noch, die noch ihre endliche Bestimmung erwar­ ten. Ihre Bewohner haben aufgehört Deutsche zu seyn. Oester­ reich und Preußen sind jetzt eben so sehr interessirt, daß ihre Unterthanen sich nur als Oesterreicher und Preußen ansehen,

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als die Fürsten des Rheinischen Bundes wünschen müssen, daß ihre Unterthanen sich wieder verbündete Deutsche glauben, ja für die einzigen Deutschen halten. Die Unterthanen der einzelnen Fürsten müssen alle für Bür­ ger eines Staats gelten; alle gleiche Rechte in den andern Län­ dern genießen. Kein Indigenatsgesetz, kein ausschließliches Bürgerrecht, kein Abzugsrecht unter den Bundesstaaten. Sehr wünschenswerth wäre es, in der Konstitutionsakte ge­ meinschaftliche Einrichtungen anzuordnen, welche diese Idee der Einheit stets versinnlichten. Des Bundes-Tribunals habe ich schon oben gedacht. Es müß­ te seinen Sitz in des Fürsten Primas Residenz haben. Diese Residenz sollte für die Hauptstadt des Bundes gelten. Allgemeine Versammlungen würden immer dort gehalten. Man müßte eine germanische Akademie der Wissenschaften errichten. Gäbe es einen günstigeren Zeitpunkt, als den jetzi­ gen, wo ein Dalberg den Vorsitz übernehmen würde? In allen einzelnen Ländern sollte jährlich ein Bundesfest ge­ feiert werden. Man könnte auch einen gemeinschaftlichen Ritterorden stif­ ten, zur Belohnung des ausgezeichneten Verdienstes jeder Art. Jeder Fürst hätte das Recht den Orden auszutheilen, an mehrere oder wenigere, nach Verhältniß seines Staats zu der Totalität. Natürlicherweise sind dies nur Beispiele - hingeworfen, um die Idee anschaulich zu machen. Wer die Menschen kennt, und sich für den Bund interessirt, dürfte sie der Aufmerksamkeit nicht unwerth finden.

3. Johann Gottlieb Fichte, Aus der 14. Rede an die deutsche Nation, 1807/08 Fichtes öffentliche Vorlesung >Reden an die deutsche Nation« im Win­ ter 1807/1808 ist die Sensation der Berliner Saison; die Gebildeten aller Stände, Soldaten, Bürger und Beamte, sitzen ihm zu Füßen und sind entflammt, während die fast gleichzeitige Drucklegung der Reden auf Schwierigkeiten mit der Zensur stößt, sie gleichwohl sofort enorme Auflagenziffern erreichen. Fichte sieht nach dem Untergang des alten Preußen und aufgrund der napoleonischen Okkupation den Anbruch eines neuen Zeitalters gekommen; das »Urvolk« der Deutschen hat jetzt die Chance, durch Nationalerziehung zur Entfaltung seiner Na-

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tionalität gebracht zu werden. Sind erst die Deutschen zu ihrer nationa­ len Selbstbestimmung gelangt, wird ihre Aufgabe die Befreiung der Menschheit sein. Die Reden Fichtes schüren den erwachenden nationa­ len Geist in Preußen, stoßen aber wegen der Betonung von Volk und Nation als dem Staat Vorangehendes am Hof und in konservativen Kreisen auf Ablehnung. Von 1814 bis 1824 sind die >Reden an die deutsche Nation< verboten. Quelle: Fichtes Reden an die deutsche Nation. Hrsg. v. Rudolf Eucken. Leipzig 1915, S. 249-254.

Es sind Jahrhunderte herabgesunken, seitdem ihr nicht also zu­ sammenberufen worden seid, wie heute; in solcher Anzahl; in einer so großen, so dringenden, so gemeinschaftlichen Angele­ genheit; so durchaus als Nation und Deutsche. Auch wird es euch niemals wiederum also geboten werden. Merket ihr jetzo nicht auf und gehet in euch, lasset ihr auch diese Reden wieder als einen leeren Kitzel der Ohren, oder als ein wunderliches Ungetüm an euch vorübergehen, so wird kein Mensch mehr auf euch rechnen. Endlich einmal höret, endlich einmal besinnt euch. Geht nur dieses Mal nicht von der Stelle, ohne einen festen Entschluß gefaßt zu haben; und jedweder, der diese Stimme vernimmt, fasse diesen Entschluß bei sich selbst und für sich selbst, gleich als ob er allein da sei, und alles allein tun müsse. Wenn recht viele einzelne so denken, so wird bald ein großes Ganzes dastehen, das in eine einige eng verbundene Kraft zusammenfließe. Wenn dagegen jedweder, sich selbst aus­ schließend, auf die übrigen hofft, und den andern die Sache überläßt; so gibt es gar keine anderen, und alle zusammen blei­ ben, so wie sie vorher waren. - Fasset ihn auf der Stelle, diesen Entschluß. Saget nicht, laßt uns noch ein wenig ruhen, noch ein wenig schlafen und träumen, bis etwa die Besserung von selber komme. Sie wird niemals von selbst kommen. Wer, nachdem er einmal das Gestern versäumt hat, das noch bequemer gewesen wäre zur Besinnung, selbst heute noch nicht wollen kann, der wird es morgen noch weniger können. Jeder Verzug macht uns nur noch träger, und wiegt uns nur noch tiefer ein in die freund­ liche Gewöhnung an unsern elenden Zustand. Auch können die äußeren Antriebe zur Besinnung niemals stärker und dringen­ der werden. Wen diese Gegenwart nicht aufregt, der hat sicher alles Gefühl verloren. - Ihr seid zusammenberufen, einen letz­ ten und festen Entschluß und Beschluß zu fassen; keineswegs etwa zu einem Befehle, einem Auftrage, einer Anmutung an andere, sondern zu einer Anmutung an euch selber. Eine Ent-

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Schließung sollt ihr fassen, die jedweder nur durch sich selbst und in seiner eignen Person ausführen kann. Es reicht hierbei nicht hin, jenes müßige Vorsatznehmen, jenes Wollen, irgend einmal zu wollen, jenes träge Sichbescheiden, daß man sich darein ergeben wolle, wenn man etwa einmal von selber besser würde; sondern es wird von euch gefordert ein solcher Ent­ schluß, der zugleich unmittelbar Leben sei und inwendige Tat, und der da ohne Wanken oder Erkältung fortdaure und fort­ walte, bis er am Ziele sei. Oder ist vielleicht in euch die Wurzel, aus der ein solcher in das Leben eingreifender Entschluß allein hervorwachsen kann, völlig ausgerottet und verschwunden? Ist wirklich und in der Tat euer ganzes Wesen verdünnet, und zerflossen zu einem hohlen Schatten, ohne Saft und Blut und eigene Bewegkraft; und zu einem Traume, in welchem zwar bunte Gesichter sich erzeugen und geschäftig einander durchkreuzen, der Leib aber todähnlich und erstarrt daliegen bleibt? Es ist dem Zeitalter seit langem unter die Augen gesagt, und in jeder Einkleidung ihm wiederholt worden, daß man ohngefähr also von ihm denke. Seine Wortführer haben geglaubt, daß man dadurch nur schmä­ hen wolle, und haben sich für aufgefordert gehalten, auch von ihrer Seite wiederum zurückzuschmähen, wodurch die Sache wieder in ihre natürliche Ordnung komme. Im übrigen hat nicht die mindeste Änderung oder Besserung sich spüren lassen. Habt ihr es vernommen, ist es fähig gewesen, euch zu entrü­ sten; nun, so strafet doch diejenigen, die so von euch denken und reden, geradezu durch eure Tat der Lüge: zeiget euch an­ ders vor aller Welt Augen, und jene sind vor aller Welt Augen der Unwahrheit überwiesen. Vielleicht, daß sie gerade in der Absicht, von euch also widerlegt zu werden, und weil sie an jedem andern Mittel, euch aufzuregen, verzweifelten, also hart von euch geredet haben. Wie viel besser hätten sie es sodann mit euch gemeint, als diejenigen, die euch schmeicheln, damit ihr erhalten werdet in der trägen Ruhe, und in der nichtsachtenden Gedankenlosigkeit. So schwach und so kraftlos ihr auch immer sein möget, man hat in dieser Zeit euch die klare und ruhige Besinnung so leicht gemacht, als sie vorher niemals war. Das, was eigentlich in die Verworrenheit über unsre Lage, in unsre Gedankenlosigkeit, in unser blindes Gehenlassen, uns stürzte, war die süße Selbstzu­ friedenheit mit uns, und unsrer Weise dazusein. Es war bisher gegangen, und ging eben so fort; wer uns zum Nachdenken 134

aufforderte, dem zeigten wir, statt einer anderen Widerlegung, triumphierend unser Dasein und Fortbestehen, das sich ohne alles unser Nachdenken ergab. Es ging aber nur darum, weil wir nicht auf die Probe gestellt wurden. Wir sind seitdem durch sie hindurchgegangen. Seit dieser Zeit sollten doch wohl die Täu­ schungen, die Blendwerke, der falsche Trost, durch die wir alle uns gegenseitig verwirrten, zusammengestürzt sein? - Die angebornen Vorurteile, welche, ohne von hier oder da auszugehen, wie ein natürlicher Nebel über alle sich verbreiteten, und alle in dieselbe Dämmerung einhüllen, sollten doch wohl nun ver­ schwunden sein? Jene Dämmerung hält nicht mehr unsre Au­ gen, sie kann uns aber auch nicht ferner zur Entschuldigung dienen. Jetzt stehen wir da, rein, leer, ausgezogen von allen fremden Hüllen und Umhängen, bloß als das, was wir selbst sind. Jetzt muß es sich zeigen, was dieses Selbst ist, oder nicht ist. Es dürfte jemand unter euch hervortreten, und mich fragen: was gibt gerade Dir, dem einzigen unter allen deutschen Män­ nern und Schriftstellern, den besondern Auftrag, Beruf und das Vorrecht, uns zu versammeln und auf uns einzudringen? hätte nicht jeder unter den Tausenden der Schriftsteller Deutschlands ebendasselbe Recht dazu, wie du; von denen keiner es tut, son­ dern du allein dich hervordrängst? Ich antworte, daß allerdings jeder dasselbe Recht gehabt hätte, wie ich, und daß ich gerade darum es tue, weil keiner unter ihnen es vor mir getan hat; und daß ich schweigen würde, wenn ein anderer es früher getan hätte. Dies war der erste Schritt zu dem Ziele einer durchgrei­ fenden Verbesserung, irgendeiner mußte ihn tun. Ich war der, der es zuerst lebendig einsah; darum wurde ich der, der es zuerst tat. Es wird nach diesem irgendein anderer Schritt der zweite sein; diesen zu tun haben jetzt alle dasselbe Recht; wirk­ lich tun aber wird ihn abermals nur ein einzelner. Einer muß immer der erste sein, und wer es sein kann, der sei es eben! Ohne Sorge über diesen Umstand verweilet ein wenig mit eurem Blicke bei der Betrachtung, auf die wir schon früher euch geführt haben, in welchem beneidenswürdigen Zustande Deutschland sein würde, und in welchem die Welt, wenn das erstere das Glück seiner Lage zu benutzen, und seinen Vorteil zu erkennen gewußt hätte. Heftet darauf euer Auge auf das, was beide nunmehro sind, und lasset euch durchdringen von dem Schmerz und dem Unwillen, der jeden Edlen hierbei erfassen muß. Kehret dann zurück zu euch selbst, und sehet, daß Ihr es 135

seid, die die Zeit von den Irrtümern der Vorwelt lossprechen, von deren Augen sie den Nebel hinwegnehmen will, wenn ihr es zulaßt; daß es Euch verliehen ist, wie keinem Geschlechte vor Euch, das Geschehene ungeschehen zu machen, und den nicht ehrenvollen Zwischenraum auszutilgen aus dem Ge­ schichtsbuche der Deutschen. Lasset vor euch vorübergehen die verschiedenen Zustände, zwischen denen ihr eine Wahl zu treffen habt. Gehet ihr ferner so hin in eurer Dumpfheit und Achtlosigkeit, so erwarten euch zunächst alle Übel der Knechtschaft, Entbehrungen, Demüti­ gungen, der Hohn und Übermut des Überwinders; ihr werdet herumgestoßen werden in allen Winkeln, weil ihr allenthalben nicht recht, und im Wege seid, solange, bis ihr, durch Aufopfe­ rung eurer Nationalität und Sprache, euch irgendein unterge­ ordnetes Plätzchen erkauft, und bis auf diese Weise allmählich euer Volk auslöscht. Wenn ihr euch dagegen ermannt zum Auf­ merken, so findet ihr zuvorderst eine erträgliche und ehrenvolle Fortdauer, und sehet noch unter euch und um euch herum ein Geschlecht aufblühen, das euch und den Deutschen das rühm­ lichste Andenken verspricht. Ihr sehet im Geiste durch dieses Geschlecht den deutschen Namen zum glorreichsten unter allen Völkern erheben, ihr sehet diese Nation als Wiedergebärerin und Wiederherstellerin der Welt. Es hängt von euch ab, ob ihr das Ende sein wollt und die letzten eines nicht achtungswürdigen und bei der Nachwelt ge­ wiß sogar über die Gebühr verachteten Geschlechts, bei dessen Geschichte die Nachkommen, falls es nämlich in der Barbarei, die da beginnen wird, zu einer Geschichte kommen kann, sich freuen werden, wenn es mit ihnen zu Ende ist, und das Schick­ sal preisen werden, daß es gerade sei; oder ob ihr der Anfang sein wollt und der Entwicklungspunkt einer neuen, über alle eure Vorstellungen herrlichen Zeit, und diejenigen, von denen an die Nachkommenschaft die Jahre ihres Heils zähle. Beden­ ket, daß ihr die letzten seid, in deren Gewalt diese große Verän­ derung steht. Ihr habt doch noch die Deutschen als Eins nennen hören, ihr habt ein sichtbares Zeichen ihrer Einheit, ein Reich und einen Reichsverband gesehen, oder davon vernommen, un­ ter euch haben noch von Zeit zu Zeit Stimmen sich hören las­ sen, die von dieser hohem Vaterlandsliebe begeistert waren. Was nach euch kommt, wird sich an andere Vorstellungen ge­ wöhnen, es wird fremde Formen, und einen anderen Geschäfts­ und Lebensgang annehmen; und wie lange wird es noch dauern, 136

daß keiner mehr lebe, der Deutsche gesehen, oder von ihnen gehört habe? Was von euch gefordert wird, ist nicht viel. Ihr sollt es nur über euch erhalten, euch auf kurze Zeit zusammenzunehmen und zu denken über das, was euch unmittelbar und offenbar vor den Augen liegt. Darüber nur sollt ihr euch eine feste Meinung bilden, derselben treu bleiben und sie in eurer nächsten Umge­ bung auch äußern und aussprechen. Es ist die Voraussetzung, es ist unsre sichere Überzeugung, daß der Erfolg dieses Denkens bei euch allen auf die gleiche Weise ausfallen werde, und daß, wenn ihr nur wirklich denket, und nicht hingeht in der bisheri­ gen Achtlosigkeit, ihr übereinstimmend denken werdet; daß, wenn ihr nur überhaupt Geist euch anschaffet, und nicht in dem bloßen Pflanzenleben verharren bleibt, die Einmütigkeit und Eintracht des Geistes von selbst kommen werde. Ist es aber einmal dazu gekommen, so wird alles übrige, was uns nötig ist, sich von selbst ergeben.

4. Wilhelm von Humboldt, Denkschrift über die deutsche Ver­ fassung, Dezember 1813 Wilhelm von Humboldt, mehr Philosoph und Sprachwissenschaftler als Politiker, ist zur Zeit der Entstehung dieser Denkschrift preußischer Botschafter in Wien. Es war weitgehend sein Verdienst, daß Österreich auf der Seite Preußens und Rußlands in den Freiheitskrieg eintrat. Die Niederlage Napoleons ist bereits absehbar, und der Zusammentritt der siegreichen Mächte in Wien zur Neuordnung Deutschlands und Euro­ pas steht bevor. In dieser Denkschrift an den Freiherrn vom Stein entwirft der Verfasser das noch durchaus aus dem Geist der klassischen deutschen Bildungselite stammende Bild der deutschen Kulturnation, die in der steten Spannung zwischen ihrem nationalen Einheitstraum und der bildungs- und kulturfördernden »Provinzial-Selbständigkeit« der Regionen steht. Die Bindung zwischen den deutschen Staaten soll also über ein Staatenbündnis nicht hinausgehen, in dem Preußen und Österreich, als einzige militärisch wirklich zählende Bundesmitglieder, gemeinsam die Vorherrschaft innehaben. Tatsächlich ist manches von Humboldts Entwürfen in das Grundkonzept des Deutschen Bundes eingegangen. Humboldt rechnet allerdings noch mit dem Patriotismus der deutschen Bürger als legitimierende Grundlage des kommenden deutschen Staatenvereins, nicht mit der späteren Gegnerschaft zwi­ schen Deutschem Bund und Nationalbewegung.

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Quelle: Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden. Hrsg. v. Andreas Flitner, Klaus Giel. Bd. 4, Stuttgart 1964, S. 302-322 (Auszug).

Eine wahrhaft sichere Verbindung kann nur durch physischen Zwang oder moralische Nöthigung zu Stande gebracht werden. Die Politik ist aber gerade so angethan, daß sie auf die letztere wenig rechnen kann, wenn sie nicht den ersteren im Hinter­ gründe zeigt, und wie nöthig und wirksam dieses Zeigen sey, hängt immer gar sehr zugleich von der zufälligen Verknüpfung der Umstände ab. Sie darf also nie auf Mittel denken, die gleich­ sam absolut sichernd seyn sollen, sondern nur auf solche, wel­ che sich jener Verknüpfung, so wie sie in sich wahrscheinlich ist, am besten anschmiegen, und sie am natürlichsten beherr­ schen. In die Möglichkeit einer Ungewißheit des Erfolges muß man sich immer ergeben, und nicht vergessen, daß der Geist, welcher eine Einrichtung gründet, immer fort nothwendig ist, sie zu erhalten ... Wenn man aber über den zukünftigen Zustand Deutschlands redet, muß man sich wohl hüten, bei dem beschränkten Ge­ sichtspunkte stehen zu bleiben, Deutschland gegen Frankreich sichern zu wollen. Wenn auch in der That der Selbständigkeit Deutschlands nur von dorther Gefahr droht, so darf ein so einseitiger Gesichtspunkt nie zur Richtschnur bei der Grundle­ gung zu einem dauernd wohltätigen Zustand für eine große Nation dienen. Deutschland muß frey und stark seyn, nicht bloß, damit es sich gegen diesen oder jenen Nachbar, oder über­ haupt gegen jeden Feind vertheidigen könne, sondern deswe­ gen, weil nur eine, auch nach außenhin starke Nation den Geist in sich bewahret, aus dem auch alle Segnungen im Innern strö­ men, es muß frey und stark seyn, um das, auch wenn es nie einer Prüfung ausgesetzt würde, nothwendige Selbstgefühl zu nähren, seiner Nationalentwicklung ruhig und ungestört nach­ zugehen und die wohltätige Stelle, die es in der Mitte der euro­ päischen Nationen für dieselben einnimmt, dauernd behaupten zu können. Von dieser Seite angesehen, kann die Frage nicht zweifelhaft seyn, ob die verschiedenen deutschen Staaten einzeln fortbeste­ hen, oder ein gemeinschaftliches Ganzes bilden sollen? Die kleineren Fürsten Deutschlands bedürfen einer Stütze, die grö­ ßeren einer Anlehnung, und selbst Preußen und Oesterreich ist es wohlthätig, sich als Theile eines größeren, und, allgemein 138

genommen, noch wichtigeren Ganzen anzusehen. Dies aus großmüthigem Schutz und bescheidener Unterordnung zusam­ mengesetzte Verhältniß bringt eine größere Billigkeit und All­ gemeinheit in ihre, auf ihr eignes Interesse gerichteten Ansich­ ten. Auch läßt sich das Gefühl, daß Deutschland ein Ganzes ausmacht, aus keiner deutschen Brust vertilgen, und es beruht nicht bloß auf Gemeinsamkeit der Sitten, Sprache und Literatur (da wir es nicht in gleichem Grade mit der Schweiz, und dem eigentlichen Preußen theilen), sondern auf der Erinnerung an gemeinsam genossene Rechte und Freiheiten, gemeinsam er­ kämpften Ruhm und bestandene Gefahren, auf dem Andenken einer engeren Verbindung, welche die Väter verknüpfte, und die nur noch in der Sehnsucht der Enkel lebt. Das vereinzelte Da­ sein der sich selbst überlassenen deutschen Staaten (selbst wenn man die ganz kleineren größeren anfügte), würde die Masse der Staaten, die gar nicht oder schwer auf sich selbst ruhen können, auf eine dem Europäischen Gleichgewichte gefährliche Weise vermehren, die größeren deutschen Staaten, selbst Oesterreich und Preußen, in Gefahr bringen, und nach und nach alle deut­ sche Nationalität untergraben. Es liegt in der Art, wie die Natur Individuen in Nationen vereinigt, und das Menschengeschlecht in Nationen absondert, ein überaus tiefes und geheimnisvolles Mittel, den Einzelnen, der für sich nichts ist, und das Geschlecht, das nur im Einzelnen gilt, in dem wahren Wege verhältnismäßiger und allmähliger Kraftentwickelung zu erhalten; und obgleich die Politik nie auf solche Ansichten einzugehen braucht, so darf sie sich doch nicht vermessen, der natürlichen Beschaffenheit der Dinge ent­ gegenzuhalten. Nun aber wird Deutschland in seynen, nach den Zeitumständen erweiterten, oder verengerten Gränzen immer, im Gefühle seiner Bewohner, und vor den Augen der Fremden, Eine Nation, Ein Volk, Ein Staat bleiben. Die Frage kann also nur die seyn: wie soll man wieder aus Deutschland ein Ganzes schaffen? Könnte die alte Verfassung wieder hergestellt werden, so wä­ re nichts so wünschenswerth, als dies; und hätte nur fremde Gewalt ihre, in sich rüstige Kraft unterdrückt, so würde sie sich wieder auf Federkraft emporheben. Aber leider war ihr eigenes langsames Ersterben selbst hauptsächlich Ursache ihrer Zerstö­ rung durch äußere Gewalt, und jetzt, wo diese Gewalt ver­ schwindet, strebt keiner ihrer Theile anders als durch ohnmäch­ tige Wünsche nach ihrer Wiedererweckung. Von enger Verbin-

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düng, von strenger Unterordnung der Glieder unter dem Ober­ haupt war durch das Losreißen dieses und jenes Theils ein lockres zusammenhängendes Ganzes geworden, in dem, ungefähr, seit der Reformation, alle Theile auseinanderstrebten. Wie soll daraus das entgegengesetzte Streben hervorgehen, dessen wir jetzt so dringend bedürfen? ... Es giebt nur zwei Bindungsmittel für ein politisches Ganzes; eine wirkliche Verfassung, oder einen bloßen Verein. Der Un­ terschied zwischen beiden (nicht gerade an sich, aber für den gegenwärtigen Endzweck bestimmt) liegt darin, daß in der Ver­ fassung einigen Theilen die Zwangsrechte anschließend beige­ legt werden, welche bei dem Verein, Allen gegen den Übertreter zustehen. Eine Verfassung ist unstreitig einem Verein vorzuzie­ hen; sie ist feierlicher, bindender, dauernder ... Auf die Frage: soll Deutschland eine wahre Verfassung erhal­ ten? läßt sich daher meines Erachtens nur so antworten. Spre­ chen zu der Zeit, wo die Frage entschieden werden muß, Haupt und Glieder aus, daß sie Haupt und Glieder seyn wollen, so folge man der Anzeige, und leite nur, und beschränke. Ist das aber nicht, verlautet nichts, als das kalte Verstandesurtheil, daß ein Band für das Ganze da seyn muß, so bleibe man bescheiden beim Geringeren stehen, und bilde bloß einen Staatenverein, einen Bund ... Fragt man sich nun, was eigentlich die bindenden und erhal­ tenden Principien in einer, durch bloße Schutzbündnisse gebil­ deten Vereinigung Deutschlands seyn sollen? so kann ich bloß folgende, allerdings wohl sehr starke, allein freilich meist mora­ lische nennen: die Übereinstimmung Oesterreichs und Preußens; das Inter­ esse der größesten unter den übrigen Deutschen Staaten; die Unmöglichkeit der kleineren gegen sie, und Oesterreich und Preußen aufzukommen; den wieder erweckten, und durch Frei­ heit und Selbständigkeit zu erhaltenden Geist der Nation; und die Gewährleistung Rußlands und Englands. Die feste, durchgängige, nie unterbrochene Übereinstim­ mung und Freundschaft Oesterreichs und Preußens ist allein der Schlußstein des ganzen Gebäudes. Diese Übereinstimmung kann ebensowenig durch den Verein versichert, als der Verein, wenn sie mangelte, erhalten werden. Es ist der beste Punkt außerhalb des Bundes, der gegeben seyn muß, um ihn zu schlie­ ßen; und da er durchaus ein politischer ist, ruht er auch auf einem rein politischen Princip. Gerade, aber indem man in das 140

Verhältniß Oesterreichs und Preußens schlechterdings nicht mehr Verpflichtendes bringt, als jedes Bündnis enthält, und dieselbe zur Grundlage der Wohlfahrt des gesammten Deutschlands macht, welche ihre eigene in sich begreift; ver­ stärkt man sie durch das Gefühl der Freiheit und Nothwendigkeit; wozu sich die Abwesenheit alles Grundes zu einem ausschließenden Interesse gesellt, da zwischen beiden Mäch­ ten weder Unterordnung, noch Theilung der Gewalt gestattet wird. Die nach Oesterreich und Preußen größesten Staaten müssen groß seyn, damit sie sich über alles Mißtrauen, und alle Furcht vor ihren nächsten Nachbarn erheben, ihr Gewicht zur Vertheidigung der Unabhängigkeit des Ganzen fühlen, und, frei von eignen Besorgnissen, nur die gemeinschaftlichen zu entfernen bedacht sind. In diesem Falle könne sich nur Baiern und Han­ nover befinden. Die mittleren, wie Hessen, Württemberg, Darmstadt u. a. m. waren, müssen dagegen in ihren alten Schranken gehalten werden. Ihre geringe Größe erlaubt nicht, sie über alle kleinliche und einseitige Ansichten erhaben voraus­ setzen; und eine fremde Macht muß daher ein großes Interesse finden, einen einzelnen davon mit sich zu verbinden ... Die Vertheidigung gegen eine fremde Macht könnte aller­ dings, insofern man Einheit unter den Wenigen voraussetzen darf, bei einer Theilung Deutschlands in vier, oder fünf große Staaten gewinnen. Allein Deutschland hat, mehr als jedes ande­ re Reich, offenbar eine doppelte Stelle in Europa eingenommen. Nicht gleich wichtig als politische Macht, ist es von dem wohlthätigsten Einfluß durch seine Sprache, Litteratur, Sitten und Denkungsart geworden; und man muß jetzt diesen letzteren Vorzug nicht aufopfern, sondern, wenn auch mit Ueberwindung einiger Schwierigkeit mehr, mit dem ersteren verbinden. Nun aber dankt man jenen ganz vorzüglich der Mannigfaltig­ keit der Bildung, welche durch die große Zerstückelung ent­ stand, und würde ihnen, wenn sie ganz aufhörte, großentheils einbüßen. Der Deutsche ist sich nur bewußt, daß er ein Deut­ scher ist, indem er sich als Bewohner eines besonderen Landes in dem gemeinsamen Vaterlande fühlt, und seine Kraft und sein Streben werden gelähmt, wenn er, mit Aufopferung seiner Provincial-Selbständigkeit, einem fremden, ihn durch nichts an­ sprechenden Ganzen beigeordnet wird. Auch auf den Patriotis­ mus hat dies Einfluß, und sogar die Sicherheit der Staaten, für welche der Geist der Bürger die beste Gewährleistung ist, 141

möchte am meisten bei dem Grundsatz gewinnen, jedem seine alten Unterthanen zu lassen. Die Nationen haben, wie die Indi­ viduen, ihre durch keine Politik abzuändernden Richtungen. Die Richtung Deutschlands ist ein Staatenverein zu seyn, und daher ist es weder, wie Frankreich und Spanien, in Eine Masse zusammengeschmolzen, noch hat es, wie Italien, aus unverbun­ denen einzelnen Staaten bestanden. Dahin aber würde die Sache unfehlbar ausarten, wenn man nur vier oder fünf große Staaten fortdauern ließe. Ein Staatenverein fordert eine größere Anzahl, und man hat nur zwischen der nun einmal unmöglichen (und, meiner Meynung nach, keineswegs wünschenswürdigen) Ein­ heit und dieser Mehrheit die Wahl. Zwar kann es wunderbar scheinen, wenn man gerade die Fürsten des Rheinbundes beibe­ hält, und wenn die Herstellung der Gerechtigkeit das Werk der Ungerechtigkeit und Willkühr bestätigt. Allein einzelne Ände­ rungen können immer getroffen werden, und übrigens gewinnt in politischen Gegenständen das einmal Geschehene und seit Jahren Bestehende nicht abzuläugnende Ansprüche - einer der wichtigsten Gründe, sich Ungerechtigkeiten gleich von Anfang standhaft entgegenzusetzen. Ob gerade die Gränze mit Frankreich durch große Staaten gebildet werden soll? scheint mehr eine militärische Frage. Al­ lein die Sicherheit Deutschlands beruht auf der, durch die übri­ gen Deutschen Fürsten vermehrten Stärke Oesterreichs und Preußens, und diese können es freier vertheidigen, wenn sie, mehr entfernt stehend, durch eigne feste Gränzen gesichert, zwischen sich und dem Feinde ein ihrer Aufsicht und ihrem Einfluß unterworfenes Gebiet haben.

5. So viel Mühsahl ist’s, das germanische Volk zu begründen. Artikel aus den >Deutschen Blätterns 10. November 1814 Die von dem Verleger Friedrich Arnold Brockhaus 1813-1816 in Al­ tenburg herausgegebene Wochenzeitschrift >Deutsche Blätter< vereinigt Beiträge der unterschiedlichsten politischen Ansichten. Seit Mitte 1814 nehmen die warnenden und pessimistischen Stimmen hinsichtlich der deutschen Frage zu. Der hier abgedruckte ungezeichnete Artikel sieht das Scheitern der nationalen Wünsche am preußisch-österreichischen Gegensatz voraus und mahnt die preußische Regierung, ihren durch die Reformen erreichten liberalen Vorsprung vor den übrigen deut­ schen Staaten zu bewahren, um für die Zukunft Garant für einen frei-

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heitlichen deutschen Nationalstaat bleiben zu können. Dies ist eine der ersten publizistischen Stimmen, die die Forderung nach dem Zusam­ menhang freiheitlicher Verfassung mit nationalstaatlicher Einheit stellen. Quelle: Deutsche Blätter. Hrsg. v. F. A. Brockhaus. Bd. 5, Alten­ burg 1814, S. 510f. (Auszug).

Aus den obigen Prämissen geht hervor, daß Deutschland noch nicht einmal die erste Epoche eines europäischen Staates über­ standen hat. Es ist kein Land, es ist keine Nation, es ist eine Mischung kleinerer Völkerschaften von einerlei Sprache, und es steht in dieser Hinsicht noch auf derselben Stufe, auf welcher Frankreich und Spanien im löten Jahrhunderte standen. Es hat die erste Geburtsstunde noch nicht überstanden, und scheint hier und da, wo es durch die französische Revolution etwas politisch gebildet wurde, schon an der zweiten Geburtsstunde arbeiten zu wollen. Aber weder in der Natur, noch in der Poli­ tik gibt es einen Sprung. Individuen sowohl, als Völker müssen erst diejenige Bildungsstufe erstiegen haben, welche die Mittel­ sprosse zur Ersteigung einer noch hohem ist, ehe sie die letz­ tem zu erreichen hoffen dürfen. Es entsteht also die Frage, ob der Augenblick jener Epoche der Vereinigung Deutschlands in ein großes Ganze gekommen sey. Der ächte Politiker, der der Nation nicht schmeicheln, sondern aufrichtig seyn will, muß diese Frage leider verneinen. Der Moment scheint günstig, aber er scheint es auch nur. Seit Friedrichs des Großen Genie eine zweite Hauptmacht in Deutschland schuf, ist das früherhin leichter auslösbare Räthsel unauflösbarer geworden als je. Österreich hatte, wie dem Kenner der geheimeren Verhältnisse bekannt ist, schon vor seinem Beitritte zu der großen Allianz Unterhandlungen mit den süddeutschen Höfen auf dem Fuße gepflogen, daß diese, im Falle seines Beitritts, zu den vorigen Verhältnissen gegen Österreich zurückkehren sollten, und wenn auch späterhin diese Macht, gleichsam überdrüssig, das bei ihr einheimisch gewordene Protectorat von Deutschland nur mit Aufopferung ihrer eigenen Kräfte zu führen, ihre Absichten mehr auf das Protectorat von Italien zu richten und in Hinsicht der deutschen Angelegenheiten vielmehr nur ver­ hindern zu wollen schien, daß kein anderer Staat ausschließlich die Herrschaft über Deutschland erlange, so scheint gerade die­ ses Streben am ersten dazu geeignet, Deutschlands erste Epoche der Vereinigung in ein großes Ganze zu entfernen. Was man

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von der zwischen Österreich und Preußen alternirenden Kai­ serwürde gesagt hat, gehört zu jenen hirnlosen Hirngeburten müßiger Stubengelehrten, die ohne Kenntnis der Menschen und der Welt, ohne diplomatische Verbindungen das gutmüthige, aber politisch noch ungebildete deutsche Publicum unterrich­ ten, und die Welt reformiren wollen ... Jetzt scheint der Augenblick gekommen, wo die Nation für soviel Treue und Aufopferung eine gerechte Anerkennung ihrer Würde in einer geläuterten Verfassung, deren Hauptbasis eine nach vernunftgemäßen Grundsätzen eingerichtete und unab­ hängige Repräsentation ist, erwarten darf ... Preußen ist zu weit gegangen, um ohne Gefahr rückwärts zu gehen. Nicht bloß in diesem Augenblicke der Crise seiner Macht muß es sich in dieser revolutionären Stellung erhalten. Es muß diese Ten­ denz und mit ihr die Basis seiner moralischen und politischen Macht vollenden. Alle liberalen Gemüther Deutschlands rich­ ten ihre Blicke auf diesen Stern des Nordens. Was erwarten Sie? Was erwarten überhaupt alle nichtslavischen und nichtsclavischen Völker jetzt von ihren Gewalthabern? Anerkennung des großen Grundsatzes, daß der in einer gleichmäßigen und unab­ hängigen Repräsentation ausgesprochene Nationalwille die Grundlage aller Verfassung sey.

6. Aus der Festrede des Studenten Heinrich Arminius Riemann auf dem Wartburgfest am 18. Oktober 1817 Die Rede des Jenenser Burschenschaftlers Riemann, die zu Beginn des Wartburgfests gehalten wurde, macht deutlich, wie gefühlsstark und zugleich unklar die nationalen Erwartungen der studentischen Teilneh­ mer des Freiheitskrieges sind. Jenseits der metaphernreichen zeitübli­ chen Rhetorik wird der starke Frustrationsstau erkennbar, der eine ganze akademische Generation in eine noch programmatisch undeutli­ che liberalnationale Opposition gegen das Metternichsche System des Deutschen Bundes treiben wird. - Mit dem einzigen Fürsten Deutsch­ lands, der sein gegebenes Wort eingelöst habe, ist Großherzog Carl August von Sachsen-Weimar gemeint, der bereits 1816 in Anlehnung an die französische Charte constitutionelle von 1814 eine Verfassung erlassen hat; die süddeutschen Länderverfassungen folgen erst ab 1818. Quelle: Paul Wentzke, Geschichte der Deutschen Burschenschaft. Bd. 1. Heidelberg 1919, S. 213-215 (Auszug).

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Vier lange Jahre sind seit jener Schlacht (Leipziger Schlacht) verflossen; das Deutsche Volk hatte schöne Hoffnungen gefaßt, sie sind alle vereitelt; Alles ist anders gekommen, als wir erwar­ tet haben; viel Großes und Herrliches, was geschehen konnte und mußte, ist unterblieben; mit manchem heiligen und edlen Gefühl ist Spott und Hohn getrieben worden. Von allen Für­ sten Deutschlands hat nur Einer sein gegebenes Wort gelöst, der, in dessen freiem Lande wir das Schlachtfest begehen. Über solchen Ausgang sind viele wackre Männer kleinmüthig gewor­ den, meinen, es sei eben nichts mit der viel gepriesenen Herr­ lichkeit des Deutschen Volkes, ziehn sich zurück vom öffentli­ chen Leben, das uns so schön zu erblühen versprach, und su­ chen in stiller Beschäftigung mit der Wissenschaft Entschädi­ gung dafür. Andre sogar ziehn vor, in ferneren Welttheilen, wo neues Leben sich regt, ein neues Vaterland zu suchen. - Nun frage ich Euch, die ihr hier versammelt seid in der Blüthe Eurer Jugend, mit allen den Hochgefühlen, welche die frische junge Lebenskraft giebt, Euch, die ihr dereinst des Volkes Lehrer, Vertreter und Richter sein werdet, auf die das Vaterland seine Hoffnung setzt, Euch, die ihr zum Theil schon mit den Waffen in der Hand, alle aber im Geist und mit dem Willen für des Vaterlandes Heil gekämpft habt; Euch frage ich, ob ihr solcher Gesinnung beistimmt? Nein! Nun und nimmermehr! In den Zeiten der Noth haben wir Gottes Willen erkannt, und sind ihm gefolgt. An dem, was wir erkannt haben, wollen wir aber auch nun halten, so lange ein Tropfen Bluts in unsern Adern rinnt; der Geist, der uns hier zusammengeführt, der Geist der Wahrheit und Gerechtigkeit, soll uns leiten durch unser ganzes Leben, daß wir, Alle Brüder, Alle Söhne eines und desselben Vaterlandes, eine eherne Mauer bilden gegen jegliche äußere und innere Feinde dieses Vaterlandes, daß uns in offener Schlacht der brüllende Tod nicht schrecken soll, den heißesten Kampf zu bestehen, wenn der Eroberer droht; daß uns nicht blenden soll der Glanz des Herrscherthrones, zu reden das star­ ke freie Wort, wenn es Wahrheit und Recht gilt; - daß nimmer in uns erlösche das Streben nach Erkenntnis der Wahrheit, das Streben nach jeglicher menschlichen und vaterländischen Tu­ gend. - Mit solchen Grundsätzen wollen wir einst zurücktreten ins bürgerliche Leben, fest und unverrückt vor den Augen als Ziel das Gemeinwohl, tief und unvertilgbar im Herzen die Lie­ be zum einigen Deutschen Vaterlande. Du Mann Gottes (Lu­ ther), du starker Fels der Kirche Christi, der du mit eisernem 145

Muthe gegen die Finsterniß ankämpftest, der du auf dieser Burg den Teufel bezwangst, nimm unser Gelübde an, wenn dein Geist noch in Gemeinschaft mit uns steht! Euch, Geister unse­ rer erschlagenen Helden, Schill und Schamhorst, Körner und Friesen, Braunschweig-Oels und ihr andern alle, die ihr euer Herzblut vergossen habt für des Deutschen Landes Herrlich­ keit und Freiheit, die ihr jetzt über uns schwebt in ewiger Klar­ heit und mit hellem Blick in die Zukunft schaut, euch rufen wir auf zu Zeugen unsers Gelübdes. Der Gedanke an euch soll uns Kraft geben zu jedem Kampfe, fähig machen zu jeder Aufopfe­ rung. So wie euch der Dank eures Volkes bleiben wird, und sein Segen euch gefolgt ist in euer Grab, so seien uns auch gesegnet alle die, welche für des Vaterlandes Wohl, für Recht und Frei­ heit erglüht sind, dafür leben und mit Wort und That wirken. Verderben und Haß der Guten allen denen, die in niedriger schmutziger Selbstsucht das Gemeinwohl vergessen, die ein knechtisches Leben einem Grab in freier Erde vorziehn, die lieber im Staube kriechen, als frei und kühn ihre Stimme erhe­ ben gegen jegliche Unbill, die, um ihre Erbärmlichkeit und Halbheit zu verbergen, unsrer heiligsten Gefühle spotten, Be­ geisterung und vaterländischen Sinn und Sitten für leere Hirngespinnste, für überspannte Gedanken eines krankhaften Gemüthes ausschreiben! Ihrer sind noch viel; möchte bald die Zeit kommen, wo wir sie nicht mehr nennen dürfen!

7. Friedrich von Gentz, Französische Kritik der deutschen Bundesbeschlüsse von 1819 Gentz, als Berater des österreichischen Haus-, Hof- und Staatskanzlers Fürst Metternich eine der entscheidenden Figuren der Restaurations­ epoche, verteidigt die Karlsbader Beschlüsse vom 20. September 1819 zur Unterdrückung der nationalen und liberalen Bewegung, eine Reak­ tion unter anderem auf die akademische Opposition, die anläßlich des Wartburgfests das erste Mal sichtbar geworden war. Dahinter steht die archetypische Revolutionsfurcht der europäischen Höfe des 19. Jahr­ hunderts, aber auch die begründete Sorge vor einer Erschütterung des europäischen Friedenssystems, dessen Gleichgewicht durch den Wie­ ner Kongreß soeben erst neu geschaffen war, und das entscheidend auf der Aufteilung Mitteleuropas beruhte. Quelle: Friedrich von Gentz, Schriften. Hrsg. v. Gustav Schlesier. Bd. 2. Mannheim 1838, S. 198-201 (Auszug).

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Aus den bisher einzeln bekannt gemachten, den ganzen Zusam­ menhang der Umtriebe sicher nicht erschöpfenden Tatsachen erhellt bereits, daß eine unerwartet beträchtliche Anzahl unru­ higer Köpfe, theils als Verführer, theils als Verführte, an ausschweifenden Plänen einer radikalen Umgestaltung Deutschlands, bald nach einem, bald nach dem andern thörichten Modell, Theil genommen hat. Dies wäre sicher der Fall nicht gewesen, wenn nicht in den letztverflossenen Jahren die Meinung um sich gegriffen hätte, Deutschland als Gesammtstaat, und in seinem föderativen Verhältniß betrachtet, habe im Grunde nur eine Namenexistenz, besitze kein wahres Mittel der Selbsterhaltung, sehe jeden Tag seiner Auflösung entgegen, sei mit einem Worte schon jetzt eine leere Tafel, worauf Jeder schreiben und zeichnen könnte, was der Genius der Willkühr (die man Freiheit nannte) ihm eingab. Durch die neuesten Bun­ desbeschlüsse überhaupt, besonders aber durch die Errichtung jener Kommission, ist dieser Wahn, wenn auch noch nicht ganz vertilgt, doch merklich erschüttert worden. Es hat sich nun gezeigt, daß das Lebensprincip jenes Gesammtkörpers weit stärker war, als selbst die Bessern der Nation es sich gedacht hatten, daß es dem Bunde an Mitteln und Kräften, seine Exi­ stenz und seine Rechte zu behaupten, nicht gebricht, und - was bei weitem das wichtigste ist - daß alle deutschen Fürsten ohne Ausnahme, wenn außerordentliche Umstände große gemein­ schaftliche Maßregeln fordern, das Wohl des Ganzen zu erken­ nen und zu beherzigen wissen . . . Da die Vereinigung aller deut­ schen Stämme zu einem ungetheilten Staate ein durch tausend­ jährige Erfahrung widerlegter und endlich abgethaner Traum ist, dessen Erfüllung keine menschliche Kombination zu er­ schwingen hat, die blutigste Revolution nicht zu ertrotzen ver­ möchte, und den nur Wahnsinnige noch verfolgen können, so wird doch vielleicht, früher oder später, das, was in einzelnen Momenten der Geschichte, selbst redliche und verständige Männer, für diesen Traum eingenommen hatte, so weit es er­ reichbar, und dem wahren Wohl Deutschlands zuträglich ist, auf der uns vom Schicksal vorgezeichneten Bahn, in den jetzt bestehenden Formen, durch Beharrlichkeit erreicht werden ... Einen Gesichtspunkt giebt es freilich, in welchem die Frank­ furter Beschlüsse auch den übrigen Staaten nicht fremd sind, der aber den deutschen Souverains unmöglich zum Vorwurf gereichen kann. Der Geist, der diese Beschlüsse unverkennbar geleitet hat, - ein Geist der Erhaltung, der Befestigung, der 147

Zucht und Ordnung, der wohlverstandenen Volksliebe, und der wohlverstandenen bürgerlichen Freiheit, - ist allerdings nicht von der Wohlfahrt Deutschlands allein, sondern von der Sicher­ heit und Fortdauer sämmtlicher Staaten, wie sie auch übrigens konstituirt sein mögen, unzertrennbar; und, wenn dieser Geist nicht allenthalben in Europa die Oberhand behält, so wird eine Wildniß voll blutiger Ruinen das einzige Vermächtniß sein, das unsrer Nachkommenschaft wartet.

8. Johann Georg August Wirth, Die politische Reform Deutschlands, 1832 Fünfzehn Jahre nach dem Wartburgfest sind die Fronten in der natio­ nalen Frage mit aller Deutlichkeit gezogen. Der bayerische Publizist Wirth, Mitbegründer des linksliberalen Preß- und Vaterlandsvereins und Hauptredner auf dem Hambacher Fest, verfaßt die hier auszugs­ weise abgedruckte Flugschrift im Gefängnis von Zweibrücken, weil er zur Bildung eines »Bunds der Patrioten« aufgerufen und damit gegen das bayerische Vereinsgesetz verstoßen hat. Seine Argumentation ist bestechend einfach: Einheit und Freiheit der Deutschen sind zwei Sei­ ten derselben Medaille; sind erst die Fürsten entmachtet, die dem Volk die freie Selbstbestimmung verweigern, so wird der nationale Zusam­ menschluß der Deutschen die naturwüchsige Folge sein. Quelle: Restauration und Frühliberalismus 1814-1840. Hrsg. v. Hartwig Brandt. Darmstadt 1979, S. 321 ff.

Mehr noch als nach Freiheit und nach materieller Wohlfahrt der einzelnen Provinzen verlangen ... die entschiedenen Patrioten Deutschlands nach der politischen Einheit ihres Vaterlandes. Und in der Tat mit Recht: denn dieselbe ist eben das einzige Mittel zur Freiheit und Wohlfahrt der einzelnen Provinzen; ohne sie gibt es keine Bürgschaft für das Bestehen und Gedei­ hen der wahren Freiheit, ohne sie keine Aussicht zu dauerhafter Organisation des Weltteils und kein Heil für Europa! Die Fein­ de der Freiheit und des deutschen Volkes werfen den entschie­ denen Patrioten vor, daß sie mit der »Einheit Deutschlands« selbst keinen klaren Begriff verbänden und daß eine solche Or­ ganisation des Landes auch ein Hirngespinst sei. Wir bitten diese Herren, durch die nachfolgende Entwicklung der Dinge sich von dem Gegenteil zu überzeugen. - Nicht in einem ge­ walttätigen Zentralisieren, also nicht darin, daß man alle deut­ schen Provinzen, ohne Berücksichtigung deren partikulärer In-

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teressen, willkürlich unter den Zepter einer und derselben Re­ gierung beugt, soll die politische Einheit Deutschlands beste­ hen, sondern vielmehr darin, daß die sämtlichen deutschen Stämme, vorbehaltlich der souveränen Verwaltung ihrer parti­ kulären Angelegenheiten, durch ein natürliches unauflösbares Band verbunden werden, um für die Freiheit, Integrität und Selbständigkeit jeder einzelnen Provinz gegen die übrigen und für die Freiheit, Integrität und Souveränität des gesamten Vater­ landes gegen außen eine unerschütterliche Garantie zu erlangen. Ein solches unauflösbares Band liegt aber nicht in leeren Staats­ verträgen, diktiert von den Interessen fürstlicher Familien, son­ dern in der Macht der Sympathie durch Verkettung der Interes­ sen der Volksstämme. Die Natur hat schon ein inniges Band für die deutschen Stämme geschaffen, das starke Band der Sprache; die Geschichte hat dasselbe verstärkt durch einen Namen aller einzelnen Stämme und die Erinnerung an die großen Taten der Vorfahren; die Wissenschaft hat dieses Band endlich geweiht und veredelt durch die herrlichen Blüten der Literatur, die ver­ möge der gemeinschaftlichen Sprache zum Gemeingute aller Stämme erhoben ist und die Herzen aller mit gleichem Stolze erfüllt. Allein stärker noch als die Bande der gemeinschaftlichen Sprache, des Namens und der Literatur ist das Bindungsmittel der Interessen. So sehr auch jene Bande zur unauflöslichen Ver­ einigung der verschiedenen Volksstämme drängen, so werden sie doch ohnmächtig, sobald die geistigen oder materiellen In­ teressen der einzelnen Länder miteinander in Zwiespalt gesetzt werden. Im Zustande der Freiheit wäre ein solcher Zwiespalt freilich unmöglich, weil sowohl die geistigen als die materiellen Interessen aller deutschen Volksstämme teils durch die geogra­ phische Lage deren Länder, teils durch das gemeinschaftliche Band der Sprache, des Namens und der Literatur auf das innig­ ste verkettet sind. Ein Widerstreit wäre in dieser Beziehung bloß dann möglich, wenn die Regierungsgewalten einzelner Bruderstämme ihre Interessen von jenen ihres Volkes trennen und einem solchen unnatürlichen und dem Gesamtvolke ver­ derblichen Systeme durch gewaltsame Unterdrückung des öf­ fentlichen Volkslebens die Herrschaft erringen würden. Nun können andere Stämme durch unerträgliche Mißhandlung ihrer Interessen, wozu auch die geistigen, namentlich jene der Frei­ heit zu zählen sind, das Band und die Stimme der Natur aller­ dings völlig vergessen und die Vereinigung mit einem fremden Volke wünschen, wenn ihre geistige oder materielle Lage da149

durch verbessert wird. Sobald nun vollends das Regierungssy­ stem derjenigen Länder, wodurch die Interessen aller Bruder­ stämme und sohin des gesamten Vaterlandes verletzt werden, in der öffentlichen Meinung jener Länder keine kraftvolle Oppo­ sition oder wohl gar Unterstützung findet, dann trifft das ge­ samte Land noch der Fluch der inneren Zwietracht. Denn zwi­ schen den unverständigen Anhängern eines antinationalen Sy­ stems und den treuen Freunden des Gesamt-Vaterlandes kann niemals Friede bestehen. Wer wüßte nicht, daß unser teures Vaterland in diese schreckliche Lage gebracht worden ist? Wer wüßte nicht, daß es durch die Politik der Kabinette zu Wien und Berlin in diesen entsetzlichen Abgrund gestürzt wurde, jener nichtswürdigen Politik, welche, durch verwüstende Zollinien und empörende Unterdrückung des öffentlichen Lebens, den Handel und die Freiheit vernichtet und insbesondere die höchsten Interessen der süddeutschen Volksstämme bis zum Tode verwundet? Durch diese treulose und verräterische Politik sind die schönsten Provinzen Deutschlands in die verzweif­ lungsvolle Lage geworfen worden, bei äußeren politischen Stür­ men zwischen der Nationalität und ihren Interessen wählen zu müssen, und da das Band der Interessen nach der sinnlichen Natur der Menschen stärker ist als jenes der Nationalität, so ist die Kraft Deutschlands gegen außen gebrochen und die Integri­ tät des Landes bei jedem Sturme der größten Gefahr ausgesetzt. Diese Gefahr kann nur durch die Versöhnung der Interessen entfernt werden. Ist der Widerstreit der letzteren gehoben, so tritt der natürliche Drang zur Nationalität von selbst wieder in seine Rechte ein und ist alsdann mächtig genug, die Würde der Nation und die Integrität des Gebietes gegen jeden äußeren Feind aufrechtzuerhalten. Da nun, wie oben bemerkt wurde, die Interessen aller deutschen Volksstämme vermöge der Ord­ nung der Natur notwendig gleich sind und nur durch eigennüt­ zige oder ehrgeizige Zwecke fürstlicher Familien in Zwiespalt gesetzt werden können, so beruht die politische Einheit Deutschlands darin, daß in allen öffentlichen Angelegenheiten, welche nicht bloß ein einzelnes deutsches Land betreffen, son­ dern auch die Interessen der übrigen Bruderstämme berühren, den fürstlichen Familien die unumschränkte Diktatur entzogen und die Leitung jener gemeinsamen Angelegenheiten, sowohl nach innen als nach außen, den Organen der öffentlichen Mei­ nung aller Bruderstämme naturgemäß übertragen werde.

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9. Chlodwig Fürst zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Der politi­ sche Zustand Deutschlands, Dezember 1847 Am Vorabend der 48er Revolution diagnostiziert der wegen seiner liberalen Anschauungen von konservativer Seite befehdete bayerische Standesherr die Beweggründe der deutschen Nationalbewegung, die er gegen die deutschen Regierungen verteidigt. Das Gefühl der »Nulli­ tät«, der Minderwertigkeit Deutschlands als Ganzes im Vergleich mit anderen europäischen Staaten, stellt auch über den deutschen Liberalis­ mus hinaus ein mächtiges Schubmittel der Einheitsbewegung dar. Be­ merkenswert ist, mit welcher Selbstverständlichkeit die Farben Schwarz-Rot-Gold als deutsche Nationalfarben gelten. Quelle: Denkwürdigkeiten des Fürsten Chlodwig zu HohenloheSchillingsfürst. Hrsg. v. Friedrich Curtius. Bd. 1. Stuttgart, Leipzig 1907, S. 40f.

Wohin wir sehen, regt sich eine Teilnahme des Volks an den öffentlichen Angelegenheiten, wie noch zu keiner Zeit. Aber die Regierungen verkennen diese Bewegung. Sie sehen oder wollen in dieser Bewegung nur das Treiben einer propagandisti­ schen radikalen Clique finden und erfüllen sich mit Mißtrauen. Ein Grund der Unzufriedenheit ist in Deutschland allgemein verbreitet, jeder denkende deutsche Mann empfindet ihn tief und schmerzlich. Es ist die Nullität Deutschlands gegenüber den anderen Staaten. Man sage uns nicht, daß Österreich und Preußen als Großmächte die Macht Deutschlands nach außen vertreten. Einesteils vertritt Österreich nach außen gar wenig, weil ihm die innere Kraft fehlt, andernteils hat Preußen, wenn man recht offen sein will, doch nur eine geduldete Stellung unter den Großmächten und wird auch diese Stellung, wenn die politische Bewegung im Innern so fortgeht, wie sie begonnen hat, nicht lange mehr halten. Endlich aber sind das doch nur Preußen und Österreich, und der übrige Teil von Deutschland spielt immer die Nebenrolle und den kannegießernden Zu­ schauer. Niemand wird leugnen, daß es für einen denkenden, tatkräftigen Mann ein trauriges Los ist, in der Fremde nicht sagen zu können: ich bin ein Deutscher, nicht mit Stolz die deutsche Flagge auf seinem Schiffe zu sehen, in Bedrängnissen keinen deutschen Konsul zu finden, sondern sich sagen zu müs­ sen: ich bin ein Kurhesse, ein Darmstädter, ein Bückeburger, mein Vaterland war einmal ein großes, mächtiges Land, jetzt ist es zersplittert in achtunddreißig Lappen. Und wenn wir die Karte betrachten und sehen, wie Ostsee, Nordsee und Mittel151

meer an unsre Küsten schlagen und kein deutsches Schiff, keine deutsche Flagge auf der See den stolzen Engländern und Fran­ zosen den üblichen Gruß abzwingt, muß uns da nicht die Farbe der Scham von dem schwarzrotgoldenen Bande allein übrigblei­ ben und in die Wange steigen? Und muß das elende Gerede über Einheit Deutschlands und deutsche Nation nicht so lange lächerlich und betrübt bleiben, bis das Wort kein leerer Schall, keine Phantasmagorie unsers gutmütigen Optimismus mehr ist, sondern wir wirklich ein großes, einiges Deutschland haben? Der durch den Zollverein mächtig heranwachsenden Industrie genügt der Handel in seiner bestehenden Ausdehnung nicht mehr, der reiche Handelsstand sucht auswärtige Märkte und überseeische Verbindungen. Nun werden sich die Klagen über die mangelnde deutsche Flotte mehren und die Frage der Ein­ heit Deutschlands, der wirklich politisch vertretbaren Einheit, wird mit erneuerter Kraft in der nun freien Presse behandelt werden.

10. Aus den Debatten der Deutschen Nationalversammlung, Kleindeutschland oder Großdeutschland, 1848/49 Die folgenden Auszüge aus den Debatten der Paulskirchen-Versamm­ lung sollen den Stimmungswandel von der anfangs verbreiteten anti­ preußischen, pro-habsburgischen Einstellung der Abgeordnetenmehr­ heit bis zu dem schließlichen Entschluß, dem preußischen König die deutsche Kaiserkrone anzubieten, vor Augen führen. Am Anfang steht die Entscheidung über die provisorische Zentralgewalt. Der National­ versammlung liegt der Vorschlag vor, ein österreichisch-preußischbayerisches Dreierdirektorium einzusetzen; bezeichnenderweise geht der Vorschlag des preußischen Abgeordneten Braun, die provisorische Zentralgewalt Friedrich Wilhelm IV. zu übertragen, im Gelächter der Versammlung unter. Stattdessen wird am 29. Juni 1848 der österreichi­ sche Erzherzog Johann zum Reichsverweser proklamiert. Erst im Herbst kommt es dann zu den entscheidenden Debatten über die Grenzen des Reichs und die Rolle, die Österreich und Preußen darin spielen sollen. Der Entwurf des Verfassungsausschusses fordert von Österreich die Personalunion zwischen den deutschen und nichtdeut­ schen Ländern, damit der deutsche Teil an den deutschen Staat ange­ schlossen werden kann. Für die österreichische Regierung und die Mehrheit der österreichischen Paulskirchen-Abgeordneten ist das un­ annehmbar; die Einheit der Habsburger Monarchie ist soeben in bluti­ gen Schlachten zurückgewonnen worden, kein verantwortlicher Wie­ ner Staatsmann würde es wagen, diese reale Einheit zugunsten der

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idealen deutschen Einheit aufzugeben oder zu mindern. Im Programm von Kremsier gibt die österreichische Regierung Ende November 1848 ihre Ablehnung der Forderungen der Nationalversammlung bekannt; anstelle des Österreichers Anton von Schmerling tritt jetzt Heinrich von Gagern an die Spitze des Reichsministeriums und fordert am 18. Dezember das Ausscheiden Österreichs aus dem künftigen deut­ schen Bundesstaat als einzige realistische Chance der deutschen Eini­ gung. Nach langen und erbitterten Debatten setzt sich von Gagern mit knapper Mehrheit durch, und nachdem am 4. März 1848 die öster­ reichische Regierung mit der Verkündung einer Gesamtstaatsverfas­ sung endgültig auf den Eintritt Österreichs in den deutschen National­ staat verzichtet hat, ist es einer der Führer der Großdeutschen, der badische Liberale Theodor Weicker, der am 12. März 1849 den Antrag stellt, den preußischen König zum erblichen deutschen Kaiser zu wäh­ len. Die Wahl am 28. März erbringt 290 Stimmen für den Antrag Welkker, während 248 Abgeordnete sich der Stimme enthalten. Quelle: Deutsche Nationalversammlung. Stenographische Berichte, Bd. 1, S. 443—446; Bd. 6, S. 4233-4234, 4236, 4626-4629; Bd. 8, S. 5666-5669.

20. Juli 1848 Braun -Coeslin:

Das Amendement lautet: »Bis zur definitiven Begründung einer obersten Regierungs­ gewalt für Deutschland werde die Ausübung derselben in allen gemeinsamen Angelegenheiten der Krone Preußen übertra­ gen« .. .(Stürmische Heiterkeit in der Versammlung.) Präsident: Meine Herren! Lassen Sie doch Jeden seine Meinung aussprechen. Eine Stimme (vom Platz): Der Redner auf der Tribüne lacht ja selbst mit. Braun: »... mit denjenigen Bestimmungen und Modalitäten, welche das Gutachten für das vorgeschlagene Bundes-Directorium ausgestellt hat.« Zur Begründung dieses Amendements, das bereits in allen Reden Derjenigen, die vor mir gesprochen haben, meistentheils seine Begründung gefunden hat, werde ich mir erlauben, nur einige wenige Worte hinzuzufügen. Meine Herren! Daß das Vaterland in Gefahr ist, ist oft hier ausgesprochen worden. Ein jeder Blick, den wir nach Innen wenden oder nach Außen rich­ ten, legt uns dasselbe offen vor Augen. Im Innern überall Wüh­ lereien und blutige Erneuten. Das Vertrauen in den Bestand der gesellschaftlichen Ordnung ist tief erschüttert. Daher die Noth 153

in den Gewerben und dem Verkehr, daher die Noth unter den Massen. Nach Außen besteht Krieg und droht Krieg ... Ein dreiköpfiger oder ein achtunddreißigköpfiger Bundestag, das ist so ziemlich gleichgiltig. (Schluß! Schluß!) Ich bin noch dran, ich bin noch nicht fertig. In ruhigen und gemüthlichen Zeiten möchte das gehen, jetzt aber, wo die Gefahr groß und dringlich ist, muß eine kräftige Hand die Zügel der Regierungsgewalt ergreifen, und gestärkt durch das Ansehen, die moralische Macht und die Energie der Versammlung im Innern die Revolu­ tion schließen, das Vertrauen herstellen, nach Außen die Unab­ hängigkeit und Ehre Deutschland’s durch die Macht eines gro­ ßen einigen Volkes wahren. Ihre Commission, meine Herren, scheint es gleichfalls anerkannt zu haben, aber sie hat Rücksicht genommen. In solchen Tagen der Gefahr, meine Herren, liegen alle Rücksichten außerhalb der Grenze des Patriotismus. Die Vaterlandsliebe der Fürsten und der Völker muß den Muth haben, diese Rücksichten und die Eifersüchteleien zu unter­ drücken. Es ist eine eiserne Zeit, und diese eiserne Zeit fordert eine eiserne beschuhte Faust. Wer kann diese Faust in diesem Augenblicke dem Vaterlande anders bieten, als Preußen? (Eine Stimme: Preußen wird uns die Faust bieten, wir brauchen die Hand.) Es sind nicht bloß die fünfzehn Millionen Deutsche, welche diese Ansicht unterstützen. Es ist die geographische La­ ge. Es ist vorzugsweise das preußische Heer, auf welches sich Deutschland verlassen kann. Die Gewohnheit des Deutschen weist auf sein altes Kaiser­ haus hin. Ja, könnte Österreich sich von allen nichtdeutschen Theilen ablösen und ganz aufgehen in Deutschland, wie Preu­ ßen, dann ließe sich wägen. Meine Herren! Es ist Keiner, der die Berechtigung der Gewohnheit und der Tradition mehr aner­ kennt, als ich. Aber in diesem Augenblick glaube ich nicht, daß Österreich in der Lage ist, diese Mission zu übernehmen. Ich frage Sie, welches andere Land wäre wohl da in Deutschland, welches das Directorium so kräftig übernehmen könnte, wie Preußen? Ich weiß keines. Meine Herren! Ich spreche nicht von den Fürsten, weder Böses, noch Schmeichelhaftes. Die Perso­ nen der Fürsten sind vergänglich, aber ihr Volk bleibt. Für den Augenblick ist freilich nur von einem Provisorium die Rede, allein wenn es sich um die Zukunft handelte, so würde ich, was mich betrifft, mit dem großen Dichter dem Bundestage zuru­ fen: »Einen zu bereichern unter Allen, müsse deine Götterwelt vergehen.« 154

Präsident: Es ist der Wunsch ausgesprochen worden, daß so­ gleich gefragt werden soll, ob ein solches Amendement Unter­ stützung findet, damit dann über denselben Gegenstand sich nicht weiter verbreitet werden könne. Eine Stimme von der Linken: Das ist wohl nicht zu fürchten. Präsident: Das Amendement lautet: »Bis zur definitiven Be­ gründung einer obersten Regierungsgewalt für Deutschland werde die Ausübung derselben in allen gemeinsamen Angele­ genheiten der Krone Preußen übertragen mit denjenigen Be­ stimmungen und Modalitäten, welche das Gutachten für das vorgeschlagene Bundesdirectorium aufgestellt hat.« Ich frage, ob dieser Antrag Unterstützung findet? (Von vielen Seiten: Nein!) Der Antrag findet also keine Unterstützung und zerfällt daher. Denn es müßten den Antrag wenigstens 20 Mitglieder unterstützt haben, wenn weiter darauf eingegangen werden sollte. Meine Frage kann keine weitere Folge haben, als die Aufforderung, sich über Anträge, die keine reichliche Unter­ stützung finden, nicht weiter zu verbreiten. Reh aus Darmstadt: Meine Herren! Ich will auf die Rede des Abgeordneten aus Hinterpommern nichts erwidern ... 18. Dezember 1848 Reichsminister von Gagem: .. . Die Stellung, welche Österreich zur deutschen Nationalver­ sammlung und zu der provisorischen Centralgewalt für Deutschland eingenommen hat, legt dem Reichsministerium die Pflicht auf, der Nationalversammlung, deren Aufmerksamkeit durch diese wichtigen Fragen bereits in Anspruch genommen ist, Vorlage zu machen. Das Programm des österreichischen Ministeriums vom 27. November spricht aus: 1) daß alle österreichischen Lande in staatlicher Einheit verbun­ den bleiben sollen; 2) daß die Beziehungen Österreich’s zu Deutschland dann erst staatlich geordnet werden könnten, wenn beide Staatencomplexe zu neuen und festen Formen gelangt sein, das heißt ihre innere Gestaltung vollendet haben würden. Diese Auffassung der Stellung Österreich’s zu Deutschland hat nicht allein den Beifall des österreichischen Reichstags zu Kremsier erhalten, sondern scheint auch den Wünschen und Ansichten der großen Mehrheit der Bewohner der deutsch­

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österreichischen Lande zu entsprechen. - Es ist damit öster­ reichischer Seits die Antwort auf die Frage ertheilt, welche in der Beschlußnahme der Nationalversammlung über den Verfas­ sungsentwurf: »Kapitel vom Reich und der Reichsgewalt«, na­ mentlich in den §§ 1-3 enthalten, an Österreich gestellt worden ist. - Das Reichsministerium glaubt in Beurtheilung der Stel­ lung der Centralgewalt zu Österreich von folgenden Sätzen ausgehen zu müssen. 1) Bei der Natur der Verbindung Österreich’s mit unseren deut­ schen Ländern beschränkt sich für jetzt und während des Provisoriums die Pflicht der Reichsgewalt darauf, das beste­ hende Bundesverhältniß Österreich’s zu Deutschland im All­ gemeinen zu erhalten. Es ist aber das Sonderverhältniß Österreich’s anzuerkennen, wornach es anspricht, in den zu errichtenden deutschen Bundesstaat unter Bedingungen, die die staatliche Verbindung der deutschen mit den nichtdeut­ schen österreichischen Landestheilen alteriren, nicht einzu­ treten. (Bewegung.) 2) Österreich wird also nach den bis jetzt durch die National­ versammlung gefaßten Beschlüssen, wodurch die Natur des Bundesstaates bestimmt worden ist, als in den zu errichten­ den deutschen Bundesstaat nicht eintretend zu betrachten sein. 3) Österreich’s Unionsverhältniß zu Deutschland mittelst einer besonderen Unionsacte zu ordnen, und darin alle die ver­ wandtschaftlichen, geistigen, politischen und materiellen Be­ dürfnisse nach Möglichkeit zu befriedigen, welche Deutsch­ land und Österreich von jeher verbunden haben, und in ge­ steigertem Maaße verbinden können, bleibt der nächsten Zu­ kunft vorbehalten. (Bewegung; Äußerungen der Mißbilli­ gung auf der Linken.) 4) Da Österreich zu dem von der provisorischen Centralgewalt repräsentirten Deutschland zwar in einem unauflöslichen Bunde steht, in den Bundesstaat aber nicht eintritt, so ist die Verständigung über alle gegenseitigen, sowohl bereits beste­ henden, als künftigen Bundespflichten und Rechte auf gesandtschaftlichem Wege einzuleiten und zu unterhalten. 5) Die Verdrängung des deutschen Bundesstaates, deren schleu­ nige Beendigung zwar im beiderseitigen Interesse liegt, kann jedoch nicht Gegenstand der Unterhaltung mit Österreich sein ... 156

Venedey-Köln:

... Ich trage darauf an, daß dieser Antrag direct von uns, augen­ blicklich und ohne Verhandlung verworfen werde. (Bravo auf der Linken.) Wir sind hierher gekommen, meine Herren, um Deutschland’s Einheit zu constituiren, und man schlägt uns hier vor, einen Theil Deutschland’s aus Deutschland hinauszuwer­ fen. (Stürmisches Bravo und Händeklatschen auf der Linken.) An dem Tage, wo wir diesen Antrag auch nur verhandeln, ver­ handeln wir eine Theilung Deutschland’s. Die deutsche Nation, meine Herren, hat schon genug gelitten, jetzt endlich ist sie aufgestanden, und hat uns hierher gesandt, Deutschland zu constituiren, und man will uns einen Theil Deutschland’s feil machen. Ich bin hierher gekommen in die Paulskirche, fest ent­ schlossen, mit der Paulskirche zu stehen, oder zu fallen. Aber nicht einen Augenblick länger will ich hier sitzen, wenn Oester­ reich nicht dabei ist. (Stürmisches Bravo auf der linken Seite des Hauses.) Äeztter-Prag: .. . Ich glaube sogar, daß es im Interesse der Antragsteller selbst ist, darauf anzutragen, daß dieses Project zur Begutachtung an den österreichischen Ausschuß überliefert wurde. Dieser Aus­ schuß soll dann begutachten, ob Deutschland ein zweites Polen werden soll. (Bravo auf der Linken.) Wenn Sie einen Theil Deutschland’s an Oesterreich überliefern, so haben Sie es an Rußland überliefert. (Stürmisches Bravo auf der Linken.)

Hartmann-Leitmeritz:

... Ich halte es für ein Verbrechen, auf den Antrag des neuen Ministerpräsidenten nur mit drei Worten einzugehen. Wir sind nicht hierher gekommen, um mit Anderen Verträge zu schlie­ ßen; wir haben hier unter uns zu entscheiden über das Schicksal Deutschland’s; wir haben keine Gesandten zu schicken. Wir Oesterreicher sind nicht hergekommen als verlorene Söhne, um Eingang in das Vaterhaus zu betteln. Wir sind hier zu Hause und haben ein Recht, hier zu sitzen, wie alle anderen Deutsche. (Bravo auf der Linken.) Wir werden uns nicht hinausstoßen lassen, nicht fein, nicht grob, nicht durch Ränke, nicht durch Gewalt. Ich trage darauf an, daß wir über diesen Antrag, wie er 157

es meiner Meinung nach verdient, sogleich und unmotivirt zur Tagesordnung übergehen. (Bravo auf der Linken.)

Morit2 AfoZ»/-Stuttgart:

... Wir sind 40 Millionen Deutsche; wir haben diese zerbrökkelten kleinen Nationalitäten nicht zu fürchten. Es sind viel­ leicht fünf Millionen Czechen; es sind nicht fünf Millionen Magyaren, noch viel weniger Croaten, noch viel weniger Wala­ chen u. s. w. Alle diese Nationen können der deutschen Natio­ nalität nicht nachtheilig werden; aber es ist von der allergrößten Wichtigkeit, daß sie mit uns zusammen sind, daß sie mit Deutschland ein Reich von 70 Millionen Menschen bilden. Mei­ ne Herren! Ich frage Sie, wenn der Kaiser von Oesterreich Kai­ ser von Deutschland wird, wenn diese 70 Millionen Menschen vertreten sind in einem deutschen Parlament, wenn dieses Par­ lament durch seinen Einfluß die Minister dieses großen Reiches ernennt, wenn also keine nachtheilige Wirkung dieses großen Reiches von 70 Millionen Menschen stattfindet; ich frage Sie, welche Macht in Europa, selbst Rußland mit seinen 66 Millio­ nen, oder Frankreich mit seinen 36 Millionen, welche Macht in Europa wird mächtig genug sein, um gegen dieses große Reich anzugehen? Ich frage, ob dieses deutsche Reich dann nicht im Stande ist, Krieg und Frieden der ganzen Welt zu dictiren; ich bitte Sie, dieß zu bedenken. Es ist, glaube ich, einer der größten Gedanken unseres Jahrhunderts, der schon von verschiedenen Oesterreichern ausgesprochen worden ist, und den namentlich Herr v. Möring in außerordentlich interessanten Schriften aus­ geführt hat. Meine Herren! Diesen Gedanken des Eintritts von ganz Österreich in den deutschen Bundesstaat; diesen Gedan­ ken, von welchem man sich sagen muß, daß er alle Verlegenhei­ ten in der Sache beseitigt, bitte ich Sie, ins Auge zu fassen ... 13. Januar 1849 ßese/er-Greifswald:

... Oesterreich will die Gesammtmonarchie, wir wollten das wissen, und das ist genügend für uns. Will es aber die Ge­ sammtmonarchie, so kann es die deutschen Provinzen aus der Gesammtmonarchie nicht entlassen, und sie dem deutschen Bundesstaate einreihen. Es kann nicht Jemand zweien Herren dienen. Wenn hier eine souveräne Gewalt ist, und dort, da kann 158

man nicht beiden zugleich unterworfen sein. Eben so wenig kann Deutschland zugeben, daß die deutsche Politik getheilt werde, und daß hier Oesterreich und hier Deutschland herr­ sche. Entweder, oder! man muß das Eine aufgeben oder man muß das Andere nicht wollen ... Ich halte es für möglich, daß ein wirklich unauflösliches Verhältniß zwischen Oesterreich und Deutschland begründet werden kann, welches nicht bloß auf der Bahn der gewöhnlichen völkerrechtlichen Allianz sich bewegt. Ich halte sie für möglich, weil wir eine Bundesacte haben, auf deren Grund wir verhandeln können. Formell steht dem nichts im Wege. Ich will Ihnen aber noch drei Garanten nennen, die uns unauflöslich an einander ketten werden. Der erste ist die deutsche Freiheit ... Der zweite Garant ist die deutsche Wissenschaft. Lassen Sie die Schlagbäume niederge­ senkt sein, lassen Sie den Odem der freien Wissenschaft in Oesterreich eindringen, und Sie werden finden, daß dieß die Völker Oesterreichs mehr wie jede äußere Macht an Deutsch­ land anknüpfen wird. Und endlich die Gemeinschaft der mate­ riellen Interessen ... Auf Grundlage der Bundesacte, unter die­ sen Garanten, im Sinne der gemeinsamen Nationalität mit dem vorherrschenden Theile im österreichischen Gesammtstaate, mit dem ehrlichen Willen deutscher Männer, daß sie wirklich das Gute, daß sie wirklich das Beste für beide Theile wollen; da behaupte ich, läßt sich etwas zu Stande bringen, was unserer Zeit würdig ist und Allen gleichmäßig Vortheil bringt. Freilich, meine Herren, es ist immer, wenn auch keine vollständige Theilung, keine vollständige Trennung, es ist immer doch insofern eine Ablösung, als wir Oesterreichs deutsche Bewohner nicht in denselben engen Verband einführen können, in welchen jetzt das übrige deutsche Volk einzutreten bereit ist. Nicht ohne Schmerz wird es von Jedem anerkannt werden, der überhaupt einen Sinn hat, nicht bloß für die Einheit der deutschen Natio­ nalität, sondern auch für die prächtigen deutschen Stämme, die unter Oesterreichs Kaiserscepter stehen ... Wir werden nicht weinen, wie die Weiber, aber (Gelächter auf der Linken) mit einem männlichen ehrlichen Händedruck, wenn wir unsere Freunde aus Oesterreich scheiden sehen sollten, würden wir scheiden, und wir würden eine aufrichtige, männliche Liebe für die Oesterreicher behalten ...

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12. März 1849 Dringlicher Antrag des Abgeordneten Weicker

Die deutsche verfassunggebende Nationalversammlung, in Er­ wägung der dringlichen Lage der vaterländischen Verhältnisse, beschließt: 1) Angesichts der wiederholten öffentlichen Nachrichten von fremder Einsprache gegen die von der deutschen Nation zu beschließende Verfassung gegen solche Eingriffe Auswärtiger in das heiligste Urrecht freier Völker, ihre Entrüstung, gegen jeden Deutschen aber, sei er Fürst oder Bürger, welcher landesverrätherisch solche Eingriffe hervorrufen möchte, den tiefsten Abscheu und zugleich die feste Erwartung auszu­ sprechen, daß die deutsche Nation wie Ein Mann ihre Ehre vertheidigen und deren Verletzung zurückweisen werde ... 3) Die in der Verfassung festgestellte erbliche Kaiserwürde wird Sr. Majestät dem König von Preußen übertragen. (Große Sensation.) 4) Die sämmtlichen deutschen Fürsten werden eingeladen, großherzig und patriotisch mit diesem Beschlüsse überein­ zustimmen, und seine Verwirklichung nach Kräften zu för­ dern ... 6) Se. Majestät der Kaiser von Oesterreich, als Fürst der deutsch-österreichischen Lande, und die sämmtlichen Bru­ derstämme in diesen Landen, einzeln und vereint, sind zum Eintritt in den deutschen Bundesstaat und seine Verfassung jetzt und zu aller Zeit eingeladen und aufgefordert. 7) Die deutsche Nationalversammlung legt gegen ein etwa von der Regierung der deutsch-österreichischen Lande; oder von diesen Landen selbst beanspruchtes Recht, von dem deut­ schen Vaterlande, und aus der von seinem Gesammtwillen beschlossenen Verfassung auszuscheiden, für alle Zeiten fei­ erlichen Widerspruch ein. 8) Sie ist aber bereit, solange einer definitiven Verwirklichung des völligen Eintritts der deutsch-österreichischen Lande in die deutsche Reichsverfassung noch Schwierigkeiten im We­ ge stehen sollten, die bestehenden nationalen brüderlichen Verhältnisse, jedoch unbeschadet der Selbstständigkeit der deutschen Reichsverfassung, zu erhalten. (Große Sensation. Mehrere Stimmen: von Weicker?)

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Präsident: Der Antrag ist von Herrn Weicker von Frankfurt. (Große, lang anhaltende Sensation und Bewegung in der Ver­ sammlung.)

Weicker zur Begründung der Dringlichkeit: ... Meine Bedenken gegen das Erbkaiserthum gingen weder von einer Abneigung gegen Preußen, noch von einer Vorliebe für Oesterreich aus. Ich hatte nichts im Sinne, als Das, was wir Alle wollen, die Einheit unseres großen deutschen Vaterlandes, ich wollte sie nicht beeinträchtigt wissen durch irgend eine in Beziehung auf diese Einheit gefährliche Maßregel. Ich habe, als ich glaubte, wir dürften noch nicht das preußische Erbkaiser­ thum beschließen, mich auch nicht bestimmen lassen durch glänzende Hoffnungen von der österreichischen Cabinetspolitik ... Meine Ansicht war einfach diese: die Pflicht gebietet das ganze Vaterland zusammenzuhalten, und keinen Schritt zu thun, welcher es möglicherweise auch nur vorübergehend zer­ reißen könnte, ehe alle Mittel erschöpft sind, das ganze Vater­ land zu verbinden ... Ich wollte alle Mittel erschöpft wissen, ich wollte endlich fest überzeugt sein, daß der äußerste Termin gekommen sei, ehe ein so großer, bedenklicher Schritt gesche­ he. Jetzt glaube ich, meine Herren, die Mittel sind erschöpft, jetzt glaube ich, es liegt in dem Werk der eigenen Hände der Minister, in ihrer babylonischen Verfassung, hinlänglich klar vor, daß wir von ihnen die Vereinigung Oesterreich’s in dem Bundesstaat nicht erwarten dürfen. Die neuesten Ereignisse sind Ihnen bekannt. Jetzt glaube ich, daß die Zeit dringt, das übrige Deutschland desto fester, desto stärker, desto inniger zu vereinigen. (Lebhaftes Bravo rechts und im Centrum.) Wenn ich hier hinblicke auf meine alten Freunde, so werde ich viel­ leicht einem kleinen Triumph in Ihrem Herzen, wenn nicht in Ihren Mienen begegnen, daß sie schon vor Wochen und Mona­ ten, und ich erst so spät das Richtige erkannt hätte. Seien Sie stolz darauf, wenn Sie wollen, aber vergeben Sie mir, auch ich bin - obwohl jetzt mit traurigem Herzen - stolz darauf, daß ich, soviel wie möglich war, nach allen Kräften eine Verzögerung der Trennung bewirkte. (Bravo.) Wir haben viel dadurch ge­ wonnen, und Sie selbst, gerade die eifrigsten Anhänger der preußischen Kaiserkrone müssen mir danken; denn, meine Herren, denken Sie, wenn an dieser Krone ein Flecken geklebt hätte, ein Vorwurf, ein Schein einer Schuld, daß sie Deutschland zerrissen hätte, wenn der Gedanke entstanden wäre, durch vor-

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eilige oder eigennützige Beschlüsse wäre Oesterreich hinausge­ trieben worden, oh! dann wäre diese Krone nicht soviel werth, nicht so wohlthätig schützend. Wir wollten unsere österreichi­ schen Brüder in brüderlichem Verband mit uns erhalten, dafür haben wir zu wirken gesucht. Wir wollten ihnen das Bewußt­ sein lassen, daß hier in ganz Deutschland deutsche Herzen für sie schlagen, die jeden Augenblick bereit sind, ihnen die Bru­ derhand zu reichen, wenn sie wieder zu uns kommen. (Lebhaf­ tes Bravo.) Meine Herren! Ich sage Ihnen, das Vaterland ist in Gefahr; lassen Sie die Dinge nicht weiter kommen, handeln Sie jetzt rasch und entschieden! Ich lege aber bei meinem Anträge auch darauf ein besonderes Gewicht, daß seine Annahme allein noch eine Möglichkeit gibt, daß das österreichische Cabinet sich schnell zu dem verstünde, was nach unserer festen Überzeu­ gung das Richtige ist; aber wir können nicht mehr mit ihm unterhandeln, nicht Monate und Jahre lang Frist geben; es wird dann die Aufgabe des Königs von Preußen sein, durch ein Ulti­ matum seinen Entschluß zu bedingen, und es wird vielleicht in wenigen Tagen oder Wochen eine Entscheidung da sein. (Beifall auf der Rechten und im Centrum.) Ist es möglich, daß Oester­ reich eintritt, so ist dann nichts verloren; ist es nicht möglich, so wollen wir gerüstet sein gegen die Gefahren, welche dieser Bruch hervorbringen wird; denn seien Sie versichert, sowie die­ ser Bruch da ist zwischen Oesterreich und Deutschland, sind die lauernden Feinde im Osten und Westen bereit, die Einheit des jungen Deutschland’s im Keime zu ersticken. Ich sage nichts weiter, als: Das Vaterland ist in Gefahr; retten Sie das Vaterland!

11. Friedrich Wilhelm IV. an den preußischen Gesandten in Bern, Christian Karl Josias Freiherr von Bunsen, 13. De­ zember 1848 Die Ablehnung der Kaiserkrone durch Friedrich Wilhelm IV. am 3. April 1849 ist von tiefen Respektsbezeugungen gegenüber der Natio­ nalversammlung begleitet. Daß der König beabsichtigt, die Frankfurter Verfassungs- und Kaiserlösung von den deutschen Fürsten gewisser­ maßen adoptieren zu lassen, erhält so nach außen hin noch einen Hauch demokratischer Unterstützung. Ein Jahr später wird dieser Plan

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allerdings in Olmütz am Widerstand Österreichs scheitern. - Tatsäch­ lich denkt aber Friedrich Wilhelm IV. mit ganz anderen Gefühlen über die Legitimität der parlamentarischen Kaiserwahl, wie sein Brief an seinen Freund Bunsen zeigt, der sich bemüht, den König für ein Volks­ kaisertum im Sinne des Ministerpräsidenten der provisorischen Reichs­ regierung, Heinrich von Gagern, zu gewinnen. Quelle: Leopold von Ranke, Aus dem Briefwechsel Friedrich Wil­ helms IV. mit Bunsen (1873). In: Leopold von Rankes sämtliche Wer­ ke. Bd. 50. Leipzig 1887, S. 493 ff. (Auszug).

Mein theuerster Bunsen! Ihre letzten Briefe bestätigen mir, was ich schon zu Brühl merkte und möglichst bekämpfte, daß wir uns in Germaniana nicht verstehen, oder vielmehr, daß Sie mich nicht begreifen können. Es ist dies ein schweres Wort, ich fühl’ es; aber der Freund muß sich’s vom Freunde gefallen lassen. Ich verstehe Sie und Ihre Raisonnements, Sie aber nicht die meini­ gen, sonst hätten Sie nicht so schreiben können, das heißt, Sie hätten dann nicht (was Sie gethan haben) den absoluten Hinder­ nissen, die zwischen mir und der!!! Kaiserkrone stehen, einen leichten und leicht zu beseitigenden Namen gegeben. Sie sagen (wörtlich wie Herr v. Gagern mir sagte am 26. und 27. v. Mts.): »Sie wollen die Zustimmung der Fürsten; gut und recht, die sollen Sie haben.« Aber, mein theuerster Freund, da liegt der Hund begraben: ich will weder der Fürsten Zustimmung zu der Wahl, noch die Krone. Verstehen Sie die markirten Worte? Ich will Ihnen das Licht darüber so kurz und hell als möglich schaffen. Die Krone ist erstlich keine Krone. Die Krone, die ein Hohenzoller nehmen dürfte, wenn die Umstände es möglich machen könnten, ist keine, die eine, wenn auch mit fürstlicher Zustimmung eingesetzte, aber in die revolutionäre Saat ge­ schossene Versammlung macht (dans le genre de la couronne des paves de Louis Philippe), sondern eine, die den Stempel Gottes trägt, die den, dem sie aufgesetzt wird nach der heiligen Oelung, »von Gottes Gnaden« macht, weil und wie sie mehr denn 34 Fürsten zu Königen der Deutschen von Gottes Gnaden gemacht und den Letzten immer der alten Reihe gesellt. Die Krone, die die Ottonen, die Hohenstaufen, die Habsburger ge­ tragen, kann natürlich ein Hohenzoller tragen; sie ehrt ihn überschwänglich mit tausendjährigem Glanze. Die aber, die Sie - leider meinen, verunehrt überschwänglich mit ihrem Luder­ geruch der Revolution von 1848, der albernsten, dümmsten, 163

schlechtesten wenn auch, Gottlob, nicht bösesten dieses Jahrhunderts. Einen solchen imaginären Reif, aus Dreck und Letten gebakken, soll ein legitimer König von Gottes Gnaden und nun gar der König von Preußen sich geben lassen, der den Seegen hat, wenn auch nicht die älteste, doch die edelste Krone, die Nie­ mand gestohlen worden ist, zu tragen? Greifen Sie in Ihren Busen, liebster Bunsen; was würden Sie, altes Glied der preußischen Diplomatie und mein wirklicher Geheimer Rath, also mit dem Range des Hochadels bekleidet, sagen und thun, wenn Sie etwa, in Corbach zurückgezogen lebend, von der Waldeckischen souverainen Landes-Versamm­ lung zur Exzellenz erhoben werden sollten? Da haben Sie das treue Bild von meiner Lage bis ä vis Gagern und seiner Traction. Sie würden der souverainen Waldecke höflichst schreiben: »Was Ihr mir geben wollt, habt Ihr nicht zu vergeben, ich aber hab’ es aus gutem Schrot und Korn«. Und gerade so werde auch ich antworten ... Ich sage es Ihnen rund heraus: Soll die tausendjährige Krone deutscher Nation, die 42 Jahre geruht hat, wieder einmal verge­ ben werden, so bin ich es und meines Gleichen, die sie vergeben werden. Und wehe dem, der sich anmaßt, was ihm nicht zu­ kommt!

12. Erklärung freisinniger Vaterlandsfreunde, 19. Juli 1859 Die sogenannte »Hannoversche Erklärung« stellt den ersten Schritt zur Gründung des Deutschen Nationalvereins dar. Sie trägt 25 Unter­ schriften, davon 20 von Abgeordneten der Zweiten Hannoverschen Kammer. Zu den Unterzeichnern gehören Rudolf von Bennigsen und Johannes Miquel. Während das Statut des Nationalvereins vom 16. September 1859 unter ausdrücklicher Berufung auf die Hannover­ sche Erklärung auf jede genaue Festlegung der politischen Ziele ver­ zichtet, wird die preußisch-kleindeutsche Ausrichtung hier klar ausge­ sprochen. Anders als noch in den Debatten der Paulskirche wird jetzt neben und vor dem Parlament die Notwendigkeit einer starken Zen­ tralgewalt betont; der Nationalverein erwartet die Initiative zur Bil­ dung des deutschen Nationalstaats von der preußischen Regierung, die durch die nationale Volksbewegung nur unterstützt werden soll. Quelle: Der Weg zur Reichsgründung, 1850-1870. Hrsg. v. Hans Fenske. Darmstadt 1977, S. 172-175 (gekürzt).

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Der Krieg zwischen Oesterreich und Frankreich ist beendet. Damit ist aber eine Sicherung des öffentlichen Rechtszustandes in Europa nicht herbeigeführt. Die Conflicte in Italien, welche den Krieg zunächst zum Ausbruch brachten, sind nicht gelöst, allem Anschein nach sogar vergrößert. Das bedrohende militairische Übergewicht Frankreichs ist durch den Krieg noch er­ höht. Ueberall in Europa finden wir gährende Zustände, welche neue Verwicklungen und Kriege, auch Angriffskriege gegen Deutschland in nächster Zukunft schon als möglich erscheinen lassen. Um solchen Gefahren sicher entgegentreten zu können, ist für Deutschland ein kräftiger Aufschwung des nationalen Gei­ stes und eine rasche Entwicklung seiner politischen Kräfte drin­ gend erforderlich. Einem solchen Aufschwünge sind aber die jetzigen Formen der Bundesverfassung offenbar hinderlich. Diese Verfassung hatte sich schon vor dem Jahre 1848 und noch mehr während der Bewegungen des Jahres 1848 als ganz un­ haltbar erwiesen. Nach 1848 als Nothbehelf einseitig von den Regierungen wieder in das Leben gerufen, hat sie noch deutli­ cher gezeigt, daß durch sie die Interessen der Nation nicht be­ friedigt und feste Rechtszustände in den einzelnen deutschen Staaten nicht begründet werden können. Der so eben beendigte Krieg hat uns leider überzeugen müssen, daß auch die Bundes­ kriegsverfassung für ein rasches und einmüthiges Handeln ge­ gen äußere Gefahren keine Gewähr darbietet. Das Verlangen nach einer mehr einheitlichen Verfassung Deutschlands unter Betheiligung von Vertretern des deutschen Volks an der Leitung seiner Geschicke mußte daher immer grö­ ßer werden. Nur eine größere Concentrirung der militairischen und politischen Gewalt, verbunden mit einem deutschen Parla­ ment, wird eine Befriedigung des politischen Geistes in Deutschland, eine reiche Entwickelung seiner inneren Kräfte, und eine kräftige Vertretung und Vertheidigung seiner Interes­ sen gegen äußere Mächte herbeiführen können. So lange das deutsche Volk an einer Reform seiner Verfassung noch nicht verzweifelt und nicht allein von einer revolutionären Erhebung Rettung vor inneren und äußeren Gefahren sucht, ist der natürlichste Weg, daß eine der beiden großen deutschen Regierungen die Reform unserer Bundesverfassung ins Leben zu führen unternimmt. Oesterreich ist dazu außer Stande. Seine Interessen sind keine rein deutschen, können es auch niemals werden. Daneben wird

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die neuerdings selbst von der Regierung als nothwendig aner­ kannte Reform seiner inneren Zustände Oesterreichs volle Auf­ merksamkeit auf lange Jahre in Anspruch nehmen. Alle Kräfte wird es anspannen müssen, um seine zerrütteten Finanzen zu ordnen, die Privatrechts- und kirchlichen Zustände zu bessern, dadurch und mit veränderten Landesverfassungen den Ausbrü­ chen der Unzufriedenheit zu begegnen, die fast in allen Theilen seines Reichs, namentlich in Italien, Ungarn und manchen slavischen Provinzen angehäuft sind. Hier liegen für Oesterreich Aufgaben so umfangreich und schwierig, daß eine Ableitung und Zersplitterung seiner Kräfte für die ferner stehenden deut­ schen Zwecke die zunächst gebotene Lösung der inneren Wir­ ren als nahezu unmöglich erscheinen läßt. Unsere Hoffnung richten wir daher auf Preußens Regierung, welche durch den im vorigen Jahre aus freiem Antriebe einge­ führten Systemwechsel ihrem Volke und ganz Deutschland ge­ zeigt hat, daß sie als ihre Aufgabe erkannt hat, ihre Interessen und die ihres Landes in Uebereinstimmung zu bringen, und für einen solchen Zweck Opfer an ihrer Machtvollkommenheit so­ wie die Betretung neuer und schwieriger Bahnen nicht scheut. Die Ziele der preußischen Politik fallen mit denen Deutschlands im Wesentlichen zusammen. Wir dürfen hoffen, daß die preußi­ sche Regierung immer mehr in der Erkenntniß wachsen wird, daß eine Trennung Preußens von Deutschland und die Verfol­ gung angeblich rein preußischer Großmachtzwecke nur zu Preußens Ruin führen kann. Und das deutsche Volk hat in den letzten Wochen in den meisten Theilen unsers Vaterlandes mit Einmüthigkeit zu erkennen gegeben, daß für die Zeiten der Gefahr und des Krieges die Vertretung unserer Interessen und die Leitung unserer militairischen Kräfte vertrauensvoll in Preußens Hände gelegt werden solle, sobald nur klare Ziele, eine feste Leitung, und ein entschiedenes Handeln von Preußen zu erwarten ist. Die letzten Monate haben von Neuem bewiesen, daß es ge­ genüber den mit einheitlicher Gewalt ausgerüsteten Militairstaaten, welche uns im Westen und Osten umgeben, nicht gerathen ist bis auf die Stunde der Gefahr zu warten, um erst bei ausbrechendem Kampfe zu versuchen, ob gemeinsame Be­ schlüsse der deutschen Regierungen über ein rasches und ener­ gisches Handeln zu erreichen sind. Wir bedürfen einer Bundes­ verfassung, welche schon im Voraus die Gewähr eines schleuni­ gen und einmüthigen Handelns bietet. 166

Ein großer Theil von Deutschland - und wir mit ihm - hegt daher die Erwartung, daß Preußen in der Zeit der Ruhe und Vorbereitung, welche uns jetzt vielleicht nur für kurze Zeit gewährt ist, die Initiative für eine möglichst rasche Einführung einer einheitlichen und freien Bundesverfassung ergreift. Es wird damit allerdings einer großen und schwierigen Aufgabe sich unterziehen. Es wird dabei aber nicht vergessen, daß es mit Deutschlands Kräftigung auch sich selbst schützt. Auch die Hoffnung wird es festhalten, daß einer loyalen und kräftigen Politik es endlich gelingen wird, das Widerstreben und die Schwierigkeiten, welche der Ausführung entgegentreten, zu überwinden. Die deutschen Bundesregierungen werden freilich dem Gan­ zen Opfer bringen müssen, wenn eine mehr concentrirte Ver­ fassung in Deutschland eingeführt werden soll. Schwerlich wer­ den sie aber Angesichts der bevorstehenden Krisen sich lange der Überzeugung verschließen, daß für die Interessen des Va­ terlandes nicht allein, sondern auch für ihre eigenen eine ein­ heitlichere Gewalt in Deutschland eine Nothwendigkeit ist. Umgeben von autokratisch regierten, stark centralisirten Militairstaaten können in Mitteleuropa nur straffer organisirte Völ­ ker und Staaten ihre Unabhängigkeit und Existenz auf die Dau­ er retten. Und besser ist es doch, einen Theil seiner Regierungs­ befugnisse auf eine deutsche Bundesgewalt zu übertragen, als sie ganz an Frankreich oder Rußland zu verlieren. Groß sind die Gefahren für Europa und Deutschland. Nur rasche Entschlüsse können Hülfe bringen. Möge daher Preußen nicht länger zögern, möge es offen an den patriotischen Sinn der Regierungen und den nationalen Geist des Volkes sich wenden, und schon in nächster Zeit Schritte thun, welche die Einberu­ fung eines deutschen Parlaments und die mehr einheitliche Or­ ganisation der militairischen und politischen Kräfte Deutsch­ lands herbeiführen, ehe neue Kämpfe in Europa ausbrechen und ein unvorbereitetes und zersplittertes Deutschland mit schweren Gefahren bedrohen. Der patriotische Sinn des deutschen Volks wird die preußi­ sche Regierung auf diesem Wege unterstützen. Politische Mei­ nungen und Parteizwecke werden sich dem praktischen Bedürf­ nisse des Augenblicks und dem Wohle des Ganzen unterord­ nen. Auch die Regierungen, hoffen wir, werden sich der auf eine friedliche Reform gerichteten nationalen Bewegung nicht entziehen, welche das deutsche Volk zu den größten Opfern 167

bereit findet, um endlich eine Gesammtverfassung des Vaterlan­ des zu erreichen, die nach Innen das Recht und die freie Ent­ wicklung der Einzelnen und nach Außen die Selbständigkeit und Unabhängigkeit der Nation sichert.

13. Gründungsprogramm der Nationalliberalen Partei, 12. Juni 1867 Die Gründung der Nationalliberalen Partei stellt zugleich das Ende der deutschen Nationalbewegung dar; daß »nicht zu allen Zeiten für diesel­ ben Aufgaben mit denselben Waffen gekämpft« werden könne, betont auch das Gründungsprogramm. Für den Nationalliberalismus, der im wesentlichen die Kräfte des ehemaligen Nationalvereins umfaßt, ist mit der Gründung des Norddeutschen Bundes als Vorstufe der endgültigen Gründung des Deutschen Reichs die Entscheidung der deutschen Fra­ ge getroffen: kleindeutsch geht vor großdeutsch, Einheit vor Freiheit, wenn auch die liberalen und großdeutschen Elemente der Nationalbe­ wegung weiterhin Sekundärziele bleiben. Das Bündnis der Nationalli­ beralen mit Bismarck besiegelt die Einheit der Revolution von oben und von unten, der Nationalismus als bisher »linkes« Phänomen wird zur staatstragenden Kraft und insofern »rechts«, wenn auch sein sy­ stemsprengender Charakter nicht verlorengeht, der in der Ausbildung nationalistischer und imperialistischer Massenorganisationen, kolonialistischem »Drang zur Sonne« und gegen England gerichtetem Schlachtflottenbau zum zunehmend bestimmenden Element deutscher Politik werden und den Weg in den Weltkrieg politisch und ideologisch vorbereiten wird. Quelle: Wilhelm Mommsen (Hrsg.), Deutsche Parteiprogramme. München 1960, S. 147-151 (Auszug).

Als im vorigen Jahre der alte Bund zusammenbrach und die preußische Regierung den ernsten Willen bekundete, das natio­ nale Band zu erhalten und die deutsche Einheit auf festeren Grundlagen herzustellen, da war es uns nicht zweifelhaft, daß die liberalen Kräfte der Nation mitwirken müßten, wenn das Einigungswerk gelingen und zugleich die Freiheitsbedürfnisse des Volkes befriedigen sollte. Um dieses Zweckes willen waren wir zur Mitwirkung bereit; möglich wurde sie erst dadurch, daß die Regierung von der Verletzung des Verfassungsrechts abließ, die von der liberalen Partei so nachdrücklich verteidigten Grundsätze anerkannte, daß sie die Indemnität nachsuchte und erhielt. Die Mitwirkung zu sichern, konnten die durch den Ver168

fassungsstreit bedingten Gruppierungen innerhalb der Partei nicht genügen. Dem neuen Bedürfnis entsprach die Bildung der nationalliberalen Partei zu dem Zwecke, auf den gegebenen Grundlagen die Einheit Deutschlands zu Macht und Freiheit herzustellen. Wir verkannten niemals das Schwierige der Aufgabe, im Zu­ sammenwirken mit einer Regierung, welche jahrelang den Ver­ fassungskonflikt aufrechterhalten und ohne Budgetgesetz ver­ waltet hatte, mit unvollkommenen konstitutionellen Waffen die freiheitliche Entwicklung zu fördern. Aber wir unterzogen uns dieser Aufgabe mit dem festen Willen, durch fortgesetzte ernste Arbeit die Schwierigkeit zu überwinden, und mit der Zuver­ sicht, daß die Größe des Zieles die Tatkraft des Volkes stärken wird. Denn uns beseelt und vereinigt der Gedanke, daß die nationale Einheit nicht ohne die volle Befriedigung der liberalen Ansprüche des Volkes erreicht und dauernd erhalten und daß ohne die tatkräftige und treibende Macht der nationalen Einheit der Freiheitssinn des Volkes nicht befriedigt werden kann. Des­ halb ist unser Wahlspruch: Der deutsche Staat und die deutsche Freiheit müssen gleichzeitig mit denselben Mitteln errungen werden. Es wäre ein verderblicher Irrtum, zu glauben, daß das Volk, seine Fürsprecher und Vertreter nur die Interessen der Freiheit zu wahren brauchen, die Einheit dagegen auch ohne uns durch die Regierung auf dem Wege der Kabinettspolitik werde aufgerichtet werden. Die Einigung des ganzen Deutschlands unter einer und derselben Verfassung ist uns die höchste Aufgabe der Gegen­ wart. Einen monarchischen Bundesstaat mit den Bedingungen des konstitutionellen Rechts in Einklang zu bringen, ist eine schwe­ re, in der Geschichte bisher noch nicht vollzogene Aufgabe; die Verfassung des Norddeutschen Bundes hat sie weder vollstän­ dig im Umfange, noch in endgültig befriedigender Weise gelöst. Aber wir betrachten das neue Werk als den ersten unentbehrli­ chen Schritt auf der Bahn zu dem in Freiheit und Macht gefe­ stigten deutschen Staate. Der Beitritt Süddeutschlands, welchen die Verfassung offenhält, muß mit allen Kräften und dringlich befördert werden, aber unter keinen Umständen darf er die einheitliche Zentralgewalt in Frage stellen oder schwächen. Eine aus der Vermittlung der praktischen Bedürfnisse hervor­ gegangene Verfassung ist niemals ohne Mängel zustande ge­ kommen, diese wuchsen mit der Zahl der widerstreitenden In­

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teressen, doch war es stets ein Zeichen gesunder Lebenskraft, daß die bessernde Hand sofort zu wirken begann. Wir sind dem Lose menschlicher Unvollkommenheit nicht entgangen, aber die Schwierigkeiten haben uns nicht entmutigt und die Mängel uns nicht blind gemacht gegen die guten Keime. Wie unsere Partei im Entstehen zu bessern bemüht war, so wird sie unun­ terbrochen und schon im nächsten Reichstage darauf hinarbei­ ten, die Verfassung in sich auszubauen. Im Parlament erblickten wir die Vereinigung der lebendig wirkenden Kräfte der Nation. Das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht ist unter unserer Mitwirkung zur Grundlage des öffentlichen Lebens gemacht. Wir verhehlen uns nicht die Gefahren, welche es mit sich bringt, so lange Preßfrei­ heit, Versammlungs- und Vereinsrecht polizeilich verkümmert sind, die Volksschule unter lähmenden Regulativen steht, die Wahlen bürokratischen Einwirkungen unterworfen sind, zumal da die Versagung der Diäten die Wählbarkeit beschränkt. Aber da die Garantien nicht zu erreichen waren, haben die Gefahren uns nicht abgeschreckt. Am Volke liegt es jetzt, für die Reinheit der Wahlen einzutreten; angestrengten Bemühungen wird es gelingen, seine Stimme wahrheitsgetreu zum Ausdruck zu brin­ gen, und dann wird das allgemeine Wahlrecht selbst das festeste Bollwerk der Freiheit sein, wird es die in die neue Zeit hineinra­ genden Trümmer des ständischen Wesens wegräumen und die zugesicherte Gleichheit vor dem Gesetz endlich zur Wahrheit machen ... Eingedenk ihrer schweren Verantwortlichkeit und treu ihren früher ausgesprochenen Grundsätzen hat die Partei in den Ta­ gen der Gefahr und der Entscheidung den Frieden im Innern auf den Grundlagen des verfassungsmäßigen Rechtes herge­ stellt, die Mittel reichlich gewährt und die Rüstungen gut gehei­ ßen, welche die freie Wirksamkeit des preußischen Berufes si­ chern sollten. Für die Ehre und Machtstellung des Vaterlandes werden wir ferner in gleichem Sinne handeln. Doch spornen die Lasten der chronischen Kriegsbereitschaft uns an, die neuen Zustände in Deutschland schnell zu befestigen, um bald, jeden­ falls nicht später als mit dem Ende des Provisoriums, zu der so notwendigen Sparsamkeit eines wirklichen Militär-Friedense­ tats zu gelangen. Inzwischen muß die in der Reichsverfassung zugesicherte Verkürzung der Kriegsdienstpflicht bis zum voll­ endeten 32. Lebensjahre schnell verwirklicht und auf jede mög­ liche andere Entlastung hingewirkt werden.

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Wir hegen nicht die Hoffnung, den zahlreichen Bedürfnissen auf einmal abzuhelfen, aber wir werden keines derselben aus den Augen lassen und je nach der Gunst der Umstände das eine oder das andere in den Vordergrund stellen. Aber als die uner­ läßliche Bedingung für das gedeihliche Zusammenwirken der Regierung und der Volksvertretung, für die Verhütung neuer Konflikte erachten wir zu allen Zeiten eine den Gesetzen ent­ sprechende, Recht und Freiheit der einzelnen Staatskörper wie der Gesamtheit unverbrüchlich achtende Verwaltung. Rückfäl­ len in eine andere Praxis der Vergangenheit muß auf jede Gefahr hin rückhaltslos entgegengetreten werden. Nur mit einer geset­ zestreuen Regierung können wir Hand in Hand gehen. Mit einer solchen sind wir die richtigen Wege aufzusuchen bereit. Eine eindringliche Erfahrung hat uns gelehrt, daß nicht in allen Zeiten für dieselben Aufgaben mit denselben Waffen ge­ kämpft werden darf. Wo so bedeutungsvolle und inhaltsschwe­ re Ziele gleichzeitig zu erstreben sind, wie gegenwärtig in Deutschland und Preußen, da genügt es nicht, lediglich an her­ gebrachten Sätzen festzuhalten und zugunsten einer einfachen und bequemen Tradition die neuen und mannigfaltigen Bedürf­ nisse unbeachtet zu lassen. Es bedarf der schweren und umsich­ tigen Arbeit, den verschiedenartigen Ansprüchen gerecht zu werden, den Gang der Ereignisse zu überwachen und der Gele­ genheit den Vorteil abzugewinnen. Die Endziele des Liberalis­ mus sind beständige, aber seine Forderungen und Wege sind nicht abgeschlossen vom Leben und erschöpfen sich nicht in festen Formeln. Sein innerstes Wesen besteht darin, die Zeichen der Zeit zu beachten und ihre Ansprüche zu befriedigen. Die Gegenwart spricht deutlich, daß in unserem Vaterlande jeder Schritt zur verfassungsmäßigen Einheit zugleich ein Fortschritt auf dem Gebiete der Freiheit ist oder den Antrieb hierzu in sich trägt. Wir sind nicht gesonnen, anderen Fraktionen der liberalen Partei feindselig entgegenzutreten, denn wir fühlen uns eins mit ihnen im Dienste der Freiheit. Aber gegenüber den großen Fra­ gen der Gegenwart und in dem verantwortlichen Bewußtsein, wieviel von der richtigen Wahl der Mittel abhängt, streben und hoffen wir, innerhalb der Partei die entwickelten Grundsätze zur Geltung zu bringen.

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Forschungsstand

Im Jahr 1907 erschien Friedrich Meineckes Werk >Weltbürgertum und Nationalstaat als Versuch, das Besondere des Weges zum kleindeut­ schen Kasierreich mit den Mitteln historistisch begründeter Ideenge­ schichte zu beschreiben. Diese Arbeit ist bis heute wegen der Klarheit ihrer Sprache, der Prägnanz des Urteils und der Einbettung der Einzel­ teile in einen geschlossenen Gesamtentwurf lesenswert geblieben, aber sie besitzt nur mehr geschichtlichen Charakter: Sie ist methodisch ob­ solet, da am Leitfaden der Ideen weniger großer Denker und Politiker entworfen, die geographische Reichweite beschränkt sich auf Preußen, das Urteil ist unvermeidlicherweise an den Standpunkt des nationalli­ beralen Hochschullehrers in der Spätzeit des wilhelminischen Kaiser­ reichs gebunden. Seither ist eine Anzahl von Arbeiten zu Meineckes großem Thema erschienen, aber sie sind entweder lediglich unterge­ ordneter Teil übergreifender Darstellungen, rein essayistischer Natur oder auf Detailfragen beschränkt. Die umfassende Untersuchung des deutschen Weges zum Nationalstaat, die mit den Mitteln moderner Sozial-, Mentalitäts- und Politikgeschichte den deutschen Nationali­ sierungsprozeß vom 18. Jahrhundert bis zur Reichsgründung be­ schriebe und erklärte, fehlt bis heute; das gilt überraschenderweise nicht nur für Deutschland, sondern auch für Frankreich, Italien und Großbritannien, um nur drei weitere kennzeichnende Desiderate zu nennen1. Was einführende Handbücher angeht, so ist neben dem Band des »Gebhardt«1 2 vor allem der voluminöse, aber zuverlässige »Brandt/Meyer/Just< zu nennen3. Knappe Ereignisdarstellungen, aber ausführliche Darlegungen des Forschungsstandes zur deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert bieten die einschlägigen Bände der Reihe »Oldenbourg Grundriß der Geschichte«4, während ausführliche und gut lesbare Ge­

1 Heinrich August Winkler, Thomas Schnabel (Hrsg. ), Bibliographie zum Na­ tionalismus. Göttingen 1979. 2 Gebhardt-Handbuch der Deutschen Geschichte. Hrsg. v. Herbert Grund­ mann. 9. Auflage, Bd. 3: Von der Französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg. Stuttgart 1970, dtv-Taschenbuchausgabe Bde 14-17. 3 Handbuch der Deutschen Geschichte. Begr. v. Otto Brandt, fortgef. v. Ar­ nold Oskar Meyer, neu hrsg. v. Leo Just. Bd. 3: Deutsche Geschichte im 19.Jahrhundert. 3Teilbände. Wiesbaden 1980, 1979, 1968. 4 Oldenbourg Grundriß der Geschichte. Hrsg. v. Jochen Bieicken, Lothar Gall, Hermannjakobs, Johannes Kunisch. Bd. 12: Elisabeth Fehrenbach, Vom Ancien Régime zum Wiener Kongreß. München, Wien 1981; Bd. 13: Dieter Langewiesche, Restauration und Revolution 1815-1849. München, Wien 1985; Bd. 14: Lothar Gall, Europa auf dem Weg in die Moderne 1850-1890. München, Wien 1984.

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samtdarstellungen von Thomas Nipperdey sowie von den Autoren der Reihe »Die Deutschen und ihre Nation« angeboten werden5. Das Phänomen des Nationalismus ist vielfältig untersucht und analy­ siert worden, allerdings hauptsächlich auf theoretischer Ebene. Eugen Lemberg und Peter Alter haben sehr anregende Untersuchungen in vergleichender Perspektive vorgelegt, um allgemeine Aussagen über den Nationalismus zu formulieren, wobei Lemberg der weitere histori­ sche Horizont, Alter die festere Rückbindung an konkrete historische Befunde zuzuschreiben ist6. Um eine im Kern theoretische Aussage geht es auch in dem klassischen Werk Helmuth Plessners über die »verspätete Nation« Deutschland: Nationalismus als zerstörerische Surrogatideologie eines seinen Wurzeln entfremdeten deutschen Bür­ gertums, ein Beitrag zur Theorie eines deutschen »Sonderwegs«7. Die neuere Diskussion findet hauptsächlich im Umfeld der Modernisie­ rungs-Theoreme statt. Vor allem im Rahmen der Arbeiten des »Com­ mittee on Comparative Politics« des American Social Research Council ist eine Reihe für unsere Fragestellung bedeutender Arbeiten entstan­ den, die den Versuch unternehmen, »nation building« in seinen gesam­ ten Bezügen zu kategorisieren und analytischen Untersuchungen zu­ gänglich zu machen8*. Auch aus dem Blickwinkel der Theorien von Karl Marx und Max Weber sind eindrucksvolle, übergreifende, auf theoreti­ sche und vergleichende Begriffsbildung zielende Analysen erschienen’. Aber alle diese Arbeiten bleiben insofern unbefriedigend, als sie durch­ weg auf mangelhaften empirischen Grundlagen aufbauen. Hier wie so oft steht bereits eine Stadt von fertigen Dächern, bevor die mit Hilfe des historischen Quellenbefundes gemauerten Fundamente existieren. Nachdem Fragen der deutschen Nationalstaatsbildung und des deut­ schen Nationalismus in der Nachkriegszeit jahrzehntelang von der Ge­

5 Thomas Nipperdey, Deutsche Geschichte 1800-1866. Bürgerwelt und star­ ker Staat. München 1983; Horst Möller, Fürstenstaat und Bürgernation. Deutschland 1763-1820. Berlin 1986; Heinrich Lutz, Zwischen Habsburg und Preußen. Deutschland 1820-1866. Berlin 1985; Michael Stürmer, Das ruhelose Reich. Deutschland 1866-1918. Berlin 1983. 6 Eugen Lemberg, Nationalismus. 2 Bde, Reinbek 1964; Peter Alter, Nationa­ lismus. Frankfurt a. M. 1985. 7 Helmuth Plessner, Die verspätete Nation. Stuttgart 1959. 8 Besonders hervorzuheben: K. W. Deutsch, W. J. Foltz (Hrsg.), NationBuilding. New York 1963; R. L. Merritt, St. Rokkan (Hrsg.), Comparing Na­ tions. New Haven, London 1968; Ch. Tilly (Hrsg.), The Formation of Nation States in Western Europe. Princeton 1975; deutsche Übersetzungen einiger be­ sonders wichtiger Texte finden sich in: Wolfgang Zapf (Hrsg.), Theorien des sozialen Wandels. Königstein/Ts. 1979. ’ Barrington Moore, Soziale Ursprünge von Diktatur und Demokratie. Frankfurt a. M. 1969; in der Nachfolge Moores neuerdings Ernest Gellner, Na­ tions and Nationalism. Oxford 1983; besonders fruchtbar und in den themati­ schen und philosophischen Bezügen umfassend Reinhard Bendix, Könige oder Volk. 2 Bde, Frankfurt a. M. 1980.

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Schichtswissenschaft vernachlässigt worden waren, ist seit Beginn der achtziger Jahre, wie stets bei dem Auftauchen neuer geschichtswissenschaftlicher Schwerpunktthemen nicht ohne Bezug auf gegenwartspoli­ tische Interessenlagen, die Nation, ihre Entstehung und ihre Identität wieder zum Gegenstand vermehrten wissenschaftlichen Bemühens ge­ worden. Als Früchte solcher Bemühungen sind in übergreifender Hin­ sicht allerdings einstweilen lediglich Aufsatz- und Tagungsbände zu nennen1011 , aus denen der interessierte Leser sich die Perlen heraussuchen muß. Einige Aufsätze, die das Gesamtproblem umreißen, verdienen hervorgehoben zu werden. Robert A. Berdahl hat den interessanten, wenn auch wegen der Eindimensionalität des Ansatzes nicht ganz be­ friedigenden Versuch unternommen, die Entwicklung der deutschen Nationalbewegung als Funktion der ökonomischen Modernisierung zu beschreiben11. James J. Sheehan hat in einem beachtlichen Aufsatz dar­ auf hingewiesen, daß aus der Perspektive des deutschen Nationalstaats von 1871 die vorangegangene Geschichte allzu stromlinienförmig als einheitliche, teleologisch gebundene deutsche Nationalgeschichte gese­ hen worden ist, obwohl sie aus vielen, keineswegs durchweg national begründeten Richtungen zusammenfloß12. Hervorzuheben ist schließ­ lich der fakten- und gedankenreiche Aufsatz Otto Danns über Natio­ nalismus und sozialen Wandel in Deutschland 1806-1850, einer der ganz wenigen Versuche, die deutsche Nationalbewegung auf ihre ge­ sellschaftlichen Grundlagen zurückzuführen13. Zwei neuere Arbeiten nehmen die deutsche Nationalbewegung als Ganzes in den Blick. Während George L. Mosse in sehr anregender Weise den Zusammenhang von gesellschaftlicher Organisierung und Ritualisierung in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen stellt und auf diese Weise die Nationalbewegung, ganz im Rahmen der konventionel­ len Vorstellung vom »deutschen Sonderweg«, von den Freiheitskriegen bis zum Nationalsozialismus als bruchlosen Zusammenhang interpre­ tiert, begnügt sich Christoph Priegnitz mit einer eher glanzlosen Zu­ sammenstellung der Entwicklungsgeschichte bis zur 48er Revolution, 10 Otto Büsch, James J. Sheehan (Hrsg.), Die Rolle der Nation in der deut­ schen Geschichte und Gegenwart. Berlin 1985; Klaus Weigelt (Hrsg.), Heimat und Nation. Zur Geschichte und Identität der Deutschen. Mainz 1984; Josef Becker, Andreas Hillgruber (Hrsg.), Die deutsche Frage im 19. und 20. Jahrhun­ dert. München 1983; Heinrich Lutz, Helmut Rumpler (Hrsg.), Österreich und die deutsche Frage im 19. und 20.Jahrhundert. München 1982; Otto Dann (Hrsg.), Nationalismus und sozialer Wandel. Hamburg 1978; Heinrich A. Winkler (Hrsg.), Nationalismus. Königstein/Ts. 1978. 11 Robert A. Berdahl, Der deutsche Nationalismus in neuer Sicht. In: Winkler, Nationalismus, S. 138-154. 12 James J. Sheehan, What is German History? Reflections on the Role of the Nation in German History and Historiography. Journal of Modern History 53 (1981), S. 1-31. 13 Otto Dann, Nationalismus und sozialer Wandel in Deutschland 1806-1850. In: Dann, Nationalismus, S. 77-128.

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die eine zusammenhängende Interpretation auf dem Hintergrund der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Gesamtgeschichte vermissen läßt14. Arbeiten, die den Beginn der deutschen Nationalbewegung im Zu­ sammenhang mit der bildungsbürgerlichen Selbstorganisation im 18. Jahrhundert reflektierten, existieren noch nicht. Immerhin ist aber ein wesentlicher Aspekt, der des bürgerlichen Vereinswesens, für die­ sen Zeitraum bereits recht gut untersucht15. Zur Bildung literarischer Öffentlichkeit vor der napoleonischen Ära, vom Lesepublikum über das Verlagswesen bis zu den Lesegesellschaften, existiert vorwiegend im germanistischen Bereich eine breite Literatur16, während der poli­ tisch-soziale Kontext von Helmut Berding und Hans Peter Ullmann umrissen worden ist17. Der Prozeß der Nationalisierung in der napoleonischen Ära ist noch weitgehend unerforscht, Methode und Urteil lehnen sich noch weitge­ hend an Meineckes »Weltbürgertum und Nationalstaat« an. Das gilt auch für neuere Studien, die die Herausbildung kollektiver nationaler Themen im Rahmen der »Sonderwegstheorie« kritisch beurteilen1819 . Einige Detailstudien erleichtern den Zugang zum Thema; für den norddeutsch-preußischen Raum existieren einige Arbeiten, die den po­ litischen Diskurs jener Zeit untersuchen1’. Lediglich die Geschichts­ schreibung der DDR hat sich intensiver mit der Nationalisierung vor 1815 befaßt, wobei das Urteil vorwiegend positiv ausfällt, gemäß dem Engelsschen Diktum, daß im Kampf gegen Napoleon die Volksmassen das erste Mal seit den Bauernkriegen zu politischem Bewußtsein ge­ langt seien. Vom marxistisch-leninistischen Grundtenor abgesehen sind dabei methodisch wie auch hinsichtlich der Quellenbasis sehr beachtli­ che Arbeiten entstanden, die auch der Ambivalenz der frühen Natio­

14 George L. Mosse, Die Nationalisierung der Massen. Frankfurt, Berlin 1976; Christoph Priegnitz, Vaterlandsliebe und Freiheit. Wiesbaden 1981. 15 Otto Dann, Die Anfänge politischer Vereinsbildung in Deutschland. In: Ulrich Engelhardt u. a. (Hrsg.), Soziale Bewegung und politische Verfassung. Stuttgart 1976; H. H. Gerth, Bürgerliche Intelligenz um 1800. Zur Soziologie des deutschen Frühliberalismus. Göttingen 1976; Frank Kopitzsch (Hrsg.), Auf­ klärung, Absolutismus und Bürgertum in Deutschland. München 1976; Peter Christian Ludz (Hrsg.), Geheime Gesellschaften. Heidelberg 1979. 16 Zusammenfassend auf dem neuesten Forschungsstand: Horst Albert Glaser (Hrsg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte. Bd. 4 und 5, Reinbek 1980. 17 Helmut Berding, Hans-Peter Ullmann (Hrsg.), Deutschland zwischen Re­ volution und Restauration. Düsseldorf 1981. 18 Hans Kohn, Prelude to Nation-States. The French and German Experience 1789-1815. Princeton 1967; A. Kemiläinen, Auffassungen über die Sendung des deutschen Volkes um die Wende des 18. und 19. Jahrhunderts. Helsinki, Wiesba­ den 1956. 19 Rudolf Ibbeken, Preußen 1807-1813. Staat und Volk als Idee und in der Wirklichkeit. Köln, Berlin 1970; Wolfgang von Groote, Die Entstehung des Nationalbewußtseins in Nordwestdeutschland 1790-1830. Göttingen 1955.

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nalbewegung gerecht werden20. Ähnliches gilt für die Freiheitskriege als Auslöser nationaler Massenstimmung. Wegen der legitimierenden Rolle, die die preußischen Militärreformer für die Nationale Volksar­ mee der DDR spielen sollen, aber auch wegen des damaligen preu­ ßisch-russischen Bündnisse hat die DDR-Historiographie sich der Jah­ re 1813-1815 liebevoll angenommen, während die Gesichtsschreibung der Bundesrepublik Deutschland das Thema kaum wahrnimmt. Wie auch sonst des öfteren bei unserem Thema lohnt sich der Blick über die Fachgrenzen; der Zusammenhang von nationalen Empfindungen und kriegerischer Lyrikproduktion, wichtiger Indikator kollektiver Emo­ tionen, ist Gegenstand germanistischer Analyse21. Die Epoche des Vormärz gehört dagegen zu den Lieblingsobjekten neuerer wissenschaftlicher Untersuchung, vor allem hinsichtlich der politischen und gesellschaftlichen Organisationen und Bewegungen. Die ältere Literatur über die Turner- und Sängervereine ist durch die kürzlich erschienene Habilitationsschrift Dieter Düdings obsolet ge­ worden; Düdings besonderes Verdienst besteht darin, nachgewiesen zu haben, daß entgegen älteren Forschungen diese Vereine sich bis zur 48er Revolution vornehmlich nicht in Nord-, sondern in Südwest- und Süddeutschland ausgebreitet haben, ein wichtiger Hinweis für weitere regionale Studien22. Auch die politische Seite der Nationalbewegung, der Liberalismus, ist durch eine neue Arbeit von James J. Sheehan unter Berücksichtigung der gesamten älteren Forschung im Zusam­ menhang dargestellt, wenn auch das für den deutschen Liberalismus so wichtige Element des Nationalismus bei Sheehan in seiner Bedeutung verzeichnet ist23. Eine Geschichte der Burschenschaften, die den mo­ dernen geschichtswissenschaftlichen Ansprüchen genügte, fehlt dage­ gen noch, wie auch eine nähere Untersuchung der Schützenvereine, die namentlich im katholischen Deutschland eine wichtige Rolle als Ver­ mittler nationaler Ideologeme spielen24. Viel zu tun ist auch noch für

20 Helmut König, Zur Geschichte der bürgerlichen Nationalerziehung in Deutschland zwischen 1807 und 1815. Berlin (Ost) 1973; Percy Stulz, Fremd­ herrschaft und Befreiungskampf. Die preußische Kabinettspolitik und die Rolle der Volksmassen in den Jahren 1811 bis 1813. Berlin (Ost) 1960. 21 Eberhard Lämmert, Preußische Politik und nationale Poesie. In: Berlin zwischen 1789 und 1848. Hrsg. v. d. Akademie der Künste. Berlin 1981. 22 Dieter Düding, Organisierter gesellschaftlicher Nationalismus in Deutsch­ land (1808-1847). München 1984. 23 James J. Sheehan, Der deutsche Liberalismus 1770 bis 1914. München 1983. 24 Ersatzweise brauchbar: Paul Wentzke, Geschichte der deutschen Burschen­ schaft. Vor- und Frühzeit bis zu den Karlsbader Beschlüssen. 2. Aufl. Heidelberg 1965; Friedrich Schulze, Paul Ssymank, Das deutsche Studententum von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Leipzig 1910; Reinhard Müth, Studentische Emanzipation und staatliche Repression. Die politische Bewegung der Tübinger Studenten im Vormärz. Tübingen 1977; Wilhelm Ewald, Die rheinischen Schüt­ zengesellschaften. In: Zeitschrift des Rheinischen Vereins für Denkmalpflege und Heimatschutz, H. 1 (1933), S. 66-102.

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die Erhellung der Hintergründe und Bedingungen für die Ausbildung einer nationalen Bewegung - über die sozialen Trägerschichten wissen wir viel zu wenig, wie auch über die kommunikationsgeschichtlichen Zusammenhänge25. Es wäre reizvoll, die Geschichte des Wartburgfests neu zu schreiben, vielleicht in Verbindung mit den anderen großen und kleinen Nationalfesten im Umkreis, diesmal vor allem als Beitrag zur Geschichte nationaler Riten, Liturgien und Symbole; die bisherigen Arbeiten hierzu nehmen diese Dimension kaum wahr26. Auch zur Revolution von 1830, die für die nachträgliche Betrachtung allzusehr im Schatten der 48er Revolution steht, fehlen noch hinrei­ chende, vor allem regionalgeschichtliche und sozialgeschichtliche Un­ tersuchungen, während der Umkreis des Hambacher Fests besser aus­ geleuchtet erscheint27. Die neue nationale Welle der 1840er Jahre ist bisher allzu einseitig unter dem Gesichtspunkt politischer Repression, sozialer Verelendung und beginnenden Protests im Hinblick auf die folgende Revolution geschrieben worden; die Ambivalenz der Natio­ nalbewegung, zu der auch die Hoffnung auf Fortschritte in der natio­ nalen Frage, der Stimmungsaufschwung der Rheinkrise und die Natio­ naldenkmalbewegung in den frühen Vierzigern gehört, bleibt noch zu erhellen. Insbesondere die Rheinkrise von 1840 bleibt trotz der ausge­ zeichneten Dissertation von Irmline Veit-Brause noch in vielem unklar: Welche Schichten und welche Regionen wurden von der nationalen Stimmungswelle erfaßt? Regional- und mentalitätsgeschichtliche Un­ tersuchungen könnten hier noch manches klären28. 25 Ersatzweise: Werner Conze (Hrsg.), Staat und Gesellschaft im Vormärz 1815-1848. 2. Aufl. Stuttgart 1970; Pierry Aycoberry, Der Strukturwandel im Kölner Mittelstand 1820-1850. In: Geschichte und Gesellschaft 1 (1975), S. 78-95; Jürgen Bergmann, Das Berliner Handwerk in den Frühphasen der Industrialisierung. Berlin 1973; Rolf Engelsing, Analphabetentum und Lektüre. Stuttgart 1973; Horst Albert Glaser (Hrsg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialge­ schichte. Bd. 6: Vormärz 1815-1848, Reinbek 1980. 26 Heinz Kühn, Das Wartburgfest am 18. Oktober 1817. Weimar 1913; Gün­ ter Steiger, Aufbruch. Urburschenschaft und Wartburgfest. Leipzig 1967; zur staatlichen Reaktion s. Eberhard Büssern, Die Karlsbader Beschlüsse von 1819. Hildesheim 1974. 27 Kurt Hoffmann, Preußen und die Juli-Monarchie 1830-1834. Berlin 1936; Volkmar Eichstädt, Die Deutsche Publizistik von 1830. Ein Beitrag zur Ent­ wicklung der konstitutionellen und nationalen Tendenzen. Berlin 1933; zum Zusammenhang von nationaler, sozialer und konstitutioneller Bewegung 1830 s. Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. Bd. 2. Stuttgart 1975, S. 30-183; zum Hambacher Fest und seinem sozialen und organisatori­ schen Umfeld: Kurt Baumann (Hrsg.), Das Hambacher Fest. 27. Mai 1832. Speyer 1957; Peter Wende, Radikalismus im Vormärz. Untersuchungen zur po­ litischen Theorie der frühen deutschen Demokratie. Wiesbaden 1975; Helmut Hirsch, Freiheitsliebende Rheinländer. Neue Beiträge zur deutschen Sozialge­ schichte. Düsseldorf, Wien 1977; Cornelia Förster, Der Preß- und Vaterlands­ verein von 1832/33. Trier 1982. 28 Hans-Gerhard Husung, Protest und Repression im Vormärz. Göttingen

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Gerade die Forschungsgeschichte zur 48er Revolution zeigt sehr klar, wie abhängig die Fragestellungen der Forschung von aktuellen politischen Stimmungen und Interessen sind. Nachdem bis zum Ende des Ersten Weltkriegs die nationalpolitische Komponente im Vorder­ grund gestanden hatte, rückte während der Weimarer Zeit der liberal­ demokratische Aspekt nach vorne, um seit 1933 erneut dem »Ringen um Einheit und Freiheit« (Paul Wentzke) zu weichen. In der DDRHistoriographie stehen die »revolutionären Traditionen der deutschen Geschichte« unter besonderer Betonung der »revolutionären Arbeiter­ klasse« als einzigerlegitimer Erbin von 1848 im Vordergrund, während in der Bundesrepublik die demokratische Traditionslinie besondere Be­ achtung gefunden hat. Zu den Schwerpunktthemen westdeutscher For­ schung gehören auch, im Zusammenhang mit dem Interessenwandel seit 1968, das Auseinandertreten liberal-konstitutioneller und demokratisch­ radikaler Strömungen sowie seit einigen Jahren eine besondere Zuwen­ dung zur Erforschung der Politisierung und Mobilisierung der Bevölke­ rung, meist im Zusammenhang mit lokalen und regionalen Detailstudien. Insbesondere dieses letztere Forschungsinteresse ist für unsere Fragestel­ lung nach der nationalen Komponente der Revolution von erheblichem Wert, denn während die Einstellungen und Auseinandersetzungen auf der Ebene der politischen Institutionen und Eliten weitgehend geklärt worden sind, zuletzt durch die Arbeit von Günter Wollstein über Groß­ deutschland in der Paulskirche, ist die Nationalisierung von unten, die Entstehung eines überregionalen deutschen Identitätsbewußtseins in der Bevölkerung, bisher nur ansatzweise zu verfolgen29. 1983; Irmline Veit-Brause, Die deutsch-französische Krise von 1840. Studien zur deutschen Einheitsbewegung, phil. Diss. Köln 1967; Friedrich Keinemann, Preußen auf dem Wege zur Revolution. Hamm 1975; Jürgen Kocka, Preußischer Staat und Modernisierung im Vormärz. In; Hans-Ulrich Wehler (Hrsg.), Sozial­ geschichte heute. Göttingen 1974; Ludger Kerssen, Das Interesse am Mittelalter im deutschen Nationaldenkmal. Berlin, New York 1975; Thomas Nipperdey, Nationalidee und Nationaldenkmal in Deutschland im 19. Jahrhundert. In: Hi­ storische Zeitschrift 206 (1968), S. 529-585. 29 Veit Valentin, Geschichte der deutschen Revolution von 1848-1849. 2Bde, Berlin 1930/31; zum derzeitigen Forschungsstand: Dieter Langewiesche, Die deutsche Revolution von 1848/49 und die vorrevolutionäre Gesellschaft. For­ schungsstand und Forschungsperspektiven. In: Archiv für Sozialgeschichte 21 (1981), S. 458-498; Günter Wollstein, 1848 - Streit um das Erbe. In: Neue Politische Literatur 20 (1975), S. 491-507; 21 (1976), S. 89-106; Aufsatzsammlun­ gen, die einen Eindruck von der Breite der Themen und dem derzeitigen For­ schungsstand vermitteln und zugleich weiterführende Bibliographien enthalten: Horst Stuke, Wilfried Forstmann (Hrsg.), Die europäischen Revolutionen von 1848. Königstein/Ts. 1979; Dieter Langewiesche (Hrsg.), Die deutsche Revolu­ tion von 1848/49. Darmstadt 1983; zwei wichtige neuere Erscheinungen zur nationalen Frage in der Revolution: Michael Stürmer, Die Geburt eines Dilem­ mas. Nationalstaat und Massendemokratie im Mächtesystem 1848. In: Merkur 36 (1982), S. 1-12; Günter Wollstein, Das >Großdeutschland< der Paulskirche-. Nationale Ziele in der bürgerlichen Revolution 1848/49. Düsseldorf 1977.

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Auch die wirtschaftsgeschichtliche Komponente der deutschen Eini­ gungsbewegung bedarf noch weiterer Durchleuchtung. Das Problem liegt hier unter anderem in der für die deutsche Forschungssituation charakteristischen Trennung von allgemeiner Geschichte und Wirt­ schaftsgeschichte, so daß beide Bereiche oft unverbunden nebeneinan­ der stehen. Dabei sind die Einwirkungen der wirtschaftlichen Lage auf die Nationalisierung Deutschlands vielfach manifest, ob die wirt­ schaftsliberale Tendenz zu größeren Wirtschaftsräumen mit der natio­ nalliberalen Tendenz zur Nationalstaatsbildung zusammenfällt, oder ob die wirtschaftlichen Wechsellagen kongruent zu den Konjunkturen nationaler Begeisterung verlaufen - die Daten der größeren und kleine­ ren Konjunktureinbrüche von 1817, 1830, 1847 und 1859 bezeichnen zugleich Ausbruchsphasen kollektiver nationaler Gefühle. Insbesonde­ re ist die ökonomische Erfolgsgeschichte des Zollvereins auch eine der Voraussetzungen für den Vorsprung, den die kleindeutsche Lösung der deutschen Frage spätestens seit den 1850er Jahren gegenüber allen Al­ ternativen besaß30. Mit der Italienkrise von 1859 tritt die Nationalbewegung wieder in die politische Arena; auch hier bleibt allerdings manches offen. Auf der einen Seite gibt es bisher kaum Untersuchungen, die die erneute natio­ nale Stimmung als kollektive Erwartungshaltung zum Gegenstand hät­ ten; namentlich die Schillerfeiern lohnen die vergleichende Untersu­ chung. Auch das Vereinswesen der ausgehenden fünfziger und der sechziger Jahre ist so gut wie unerforscht, sieht man von parteige­ schichtlichen Studien ab, die sich in erster Linie auf den preußischen Liberalismus während des Verfassungskonflikts und auf die Entste­ hungsphase der Sozialdemokratie konzentrieren. Während der Re­ formverein durch Willy Real immerhin eine Gesamtdarstellung erhal­ ten hat, sind neuere Arbeiten über den Nationalverein derzeit erst in Vorbereitung. Auch hier wäre im übrigen viel gewonnen, wenn sich den übergreifenden Gesamtstudien gezielte Regionaluntersuchungen beigesellten, die ein Bild der Nationalbewegung »von unten« her und damit ihrer tragenden Schichten und Verflechtungen zeichneten. Gene­ rell gilt für die Periode zwischen der 48er Revolution und der Reichs­ gründung von 1866/71, daß immer noch ein erhebliches Übergewicht der herkömmlichen politikgeschichtlichen Untersuchungen auf parla­ mentarischer, diplomatischer und gouvernementaler Ebene zuungun­ sten sozial-, Vereins- und mentalitätsgeschichtlicher Arbeiten besteht.

50 William O. Henderson, The Zollverein. London 1939, 3. Aufl. 1968; Hans Werner Hahn, Wirtschaftliche Integration im 19. Jahrhundert. Göttingen 1982; Friedrich Zunkel, Das rheinisch-westfälische Unternehmertum. Köln, Opladen 1962; Jürgen Bergmann, ökonomische Voraussetzungen der Revolution von 1848. In: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 2, Göttingen 1976; Walther G. Hoffmann, The Take-Off in Germany. In: Walter W. Rostow (Hrsg.), The Economics of Take-Off into Sustained Growth. London, Basingstoke 1969; Helmut Böhme, Deutschlands Weg zur Großmacht. Studien zum Verhältnis von Wirtschaft und Staat während der Reichsgründungszeit 1848-1881. Köln 1966.

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Was die Reichsgründung eigentlich für die Deutschen unterhalb der publizistischen und politischen Spitzenplätze bedeutete, wissen wir ganz einfach nicht31. Daß mit Königgrätz und der Gründung des Norddeutschen Bundes die Geschichte der liberalen und nationalen deutschen Einigungsbewe­ gung als gesellschaftliche, »von unten« wirkende politische Kraft been­ det war, daß mit der Etablierung des Nationalliberalismus als Stütze der Politik Bismarcks die Bewegung des deutschen Nationalismus aus dem »linken« in den »rechten« Teil des politischen Spektrums begann, dürfte allgemeine Meinung sein. Anders steht es dagegen mit der Ge­ samtinterpretation des deutschen Wegs zum Nationalstaat. Genügt der Begriff der »Revolution von oben«, um den Vorgang zu beschreiben? Handelte es sich nicht vielmehr um eine komplizierte Wechselwirkung zwischen den gouvernementalen Kräften »von oben« und der liberal­ bürgerlichen Einigungsbewegung »von unten«, die schließlich zum kleindeutsch-großpreußischen Reich führte, und damit auch mit einer gewissen Konsequenz zu dem schließlichen Bündnis von Nationallibe­ ralismus und konstitutionellem Obrigkeitsstaat? Die Interpretation dieses Verhältnisses wäre einfacher, besäßen wir mehr und bessere Kenntnis von den Strömungen im gesellschaftlichen Feld der deutschen Geschichte im 19. Jahrhundert. Für die Regionalgeschichte, die Ver­ einsgeschichte, die Geschichte kollektiver Mentalitäten und ihrer Ver­ änderungen ist hier noch fast alles zu tun32. 31 Anni Mittelstadt, Der Krieg von 1859. Stuttgart 1904; Willy Andreas, Die Wandlungen des großdeutschen Gedankens. Berlin 1924; Heidrun von Möller, Großdeutsch und Kleindeutsch. Berlin 1937; Gerhard Ritter, Großdeutsch und Kleindeutsch im 19. Jahrhundert. Festschrift für Siegfried A. Kähler. Düsseldorf 1950; Reinhold Le Mang, Der Deutsche Nationalverein. Berlin 1909; Leonore O’Boyle, The German Nationalverein. In: Journal of Central European Affairs 16 (1957), S. 23-45; Willy Real, Der Deutsche Reformverein. Großdeutsche Stimmen und Kräfte zwischen Villafranca und Königgrätz. Lübeck, Hamburg 1966. 32 Der Begriff der »Revolution von oben« als Beschreibung der Bismarckschen Reichseinigung scheint von Bismarck selbst zu stammen, wie sein Runderlaß an die preußischen Missionen vom 27. 5. 1866 ausweist (Gesammelte Werke, Bd. 5, Nr. 359), und wird noch im selben Jahr von Anhängern wie Gegnern Bismarcks gebraucht. In der Geschichtsschreibung braucht man diesen Terminus in der Regel zur Kennzeichnung einer deutschen Sonderentwicklung im 19. Jahrhun­ dert als Ersatz für die ausgebliebene »richtige« Revolution; siehe u. a. Ernst Engelberg, Über die Revolution von oben. Wirklichkeit und Begriff. In: ders., Theorie, Empirie und Methode in der Geschichtswissenschaft. Berlin (Ost) 1980; vgl. die kritische Reflexion durch Barbara Vogel, »Revolution von oben« Der »deutsche Weg« in die bürgerliche Gesellschaft? In: Sozialwissenschaftliche Informationen für Unterricht und Studium 8 (1979), S. 67-74. Zum Wandel von Liberalismus und Nationalbewegung 1866: Friedrich Sell, Die Tragödie des deutschen Liberalismus. Stuttgart 1953; Karl Georg Faber, Realpolitik als Ideo­ logie. Die Bedeutung des Jahres 1866 für das politische Denken in Deutschland. In: Historische Zeitschrift (1966), S. 1-32; Heinrich August Winkler, Bürgerli­ che Emanzipation und Nationale Einigung. In: Helmut Böhme (Hrsg.), Proble­ me der Reichsgründungszeit 1848-1871. Köln, Berlin 1968, S. 227-241.

Quellenlage

Einem so schwer faßbaren, sozial wie regional äußerst heterogenen historischen Phänomen wie der deutschen Nationalbewegung ent­ spricht eine außerordentlich uneinheitliche und schwierige Quellen­ grundlage. »Nationalbewegung« ist lediglich ein Oberbegriff für eine verwirrende Vielzahl von Personen, Gruppierungen, Vereinen, Partei­ en und publizistischen Organen, die nie zu einer gemeinsamen Organi­ sation zusammenfanden; infolgedessen ist der übliche Weg, über orga­ nisations- und verwaltungsgeschichtliche Strukturzusammenhänge ge­ schlossene archivalische Bestände aufzusuchen, versperrt. Das gilt so­ gar für die größeren Zusammenschlüsse der Spätzeit, für National- und Reformverein; in beiden Fällen gibt es zwar Restbestände, im ersten Fall im Staatsarchiv Coburg, im letzteren im Bundesarchiv, Außenstel­ le Frankfurt, aber da die kompletten Registraturen nie in Archive ge­ langt sind, handelt es sich nur um Bruchstücke, die hauptsächlich durch Aufzeichnungen und Schriftwechsel in Nachlässen führender Vereins­ mitglieder, in Einzelfällen auch durch amtliche Aktenbestände, vor allem aber durch den publizistischen Niederschlag der Vereinstätigkeit ergänzt werden müssen. An diesem verhältnismäßig einfachen Beispiel wird bereits deutlich, daß die Quellenbasis für ein beliebiges Werk zur deutschen National­ bewegung ein buntes Flickwerk aus Archivalien und Publizistik, mög­ licherweise auch aus noch anderen Quellenbereichen sein muß. Was die in Frage kommenden Archivalien angeht, so sind in den staatlichen Aktenüberlieferungen in erster Linie Schriftwechsel und Lageberichte aus den Bereichen der Innen-, Polizei- und Sicherheitsbehörden aufzu­ suchen. Je nach der regionalen Einengung des Untersuchungsgegen­ standes kommen hierfür nicht allein die Registraturen der staatlichen Oberbehörden in Frage, die sich heute in den Staats- und Landesarchi­ ven der Bundesländer finden, die die Nachfolge der Staaten des alten Reichs, des Rheinbunds und des Deutschen Bundes angetreten haben, sondern auch Bestände der unteren Verwaltungsebenen, der Städte, Ämter und Kreise; das gilt entsprechend für die österreichischen und DDR-Staats- und Landesarchive. Daneben sind die einschlägigen Nachlaßbestände der Archive zu durchforsten, in denen nicht nur the­ matisch ergiebige Schriftwechsel und Aufzeichnungen, sondern unter Umständen Handakten und sonstige Restüberlieferungen von Vereinen und sonstigen Organisationen zu vermuten sind; einen keineswegs vollständigen Überblick über die in Frage kommenden Bestände haben Wolfgang A. Mommsen und Ludwig Deneke vorgelegt1. Auch die Dis1 Verzeichnis der schriftlichen Nachlässe in deutschen Bibliotheken. Bd. 1: Die Nachlässe in den deutschen Archiven. Bearb. v. Wolfgang A. Mommsen.

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ziplinarakten älterer Universitätsarchive lohnen die Durchsicht, wie auch die Archive von Turn- und Gesangsvereinen. Die nächste Untersuchungsebene ist die der »grauen Literatur«, der Flugschriften, Aufrufe, Programme, Essays, Reden, aber auch der Ver­ einsfestschriften, Jubiliäumsveröffentlichungen, Vereins- und Ver­ bandschroniken: eine schwierige, nur mühsam zugängliche Quellen­ gruppe, deren Auswertung gleichwohl unverzichtbar ist, wenn Ver­ einsgeschichten, Tagesparolen und kollektive Stimmungsbilder in Fra­ ge stehen. Als erster Zugang empfiehlt sich die Durchsicht der Druck­ sachen- und Flugschriftensammlungen in den Archiven und Bibliothe­ ken, meist Friedhöfe unklassifizierbaren Materials, die aber gelegent­ lich erstaunliche Funde ermöglichen. Angesichts der Schlüsselfunktion der Presse im politischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts wird kaum eine Studie zum Thema der Nationalbewegung ohne Analysen der zeitgenössischen Publizistik auskommen. Neben einem Bestands­ verzeichnis, das die Standorte älterer deutscher Presseerzeugnisse ent­ hält, sind einige voluminöse kritische Bibliographien sehr hilfreich, die in Form von Regesten den Inhalt der wichtigsten publizistischen Er­ zeugnisse einer Epoche Revue passieren lassen. Hier sind vor allem Paul Czygans Geschichte der Tagesliteratur während der Freiheitskrie­ ge, Hans Rosenbergs Übersicht über die nationalpolitische Publizistik zwischen 1859 und 1866 sowie das daran anschließende Werk KarlGeorg Fabers über die Jahre 1866 bis 1871 zu nennen2. Auch hierfür gilt, daß auf diese Weise lediglich Quellen auf verhältnismäßig hohem Verbreitungsniveau aufzufinden sind; wer sich des mühsamen, aber besonders notwendigen und fruchtbaren Geschäfts der Regional-, Lo­ kal- oder Vereinsgeschichte unterziehen will, muß sich im Bereich der »grauen Literatur« umtun. Wenn von Quellen zu einem sozialen und kultur- und mentalitätsge­ schichtlichen Phänomen die Rede ist, dann dürfen nicht allein schriftli­ che Zeugnisse herkömmlicher Provenienz herangezogen werden. Eine so unscharfe, unstrukturierte, unorganisierte historische Erscheinung wie die deutsche Nationalbewegung bedurfte in besonderem Maße ge­ meinschaftsstiftender Symbole und Erkennungszeichen, in denen sich ihre Identität offenbarte. Gegenstände der Kunst, der Architektur, der materiellen Kultur sind hier aufzusuchen, für den an den traditionellen

2Teilbde, Boppard 1971/83; Bd. 2: Die Nachlässe in den Bibliotheken der Bun­ desrepublik Deutschland. Bearb. v. Ludwig Deneke, Tilo Brandis. 2. Aufl. Bop­ pard 1981. 2 Paul Czygan, Zur Geschichte der Tagesliteratur während der Freiheitskrie­ ge. 2. Bde, 2. Aufl. Leipzig 1909/11; Hans Rosenberg, Die nationalpolitische Publizistik Deutschlands vom Eintritt der Neuen Ära in Preußen bis zum Aus­ bruch des Deutschen Krieges. 2Bde, Berlin 1935; Karl-Georg Faber, Die natio­ nalpolitische Publizistik Deutschlands von 1866 bis 1871. 2Bde, Düsseldorf 1963; Gert Hagelweide, Deutsche Zeitungsbestände in Bibliotheken und Archi­ ven. Düsseldorf 1974.

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Quellenbegriff der Historiographie gebundenen deutschen Historiker oft ein ungewohntes Geschäft, das ihn in die Gefilde der Kunstge­ schichte, der Germanistik und der Volkskunde entführt. Symbole und Programme an zeitgenössischen Gebäuden, Denkmälern, Grabsteinen sind zu entziffern, Sinnsprüche und Zitate auf Postkarten, Bierkrügen und Häkeldeckchen können im Zusammenhang aussagekräftiger als manche große Programmschrift sein, die Darstellung der Politik und Historie in der Malerei bedarf der Interpretation. Auch Schulbücher, Liederhefte und Lyrikanthologien können Quellen ersten Ranges sein; hier wie in den übrigen genannten Fällen steht allerdings in der Regel nicht die Einzelaussage im Vordergrund, sondern die serielle Auswer­ tung: eine größere Zahl gleichartiger Quellen ist zusammenzutragen, um die Verbreitung und die Konjunktur von Schlüsselbegriffen, von Symbolen oder Parolen zu eruieren und so zu Aussagen über kollektive Mentalitätsphänomene zu gelangen. Hier steht die Forschung noch ganz in ihren Anfängen. Was die publizierten Quellen angeht, so tut sich das weite Feld der Akteneditionen, Urkundensammlungen, Quellenpublikationen und persönlichen Quellen auf. Angesichts der Fülle wäre es sinnlos, an dieser Stelle eine Übersicht zu versuchen; stattdessen sei auf die ein­ schlägigen Bände der »Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit« verwiesen3. Einige wichtige Quellenpublikationen müssen je­ doch hervorgehoben werden. Da ist die Reihe »Quellen zum politi­ schen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert« der Freiherrvom-Stein-Gedächtnisausgabe, die eine große Zahl vorzüglich edierter Programmschriften, Schriftwechsel, Flugschriften und anderer veröf­ fentlichter, aber oft schwer zugänglicher Quellen zur Entwicklung der politischen Öffentlichkeit des 19. Jahrhunderts präsentiert4. Eine sehr brauchbare Auswahlsammlung zur Geschichte des 19. Jahrhunderts stellt der Band 4 der Reihe »Geschichte in Quellen« dar; Einschlägiges zur deutschen Nationalbewegung zwischen Wiener Kongreß und 48er Revolution veröffentlichte Karl Obermann, und trotz teilweise zeitge­ bundener Auswahl- und Bewertungskriterien ist das große Sammel­ 3 Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Ge­ genwart. Hrsg. v. Winfried Baumgart. Bd. 3: Absolutismus und Zeitalter der Französischen Revolution (1715-1815). Bearb. v. Klaus Müller. Darmstadt 1982; Bd. 4: Restauration, Liberalismus und nationale Bewegung (1815-1870). Bearb. v. Wolfram Siemann. Darmstadt 1982. 4 Quellen zum politischen Denken der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Begründet v. Rudolf Buchner, fortgeführt v. Winfried Baumgart. Bd. 1: Deutschland und die Französische Revolution 1789—1806. Hrsg. v. Theo Sum­ men, Friedrich Eberle. Darmstadt (noch nicht erschienen); Bd. 2: Die Erhebung gegen Napoleon 1806-1814/15. Hrsg. v. Hans-Bernd Spies. Darmsudt 1981; Bd. 3: Restauration und Frühliberalismus 1814—1840. Hrsg. v. Hartwig Brandt. Darmstadt 1979; Bd. 4: Vormärz und Revolution 1840-1849. Hrsg. v. Hans Fenske. Darmstadt 1976; Bd. 5: Der Weg zur Reichsgründung 1850-1870. Hrsg, v. Hans Fenske. Darmstadt 1977.

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werk Paul Wentzkes zur Burschenschafts- und Einheitsbewegung un­ verzichtbar5. Einige Worte noch zu der letzten wichtigen Primärquellengattung, der der persönlichen Zeugnisse, der Memoiren, Tagebücher und Brief­ sammlungen. Was die führenden Politiker, Diplomaten, Militärs und Beamten angeht, so sind sie in der oben angegebenen >Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit« ziemlich zuverlässig bibliographiert und charakterisiert. Das ist aber nur ein Bruchteil des in Frage kommenden Materials. Nie in der Geschichte waren die Mitglieder der Bildungsschicht, natürliches Rückgrat der deutschen Nationalbewe­ gung, so schreib- und mitteilungsfreudig wie in dem uns interessieren­ den Zeitraum von der Ära der Französischen Revolution bis zur Reichsgründung. Eine Gesamtbibliographie der deutschsprachigen Selbstzeugnisse fehlt, ein dringendes Desiderat. Auf der Suche sind nicht allein Kataloge und Bibliographien auf Buchpublikationen zu befragen, sondern auch Zeitschriften; recht ergiebig sind Heimat- und Regionalgeschichtszeitschriften. Dabei ist aus naheliegenden Gründen Brief- und Tagebuchpublikationen der Vorzug vor Memoiren zu ge­ ben, in die nachträgliche Urteile und Erinnerungsfehler in unkontrol­ lierbarer Weise eingeflossen sein können. Die Auswertung dieser Quel­ lengattung kann nicht nur in herkömmlicher qualitativer, sondern auch sehr fruchtbringend in quantitativer Hinsicht erfolgen: Welche The­ men, welche Begriffe erscheinen zu bestimmten Perioden gehäuft, wor­ auf richtet sich das kollektive Interesse? Gibt es Unterschiede und Gefälle im nationalen Diskurs zwischen Nord- und Süddeutschland, zwischen den Konfessionen, zwischen Bürgern und Adligen, zwischen den Generationen, zwischen den Geschlechtern? Aus alledem wird deutlich: Nur ein Bruchteil der verfügbaren Quel­ len zu unserem Thema ist bisher ausgeschöpft, und selbst die bereits bekannten Quellen können, methodisch neu befragt, neue Antworten liefern. Die Erforschung der deutschen Nationalbewegung hat kaum begonnen.

5 Geschichte in Quellen. Hrsg. v. Wolfgang Lautemann, Manfred Schlenke. Bd. 4: Das bürgerliche Zeitalter 1815-1914. Bearb. v. Günter Schönbrunn. Mün­ chen 1980; Einheit und Freiheit. Die deutsche Geschichte von 1815 bis 1849 in zeitgenössischen Dokumenten. Dargestellt und eingel.. v. Karl Obermann. Ber­ lin (Ost) 1950; Quellen und Darstellungen zur Geschichte der Burschenschaft und der deutschen Einheitsbewegung. Hrsg. v. Hermann Haupt, Paul Wentzke. 17Bde, Heidelberg 1910-1940; Darstellungen und Quellen der Deutschen Ein­ heitsbewegung im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg. v. Paul Wentzke u.a., bisher erschienen: Bd. 1-11, Heidelberg 1957ff.

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Zeittafel

1763 15. Februar: Friede von Hubertusburg: Befestigung der preußi­ schen Großmachtstellung. Der preußisch-österreichische Kon­ flikt beherrscht für die folgenden hundert Jahre die deutsche Frage 1766 Friedrich Carl von Moser: >Von dem Deutschen Nationalgeist« 1772 Johann Gottfried Herder: >Abhandlung über den Ursprung der Sprache« 1789 Beginn der Französischen Revolution 1803 Reichsdeputationshauptschluß 1806 Austritt von 16 deutschen Fürsten aus dem Reich, Gründung des Rheinbunds. Franz II. legt die Römisch-deutsche Kaiserwürde nieder; formales Ende des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation 14. Oktober Preußische Niederlage bei Jena und Auerstädt 1807 7.-9. Juli: Friede von Tilsit, Preußen wird zur Mittelmacht her­ abgedrückt 1807--1811 Staats- und Verwaltungsreformen in den z.T. neugebilde­ ten Rheinbundstaaten nach französischem Vorbild 1807--1815 Preußische Reformen 1807/1808 Johann Gottlieb Fichte: »Reden an die deutsche Nation« 1808 16. April: Gründung des Tugendbunds in Königsberg 1809 9. April-14. Oktober: Österreichisch-französischer Krieg 28. April: Major von Schill beginnt seinen Aufstandsversuch 31. Mai: Schill fällt in Stralsund im Straßenkampf. 1811 Juni: Beginn der Turnbewegung; Friedrich Ludwig Jahn errich­ tet den ersten Turnplatz auf der Berliner Hasenheide 1812 24. Juni: Beginn des französischen Rußlandfeldzugs 30. Dezember: Konvention von Tauroggen 1813 17. März: Aufruf »An mein Volk« Friedrich Wilhelms III. 16.-19. Oktober: Völkerschlacht zu Leipzig 1814 Theodor Körner: »Leyer und Schwerdt« 30. Mai: Friede von Paris 1814—1815 Wiener Kongreß 1815 8. Juni: Vereinbarung der Deutschen Bundesakte 12. Juni: Gründung der Jenaischen Burschenschaft 26. September: Stiftung der Heiligen Allianz 18. Oktober: Völkerschlacht-Feiern 1817 17.-18. Oktober: Wartburgfest 1818 18. Oktober: Gründung der Allgemeinen Deutschen Burschen­ schaft 1819 Friedrich List gründet den »Deutschen Handels- und Gewerbe­ verein«

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23. März: Ermordung des Dichters und russischen Staatsrats von Kotzebue durch den Burschenschaftler Georg Ludwig Sand 20. September: Der Bundestag bestätigt die Karlsbader Be­ schlüsse 1820 15. Mai: Wiener Schlußakte 1822 Gründung der »Gesellschaft deutscher Naturforscher und Arzte« 1825 Gründung des »Börsenvereins des deutschen Buchhandels« 1828 Bildung von Zollunionen: Preußen und Hessen-Darmstadt, Bay­ ern und Württemberg, Mitteldeutscher Handelsverein 1830-1831 Unruhen in mehreren deutschen Bundesstaaten nach der Pariser Julirevolution 1831 Paul Achatius Pfizer: >Briefwechsel zweier Deutscher« 1832 29. Januar: Gründung des »Deutschen Preß- und Vaterlandsver­ eins« 27. Mai: Hambacher Fest 1834 1. Januar: Gründung des Deutschen Zollvereins 1835 7. Dezember: Eröffnung der ersten deutschen Eisenbahnstrecke Nürnberg - Fürth 1837 18. November: Protest der »Göttinger Sieben« gegen die Aufhe­ bung der hannoverschen Verfassung 1840 Rheinkrise 18. September: Nikolaus Becker: >Der deutsche Rhein« 1842 24. September: Kölner Dombaufest 1844 Juni: Weberaufstand in Schlesien 1847 11. April-26. Juni: Vereinigter Landtag in Berlin 12. September: Offenburger Programm der süd- und westdeut­ schen Demokraten 10. Oktober: Heppenheimer Programm der süd- und westdeut­ schen Liberalen 1848 22.-24. Februar: Februar-Revolution in Paris 5. März: Heidelberger Versammlung der süddeutschen Liberalen und Demokraten; Beschluß zur Einberufung eines Vorparla­ ments 12.-13. März: Revolution in Wien; Sturz Metternichs 18.-19. März: Barrikadenkämpfe in Berlin 21. März: Proklamation Friedrich Wilhelms IV.: >An mein Volk und an die deutsche Nation!« 31. März-3. April: Deutsches Vorparlament in Frankfurt, Be­ schluß der Einberufung einer deutschen Nationalversammlung April: Republikanischer Aufstand in Baden 18. Mai: Eröffnung der deutschen Nationalversammlung in Frankfurt 22. Mai: Eröffnung der preußischen Verfassunggebenden Ver­ sammlung in Berlin 26. August: Waffenstillstand von Malmö

18. September: Erhebung der Linken gegen die Frankfurter Na­ tionalversammlung; demokratische Aufstände in Baden, Hessen, Thüringen und der Pfalz 19. Oktober: Beginn der Verfassungsberatungen in der National­ versammlung 27. November: österreichische Absage an den Frankfurter Ver­ fassungsentwurf 5. Dezember: Auflösung der preußischen Nationalversammlung, Oktroyierung einer preußischen Verfassung durch den König 18. Dezember: Heinrich von Gagern, Fürsprecher der kleindeutsch-erbkaiserlichen Lösung, wird Reichs-Ministerpräsident 1849 28. März: Vollendung der deutschen ReichsVerfassung; Kaiser­ wahl Friedrich Wilhelms IV. von Preußen durch die Nationalver­ sammlung 3. April: Ablehnung der Kaiserwürde durch Friedrich Wil­ helm IV. 31. Mai: Nach dem Auszug der meisten Abgeordneten wird das Rumpfparlament von Frankfurt nach Stuttgart verlegt 17. Juni: Auflösung des Rumpfparlaments durch die württembergische Regierung 1850 30. März-29. April: Unionsparlament in Erfurt 29. November: Vertrag von Olmütz zwischen Österreich und Preußen; Preußen gibt seine deutsche Unionspolitik auf 1853 Erneuerung des Deutschen Zollvereins ohne Österreich

1853-1856 Krimkrieg 1854 Der 1834/35 gegründete Steuerverein (Hannover, Oldenburg, Schaumburg-Lippe) tritt dem Zollverein bei 1858 26. Oktober: Prinz Wilhelm von Preußen übernimmt die Re­ gentschaft; Beginn der »Neuen Ara« 1859 29. April-11. Juli: Krieg zwischen Österreich und Frankreich/ Piemont in Italien 15.-16. September: Gründung des »Deutschen Nationalvereins« in Frankfurt 10. November: Schiller-Feiern aus Anlaß des 100. Geburtstags Friedrich Schillers; am selben Tag Friede von Zürich, österreichi­ sche Niederlage in Italien 1860 10. Februar: Beginn des preußischen Heereskonflikts 1861 6. Juni: Gründung der Deutschen Fortschrittspartei 1862 24. September: Ernennung Bismarcks zum preußischen Minister­ präsidenten 28.-29. Oktober: Gründung des großdeutschen »Deutschen Re­ formvereins« 1864 1. Februar: Beginn des österreichisch-preußischen Kriegs gegen Dänemark 30. Oktober: Friede von Wien zwischen Österreich, Preußen und Dänemark

1866 9. April: Antrag Preußens auf Reform des Deutschen Bundes unter Ausschluß Österreichs 13. Mai: Letzte Ausschußsitzung des »Deutschen Reformver­ eins«, anschließend stillschweigende Auflösung 15. Juni-26. Juli: Krieg zwischen Österreich sowie dem Deut­ schen Bund gegen Preußen 3. Juli: Schlacht von Königgrätz 26. Juli: Vorfrieden von Nikolsburg 23. August: Friede von Prag zwischen Preußen und Österreich; Auflösung des Deutschen Bundes, österreichische Zustimmung zur Bildung eines Norddeutschen Bundes unter preußischer Vor­ herrschaft 3. September: Annahme der Indemnitätsvorlage durch das preu­ ßische Abgeordnetenhaus, Ende des preußischen Verfassungs­ konflikts 1867 12. Februar: Wahl zum verfassunggebenden Norddeutschen Reichstag 12. Juni: Gründung der »Nationalliberalen Partei« 19. Oktober: Auflösung des »Deutschen Nationalvereins«

Der Deutsche Bund 1815 1 Hzm. Holstein 2 Hzm. Lauenburg 3 Ghzm. Mecklen­ burg-Schwerin 4 Ghzm. Mecklenburg-Strelitz 5 Kgr. Hannover 6 Ghzm. Olden­ burg 7 Fsm. Schaum­ burg-Lippe 8 Fsm. Lippe-Det­ mold

9 Hzm. Braun­ schweig 10 Hzm. Anhalt 11 Fsm. Waldeck 12 Kfsm. Hessen 13 Ghzm. Hessen 14 Hzm. Nassau 15 Lgft. HessenHomburg 16 Thüringische Staaten

17 Kgr. Sachsen 18 Ghzm. Luxem­ burg 19 Fsm. Lichtenberg 20 Pfalz (zu Bayern) 21 Ghzm. Baden 22 Kgr. Württem­ berg 23 Fürstentümer Hohenzollern

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Der Deutsche Zollverein 1834

1 Hzm. Holstein 2 Hzm. Lauenburg 3 Ghzm. Mecklen­ burg-Schwerin 4 Ghzm. Mecklenburg-Strelitz 5 Kgr. Hannover 6 Ghzm. Olden­ burg 7 Fsm. Schaum­ burg-Lippe 8 Fsm. Lippe-Det­ mold

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9 Hzm. Braun­ schweig 10 Hzm. Anhalt 11 Fsm. Waldeck 12 Kfsm. Hessen 13 Ghzm. Hessen 14 Hzm. Nassau 15 Lgft. HessenHomburg 16 Thüringische Staaten

17 Kgr. Sachsen 18 Ghzm. Luxem­ burg 19 Fsm. Lichtenberg 20 Pfalz (zu Bayern) 21 Ghzm. Baden 22 Kgr. Württem­ berg 23 Fürstentümer Hohenzollern

Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart Herausgegeben von Martin Broszat, Wolfgang Benz, Hermann Graml in Verbindung mit dem Institut für Zeitgeschichte Die »neueste« Geschichte setzt ein mit den nachnapoleonischen Evolu­ tionen und Umbrüchen auf dem Wege zur Entstehung des modernen deutschen National-, Verfassungs- und Industriestaates. Sie reicht bis zum Ende der sozial-liberalen Koalition (1982). Die großen Themen der deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts werden, auf die Gegenwart hin gestaffelt, in dreißig konzentriert geschriebenen Bänden abgehandelt. Ihre Gestaltung folgt einer einheitlichen Konzeption, die die verschiedenen Elemente der Geschichtsvermittlung zur Geltung bringen soll: die erzählerische Vertiefung einzelner Ereignisse, Kon­ flikte, Konstellationen; Gesamtdarstellung und Deutung; Dokumenta­ tion mit ausgewählten Quellentexten, Statistiken, Zeittafeln; Work­ shop-Information über die Quellenproblematik, leitende Fragestellun­ gen und Kontroversen der historischen Literatur. Erstklassige Autoren machen die wichtigsten Kapitel dieser deutschen Geschichte auf me­ thodisch neue Weise lebendig.

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Peter Burg: Der Wiener Kongreß Der Deutsche Bund im europäischen Staatensystem Wolfgang Hardtwig: Vormärz Der monarchische Staat und das Bürgertum Hagen Schulze: Der Weg zum Nationalstaat Soziale Kräfte und nationale Bewegungen bis zur Reichsgrün­ dung Michael Stürmer: Die Reichsgründung Deutscher Nationalstaat und europäisches Gleichgewicht im Zeitalter Bismarcks Hans-Jürgen Puhle: Das Kaiserreich Liberalismus, Feudalismus, Militärstaat Klaus J. Bade: Der Gründerkrach Die Industrielle Revolution und ihre Folgen Helga Grebing: Arbeiterbewegung Sozialer Protest und kollektive Interessenvertretung bis 1914 Der Wilhelminismus Deutsches Bürgertum zwischen Humanismus und alldeutschem Nationalismus Hermann Graml: Imperialismus Deutsche Kolonial- und Weltpolitik 1880 bis 1914 Gunther Mai: Das Ende des Kaiserreichs Politik und Kriegführung im Ersten Weltkrieg Werner Röder: Spartakus Die Spaltung der Arbeiterbewegung

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Horst Möller: Weimar Die unvollendete Demokratie Peter Krüger: Versailles Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedens­ sicherung Corona Hepp: Avantgarde Moderne Kunst und konservative Kulturkritik seit der Jahrhun­ dertwende Fritz Blaich: Der Schwarze Freitag Inflation und Wirtschaftskrise Martin Broszat: Die Machtergreifung Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der Weimarer Republik Norbert Frei: Der Führerstaat Nationalsozialistische Herrschaft 1933 bis 1945 Bernd-Jürgen Wendt: Großdeutschland Außenpolitik und Kriegsvorbereitung des Hitler-Regimes Die Reichskristallnacht Antisemitismus und Judenverfolgung im Dritten Reich Elke Fröhlich, Hartmut Mehringer: Emigration und Widerstand Das NS-Regime und seine Gegner Lothar Gruchmann: Totaler Krieg Vom Blitzkrieg zur bedingungslosen Kapitulation Wolfgang Benz: Potsdam 1945 Besatzungsherrschaft und Neuaufbau im Vier-Zonen-Deutschland Wolfgang Benz: Die Gründung der Bundesrepublik Von der Bizone zum souveränen Staat Dietrich Staritz: Die Gründung der DDR Von der sowjetischen Besatzungsherrschaft zum sozialistischen Staat Martin Broszat: Die Adenauer-Zeit Wohlstandsgesellschaft und Kanzlerdemokratie Hartmut Zimmermann: Die Deutsche Demokratische Republik Von Ulbricht bis Honecker Ludolf Herbst: Option für den Westen Vom Marshallplan bis zum deutsch-französischen Vertrag Peter Bender: Neue Ostpolitik Vom Mauerbau bis zum Moskauer Vertrag Krisen und Reformen Die Bundesrepublik seit den sechziger Jahren Helga Haftendorn: Sicherheit und Stabilität Außenbeziehungen der Bundesrepublik zwischen Ölkrise und Nato-Doppelbeschluß

Personenregister

Abbt, Thomas 62 Alexander der Große 107 Altenstein, Karl Frhr. vom 63 Alvensleben, Gustav von 103 Angerstein, Wilhelm 9 Arndt, Ernst Moritz 63, 68f., 72, 88 Bamberger, Ludwig 103 Bauer, Ludwig 102 Baumgarten, Hermann 115, 119 Becker, Nikolas 81 Bennigsen, Rudolf von 106, 164 Beseler (Greifswald), PaulskirchenAbgeordneter 158 Bismarck, Otto von 8, 103, 107f., 110f„ 113-118, 121, 123ff., 168 Bluntschli, Johann Caspar 115 Bodelschwingh-Velmede, Ernst von 25f., 29f., 33, 38, 42f. Boyen, Hermann von 22 Brauchitsch, Oberstleutnant, Flügel­ adjutant 44 Braun (Köslin), Paulskirchen-Abgeordneter 153 Brentano, Clemens 66 Brockhaus, Friedrich Arnold 142 Bruck, Karl Ludwig Frhr. von 100 Bühlau, Johann Jacob 62 Bunsen, Christian Karl Josias Frhr. von 162 ff. Burckhardt, Jacob 109

Canitz, Karl Wilhelm Ernst Frhr. von 33 Canning, Sir Stratford 90 Carl August, Großherzog von Sach­ sen-Weimar 144 Cavour, Camillo Graf 102, 115 Clasen, Lorenz 104 Cotta, Johann Friedrich 96 Dahlmann, Christoph 88, 107 Dalberg, Karl Theodor von 132 Dickens, Charles 50 Ditfurth, General von 26 Droysen, Johann Gustav 88, 107 Duncker, Maximilian Wolfgang 107

Eggers, Christian Ulrich Detlev Frhr. von 130ff. Engels, Friedrich 122f. Ernst II., Herzog von Sachsen-Co­ burg-Gotha 106

Falkenstein, Major von 34 Ferdinand I., Kaiser von Österreich 30 Fichte, Johann Gottlieb 63, 122, 132-137 Ficker, Julius von 108 Fontane, Theodor 36, 47 Franz I., Kaiser von Österreich 96 Frenzei, Karl 22 Friedrich II., König von Preußen 59, 61, 107, 127f., 143 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 67, 69, 95 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 10, 14, 24ff., 28-34, 38, 41-44, 46ff., 82, 87, 91, 93f., 101, 152, 162 Fries, Jakob Friedrich 72 Friesen, Friedrich 64

Gagern, Heinrich von 88, 91 f., 153, 155f., 163f. Gentz, Friedrich 75, 146ff. Gerlach, Leopold von 29 Gervinus, Georg Gottfried 11, 88 Gneisenau, Neidhardt von 66, 75 f. Goethe, Johann Wolfgang 61 Görres, Joseph 84 Grimm, Jacob 11 Guizot, François 82 Gutzkow, Karl 83 Haller, Carl Ludwig von 72, 74 Hardenberg, Karl August 63 Hartmann (Leitmeritz), PaulskirchenAbgeordneter 157 Hecker, Friedrich 86 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 109 Herder, Johann Gottfried 62 f. Herwegh, Georg 83 Hess, Moses 86

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Hesse, Gustav 39 Hettgen, Unteroffizier 35 Heuss, Theodor 78 Hohenlohe-Ingelfingen, Prinz Kraft zu 24, 40 Hohenlohe-Schillingsfürst, Chlodwig Fürst zu 151 f. Hohenzollern-Sigmaringen, Karl An­ ton Fürst von 101 Hoffmann von Fallersleben, Heinrich 82 Humboldt, Wilhelm von 137-142 Ihering, Rudolf von 117 f.

Jahn, Friedrich Ludwig 63ff., 88, 122 Jaspers, Karl 57 Johann, Erzherzog von Österreich 88, 152 Joseph II., Kaiser 128 Karl X., König der Franzosen 76 Karl, Erzherzog von Österreich 64 Karl, Fürst von Leiningen 88 Katharina IL, Kaiserin von Rußland 127f. Ketteier, Wilhelm Emanuel Frhr. von 88 Kleist, Heinrich von 66 Klopp, Onno 107 Klopstock, Friedrich Gottlieb 61 Knigge, Adolph Frhr. von 62 Körner, Theodor 68, 70 Kotzebue, August von 72 Krausnick, Berliner Oberbürgermei­ ster 26, 38 Kräwell, Premierleutnant 39 Kreutzer, Konradin 82 Kugler, Franz Theodor 107 Kühn, Grenadier 35 Lassalle, Ferdinand 21, 103 Leopold, Großherzog von Baden 82 Lichnowsky, Felix Fürst von 44 List, Friedrich 97 Louis Philippe, König der Franzosen 11, 163 Löwenberg, cand. phil 13 Luden, Heinrich 65, 74 Ludwig L, König von Bayern 82 Luther, Martin 145

Malthus, Thomas Robert 50 Manteuffel, Edwin Frhr. von 33

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Manteuffel, Otto Theodor von 101 Marschner, Heinrich 82 Marx, Karl 7, 81 Menzel, Adolph 43, 107 Metternich, Klemens Wenzel Nepo­ muk Fürst von 25, 29, 82, 87, 96f., 123 Mieroslawski, Ludwik 46 Minutoli, Julius Frhr. von 14, 21, 26 f-, 32 f. Miquel, Johannes 164 Mohl, Moritz 158 Mommsen, Theodor 117 Moser, Friedrich Carl von 58 f., 62 Möser, Justus 61 f. Motz, Friedrich 95 f. Müller, Adam 75 Napoleon I.» Kaiser der Franzosen 7, 64 Napoleon III., Kaiser der Franzosen 101 f., 113 Naunyn, Berliner Bürgermeister 42 Nauwerk, Berliner Stadtverordneter 18 Neander, Daniel Amadeus 38 Nicolai, Friedrich 61 Oken, Lorenz 72

Peucker, Eduard von 88 Pfizer, Paul Achatius 77 f. Pfuel, Ernst von 24, 28, 33 f. Polignac, Jules Armand Fürst von 76 Prittwitz, Karl Ludwig von 10, 24, 34, 41 f., 44 Prohaska, Eleonore 68 Prutz, Robert 83 Puttkamer, Berliner Polizeipräsident 21 Radetzky, Johann Joseph Wenzel Graf 93 Radowitz, Joseph Maria von 25 Ranke, Leopold von 107 Raumer, Friedrich von 74 Reinhard, württemb. Gesandter 19 Reitter (Prag), PaulskirchenAbgeordneter 157 Riemann, Heinrich Arminius 144 ff. Riesbeck, Johann Kaspar 126-130 Rochau, August Ludwig von 83, 95

Roon, Albrecht Graf von 43 Rößler, Constantin 103 Rotteck, Karl von 79 Rüge, Arnold 103 Sand, Karl Ludwig 72 Schaeffer-Bernstein, Generalmajor von 30 Schauß, Berliner Stadtverordneter 38 Schenkendorf, Max von 69, 74, 114 Schiller, Friedrich 104 Schmerling, Anton von 153 Mutter Schmidecke 37 Schneckenburger, Max 82 Schulz, Wilhelm 77 Schulze-Delitzsch, Hermann 106 Schumann, Robert 82 Schwarzenberg, Felix Fürst zu 100 Siebenpfeiffer, Johann Jacob 78 Siemens, Werner von 12, 45 de Staël, Germaine 61 Stein, Heinrich Friedrich Karl Reichs­ freiherr vom und zum 74 Stenzel, Gustav Adolf 74 Struve, Gustav von 88 Sue, Eugene 50 Sybel, Heinrich von 107f., 115, 117

Thiers, Adolphe 82 Treitschke, Heinrich von 107, 117

Uhland, Ludwig 88 Unruh, Hans Victor von 106 Urban, Berliner Tierarzt 47

Valentin, Veit 35 Venedey, Jakob 83, 88, 157 Vincke, Georg Ernst Friedrich Frhr. von 41 Vischer, Friedrich Theodor 88 Voigt, Johannes 74

Waldeck, Franz 117 Weber, Max 35 f., 107 Weitling, Wilhelm 19, 86 Weicker, Theodor 153, 160f. Wilhelm, Prinz von Preußen, später Kaiser Wilhelm L 20, 24, 28ff., 42, 47, 101, 113 Windischgrätz, Alfred Fürst zu 93 Wirth, Johann August 78, 83, 148 ff. Woeniger, August Theodor 31 f. Wolff, Adolf 12 Wrangel, Friedrich Heinrich Emst Graf von 93

Zinna, Ernst 39