Der vergessene Weltkrieg: Europas Osten 1912-1923 3806238200, 9783806238204

'Der vergessene Weltkrieg' ist die bisher nicht geschriebene Meistererzählung, die faszinierende, großartige D

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German Pages 960 [546] Year 2018

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Einleitung: Die Februarrevolution – drei Revolutionen
I Giganten und Pygmäen
Kapitel 1 Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee
Kapitel 2 Kriege (1917–1923)
Kapitel 3 Kriege der Nationen
II Kaleidoskop
Kapitel 1 Soziale Konflikte
Kapitel 2 Transformation
III Mafia
Kapitel 1 Nationalbewegungen
Kapitel 2 Der „Krieg der Geister“ im Osten
Kapitel 3 Die Pariser Konferenz und der Vertrag von Versailles
Schluss Gewinner und Verlierer
Anhang
Karten
Verzeichnis der Exkurse
Abbildungsnachweis
Anmerkungen
Verzeichnis der benutzten Literatur
Personenregister
Back Cover
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Der vergessene Weltkrieg: Europas Osten 1912-1923
 3806238200, 9783806238204

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Włodzimierz Borodziej, Maciej Górny

Der vergessene Weltkrieg Europas Osten 1912–1923 Band II – Nationen 1917–1923 

Aus dem Polnischen von Bernhard Hartmann



Die polnische Originalausgabe von Bd. 2 erschien unter dem Titel „Nasza wojna. Narody 1917–1923“ im Verlag Grupa Wydawnicza Foksal. © by Grupa Wydawnicza Foksal Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. wbg Theiss ist ein Imprint der wbg © 2018 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Lektorat: Dirk Michel, Mannheim Layout und Satz: Verlagsbüro Wais & Partner, Stuttgart Umschlagabbildung: Bulgarische Offiziere im Manöver. Foto: © bpk/Musée Nicéphore Niépce, Ville de Chalon-sur-Saône/adoc-photos Umschlaggestaltung: Harald Braun, Helmstedt Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de isbn 978-3-8062-3820-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-3888-4 eBook (epub): 978-3-8062-3915-7



Inhalt Einleitung: Die Februarrevolution – drei Revolutionen... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... .7

I  GIGANTEN UND PYGMÄEN

... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..

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Kapitel 1 Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee ... . .. . .. . .. . .. 22 Kapitel 2 Kriege (1917–1923) ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. 76 Kapitel 3 Kriege der Nationen... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .133

II KALEIDOSKOP

... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . ..

201

Kapitel 1 Soziale Konflikte      ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. 202 Kapitel 2 Transformation ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. 287

III MAFIA        

... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. .

351

Kapitel 1 Nationalbewegungen ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . 352 Kapitel 2 Der „Krieg der Geister“ im Osten   ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. 374 Kapitel 3 Die Pariser Konferenz und der Vertrag von Versailles    ... . .. . .. . .. . .. . .. 405 Schluss  Gewinner und Verlierer ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... .. 451 ANHANG ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... . 481 Karten ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. 482 Verzeichnis der Exkurse ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... .. 485 Abbildungsnachweis ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. 485 Anmerkungen   ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... ... . 486 Verzeichnis der benutzten Literatur      ... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . 521 Personenregister... . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. . .. 540

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Einleitung: Die Februarrevolution – drei Revolutionen Gavrilo Princip starb langsam und unter Qualen. Der Mörder Franz Ferdinands zeigte vor dem k. u. k. Gericht keine Reue. Er bedauerte lediglich den Tod der Erzherzogin. Das Gericht betrachtete ihn als nicht volljährig und verurteilte ihn „nur“ zu 20 Jahren schwerer Zwangsarbeit in der Kleinen Festung Theresienstadt. Seine Strafe verbüßte Princip in einer feuchten Einzelzelle, an eine Wand gekettet und isoliert von der Außenwelt. Die Tuberkulose, mit der sich vermutlich schon früher infiziert hatte, schritt rasch voran. Man amputierte ihm einen Arm. Am 28. April 1918, also noch vor Kriegsende, starb Princip im Alter von 24 Jahren. Er wusste nicht, dass er eine Lunte entzündet hatte, die halb Europa in die Luft jagen sollte. Am 21. November 1916 starb mit 87 Jahren Kaiser Franz Joseph I., der 68 Jahre geherrscht hatte. Am 30. November wurden seine sterblichen Überreste in einem Trauerzug zunächst in den Stephansdom und anschließend in die Grabstätte der Habsburger, die Kapuzinergruft, überführt. Nicht nur die Anhänger der Monarchie fühlten sich verwaist. Der spätere sozialdemokratische Bundeskanzler Bruno Kreisky (er übernahm das Amt 1970), der damals fünf Jahre alt war, behielt von dem Begräbnis ein Gefühl von Einsamkeit und Leere im Gedächtnis. Niemand konnte sich an einen anderen Herrscher erinnern. Auf dem Sterbebett soll der Kaiser seinem Kammerdiener die Sorge anvertraut haben, dass sein Tod auch das Ende der Monarchie bedeuten könnte. In der Tat hätte sein Nachfolger Karl I. (boshafte Zungen ergänzten: „und Letzte“), selbst wenn er ein politisches Genie gewesen wäre, kaum eine Chance gehabt, das Habsburgerreich zu retten. In Berlin war es Wilhelm II. in den 28 Jahren seiner Herrschaft gelungen, alles zu ruinieren, was er nur anfasste. Von Beginn an stand der Hohenzoller im Schatten des beliebten Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg (ab August 1916 Chef der Obersten Heeresleitung) und dessen Stellvertreter Generalmajor Erich 7

Einleitung

Die Anbringung des Schriftzugs „Dem Deutschen Volke“ an der Reichstagsfassade.

Ludendorff. Wilhelm wusste, dass er bei seinen gelegentlichen Besuchen im Hauptquartier „nur der Adjutant von Hindenburg“ war und nichts zu sagen hatte. Zeitgleich mit dem Tod seines Wiener Partners sah sich Wilhelm II. zu ­einem symbolischen politischen Zugeständnis gezwungen, gegen das er sich mehr als 20 Jahre lang ebenso verbittert wie sinnlos gewehrt hatte: Für die Westfassade des 1894 eröffneten Reichstagsgebäudes war von Anfang an die Widmung „Dem deutschen Volke“ vorgesehen gewesen. Wilhelm hatte die Anbringung des Schriftzugs verhindert, weil er die symbolische Aufwertung des Souveräns als Einschränkung seiner monarchischen Prärogative ansah. Nach mehr als zwei Kriegsjahren, in denen seine Person an Bedeutung verloren hatte, gab er den Widerstand auf. Er hoffte, freilich vergebens, auf diese Weise die Linke und das Zentrum besänftigen zu können.1 Noch schlimmer erging es dem russischen Zaren. Nikolaus II. regierte fast genau so lange wie sein Berliner Cousin, seit 1894. Während der Moskauer Krönungsfeierlichkeiten zwei Jahre später – gemäß dem Geist der damaligen Zeit 8

Die Februarrevolution – drei Revolutionen

wollten die Zaren das Volk in die religiös legitimierte Zeremonie einbeziehen – kam es zu einer Massenpanik mit fast 1400 Toten. Und es wurde nicht besser. Russland verlor den Krieg gegen Japan, in den Revolutionen der Jahre 1905–07 starben Zehntausende. Als Reaktion errichtete der Zar die Fassade einer pseudo-­ konstitutionellen Monarchie, doch das Parlament (die Duma) hatte keinen echten Einfluss auf den Staat. Nach der Niederlage von Gorlice-Tarnów 1915 verfiel Nikolaus II. auf eine noch schlechtere Idee: Gegen den Rat seiner Minister und Generäle erklärte er sich zum Oberbefehlshaber. Von nun galt er nicht mehr nur als unfähiger Herrscher, sondern wurde auch für die Niederlagen an der Front verantwortlich gemacht. In den ersten Kriegsjahren vollbrachte Russland eine gigantische Leistung, ­indem es seine Rüstungsproduktion vervielfachte. Zugleich schrumpfte die Agrar­ produktion um ein Fünftel – etwa die Hälfte aller Bauern und Landarbeiter wurden eingezogen; sie stellten die eindeutige Mehrheit der Rekruten. Bis Ende 1916 fielen oder starben infolge von Verwundungen und Krankheiten 1,7 Millionen Soldaten, acht Millionen wurden verwundet oder erkrankten, 2,5 Millionen (darunter mehrere Zehntausend Deserteure) gerieten in Gefangenschaft. Das Land musste sechs Millionen Flüchtlinge und Deportierte aus den westlichen Teilen des Imperiums aufnehmen. Ab 1916 funktionierte die Versorgung der Stadtbevölkerung immer schlechter, Arbeiter und Arbeiterinnen fühlten sich ausgebeutet – zumal im Vergleich zu den vier Millionen mittelbar oder unmittelbar bei der Militärverwaltung Beschäftigten, die im russischen Hinterland ein gefahren- und hungerfreies Leben führten. Die Ineffizienz der Verwaltung, die sprichwörtliche Korruption, die Inflation und der Mangel an Nahrungsmitteln verschärften den sozialen Konflikt, mit dem ein ebenso grundlegender Streit um das Zarentum und somit um die Staatsform einherging. Es ist schwierig, zu sagen, was dem Imperium letztlich am meisten ­schadete: das archaische System, die unfähige Verwaltung, die Persönlichkeit des Monar­ chen oder die seiner Gattin. Als Oberbefehlshaber hielt sich Nikolaus II. meist im Truppenhauptquartier in Mogilew auf, seine Gemahlin Alexandra Fjodorowna, geborene Alix von Hessen-Darmstadt, blieb in Petersburg zurück. Die fromme, von Nikolaus aufrichtig geliebte Deutsche hatte vier Töchter und einen Zarewitsch zur Welt gebracht, der freilich an der im Haus Battenberg erblichen Hämophilie litt. Jede Verletzung bedeutete für den Thronfolger Lebensgefahr. Die Ärzte waren ratlos. Hilfe brachte Grigori Jefimowitsch Rasputin, ein aus S ­ ibirien gekommener Prediger und Wunderheiler, ein Betrüger mit dem Charisma eines Heiligen. Unmittelbar nach Rasputins Ankunft am Hof kamen Gerüchte über 9

Einleitung

­ ine intime Beziehung zwischen der Zarin und dem Scharlatan auf. Nach Nikoe laus’ Umzug nach Mogilew wurden sie zur gängigen Erklärung für die Misserfolge an der Front: Schuldig waren der Gesandte des Satans und die Deutsche, der Zar war nur eine Figur in ihrem Spiel.2 Am 1. November 1916 hielt Pawel Miljukow, der Vorsitzende der Konstitutionell-Demokratischen Partei in der Duma eine sorgfältig vorbereitete Rede. Er präsentierte eine lange Reihe von Beispielen für Inkompetenz und Korruption in der Verwaltung, für Versäumnisse und unverständliches Handeln der Regierung sowie für die merkwürdigen Zustände bei Hof. Nach jedem einzelnen Fall stellte er die rhetorische Frage: „Ist dies nur Dummheit oder Verrat?“ Die Liberalen waren mit ihrer Kritik an den herrschenden Verhältnissen nicht allein. Auch die Generalität, der Hof und konservative Politiker beklagten die Unfähigkeit des Herrschers. Einen Monat nach der Beisetzung Franz Josephs I. entschlossen sie sich, zu handeln: Sie ermordeten Rasputin. Doch es war zu spät. Die Abrechnung am Hof interessierte die hungernden Arbeiter in Petersburg und Moskau, die Millionen Flüchtlinge und die Millionen Soldaten nicht mehr. Der Zar reagierte nicht auf die Ermordung des angeblichen Liebhabers seiner Gattin und verlor damit den letzten Rest Autorität. Am 23. Februar 1917 verwandelte sich ein Marsch anlässlich des Internationalen Frauentags in eine mächtige Demonstration. Tausende hungernde Arbeiterinnen, vor allem aus dem Petersburger Industriebezirk, protestierten gegen Teuerung und skandalöse V ­ ersorgungslücken. Am Anfang ging es um das sprichwörtliche Brot, doch diesmal war es keiner der „Weiberaufstände“, die im Vorjahr oft durch die russischen Städte gezogen waren. In diesem Jahr riefen die Demonstrantinnen: „Nieder mit dem Zarentum“, Dann ging alles sehr schnell: Die Polizei war hilflos, die Armee stand Gewehr bei Fuß oder – in seltenen Fällen – schoss, was die Situation nur verschlimmerte. Am 27. Februar schloss sich ein Teil der Einheiten in Petrograd den Protestierenden an. Am Morgen waren es eine einige Tausend Rebellen – „Bauern in Soldatenmänteln“ –, am Abend fast 70 000. Am darauffolgenden Tag verweigerte fast die gesamter ­Petrograder Garnison den Gehorsam. Nach fünf Tagen mit Demonstrationen, Streiks und Unruhen trat die Regierung zurück. Die Macht übernahm ein provisorisches Dumakomitee, parallel dazu entstand der von Vertretern linker und linksextremer Parteien dominierte Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat. Auch in anderen Industriezentren wurde immer häufiger gestreikt. Die Arbeiter forderten Brot (und nahmen es sich, indem sie Bäckereien plünderten), liberale und linke Politiker Demokratie und alle gemeinsam Frieden. Der Zar versuchte den wachsenden Widerstand mit Gewalt zu unterdrücken, doch nicht nur in Pe10

Die Februarrevolution – drei Revolutionen

trograd weigerte sich die Armee, auf Demonstranten zu schießen. Selbst in den Eliteregimentern – oder vielmehr dem, was von ihnen im dritten Kriegsjahr übrig war – mussten die Offiziere um ihr Leben fürchten, wenn sie die Soldaten gegen sich aufbrachten. In den ersten Märztagen irrte der Zar mit dem Zug durchs Land. Plötzlich war Russland für seinen Herrscher unbefahrbar. Am 15. März (nach gregorianischem Kalender) dankte er ab, nachdem er begriffen hatte, dass die Generalität weder willens noch in der Lage war, seine Befehle auszuführen. Sein Bruder, Großfürst Michail Alexandrowitsch, lehnte die Krone ab. Damit endete nach über 300 Jahren Romanow-Herrschaft die Monarchie in Russland. Wir schreiben hier keine Geschichte der russischen Revolutionen des Jahres 1917. Zu deren Ursachen haben ältere Kollegen einige überzeugende Theorien entwickelt. Erstens fiel das zaristische Russland nicht unter der Last der militärischen Niederlagen. An der türkischen Front – und die Türken waren kein leichter Gegner, wie die westlichen Alliierten bei Gallipoli erfuhren – errang die russische Armee auch 1916 Siege. Zweitens war nicht der Mangel an Nahrungsmitteln entscheidend, sondern ihre Verteilung (darauf gehen wir in diesem Band ausführlicher ein). Drittens stürzte das Zarentum nicht nur im übertragenen Sinn über den Krieg. Millionen von Bauern (um die 85 Prozent der russischen Bevölkerung lebte noch immer auf dem Land) lernten als Soldaten eine andere Welt kennen als die eigene Gemeinde, aus der ihre Vorfahren nie herausgekommen waren. Diese Erfahrung öffnete neue Horizonte. Vieles wurde möglich, was bis dahin unvorstellbar war, auch eine Welt ohne Herren, Offiziere, letztlich auch ohne Zaren. Viertens könnte man für die politische Situation in Russland an der Jahreswende 1916/17 von einer doppelten Polarisierung sprechen: zum einen zwischen Zarentum und Duma als Plattform der liberalen Opposition sowie zum anderen zwischen der liberalen Opposition (die lediglich einige Prozent der erwachsenen Männer und Frauen repräsentierte) und dem ausgehungerten bäuerlichen, soldatischen und proletarischen Rest des Landes, der im Gefühl des Unrechts und in existenzieller Bedrohung lebte. Vorerst übernahmen die republikanischen Dumaabgeordneten die Macht. Ihr Gesicht war für einige Monate der linksliberale Anwalt Alexander Kerenski, ein ausgezeichneter Redner, der als Verteidiger in den Prozessen gegen die Teilnehmer der Revolution von 1905 berühmt geworden war. Die erste russische Revolution weckte im Land Hoffnungen, wie sie sonst selten mit politischen Umstürzen einhergehen. Die Menschen erwarteten, dass in Russland endlich Ordnung einkehren werde. Doch die Wiederherstellung eines elementaren Vertrauens in den Staat war nicht die einzige Herausforderung, vor der die russi11

Einleitung

schen Liberalen standen. Vor allem dauerte der Krieg immer noch an. Kerenski stand vor ebenso unlösbaren Aufgaben wie Kaiser Karl I. in Wien. Russland war auf die Hilfe der Verbündeten angewiesen, die nichts von einer Übereinkunft mit den Mittelmächten wissen wollten. Im Juni 1917 befahl Kerenski als Kriegsminister eine Offensive an der Westfront. Das Ziel war Lemberg. Die sogenannte Kerenski-Offensive endete mit einer vorhersehbaren Niederlage, die sich dieses Mal nicht an der Anzahl der Getöteten, Verwundeten und Gefangenen bemaß, sondern am enormen Ausmaß von Befehlsverweigerung und Desertionen. Am besten schlug sich auf russischer Seite eine Brigade tschechoslowakischer Freiwilliger. Sie wussten, wofür sie kämpften und zeigten etwa in der Schlacht von Zborów die entsprechende Motivation, die den kriegsmüden Rekruten abging. Der spätere Präsident der kommunistischen Tschechoslowakei, Klement Gottwald, gehörte damals zu den k. u. k. Rekruten, einer seiner Stellvertreter, Ludvík Svoboda, zu den siegreichen Legionären. Die Schlacht bei Zborów war, wiewohl vom Ausmaß her wenig beeindruckend, vielleicht das wichtigste Ereignis der Kerenski-Offensive: Für die künftige Tschechoslowakei wurde sie zu einem Gründungsmythos, für die Habsburgermonarchie war sie der letzte Beweis für die Untreue der Tschechen. Für Russland wurde die Kerenski-Offensive zu einem von mehreren Sargnägeln. Die Armee fiel auseinander. Im Juli organisierte die Linke einen Putsch gegen die Regierung. Die Liberalen verteidigten mit letzter Kraft ihre Macht; sie ließen auf die Demonstranten schießen. Am 21. Juli wurde Kerenski Ministerpräsident eines nur noch theoretisch existierenden Staates. Zum Oberbefehlshaber ernannte er General Lawr Kornilow. Dieser unternahm fünf Wochen später einen Putschversuch, der scheiterte. Es kam ein gigantischer Mechanismus in Gang, der unzählige menschliche Existenzen vernichtete. Ab dem Sommer 1917 gingen die Generäle gegen das rebellierende Volk vor. Sie säten Tod und Zerstörung. Sie mobilisierten kleinere oder größere Armeen; immer verloren sie. Keine Generalität, nicht einmal die psychisch so labile österreichisch-ungarische, verzeichnete in dieser Zeit eine höhere Selbstmordrate als die russische. Und ihre Untergebenen, meist frischgebackene Oberleutnants ohne Autorität bei Unteroffizieren und Rekruten, starben wohl ebenfalls häufiger durch einen Schuss in den Rücken als durch die Kugel eines Feindes. Fern von Petersburg, wo der Bürgerkrieg später oder deutlich später einsetzte, sahen die Dinge natürlich anders aus. In der Provinz verlief das Leben bis Anfang März normal. Die Hauptstadt schien unendlich weit weg. In der Gouvernements12

Die Februarrevolution – drei Revolutionen

hauptstadt Pensa bemerkte der Gymnasiast Igor Newerly erst am Morgen des 4. März auf dem Weg zur Schule, […] dass etwas anders war als sonst. Ich blieb stehen, schaute mich um und begriff: Muganow war fort. Dieser Muganow […] stand hier, seit ich denken konnte, unerschütterlich und erhaben, wie ein Wappen, ein Zeichen der Ordnung, ein grobschlächtiger, wachsamer Gorodowoj mit seiner Schaschka in der schwarzen Scheide und seiner Pfeife an der roten Schnur. Er war Teil der Landschaft zwischen Bank und Ecke Sadowa, sein Fehlen frappierte, als wäre die Staatsbank verschwunden oder als hätte sich die Straße gewölbt. Während ich überlegte, was mit unserem Schutzmann geschehen war, lief ich weiter, doch auch an der nächsten Ecke stand kein Polizist. Das überstieg nun jegliche Vorstellung, sie konnten ja nicht alle betrunken oder krank sein.3 Der Gymnasiast lief durch die leeren Straßen zum Gouverneurspalast. Dort stand eine Menge, wie ich noch keine gesehen hatte, Soldaten, Schüler, Eisenbahner, Markthändler, Arbeiter, Beamte, Frauen und Mädchen, Junge und Alte, alle standen dicht gedrängt vor dem Haus des Gouverneurs, und lauschten gebannt einem Mann in offenem Mantel. Er sprach vom Balkon zu ihnen, und als er am Ende seiner Rede die Arme ausstreckte, als wolle er etwas ungeheuer Großes umfassen – ertönte ein Schrei wie nicht von dieser Welt. Mützen flogen in die Luft, die Menschen umarmten und küssten sich, aber nicht wie zu Ostern bedächtig und feierlich, sondern wie wild durcheinander in ungestümer, wahnsinniger Erregung.4 Die Eruption der Freiheit sah in vielen Städten ähnlich aus wie in Pensa; plötzlich erschien eine Vielzahl von Zeitungen. Newerly erinnert sich: […] ich konnte lesen und lesen, die Leute berauschten sich am freien Wort, sie schwelgten in der unabhängigen Presse, wer wollte und es sich leisten konnte, gab eine Zeitschrift heraus, also erschienen Politik-, Gesellschafts-, Literatur-, Arbeiter-, Volks-, Jugend- oder Regionalmagazine, elitäre, apoli­ tische, mystische und frivole wie die Wenera, die Schukschin herausgab, weil er drei Buden mit Kwas und Zigaretten besaß […]. Im Frühjahr ’17 gab es nichts als Freude, man feierte gleichsam das unbefleckte Fest der Befreiung, den fantastischen Sieg des neuen Lebens ohne Kämpfe und Opfer, ohne Terror, ohne die Aufwallung niederer Instinkte – so eine Revolution, hieß es, hat die Welt noch nicht gesehen!5 13

Einleitung

Newerly – Enkel eines hohen zaristischen Beamten – beschreibt ausführlich die dramatischen Diskussionen zwischen jungen Linken über die Legitimität von Gewalt, dem kürzesten Weg zur Freiheit. Diese Option propagierten seit Jahren die Bolschewiki, die 1917 in den Arbeiter-und-Soldaten-Räten immer sichtbarer wurden und sich als Alternative zur Regierung der Liberalen à la Kerenski anboten. Der Bedeutungszuwachs des radikalsten Flügels der russischen Linken erklärt sich unter anderem aus der Rolle des politischen Terrors, der gegen besonders exponierte Gegner ausgeübt wurde. Nicht von ungefähr begann der Krieg mit Gavril Princips Attentat auf Erzherzog Franz Ferdinand in Sarajevo. Drahtzieher war nach allgemeiner Auffassung Oberst Dragutin Dimitrijević (der wegen seiner mächtigen Erscheinung nach dem heiligen Stier der ägyptischen Mythologie „Apis“ genannt wurde), Chef des serbischen Geheimdienstes, besser bekannt aber als Anführer der Organisation Ujedinjenje ili smrt (Vereinigung oder Tod), einer Geheimgesellschaft serbischer Offiziere, die für die Ermordung von König Aleksandar Obrenović und dessen Frau 1903 verantwortlich war. Die Schwarze Hand, wie man die Gesellschaft nannte, pflegte auch während des Kriegs die Rituale der Konspiration: geheime Treffen und für Nichteingeweihte unverständliche Symbole. Das war allerdings nicht die Ursache für Apis’ Untergang. Es ging um die Macht, besser gesagt um die Angst vor Machtverlust. Apis hatte die Unterstützung der begabtesten Generäle, darunter Stepa Stepanović, der Stabschef des Woiwoden Putnik und Architekt der wichtigsten serbischen Erfolge in den Feldzügen von 1914. Der Regent Aleksandar Karadjordjević war nach Serbiens Niederlage 1915 nicht bereit, Strukturen zu tolerieren, die wir heute als „tiefen Staat“ bezeichnen würden. Schon vor dem Krieg hatte er in der Armee eine eigene Organisation gegründet: die Weiße Hand.6 1917 fanden sich plötzlich Belege für angebliche Vorbereitungen zu einer weiteren Verschwörung der Schwarzen Hand, dieses Mal gegen den Regenten. Apis und zwei andere Offiziere wurden in Saloniki zum Tod verurteilt. Das Urteil wurde sofort vollstreckt. Ein Mitglied des Exekutionskommandos erinnerte sich an die würdige Haltung der Opfer des politischen Mordes. Nach eigener Aussage verlangte er von seinem Kommandeur, nie wieder zu einer solchen Aufgabe bestimmt zu werden. Der Kommandeur soll geantwortet haben, auch ihm sei die Vollstreckung schwergefallen.7 Eine andere Szene spielte sich am 21. Oktober 1916, einen Monat vor dem Tod Franz Josephs I., im Restaurant des Wiener Hotels Meissl & Schadn ab. Dort wurde der seit 1911 amtierende cisleithanische Ministerpräsident Karl Graf Stürgkh, einer der für den Selbstmord der Imperien im Sommer 1914 verantwortlichen älteren Herren, beim Mittagessen von dem Sozialisten Friedrich Adler, dem 14

Die Februarrevolution – drei Revolutionen

Sohn des legendären österreichischen Sozialdemokraten Victor Adler, erschossen. Adler war ein talentierter Physiker, bis 1911 hatte er in der Schweiz gelebt; Albert Einstein sah in ihm seinen Nachfolger am Lehrstuhl für theoretische Physik an der Universität Zürich. Adler kehrte jedoch nach Österreich zurück und engagierte sich in der sozialistischen Partei. Als radikaler Pazifist fühlte er sich dort nach Kriegsbeginn isoliert, denn er lehnte jeden Kompromiss mit dem sinnlos Krieg führenden Staat ab, dessen Justizsystem er für ein Gewaltmittel der Herrschenden gegen das Volk hielt. Vor Gericht attackierte er die Monarchie ebenso scharf wie die sozialdemokratische Partei. Er sprach vom „Gefühl der Schande, Österreicher zu sein“. Den Krieg hielt er wie die Revolution für etwas „Untermenschliches“: „Solange es nötig ist, Menschen zu töten […], solange leben wir in einer Welt der Barbarei, der Untermenschlichkeit.“ Der junge Adler hatte mehr Glück als Gavrilo Princip. Er wurde zum Tode verurteilt, aber schnell begnadigt. Von 18 Jahren Haft saß er bis Kriegsende zwei ab. Der Staatsanwalt erinnerte an die Jahre in der Schweiz, in denen der Angeklagte „von Anbeginn in steter und innigster Berührung mit Umstürzlern aller Parteischattierungen aus allen europäischen Staaten [stand]. Den russischen Sozialistenkreisen entstammt seine Lebensgefährtin.“8 Der Staatsanwalt irrte. Die Russin war ein für den Prozess belangloses, wiewohl gut in die Kriegspropaganda passendes Requisit. Adlers Kontakte zu „Umstürzlern aller Parteischattierungen aus allen europäischen Staaten“ waren hingegen eine Tatsache. Dies ist kein Buch über die radikale europäische Linke vor dem und im Ersten Weltkrieg, doch ist es aufschlussreich, an vergessene Beziehungen zu erinnern, die durch den späteren Sieg der Bolschewiki in Russland gleichsam annulliert wurden. In dieser bis heute ungeschriebenen Geschichte war Galizien ebenso wichtig wie die Schweiz. Felix Dserschinski und Józef Piłsudski, zwei Söhne litauischer Grundbesitzer, fanden zur selben Zeit als von den zaristischen Behörden verfolgte Sozialisten Asyl im k. u. k. Krakau. Sie lebten nur ein paar Straßen voneinander entfernt. Wladimir Lenin – wie Kerenski Sohn eines hohen russischen Bildungsbeamten – spazierte damals mit Kazimierz Dłuski, einem Sozialisten, Arzt und Sozialaktivisten aus Zakopane sowie Schwager von Marie Skłodowska-Curie, durch die Tatra. Dłuski wiederum war ein alter Bekannter Roman Dmowskis, des Vordenkers der polnischen Rechten, der ein Vierteljahrhundert zuvor dem Sozialismus nahegestanden hatte. Im Hintergrund dieses uneinheitlichen Bildes taucht auch ein gewisser Josef Wissarionowitsch Stalin auf – er verwendete damals andere Namen –, der regelmäßig Lenin beim Schach ausgenommen haben soll. 15

Einleitung

Außerhalb des polnisch-russischen Kontextes steht Leo Trotzki (als Lew Dawidowitsch Bronstein in der Ukraine geboren). Als der Krieg ausbrach, floh er nach Wien, wo er – von Geheimdienstlern beobachtet – im Kaffeehaus Gäste empfing. Er ging in die Schweiz. Als man den k. u. k. Generalstabschef Franz Conrad von Hötzendorf vor russischen Revolutionären warnte, soll dieser erwidert haben: „Und wer soll diese Revolution machen? Etwa der Herr Bronstein aus dem Café Central?“ Im Frühjahr 1917 änderte sich binnen weniger Tage alles. Am 6. April erklärten die USA als Reaktion auf deutsche U-Boot-Angriffe im Atlantik Deutschland den Krieg. Am 9. April stiegen Lenin und 31 andere politische Emigranten in Zürich in den Zug. Der Waggon wurde plombiert. Das deutsche Auswärtige Amt glaubte, die Rückkehr der Revolutionäre werde Russland den Verbleib in der Entente zumindest erschweren oder sogar zum Austritt des Landes führen. So kam es. Lenin gelangte über Deutschland, Schweden und Finnland nach Petrograd. Im Zug formulierte er die damals tragfähigsten Ideen: Die Arbeiter sollten die Macht in den Fabriken übernehmen, die Bauern das Land und Russland sollte die Entente verlassen und damit den unsinnigen Krieg beenden. Das Auswärtige Amt konnte zufrieden sein. Nach dem Fiasko der Kerenski-Offensive im Juli überschätzten die Bolschewiki ihren Einfluss. Der erwähnte Putsch scheiterte. Lenin musste nach Finnland fliehen. Stalin soll ihm den Bart abrasiert haben. Er kehrte im Oktober zurück, als die Macht auf der Straße lag. Nach einem halben Jahr Chaos, Hunger und der Doppelherrschaft von vorläufiger Regierung und Arbeiter-und-Soldaten-Räten glaubte niemand mehr an Kerenski. In der Nacht vom 25. auf den 26. Oktober (7.–8. November) übernahmen die Bolschewiki die Macht in Petrograd. Sie besetzten das Winterpalais und verhafteten die Minister der Provisorischen Regierung. Kerenski war kurz zuvor geflüchtet. Nach der Machtübernahme erließen die Bolschewiki eine Reihe von Dekreten: über einen Frieden ohne Annexionen und Kontributionen, über den Landbesitz (Legalisierung der Übernahme von Grundvermögen durch die Dorfkomitees), über das Selbstbestimmungsrecht der Völker Russlands, über die Übernahme der Fabriken durch Arbeiterkomitees, über die Konfiskation des Kirchenvermögens und die Ersetzung des julianischen Kalenders (gemäß dem wir von der Oktoberrevolution sprechen, obwohl sie im November stattfand) durch den gregorianischen. Die einzigen freien Wahlen in Russland gewannen Ende November zwar die Sozialrevolutionäre, die mehr als die Hälfte der Mandate errangen (Lenins Partei nicht ganz ein Viertel), doch das Ergebnis war irrelevant. 16

Die Februarrevolution – drei Revolutionen

Russland trat aus dem Krieg aus und die Bolschewiki hatten nicht vor, die einmal eroberte Macht abzugeben. Am 15. Dezember 1917 trat der Waffenstillstand an der deutsch-russischen Front in Kraft; die Soldaten hatten ohnehin seit vielen Wochen nicht mehr auf den Gegner geschossen. Als Anführer der bolschewistischen Delegation vertrat Trotzki bei den Friedensverhandlungen in Brest-Li­towsk den Ansatz „weder Krieg noch Frieden“ und verweigerte die Unterzeichnung eines Friedensvertrags. Doch die Mittelmächte wussten, wie schwach der Gegner war. Am 17. Februar 1918 erklärten sie den Waffenstillstand für beendet, ihre Truppen rückten nach Osten vor. In Brest-Litowsk übertrafen sich beide Seiten mit Argumenten zum Selbstbestimmungsrecht der Völker. US-Präsident Woodrow Wilson hatte es am 8. Januar 1918 in einer Rede vor beiden Kammern des Kongresses zur Grundlage eines Friedens in Europa erklärt. Die Bolschewiki propagierten das Selbstbestimmungsrecht seit Kriegsbeginn. Während der Brest-Litowsker Verhandlungen sahen sie darin richtigerweise ein Instrument zur Zerschlagung der Habsburgermonarchie, das Deutschen Reich betrachtet es als Mittel zur Vernichtung des Romanow-Imperiums. Im kleinen Maßstab ließ sich das Selbstbestimmungsrecht ebenso flexibel gestalten. Ungefähr zum Zeitpunkt von Piłsudskis Rückkehr nach Warschau besetzte am 10. November 1918 ein polnischer Oberleutnant mit einer Handvoll Soldaten das slowakische Dorf Suchá Hora. Eine Woche danach erschienen begleitet von fünf Gendarmen der Starost und der Kommandeur der örtlichen Einheit der ungarischen Grenztruppen im Dorf. Die Herren fragten Oberleut­nant Legocki, wozu er in die Region Orava gekommen sei. Ober­ leutnant Legocki erwiderte, er habe befehlsgemäß und im Sinne des Selbst­ bestimmungsrechts der Völker polnische Ortschaften in der Region besetzt.9­ Andernorts sah es nicht anders aus: Der Staat, oder genauer gesagt: seine ­Armee, entschied, wo, wie und wann das Selbstbestimmungsrecht angewandt wurde.

*** Mitte der 1980er Jahre untersuchte der ungarische Historiker Tibor Hajdu die ­Spezifik der Revolution in Ost- und Ostmitteleuropa.10 In seiner Darstellung handelte es sich um einen vielköpfigen Drachen. Die Revolution bestand aus verschiedenen simultanen Revolten: der pazifistischen, der sozialistischen, der bäuerlichen und der nationalen. Ihre Anfänge liegen jeweils am Beginn der „zweiten 17

Einleitung

Hälfte“ des Kriegs. Ebenso wichtig ist, dass sie nicht mit dem Ersten Weltkrieg endeten. Adler war ebenso sehr Anarchist wie Pazifist. In Ostmitteleuropa erfreute sich der Anarchismus weder damals noch später sonderlicher Beliebtheit. Ähnliches galt für den Pazifismus, doch die Erinnerung an die Gemetzel des Ersten Weltkriegs sicherte ihm zumindest eine reflexhafte Sympathie. Ernst Kantorowicz schrieb 1957 von den zwei Körpern des Königs: dem sterblichen Leib und der symbolischen Verkörperung der Idee der Monarchie.11 Franz Joseph I., Wilhelm II. und Nikolaus II. ließen unter verschiedenen Umständen diese Idee verwaisen. Und Franz Joseph I. war der einzige der drei Genannten, der sie nicht kompromittierte, wenngleich auch in seinem Fall die Meinungen auseinandergingen. Ein anderes System musste an die Stelle der Monarchie treten. Vernünftige Historiker mögen derlei Bezeichnungen nicht, doch hier scheint sie angebracht: Obwohl „der vergessene Weltkrieg“ in Osteuropa mit Hilfe unterschiedlichs­ter Surrogate geführt wurde – von Brot aus Sägespänen bis hin zur ­depravierten Justiz –, konnte er nicht damit enden. Auf internationaler Ebene eröffnete Wilson der Welt radikal neue Perspektiven. Österreich-Ungarn und Deutschland machten in Brest-Litowsk die Idee der Selbstbestimmung zur Karikatur, indem sie­ sich ein Viertel des Territoriums des besiegten Feindes einverleibten, doch die ­Men­­schen bewahrten den Gedanken an eine neue, gerechtere internationale ­Politik. Innenpolitisch verbreitete sich die Forderung nach gleichem Wahlrecht. Die Idee einer Demokratie, in der alle Bürger ungeachtet ihrer Ausbildung und ihres Vermögens gleich sind, wurde recht plötzlich konkurrenzlos – zumindest auf dem Papier. Ab 1918 wurden die Stimmen in Gestalt von Wahlzetteln nur noch gezählt, nicht mehr gewichtet. Außer man lebte in einer Diktatur, in der alles egal war. Warum die Idee der Demokratie in Ostmitteleuropa sofort auch die Frauen einschloss, ist schwer zu erklären. Wir versuchen es im Abschnitt Transformation, in dem wir vor allem die politische Dimension dieses Prozesses betrachten. Der Krieg, der aus den bisherigen Dienstmägden, den am Herd oder in den Ställen beschäftigten Ehefrauen (und ihren Töchtern, denen außer einer Mitgift nichts zustand), gefragte Arbeitskräfte machte, trug sicher zu seiner Beschleunigung bei – unter anderen Umständen wäre die Entwicklung deutlich langsamer verlaufen. Ein dankbares Forschungsfeld, wenngleich schwer zugänglich, weil in den Quellen die Berichte von Männern dominieren. 18

Die Februarrevolution – drei Revolutionen

Mit der Zerstörung der Ordnung im größten Staat der Welt begannen die Bolschewiki eine Operation von globalem Ausmaß. Sie schufen das Modell einer kleinen Minderheit, die mit Entschlossenheit, charismatischen Führern und dem radikalen Bruch mit der alten Ordnung überall an die Macht gelangen konnte. Apis fiel einem Justizmord zum Opfer; auch dieses Modell machte Schule, nicht nur in der Zwischenkriegszeit. Und schließlich unsere titelgebenden „Nationen“. Sie traten in dem schmerzlichen und dramatischen Prozess, den wir zu beschreiben versuchen, an die Stelle der Imperien. Sie bilden auch im 21. Jahrhundert das Fundament Europas. Und es ist schwer vorstellbar, dass zu unseren Lebzeiten der Alte Kontinent eine völlig andere Gestalt annehmen könnte. Im zweiten Band des Vergessenen Weltkriegs möchten wir die von Tibor Hajdu aufgezählten revolutionären Phänomene beschreiben und ordnen. Der erste Teil behandelt die neue Art der Kriegführung, die sich in Ostmitteleuropa ab 1917 herausbildete und anschließend alle lokalen Kriege und kleineren militärischen Auseinandersetzungen prägte. Der zweite Teil beschreibt die sozialen Konflikte, die Versuche ihrer politischen Instrumentalisierung sowie auch die Bemühungen um ihre Beilegung. Daraus ergibt sich das Bild einer Systemtransformation, deren Dramatik den Umwälzungen in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan nach 1989 in nichts nachsteht. Der dritte Teil konzentriert sich auf die (meist usurpatorischen) Handlungen der politischen Repräsentanten der Völker Ostmitteleuropas und des Balkans während des Kriegs und nach Kriegsende, als die Grenzen neu gezogen wurden. Der Epilog reicht bereits in die Zwischenkriegszeit hinein, von Interesse sind hier insbesondere die Bereiche, in denen die Nachwirkungen des Kriegs besonders deutlich zu spüren waren.

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I GIGANTEN

UND PYGMÄEN

Kapitel 1 Gemeinsam und getrennt –

die Ethnisierung der Armee

Die wachsende Frustration und Kriegsmüdigkeit in der russischen Armee waren ein zentrales Thema der sowjetischen Geschichtsschreibung. Der Weg zur sozialistischen Revolution war für sie der wichtigste Aspekt dieser Zeit. Nicht nur für sie übrigens – Historiker neigen generell dazu, die Ursachen und Anfänge großer Umwälzungen so früh wie irgend möglich zu erblicken. Wenn es eine Explosion gab, musste zuvor schon etwas geschwelt haben. Für die Februarrevolution drängte sich ein solcher Zugang geradezu von selbst auf. Der sich verschärfende Konflikt zwischen „reaktionären“ Offizieren und einfachen Soldaten passte gut ins Bild der rebellierenden Arbeiter und Bauern im Hinterland. Beides schien geradewegs zu den zwei russischen Revolutionen hinzuführen. Die zur Illustration angeführten Quellen, Briefe, Tagebücher und Fronterinnerungen der Jahre 1916–17 bestätigen auf den ersten Blick diese Interpretation. Zu Ostern 1916 gab es an der Ostfront in noch größerem Umfang Fälle von Verbrüderung zwischen den Soldaten der feindlichen Armeen als ein Jahr zuvor an der Nida. Wo es gelang, die Sprachbarriere zu überwinden, ging der Austausch von Waren oft mit pazifistischen Gedanken einher: „Wir schießen schon das dritte Jahr aufeinander. Vielleicht ist es Zeit, damit Schluss zu machen?“ Diese Äußerung eines russischen Soldaten illustriert die zunehmende Ablehnung weiterer Jahre des Kampfes. Kein Wunder, dass die zaristischen Offiziere derartige Begegnungen zu unterbinden versuchten.1 Eine aufmerksamere Lektüre vergleichbarer Zeugnisse weckt aber gewisse Zweifel. Natürlich wuchs angesichts der ungeheuren Verluste die Kriegsmüdigkeit in der russischen Armee ebenso wie die Frustration im Hinterland. Die Frage ist aber, ob die Enttäuschung stetig und gleichmäßig anwuchs und auf direktem Weg zum Ausbruch führte. Die schwankenden Stimmungen der Soldaten an der Front, die mal mehr, mal weniger zur Rebellion neigten, lassen etwas anderes 22

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

vermuten. Zwar wuchs ihre Anzahl im Vergleich zu Kriegsbeginn, doch 1916 gab es nicht die geringsten Anzeichen für einen Zusammenbruch der russischen Front. Die Fortsetzung der oben zitierten Schilderung eines russischen Soldaten erklärt, warum: – Zurück, oder ich lasse schießen …! – brüllt wütend der Offizier, der aus dem Graben herausschaut. Die gebeugten Gestalten laufen schnell auseinander … Wieder herrscht Toten­stille, als sei nichts geschehen. Es wächst nur die Wut auf den Offizier, der die so interessante Begegnung […] beendete.2 Das ist nur eines von zahlreichen Beispielen dafür, dass bis zum Frühjahr 1917 die russischen Offiziere ihre Untergebenen noch im Griff hatten. Nach Ansicht vieler Kommandeure hatte sich die Situation sogar etwas verbessert. Die seit Kriegsbeginn im Vergleich zu anderen Armeen hohe Anzahl von Desertionen stieg nicht weiter an, die Maßnahmen zur Stabilisierung der Lage und zur schnelleren Rückführung von Deserteuren an die Front entfalteten die gewünschte Wirkung.3 Die Versorgung, die sich schon vor der Brussilow-Offensive deutlich verbessert hatte, funktionierte weiterhin viel effektiver als in den ersten zwei Kriegsjahren. Brussilow selbst, der an der Jahreswende 1916/17 viele Fronteinheiten besuchte, bemerkte: […] die Disziplin war noch immer ausgezeichnet und wenn wir nur eine Offensive unternommen hätten, so hätten die Soldaten ihre Pflicht sicher ebenso erfüllt wie 1916.4 Der russische Hauptmann Lobanow-Rostowski, der die Armee von einer sehr viel niedrigeren Rangstufe aus betrachtete, bestätigte rückblickend diese Einschätzung: Ich kann kategorisch feststellen, dass die Armee, obwohl es bis zur Revolution nur noch sechs Monate dauerte, nie in einem besseren Zustand war. Wir hatten endlich genug technische Ausrüstung und Munition. In den Regimentern, die ich besuchte, war die Disziplin gut […], die Offiziere voller Optimismus. […]. Ganz gewiss gab es keine Depression, Defätismus oder Anzeichen der bevorstehenden Revolution.5 Waren die russischen Offiziere so erfreut über die Verbesserung der Versorgung und die neuen Waffen, dass sie die Anzeichen von psychischer Erschöpfung und 23

I  Giganten und Pygmäen

Ungehorsam unter ihren Soldaten nicht bemerkten? Militärpsychologie und -psychiatrie entwickelten sich damals sehr dynamisch, das Interesse beschränkte sich nicht auf das Faradisieren von Patienten. Dennoch wurde vor der Revolution kein Zusammenbruch, keine psychologische Krise verzeichnet. Alexander Watson vertritt in seiner Untersuchung zur Kampfmoral an der Westfront eine Auffassung, die sicher auch Brussilow und Lobanow geteilt hätten: Massenhafter Ungehorsam war meist die Folge eines messbaren Mangels an Menschen, Ausrüstung, Versorgung und Erholung. Momentane Stimmungen und kollektive Psychosen hatten konkrete Ursachen, über Sieg und Niederlage entschieden letztlich „nicht die ‚besseren Nerven‘, sondern die bessere Versorgung“.6 Aus diesen Beobachtungen lässt sich nur eine Schlussfolgerung ziehen: Die Revolution gelangte aus dem Hinterland an die Ostfront. Wären die Soldaten komplett von den hungernden und darbenden Familien im Land abgeschnitten gewesen, hätte die Armee die Disziplin sicher deutlich länger aufrechterhalten können, vielleicht sogar „bis zum letzten Mann“. Ohne demoralisierende Nachrichten aus der Heimat wären Ausdauer und Loyalität der Vaterlandsverteidiger länger intakt geblieben. Heißt das, dass die russische und die übrigen imperialen Armeen (sowie die nationalen Streitkräfte Bulgariens, Serbiens, Griechenlands und Rumäniens) wirklich bis zum Schluss, also bis zum Zusammenbruch der ­Dynastien der Romanows und der Habsburger, ihre Geschlossenheit bewahrten? Konnten sie den wachsenden Unwillen der Soldaten beherrschen, die nicht länger in einem Krieg sterben wollten, dessen Ziel mit der Zeit keineswegs klarer und überzeugender wurde? Die Antwort auf diese Fragen führt uns zum Wesen des Wandels vom Krieg der Imperien zum Krieg der Nationen. Und wie so oft im Falle großer Veränderungen ist diese Antwort zweifelsohne kom­plex.

Die Ethnisierung der Armee vor der Februarrevolution Beginnen wir damit, dass schon lange vor der Revolution die imperialen Armeen längst nicht so monolithisch waren, wie es Brussilow und Lobanow-Rostowski wollten. Zwar gibt es keinen Grund, ihre Einschätzung der Moral und der Versorgung vor dem für die zaristischen Truppen katastrophalen Frühjahr und Sommer 1917 anzuzweifeln, doch sowohl auf ihrer Seite der Front als auch in der k. u. k. Armee gewannen die zentrifugalen Tendenzen an Stärke. Anfangs weckten sie keine größeren Sorgen, doch während der zwei großen Feldzüge 1916 entwickelten sie plötzlich eine für die Imperien gefährliche Dynamik. Im passenden Moment sollten sie ihre volle Kraft entfalten. 24

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

Die Geschichten der nationalen Einheiten innerhalb der russischen und österreichisch-ungarischen Armee ähneln sich meist sehr. Die erste Begegnung der polnischen Legionäre mit den Landsleuten aus dem russischen Teilungsgebiet war für die jungen Idealisten eine große Enttäuschung. Der Volksaufstand, den sie auslösen wollten, brach nicht aus und die Kämpfe gegen die Russen, so heroisch sie waren, waren überwiegend Rückzugsgefechte. Die Geschichte der zur gleichen Zeit formierten Legion der ukrainischen Sitscher Schützen wirkt, wenngleich in etwas kleinerem Ausmaß, bis in die Details (wie etwa der demonstrative Unwille, Franz Joseph I. die Treue zu schwören) wie eine exakte Kopie der polnischen Erfahrungen.7 Wie die polnischen Legionäre empörten sich die ukrainischen Soldaten über die Grausamkeiten der österreichisch-ungarischen Militärs gegen ihre Landsleute im Zarenreich, sie gerieten in Konflikt mit den besser ausgestatteten regulären Einheiten, denen sie die Ausrüstung stahlen, und sie versuchten in ihren Reihen demokratischen Grundsätzen zu folgen. Mit den Polen teilten sie auch die für junge, unerfahrene Soldaten typische Enttäuschung und Frustration angesichts des wirklichen Kriegserlebnisses. Eines der ersten Abenteuer der ukrainischen Legionäre war die schlecht vorbereitete und dilettantisch durchgeführte Aufklärungsexpedition eines kleinen Trupps hinter den russischen Linien in der Nähe von Stryj: Die Schützen marschieren ohne Karten und Kompasse durch die verschneiten bewaldeten Berge […]. Während des weiteren Marschs begegnen sie weder russischen noch österreichischen Truppen. Sie wissen nicht, ob sie noch vor oder schon hinter der Frontlinie sind. Im Dorf kaufen sie Schweine, schlachten, braten und verspeisen sie. Am 19. Oktober 1914 ziehen sie ins von den Russen verlassene Stryj ein, die Bevölkerung begrüßt sie mit Blumen und Zigaretten, gleich darauf aber werden die Zwanzig durch eigene Unvorsicht von der russischen Nachhut gefangen genommen. Der russische Fähnrich bietet ihnen Zigaretten an und meint, es müsse schlecht um Österreich stehen, wenn man schon kaum erwachsene Jungen mobilisiere.8 Weitere Versuche, einen Aufstand der Landsleute auf der anderen, von den Russen besetzten Seite der Karpaten anzustacheln, verliefen im Nichts. Die monatelangen schweren Kämpfe in Galizien brachten den ukrainischen Legionären sowohl einen Moment des Ruhms (die blutige Schlacht um den Berg Makiwka, die in einem patriotischen Lied verewigt wurde) als auch enorme Verluste. Während der Brussilow-Offensive wurde die Legion an der Zlota Lipa praktisch ausgelöscht. Eine Werbeaktion unter russischen Ukrainern nach der Mackensen-Of25

I  Giganten und Pygmäen

fensive 1915 brachte nicht den erhofften Erfolg (wiederum ähnlich wie die zeitgleichen Anstrengungen der Rekrutierungsoffiziere der Polnischen Legionen). Unterdessen wuchs unter den Legionären und ihren politischen Unterstützern die Enttäuschung über die Politik der Mittelmächte. Die Ukrainer fühlten sich sowohl in geopolitischer Hinsicht (die Proklamation vom 5. November und die Ankündigung der Errichtung eines polnischen Staates bedeutete für sie den drohenden Verlust von Gebieten, die sie als Teil der Ukraine betrachteten) als auch in weniger bedeutsamen, aber symbolischen Fragen missachtet; als die wenigen übriggebliebenen Sitscher Schützen zum Ausheben von Schützengräben und zu anderen Hilfsarbeiten an der Front abgeordnet wurden, sprach man in den ukrainischen Reihen vom „Spatenzug“.9 Die polnischen Legionäre, eine größere und erfahrenere Gruppe als die ukrainischen Waffenbrüder, empfanden ähnlich. Zwar identifizierten sie sich schon zu Beginn des Kriegs nicht ganz mit den Interessen der Donaumonarchie, doch den Wendepunkt markierte offenbar die Brussilow-Offensive. Danach hatte das Wort „unsere“ eine andere Bedeutung, es beschrieb nicht mehr die k. u. k.-Armee als Ganzes. In diesem Fall können wir sogar eine mikrohistorische Analyse des entscheidenden Moments für diesen Stimmungsumschwung wagen. Möglich wird dies durch die ungewöhnliche Zusammensetzung der Legionen, einer der literarischsten Formationen der Militärgeschichte. Dank der ausführlichen Beschreibungen des Dienstes in den Legionen können wir die Erosion des imperialen Konsenses gleichsam Bild für Bild beobachten. Den Beginn macht eine Rückblende in die Zeit der Brussilow-­Offensive, die den Hintergrund der Entstehung der Legionen veranschaulicht. Die Frontberichte österreichisch-ungarischer Soldaten von Juni und Juli 1916 gehörten einer speziellen Gattung an: der Analyse einer Niederlage, die so schmerzlich war, dass sie der Erklärung bedurfte. Verständlicherweise interessierte sich die Öffentlichkeit in der Heimat vor allem für die Einheiten, die zu Beginn der Offensive am meisten gelitten hatten, insbesondere für das 1. Wiener Infanterieregiment unter dem Kommando von Oberstleutnant Max Schönowsky-Schönwies. 1919 erschien kurz nach seiner offiziellen Rehabilitierung ein von ihm und dem Reserveoffizier und Journalisten August Angenetter verfasstes Buch über die Kämpfe seines Regiments in der Gegend von Olyka. Die Autoren schilderten die entscheidenden Tage im Juni 1916 in pathetischen Tönen. Das Regiment habe mit unvergleichlichem Mut und Todesverachtung „gegen dieses erdbraune, massige Unheil, das sich brüllend, tosend, flammend heranwälzte […] durch viele Stunden bis zur allerletzten Patrone und noch darüber hinaus“ gekämpft.10 Auf 26

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

der Suche nach weiteren Gründen für die Niederlage verwiesen die Autoren auf die unzureichende Versorgung, Kommunikationsprobleme und das Entscheidungschaos, doch überraschend deutlich kritisierten sie auch die mangelnde Loyalität der eigenen Soldaten. Dieses Motiv erscheint in ihrem Buch schon in den Abschnitten über die Situation vor der Schlacht, in denen es nicht an boshaften Bemerkungen über die Ungarn mangelt, die unbarmherzig die Zivilbevölkerung ausplünderten. Anschließend beschreiben die Autoren die Reaktion der Soldaten auf das orkanartige russische Artilleriefeuer: Etliche Tschechen und zwei Ruthenen – unsichere Kantonisten, die bei uns eingestellt worden waren – haben sich zu einem Sondergrüpplein zusammen­ getan. Sie zeigten in ihren Gesichtern einen Ausdruck, der ein mixtum compo­ si­tum von Feigheit, Hinterhältigkeit, Verschlagenheit, Furcht, Schadenfreude und geheimer, niedriger Hoffnung war. Ekelhaft waren diese mißgestalteten Physiognomien anzuschauen. Ein paar Polen klebten in einer Nische dicht aneinander, verdrehten die Augen, daß man das Weiße hervorschimmern sah, und beteten mit grauen, bebenden Lippen.11 Wie wir bereits wissen, führte die Unterstellung, Tschechen und Ruthenen seien für die Niederlagen der k. u. k. Armee verantwortlich, in Wien zum Streit zwischen deutsch-österreichischen und tschechischen Politikern. Die Vorwürfe verschärften sich nach Berichten über die ersten Erfolge der in Russland aufgestellten tschechoslowakischen Einheiten, zumal nach der Schlacht bei Zborów 1917. Höhepunkt dieser Kampagne war die lange Anklageschrift gegen die Tschechen, die Ende 1917 von einer Gruppe deutscher Abgeordneter im Wiener Parlament verlesen wurde (die Reden der Abgeordneten unterlagen nicht der Zensur, die andernfalls den Text, der die Einheit der Monarchie untergrub, kassiert hätte).12 Die Lektüre tschechischer Kriegserinnerungen und historischer Arbeiten verkompliziert dieses Bild. Die Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit gründete ihre Legitimität auf die Beteiligung von Legionären im Kampf gegen die Mittelmächte in Russland, Frankreich und Italien. Vervollständigt wurde diese Erzählung durch den Mythos vom konsequenten Widerstand der tschechischen und slowakischen Soldaten der Habsburgermonarchie, die nur unwillig einer ihren Interessen zuwiderlaufenden Sache gedient und sogar den Dienst sabotiert hätten. Die Erzählungen von massenhaften Desertionen und Übertritten zum Feind finden in den Quellen freilich keine Bestätigung. Die österreichisch-ungarischen Soldaten tschechischer Nationalität beschreiben dafür den Sommer 1916 als Abfolge kräftezehrender Rückzüge und schlecht vorbereiteter Gegenangriffe. Und 27

I  Giganten und Pygmäen

wichtiger noch, in ihrer Darstellung sind weder Feigheit noch Heroismus ethnisch konnotiert, sie finden sich bei Angehörigen aller Nationalitäten der k. u. k. Monarchie. Wie der Rekrut František Černý festhält, gab es in dieser Situation nichts, was eine Interpretation in ethnischen Kategorien erlaubt hätte: Immer wieder holte ich Regimenter ein, deren Soldaten am Straßenrand ­rasteten, und es war klar, dass sie ihre Positionen schon vor Mitternacht verlassen haben mussten. Sobald der Weg ebener wurde, traute ich meinen Augen nicht, solche Massen von Soldaten sah ich! Eine schier endlose Menge. Alles befand sich auf dem Rückzug: Infanterie, Kavallerie, Trains. Ich dachte: „Wie viele wir sind! Wohin sollen wir fliehen?“ Aber, weil alle flohen, floh auch ich.13 Unabhängig davon, welche Rolle die ethnischen Konflikte zwischen Deutschen und Tschechen in der Erzählung vom Sommerfeldzug des Jahres 1916 spielen – für beide Seiten war es zweifellos eine Geschichte des Scheiterns. Die Erinne­ rungen der polnischen Legionäre verleihen denselben Ereignissen einen ganz anderen Sinn. In ihrer Darstellung und infolgedessen auch in der polnischen Militärgeschichte nehmen der Wolhynien-Feldzug und insbesondere die im Juli 1916 geschlagene Schlacht bei Kostiuchnówka einen würdigen Platz ein – als Beinahesieg im Kampf gegen einen zahlenmäßig überlegenen Feind.14 Außerdem einen geht man allgemein davon aus (unserer Meinung nach zu Unrecht), dass die Entscheidung zur Anwerbung von Rekruten für die polnische Wehrmacht im deutschen Besatzungsgebiet des Königreichs Polen unter dem Eindruck des Heldentums der Legionäre getroffen wurde.15 Zur Schlacht bei Kostiuchnówka gibt es zahlreiche Berichte aus erster Hand, was aus der erwähnten spezifischen sozialen Zusammensetzung der polnischen Freiwilligenregimenter resultiert. Überdies nahm der legendäre Anführer der Legionen, Józef Piłsudski, nicht nur an den Kämpfen in Wolhynien teil, sondern erschien auch dort an vorderster Front.16 Wirklich faszinierend ist aber, was die polnischen Teilnehmer der Schlacht über ihre nichtpolnischen Kampfgenossen schrieben. Die Darstellung der Kämpfe gegen die Russen weist einige Ähnlichkeiten zu den österreichischen Schilderungen auf. Die übermächtigen Kräfte des Feindes werden mit einer Naturgewalt verglichen und als ebenso unaufhaltsam wie blind beschrieben. Einen Unterschied bildet die nur in den polnischen Berichten anzutreffende „ständische“ Interpretation des Konflikts als Kampf der „polnischen Herren“ gegen die Masse der „russischen Bauern“. Am weitesten ging dabei wohl der Soldat und Historiker Wacław Lipiński: 28

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

Gefallene russische Soldaten nach einem Angriff auf deutsche Stellungen in Wolhynien, 1916.

Sie warteten dumpf und passiv einige Momente, bis eine in den Haufen ge­ worfene Handgranate sie von ihrem Platz vertrieb. […] Und es wimmelt nur so von ihnen. In den Hecken von Kostiuchnówka, unter den Drähten, im spärli­chen Getreide, so weit das Auge reicht – hellgrüne Hemden und rote, verschwitzte Gesichter. Wir feuern ihnen geradewegs in die Schnauze, un­ fehlbar, mit kalter Grausamkeit. Sie antworten kaum, werfen stattdessen Granaten in den Schützengraben. Und sterben – sterben wortlos, abgestumpft und apathisch.17 Lipiński schildert anschließend eine Episode aus einer späteren Phase der Schlacht, die sich auf einer Brücke über einen Bach abspielte: […] auf der Brücke ein entsetzlicher Schrei. Dort wurden im Nu, blitzartig die Soldaten, die schon von der Seite herangekommen waren und den Weg versperrten, mit Kolben erschlagen, mit Bajonetten aufgeschlitzt. Die großen russischen Bauern wurden in den Sumpf gestoßen, man sah vor Leichen den Boden der Brücke nicht mehr. […] Als ich die Linie erreichte, fiel mir Narbutts erhabene Gestalt mit dem glänzenden blitzenden Browning aus Nickel ins Auge. Ein Kampf auf Leben und Tod. Primitive, verbissene Leiden­ 29

I  Giganten und Pygmäen

schaft. […] Dort schlägt Oberleutnant Hajec den Bauern auf den Ruf „ ­ zdajsia“ [Hände hoch!] die Spitzrute ins Gesicht. Mit den Kolben auf die Köpfe, die Arme, Schüsse, Feuer direkt ins Gesicht. Bis wir die Menge zurückgedrängt hatten.18 Bevor wir uns vom expressionistischen Stil der Darstellungen mitreißen lassen, sollten wir uns klarmachen, dass letztlich auch die Polen mit ihren österreichischen und ungarischen Kampfgefährten zurückweichen mussten. Vor allem Letz­tere wurden oft für den Zusammenbruch der Verteidigung verantwortlich gemacht. Die Honvéds, die eine Stellung auf dem Polenberg besetzten (der Name erinnerte an den Beitrag der Legionen zum Wolhynien-Feldzug 1915), mussten angeblich von den Polen mehrfach an der Flucht gehindert und in die Schützengräben zurückgetrieben werden. Lipiński merkt kritisch an: „Eine verfluchte Bande gottverdammter Penner“.19 Er fügt hinzu, dass drei Wochen nach der Schlacht bei Kostiuchnówka das 93. und das 99. Regiment, die Positionen in der Gegend besetzten, in Abwesenheit der Polen „sofort zusammenbrechen“.20 Der Legionär Marian Dąbrowski schreibt: Allgemein heißt es in Legionsreihen, dass wir immer die Panik der öster­ reichisch-­ungarischen Einheiten dämpfen, bis bayerische oder preußische Verstärkung an den bedrohten Positionen eintrifft.21 In vielen polnischen Erinnerungen an Kostiuchnówka wiederholt sich eine bestimmte Szene, die den zitierten Behauptungen einen pikanten Beigeschmack verleiht. Während des Rückzugs verfielen einige Abteilungen der k. u. k. Armee in Panik, Kavallerie, Infanterie und Trains gerieten sich gegenseitig in die Quere und hinderten andere Einheiten am Vorankommen. In diesem Augenblick erschien eine kleine Einheit von Legionären unter dem Kommando des bereits erwähnten Aleksander Narbutt-Łuczyński: Schon ertönte Narbutts scharfer Befehl in der Kolonne: „Bajonett auf!“, schon begannen die auf österreichische und preußische Offiziere gerichteten Ge­ wehr­läufe die Flucht etwas zu hemmen. Wir errichteten eine Mauer aus Bajo­ netten und Kolben, um nichts in der Welt wollten wir unsere Kolonne sprengen lassen. […] Wir begannen zu singen. Die ruhige, geschlossene Kolonne, gespickt mit Bajonetten, und der kräftige, laut tönende Gesang zeigen letztlich Wirkung. Die Artilleristen, die Kavallerie heben die Köpfe, zügeln die Pferde, die Panik schwindet. Mit einem kurzen Galopp schließt ein preußischer Offizier zum voranreitenden Narbutt auf. Er sagt etwas, gratuliert, 30

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streckt schließlich die Hand aus. Doch Narbutt steckt seine Hand langsam in die Tasche.22 Andere Berichte ergänzen dieses Bild um interessante Details. Die marschierenden Polen sollen „Hej strzelcy wraz“ „Hey Schützen zusammen“ gesungen ­haben, ein Aufständischenlied von 1863, das an die wichtigste patriotische Traditionslinie Zwischenkriegspolens, den Januaraufstand, erinnerte. Manche Au­ genzeugen behaupten, wohl in leichter Überschätzung der Sangeskünste der Legionäre, schon allein der Gesang habe die Armee beruhigt.23 Angesichts der Tatsache, dass die meisten der hier zitierten Berichte unmittelbar oder nicht allzu lange nach der Schlacht entstanden, muss man sie als Aufzeichnungen wenn nicht von Fakten, so doch gewiss der in den polnischen Einheiten herrschenden Stimmung betrachten. Kostiuchnówka, die letzte große Schlacht des Ersten Weltkriegs, die von den Legionen geschlagen wurde, beschleunigte den Prozess der Bewusstseinsbildung der jungen polnischen Patrioten. Zwei bereits angesprochene Aspekte dieses Prozesses scheinen dabei besonders interessant. Beginnen wir mit dem spezifischen Bild des Feindes, das, wie wir meinen, auf einen Wandel der Klassenidentität der Legionäre hindeutet. Obwohl viele von ihnen eher mit der Linken sympathisierten und obwohl immer wieder die demo­ kratische Struktur der Legionen betont wurde, lebte mit der russischen ­Offensive ganz offensichtlich ein Stereotyp wieder auf, das im Osten das Polnische mit dem Adel und das Russische (auch das Ukrainische und Weißrussische) mit der ­Bauernschaft assoziierte. Während der Kriege um die Grenzen des wiedererstandenen Staates in den Jahren 1918–21 sollten sich alle Konfliktparteien auf dieses Stereotyp berufen. Nicht nur die Bolschewiki betrachteten ihre polnischen Feinde als „Herren“; auch Ukrainer und Litauer versuchten mit entsprechenden Klischees die Bauern zum Kampf gegen die Polen zu mobilisieren. Der zweite und wichtigere Aspekt, der die polnischen Quellen von tschechischen oder österreichischen Berichten unterscheidet, ist der sukzessive Legitimationsverlust des Bündnisses, in dessen Rahmen die Legionen zum Kampf angetreten waren. Das wiederkehrende Bild der polnischen Einheit, die sich mit einem nationalpatriotischen Lied auf den Lippen durch die panische Menge schlägt, hat Symbolcharakter. In Anbetracht der späteren Ereignisse kann diese Szene als Metapher für den Bruch mit der imperialen Loyalität und den Beginn eines neuen, rein nationalen Kampfes gelten. Kämpfer, die so mutig und kaltblütig waren wie angeblich die bei Kostiuchnówka, waren zweifellos in der Lage, die Ziele der polnischen Nationalbewegung zu verwirklichen. 31

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Ein wenig überschattet wird dieses monumentale Bild durch eine Tatsache, die in den polnischen Erinnerungen an die Schlacht, wenn überhaupt, dann nur am Rand erwähnt wird. Ein Veteran schildert auch den Moment des Ausbruchs der Panik unter österreichischen und deutschen Soldaten. Wie er schreibt, begann alles damit, dass eine polnische Kavallerieeinheit bei ihrem ungeordneten Rückzug mit österreich-ungarischen Trains zusammenstieß. Das löste eine Kettenreaktion aus, die erst durch Narbutt gestoppt wurde, einen Offizier, der in diesem Buch noch in einer weit weniger rühmlichen Rolle erscheinen wird. Polen stoppten also einen Ausbruch von Panik, den andere Polen verursacht hatten. Allerdings ist die dramatische Szene wohl weniger als präzise Rekonstruktion des tatsächlichen Verlaufs der Ereignisse von Bedeutung, sondern als Symbol. Dadurch, dass so viele Legionäre ihre Erlebnisse aufzeichneten und kommentierten, eröffneten sie Historikern den Zugang zu einer Sphäre, die ihnen sonst weitgehend verschlossen bleibt: zu den Herzen und Köpfen der Teilnehmer des Ersten Weltkriegs. Im Herbst 1916 war in diesen Herzen kaum noch Platz für die bisherigen ­Verbündeten, selbst wenn der Verstand weiterhin zu loyalem Verhalten riet. Die Situation verschärfte sich Anfang des folgenden Jahres, als die in den Kämpfen in Wolhynien ausgebluteten Legionen zur Erholung ins Königreich Polen geschickt wurden. In Zegrze waren die polnischen Regimenter unmittelbar neben deutschen Einheiten stationiert. Es dauerte nicht lange, bis sie einen unerklärten Guerillakrieg gegeneinander begannen. Der letzte Auslöser für den offenen ­Ausbruch der Feindseligkeit gegen den Verbündeten war der Diebstahl (oder illegale Kauf, hier gehen die Berichte auseinander) von Brot durch einen Legionär. Bei der Rückkehr in die Kaserne ignorierte er die Aufforderung deutscher Wachen, stehen zu bleiben, und wurde auf der Stelle erschossen. Ein Beteiligter der Vorfälle schildert, was dann geschah: Die wütende Gesellschaft stürzt sich auf den Wächter und verwandelt ihn binnen einer Minute in einen blutigen Fetzen. Bevor er stirbt, kann er noch um Hilfe rufen. Dreißig Deutsche mit schussbereiten Gewehren greifen uns an, doch wir erledigen sie im Nu. Schlagen ihnen mit den Kolben die Schädel ein usw. Die deutsche Garnison in den Kasernen an der Weichsel wird alar­ miert. Uns fehlt Munition, also greifen wir die Waffen- und Munitionsdepots an. Bei der deutschen Kolonne erscheint zu Pferd der Kommandeur des 4. Infanterieregiments Major A. Galica. Er kommt als Vertreter des Brigaden­ kommandeurs Oberst Roj, der eine Besprechung einberuft. In der angespannten Situation können wir nicht in unseren Quartieren bleiben. Wir müssen 32

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mindestens 30 km von hier fort. Dasselbe gilt für die Deutschen, die sich in eine andere Richtung entfernen als wir. Diese prophylaktische Isolierung soll etwa drei Wochen dauern, bis sich die Emotionen auf beiden Seiten beruhigt haben.24 Die Wiederherstellung der Ordnung erforderte in diesem Fall radikale Schritte. Die Legionäre beruhigten sich erst, als auf einer Narew-Brücke Maschinengewehre aufgestellt wurden, die auf ihre Kasernen zielten. Es dauerte auch, bis sie die festgehaltenen und ordentlich verprügelten deutschen Wächter freiließen. Für den Mörder des Legionärs kam die Hilfe zu spät, er starb kurz nach dem Zwischenfall im Krankenhaus. Trotz der Bemühungen der Anführer entspannte sich die Lage nicht. Im Juni kam es zu einem weiteren Zwischenfall, bei dem ein Legionär mit dem Bajonett erstochen und in den Narew geworfen wurde.25 Außerhalb der Kasernen war das deutsch-polnische Verhältnis keineswegs besser. Die Legionäre klagten über die katastrophale Verpflegung und fühlten sich zurecht benachteiligt (längere Zeit erhielten sie den österreichischen Sold, der niedriger war als der deutsche, und die deutschen Lebensmittelrationen, die wiederum schlechter waren als die österreichischen). Es mehrten sich Desertionen, eigenmächtige Urlaubsverlängerungen, Diebstähle, Geschlechtskrankheiten und – natürlich –Schlägereien mit Deutschen, zumal in Kneipen und Freuden­ häusern. Die Legionäre gingen sogar aktiv gegen deutsche Requirierungstrupps vor, die sie aus den polnischen Dörfern vertrieben. Manchmal geschah das sogar unter dem Mantel des Kriegsrechts, das eine schriftliche Anordnung verlangte, meist aber handelte es sich um Scharmützel ohne formale Begründung. Der Befehl von General Stanisław Szeptycki vom Januar 1917 sagt viel über die damalige Stimmungslage in den polnischen Reihen: Seit der Ankunft der Polnischen Legionen auf dem Gebiet des Königsreichs Polen ist es bereits zu einigen Vorfällen zwischen Offizieren der Polnischen Legionen und Soldaten der deutschen Armee gekommen. Einige dieser Vor­ fälle nahmen einen überaus heftigen Verlauf, weil von Waffen Gebrauch gemacht wurde und, was ich besonders unterstreiche, weil sie in Einrichtungen stattfanden, deren Besuch durch Offiziere durch nichts zu rechtfertigen ist. Ohne darauf eingehen zu wollen, wer bei den einzelnen Zwischenfällen im Recht war, muss ich festhalten und nachdrücklich betonen, dass diese Vorfälle das harmonische Zusammenleben beider Armeen sehr stören und erschweren. […] Ich empfehle daher dringend, jegliche Auseinandersetzung und Streit mit deutschen Offizieren und Soldaten zu vermeiden.26 33

I  Giganten und Pygmäen

Die Verachtung der Polen für die Österreicher und ihre Abneigung gegen die Deutschen hatten natürlich sowohl rationale als auch psychologische Gründe. Allerdings beschränkte sich das Phänomen keineswegs auf die polnischen Kriegs­teilnehmer. Es war schon die Rede von der Frustration, die zur selben Zeit die westukrainischen Patrioten ergriff. Auch auf der anderen Seite der Front ­erwies sich das „harmonische Zusammenleben der Armeen“ immer öfter als ­leere Phrase. Die Geschichte der russisch-rumänischen Kooperation in den ­Jahren 1916 und 1917 ist ein anschauliches Beispiel für den zugrunde liegenden Mechanismus. Im Rumänien-Feldzug errangen die verbündeten Armeen Deutschlands, Öster­reich-Ungarns und Bulgariens einen Erfolg nach dem anderen. Die Verteidigung der letzten Teile des rumänischen Territoriums entlang der russischen Grenze erforderte nicht nur eine ungeheure Anstrengung der rumänischen Armee, sondern auch ein militärisches Eingreifen Russlands. Historiker schätzen, dass allein die Unterstützung der rumänischen Front ein Viertel bis ein Fünftel der russischen Kräfte band, das heißt mit Etappe, Versorgung, Kranken­häusern und Ähnlichem weit mehr als eine Million Menschen.27 Diese Zahlen täuschen jedoch. Die Russen engagierten sich erst im großen Maßstab, als der Ausgang des Rumänien-Feldzugs schon feststand. Statt rechtzeitig die Offensive des Verbündeten zu unterstützten, retteten sie ihn nur mühsam vor der völligen Niederlage. Die Anfänge der rumänisch-russischen Zusammenarbeit während des Feldzugs von 1916 liefern unzählige Beispiele für die gegenseitige Abneigung und das gegenseitige Misstrauen. Auf rumänischer Seite war diese Haltung historisch begründet. Die letzte russische „Hilfe“ während des Kriegs gegen die Türkei in den Jahren 1877–79 hatte mit dem Verlust Bessarabiens geendet. Die antirussischen Stimmungen in der rumänischen Gesellschaft waren nie erloschen. Umgekehrt machten die russischen Militärs aus ihrer Geringschätzung für den Bündnispartner keinen Hehl. Das im August 1916 auf dringliche Bitten Bukarests in die Dobrudscha entsandte Expeditionskorps bestand aus so schwachen und/oder unerfahrenen Einheiten, dass kein russischer General das Kommando übernehmen wollte. Andrej Zajontschkowski, der letztlich die zweifelhafte Ehre annahm, erwies sich als absolut unfähig, zauderte und verweigerte den kämpfenden Rumänen konsequent jede Unterstützung. Er fühlte sich schlecht in der Dobrudscha, die er in Briefen als von Wilden bewohntes wildes Land beschrieb.28 Auch als der russische Ovid in Generalsuniform endlich abberufen wurde, änderte sich kaum etwas. General Henri Mathias Berthelot, der französische Verbindungsoffizier 34

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bei der rumänischen Heeresleitung, schrieb im Dezember 1916 verbittert an Joseph Joffre: „Aus Gründen, die ich nicht begreife, wollten die Russen, dass Rumänien fiel.“29 Es handelte sich um mehr als normale Missverständnisse zwischen Verbündeten. Kurz nach der Ankunft von Zajontschkowskis Korps notierte Oberst Ale­ xandru D. Sturdza, der aus einer aristokratischen Familie stammte (sein Vater hatte mehrfach das Amt des Ministerpräsidenten ausgeübt) und als Kommandant der Bukarester Militärakademie großes Ansehen genoss: „Ich fürchte die Russen, […] sie sind jetzt in der Dobrudscha, […] aber sie führen nichts Gutes im Schilde. […] Der Weg nach Sofia und Konstantinopel führt nicht hier entlang, sondern durch Bukarest.“30 Das letzte Alarmsignal war für ihn und viele seiner Untergebenen der russische Plan, die verbliebenen rumänischen Einheiten auf russisches Territorium zu evakuieren und somit das gesamte Staatsgebiet dem Feind zu überlassen. Anfang Februar 1917 überschritt Sturdza die Frontlinie und richtete mithilfe der Deutschen einen Appell an die noch in Moldau verbliebenen rumänischen Soldaten: Ich, Oberst Sturdza, mit dem ihr Seite an Seite gekämpft habt, wende mich heute an euch. Ich möchte eine neue Armee errichten, ausgestattet mit neuesten Waffen und angeführt von der Sache ergebenen Offizieren. Ich möchte, dass wir die verlorene Sache aufgeben, dass wir den russischen Räuber aus unserem Land vertreiben und so bald wie möglich in unsere Häuser zurückkehren. Dabei helfen werden uns 200 000 rumänische Kriegsgefangene, die ich befreie.31 Das energische und rücksichtslose Einschreiten der russischen Gegenaufklärung verhinderte Massendesertionen. Sturdzas in den Reihen der Armee verbliebene Gefolgsleute wurden enttarnt und hingerichtet. Das ehrgeizige Projekt scheiterte, weil letztlich nur einige Hundert Soldaten flohen, zu wenig, um eine konkurrenzfähige prodeutsche rumänische Armee aufzubauen. Mit dem Rumänienfeldzug hängt ein weiterer Fall von Unstimmigkeiten zwischen Verbündeten zusammen. 1916 reiste der serbische Ministerpräsident Nikola Pašić zu einem Besuch nach Petrograd. Ein Ergebnis seiner Gespräche war die Entscheidung über den Beginn einer Anwerbungsaktion für ein serbisches Freiwilligenkorps in Odessa. Das natürliche Reservoir an Kandidaten für diese Formation waren die österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen serbischer Nationalität. Mehrere Tausend der so rekrutierten, meist unerfahrenen Serben nahmen an der von General Zajontschkowski befehligten Operation teil, einige 35

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Ein rumänischer Polizist patrouilliert mit deutschen Soldaten durch die Straßen von ­Bukarest, 1917.

weitere Tausend an den späteren Kämpfen auf rumänischem Territorium. Sie schlugen sich tapfer, erlitten freilich bedeutende Verluste. Etwa die Hälfte der weit mehr als zehntausend Soldaten kam ums Leben oder wurde verwundet. Vielleicht waren diese Verluste der Grund dafür, dass man – ob auf serbischer oder russischer Seite ist nicht eindeutig geklärt – auf die Idee kam, die stark gelichteten Reihen ließen sich am besten durch Zwang auffüllen. Unter den österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen in den südrussischen Gouvernements wurden regelmäßige, wenngleich absolut unrechtmäßige Rekrutierungen durchgeführt. Infolge der sehr eigenwilligen Auslegung einer Übereinkunft zwischen der serbischen Regierung und Vertretern des Jugoslawischen Komitees, das die Südslawen aus der Habsburgermonarchie repräsentierte, waren auch Kriegsgefangene kroatischer und slowenischer Nationalität von diesen Rekrutierungen betroffen. Deren Lust zur Rückkehr an die Front und zum Kampf gegen den eigenen Staat war natürlich verschwindend gering: Die zwangsweise mobilisierten Freiwilligen, die man „Zwangsler“ nannte, reagierten auf die Gewalt, indem sie sich weigerten, ihre Namen zu nennen 36

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und die Uniform anzulegen. Wie Dr. Potočnjak berichtet, sagte man ihnen später, sie müssten im Namen und auf Befehl des Zaren kämpfen, Ungehorsam würde mit Hunger bestraft. Das erzeugte Verbitterung; die „Zwangsler“ bildeten neues, anonymes und zutiefst unzufriedenes Material, in dem sich zerstörerische Arbeit sehr leicht verbreitete und festsetzte.32 Am 23. November 1916 brach in den Kasernen auf dem Schnepfenfeld (Kulikowo Pole) ein Aufstand der „Zwangsler“ aus. Die alarmierten russischen Soldaten trafen auf eine empörte Menge, die den Kaiser eines feindlichen Staates hoch­ leben ließ: „Živio Franjo Josip!“ Was die von der Außenwelt abgeschnittenen zwangsmobilisierten österreichisch-ungarischen Kriegsgefangen nicht wussten: Franz Joseph I. war zwei Tage zuvor gestorben. Bei der Niederschlagung der Revolte von Kroaten und Slowenen starben 13 „Zwangsler“. Die Situation im jugoslawischen „Freiwilligen“-Korps entspannte sich erst nach der Februarrevolution. Unter den neuen, freieren Umständen verlangten Kroaten und Slowenen Auskunft darüber, nach welchen Prinzipien ihr künftiges Vaterland regiert werden sollte. Von der Antwort machten sie ihre Bereitschaft zur Kriegsteilnahme abhängig. Natürlich konnte niemand ihnen eine konkrete und umfassende Antwort geben. Als Zugeständnis wurde das Korps in Freiwilligenkorps der Serben, Kroaten und Slowenen umbenannt. Letztlich wurde nur ein Teil dieser Einheit an die Saloniki-Front gebracht und eingesetzt. Mit Blick auf die nationalen Partikularismen, die vor der Revolution die imperialen Armeen aushöhlten, kann man leicht der teleologischen Versuchung erliegen und – wie einst die sowjetischen Historiker – überall dort Anzeichen der heraufziehenden Krise entdecken, wo sie am Ende tatsächlich eintrat. Deshalb möchten wir nicht behaupten, das Schicksal der Imperien und ihrer Armeen sei schon in der zweiten Hälfte des Jahres 1916 entschieden gewesen. Dennoch markiert für uns eben dieser Moment den Beginn eines Prozesses, an dessen Ende die bisherigen Verbündeten zu Feinden werden und Soldaten, die bis dahin Seite an Seite kämpften, die Waffen gegeneinander richten. Musste die innere, bisweilen symbolische Ethnisierung so enden? Sicher nicht. Eine kompetentere Führung hätte die zentrifugalen Tendenzen möglicherweise eindämmen und die Einheit der Armee erhalten können. Entsprechende Schritte unternahmen ungefähr zur gleichen Zeit die Deutschen, die über die hohe Anzahl von Desertionen polnischstämmiger Soldaten beunruhigt waren. Die Reaktion war entschieden und effektiv: Von 1916 an wurden die Posener (das heißt die Hauptverdächtigen; 37

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Soldaten der Entente an der Salonikifront, 1917.

an der Loyalität der polnischsprachigen Schlesier zweifelten die deutschen Offiziere nicht) auf Einheiten mit überwiegend deutschen Rekruten verteilt. Hier hatten die Offiziere ein wachsames Auge auf sie. Gleichzeitig wurden die Repressionen gegen Deserteure verschärft. Handelte es sich um Angehörige einer Minderheit (also Polen oder Elsässer), bestrafte man auch die Familien. Diese Maßnahmen genügten, um den Hohenzollern bis Kriegsende die Loyalität ihrer polnischen Untertanen zu sichern. Den Erfolg der deutschen Antwort auf die „polnische Frage“ in der Armee belegt eine verblüffende Statistik über die von Briten und Franzosen in den letzten Kriegstagen, als die deutsche Front endgültig zusammenbrach, gefangen genommenen Wehrmachtsoldaten. Der Prozentsatz der sich ergebenden Polen war dort deutlich niedriger, als es ihr Anteil an den deutschen Truppen hätte erwarten lassen.33 Viele dieser bis zuletzt treuen Soldaten tauschten nach dem 11. November 1918 die deutsche Uniform gegen eine polnische ein oder legten zur besseren Unterscheidung von den einstigen deutschen Kameraden, die nun Gegner waren, weiß-rote Armbinden an. Das war freilich nicht mehr die Sorge ihrer ehemaligen Kommandeure. Kurz nach dem Ende der Brussilow-Offensive gelangte ein deutscher Offizier zu der Schlussfolgerung, der Krieg im Osten habe nun, im August 1916, endgültig 38

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die gleiche Gestalt angenommen wie die Kämpfe an der Westfront – hier wie dort hielten sich die Gegner entlang einer langen befestigten Frontlinie gegenseitig in Schach.34 Ein nicht allzu tiefgründiger Beobachter, der noch dazu in der Armee diente, die am besten mit der ethnischen Heterogenität in ihren Reihen zurechtkam, konnte tatsächlich diesen Eindruck bekommen. Unter der halbwegs geordneten Oberfläche schwelte schon der Konflikt, der die Verbündeten und sogar die Soldaten ein und derselben Armee in einander zunehmend feindlich gesinnte Lager teilte. Der bevorstehende politische Umsturz in Petrograd sollte diesen Konflikt noch deutlich verschärfen.

Das demokratische Experiment in der Armee Bevor die Februarrevolution die bisherige Militärhierarchie und überkommenen Gewohnheiten über den Haufen warf, sorgten die unklaren Nachrichten aus ­Petrograd in vielen russischen Fronteinheiten für Verwirrung, Panik und Chaos. Was sich dort gegen Winterende und Frühlingsbeginn 1917 abspielte, lässt sich kaum als Konflikt konkreter politischer Kräfte bezeichnen. Weder Vorgesetzte noch Untergebene wussten wirklich, was eigentlich vor sich geht. Wie so oft in diesem Krieg entschieden Gerüchte, Zufälle oder lokale Interessen, Sympathien und Animositäten über Leben und Tod. So war es auch im Fall des Admirals ­Adrian Iwanowitsch Nepenin, dem Kommandeur der in Helsingfors stationierten russischen Baltischen Flotte. Weil er nicht wusste, wer die Macht innehatte und was zu tun sei, zögerte Nepenin mit den Befehlen für die Flotte. Unterdessen kochte unter den Matrosen die Gerüchteküche. Sie hörten, in Petrograd hätten die Arbeiter rebelliert, und vermuteten, ihr Kommandeur wolle sie zur Niederschlagung der Revolte einsetzen. Diese Vermutung war nicht nur falsch (Nepenin war allem Anschein nach völlig desorientiert), sondern auch absurd: Der Weg in die Hauptstadt war von Eis versperrt und auf den Schiffen wurden keine Vorbereitungen zum Auslaufen getroffen. Trotzdem rebellierten die Matrosen. Am Abend des 3. März brach auf der Imperator Pawel I. eine Meuterei aus. Matrosen töteten einige Offiziere und hissten die rote Flagge. Dann richteten sie die Geschütze auf die Andrei Perwoswanny, woraufhin deren Besatzung sich den Meuternden anschloss. Bald schlossen sich andere Schiffe an. Nepenin verlor die Kontrolle über die Situation, konnte jedoch rasch Kontakt zum Kriegsminister der Provisorischen Regierung Kerenski herstellen, der seine Befehlsgewalt über die Flotte bestätigte. Die Matrosen müssten ihm Gehorsam leisten. Der Triumph des Admirals erwies sich aber als Pyrrhussieg. Die Matrosen ­ließen die arrestierten Offiziere frei und die Besatzungen versammelten sich zu 39

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einer Kundgebung, auf der Nepenins Autorität durch aus der Hauptstadt angereiste Dumaabgeordnete bestätigt werden sollte. Ein solches Ende der Meuterei in Helsingfors hätte aber bedeutet, dass die Rädelsführer vor ein Kriegsgericht gestellt worden wären. Daran war keiner von ihnen interessiert. Die Lösung war überraschend einfach. Admiral Nepenin wurde von der Eskorte ermordet, die ihn auf dem Weg zur besagten Kundgebung begleitete. Er erfuhr also nicht mehr, dass ihn die revolutionäre Provisorische Regierung zum Vizeminister und Verantwortlichen für die russische Flotte ernannt hatte.35 Die Ereignisse in Finnland waren nicht typisch. An anderen Orten wurden normalerweise keine Offiziere ermordet, auch wenn kurzzeitige Revolten in einzelnen Einheiten keine Seltenheit waren. Meist wurden sie Schikanen ausgesetzt wie etwa ein Regimentskommandeur, dessen Untergebene zu Ostern 1917 Eier und Kuchen verlangten und ihm, weil er ihre Forderung nicht erfüllen konnte, mit dem Tod drohten. Der Kommandeur flehte auf Knien um sein Leben, doch auch wenn er letztlich verschont wurde, ist zu bezweifeln, dass er anschließend von seinen Soldaten noch respektiert wurde.36 Im März und April begann die Disziplin in den Fronttruppen zu bröckeln. Die Soldaten verweigerten die Ausführung von Befehlen, immer häufiger war auch von Frieden die Rede. Die Fälle von Verbrüderung mit dem Feind wurden zu einer solchen Gefahr für den Zusammenhalt der eigenen Reihen, dass die fraternisierenden Soldaten immer häufiger mit leichter Artillerie beschossen wurden.37 Wie die Prawda berichtete, wurde der 1. Mai (immer noch nach dem vorrevolutionären Kalender) feierlich begangen, in der vordersten Linie der Schützengräben hisste man rote Flaggen. Über den deutschen Gräben wehten die gleichen Flaggen. „An den meisten Abschnitten herrscht absolute Stille. Ganze Tage vergehen ohne einen einzigen Schuss.“38 Aus Sicht der Soldaten beider Armeen wurde das Leben in den Schützen­ gräben etwas erträglicher. Die Empfindungen der Infanteristen waren auf beiden Seiten der Front sehr ähnlich. Ein russischer Soldat schrieb in einem Brief nach Hause: Sobald wir unsere Stellungen erreicht hatten, gingen wir am folgenden Tag aus den Schützengräben zu den Deutschen und sie kamen zu uns. Sie ließen ihre Gewehre in ihren Gräben, wir unsere auch, und wir trafen uns, um zu reden. Sie boten uns Zigaretten an, manche auch Zigarren. Es war der 23. April, sie sagten: „Russen, schießt nicht“, und unsere sagten ihnen: „Schießt ihr auch nicht“, und wir stiegen ganz auf die Wälle der Schützengräben, sie und wir, und ihre und unsere Batterien feuerten.39 40

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Rumänische Batterie in einem Maisfeld.

Das gleiche Bild blieb František Stanislav Petr, einem tschechischen Unteroffizier in der österreichisch-ungarischen Armee, im Gedächtnis haften. Das Frühjahr 1917 war eine ruhige Zeit, die nur manchmal von Lärm gestört wurde, allerdings nicht solchem, an den das Ohr des vom Isonzo an die Ostfront verlegten Soldaten gewohnt war: Wir hatten uns schön eingerichtet. Die Front war ruhig, nicht so belegt wie am Tscheremosch. Ab und zu donnerten die Kanonen, aber während meiner ganzen Zeit an der Front gab es keine ernsthaften Angriffe. Das schlimmste in meinem Unterschlupf waren die Frösche, die sich im Wasser ringsum zu Tausenden drängten. Wer es nicht gehört hat, kann sich nicht vorstellen, wie nervtötend das Quaken einer solchen Froscharmee sein kann, das von morgens bis abends und weit in die Nacht hinein pausenlos andauert. Manchmal bringt es mich zur Verzweiflung.40 Petr beschreibt diese neue Art des Kriegs als Kampf, an dem sich auf beiden Seiten eigentlich nur die Artilleristen beteiligten. Weil diese meist die Artillerie 41

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und das Kommando des Gegners beschossen, das heißt die Stellungen in den hinteren Verteidigungslinien, konnten die Soldaten aus den vorderen Linien ihre Schützengräben verlassen und gemäß der ungeschriebenen Übereinkunft gemeinsam mit den ebenso agierenden Russen den beindruckenden Anblick genießen: Geschosse und Schrapnelle formten über uns gleichsam eine feste Wand oder eher Decke, in etwa so, wie Baron Münchhausen im Regen seinen Säbel über dem Kopf kreisen ließ, sodass ihm kein einziger Tropfen auf die Nase fiel.41 Die deutsche und die österreichisch-ungarische Führung beobachteten mit wohlwollendem Interesse den Verfall der Disziplin in der russischen Armee. Man untersagte den habsburgischen Linientruppen jegliche Provokation des Feindes, um Verluste möglichst zu vermeiden. Die vorgeschobenen Stellungen wurden immer spärlicher besetzt, während die übrigen Kräfte an die italienische Front verlegt wurden, die inzwischen für das Überleben der Monarchie wichtiger geworden war. Józef Iwicki, ein Pole in deutscher Uniform, der Ende April an die Ostfront kam, stieß dort auf fast friedliche Verhältnisse: Längere Zeit schoss überhaupt niemand. Die Soldaten beider Seiten verkehrten miteinander, zwischen den beiden Gräben herrschte reger Handel. Die

Baron Münchhausen am rumänischen Frontabschnitt, 1917.

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Deutschen brachten den Russen Zigaretten und vor allem Rum, im Gegenzug erhielten sie Seife, Brot und andere Dinge, vor allem aber Brot. Das ging so weit, dass man das russische Brot als ständige Ergänzung der täglichen Brotration ansah. […] Einer unserer Offiziere ließ sich sogar fotografieren, als er mit einigen russischen Soldaten zusammenstand und sich mit ihnen unterhielt. Es herrschte also eine echte Waffenruhe.42 Unterdessen wurde die von unten ausgehende Demokratisierung der russischen Armee durch die Regierung sanktioniert. Die in Russland bestehende Doppelherrschaft bedeutete, dass der Petrograder Rat und die Provisorische Regierung um die Gunst der soldatischen Massen wetteiferten. Im Mai wurde offiziell die Demokratie in der Armee eingeführt. Gewählte Soldatendelegierte sollten in den einzelnen Einheiten die wichtigsten Entscheidungen treffen. Unter anderem bestimmten sie die Verteilung der Ausrüstung und bestätigten (oder auch nicht, wie in der Demokratie üblich) die Befehle der übergeordneten Ebene. Es wurden Offizierswahlen eingeführt, was an sich noch keine Katastrophe war, denn selbst die anarchistischsten Soldaten bevorzugten professionelle Kommandeure. Die neuen Vorschriften zum Salutieren trugen dem veränderten Status der Rekruten – die nun keine Untertanen mehr waren, sondern Staatsbürger – Rechnung. Unter anderen Umständen hätten diese Neuerungen nicht zum Zerfall der Armee führen müssen. Doch die Demokratisierung erfolgte letztlich gegen den Willen der Regierung, sie war ein Beleg ihrer Schwäche, nicht ihres Großmuts. Der entsprechende Befehl betraf zunächst nur den Militärbezirk Petrograd. Die Regierung ging vernünftigerweise davon aus, dass die Demokratisierung in der Nähe der Frontlinie fatale Auswirkungen auf die Disziplin haben könnte. Die Nachricht von der Reform verbreitete sich allerdings wie ein Lauffeuer. Im ganzen Land verweigerten die Soldaten den Gehorsam und gründeten eigene Selbstverwaltungen. In dieser Situation blieb der Regierung nichts anderes übrig, als die geschaffenen Fakten anzuerkennen und den Befehl auf alle Fronten auszuweiten.43 Nicht nur der Inhalt des Befehls, sondern auch die Art seiner Umsetzung hatte gravierende Auswirkungen für das Funktionieren der Armee. Die russischen Soldaten bekamen – oder besser: erkämpften – sich das Recht, demokratisch zu entscheiden, wem sie gehorchten und ob sie sich an einer militärischen Operation beteiligten oder nicht. Wie folgenschwer diese Entscheidung war, zeigte sich bereits Anfang Juli. Wie bereits erwähnt, erklärte sich die Provisorische Regierung auf Druck der 43

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Beobachtung der Frontlinie, Rumänien 1917.

Verbündeten zu einer weiteren Offensive im Westen bereit, um die vor einem Jahr von der Brussilow-Offensive verfehlten Ziele zu erreichen. Während es entlang der gesamten Front in den russischen Reihen zu immer drastischeren Fällen von Ungehorsam und Verbrüderungen mit dem Feind kam, bereiste Minister Kerenski gewissenhaft die einzelnen Einheiten und warb unter den Soldaten für die geplante Operation. Ende Juni schien es, als habe er Erfolg – große Einheiten stimmten für die Offensive. Deshalb rückten die Russen am 1. Juli in Galizien, der Bukowina und in Rumänien vor. In den ersten Tagen drängten sie die Österreicher nach Westen zurück. Dieses Mal gelang es Brussilow allerdings nicht, größere Einheiten des Feindes zu zerschlagen oder Panik unter den Zurückweichenden hervorzurufen. Am 19. Juli starteten die Deutschen eine Gegenoffensive, die den Vormarsch der russischen Streitkräfte endgültig zum Erliegen brachte. Es gab keine neue Offensive mehr, sondern nur einen für die Zivilbevölkerung verheerenden Rückzug und Anfang September den Verlust Rigas, das von den Deutschen eingenommen wurde. Die Schuld für das Scheitern der Kerenski-Offensive wird meist entweder Agenten der Mittelmächte oder den umstürzlerischen Aktivitäten der Bolschewiki (die während der Operation in Petrograd einen missglückten Putschversuch unternahmen) zugeschrieben. Die einen wie die anderen taten zweifellos alles, 44

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was in ihrer Macht stand, um den Kampfgeist der russischen Soldaten zu schwächen. In der k. u. k. Armee wurden die Einheiten an der vordersten Frontlinie von (oft ukrainischen) Geheimdienstoffizieren begleitet, die sich rege am sozialen Kontakt mit dem Feind beteiligten. Die Bolschewiki wiederum machten einen sofortigen Frieden zu ihrer Hauptforderung. Zugleich deutet vieles darauf hin, dass die bolschewistischen Aktivitäten lediglich bereits existierende Stimmungen und Emotionen in den russischen Reihen verstärkten. Als besonders effektiver Katalysator wirkten die Nachrichten aus der Heimat sowie die Unaufrichtigkeit und Ungeschicklichkeit von Kerenskis Propagandaaktion auf der Ebene der kleineren Armeeeinheiten. Die überwiegende Mehrheit der russischen Soldaten waren Bauern. Solange die Revolution von den Arbeitern in den Städten getragen wurde, waren sie nicht unmittelbar von ihr betroffen. Letztlich erreichte sie aber auch das Land, wo sie Hoffnungen, aber auch Unruhe weckte. Die Bauern rechneten mit dem Land, das den „Vaterlandsverteidigern“ versprochen worden war. Mit der Zeit wurden ihre Forderungen immer nachdrücklicher, sie überschwemmten die zaristischen Ämter mit Briefen, die sich teils wie Petitionen, teils wie Drohungen lesen. So schrieben zwei Brüder, deren Vater gerade eine Gerichtsverhandlung um einen Bodenanteil in seinem Heimatdorf verloren hatte, an den Innenminister: Wie Ihnen bekannt ist, hat sich jeder von uns mit großem Einsatz an der Kriegsanstrengung beteiligt und darüber hinaus blutet unser Herz, wenn wir an unsere Familien denken. Nach dem Erhalt einer solchen Nachricht von unserem Vater verlässt uns die Kraft und, obwohl wir gegen einen unnachgiebigen Feind kämpfen müssen, fehlt uns der Geist, überhaupt unser Gewehr in die Hand zu nehmen.44 Die Aussicht auf eine Vergrößerung des Besitzes (oder auch, auf russischem Territorium, des Anteils am gemeinsamen Land) war nur die eine Seite der Medaille. Die Kehrseite war die wachsende Angst, dass in Abwesenheit des Familienoberhaupts die „Reservistin“ (so nannte man die zurückbleibenden Ehefrauen der an die Front geschickten Männer) um den Familienbesitz gebracht werden könnte. Corinne Gaudin zeigt anhand zahlreicher Briefe und amtlicher Dokumente, dass schon 1915 in der russischen Provinz massenweise Bittbriefe, Petitionen und – zunehmend – auch Denunziationen verfasst wurden, deren Zweck darin bestand, das Land des Nachbarn zu bekommen, zumal, wenn der Nachbar nicht in der Armee war.45 Die Sorge um die im Hinterland zurückgelassenen Nächsten war keineswegs eine russische Besonderheit. Der ungarische Historiker Péter Hanák 45

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untersuchte Briefe ungarischer Bauern (die oft in ihrem Namen von Dorfschreibern geschrieben worden waren), die von der österreichisch-ungarischen Zensur konfisziert wurden. Ihr Inhalt besteht in einer anschwellenden Klage über Armut, Hunger, Hoffnungslosigkeit. Die Frauen der Soldaten bekennen sich zur Untreue – als Gegenleistung für Essen für die Kinder –, klagen über die korrupte Verwaltung und verurteilen immer wieder, zumal in den letzten beiden Kriegsjahren, die Männer, die noch immer im Hinterland verblieben: […] mein blutendes, verwaistes Herz ist von Trauer erfüllt, denn es sind nun schon drei Jahre, dass Du fern von mir bist; hier zu Hause wimmelt es von beurlaubten Soldaten, den Reichen und Glücklichen, die sich vom Soldaten­ schicksal freikaufen können, die Witwen und Waisen verführen. Sie haben wenigstens etwas zu verlieren […] Nur die Reichen bleiben zu Hause, den alle sind taub und blind, nur ihr Geldbeutel hat einen guten Blick … wer kann, häuft Geld an; alle Armen sind an der Front.46 Wir werden nie erfahren, was geschehen wäre, wenn man in der österreichisch-­ ungarischen Armee ein demokratisches Experiment durchgeführt hätte. In der russischen Armee führte es zu einem deutlichen Anstieg der Desertionen. Anders als Ende 1916 ließ sich der Prozess nun nicht mehr aufhalten. Er verstärkte sich nämlich selbst: Die bewaffneten Deserteure marodierten im Hinterland, in den Dörfern. Die an der Front verbleibenden Bauern erfuhren, dass ihren Famili­ en dadurch eine Gefahr drohte, vor der die schwache und unfähige Staatsmacht sie nicht schützen konnte. Darum verließen auch viele von ihnen eigenmächtig ihre Einheiten und kehren auf schnellstem Wege in die Heimat zurück. Unterwegs fielen weitere Dörfer den Plünderungen der Deserteure zum Opfer. Die pazifistische Revolution in der russischen Armee wäre womöglich weniger heftig gewesen, wenn nicht ein zweiter Faktor zur Radikalisierung der Soldaten beigetragen hätte. Kerenski hatte mit aller Kraft versucht, sie zur Beteiligung an der Offensive zu bewegen. Die Freiwilligkeit der Teilnahme war die G ­ rundlage der Legitimität der Operation. In diesem Punkt sollte sich die Revolutionsregierung von der zaristischen unterscheiden: Statt den Untertanen ihren Willen aufzuzwingen, realisierte sie den Willen der Bürger. Die Wirklichkeit sah freilich anders aus. Im Juni intensivierten die Militärgerichte ihre Tätigkeit und eliminierten gefährliche „Defätisten“ aus den Einheiten, was die Stimmung aber nicht verbesserte. Skeptisch waren insbesondere die Infanteristen, die wie immer die größten Verluste erleiden sollten. Aus Argumentationen wurden mitunter harte Verhandlungen, oft unter Einsatz erpresserischer Mittel. An einem ­Frontabschnitt 46

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

erklärten sich finnische Freiwillige unter der Bedingung zum Angriff auf die öster­ reichisch-ungarischen Stellungen bereit, dass sie sofort nach Einnahme der ­dritten Verteidigungslinie des Feindes von der Leibgarde abgelöst würden. Man drohte ihnen, im Fall einer Weigerung würde die Leibgarde sie angreifen. Kaum war die Vereinbarung jedoch geschlossen, wurde sie bereits aufgekündigt. Es stellte sich nämlich heraus, dass die Leibgarde, mit der die Führung parallel verhandelt hatte, überhaupt nicht kämpfen würde.47 General Carl Gustaf Mannerheim, der schon bald zum finnischen Nationalhelden werden sollte, doch 1917 noch ein guter russischer Offizier war, trieb die Infanterie einfach unter der Androhung von Artilleriebeschuss in den Kampf.48 Welcher Kampfeswille herrschte wohl in Einheiten, die auf diese Weise zur Teilnahme an der Offensive gezwungen wurden? Sicher keine uneingeschränkte, wie das Beispiel der 159. Infanteriedivision zeigt, die nach einigen Tagen ihren Vorgesetzten mitteilte, falls sie nicht binnen einer Woche von der Front abgezogen würden, könne man „für die Konsequenzen nicht garantieren“.49 Das Problem war nicht allein die Anwendung von Gewalt gegen die eigenen Soldaten. So verfuhren Ende Mai 1917 auch die Franzosen, die eine Revolte der Fronttruppen zu radikalen Schritten zwang. Am brutalsten verfuhr man damals mit einer an der Westfront eingesetzten russischen Division, die durch Artilleriefeuer zum Gehorsam gezwungen wurde.50 Die Krise in der französischen Armee konnte letztlich aber durch Verhandlungen überwunden werden. Die Bereitschaft zur Anwendung von Zwangsmaßnahmen in Kombination mit Gesprächsbereitschaft kennzeichnete eine entschlossene, selbstsichere Regierung. In Russland wurde die Androhung von Gewalt bald illusorisch, beide Seiten hielten sich nicht an geschlossene Vereinbarungen. Auf diese Weise kam zu den Krisen, die ohnehin schon die Armee erschütterten, eine weitere hinzu: eine Vertrauens­ krise.

Einstige Freunde, neue Feinde Im Hinblick auf die Region, die uns am meisten interessiert, hatte die Kerenski-­ Offensive eine doppelte Bedeutung. Erstens eröffnete sie vor allem in der Ukraine eine Phase chaotischer Auseinandersetzungen um die Macht, indem letztlich jeder gegen jeden kämpfte – auf dieses Thema werden wir noch mehrfach zurückkommen. Zweitens beschleunigten Vorbereitung und Durchführung der Operation die Ethnisierung der kämpfenden Armeen. Vor 1917 sorgte die russische Führung meist dafür, dass in den meisten Einheiten der Armee ethnische Russen die Mehrheit stellten (wobei man auch Ukrainer und Weißrussen ein47

I  Giganten und Pygmäen

rechnete). Eine Ausnahme bildeten ethnisch definierte Einheiten: litauische Schützen, armenische Partisanen, finnische Freiwillige, das jugoslawische Korps, polnische Einheiten oder auch die Tschechoslowakische Legion. Unter der Führung des Ministers Kerenski erfasste die Ethnisierung die gesamte Armee. In der Praxis beruhte sie auf der Versetzung von Offizieren und Soldaten in Korps, die sich mehrheitlich aus Angehörigen einer Nationalität zusammensetzten. Wie im Fall des Demokratisierungsbefehls spielte auch hier der Druck von unten eine entscheidende Rolle. In Hinsicht auf die Dynamik und die Bedeutung für die Zukunft des Staates erwies sich die Haltung der Soldaten ukrainischer Nationalität als die wichtigste. Der nach der Februarrevolution in Kiew gegründete Ukrainische Zentralrat ­forderte fast von Beginn seines Bestehens an hartnäckig die Gründung einer ­ukrainischen Nationalarmee. Das Aufkommen einer solchen Forderung wäre an sich keine besondere Gefahr für die Provisorische Regierung gewesen. Sie wurde ­allerdings von zunehmend heftigen Bewegungen an der Basis begleitet. In ­Garnisonen, in denen viele Ukrainer stationiert waren, formten sich – in Anknüpfung an die kosakische Tradition – nationale „hromadas“ (Haufen) und „kosche“ ­(Lager). Die Entwicklung war nicht auf die ukrainischen Gebiete, ja nicht einmal auf Europa beschränkt. Eine der zahlenmäßig stärksten „hromadas“ formierte sich in Wladiwostok. In Kiew und anderen größeren Städten der Ukraine entstanden „kosakische“ Freiwilligeneinheiten. Die Entscheidung der Provisorischen Regierung zur Gründung einer polnischen Division (hauptsächlich aus Sol­da­ten der Puławski-Legion) wirkte wie ein Katalysator. Die Rekrutierungs­ basis für diese Einheit bildeten Gebiete, die auch die ukrainische National­ bewegung für sich beanspruchte; in Kiew beklagte man sich (eher grundlos) ­darüber, dass junge Ukrainer zwangsweise der polnischen Armee zugeführt ­würden. Im April entstand in Kiew mit dem Bohdan-Chmelnyzkyj-Regiment die bis dahin zahlenmäßig stärkste Freiwilligeneinheit. Die freiwillige Truppenaufstockung kurz vor der großen Offensive hätte die russische Führung freuen können, wenn nicht diese „Freiwilligen“ ohnehin bereits im Wehrdienst gestanden hätten. In den Augen der Kommandierenden der regulären Armee handelte es sich schlicht um Deserteure, die sich – statt neue Einheiten zu gründen – unverzüglich in ihren ursprünglichen Regimentern hätten einfinden sollen. Doch die russischen Offiziere hatten die Lage immer seltener im Griff. Anfang Mai 1917 fand in Kiew der erste ukrainische Militärkongress statt; in den folgenden Monaten gab es zwei weitere Treffen. Der von der Provisorischen Regierung eingesetzte Kom48

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

mandant des Kiewer Militärbezirks Konstantin Oberutschew nahm an dem Maikongress teil. Was er dort erlebte, machte ihm keine Hoffnung auf den Fortbestand der multiethnischen Armee. Einer der Delegierten war als Zapo­ro­­ger Kosake verkleidet, trug zugleich aber russische Kapitäns-Epauletten. Oberutschew fragte ihn, welcher Einheit er angehöre. Er antwortete, er sei Offizier der ukrainischen Armee. „Aber es gibt doch gar keine ukrainische Armee“, widersprach Oberutschew. Daraufhin erwiderte Wasyl Pawlenko, ein anderer Delegierter: „Ihr werdet sehen, eine solche Armee wird entstehen und die ganze ­Ukraine umfassen. Sie existiert schon, nur ihr könnt sie noch nicht erblicken.“ Während des nächsten Kongresses der ukrainischen Soldaten sprachen die Delegierten bereits offen davon, die „Iwans“ aus dem Vaterland zu vertreiben.51 Die Hoffnung, angesichts der immer weiter gehenden Forderungen der Na­ tio­­nalitäten des einstigen Imperiums die Armee durch Zugeständnisse in einem schlagkräftigen Zustand halten zu können, verflüchtigte sich bald. Während alle anderen Ziele der Kerenski-Offensive verfehlt wurden, war die Ethnisierung der russischen Armee dauerhaft. Ab 1917 betrachteten sie die in Ostmitteleuropa erscheinenden politischen Bewegungen nicht mehr als eigenständige Kraft, sondern als Reservoir von Rekruten für die eigenen nationalen Streitkräfte. Auch kurzfristig trug das Verhalten der russischen Soldaten im Sommer 1917 wesentlich zur Konsolidierung der Verbündeten bei. Dort, wo nicht nur Russen kämpften, stieß ihre frisch eingeführte Militärdemokratie auf eine völlig andere Kriegskultur. Mindestens an zwei wichtigen Frontabschnitten führte das Versagen ­der Russen auch zur Entstehung nationaler Mythen, die an die Kostiuchnów­ ka-­Erzählung der polnischen Legionäre erinnern. Einer dieser Abschnitte war die rumänische Front. Schon während der Vorbereitungen zur Offensive verblüffte der neue Stil der Kriegsführung die rumänischen Verbindungsoffiziere. Einer von ihnen, Oberleutnant Mavrocordat, meldete seinen Vorgesetzten, dass russische XLVII. Korps entsende […] fast täglich Soldaten zur 40. Infanteriedivision – mit der Forderung, sie solle sich nicht an der Offensive beteiligen. Sollte die Division sich entscheiden, am Angriff teilzunehmen, erhalten die Soldaten des XLVII. Korps den Befehl, auf die Soldaten der 40. Division zu schießen.52 Die Nachricht vom Scheitern der Offensive in Galizien steigerte die Kampflust nicht. Einige russische Einheiten stimmten nicht nur über die Teilnahme an Operationen ab, sondern sogar über einzelne Manöver. Rumänische Offiziere berichteten von Russen, die sich selbst in die Hand schossen oder sich in Scharen erga49

I  Giganten und Pygmäen

Bei der Modernisierung der rumänischen Armee blieb die Marschmusik außen vor.

ben. Es gab jedoch auch Einheiten, die tapfer kämpften. Philippe Berthelot fasst das Chaos treffend zusammen: „Die Russen sind instabil. Einmal gehen sie entschlossen zum Gegenangriff über, ein andermal ziehen sich dieselben Einheiten unter Beschuss zurück.“53 Der russische Verbündete wurde somit genau in dem Moment unzuverlässig, als Rumänien die blutigsten und zugleich erfolgreichsten Kämpfe des gesamten Kriegs bestritt. In den drei großen Schlachten des Rumänienfeldzugs bei Măraşti, Mărăşeşti und Oituz wurde der Nationalstolz wiederhergestellt, der während des vorangegangenen Feldzugs stark gelitten hatte. Die noch vor Kurzem chaotische und erfolglose Armee bewährte sich nun selbst in Artilleriegefechten („Selbst vor Verdun habe ich kein so entsetzliches Artilleriefeuer gesehen“54, notierte ein Bayer aus der 12. Infanteriedivision). In der Luftwaffe besaßen die Rumänen dank französischer Ausrüstung sogar ein Übergewicht. Wichtiger für die Moral der Soldaten und die Gesellschaft des Landes, das größtenteils unter feindlicher Besatzung stand, war aber die unmittelbare Erfahrung der Kämpfe, in denen der General und spätere Ministerpräsident Alexandru Averescu hartnäckig alle Fehler der ersten Feldzüge des Ersten Weltkriegs wiederholte. Die rumänische Infanterie griff in Wellen an, bis sie völlig erschöpft war. In ebenso hel50

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

Die rumänische Armee hatte lange mit Ausstattungsmängeln zu kämpfen. Weil Stacheldraht fehlte, nutzte man angespitzte Äste zur Errichtung von Feldbefestigungen.

denhaften wie schlecht vorbereiteten Bajonettangriffen auf die befestigten Stellungen des Feindes verloren manche rumänischen Einheiten mehr als 80 Prozent ihrer Soldaten. Und doch wurden selbst sinnlose Befehle ausgeführt. Nach Einschätzung der österreichisch-ungarischen Aufklärung zeichnete sich die neue rumänische Armee […] im Angriff durch Energie und Todesverachtung aus. Ermuntert durch die intensive patriotische rumänische Propaganda, ziehen die Menschen ohne Widerstand in den Kampf […]. Die jungen Offiziere verfügen über eine seriöse militärische Ausbildung, sie sind flexibel, treten würdevoll auf und lassen im Gespräch flammenden Patriotismus, Pflichtgefühl, Begeisterung und Selbst­ ge­wissheit erkennen.55 Die praktischen Auswirkungen der rumänischen Erfolge rechtfertigten die euphorische Stimmung der Offizierskader keineswegs. Der rumänischen Armee gelang es gerade einmal, die völlige Niederlage zu vermeiden und ein Stück des Staatsterritoriums zu halten, während in der Hauptstadt der Feind schaltete und waltete. Im Herbst 1917 flauten die Kämpfe ab, an ihre Stelle traten verstärkte Propagandaaktionen. Anfangs dominierten die Deutschen, die rumänische Zei51

I  Giganten und Pygmäen

Diskussion mit französischen Militärberatern.

General Grigorescu erhielt für Mărăşeşti den Orden der Ehrenlegion …

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Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

tungen aus dem besetzten Bukarest auf die andere Seite der Front lieferten. Die Lektüre von Gazetă Bucureştilor oder Săptămână Illustrată sollte die Soldaten davon überzeugen, dass hinter den deutschen Linien das Leben seinen normalen, ruhigen Gang gehe. Die Presse veröffentlichte Fotos und Aussagen von Deserteuren, die mit ihrer Entscheidung zufrieden waren. Auch Flugblätter, die Überläufern die freie Rückkehr in ihre Heimatorte in Aussicht stellten, ermunterten zur Desertion. Die Rumänen reagierten mit der Herausgabe der deutschsprachigen Feldzeitung Kriegswoche, die über Niederlagen der Mittelmächte und über Hungerunruhen in Berlin und anderen deutschen Städten berichteten. Beide Aktionen wurden in dem Moment obsolet, in dem die Oktoberrevolution die russische Armee quasi komplett lahmlegte. Die psychologische und politische Bedeutung des Rumänien-Feldzugs von 1917 wurde erst nach einer gewissen Zeit sichtbar. An seinem Ende waren die Aussichten für die Anhänger der Entente alles andere als gut. Das Land, das spät in den Krieg eingetreten war, dann in Rekordgeschwindigkeit eine demütigende Niederlage erlitten hatte und nur dank seines mächtigen Verbündeten Reste seines Territoriums halten konnte, durfte eher nicht auf Dankbarkeit seitens der

… während seine Untergebenen sich mit weniger prestigeträchtigen rumänischen ­Aus­zeichnungen zufrieden geben mussten.

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I  Giganten und Pygmäen

Rumänische Bauern beim Hora-Tanz mit deutschen Soldaten, 1917.

Bündnispartner hoffen. Von der rumänischen Armee indes konnte man mit Fug und Recht sagen, dass sie faktisch zum Zusammenbruch der russischen Front beitrug, indem sie wesentliche Kräfte von dort abzog. Nach diesem Bärendienst am Verbündeten war Rumänien zu weiteren Kämpfen nicht mehr in der Lage. Das Land war kein aktiver Bündnispartner Frankreichs und Großbritanniens mehr. In dieser Situation lieferte der Heldenmut der rumänischen Soldaten bei Măraşti, Mărăşeşti und Oituz für die Westmächte ein gewichtiges (und für die Propaganda ergiebiges) Argument dafür, den gedemütigten Partner nicht ganz fallen zu lassen. Einer Armee, die derartige Tapferkeit bewies, konnte man nach Ansicht der französischen und britischen Strategen in künftigen Kämpfen vertrauen. Von großer Bedeutung für das Selbstbewusstsein der rumänischen Politiker, die sich – wie etwa der Historiker Nicolae Iorga – nie mit der Niederlage abgefunden hatten, war neben dem Heroismus des rumänischen Soldaten auch der Kontext, der seinen Wert noch unterstrich. Diesen Kontext bildeten die Russen. Den rumänischen Beobachtern waren die pazifistischen Parolen der 1.-Mai-Demonstration 1917 in Jassy nicht entgangen. Im Zug waren mehr russische Militärmäntel zu sehen gewesen als Zivilkleidung; Schätzungen zufolge hatten 15 000 Soldaten teilgenommen.56 Rumänische Berichte über den Feldzug von 1917 betonten, ähnlich wie vergleichbare deutsche oder österreichisch-ungarische Texte, immer wieder die offensichtliche Überlegenheit der rumänischen Armee. Die prakti54

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

Rumänische Kriegsgefangene in den Straßen von Bukarest.

schen Folgen dieses diskursiven Manövers zeigten sich rasch. Im November 1917 veröffentlichten die Bolschewiki ihr Dekret über den Frieden. Der Oberbefehlshaber der russischen Truppen in Rumänien, General Dymitr Schtscherbatschew, verweigerte Lenin die Gefolgschaft und unterstellte sich der ukrainischen Regierung. Seine Soldaten interessierte das nicht mehr. Um ein Ende der Kämpfe zu erzwingen, begannen sie etwas, was man als Streik bezeichnen könnte. Die machtlose Führung musste einen Waffenstillstand mit den Deutschen aushandeln. Die auf sich selbst gestellten Rumänen mussten ebenfalls Verhandlungen mit den Deutschen aufnehmen. Der Präliminarfrieden wurde im März 1918 geschlossen, im Mai erfolgte der feierliche Friedensschluss mit dem Deutschen Reich, Österreich-Ungarn, Bulgarien und der Türkei. Unterdessen bereiteten sich die Russen auf die Evakuierung vor. Deren Verlauf und die unmittelbar anschließenden Ereignisse illustrieren anschaulich das Tempo des Übergangs vom Krieg der Imperien zum Krieg der Nationen. Bis zum November kämpften Rumänen und Russen, wenn auch nicht ohne Probleme, Seite an Seite gegen den gemeinsamen Feind. In der zweiten Januarhälfte 1918 schlugen die einstigen Verbündeten bereits einige kleinere Schlachten gegeneinander, deren Anlass meist Missverständnisse während der Evakuierung waren. In der Gegend um Galați kämpften die 9. und 10. Infanteriedivision des IV. Sibirischen Korps zwei Tage lang mit rumänischen Einheiten; das Gefecht endete erst, als die rumänische Donauflottille die Russen unter Beschuss nahm und die Infan55

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Die rumänische Friedensdelegation in Bukarest.

terie zum Bajonettangriff überging. Eine knappe Woche später marschierte die rumänische Armee ins von den Bolschewiki verlassene Chişinău ein. Offiziell versprach man, die Autonomie der lokalen Selbstverwaltung – repräsentiert durch einen Delegiertenrat, den sogenannten Sfatul Ţării – zu respektieren. Die Haltung der Besatzer gab den Einheimischen allerdings immer mehr Grund zur Sorge: Von Beginn an gab es Vorbehalte gegen das Verhalten einiger rumänischer Offiziere, etwa von Gen. [Ernest] Broşteanu. Er regierte Chişinău mit harter Hand, wobei er den Sfatul Ţării meist ignorierte. Er führte ein strenges Regime nach dem Kriegsrecht, einschließlich der Todesstrafe. Als der Präsident des Sfatul Ţării ihn informierte, dass die Verfassung der Republik Moldau keine Todesstrafe vorsehe, soll Broşteanu erwidert haben: „Hier bin ich der Richter und jedes Verbrechen wird streng bestraft werden.“ Unter die Kriegsgerichts­ barkeit fielen unter anderem Verbrechen wie die „Beleidigung rumänischer Offiziere in Wort oder Schrift“.57 Innerhalb von nur zwei Monaten wendete sich das Blatt um 180 Grad. Vom Bittsteller, der um russischen Beistand ersuchte, wurde die rumänische Armee zum Besatzer eines Gebiets, das kurz zuvor noch zu Russland gehört hatte, einem Besatzer, der vor harten Repressionen nicht zurückschreckte.58 Bei der Einnahme von Bender (im moldauischen Transnistrien) starben mehrere Dutzend rumäni56

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

sche Soldaten. Als Vergeltung verübten die Eroberer in der Stadt ein Massaker.59 Eine solche Entwicklung hätte ein halbes Jahr zuvor, als das russische Expeditionskorps in der Dobrudscha landete, sicher niemand erwartet. Abgesehen von den Kämpfen in Moldau, erzielte die Kerenski-Offensive nur auf einem Abschnitt einen lokalen Erfolg. Sein Ausmaß war wesentlich geringer als das der großen und blutigen Schlachten bei Măraşti oder Mărăşeşti, doch die propagandistische und politische Bedeutung war womöglich noch größer. Bei Zborów in der Ukraine kamen Anfang Juli in der russischen Armee erstmals tschechische und slowakische Freiwillige zum Einsatz – der Kern der späteren Tschechoslowakischen Legion. In einem frontalen Bajonettangriff eroberten sie die österreichisch-ungarischen Stellungen und machten über 3000 Gefangene (also grob gerechnet genauso viele, wie die Tschechoslowakische Brigade an Soldaten zählte). Die Verluste an Toten und Verwundeten betrugen fast ein Drittel. In der Folge mussten sich die erschöpften Tschechoslowaken zusammen mit der russischen Front zurückziehen. Die Bilanz der Gewinne und Verluste dieser Operation hätte wenig imposant ausgesehen, hätte sie nicht auf tschechischem Territorium sowie unter Tschechen und Slowaken große Resonanz gefunden. In Wien registrierte man den ­Erfolg der Legionäre sehr aufmerksam. Grund dafür war eine zufällige Ko­ inzidenz. Der Abschnitt, in dem die Tschechoslowaken angegriffen hatten, war nämlich unter anderem von zwei Regimentern (dem 75. und dem 35.) verteidigt worden, in denen mehrheitlich tschechische Rekruten dienten. Ausgerechnet aus ihren Reihen stammten die meisten Gefangenen. Blitzartig machten unzutreffende Verschwörungstheorien die Runde. Die liberale Wiener Neue Freie Presse schrieb von tschechischer Felonie, das weniger zurückhaltende G ­ razer Tagblatt vom „wohl schändlichsten Verbrechen, dass die Söhne Österreichs in diesem Krieg begingen“.60 Die Ironie des Schicksals wollte es, dass am Tag der Schlacht Kaiser Karl I. eine Gruppe tschechischer Politiker amnestierte, die des Staatsverrats verdächtigt worden waren. Die deutsch-österreichischen ­Natio­na­­listen überschlugen sich vor Empörung. Die unter strenger Kontrolle der Zensur stehende tschechische Presse hatte wenig Gelegenheit zur Vertei­ digung. Die beste und sicherste Taktik in dieser misslichen Situation bestand darin, sich in Zynismus zu flüchten. So gab sich die Redaktion von Venkov ­verblüfft: Wer hätte denn ahnen können, dass Tschechen und Slowaken in Russland eine Brigade gründen? Davon war während des ganzen Kriegs nie die Rede. Wo hätten sie dort so plötzlich herkommen sollen?61 57

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Ebenso bedeutsam war die psychologische Wirkung der Schlacht bei Zborów für die Haltung der Tschechen und Slowaken in Russland. Die Berichte der Teilnehmer sind nicht selten eine Beleidigung für den gesunden Menschenverstand. Die mit einer Missachtung der Fakten und signifikanten Ausblendungen einhergehenden expressionistischen Schilderungen erinnern stark an die ein Jahr älteren Berichte über die Kämpfe bei Kostiuchnówka. So notiert der Legionär František Wildmann: Wir bringen die Gefangenen nicht in die Etappe, wir sind nur wenige; während des Angriffs darf kein Bruder fehlen, also ziehen auch Köche, Schreiber und Hilfskräfte mit. Deshalb zeigen wir den Gefangenen nur mit dem Arm, in welche Richtung sie gehen sollen, und prüfen nur flüchtig, ob sie ihre Waffen abgelegt haben. Um ein Haar hätten wir teuer dafür bezahlt, dass wir sie nicht eskortierten; drei Gefangene schnappten sich wieder ihre Gewehre und begannen, uns in den Rücken zu schießen. Es kam sie teuer zu stehen.62 Diese kurze Notiz enthält zwei wichtige Informationen. Erstens ist die Beteiligung von Köchen und Schreibern an dem bravourösen Angriff kein Ausdruck patriotischen Überschwangs, sondern zeugt von einem Mangel an kampfwilligen Soldaten. Dieser resultierte unter anderem daraus, dass am Vortag der Operation viele Legionäre, zumal Tschechen aus Russland, die Teilnahme verweigert hatten (die Demokratisierung der russischen Armee gab ihnen das Recht dazu). Zweitens belegt die euphemistisch umschriebene Exekution der drei Kriegsgefangenen, dass die Bereitschaft der österreichisch-ungarischen Soldaten zur Kapitulation und zum eventuellen Übertritt auf die andere Seite keineswegs so groß war, wie russische Propagandisten und deutsch-österreichische Nationalisten behaupteten. Ebenso ambivalent erscheinen die Äußerungen der Tagebuchschreiber über die russischen Verbündeten und die russischen Offiziere in den eigenen Reihen. Die Positionen, die die Tschechoslowaken von der zuvor dort stationierten russischen Einheit übernahmen, erinnerten nicht im Geringsten an Schützengräben. Einige Monate Ruhe und intensives Fraternisieren hatten deutliche Spuren hinterlassen: Verwahrlosung, Munitionsmangel, absichtlich beschädigte Waffen. Die Legionäre griffen den Feind allein an, ohne aktive Unterstützung der benachbarten russischen Divisionen, die in ihren Stellungen blieben. Geleitet wurde der Angriff von tschechischen Unteroffizieren. Zu den höheren Kadern, die von russischen Linienoffizieren gebildet wurden, finden sich in den Erinnerungen von Legionären zahlreiche kritische Äußerungen. Wie sie es von ihrem bisherigen Dienstort gewohnt waren, versuchten sie 58

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

die Freiwilligen durch Schläge zum Gehorsam zu zwingen. In Kiew, wo in den Monaten zuvor tschechoslowakische Einheiten zusammengezogen worden waren, gab es Vorfälle, die sehr an die Auseinandersetzungen zwischen polnischen Legionären und Deutschen erinnerten, einschließlich einer Schlägerei in einem Freudenhaus. Während der Schlacht von Zborów sollen die russischen Offiziere nicht sonderlich dienstwillig gewesen sein, ein Teil von ihnen sei auch betrunken gewesen.63 Die Tschechoslowaken befanden sich während der Kerenski-Offensive in keiner beneidenswerten Position. Die fortschreitende Lähmung der russischen Armee bedeutete für sie fehlende Unterstützung und unnötige Verluste. Zu allem Übel war ihre unversöhnliche Haltung dem Feind gegenüber mit den pazifistischen Stimmungen in Russland nicht vereinbar. Schon vor Zborów kam es zu Konflikten zwischen Tschechoslowaken und Russen. Letztere hatten genug vom Krieg und blickten unwillig auf Einheiten, die offensichtlich bereit waren, ihn fortzusetzen. Die Tschechoslowaken wiederum hatten keine große Wahl. Die Kriegsgefangenschaft war für die ehemaligen Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee gleichbedeutend mit Kriegsgericht und Todesstrafe. Die Kluft zwischen den Tschechen und Slowaken in russischer Uniform und ihren russischen Kameraden vertiefte sich, die anfänglichen Missverständnisse verwandelten sich immer öfter in offene Feindseligkeit. Die tschechoslowakische Erinnerungskultur bewahrte eine Spur dieser Un­ gnade. Ein wichtiges Element der Schilderungen der Schlacht von Zborów war die kritische Darstellung des damaligen Zustands der – wie Politiker (darunter Edvard Beneš) anlässlich von Jahrestagen gewohnheitsmäßig zu sagen pflegten – in „unaufhaltsamen Zerfall“64 befindlichen russischen Armee. Von den russischen Nachbardivisionen der Tschechoslowakischen Brigade hieß es immer wieder, sie hätten ihre Stellungen überhaupt nicht verlassen. Angesichts des ansonsten eher herzlichen Verhältnisses der Tagebuchschreiber zu Russland und den Russen fallen diese Bemerkungen umso mehr ins Auge. In den tschechoslowakischen Erinnerungen tauchen nebenbei immer wieder Szenen auf, die in ihrer Dramaturgie an die Schilderungen von Kostiuchnówka erinnern. So beschreibt etwa Karel Voženílek die psychologischen Auswirkungen des Angriffs auf die Russen: „ein begeisterter russischer Soldat küsst meine verschmutzte Hand.“65 Ähnlich ist auch die Schlussfolgerung, zu der tschechoslowakische „neue Menschen“ freilich mehr Zeit als ihre polnischen Kameraden benötigten: Die russische Armee, die sich aus Millionen mobilisierter, überwiegend uninformierter Soldaten zusammensetzte, denen in fast drei Jahren Krieg nie59

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mand dessen Ursachen, Sinn und Ziel erklärt hatte und von denen noch vor der Revolution zwei Millionen desertierten, war von der Sehnsucht nach Frieden, nach Land, nach einer Rückkehr in die Heimat im Hinterland erfüllt. Unsere Regimenter indes, die zwar aus wenigen, dafür aber informierten Freiwilligen bestanden, die das Kriegsziel klar vor Augen sahen, brannten auf den revolutionären Kampf; auch sie wollten natürlich nach Hause zurückkehren, doch den Weg dorthin verstellte der verhasste Unterdrücker. Eine solche Truppe hatte natürlich eine andere Kriegspsychologie. Vor diesem Hinter­ grund mussten sich die Wege unserer Revolution und der russischen Revolu­ tion trennen und sie trennten sich. Das geschah im fünften Monat der russischen Revolution, im Juli 1917.66

„Der weiße Löwe hat seine Krallen gezeigt“ Unmittelbar nach der Schlacht von Zborów hielten sich die tschechoslowakischen Legionäre längere Zeit in Kiew auf, wo sie ausruhen und die gelichteten Reihen auffüllen konnten. Die Verfassung der Soldaten besserte sich schnell. Jerzy Bandrowski, ein polnischer Tschechenfreund, der sich damals in Kiew aufhielt, beobachtete erfreut die Übungen und den Drill der neuen Rekruten: Einen Mangel an Rasse kann man dem tschechischen Soldaten nicht vorwerfen. Wer ihn aufmerksam beobachtete, der weiß, dass der tschechische Soldat sich trotz seiner russischen Uniform vom russischen Infanteristen abhebt. Es sind schlanke Männer, gut aus den Hüften gewachsen [sic], mit breiter Brust und kräftigen Beinen. Ihre Hände sind stark, aber lang, ihre Gesichter haben etwas vorstehende, aber gut mit Haut überzogene Wangenknochen, ein energisches Kinn, kräftige Kiefer. Ich habe englische Soldaten gesehen und eben diesen ähneln die Tschechen vom Typ her. Sie haben dieselbe Präzision in ihren Bewegungen und sind darin nur etwas unruhiger. All jene, die den Tschechen mangelnde Rasse vorwerfen, sollten sich ihre Soldaten anschauen. Denn sie werden wohl mit mir übereinstimmen, dass nicht der Bankier oder Kaufmann die Rasse repräsentiert, sondern der Soldat. […] Auf dem Schauplatz des Slawentums erscheint wieder ein altes Volk, freilich wiedergeboren und verjüngt als – neue Rasse.67 Bandrowski beendet sein Loblied auf die physische (und rassische) Vitalität der Tschechen mit einer Sentenz, in der deutlich das Echo von Zborów mit60

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Die russische Offensive führte nicht zum erwünschten Ergebnis. Das Foto zeigt die öster­ reichisch-ungarische Siegesparade im zurückeroberten Czernowitz, 1917.

schwingt: „Der weiße Löwe hat seine Krallen gezeigt.“68 Die griffige Phrase sollte allerdings erst mit einem konkreten Inhalt gefüllt werden. Bis Ende 1917 wuchsen die Legionen zu zwei kompletten Divisionen mitsamt Hilfstruppen an. Ihr politischer Status blieb aber umstritten. Die Verhandlungen zwischen Tomáš Masaryk und der Provisorischen Regierung waren noch nicht abgeschlossen, als sich mit dem bolschewistischen Rückzug die Kräfteverhältnisse und die Position der Tschechoslowaken in Russland erneut änderten. Im wachsenden Chaos der Revolution gehörten sie zu den wenigen Einheiten, die halbwegs die Disziplin hielten. Das sichert ihnen im Gegenzug eine relativ gute Ausstattung (im rebellierenden Kiew bewachten sie die größten Waffenlager). Die Idylle dauerte nicht allzu lange. Im Februar 1918 schloss der Ukrainische Zentralrat in Brest-Litowsk am Bug ein Abkommen mit den Mittelmächten, gleichzeitig marschierten die Bolschewiki in Kiew ein. Für die Legionäre bedeutete das die konkrete Gefahr, vor österreichisch-ungarischen Kriegsgerichten zu landen, die Staatsverrat oft und gern mit dem Strang bestraften. Als während einer Unterbrechung der deutsch-bolschewistischen Verhandlungen die Deutschen nach Osten vorrückten, taten die Tschechoslowaken ohne zu zögern dasselbe. 61

I  Giganten und Pygmäen

Der Rückzugsweg führte durch von den Bolschewiki kontrollierte Gebiete. Diese erlaubten den tschechischen Transporten den Durchzug, allerdings unter der Bedingung einer partiellen Entwaffnung. Die Forderung war zwar absolut nachvollziehbar, dennoch weckte sie Misstrauen bezüglich der wahren Absichten Lenins und Trotzkis. Zusätzlich aufgeheizt wurde die Atmosphäre durch Zwischenfälle auf dem Weg nach Osten. In den Reihen der Tschechoslowaken kam der Verdacht auf, die Bolschewiki hätten sich im Geheimen mit den Deutschen auf eine Auslieferung der Legionäre geeinigt. Die Bombe platzte Mitte Mai 1918 in Tschelabinsk im Ural. Wie nicht selten im Völkerkrieg kam es an einem Bahnhof zur ersten Auseinandersetzung. Aus einem Zug mit ungarischen Kriegsgefangenen, die nach einem Abkommen zwischen Russland und den Mittelmächten in ihre Heimat zurückkehrten, warf jemand mit einem schweren Gegenstand nach einem tschechoslowakischen Transport. Was genau es war, ist nicht bekannt, jedenfalls wurde ein Legionär am Kopf getroffen und war sofort tot. Danach ging alles blitzschnell. Die Kameraden des Getöteten fassten und erschossen den Täter noch auf dem Bahnhof, worauf sie selbst von der örtlichen bolschewistischen Wache festgenommen wurden. Die übrigen Legionäre entsandten eine Delegation, die die Freilassung der Kameraden aushandeln sollte. Die Bolschewiki verhafteten jedoch auch die Unterhändler. Dieser Tropfen brachte das Fass zum Überlau-

Österreichisch-ungarische Kriegsgefangene in Russland.

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Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

fen. Die Tschechoslowaken verließen den Bahnhof und brachten unter Einsatz ihrer Waffen binnen kurzer Zeit Tschelabinsk in ihre Gewalt. Es war nicht das letzte folgenschwere Zusammentreffen habsburgischer Untertanen auf russischem Boden. Viele österreichisch-ungarische Kriegsgefangene erlagen den Einflüsterungen der Bolschewiki und schlossen sich der Roten Armee an, zumal jenseits des Urals die „Internationalisten“ nicht selten der einzig wirklich bewaffnete Arm der Revolution waren. Die zunehmenden Auseinandersetzungen zwischen Tschechoslowaken und Bolschewiki boten de facto nur einen Vorgeschmack der künftigen Kriege in Ostmitteleuropa. Im Juni 1918, fast genau ein Jahr nach der ungarischen Offensive in der Slowakei und der Schlacht bei Nové Zámky, kämpften Tschechoslowaken und Ungarn um die Stadt Pensa. Weitere Kämpfe zwischen den Legionären und meist ungarischen und deutschen „Internationalisten“ gab es in Irkutsk und Busuluk, wo die Tschechoslowaken eine Gruppe Kriegsgefangener erschossen. Dann verlagerte sich die bewegliche „Front“ nach Taschkent. Ein Teilnehmer der Schlacht um diese Stadt erinnert sich: Die ganze Artillerie und alle MG wurden von Kriegsgefangenen bedient; die Ausarbeitung der Pläne für das Vorgehen besorgten Kriegsgefangene und überhaupt alles, wozu geistige Arbeit nötig war, haben die Kriegsgefangenen gemacht69 Mit der Zeit wandelte sich der Charakter dieses Krieges. Die anfänglichen Gefechte um Bahnhöfe und entlang von Bahnlinien weiteten sich immer mehr aus. In Sibirien schlossen die Legionen einen für beide Seiten vorteilhaften Vertrag mit örtlichen Genossenschaften, die von der Partei der Sozialrevolutionäre (kurz: SR) kontrolliert wurden. Durch diese Zusammenarbeit entstand in den von den Tschechoslowaken besetzten Gebieten ein neues Machtzentrum in Opposition sowohl zu den Roten als auch zu den Weißen. Damit befanden sich die Legionen plötzlich im Zentrum des russischen Bürgerkriegs. Doch das war nicht ihr Ziel. Gegen den Wunsch der Briten, die die Legionen gern zum Schutz des Hafens in Archangelsk eingesetzt hätten, wollten sowohl das Tschechoslowakische Nationalkomitee als auch die Soldaten Russland so schnell wie möglich verlassen. Damit war das Schicksal der sibirischen Sozialrevolutionäre besiegelt und auch das Abenteuer der Legionen nahm eine letzte Wendung. Ende 1918 flüchteten sie vor den herandrängenden Bolschewiki immer weiter nach Osten bis nach Wladiwostok. Von dort gelangten die verbliebenen Legionäre ohne größere Hindernisse nach Hause. 63

I  Giganten und Pygmäen

Um das exotische Abenteuer der Tschechoslowaken rankten sich zahlreiche Erzählungen und Legenden. Die Legionäre selbst trugen dazu bei. In der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit galten sie als besonders verdienstvolle Kämpfer für das Vaterland. Viele machten Karriere in der Armee, die ­Erlebnisberichte von Veteranen wie Rudolf Medek erschienen in hohen Auf­lagen. Die sibirische Anabasis (wie man den Rückzug der Legionen nannte) hatte einen weiteren, etwas in Vergessenheit geratenen Aspekt. Unterwegs schlossen sich ihnen kleinere antibolschewistische Einheiten an, darunter die polnische Sibirische Division mit einigen Tausend Soldaten. In den letzten Wochen des Feldzugs, an der Jahreswende 1919/20, deckte sie den Rückzug der Tschechoslowaken. Die Legionäre entluden unterdessen ihre Züge so langsam, dass die Polen von den Bolschewiki eingeholt wurden. Die Reste der zerschlagenen Division erreichten die Heimat erst viel später über Japan. Die Anabasis der Legionen spielte sich weit entfernt von der Heimat vieler Teilnehmer der Kämpfe ab und doch handelte es sich in gewissem Sinn um einen Ausschnitt der mitteleuropäischen Völkerkriege. Auf der einen Seite standen Tschechen und Slowaken, meist österreichisch-ungarische Kriegsgefangene, auf der anderen Seite ihre früheren Armeekameraden, „Internationalisten“, überwiegend Ungarn und Deutsche. In Nebenrollen traten auch Polen auf. Manche Episoden dieser Geschichte waren Vorboten der künftigen Konflikte und Animositäten im „alten Land“. In der Zwischenkriegszeit blieben sie in lebendiger Erinnerung, für die Tschechoslowaken als Anlass zum Stolz, für Ungarn und Deutsche eher als unangenehme Erinnerung an verlorene Schlachten, für die Polen hingegen als Erinnerung an tschechischen Kleinmut und Verrat.

Wie dynamisch diese Abspaltungsprozesse waren und in welch unklarer Situation sich die nichtrussischen Soldaten im neuen, demokratischen Russland befanden, zeigt das Schicksal der polnischen Formationen, die bald die Basis des I. Polnischen Korps von General Józef Dowbor-Muśnicki bilden sollten. Während die Tschechoslowaken vor Zborów kämpften, standen die Polen einige Dutzend Kilo­meter weiter südlich, in der Nähe von Stanislaus (heute Iwano-­ Frankiwsk). Hier gerieten sie zunächst unter Beschuss durch die österreichisch-ungarische Artillerie, die Gasgranaten abfeuerte. Anschließend schloss sich ein Teil der ­polnischen Soldaten Marodeuren aus den russischen Regimentern an, die die umliegenden Lager plünderten. Die Lage ließ sich beruhigen, 64

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

doch die Einheit erlitt einen schmerzhaften Schlag. Die russische Führung zwang die Regimenter, in denen die meisten Desertionen verzeichnet wurden, zur Rückgabe eines Teils ihrer Bewaffnung. Schlimmer noch, die Polen sollten diese Waffen den Tschechoslowaken übergeben. Unmittelbar nach dieser Demütigung intervenierten die Ulanen des 1. Regiments in Stanislaus, das zeitweilig in der Hand marodierender russischer Banden war. Es gelang ihnen, Ordnung herzustellen, doch schon bald mussten sie die Stadt selbst verlassen, weil sie erneut vom heranziehenden Feind beschossen wurden.70 Letztlich beschränkte sich der Feindkontakt der Polen auf ständige Rückzüge unter Beschuss. Die Kämpfe Mann gegen Mann wurden von Soldaten in jeweils denselben russischen Uniformen ausgetragen.

Die Eidkrise Die plötzliche Verwandlung von Freunden in Feinde war mitunter weniger dramatisch als die Fronterlebnisse der an der Seite der demokratisierten russischen Armee kämpfenden Polen, Tschechen, Slowaken und Rumänen. In dem eher auf Papier denn in Wirklichkeit vorhandenen Königreich Polen riet Józef Piłsudski den ihm ergebenen Soldaten und Offizieren der Polnischen Legionen genau eine Woche nach der Schlacht von Zborów, den Eid und damit den Eintritt in die polnische Wehrmacht zu verweigern. Diese Entscheidung war politisch motiviert, die Eidesformel selbst verletzte die patriotischen Gefühle der Polen nicht. Sie lautete: Ich schwöre zu Gott dem Allmächtigen, daß ich meinem Vaterlande, dem Königreich Polen, und meinem künftigen König zu Wasser und zu Lande und an welchem Orte immer es sei, getreu und redlich dienen, im gegenwärtigen Kriege treue Waffenbrüderschaft mit den Heeren Deutschlands und Ö.-U.’s und der ihnen verbündeten Staaten halten, allen meinen Führern und Vorgesetzten gehorchen, die mir gegebenen Befehle und Vorschriften befolgen und mich so betragen will, daß ich als tapferer und rechtschaffener polnischer Soldat leben und sterben kann. So wahr mir Gott helfe. Amen.71 Angesichts dessen, dass die Legionäre schon eine ähnliche Zeremonie hinter sich hatten, bei der sie – ohne große Begeisterung – geschworen hatten, ihr Leben zu Lande, zu Wasser und in der Luft für Franz Joseph I. hinzugeben, ist nicht leicht verständlich, wo das Problem lag. Piłsudskis Anhänger betonten drei Punkte: den unklaren Adressaten des Eides, die Verpflichtung zur Waffenbrüderschaft mit den Verbündeten sowie die Tatsache, dass der Eid 65

I  Giganten und Pygmäen

nur die ehemals dem Zaren untertänigen Polen betraf. Keiner dieser Ein­ wände hielt einer sachlichen Kritik stand. Die Logik gebot es, anzunehmen, dass das Königreich Polen einst einen König haben würde und dass seine Streitkräfte diesem Herrscher zur Treue verpflichtet sein würden. Die Verpflichtung auf das de facto bestehende Bündnis mit den Zentralmächten für die Dauer des Krieges wirkte wie ein eher verzweifelter Versuch, einen Rest von Kontrolle über die künftige polnische Armee zu behalten. Die Forderung, der Eid müsse auch die polnischen Untertanen des Deutschen Reichs und der k. u. k. Monarchie einschließen, war schlicht verfrüht, weil erst nach Festlegung der endgültigen territorialen Gestalt des künftigen polnischen Staates erfüllbar. Die Eidkrise resultierte also nicht aus einem wirklichen Konflikt um den Inhalt des Schwurs, sondern – wie sich zeigen sollte – aus der wohlkalkulierten Entscheidung Piłsudskis, der die bis dahin bestehenden Bindungen zu den Zentralmächten lockern und dann ganz kappen wollte. Diesen Schritt war nicht für jeden verständlich. Iza Moszczeńska, die Gründerin der piłsudskifreund­ lichen Frauenliga des Kriegsnotdienstes (Liga Kobiet Pogotowia Wojennego),

Postkarte, deren Verkaufserlös für die Unterstützung internierter Legionäre bestimmt war.

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Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

unterstellte Piłsudski übertriebenen persönlichen Ehrgeiz und Desinteresse am Schicksal der Menschen, die ihm vertrauten: All diesen Opfern Ihrer rätselhaften Politik, deren Geheimnis in Ihrem Gehirn und Gewissen verborgen liegen, schulden Sie eine öffentliche unzweideutige Erklärung.72 Als Folge des Boykotts wurden die Soldaten der 1. und 3. Brigade der Legionen (die meisten Angehörigen der 2. Brigade leisteten den Eid) in verschiedenen Lagern auf dem Gebiet des Königreichs interniert, Piłsudski selbst kam in Magdeburg in Festungshaft. Zuvor tauchten aber zahlreiche Legionäre auf dem Gebiet des Königreichs unter und entgingen so der Festnahme. Letztlich wurden etwa 3000 Personen interniert. Die Bedingungen in den Lagern in Szczypiorno (für einfache Soldaten) und Beniaminów (für Offiziere) waren schlecht, wenngleich weniger schlecht als die der anderen Gefangenen, die mit ihnen die Baracken teilten. Kazimierz Kierkowski erinnert sich an das Abendessen an Heiligabend 1917: fünf Pellkartoffeln und ein halber Hering.73 Die Polen profitierten von der Hilfe der Frauenliga, zudem blieben die meisten von ihnen in der Nähe ihrer Familien. Das führte dazu, dass trotz vermehrter Diebstähle durch die deutschen Wächter viele Internierte doppelte Rationen erhielten: eine aus der Lagerküche, die zweite aus Paketen. Dass es ihnen vergleichsweise gut ging, merkten sie insbesondere dann, wenn sie mit anderen Gefangenen in Kontakt kamen. Kierkowski fielen vor allem die Russen auf: Die russischen Gefangenen, junge Männer zwischen 20 und 25 Jahren, sahen wie Greise aus: fahler Teint, eingefallene Augen, die Haut im Gesicht hängt schlaff herunter … Ich habe sie gesehen. Die Ärmsten rissen alles Gras unter dem Draht heraus, in Wasser aufgebrüht und verzehrt! Während Frankreich und England sich an ihre Gefangenen erinnern, sterben die Moskalen vor Hunger wie die Fliegen; niemand kümmert sich um sie, niemand in der Welt weiß, wie der Hungertyphus sie dahinrafft.74 Ein weiterer internierter Legionär, Piotr Górecki, schildert eine ähnliche Szene mit anderen Personen: Als wir Szczypiorno verließen, wurden wir zufällig Zeugen, wie ausgemergelte rumänische Soldaten, die unseren Platz einnehmen sollten, sich auf den zertrampelten Rasen stürzten und mit den Händen das Gras ausrissen, um damit ihren Hunger zu stillen.75 67

I  Giganten und Pygmäen

Etwas anders erging es den österreichischen Untertanen unter den protestierenden Legionären. Ein Teil von ihnen beantragte die Verlegung zu anderen Einheiten, einige Dutzend wurden in Przemyśl inhaftiert, wo sie ihren Prozess erwarteten. Ihre Verteidigung übernahm Herman Lieberman, ein bekannter sozialistischer Politiker. Er machte seine Arbeit so gut, dass alle freigesprochen wurden. Den Rest des Ersten Weltkriegs verbrachten sie in österreichisch-ungarischen Einheiten an der italienischen Front, wo sie von der Teilnahme an größeren Operationen verschont blieben. Die Krise flaute allmählich ab, als die polnische Politik sich änderte. Nach Brest-Litowsk begannen auf einen informellen Befehl von Edward Rydz-Śmigły ehemalige Legionäre der polnischen Wehrmacht beizutreten. Als sich im November 1918 die Niederlage der Mittelmächte immer deutlicher abzeichnete, erlebte die Formation einen massenhaften Zustrom von Freiwilligen, vor allem von internierten Legionären. Die symbolische Bedeutung der Eidkrise erwies sich als weitaus wichtiger als ihre messbaren Folgen. Zwar verloren manche Beobachter – wie etwa Moszczeńska – dauerhaft das Vertrauen in Piłsudski, doch insgesamt wuchs seine Popularität. Das neue Gemeinschaftserlebnis stärkte den Zusammenhalt der Legionen und den Glauben an die Unfehlbarkeit ihres Führers. Die Krise war ein wichtiger Abschnitt auf dem Weg vom Legionär zum Piłsudski-Anhänger. Konkrete Resultate erbrachte unterdessen der Dienst der Legionäre, die den Eid ablegten. Obwohl die Soldaten über den sinnlosen Drill und den Mangel an praktischen Übungen klagten, nahmen Offiziere wie Marian Januszajtis und Franciszek Kleeberg an deutschen Spezialisierungskursen teil. Die ehemaligen Legionäre aus dem habsburgischen Galizien wiederum durchliefen als Offiziere und Soldaten des Polnischen Hilfskorps innerhalb der k. u. k. Armee die Ausbildung der Sturmtruppen. Die dort erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten sollten sie bald ganz anders einsetzen, als ihre Ausbilder es wünschten.

Die Kerenski-Offensive endete mit einer Niederlage, deren Konsequenzen weit über das militärische Scheitern hinausreichten. Die pazifistische Revolution war zu tiefgreifend, als dass die russische Armee noch zu größeren Offensivaktionen imstande gewesen wäre. Bald sollte sich zeigen, dass es um ihre Verteidigungsbereitschaft nicht besser bestellt war. Anfang September eroberten die Deutschen in einer Blitzoperation Riga, eine wichtige Industrie- und Hafenstadt, die 1914 fast eine halbe Million Einwohner zählte. Darüber hinaus war die Stadt das 68

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

Zusammenführung deutscher Truppen vor der Besetzung Rigas.

letzte ernsthafte Hindernis auf dem Weg nach Petrograd. Statt dort anzugreifen, wo man es erwartete, überquerten die Deutschen die Düna ein gutes Stück oberhalb der Stadt und attackierten die russischen Stellungen von Osten, womit sie auch die meisten Fluchtwege abschnitten. Trotz verzweifeltem Widerstand konnten die lettischen und russischen Verteidiger den Angriff nicht zurückschlagen. Schon am 6. September nahm Wilhelm II. persönlich die Siegesparade ab. Ein gerührter deutscher Bürger erinnert sich: Die alte, urdeutsche Hansastadt wurde wieder deutsch. Der Tag, an dem Kaiser Wilhelm II. in das befreite Riga einzog und die Kaiserparade auf der Esplanade abhielt (6. September 1917), ist allen Bewohnern Rigas und denen, die das erleben durften, unvergeßlich geblieben.76 In den darauffolgenden Wochen führten die Deutschen noch einige lokale Operationen in diesem Abschnitt der Front durch. Danach endeten die Kriegshandlungen. Die Bitten und Petitionen der Baltendeutschen, die die „Befreiung“ der übrigen Teile Lettlands und Estlands verlangten, blieben ungehört. Die Vorbereitungen auf eine neue Offensive im Westen hatten Vorrang. 69

I  Giganten und Pygmäen

Zerstörte Brücke über die Düna.

Unterdessen spielten sich in den unter russischer Herrschaft verbliebenen Teilen Lettlands interessante Dinge ab. Unmittelbar nach der Einnahme Rigas durch die Deutschen herrschte Chaos im Land, Flüchtlinge verstopften die Straßen und die zurückweichenden russischen Soldaten plünderten entweder die Bauern oder verübten gemeinsam mit ihnen Akte der „Klassenrache“ an deutschen Grundbesitzern. Die Situation konnte beruhigt werden, als das von den lettischen Bolschewiki kontrollierte Ausführende Komitee der Arbeiter-, Soldaten- und Landlosen-Räte in Lettland (Iskolat) die Macht übernahm. Von der Politik des ersten faktisch unabhängigen lettischen Staates in der Land- und Arbeiterfrage wird an anderer Stelle noch die Rede sein. Hier sei auf die Streitkräfte des Komitees hingewiesen: die lettischen Schützen. Die kampferprobten Soldaten wurden später bekanntlich zur Elite der Roten Armee. Weil die Bolschewiki ihre Macht in Lettland früher als in Russland festigen konnten, leistete das Komitee den Petrograder Genossen im Herbst 1917 militärischen Beistand. Die Legenden um die lettischen Schützen verschleierten die Tatsache, dass die Formation ein Musterbeispiel der Demokratisierung der Armee darstellte. Wie in den russischen Einheiten entschieden die Soldaten in einer Abstimmung über die Teilnahme an einer Schlacht sowie über die Fortsetzung bereits begonnener 70

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

Operationen. Wie das System in der Praxis funktionierte, zeigt eine Episode aus den Kämpfen zwischen den Bolschewiki und dem I. Polnischen Korps von General Józef Dowbor-Muśnicki Anfang 1918 in der Nähe von Bobruisk. Den zur Unterstützung der Roten Armee eingetroffenen Letten gelang es, durch geschickte Manöver die überlegenen Polen, die den Eisenbahnknoten Rohaczew verteidigten, einzukreisen. Während eines nächtlichen Angriffs mit Beschuss von mehreren Seiten brach die polnische Verteidigung zusammen. Die Schützen machten zahlreiche polnische Gefangene. Am nächsten Tag beriefen die Regimentskommissare eine Versammlung ein, um über das weitere Vorgehen zu entscheiden. Die Letten betrachteten ihre Aufgabe mit der Befreiung des Eisenbahnknotens als abgeschlossen. Weitere Kämpfe gegen die Polen hielten sie für unnötig und unerwünscht, denn „die Polen müssen sich, ebenso wie die Letten, organisieren, um für ihre Freiheit zu kämpfen“.77 Bald sollte sich das Schicksal von Polen und Letten erneut verflechten. Während die Kämpfe um Bobruisk noch andauerten, liefen in Brest-Litowsk bereits diplomatische Gespräche zwischen den Mittelmächten und Sowjetrussland. Als die eigenwillige Verhandlungsstrategie der bolschewistischen Delegation zum Abbruch der Gespräche führte, rückten die Deutschen vor. Erstes Opfer der erneuerten Offensive wurde das lettische Iskolat. Angesichts der erdrückenden Übermacht des Feindes entschieden sich die Schützen zum Rückzug nach Russland. Ein Teil von ihnen blieb vor Ort, versteckte sich in den Häusern oder ergab sich den Deutschen. Der Rückzug der anderen wurde zu einer wahren Anabasis, einem Erlebnis, das viele lettische Kommunisten prägte. Ein Teilnehmer erinnert sich: Als die Offensive der deutschen Besatzer begann, zog sich das 7. Regiment nach dem Fall von Cēsis nach Valka zurück. In Valka forderten manche Schützen Dokumente, die sie vom Dienst befreiten, und machten sich, nachdem sie sie erhalten hatten, auf den Weg nach Hause. Die übrigen waren gegen eine Demobilisierung und beschlossen, sich aus der Einkreisung zu befreien und nach Russland zu gehen. […] Grisko, der Regimentskommandant, sammelte eine Gruppe Schützen um sich, eroberte einige Waggons und eine Lokomotive und brach nach Russland auf. Den Rest des Regiments überließ er seinem Schicksal. Es verschwanden auch fast alle Offiziere, im Haupt­ quartier blieben nur fünf oder sechs zurück. Mangulis führte das Regiment. Er munterte die Schützen auf, indem er ihnen versicherte, er werde sie aus dem deutschen Angriff herausführen. Alle Einheiten waren bereits auf dem Rückzug, also musste das Regiment trotz schneidender Kälte von 25–28 Grad 71

I  Giganten und Pygmäen

unter null ohne Pause marschieren. Wir erreichten Pskow, doch in der Zwischenzeit hatten die Deutschen schon die Front durchbrochen und den Bahnhof besetzt. Um durchzuschlüpfen, musste das Regiment den Einbruch der Nacht abwarten. Als es dunkel wurde, wurden Patrouillen ausgesandt, die den Übergang über die Eisenbrücke sicherten und die umliegenden Straßen bewachten, damit das Regiment die Stadt durchqueren konnte. Noch in derselben Nacht legten wir weitere 13 Werst zurück, erst dann machten wir für ein paar Stunden Rast in einem Dorf. Bis dahin waren wir ohne Atempause einige Tage lang marschiert. Von den Bauern erfuhren wir, dass die Deutschen schon den nächsten Bahnhof besetzt hatten und einen Panzerzug besaßen […]. Wir mussten die Gleise vor Tagesanbruch überqueren […]. Nach einigen weiteren Tagen kam wir in Luga an, wo es sicher war. Im Nachbardorf machten wir halt, um uns zu erholen und neu zu organisieren, wozu wir mit dem Oberkommando Kontakt aufnahmen. Aus Leningrad kam der Befehl, wir sollten nach Nowgorod aufbrechen. […] Anfang März traf das Regiment in Nowgorod ein. Es war nicht mehr besonders stark – je 20 bis 30 Männer pro Kompanie.78 Während im Süden der Ostfront die Rumänen vom Verbündeten Russlands zum Besatzer einer seiner Provinzen wurde, vollzog sich im Norden ein ähnlich gravierender Wandel. Die lettischen Schützen, die noch im September Teil der Armee des neuen, demokratischen Russlands waren, spalteten sich auf: Ein Teil der Soldaten verließ die Formation, um wenig später die nationale Armee Lettlands zu verstärken, ein anderer Teil – darunter der Verfasser der oben zitierten Erinnerungen – entschied sich dazu, für den Sieg der Revolution und das kommunistische Paradies in Russland, Lettland und dem Rest der Welt zu kämpfen, während eine dritte Gruppe kriegsmüde war und die Waffen endgültig niederlegen wollte. Wenngleich dieser letzte Wunsch am wenigsten ehrgeizig wirkt, so war doch gerade er am schwersten zu erfüllen. Fassen wir zusammen: Nach der Kerenski-Offensive beschleunigte sich die Ethnisierung. Unter ihrem Einfluss löste sich die russische Armee praktisch auf; sie war allenfalls noch ein Konglomerat mehr oder weniger starker Einheiten von nationalem oder parteiischem – meist, aber nicht immer, kommunistischem – Charakter. Schon bald sollte dasselbe in anderen Armeen geschehen, wodurch ein großer Teil Ostmitteleuropas zum Schauplatz chaotischer Kämpfe aller gegen alle wurde. Anfang 1918 näherte sich der Krieg der Imperien seinem Ende. Eines von ihnen hörte auf zu existieren, die übrigen richteten ihre Aufmerksamkeit auf andere Fronten, die Deutschen in Frankreich und Belgien, Österreich-­ 72

Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armee

Gefallene Soldaten in Lettland.

Ungarn in Italien. Aus Sicht der deutschen Stabsoffiziere und selbst ihrer pessimistischeren österreichischen Kameraden hätte die Situation im Osten kaum besser sein können. Der Feind war besiegt, die ihn verzehrende „rote Seuche“ war noch nicht auf eigene Armeen übergesprungen. In Brest-Litowsk brachte ­eine harte Verhandlungsführung den ersehnten Frieden mit dem bolschewistischen Russland, vor allem aber ein Abkommen mit der Ukraine und die Zusage von – dringend benötigten – Nahrungsmittellieferungen. In genau diesem Moment zeigte sich, dass der ethnisch motivierte Zerfall nicht nur die russische Armee betraf. Die Kunde von den Bedingungen des ­Friedens mit der Ukraine, die das auch von den Polen beanspruchte Cholmer Land erhalten sollte, rief unter den in der Bukowina stationierten Soldaten der 2. Brigade der ­Legionen wütende Empörung hervor. Der Seelsorger der Einheit erinnert sich: Der Aschermittwoch brachte uns eine schreckliche Nachricht, die uns traf wie ein Blitz aus einem dicht bewölkten Himmel. Das verräterisch lächelnde Österreich und das brutale Preußen hatten für ukrainisches Getreide den 73

I  Giganten und Pygmäen

Hajdamaken [d. h. den Ukrainern] unser heldenhaftes Podlachien verkauft und die Wunde am Leib des Königreichs Polen drohte allein durch ihr Vorhandensein an, dass eine weitere Aufteilung der polnischen Gebiete erfolgen könnte, durch die Ostgalizien und Lemberg sich jenseits der polnischen Grenzen befänden. Ha, sei’s drum! Wenn es wirklich so ist, dann ist es die nackte Tatsache eines von den verbündeten Mächten an uns begangenen gemeinen Verrats, der Niedertracht und Gewalt, doch diese Tatsache wird der letzte Verrat sein, den man an uns begeht.79 Während einer Beratung beschlossen die Offiziere der Brigade, aus Protest gegen die Vereinbarungen von Brest-Litowsk auf die russische Seite der Front überzulaufen und sich dann mit dem in Weißrussland stationierten polnischen Korps (das kurz zuvor gegen die lettischen Schützen gekämpft hatte) zusammenzuschließen. Die Legionäre plünderten die Armeelager in Kolomea. Der Übertritt erfolgte im Schutz der Nacht vom 15. auf den 16. Februar 1918. Die vorsichtig marschierenden Polen trafen zunächst auf eine Autopatrouille, die sie gefangen nahmen. Kurz darauf traten ihnen Soldaten des 53. Infanterieregiments ­entgegen, die von einem Panzerzug unterstützt wurden. Es entspann sich ein Kampf, in dem beide Seiten deutliche Verluste erlitten. Ein Teilnehmer, Marian Kantor-­ Mirski, schildert das Scharmützel in für die Legionäre typischem Stil: Jemand schrie einmal und noch einmal: – Halt! Als Antwort feuerte Boruta-Spiechowicz seinen Browning ab und der österreichische Offizier fiel tot zu Boden. Orlik-Łukowski eilte ihm zu Hilfe, er schoss dem zweiten österreichischen Offizier mitten ins Maul, den dritten erledigte Unterleutnant Mierzejewski. […] Als Antwort bellten beiderseits der Straße die österreichischen MGs los, wie auf eine Trommel hämmerten sie auf die dichten Reihen ein. Es gab viele Tote. […] Dann ratterten unsere Ge­ wehre und MGs los, und zwar so verbissen, dass sie zwei Bataillone des 53. öster­reichischen Regiments zerschlugen. Dem dritten, von Rarancze her anrückenden Bataillon erging es noch schlechter – es wurde von den MGs des III. Bataillons des 2. Infanterieregiments niedergemäht. Letztlich gelang es rund 1600 Legionären, sich durch die Stacheldrahtverhaue in die verlassenen russischen Schützengräben durchzuschlagen. Der verbissene 74

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Kampf dauerte mehrere Stunden. Führt man sich die Ursache vor Augen – die Verbitterung über die Entscheidungen Wiens –, so erkennt man unschwer die Tragik der Ereignisse. Gegner der Legionäre bei Rarancze waren nämlich weder die Wiener Entscheidungsträger noch die Deutsch-Öster­rei­cher, sondern Kroaten, für die der Anlass dieses Konflikts völlig unverständlich war. Diese Tatsache wird in vielen Berichten über die Kämpfe bei Rarancze übergangen. Kantor-­ Mirski hingegen schildert eine Episode, die möglicherweise auf Fakten beruht, in den Details aber wenig wahrscheinlich wirkt. Vielleicht fiel die endgültige Aufkündigung der Loyalität gegenüber der k. u. k. Armee nicht allen Legionären so leicht, wie sie behaupteten … In einem bestimmten Moment, als die Österreicher [sic] die Chaussee mit Kugeln überfluteten, warfen wir uns in die Straßengräben, in denen viele verwundete Kroaten [sic] lagen. Die Kugeln pfiffen auch durch die Gräben. Ich warf mich zu Boden und verbarg den Kopf hinter einer Leiche. Da bewegte sich diese Leiche, ich sah, wie er die Augen aufriss und sagte: – Nem muska … keine Moskalen! Obwohl es nicht der rechte Ort für Konversation war, forschte ich den Ver­ wundeten auf Deutsch aus und erfuhr, dass die österreichischen Offiziere ihren Kroaten gesagt hatten, sie zögen ins Feld, um größere Einheiten russischer Gefangener aufzuhalten und festzunehmen, die den Kordon durchstoßen wollten. Mit letzter Kraft sagte der schwerverwundete arme Kerl: – Hätten wir gewusst, dass es Legionäre sind, hätten wir nicht geschossen. Das waren seine letzten Worte. Kurz darauf starb er.80 Die Einheit der multiethnischen Armeen war bereits viele Monate zuvor verloren gegangen.

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Kapitel 2 Kriege (1917–1923) Finnland Im ersten Band war schon von der besonderen Situation des Großfürstentums Finnland die Rede. Bis einschließlich 1916 ging es ihm wirtschaftlich besser als jedem anderen am Krieg beteiligten Land. Als autonomer Teil und im Grunde Sonderwirtschaftszone des russischen Imperiums profitierte es sogar vom Konflikt in der Nachbarschaft. Der Krieg machte sich natürlich bemerkbar, doch nicht allzu schmerzlich. Eine leichte Lebensmittelknappheit, Arbeitslosigkeit (jedoch in einem ganz anderen Ausmaß als in Warschau oder Riga) und Streiks wurden erst mit dem Zerfall des russischen Staates im Sommer 1917 spürbar. Erst in dieser Zeit tauchten auch die für das ganze Imperium typischen Probleme auf, darunter galoppierende Lebensmittelpreise infolge eines Wettbietens konkurrierender zentraler und lokaler Behörden. Die Lage war freilich längst noch nicht katastrophal. Finnland verfügte über Arbeitskräfte: Die Wehrpflicht war 1901 abgeschafft worden, die Bauern blieben also auf dem Land. Von den drei Millionen Einwohnern kamen einige Dutzend Berufsoffiziere und -unter­ offiziere an die Front, darüber hinaus meldeten sich ca. 700 Freiwillige zur russischen Armee. Nicht nur in dieser Hinsicht folgte das Großfürstentum eigenen Gesetzen. Als einziger Teil des russischen Imperiums hatte es eine Verfassung. Es verfügte über ein Parlament (Eduskunta), das seit 1907 in allgemeinen und gleichen Wahlen gewählt wurde; auch Frauen durften wählen, was für Europa eine Sensation war. Auch wenn der Vertreter des Zaren in Helsinki – der Generalgouverneur – oft mit Abgeordneten und Senat (der Regierung) in Konflikt geriet, seit 1914 das Kriegsrecht galt und seit Kriegsbeginn über 100 000 russische Soldaten im Land stationiert waren, befand sich Finnland in einer vergleichsweise komfortablen Position. Ab 1917, als die Lähmung von Armee und Polizei voranschritt, übernah76

Kriege (1917–1923)

men die mit der mächtigen Sozialdemokratie (die in der Eduskunta 103 von 200 Sitze hatte und im Senat Teil einer großen Koalition war) assoziierten Roten Garden sowie auf dem Land die sogenannte Selbstverteidigung die Sicherung der Ordnung. Am 20. März bestätigte und erweiterte die Petrograder Provisorische Regierung die Autonomie des Großfürstentums. Kaum jemand nahm wahr, dass diese Regierung im September 1917 im Rahmen ihres Kampfs gegen die Reaktion im Offizierskorps den kompetenten Kommandeur General Carl Gustaf Mannerheim aus der Armee entlassen hatte. Der schwedischsprachige Bürger des Großfürstentums kehrte frustriert und zutiefst angewidert von den beiden russischen Revolutionen in die Heimat zurück. Im Januar wurde er – in einem de facto unabhängigen Staat – Oberbefehlshaber der finnischen Armee. Wie in den meisten Ländern Ostmitteleuropas hegte bei Kriegsausbruch nur eine kleine Minderheit der politischen Klasse Hoffnungen auf die Unabhängigkeit. Am sichtbarsten waren die sogenannten Aktivisten im schwedischen Exil. Sie organisierten den illegalen Transfer junger Finnen über Schweden nach Deutschland. In Berlin wurde das Angebot der Einrichtung einer Art Eliteeinheit finnischer Partisanen (letztlich erhielt sie den Namen 27. Königlich-Preußisches Jäger-Bataillon) auch deshalb gern angenommen, weil man seit Kriegsbeginn erwog, Landungstruppen in Finnland abzusetzen, von wo man Petrograd unmittelbar bedrohen konnte. Die soziale Zusammensetzung der ersten Gruppe von Rekruten im Frühjahr 1915 erinnerte nicht zufällig an die Anfänge der Polnischen Legionen: Von 189 Freiwilligen waren 145 Studenten. Später kamen weitere Freiwillige hinzu – insgesamt durchliefen fast 1900 Männer die Einheit –, doch die Motivation sank. Die finnischen Patrioten hatten den Verdacht, dass Deutschland insgeheim die Errichtung eines freien Finnlands ablehnte. Sie drängten sich keineswegs danach, ihren Gastgebern die Treue zu schwören (was wieder lebhaft an die Situation in den polnischen Legionen erinnerte), auch missfiel ihnen der Name der Einheit. Am 1. Mai 1916 verweigerte ein gutes Dutzend Soldaten den Befehl zum Abmarsch an die Front. Die Deutschen entfernten weitere 30 aus dem Bataillon, dennoch ähnelte die Geschichte der Einheit zunehmend einer Episode aus Hašeks Švejk: Die gut ausgebildeten und bewaffneten Finnen an der lettischen Front klagten, obwohl sie allenfalls einzelne Soldaten verloren. Im September verweigerten sie die Teilnahme an einer Offensive. Die Deutschen entfernten aus dem zu diesem Zeitpunkt mehr als 1400 Mann zählenden Bataillon 82 Sol­ daten, später noch einmal 80. Bis zum Ende ihres Aufenthalts an der Front ver­ 77

I  Giganten und Pygmäen

loren die Finnen im Kampf zwölf Soldaten. Dreimal so viele kamen bei Unfällen hinter der Front ums Leben, ebenfalls dreimal so viele wurden vermisst. Auch im Hinterland zeichneten sich die Finnen nach der Ablösung nicht durch Disziplin aus. Im Sommer 1917 entstanden in der Einheit zwei Komitees, ein sozialistisches und ein rechtes; die Deutschen hatten von den Freiwilligen keinen Nutzen und entschlossen sich, ihnen die Rückkehr nach Finnland zu erlauben. Senatspräsident Pehr Evind Svinhufvud wollte das Bataillon nicht ins Land holen, um die Sozialdemokraten nicht zu provozieren. Letztlich kehrte es 1918 zurück. Der Oberbefehlshaber General Carl Gustaf Mannerheim löste das Bataillon auf und verteilte seine einzigen Elitesoldaten auf die Einheiten der entstehenden finnischen Armee; 700 waren damals bereits Unteroffiziere, 400 von ihnen schafften es in den Offiziersrang.1 Doch zurück zur infolge der ersten russischen Revolution zunehmend angespannten Situation in Finnland. Im Juli stimmten angesichts der Schwäche der Provisorischen Regierung mehr als 80 Prozent der Eduskunta für das sogenannte Staatsgesetz, das den Einfluss Petrograds in finnischen Angelegenheiten auf die Außenpolitik und das Militär begrenzte. Kerenski konnte dem nur noch leere Drohungen entgegensetzen. Die Unabhängigkeit war nicht länger ein Traum, doch nicht diese – eigentlich revolutionäre – Veränderung sollte bald das Land erschüttern. Es verschärfte sich der Konflikt zwischen den Sozialdemokraten, die sofortige Sozialreformen und den Abbruch der Gespräche mit der Provisorischen Regierung forderten, und den übrigen Parteien. Erstere wollten eine Revolution, Letztere plädierten für einen evolutionären Wandel und warnten vor Experimenten. In den Wahlen vom 1. und 2. Oktober errangen die Sozialisten 92 Mandate, obwohl sie weit mehr Stimmen erhielten als in den vorigen Wahlen. Grund war die hohe Wahlbeteiligung von 70 Prozent (statt zuvor 55 Prozent), die den übrigen Parteien noch stärkere Stimmenzuwächse bescherte. In der Presse und im Parlament sowie bald auch auf der Straße wurden die gegenseitigen Anschul­di­ gungen immer grundsätzlicher und provokanter. Die Novemberrevolution trug ihren Teil dazu bei; die Bolschewiki hatten nichts gegen die finnische Unabhängigkeit (sie waren überzeugt, der sozialistische Nachbar werde früher oder später freiwillig wieder ins Bündnis mit dem neuen, fortschrittlichen Russland eintreten), die finnischen Parteien der Rechten und der Mitte sahen in den Sozialisten eine lokale, gefährliche Variante des Bolschewismus. Beide Seiten sprachen ­davon, dass der Gegner Schwarze Listen vorbereite. Und dass er – mithilfe der Roten Garden oder der Selbstverteidigung – alle Macht an sich reißen wolle. Aus politischen Kontrahenten wurden Todfeinde. Der sozialistische Abgeordnete Ot78

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to Wille Kuusinen sagte am 10. November, das Volk werde verhindern, dass die Bourgeoisie ein autoritäres System errichte: Uns, die sozialdemokratischen Abgeordneten, kann man leicht von der Macht entfernen und ebenso die Mitglieder anderer Organe. Das ist ganz einfach. Dazu braucht man noch nicht einmal Gewalt. Vielleicht treten wir aus freien Stücken zurück, vielleicht zwingt das Proletariat uns dazu, vielleicht ihr. Ihr habt schließlich die Kraft, obwohl sie hier gar nicht nötig ist, es genügt, dass sich die Situation hier sehr zuspitzt […]. Die Schwarzen Listen sind sicher schon fertig, auch wenn ich nicht sagen will, dass die Abgeordneten sie in ihren Taschen tragen. Jemand von euch könnte sagen: Wir haben die Waffen; ihr fürchtet euch nicht. Gewiss habt ihr Waffen. Gewiss habt ihr genug, um Blut zu vergießen, aber nicht genug, um die Macht im Land zu behalten.2 Entgegen Kuusinens Unterstellung war die erste Machtprobe aber kein Putsch der Rechten, sondern der am 14. November von den Sozialdemokraten initiierte Streik. Er dauerte vier, mancherorts sechs Tage. In Helsinki verhafteten die Roten Garden 200 Personen, im gesamten Großfürstentum starben während und in unmittelbarer Folge des Streiks 27 Menschen. Die Fälle von gewalttätigen Übergriffen und Raub waren naturgemäß weitaus zahlreicher. Kuusinen antwortete nun ein Abgeordneter der sich abzeichnenden antisozialistischen Koalition, der während des Streiks inhaftierte Paavo Virkkunen: Mir ist nicht ganz klar, welchen Nutzen sich die Anstifter des Terrors erhoffen und welche Ziele sie auf dem Weg der Revolte zu erreichen hoffen. Doch in Hinsicht auf seine Folgen können wir uns alle, Linke wie Rechte, gewiss sein: Dieser Terror hat unser Land in die völlige Anarchie gestürzt. Jede Regierung wird es schwer haben, die durch ihn angerichteten Schäden zu reparieren. […] Ich habe den Verdacht und kann wohl auch beweisen, dass der rote Senat hinter dieser Massenbewegung steht, die Hunderte unschuldiger Menschen ins Gefängnis steckte, die Kranke mit vorgehaltenem Revolver zwang, sich ins Gefängnis zu begeben, die in zahlreichen Fällen durch Einbruch und andere Gewaltakte den Hausfrieden brach, die Beamte mit Gewehren und Bajonetten bedrohten und sie an der Ausführung ihrer Arbeit für das Gemeinwohl hinderten.3 Der Streik und die ihn begleitende Gewalt seitens der Roten trugen entscheidend zur weiteren Polarisierung der innenpolitischen Lage bei, obwohl Finnland die günstige außenpolitische Lage infolge der Novemberrevolution zur Wiederer79

I  Giganten und Pygmäen

langung der Unabhängigkeit nutzte. Während des Streiks übernahm die Eduskunta die letzten Petrograder Befugnisse. Der neue Senatspräsident Svinhufvud begründete die faktische Sezession so: Russland hat das Recht verloren, Finnland als Teil seines Imperiums zu behandeln. Die Zarenregierung verletzte die Finnland garantierten Rechte und versuchte, dass finnische Rechtssystem zu zerstören; die prorevolutionäre Regierung indes erwies sich als unfähig, dauerhaft die Macht zu halten, die zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung notwendig ist.4 Die noch immer mehrere Zehntausend Mann starken russischen Truppen im Großfürstentum reagierten nicht auf die Abspaltung. Im November 1917 hatten sie andere Sorgen. Die Soldaten verkauften Waffen an beide Seiten des innerfinnischen Konflikts. Sie selbst beabsichtigten nicht, sich einzumischen, vielmehr wollten sie möglichst bald in die Heimat zurückkehren. Entgegen den Befürchtungen der antisozialistischen Koalition schloss sich die Mehrheit nicht den Roten Garden an. Anfang 1918 kam es immer häufiger zu Auseinandersetzungen zwischen den beiden Kampftrupps. Am 19. Januar brachen in Karelien Unruhen aus. Am 19. Januar beschlossen die Sozialisten die Revolution, am 24. Januar begannen sie die Roten Garten zu mobilisieren. Am 25. Januar erkannte der Senat die Selbstverteidigung als reguläre Streitkräfte Finnlands an. Der Bürgerkrieg begann am 27. Januar in Helsinki. Seine militärische Geschichte ist schnell erzählt: Die Weißen kontrollierten die Mitte und den Norden des Landes, die Roten den Süden, das heißt unter anderem Helsinki, ­Tampere und Wyborg. Im Februar und März kam es zu Gefechten, in Deutschland aus­gebildete Offiziere und Unteroffiziere lehrten die weißen Rekruten das Kriegs­handwerk. Im April starteten die Weißen, unterstützt durch eine deutsche ­Freiwilligendivision (Ostsee-Division) unter General Rüdiger von der Goltz, ­eine Offensive und eroberten binnen zwei Wochen große Teile des ­Südens ­einschließlich der Hauptstadt zurück. Anfang Mai erlosch der Krieg, es gab ­iemanden mehr, mit dem die Weißen einen Friedensvertrag hätten schließen können. Der finnische Bürgerkrieg nahm von Beginn an eine derart drastische Form an, dass die Historiker ihn bis heute nicht eindeutig zu interpretieren vermögen.5 Bürgerkriege sind oft brutaler als Kriege zwischen Staaten. Meist sind dafür lange Feindschaften, die Erinnerung an einen Bürgerkrieg in der Vor- oder Vorvorgeneration, lange Unterdrückung, die Erfahrung eines anderen Krieges oder radikalisierende äußere Einflüsse verantwortlich. In Finnland war keiner dieser 80

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Deutsche Freiwillige kämpfen mit dem Morast auf den finnischen Straßen.

Faktoren gegeben – ausgenommen die aus militärischer Sicht keineswegs entscheidende Beteiligung weißer Deutscher (11 000–12 000 Soldaten der Ostsee-­ Division, die nur einen Monat lang mitkämpften) und 2000–4000 roter Russen. Trotzdem machen von Beginn an Weiße wie Rote nur ungern Gefangene. In dem etwas länger als drei Monaten andauernden Konflikt, an dem nicht mehr als 200 000 Kämper teilnahmen, starben über 36 000 Finnen – rund 30 Prozent auf dem Schlachtfeld, weitere 30 Prozent bei Exekutionen und Massenmorden; die meisten Opfer verloren ihr Leben in sogenannten Internierungslagern, theoretisch also als Kriegsgefangene. In einem Gefecht drei Wochen nach Kriegsausbruch starben auf beiden Seiten 20 Beteiligte. Die siegreichen Weißen erschossen an Ort und Stelle 170– 180 Rote, das heißt in etwa jeden siebten Gefangenen. In der blutigen Schlacht um Tampere Anfang April machte keine Seite Gefangene. Letztlich ergaben sich 10 000 Rote; schätzungsweise jeder Dritte von ihnen wurde sofort erschossen. Darüber hinaus „säuberten“ die Weißen die Stadt von Russen – Bolschewiki und Zivilisten –, indem sie 500 Menschen töteten. Einen Monat später erschossen sie in einer Massenexekution in Wyborg 200 weitere.6 In der Stadt wurden Flugblätter verteilt, die zum erbarmungslosen Kampf gegen die Roten, gleich welchen Alters und welchen Geschlechts, aufriefen: 81

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Man muss sich die Frage stellen, warum der Krieg jene Frauen am Leben lässt, die bekanntlich das grausamste Element des Bürgerkriegs sind. Sollten sie nur deshalb verschont werden, weil sie Frauen sind? Ist es nicht stereotyp und kurzsichtig, jene nicht zu bestrafen, die schon durch das Gebären von Kindern den Feind stärken?7 An keinem der beiden Massaker war die Ostsee-Division beteiligt, die am 13. April Helsinki für die Weißen eroberte. Der letzte Monat des Bürgerkriegs stand im Zeichen des permanenten Rückzugs und des ersterbenden Widerstands der Roten, die in dieser Zeit rund 670 Personen ermordeten, darunter 30 Häftlinge in Wyborg. Die Weißen mordeten zur gleichen Zeit in den Internierungslagern: In einem äußerst berüchtigten exekutierten sie insgesamt 500 rote Gefangene.8 Nach Kriegsende verbot Mannerheim die Erschießungen – was nicht heißt, dass sie nicht heimlich fortgesetzt wurden; dennoch starben ab diesem Zeitpunkt die meisten Gefangenen an Krankheiten. Der finnische Bürgerkrieg war keine Ausnahmeerscheinung in der Region. Es gibt gewisse Parallelen zu den Unabhängigkeitskämpfen in Estland, Lettland und Litauen sowie auch in Ungarn 1919. In all diesen Ländern wurden aber ihr Charakter, Verlauf und Ergebnis sehr viel stärker durch Interventionen von ­außen beeinflusst. Der Polnisch-Sowjetische Krieg wiederum war – trotz der Beteiligung von Freiwilligenbataillonen und trotz der weitaus weniger bekannten lokalen Abrechnungen – ein Krieg zwischen Staaten. Die folgenden Abschnitte handeln von den baltischen Staaten, Ungarn und Polen. Wir wissen mehr oder weniger, was dort die Ursachen für Hass und Verbrechen waren. Für Finnland fehlt eine überzeugende Theorie, denn bis zum Herbst 1917 herrschte dort scheinbar Ruhe – im Gegensatz zu allen anderen Ländern. Die Ratlosigkeit angesichts der Brutalität des finnischen Bürgerkriegs bot den Nährboden für alle möglichen Erklärungsansätze bis hin zur rassischen Deutung. Schwedische und deutsche Rassisten identifizierten die Weißen mit den im Westen des Landes lebenden Schweden, die Roten hingegen mit den finnisch-slawischen Bewohnern. Erstere besaßen angeblich alle Vorzüge der nordischen Rasse, Letztere sollten den Kollektivismus und die Primitivität der mongolischen Rasse repräsentieren. Der Erkenntniswert dieser Theorie war niedriger als null: Sie erklärte nicht nur nichts, sondern führte auch falsche Daten ein, die das Verständnis der Fakten erschwerten. Ihr therapeutischer Wert indes liegt auf der Hand: Für alle, die im Ersten Weltkrieg aufseiten der Deutschen standen, war der Sieg der Weißen in Finnland ein nachträglicher Trost für die Demütigung des 82

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Siegesparade der Weißen in Helsinki.

Reichs in Versailles.9 Auf diese abstruse Weise legte sich der „Krieg der Pyg­ mäen“ auf die letzten Akkorde des titanischen Ringens der „Giganten“.

Estland In Reval, das bald zu Tallinn werden sollte, wurde der Ausbruch der Februarrevolution wie andernorts auch freudig begrüßt.10 Die estnische Postbeamtin Marta Sillaots erinnert sich an die Begeisterung: All die Umzüge, Demonstrationen und roten Banner, die Tallinn im Winter und Frühjahr 1917 sah! Diese improvisierten Meetings, die es an jeder Stra­ ßenecke gab! […] All die Dispute, die ständig organisiert wurden! […] Die Russen mit ihrem Redevirus steckten die Esten an, die Redebeiträge hatten kein Ende. Wenn […] ein Matrose und ein Soldat, oder ein Soldat und ein estnischer Arbeiter Meinungsverschiedenheiten hatten, dann stieg derjenige der Streitenden, der besser mit Worten umgehen konnte, auf eine Trep­pen­ stufe, hob sich auf einen Laternenposten oder sprang auf einen Lastwagen – und schon war das Meeting im Gange, die Zuhörer sammelten sich in Trauben um den Redner, man rief „richtig“ und „hurra!“, manchmal auch „nieder damit!“ und genoss die „Freiheit“ bis zur Besinnungslosigkeit. 83

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Die russischen Beamten, so Sillaots, die „byzantinische Bürokratie“, waren gegen den Sowjet, weil sie die Stimme des Pöbels hörten. Die Ablehnung der estnischen Beamten hatte tiefere Gründe, denn der „tiefrote“ Tallinner Sowjet vertrat in der nationalen Frage denselben Standpunkt wie der Gouverneur und in dieser Frage waren auch die russischen Beamten in Tallinn mit dem Sowjet einer Meinung, deren Gesinnung auch durch das an der Brust getragene rote Band nicht verändert wurde. Wenn es um das Estentum ging, arbeiteten die russischen Beamten mit dem Sowjet Hand in Hand. Erste verachteten die Esten, für Letztere waren sie Reaktionäre. […] das Wort ‚Estland‘ versetzte den Herzen beider einen Stich – keiner wollte etwas vom Recht der Esten hören, im eigenen Heim über die lebenswichtigen Fragen selbst zu entscheiden. Ich werde nie vergessen, mit welchen Blicken mich meine russischen Kolleginnen anschauten, als ich aus Anlass der ersten Sitzung des Maapäev [des estnischen Parlaments] am 1. Juli ein Bändchen in den estnischen Nationalfarben auf der Brust trug; man wagte aber kaum, etwas zu sagen und begnügte sich mit einem Schmunzeln; ‚all dies‘ war ja nach Sicht der Russen nur vorübergehend, diese ‚Unordnung‘ konnte nicht lange dauern – so gab man mir indirekt zu verstehen.11 Marta Sillaots‘ Eindrücke aus dem Jahr 1917 spiegeln die vorrevolutionäre Eupho­ rie und die wachsenden estnisch-russischen Spannungen. Die hungernde, von Flüchtlingen und Soldaten überlaufende Stadt erwartete den Anbruch neuer ­Zeiten. Die alten Herren hatten nicht mehr viel zu sagen, im Bürgermeisteramt gewann die Stimme der Esten an Gewicht, im Sowjet dominierten Russen und lettische Flüchtlinge. Aber nicht nur sie, es gab auch genug estnische Bolschewiki. Die Bolschewiki versprachen Frieden – und dieses Schlagwort wirkte sowohl auf die estnischen wie auch auf die lokalen russischen Arbeiter. Bei den freien Wahlen zur russischen Konstituante erreichten sie 40 Prozent der Stimmen, fast doppelt so viel wie im Landesdurchschnitt. Der soziale Konflikt und die Hoffnung auf ein besseres Morgen waren untrennbar mit der der nationalen Frage verbunden, nur stand für die eine Seite die soziale, für die andere die nationale Komponente im Vordergrund, wobei sich die Prioritäten je nach Situation auch verschieben konnten. An der Jahreswende 1917/18 brachen Versorgung und öffentliche Sicherheit endgültig zusammen. Es gab kein Brot mehr, die Überfälle auf Geschäfte häuften sich. Auf dem Land konfiszierten die Bolschewiki den Grundbesitz. Die Bauern waren prinzipiell dafür, doch statt das Land unter ihnen zu verteilen, wollten die 84

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Roten hier und jetzt den Sozialismus verwirklichen und gründeten Kolchosen. Sie erklärten die deutschen Grundbesitzer für rechtlos und verhafteten 500 Personen – darunter auch Esten – unter dem Vorwurf der Verschwörung mit dem deutschen Generalstab gegen die Sowjets. Die Auszählung der Wahl zur Konstituante brachen sie ab, als klar wurde, dass sie nicht gewinnen würden. Ganz andere neue Zeiten brachen mit der deutschen Offensive im Februar an. Die Bolschewiki flohen. Eine Handvoll estnischer Aktivisten – das sogenannte Rettungskomitee, das Konstantin Päts zum Ministerpräsidenten bestimmte – nutzte die Übergangszeit, um die Republik Estland auszurufen. Zwei Tage später marschierten die Deutschen in Tallinn ein. Von einer Republik ­Estland hatten sie nie gehört und sie wollten auch nichts hören. Ein estnisches Regiment, das der russischen Führung den Gehorsam aufgekündigt und sich – zum öffentlich bekundeten Gefallen Wilhelms II. – auf die deutsche Seite der Front durchgeschlagen hatte, wurde kurz nach dem warmen Empfang aufgelöst.12 Für die neuen Besatzer hieß die Stadt seit je „Reval“ und war Hauptstadt einer der Ostseeprovinzen, in denen seit dem 16. Jahrhundert deutsche Grundbesitzer und Bürger herrschten. Die Rückkehr zu diesem Zustand – der Dominanz von vier Prozent der Bevölkerung über den Rest – war erklärtes Ziel der Besatzungspolitik. Der Historiker Arved Baron von Taube, in Reval geborener Sohn eines deutschen Junkers, umriss 1959 in einem intelligenten Aufsatz die Perspektiven ­Estlands unter deutscher Besatzung: Ständestaat, Sozialismus oder demokratischer Nationalstaat.13 Ersteres meinte die Rückkehr zur vormodernen Ordnung mit ­der Hegemonie einer kleinen deutschen Elite über das sie umgebende Meer ethnisch, sprachlich und kulturell fremder Untertanen. Die zweite Option war der Sieg der Bolschewiki und der Beitritt zum neuen, sozialistischen Russland. Die dritte Variante bestand in der Anerkenntnis der Mehrheit der Esten. Während der Besatzung 1918 taten die Deutschen alles, um die ohnehin anachronistische erste Option endgültig zu diskreditieren. Sie schafften alles aus dem Land, was sich nur essen ließ. In den Schulen wurde Deutsch zur Pflichtsprache – zwanzig Jahre, nachdem die Russen den Esten mit einer ähnlichen Maßnahme das Russische aufgezwungen hatten. Auch Briefe durften nur noch auf Deutsch geschrieben werden, damit der Zensor sie lesen konnte. Die neuen Herrscher übernahmen alle wichtigeren Ämter, einen Teil übertrugen sie an estnische Deutschbalten. Sie schlossen Zeitungen und verhafteten nationale Politiker. Sie machten keinen Hehl aus ihrem Plan, einen neuen deutschen Fürsten in Reval zu installieren, der – mithilfe der lokalen Junker und der Bourgeoisie – den 85

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komplett vom Deutschen Reich abhängigen Puffer- und Marionettenstaat regieren sollte. Er sollte Baltisches Herzogtum heißen und am liebsten einen Hohenzoller als Herrscher bekommen. Die Esten sollten später sagen, diese nicht ganz neun Monate hätten sie mehr gegen die Deutschen aufgebracht als die vorangegangenen sieben Jahrhunderte deutscher Vorherrschaft. Die Tageszeitung Päevaleht schrieb 1919: „Was sie innerhalb von 700 Jahren veranstaltet haben, das können wir vergessen, aber das, was sie innerhalb von sieben Monaten getan haben, das zu vergessen ist unmöglich“14 Angesichts der feststehenden Niederlage an der Westfront ließen die Deutschen die internierten nationalen Politiker lieber frei. Fast in denselben Tagen, in denen sie Piłsudski aus der Festung in Magdeburg nach Warschau brachten, beförderten sie auch Päts von Grodno (Hrodna) nach Tallinn. Am 12. November wurde er Ministerpräsident der wiederbelebten Republik, die vorerst so gut wie nichts besaß. Den einzigen Schutz boten fremde Truppen: Die deutsche Besatzungsgarnison – deren Soldaten wirklich nicht wussten, wofür sie nach Kriegsende ihr Leben riskieren sollten – und die gerade von den Roten geschlagenen russischen Weißen. Die lokalen Einheiten der Selbstverteidigung und Trupps in der Art der polnischen „Falken“ hatten paramilitärischen Charakter und reichten hinsichtlich ihrer Kampffähigkeit bei Weitem nicht an ihre Pendants in den Balkanstaaten heran, die Auseinandersetzungen mit der Gendarmerie oder sogar der regulären Armee nicht fürchteten und in derlei Kämpfen keineswegs ohne Chance waren. Im Vergleich zu den Komitadschi erwiesen sich die estnischen Freiwilligen als blutige Amateure. Dennoch verfügte Estland mit seiner knappen Million Einwohner noch immer über ein beträchtliches Reservoir potenzieller Rekruten. Während des Ersten Weltkriegs waren rund 100 000 Männer in die zaristische Armee einge­ zogen worden. Zum Vergleich: Die Armee der Zweiten Polnischen Republik (35 Millionen Einwohner) zählte im Herbst 1939 eine Million Köpfe, nicht dreieinhalb Millionen. Die grundlegende Frage der Gründer der Estnischen Republik musste deshalb lauten: Wie wären die Landsleute dazu zu bewegen, noch einmal zu den Waffen zu greifen – diesmal für das entstehende Vaterland und die Demokratie? Die Rote Armee griff am 22. November an und eroberte nach einer Woche Narwa. Sofort entstand die Estnische Arbeiterkommune, das heißt die Keimzelle der bolschewistischen Republik. Bald erfüllte sich die zweite hypothetische Variante der Zukunft des Landes. Lenin, der überzeugt war, dass die Rote Armee als Befreierin begrüßt würde, verkündete am 7. Dezember die Anerkennung der Est86

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nischen Sowjetrepublik – „Kommune“ klang doch allzu absurd. Zugleich wunderten sich die russischen Arbeiter in Narwa, warum sie sich nicht mehr – wie früher – in Russland befanden. Der Widerstand gegen die auf die Hauptstadt vorrückenden Bolschewiki formierte sich nur langsam. Dem Aufruf zur allgemeinen Mobilmachung folgte nur die Hälfte der Betroffenen, Desertionen waren an der Tagesordnung. Die Bauern, so Päts bittere Feststellung, wollten nicht für die Stadtbewohner kämpfen. Schließlich entschied sich die Regierung dazu, die Vaterlandsliebe durch die Lösung der Agrarfrage zu befeuern: Am 20. Dezember versprach sie eine Bodenreform, also Land für die Bauern. Vielleicht war dies der letzte Sargnagel für die Version eines sozialistischen, das heißt bolschewistischen Estlands, auch wenn die Bauern nicht gleich massenhaft in die Armee drängten. Schließlich stand Weihnachten vor der Tür. Das wusste ein ehemaliger russischer Berufsoffizier, der 30-jährige Oberst Johan Laidoner, der zwei Tage vor der offiziellen Ankündigung der Bodenreform zum Oberbefehlshaber ernannt worden war. Er versuchte, das Gewissen der Landsleute auf andere Weise wachzurütteln: Wenn die Interessen der Städter bedroht seien, müssten die Städter sie an der Front verteidigen. Von außen sei keine Hilfe zu erwarten. Laidoner irrte sich. Die abgebauten deutschen Besatzungstruppen waren nicht mehr im Land, dafür aber die deutschen Einwohner. Die Regierung einigte sich mit ihnen auf die Gründung eines deutschbaltischen Regiments. Auch die russischen Weißen wollten gegen die Bolschewiki kämpfen. Es meldeten sich finnische Freiwillige. Ein Geschwader leichter britischer Kreuzer traf an der estnischen Küste ein. Es brachte eine ordentliche Lieferung neuer Waffen und eroberte zwei russische Zerstörer, die sie den Esten übergaben. Vor allem aber nahm es Objekte unter Beschuss, die für die Roten strategisch wichtig waren. Die Zerstörung einer Brücke über die Narwa erschwerte etwa die Versorgung der vordersten Einheiten der Roten Armee und verhinderte, dass Panzerzüge den Fluss überquerten. Von der Bedeutung dieser Züge wird an anderer Stelle noch die Rede sein. Ende Dezember rückten die Bolschewiki trotz enormer Schwierigkeiten bis auf 35 Kilometer an Tallinn heran. Der Gegenangriff der Esten – genau genommen waren es Weiße, Deutsche, Finnen und Esten – begann am 6. Januar. Sie verfügten über gepanzerte Züge, die Gegner nicht.15 Außerdem brachten Söldner und Freiwillige Erfahrungen und Gewohnheiten aus früheren Kämpfen gegen die Bolschewiki in den estnischen Unabhängigkeitskampf ein – allen voran die finnischen Veteranen des erst kurz zuvor zu Ende gegangenen Bürgerkriegs: 87

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Die Kriegspropaganda stellte den verhassten Feind – die Roten – als militärisch unfähig und verweichlicht dar, was schroff mit der großen Moral und heroischen Haltung der finnischen Freiwilligen kontrastierte. […] Manchmal ging ihre Strategie auf. Während des estnischen Feldzugs drang eine Kom­ panie des 1. Regiments finnischer Freiwilliger weit auf feindliches Territorium in die Vororte der strategisch wichtigen Stadt Narwa vor. Ohne zu zögern, stürmte die Kompanie die von bolschewistischen Truppen besetzte Stadt, besetzte den Marktplatz, was in den feindlichen Reihen Panik und Chaos hervorrief, und hätte fast den Oberkommandierenden Leo Trotzki gefangen genommen.16 Die finnischen Freiwilligen ließen sich nicht nur von der Begeisterung hinreißen. Während ihres Gastspiels an der südlichen Ostseeküste ließen sie auch der Grausamkeit freien Lauf, für die sie kurz zuvor bekannt geworden waren. Während der Kämpfe um Narwa gerieten 30 finnische Rotarmisten in ihre Hände. Sie erschossen sie bis auf den letzten Mann.17 Das war nicht der einzige Exzess der zackigen „Jungs aus dem Norden“ (Pohjan Pojat), wie sie sich selbst nannten. Kein Wunder also, dass die estnische Regierung sich ihrer schnellstmöglich entledigte. Dank, manchmal auch trotz solcher Hilfe gewannen die Esten. Die Republik erhielt ihren Gründungsmythos. Die Idee des Nationalstaats wurde von den Parteien der nicht- und antikommunistischen Linken, die bei den Aprilwahlen zur Konstituante insgesamt zwei Drittel der Stimmen erhielten, mit sozialem Inhalt gefüllt. Über die Bedeutung der Bodenreform für die Konsolidierung der neuen baltischen Staaten schreiben wir an anderer Stelle. Noch bevor die Verfassunggebende Versammlung zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammenkam, um im Eiltempo die Bodenreform zu beschließen, ereignete sich ein Vorfall, der sich am besten aus lettischer Perspektive schildern lässt.

Lettland Das südliche Nachbarland war Estland in vielerlei Hinsicht ähnlich. Auch dort gab es – aus Sicht der im 19. Jahrhundert entstehenden Nationalbewegungen – zwei Feinde: die lokalen deutschen Eliten (in Estland waren Anfang des 20. Jahrhunderts 74 Prozent des Bodens in deutschem Besitz, in Lettland 55 Prozent) und die Russen, von denen Esten und Letten sich durch Sprache, Religion und die fast völlige Eliminierung des Analphabetismus unterschieden. Beide Feinde hatten eines gemeinsam: Sie verachteten ihre Untertanen. Die Deutschen wollten nicht zur Kenntnis nehmen, dass ihre privilegierte Stellung in den Ostseeprovinzen ein 88

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Relikt der Vergangenheit war, ein Erbe ihrer Vorfahren, das in der Epoche der Demokratisierung keine Aussicht auf Fortbestand hatte. Auch die Russen verstanden die nationsbildenden Prozesse nicht. Ihnen wollte nicht in den Sinn, dass der Durchschnittseste oder -lette las, also mehr wusste, anders lebte, besser arbeitete als der Durchschnittsrusse und angesichts dessen auf die Idee kommen konnte, dass er das Imperium nicht brauchte. Zugleich unterschieden sich Esten und Letten in mindestens drei Aspekten. Der erste war struktureller Art. Riga war einer der wichtigsten ­Industriestandorte des Zarenreichs. 1913 war es dreimal so groß wie Reval (Tallinn), die Anzahl der lokalen Arbeiter war mehr als viermal so hoch. Entsprechend stärker waren dort schon vor dem Krieg linke Parteien verwurzelt. Den zweiten Unterschied bildete die unterschiedliche Kriegserfahrung. Vor Riga standen die Deutschen schon im Oktober 1915, sie besetzten einen großen Teil des Landes. Nach Tallinn kamen sie erst zweieinhalb Jahre später. Überdies gab es kein estnisches Pendant zu den lettischen Schützen, von denen im Kontext der Ethnisierung des Kriegs schon die Rede war. Im Januar 1917 erwarben diese sich neuen Ruhm, als sie in einer Offensive um Jelgava (Mitau) bei Temperatur von –30 °C zwei Verteidigungs­linien der Deutschen eroberten. Weil die benachbarten russischen Einheiten streikten und wie immer Versorgung und Koordination nicht funktionierten, hatten die Deutschen Zeit, um Reserven und Artillerie heranzuholen. Nach drei Wochen gingen sie zum Gegenangriff über und eroberten fast das gesamte verlorene Terrain zurück. Die lettischen Schützen verloren ein Drittel ihrer Männer. Ab diesem Zeitpunkt wollten sie vom zaristischen Russland nicht mehr viel wissen. Ein Teil von ihnen schloss sich später den Bolschewiki an, ein Teil kehrte – wie andere russische Soldaten – nach Hause zurück. Erstere spielten als rote lettische Schützen zunächst eine prominente Rolle während der Oktoberrevolution und retteten 1918 mehrfach die Herrschaft der Bolschewiki. Der Lette Jukums Vācietis wurde zum ersten Oberbefehlshaber der Roten Armee. Vorerst wenden wir uns aber wieder dem Herbst des Vorjahres zu. Im November fanden im unbesetzten Teil des künftigen Lettlands, das damals Livland hieß, Wahlen zur russischen Konstituante statt. Die lettischen Bolschewiki erhielten rekordverdächtige 72 Prozent der Stimmen; es schien, als gehöre ihnen die Zukunft. Über das von ihnen gegründete Iskolat schreiben wir an anderer Stelle. Im Februar 1918 zogen sie sich aus Livland zurück – gegen den deutschen „Eisenbahnfeldzug“ waren sie machtlos. Zur selben Zeit machten sich unabhängig voneinander zwei nichtbolschewistische Formationen mit dem 89

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Gedanken an einen lettischen Staat vertraut. Als wichtigste erwies sich nach der deutschen Kapitulation einige Monate später die Gruppe um Kārlis Ulmanis, einen Absolventen der – schon damals renommierten – Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, Praktiker des Genossenschaftswesens und – wie sein polnischer und estnischer Kollege – Charismatiker. Am 17. November wurde er zum Ministerpräsidenten ernannt. Ihm standen keine größeren Streitkräfte und kein besserer Verwaltungsapparat zur Verfügung als Päts in Estland. Der Staat existierte nur auf dem Papier. Am 4. Januar 1919 marschierten die Roten in Riga ein. Ulmanis ging denselben Weg wie Päts – er verbündete sich mit den Deutschen und nutzte die Unterstützung der teils aus Baltendeutschen, teils aus sogenannten Freiwilligen aus dem Reich zusammengesetzten Baltischen Landeswehr. Der Unterschied zum Baltenregiment in Estland war nur scheinbar gering: In Estland handelte es sich um einen Teil der Streitkräfte der entstehenden Republik, die Baltische Landwehr hingegen war von Anfang an ein extraterritoriales Gebilde. Den lettischen Staat erkannte sie gleichsam nur bedingt an. Ähnlich verhielt es sich mit einer zweiten deutschen Einheit, der sogenannten Eisernen Brigade (später Division), die sich zur – gleichfalls bedingten – Loyalität gegenüber dem deutschen Oberbefehlshaber bekannte; diese Position bekleidete nach Abschluss der finnischen Mission General von der Goltz. Im Januar befand sich fast ganz Lettland, nun Lettische Sowjetrepublik, unter roter Herrschaft. Letten und Deutsche sammelten sich zur Gegenoffensive. Im März eroberten sie Teilgebiete zurück, doch der wahre Charakter dieses merkwürdigen Krieges zeigte sich erst am 16. April in Liepāja (Libau), als Untereinheiten der Landwehr unter dem Kommando von Oberleutnant Hans Manteuffel-Szoege die Regierung Ulmanis stürzten. Der Ministerpräsident floh zum Hafen. Das Schiff, auf dem er Asyl im eigenen Land fand, wurde von britischen Einheiten geschützt. Neuer Ministerpräsident wurde der prodeutsche Pastor und Schriftsteller Andrievs Niedra. Er war natürlich eine Marionette und zugleich Symbol für die Lösung der baltischen Frage nach dem Modell des von Deutschen dominierten Ständestaats. In diesem Augenblick war es Lettland kaum möglich, exakt zwischen Freund und Feind zu unterscheiden. Der Krieg mit den Bolschewiki dauerte noch an. Ende Mai ereignete sich das „Wunder an der Düna“. Deutsche und estnische Truppen befreiten die Hauptstadt des verbündeten Staates. Problematisch war nur, dass die einen im Namen der Regierung Niedra handelten, die anderen hingegen im Sinn des mit der Regierung Ulmanis geschlossenen Abkommens.18 Lettlands 90

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nördlicher Nachbar verstand sehr wohl Botschaft und Symbolik des lokalen Durcheinanders. Als im Juni im Rahmen einer antibolschewistischen Operation die von Westen angreifenden deutschen Truppen mit den von Norden heranziehenden Esten Kontakt aufnahmen, stand die Souveränität der baltischen Staaten auf dem Spiel. Am 23. Juni machte die estnische Armee mit der Unterstützung lettischer Einheiten in der Schlacht von Wenden (estnisch Cēsis) die deutschen Vorstellungen von der Zukunft der Region endgültig zunichte. Für die Esten wurde der 23. Juni bald zum Tag des Sieges. Die Schlacht war kaum mit dem sogenannten Wunder von der Weichsel und noch weniger mit Tannenberg (Grundwald) zu vergleichen, doch in symbolischer Hinsicht schienen den Zeitgenossen beide Vergleiche absolut treffend. Zu den überaus merkwürdigen estnisch-lettischen Konstellationen gehört schließlich noch diese: Der zaristische Offizier Pawel Bermondt, ein Abenteurer, der sich in dieser Zeit Fürst Bermondt-Awaloff nannte, organisierte im Sommer 1919 die sogenannte Westrussische Befreiungsarmee. Sie soll an die 50 000 Soldaten gezählt haben, 80 Prozent davon Deutsche, der Rest – mehr oder weniger – weiße Russen. Angeblich wollte er das zaristische Imperium wiederbeleben. Stattdessen attackierte er im Oktober Riga (das die Deutschen im Mai von den Bolschewiki zurückerobert hatten), wo inzwischen die lettische Regierung ihren Sitz hatte. Die Letten schlugen im November mithilfe britischer Kriegsschiffe und estnischer Truppen den Angriff der Söldner zurück, die daraufhin ihre Aktivitäten nach Süden verlagerten. Wenig später verdrängten auch die Litauer Bermondts Armee von ihrem Territorium.

Litauen Litauen stand ab Sommer 1915 unter deutscher Besatzung. Die katastrophalen Auswirkungen von Krieg und Besatzung auf die Lebensumstände der Stadtbevölkerung haben wir im ersten Teil geschildert. Gleichwohl wollten die Deutschen die Litauer nicht aushungern; sie wollten ihnen einen Staat – genau genommen einen Satellitenstaat des Deutschen Reiches – schenken. Im September 1917 entstand der Litauische Staatsrat (Lietuvos Taryba) unter dem Vorsitz von Antanas Smetona. Wie Päts und Ulmanis war der mit der Tochter einer litaunisierten polnischen Grundbesitzerfamilie verheiratete Bauernsohn, Sozialaktivist und Verschwörer, Stilist und Übersetzer griechischer Klassiker eine herausragende Persönlichkeit. Nun musste er sich als Regierungschef eines weiteren Staates bewähren, der von deutschen Gnaden entstanden war und anfangs ohne alles dastand. 91

I  Giganten und Pygmäen

Die Situation war in einigen Punkten anders als in Lettland und Estland: ­ itauen hatte nur eine kleine Intelligenz, von einem Bürgertum ganz zu schweiL gen. Feinde waren nicht Russen und Deutsche, sondern Russen und Polen. Die ersehnte Hauptstadt Wilna war 1914 eine polnisch-jüdische Stadt. Während des Kriegs stieg der Anteil von Litauern infolge des Zustroms von Flüchtlingen aus der Umgebung, doch das Problem blieb bestehen. Großen Einfluss unter jüdischen Intellektuellen und Arbeitern hatte der Bund, der einem litauischen Staat eher skeptisch gegenüberstand. Estland und Lettland besaßen nach der spezifischen Parzellierung – ein Teil der russischen Gouvernements wurde Estland zugeschlagen, ein anderer Teil Lettland – fast eindeutige ethnische Grenzen (sofern davon in diesem Teil Europas überhaupt die Rede sein konnte). In Litauen erwies sich der Konflikt mit Polen um Wilna als unlösbar. Das Selbstbestimmungsrecht wirkte im historischen Zentrum des Landes gegen den entstehenden Nationalstaat. Zudem gab es in Litauen deutlich weniger Kriegsteilnehmer als in den nördlichen Nachbarländern. Seit 1915 war niemand zur Armee eingezogen worden. Die Parallelen zu Lettland und Estland lagen an anderer Stelle. 1917 und 1918 hatten die Deutschen hier ihre Politik der Schaffung von Vasallenstaaten unter der Herrschaft eines aus dem Deutschen Reich importierten Fürsten begonnen. Im Dezember 1917 erklärte der Staatsrat Litauen zum souveränen Staat und zugleich zum Verbündeten Deutschlands. Nach einigen Wirrungen und dem „Eisenbahnfeldzug“ (siehe S. 165 ff.) erkannte das Deutsche Reich im März gnädig das Selbstbestimmungsrecht der Litauer an. Auf Beschluss des Staatsrats sollte wieder ein (diesmal katholischer) deutscher Fürst inthronisiert werden und als Mendog II. das Land regieren. Der Staatsrat selbst beendete diese Farce allerdings, indem er noch vor dem 11. November 1918 seine Entscheidung annullierte. An der Jahreswende 1918/19 standen die Chancen für die Verwirklichung der Idee eines litauischen Staates eher schlecht. Man hatte die Wahl zwischen Pest und Cholera. Die Erklärung liefert ein Blick auf den Waffenstillstand von Compiègne. Die Westmächte wussten, dass nur die deutsche Armee im früheren Westen Russlands Europa von der bolschewistischen Revolution trennte. Das war der Hintergrund von Artikel 12 der Waffenstillstandsvereinbarung.19 Während alle deutschen Truppen aus Österreich-Ungarn, Rumänien und der Türkei unverzüglich hinter die deutschen Reichsgrenzen vom 1. August 1914 zurückgezogen werden sollten, galt für die Garnisonen in den vormals russischen Gebieten eine Sonderregelung: Sie durften erst nach Deutschland zurückkehren, sofern die Alliierten „unter Be92

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rücksichtigung der inneren Lage dieser Gebiete“ den Zeitpunkt für gekommen erachteten. In der Praxis blieb der Passus wirkungslos. Er bezog sich nur nominell auf Polen, wo die Dynamik der Ereignisse ihn obsolet machte, noch bevor die Tinte auf der Waffenstillstandsvereinbarung getrocknet war. Die deutschen Soldatenräte von der Ukraine bis Weißrussland dachten ebenfalls nicht daran, Artikel 12 zu folgen. Für die baltischen Staaten hingegen bedeutete der Abzug der Pest in Gestalt des Besatzers ein hohes Risiko einer Ansteckung mit der Cholera in Gestalt der Revolution aus dem Osten. Die Roten hatten trotz allem bislang größere Konflikte mit deutschen Einheiten vermieden. Nun wendete sich das Blatt zuungunsten Lettlands und vor allem Litauens. Die deutsche 8. und 10. Armee – das Herzstück von Ober Ost – zogen sich aus den baltischen Ländern zurück, wobei sie nur dort kämpften, wo sie vom Gegner dazu gezwungen wurden. Der Kommandeur der 10. Armee, General Erich von Falkenhayn, meldete bereits am 22. Dezember nach Berlin, die völlig demoralisierten Soldaten könnten den Angriff auf Wilna nicht aufhalten. Am 5. Januar, also einen Tag nach der Eroberung Rigas, besetzten die Roten – es waren wirklich nicht viele, sicher weniger als 20 000 – die Stadt. Unterwegs lieferten sie sich Gefechte mit lokalen Einheiten der polnischen Selbstverteidigung. Das entstehende Litauen wurde zum Kampfplatz der abrückenden Deutschen, der von Osten her anrücken­den roten (und später auch weißen) Russen, der Polen, der in einem eigenen Abschnitt beschriebenen „grünen Kader“ sowie von Räubern und Banditen jeglicher Couleur. Die in Kaunas amtierenden Beamten standen vor einer ebenso chaotischen Situation wie ihre Kollegen in Tallinn und Liepāja. Ein Gesandter aus Kaunas erklärte in Warschau dem polnischen Ministerpräsidenten Ignacy Paderewski und der Polnischen Telegrafenagentur (Polska Agencja Telegraficzna, PAT): Die litauische Regierung organisiert eilig eine Staatsverwaltung, die sich so weit wie möglich auf die Selbstverwaltung stützt. Der Aufbau der litauischen Armee begann erst im Dezember des vergangenen Jahres. Trotzdem leistet sie den Bolschewiki bereits erfolgreich Widerstand. Die Deutschen, die in dieser Armee dienen, beteiligen sich nicht an Angriffen, sondern beschränken ihren Dienst auf die Verteidigung. Es wurden zwei Jahrgänge und alle Offiziere der ehem. russischen Armee mobilisiert […]. Die wirtschaftliche Situation des Landes ist schlecht. Es mangelt an Rohstoffen. In den Städten herrscht große Teuerung – die Preise sind zweimal höher als in Warschau. Der litauische Diplomat fügte hinzu, die Beziehungen zwischen Litauern und Polen auf „litauischem Gebiet“ seien intakt: 93

I  Giganten und Pygmäen

[…] beide Völker litten gemeinsam unter der Unterdrückung durch die Deutschen. Während meiner Reise nach Warschau, die einige Tage dauerte, kam ich durch zig Dörfer, in denen man mir die Gräber von unschuldig erschossenen Menschen zeigte. Polen und Litauer wurden vor dieselbe Grube gestellt. Heute schlägt unseren beiden Völkern die Stunde der Freiheit. Das war ein Irrtum. Zwei Wochen später schickte Paderewski eine rätselhaft klingende Depesche an Piłsudski (er zweifelte grundsätzlich an der Diskretion der französischen Chiffrierer, durch deren Hände die Korrespondenz zwischen Warschau und Paris lief ): „Zum bekannten Plan kann ich heute entschieden sagen: Glück auf!“ Worin der Plan bestand, zeigte sich bald. Die Polen kamen schneller auf die Beine als die Konkurrenten. Am 16. April begann die Offensive gegen die Bolschewiki. Am 19. April besetzte die polnische Armee Wilna. Die Litauisch-Weißrussische Sowjetrepublik hörte auf, zu existieren. Drei Tage später veröffentlichte Piłsudski seinen Appell an die Einwohner des ehemaligen Groß­ fürstentums Litauen: Euer Land kennt seit mehr als einem Jahrhundert keine Freiheit, wird von feindlicher russischer, deutscher, bolschewistischer Gewalt unterjocht – von Gewalt, die, ohne das Volk zu fragen, ihm fremde Sitten aufzwang, seinen Willen bindet, oft sein Leben bricht. Dieser Zustand der andauernden Unfreiheit, den auch ich, der ich auf diesem unglücklichen Stück Erde geboren wurde, gut kenne, muss endlich überwunden werden und es müssen in diesem gleichsam von Gott vergessenen Teil der Erde Freiheit und das Recht zur freien, durch nichts gehinderten Artikulation von Wünschen und Bedürfnissen herrschen. Die polnische Armee, die ich hierhergeführt habe, um die Herrschaft von Zwang und Gewalt zu beseitigen, um die Regierung zu stürzen, die das Land gegen den Willen des Volkes zu führt – diese Armee bringt euch allen die Freiheit. Ich möchte Euch die Möglichkeit geben, Eure inneren nationalen und konfessionellen Angelegenheiten so zu regeln, wie es Euren Wünschen entspricht, ohne jeglichen Zwang oder Druck vonseiten Polens. Aus diesem Grunde auch setze ich – obwohl auf Eurem Boden noch die Geschütze donnern und Blut fließt – keine Militärverwaltung ein, sondern eine zivile, in die ich Einheimische berufen werde, Söhne dieser Erde. 94

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Aufgabe dieser Zivilverwaltung wird es sein: 1) Es der Bevölkerung zu erleichtern, sich über ihr Schicksal und ihre Wünsche durch frei gewählte Vertreter zu äußern. Diese Wahlen werden auf der Grundlage einer gleichen, geheimen, allgemeinen, direkten und geschlechtsunabhängigen Abstimmung erfolgen. 2) Bedürftigen mit Nahrungsmitteln zu unterstützen, produktive Arbeit zu fördern, Ordnung und Ruhe zu gewährleisten. 3) Für alle zu sorgen, ungeachtet ihres Glaubens oder ihrer Nationalität. An die Spitze der Verwaltung stelle ich Jerzy OSMOŁOWSKI – an ihn direkt oder an die von ihm bestimmten Personen wendet Euch offen und ehrlich mit allen Wünschen und Angelegenheiten, die Euch schmerzen und betreffen. J. PIŁSUDSKI.20 Es lohnt sich, den Appell äußerst aufmerksam zu lesen. Der ehemalige Sozialist Piłsudski gilt – genauso wie der zaristische General Carl Gustaf Mannerheim etwas weiter nördlich – absolut zu Recht als ein Mann des 19. Jahrhunderts. Der Text hat einen offensichtlich patriarchalischen Duktus: Der siegreiche Führer bringt seinen Quasilandsleuten – deren Sprache er nicht kennt – Freiheit (aber nicht Unabhängigkeit) und Demokratie. Der grundlegende Unterschied zu den deutschen Junkern in Estland und Lettland besteht darin, dass er nicht in ständischen Kategorien denkt. Er verspricht ein ebenso modernes Wahlsystem wie in Finnland, Polen, Österreich oder Deutschland, wo bereits Wahlen nach diesem Modus stattgfunden hatten. Zugleicht begreift er ebenso wenig wie die ­Baltendeutschen, dass die Zeit der Imperien bereits vorbei ist und dass sich mit der Besetzung der historischen Hauptstadt eines entstehenden Nationalstaates nicht nur das Großfürstentum Litauen als Teil einer neuen Adelsrepublik nicht wiederbeleben lässt, sondern auch eine normale nachbarschaftliche Bezie­ hungen zwischen der Republik Polen und der litauischen Republik unmöglich wird. Litauen überlebte das Katastrophenjahr 1919 und erstarkte. Woher nahm es die Truppen, mit denen es gegen Ende dieses Jahres die Bermondt-Armee von seinem Gebiet nach Ostpreußen zurückdrängte? 95

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Söldner Der Leiter des Presseamts der litauischen Regierung erklärte im zitierten Gespräch mit Paderewski und im PAT-Interview, wie Staatlichkeit entsteht: auf der Grundlage von Selbstverwaltungsstrukturen und des Militärs. Dmowski hätte ihn sehr gut verstanden. Das sogenannte Weichselland hatte dieselben Probleme wie seine nördlichen Nachbarn. Hinsichtlich der Zivilverwaltung befand sich Finnland in der besten Lage, denn dort hatte die Selbstverwaltung trotz aller Einschränkungen unter der Herrschaft von Alexander III. und Nikolaus II. eine generationenlange Tradition; sie war ein fester Bestandteil der Strukturen des Großfürstentums. In den Ostsee- und Weichselgouvernements implodierten die Selbstverwaltungen während des Kriegs, als ihnen – noch innerhalb des zaristischen Imperiums oder unter deutscher Besatzung – die Staatsmacht die Last der Verwaltung von Mangel und Hunger aufbürdete. Umgekehrt verhielt es sich mit dem Militär. Finnland besaß – wie wir schon schrieben – keine ausgebildeten Rekruten. Umso wichtiger waren sowohl die Jäger als auch von der Goltz’ deutsches Expeditionskorps. Die konservative finnische Presse druckte – auf Deutsch – Lobgesänge auf den Verbündeten: Der berühmte deutsche Krieger habe sein Schwert zur Verteidigung des kleinen Nachbarn im Norden gezogen, er kämpfe für dessen rechtmäßige, bürgerliche Ordnung und Freiheit. Und für mehr: Ihr wisst ebenso gut wie wir, dass wir nicht Krieg führen um eine Klasse zu unterdrücken, sondern dass dieser Krieg, in dem heute finnisches und deutsches Blut gemeinsam fließt, ein Kampf ist, um tausendjährige Errungen­ schaften unserer westeuropäischen Kultur vor der zunächst von Finnland, in­ direkt aber von der ganzen Welt von Osten her drohenden Gefahr von Anar­ chie und Umsturz zu schützen. Eine maßgebliche Rolle spielten die seit Jahrhunderten engen deutsch-finnischen Beziehungen: Gibt es doch kein zweites großes Kulturvolk, mit welchem wir Finnländer uns so dem Geiste nach verwandt fühlen wie Deutschland, keine andere große fremde Kultur, die bei uns so zu Hause wäre wie die deutsche, keine zweite Kultursprache, die hier so verbreitet ist, wie die deutsche.21 Der schwedischsprachige Mannerheim hätte als Wahlfinne derlei unterwürfige Adressen als Gebot der Stunde betrachten oder sie achselzuckend ignorieren können. Doch nun hatte er in seiner täglichen Arbeit den Weg zur Eigenstaatlich96

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keit im Bund mit den Deutschen zu gestalten. Er tat dies mit äußerst gemischten Gefühlen. Im März 1918, als der Bürgerkrieg noch keineswegs entschieden war, schrieb er an seine Tante: Wir haben schon eine Menge schwerer Arbeit verrichtet und ich vermute, bald kommt der Tag, an dem wir endlich Südfinnland helfen können. Ich glaube, wir könnten das Land aus eigener Kraft säubern, aber jetzt, mit der Hilfe der Deutschen, geht es natürlich wesentlich schneller und auf diese Weise schonen wir viele Menschenleben. Doch wäre das Gefühl, ohne Hilfe von außen einen ungleichen Kampf gekämpft und gewonnen zu haben, überaus wertvoll und wichtig für die Zukunft des Volkes. Alles, was leicht errungen wird, härtet ein Volk ja nicht ab, doch dessen bedarf es, wenn man auf eigenen Beinen stehen und andere dazu bringen will, die eben errungene Unabhängigkeit zu achten. Im November ließ der ehemalige zaristische General und Vater der finnischen Unabhängigkeit eine noch skeptischere Haltung zu den wenigen in finnischem Dienst verbliebenen deutschen Söldnern erkennen: Ich halte nicht für unmöglich, dass wir den Rest der deutschen Ostseedivision im Land behalten können, ohne unser Ansehen bei den Westmächten deutlich zu verschlechtern, doch ich bezweifle sehr, dass es sinnvoll wäre. Das würde erstens bedeuten, dass wir in den bevorstehenden Gesprächen mit den Westmächten einen Trumpf weniger in der Hand hätten, und zweitens würde es unser Volk in der vielleicht angenehmen, aber gefährlichen Illusion wiegen, wir könnten uns bei der Verteidigung gegen innere oder äußere Feinde auf fremde Hilfe verlassen. Ich kann mir auch kaum vorstellen, dass eine Regierung wirklich unabhängig ist, solange ein so politisch engagierter und intriganter General wie von der Goltz im Land ist.22 Mannerheim stand mit seinen Ansichten nicht allein. Päts, Ulmanis, Laidoner und Smetona hatten die Unabhängigkeit ebenfalls mithilfe deutscher „Freiwilliger“, de facto Söldner, erkämpft. Die Geschichte der sogenannten Freikorps in den baltischen Staaten ist stark mythologisiert. Man sieht ihre Brutalität, die zahlreichen – teils gleichsam nebenbei begangenen – Kriegsverbrechen auf dem lettischen oder litauischen Land (oder auch in der Stadt, wo entsprechende Fälle es in den Lokalteil der Tageszeitung schafften), und macht sie zu Vorläufern des Nazismus, die im Namen der Rassenüberlegenheit Unschuldige ermorden. Klaus Theweleit spricht in diesem Kontext noch vom „Männlichkeitskult“, von 97

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der Erfüllung der Fantasie von der Überlegenheit des eigenen Kollektivs – und der beliebigen Bestrafung der anderen – nicht nur über die suspekten Männer anderer Nationen, sondern auch über die Frauen.23 Das alles stimmt sicher, doch man kann diese Geschichte auch weniger postmodern betrachten. Der litauische Historiker Tomas Balkelis befasst sich seit Jahren mit der Geschichte der Freikorps.24 Er widerspricht weder Theweleit noch den zahlreichen anderen Forschern zu den Vorläufern des Nazismus, sondern ergänzt ihre Erkenntnisse. Auf dem Territorium des späteren Litauens – die Einwohnerzahl wich nur unwesentlich von den drei Millionen Finnlands ab – wurden rund 64 000 Rekruten mobilisiert. 11 000 von ihnen fielen, 15 000 gerieten in Gefangenschaft. In der zaristischen Armee dienten 1917 ca. 30 000 Soldaten, ein Zehntel davon infolge der Ethnisierung in litauischen Regimentern. Der zum Ministerpräsidenten berufene Augustinas Voldemaras musste sich beim Aufbau der Armee auf ehemalige zaristische Offiziere stützen, die oft kein Litauisch sprachen. Anfang Oktober 1918 zählte die Armee elf unbewaffnete Freiwillige, einige Wochen später 150 (darunter 82 Offiziere). Am 29. Dezember veröffentlichte die Regierung – auf Litauisch, Polnisch, Weißrussisch und Jiddisch – einen Appell zum freiwilligen Eintritt in die Armee. Sie versprach monatlich 100 Mark Sold und einen Sozialzuschlag (50 Mark) für die Familie des Freiwilligen. Im Januar wuchs die Armee auf 3000 Soldaten an, im Februar auf 4500. Im Februar 1919 wurde die oben erwähnte Mobilisierung der Jahrgänge 1897 und 1898 bekannt gegeben. Es meldete sich die Hälfte der 17 400 registrierten Männer. Im Mai hatte die Armee 10 000 Soldaten. Am 20. Juni folgte Litauen dem estnischen Beispiel: Die Regierung versprach den Soldaten Land. Bei der nächsten Mobilisierung im Oktober meldeten sich 13 000 von 34 000 Wehrpflichtigen. Im Frühjahr 1919 jedoch stand Litauen den Offensiven der Roten Armee und der Polen wehrlos gegenüber. Ober Ost war schon Vergangenheit. Die kriegsmüden 50-Jährigen aus dem deutschen Landsturm kehrten nach Hause zurück, wo auf die meisten eine Familie, Kinder und oft – wenngleich keineswegs immer – der alte Arbeitsplatz wartete. Weitaus schlechter war die Lage der Jungen und Jüngsten. Ein Teil von ihnen war von den Ideen der Revolution angesteckt worden. Andere hassten die Roten, sie gaben ihnen – und nicht Wilhelm II., Hindenburg und Ludendorff – die Schuld an der erlittenen Demütigung, an den sinnlos in den Schützengräben Flanderns und Frankreichs verbrachten Jahren und an der Zerstörung der Welt, die sie wenige Jahre zuvor zurückgelassen hatten, um das Vaterland gegen slawische Barbarei und französische Dekadenz zu verteidigen. Die einen wie die anderen kannten kein anderes Mittel zur Konfliktlösung als Gewalt. 98

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Die Briten kannten dieses Syndrom. Sie warben 10 000 ehemalige Soldaten als sogenannte Black and Tans zum Dienst in Irland an, wo ihre Brutalität sich gegen die Separatisten von Sinn Féin und der Irish Republican Army als nützlich erweisen konnte. Auch die Deutschen lagerten ihr Problem aus – in von der Goltz’ Korps in Finnland und in die Freikorps in den baltischen Staaten. Die vom zivilen Leben frustrierten arbeits-, mittel- und perspektivlosen ehemaligen Rekruten unterschrieben in den regionalen Anwerbestellen lukrative Verträge als Söldner in den Kriegen gegen die Bolschewiki. Sie erhielten 900 Mark pro Monat und konnten für diesen Lohn zu der einzigen Arbeit zurückkehren, die sie gelernt hatten – zum Töten. Das heißt nicht, dass sich in den Freikorps ausschließlich spätere Nazis gesammelt hätten. Der erste Anwerbeappell klang wie ein Satz aus einem schlechten Westerndrehbuch („wem der Übergang vom Militärdienst ins Zivilleben schwerfällt, wer noch immer neue Länder kennenlernen will“, der solle sich den Reihen der furchtlosen deutschen Ritter anschließen). Das erste Kontingent sächsischer Freiwilliger in Litauen wurde rasch wieder nach Hause geschickt, weil die Söldner nach dem Vorbild des Herbsts 1918 anfingen, Soldatenräte zu gründen und die Autorität der Offiziere infrage zu stellen. Anschließend kämpften die Deutschen einige Wochen lang vertragsgemäß – bis zum erwähnten Putsch in Libau am 16. April 1919 und bis zur Niederlage in der Schlacht von Wenden. Dies ist kein Buch über die Geschichte der Diplomatie, doch an dieser Stelle kommen wir nicht an ihr vorbei: Die sozialdemokratische Regierung in Berlin unterstützte die Werbung für die Freikorps und kontrollierte bis zu einem gewissen Grad ihre Aktivitäten in den baltischen Ländern. Die diplomatischen Vertreter der Entente in der Region hatten ambivalente Gefühle. Die Söldner waren eine große Hilfe im Kampf gegen die Bolschewiki, doch sie waren bis vor Kurzem Feinde gewesen und handelten ausschließlich im eigenen Interesse. Am 5. August 1919 forderten die Westmächte den Abzug der Freikorps aus den baltischen Ländern. Die Berliner Regierung befahl den Rückzug. Die Söldner verweigerten jedoch den Gehorsam und schlossen sich Bermondt-Awaloffs Westrussischer Befreiungsarmee an. Am 11. November 1919 verloren sie vor Riga eine weitere Schlacht gegen die lettisch-estnische Armee und verschwanden – zumindest vorerst. Sie hinterließen Erinnerungen, die aus heutiger Sicht eindeutig negativ ­wir­ken. Theweleit, Balkelis und andere sehen in ihnen eine Reinkarnation der Landsknechte, deutscher und schweizerischer Söldner, die im 16. Jahrhundert Europa verwüsteten. Gleichwohl war der Mythos, der sich in der Zwischenkriegs99

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zeit um sie rankte, weder in Deutschland noch erstaunlicherweise in den baltischen Ländern negativ konnotiert. Vielmehr wurden sie für paramilitärische Organisationen und in Veteranenkreisen zu vorbildlichen Soldaten, die fern des Vaterlands für die richtige Sache kämpften. Deshalb sprach man auch von Freiwilligen. Das klang wesentlich freundlicher als „Söldner“.

Ungarn Der Intellektuelle Oszkár Jászi, ein kluger Kommentator und prominenter Beteiligter der Ereignisse der Jahre 1918/19, schrieb ein Jahr später in seinen Erinnerungen, man könne – sofern man an die geschichtliche Wirkmacht des Individuums glaube – István Tisza als Vater und Oberstleutnant Fernand Vix als Taufpaten des ungarischen Bolschewismus betrachten.25 Zur Erklärung: Tisza war bis Mai 1917 ungarischer Ministerpräsident; Vix, Chef der französischen Militärmission in Budapest, überbrachte der Regierung am 20. März 1919 das Ultimatum der Alliierten, das zum Rücktritt der demokratischen Regierung und tags darauf zur Machtübernahme durch die Kommunisten führte. Jászi irrte, indem er Tisza und Vix als Köpfe der feindlichen Mächte darstellte. Im übertragenen Sinn gilt seine Diagnose aber bis heute. Sie verweist nämlich auf die zwei Hauptverantwortlichen für das Scheitern der liberalen Revolution in Ungarn: die Konservativen, die sich allen ernsten Reformen des Königreichs widersetzten und der in den letzten Oktobertagen 1918 entstandenen demokratischen Regierung Steine in den Weg legten, sowie die Entente, deren Ultimatum den Demokraten den Rest gab. Und irgendwo zwischen der berechtigten Anklage auf allgemeiner Ebene und der falschen Personifizierung des Übels liegt der Schlüssel zum Verständnis der ungarischen Tragödie des Jahres 1919. Nach dem Ausgleich mit Wien 1867 erlebte das Königreich Ungarn eine Blütezeit, obwohl ein Teil seiner politischen Eliten dies nicht wahrhaben wollte. Die herrschende Nation war in den weitläufigen Grenzen Transleithaniens zwar die größte Volksgruppe, an den Rändern aber nur eine Minderheit im Verhältnis zu den Kroaten in Kroatien, den Serben in der Wojwodina, den Rumänen in Siebenbürgern, den Slowaken in Oberungarn oder den Ruthenen in Transkarpatien. Die von fast allen Parlamentariern und einer großen Mehrheit geteilte Staatsräson des Königreichs beruhte auf der Magyarisierung der Minderheiten (inklusive der in den Städten lebenden Deutschen und Juden) sowie auf der drakonischen Bestrafung jeglicher Form von Separatismus. Die Idee der Transformation des Einheitsstaats in ein föderales Gebilde, die vor 1914 unter anderen von Jászi ins Spiel gebracht worden war, prallte am politischen Mainstream ab. 100

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Das Problem der Minderheiten, die faktisch die Mehrheit (laut dreist gefälschten amtlichen Statistiken die Hälfte) der Bevölkerung stellten, hatte unter anderem auch Konsequenzen für die Frage des allgemeinen und gleichen Männerwahlrechts. In Cisleithanien, dem österreichischen Teil der Monarchie, wurde es 1907 eingeführt. In Ungarn, wo ein Zensuswahlrecht galt, waren nur acht Prozent der Einwohner stimmberechtigt, die überwiegende Mehrheit davon ­waren Ungarn. Die von ihnen gewählten Delegierten lehnten unabhängig von der Parteizugehörigkeit eine Wahlrechtsreform ab und hielten so die Vertreter der Minderheiten und die Sozialisten von der legislativen Macht fern. Als Symbol dieser Politik galt völlig zu Recht Graf István Tisza.26 Der Sohn des Ministerpräsidenten der Jahre 1875–90 und Gründer der Liberalen Partei amtierte in den Jahren 1903–05 und 1913–17 selbst als Ministerpräsident des Königreichs Ungarn. Nach seinem Rücktritt im Mai – der neue ungarische König Karl IV. wollte wirklich eine Wahlrechtsreform – blieb er als eigentlicher Anführer der Parlamentsmehrheit in der Politik. Als überzeugter Konservativer kämpfte er konsequent gegen Sozialisten, Minderheiten und die Pläne zur Föderalisierung des Königreichs. Zugleich war er eine Gallionsfigur des Dualismus, das heißt – in den Augen der Unabhängigkeitspartei, die in ihrem Programm die Befreiung von den angeblichen österreichischen Fesseln forderte – dem ewigen ungarischen Scheitern. 1918 erinnerte sich kaum jemand daran, wie viele Zugeständnisse er als Ministerpräsident Wien abgerungen hatte. Stattdessen kritisierte man seinen – übrigens aufrichtigen – Standpunkt, Ungarn könne seine Grenzen und ­seinen halbimperialen Status nur als zweites Glied der k. u. k. Monarchie bewahren. In Jászis metaphorischer Darstellung war Tisza als Ministerpräsident im Sommer 1914 für Ungarns Kriegseintritt verantwortlich. Dabei hatte gerade Tisza im letzten Friedensmonat eine ganze Woche versucht, seine Wiener Kollegen von einem Feldzug gegen Serbien abzuhalten, der sich – so Tiszas Auffassung – von einer scheinbar sicheren Strafexpedition in einen europäischen Krieg verwandeln könne. In einem solchen Krieg könne Ungarn faktisch nur verlieren, selbst wenn es ihn gewinne. Trotzdem wurde er in den folgenden vier Jahren zum Sinnbild eines Kriegstreibers und zum Schuldigen an allem magyarischen Unglück. Zunächst hielt es sich noch in Grenzen, denn Ungarn überstand den Ersten Weltkrieg etwas besser als die meisten anderen beteiligten Staaten. Nur Siebenbürgen, also ein kleiner Teil des Königreichs, geriet unter feindliche Besatzung – und auch das nur für Tage und Wochen, nicht Monate oder Jahre. Die Niederlagen der k. u. k. Armee trübten nicht den Nationalstolz – das Kommando führten 101

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Mit der Herrschaft Karls IV. waren auch Hoffnungen verbunden. Auf dem Foto segnet ein Rabbiner das Königspaar während eines der letzten Besuche in Pressburg 1918.

ja Österreicher –, Siege hingegen boten Anlass, die Tapferkeit der Honveds in den Himmel zu heben. Soldaten ungarischer Nationalität fielen nicht häufiger und gerieten nicht öfter in Gefangenschaft als die in denselben Einheiten kämpfenden Slowaken, Rumänen oder Kroaten. Auf dem Land ging das Leben in großen Teilen normal weiter. Anders als in Cisleithanien wurde das Parlament nicht aufgelöst, sondern arbeitete fast wie zu Friedenszeiten, was immer das bedeutete – das Abgeordnetenhaus in Budapest war seit Jahren für Zwist und Demagogie berüchtigt, die an das skandalöse Gebaren der Wiener Abgeordneten vor dem Krieg erinnerten. Im Juli 1916 spaltete sich die Unabhängigkeitspartei, ein Teil der Abgeordneten verließ die Parlamentsfraktion. Ihr Anführer wurde der Großgrundbesitzer, Glücksspieler und Verschwender Graf Mihály Károlyi, ein Gegner Wiens und Anhänger der Entente, der zugleich als Pazifist und Liberaler bekannt war. Nach Tiszas Rücktritt – des wichtigsten Gegners allgemeiner Wahlen und der dominierenden Gestalt in der ungarischen Politik – 102

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arbeiteten die schnell wechselnden neuen Regierungen an einer Reform des Wahlrechts. Es wurde viel über dieses Thema geschrieben und diskutiert. Der Berg gebar jedoch eine Maus. Das Wahlgesetz von Juli 1918 erweiterte den Kreis der Stimmberechtigten um 13 Prozent der Bevölkerung. Tisza hielt auch das für zu viel, doch er akzeptierte den „Kompromiss“ – der eigentlich ein weiterer Sieg war – aus Verpflichtung gegenüber den Soldaten an der Front mit dem Ziel, dass „diese Patrioten zum Schutz der auf dem Spiel stehenden Interessen des Vaterlandes einander während und nach dem Krieg die Hand reichen können“27. Er kontrollierte noch immer die parlamentarische Mehrheit. Károlyi hingegen verbrachte einen großen Teil des Sommers auf seinen Landgütern. In Budapest standen die Leute Schlange nach Brot, es wurde viel von Hunger geschrieben – vielleicht deshalb, weil die Verfasser der anklagenden Artikel lange nicht in Berlin oder Wien gewesen waren. Von Zeit zu Zeit brachen Streiks aus. Die im Parlament nicht vertretene, in den Budapester Fabriken dominierende und deshalb als politische Macht angesehene sozialistische Partei hatte es indessen nicht eilig mit der Revolution. Das russische Beispiel radikalisierte nur einen Teil der Arbeiter und Intellektuellen. Gewerkschaftsführer und sozialistische Politiker wollten diesem Vorbild nicht folgen. Im Juni ging die schlecht ausgerüstete und geführte, nicht mehr an den Sieg glaubende österreichisch-ungarische Armee am Piave zur Offensive über. Die Artillerie verfügte über fünf Geschosse pro Geschütz, am Ende standen weitere 150 000 Verwundete, Gefallene und Gefangene. Zur selben Zeit rief Tisza im Parlament zum weiteren Kampf auf. Im September war auch den größten Optimisten klar, dass der Krieg verloren war. In Ungarn zählte man noch immer auf den US-Präsidenten: Dessen Aufruf vom Januar 1917 zu einem „Frieden ohne Sieger“ hatte große Hoffnungen geweckt, seine ein Jahr später veröffentlichten 14 Punkte sahen zwar die Auflösung der Monarchie, aber nicht Ungarns vor. Die Politiker in Budapest entwarfen fantastische Pläne – etwa die Vereinigung der Südslawen im Rahmen des Königreichs –, bevor sie sich zur Aufkündigung der Realunion mit Österreich entschieden und als einziges verbindendes Element die Person des gemeinsamen Monarchen anerkannten. Am 17. Oktober gestand Tisza im Parlament die Niederlage ein. Der ehemalige Ministerpräsident appellierte angesichts des Zerfalls nicht nur der Monarchie, sondern auch des eigenen Staates an die Verantwortung der politischen Klasse, die er verkörperte. 90 Prozent der Delegierten, so Tisza, begriffen nicht, was für ein Drama sich abspiele, und benähmen sich wie im Kindergarten. 103

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Am 23. Oktober vollzog Tisza die größte Kehrtwende in seinem Leben. Um die territoriale Integrität Ungarns zu wahren und die Sozialisten zu neutralisieren, stimmte er der Einführung eines allgemeinen und gleichen Wahlrechts zu. Doch es war zu spät: Die Vorstellung, dass Kroaten und Rumänen freiwillig Untertanen Budapests blieben, weil es endlich ihre Staatsbürgerrechte anerkannt hatte, war in der letzten Oktoberwoche 1918 reines Wunschdenken. Ebenso wenig ließen sich die Sozialisten durch die Wahlrechtsreform befrieden – sie wollten die Macht, und zwar ohne kompromittierte Politiker wie Tisza und seine 90 Prozent Kindergartenkinder. Am 30. Oktober erklärten sich die Ungarn für unabhängig. Sie waren nicht die Ersten, die Kroaten hatten diesen Schritt schon am 19. Oktober vollzogen. Zum Symbol der Revolution wurden die im Herbst blühenden Astern, die sich die Anhänger des neuen Systems an die Hüte steckten. Ministerpräsident der neuen Koalitionsregierung, an der auch die Sozialisten beteiligt waren, wurde Károlyi. Doch, obwohl die demokratische und nationale Revolution friedlich vollzogen wurde, zerfiel der Staat. Im Süden erholte sich das feindliche Serbien, im Osten das ebenso feindliche Rumänien, beide Länder als Mitglieder der Entente. Im Norden, im scheinbar weit entfernten Prag, wurde am 28. Oktober die Tschechoslowakische Republik ausgerufen. Die meisten Ungarn wussten vermutlich nicht, dass das schon immer zum Königreich gehörende Oberungarn für andere die Slowakei war. Am 13. November wurde in Belgrad der Waffenstillstand zwischen der Entente und Ungarn unterzeichnet. Die Vereinbarung legte im Osten und im Westen eine von den historischen Grenzen abweichende Demarkationslinie fest: Rumänen und Serben sollten im Namen der Entente ­einen Teil des Grenzgebiets besetzen. Über die Nordgrenze sagte das Dokument nichts. Dass Frankreich der Prager Regierung die Slowakei versprochen hatte, blieb vorerst geheim. In den folgenden Wochen überschritten rumänische und serbische Truppen die in Belgrad festgelegte Demarkationslinie und drangen auf ungarisches Territorium vor. Tschechen und Slowaken besetzten die Slowakei. Auch im Inneren zerfiel der Staat, schlimmer noch, die gesellschaftliche Ordnung löste sich auf. Bauern und Landarbeiter stellten Forderungen an die Grundbesitzer, Diener schnauzten ihre Herren an. Wie sich der Ton zwischen den Ehemännern, die nach Jahren von der Front heimkehrten, und ihren Ehefrauen, die in dieser Zeit die Familie versorgt hatten, änderte, wissen wir nicht. Ehemalige Soldaten und Kriegsgefangene sollten sich bald als schlimmste Aufrührer erweisen. Viele der Gefangenen kamen aus Russland zurück. Ein Teil hasste die Bolschewiki, ein Teil sah sie als Vorbild. In einem Punkt waren sich beide Gruppen 104

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einig: Nur durch radikale Veränderungen ohne Rücksicht auf Wahlergebnisse könnten Ungarns Probleme – Ungleichheit, Ausbeutung, Exklusion und Armut – gelöst werden. Unter den Agitatoren tat sich Béla Kun hervor, der als Rekrut zur Armee eingezogen wurde und sich – ehe er in russische Gefangenschaft geriet – zum Feldwebel hochdiente, was angesichts der großen Verluste keine Sensation war, aber doch für den Soldaten sprach. Wie viele andere Agitatoren stammte Kun aus einer jüdischen Familie. Am 24. November entstand die Ungarische Kommunistische Partei. Ihre vorerst wenigen, aber lauten Anhänger betrachteten die Demokratisierung bestenfalls als Zeitverlust. Wie die Bolschewiki in Russland wollten sie die Macht der bisherigen Eliten hier und jetzt brechen. Für die sogenannten Unabhängigkeitsparteien verbesserte der sichtbare Niedergang der Habsburgerdynastie die Chancen auf eine Loslösung von Wien, das seit Jahrzehnten als Hauptfeind und Hindernis auf dem Weg zur Unabhängigkeit galt. Die Unabhängigkeit wiederum betrachteten sie als Allheilmittel gegen alle inneren Probleme Transleithaniens. Im Grunde waren sie ebenso realitätsfern wie die Liberalen. Die Radikalität der Kommunisten sicherte ihnen einige Monate später die Rückkehr auf die politische Bühne, als die Frage der Beziehungen zu Wien schon im Archiv der Diplomatiegeschichte gelandet war. In Ungarn verlief der Konflikt zwischen Kommunisten und dem Rest des Landes grundsätzlich nicht hitziger als in den baltischen Ländern. Dennoch kam hier ein Faktor hinzu, der auch in den anderen Ländern existierte, dort aber vor 1914 kaum zu vergleichbaren Konflikten geführt hatte: das Verhältnis zu den Juden. Nicht von ungefähr haben wir die jüdischen Wurzeln des Gründers der Ungarischen Kommunistischen Partei erwähnt. Ihre Entstehung überlagerte ­Trennlinien, die deutlich älter als die 3. Internationale waren. Traditionell waren die Armee und der Staatsapparat Domänen der „christlichen“ Eliten, Wirtschaft und freie Berufe hingegen wurden von Jüdischstämmigen und Juden dominiert. Diese ungeschriebene soziale Einteilung wurde seit der Jahrhundertwende umso häufiger infrage gestellt, je mehr sich der Gegensatz zwischen der Moderne (symbolisiert durch den „Sündenpfuhl“ Budapest) und dem Ideal des Stände­staates (verwurzelt im Grundbesitz und im Dorf ) kristallisierten. Tisza versuchte bis zuletzt, die sich vor seinen Augen auftuende Kluft zu schließen – der Antisemitismus schade dem öffentlichen Leben Ungarns, […] weil er an sich ungerecht und falsch ist. Denn über jeden einzelnen Men­ schen muss anhand seines individuellen Wertes geurteilt werden und man darf weder anhand der Konfession noch der Nationalität allgemeine, für jeden gleich geltende Urteile über die Mitglieder jeglicher Gruppen fällen. 105

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Gleichwohl, so Tisza weiter: Das Problem ist bei uns, dass in den […] beruflichen Zweigen, in denen die mit dem Krieg verbundenen Anomalien meistens auftreten, zum großen Teil Juden angestellt sind, so auch ein Großteil der schrecklichen Taten, die begangen werden, von Juden begangen wird. So stehen wir unbestreitbar der Gefahr gegenüber, dass diese verständliche und berechtigte Empörtheit und Verzweiflung, die sich gegen diese Taten und Täter richtet, sich auf eine ganze Konfession richten wird. Dagegen müsse man ankämpfen: Gegen diese Ansichtsweise muss meiner Meinung nach Stellung genommen werden., und jeder muss dagegen kämpfen. Wir müssen auch durch die Auf­ klärung des Volkes in die Richtung wirken, dass man keine konfessionelle, nationale Frage darin sieht, und dass sich die berechtigte Wut, die sich gegen dieses schreckliche und feige Verhalten richtet, nicht auf eine ganze Natio­ nalität oder Konfession ausgebreitet wird.28 Im Augenblick der Niederlage im Herbst 1918 verstummte die autoritative, vernunftgeleitete Stimme des erfolgreichsten ungarischen Konservativen. Er wurde am 31. Oktober in seinem Haus von Revolutionären erschossen, die in ihm das Symbol aller Verfehlungen der bis dahin herrschenden Klasse sahen. Das war eine Zäsur. Jeder der umrissenen Konflikte wurde noch intensiver und impulsiver empfunden. Und vor allem wurden sie unvergleichlich stärker als vor dem Ersten Weltkrieg miteinander verknüpft. Der Streit um die Bestimmung der Ungarn, um die Gestalt ihrer Gemeinschaft und ihres Staats wurde zu jedermanns Sache und auf der Straße ausgetragen. Die allgemein für die Kriegskatastrophe verantwortlich gemachten Konservativen hatten keine Idee, wie man der Radikalisierung der Straße entgegenwirken könnte. Arbeiter, Soldaten, Heimkehrer aus der russischen Gefangenschaft, aber auch andere Städter versammelten sich ohne behördliche Genehmigung, hielten staatsfeindliche Reden, skandierten „Frieden!“, „Brot!“, „Freiheit!“, „Un­abhängigkeit!“ und riefen „Nieder mit den Habsburgern!“ Bis zum 31. Oktober war natürlich auch der Ruf „Nieder mit Tisza!“ zu vernehmen. Der neue Ministerpräsident Károlyi versuchte, die zahlreichen Brandherde zu löschen – Streiks, Unruhen und Drohungen. Am 16. November erklärte Ungarn sich zur Republik. Die Sozialisten drängten den Ministerpräsidenten, das Land s0 schnell wie möglich zu reformieren. Angesichts des faktischen Zerfalls des 106

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Staatsapparats stellte sich die allgemeine Lage aus Sicht der Regierung höchst unsicher dar. Zur äußeren Bedrohung – Kroaten, Rumänen und Slowaken konnten auf mehr als die Unterstützung Serbiens, Rumäniens und der frisch gegründeten Tschechoslowakei zählen – kam die innere Bedrohung. Károlyis Kabinett kämpfte an mehreren Fronten gleichzeitig. Durch Verhandlungen mit den Nachbarn versuchte man die territorialen Verluste zu minimieren. Die Konservativen warfen dem Ministerpräsidenten vor, er schaffe zwar ein „westliches“ System, das seinen Protektoren in Paris gefallen müsse, doch gerade seine ­Nachgiebigkeit habe es der tschechoslowakischen und der rumänischen Armee ermöglicht, kampflos die Slowakei und Siebenbürgen zu besetzen. Um die Situation doch noch zu retten, vergrößerte das Kabinett doch noch seine parlamentarische Basis und bezog die Kleinlandwirte-Partei in die Regierung ein. Die im Grunde konservative Formation vertrat die Bauern, die Land – das heißt eine umfassende Bodenreform – forderten. Ein polnischer Offizier fasste die ersten Wochen des Jahres 1919 folgendermaßen zusammen: Die Regierung wankt. Die Radikalen verachten Károlyi, die Rechten hassen ihn. Die Regierung hat nichts zu sagen, nur in Budapest findet sie etwas Gehör. Budapest ist ein Ameisenhaufen, die Menschen zwängen sich in enge Wohnungen, die überfüllt sind von Juden aus der Provinz, die vor den dort regelmäßigen Pogromen flüchten, von Grundbesitzern und demobilisierten Soldaten. Für Ordnung in der Stadt sorgen die alte Polizei und die Bürgergarde, in die nacheinander alle Einwohner einberufen werden. Die breiten Massen sind von der Regierung enttäuscht, weil die Versorgung miserabel ist und die Preistreiberei weiter blüht. Oberstleutnant Vix hält die Macht in der Hand und diktiert seine Forderungen. Im Nationalrat wächst der Zwist. In Budapest die antisemitische Stimmung. Die Überfälle auf jüdische Geschäfte häufen sich. Man gibt den jüdischen Ministern die Schuld an der so umfangreichen Besatzung […]. Das Offizierskorps ist untätig, verbittert, drängt zum Kampf gegen den äußeren Feind. Die Offiziere erklärten Minister Jászi auf einem Treffen von Offiziersdelegierten der einzelnen Formationen (die in Wirklich­ keit nicht existieren), Ungarn habe keine Armee, die demobilisierten Truppen plünderten die Lager und verkauften die Beute an Händler. Die noch bestehenden Offizierslegionen wurden von der Regierung aufgelöst Die Armee ist politisiert, in den Kasernen finden Versammlungen statt, es gibt Schießereien mit Verwundeten und Toten. Manche Einheiten demonstrieren für die Regie­ rung, andere dagegen.29 107

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Die Regierung versuchte die Anarchie zu bändigen. Im Februar wurden die führenden Aktivisten der Ungarischen Kommunistischen Partei und ihr Anführer Béla Kun verhaftet. Die demokratischen Parlamentswahlen wurden auf den ­April terminiert. In diesem Augenblick betrat der schon zweimal erwähnte Oberstleutnant Vix die Arena. Er teilte der Regierung mit, Ungarn müsste noch mehr abtreten, als die wortbrüchige Entente und die Nachbarn dem Land bisher genommen hätten. Die Regierung Károlyi gab nach. Im Kapitel über den Versailler Vertrag zitieren wir die einige Wochen später gehaltene Rede des deutschen Reichskanzlers: „Welche Hand müsste nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legte?“ In Budapest fiel am 20. März anscheinend kein ähnlich dramatischer Satz, zumindest ist nichts dergleichen überliefert; alle waren todmüde. Die Regierung der Reformer, der niemand eine große Chance gegeben hatte, trat ab. An ihre Stelle traten die ungarischen Bolschewiki unter Kuns Führung. Sie begingen alle nur denkbaren Fehler, worauf wir an anderer Stelle zurückkommen. Der größte war vielleicht der fehlende Ernst, der sich in der grotesken Überbetonung der Form gegenüber dem Inhalt manifestierte. Die Rote Armee hatte weder Stiefel noch Gewehre, doch zum 1. Mai wurden im Budapester Stadtzentrum alle aus kommunistischer Sicht unangemessenen Denkmäler mit rotem Stoff verhüllt. Am Heldenplatz traf es die monumentale Kolonnade ebenso wie die fast 40 Meter hohe Säule mit der Figur des Erzengels Gabriel. Auch das Honvéd-Denkmal wurde mit rotem Stoff verhüllt, darüber befestigte man ein Transparent mit der Losung: „Der rote Soldat kämpft nicht gegen seine proletarischen Brüder, sondern gegen das internationale Kapital“.30 In einem Punkt erreichte die Regierung Kun einen – wie sich rasch zeigen sollte – vorübergehenden Erfolg: Sie mobilisierte auch die Ungarn zum Kampf gegen den äußeren Feind, die unter anderen Umständen nicht unter der roten Flagge marschiert wären. Darüber hinaus rechnete sie mit der Hilfe der russischen, genauer gesagt: ukrainischen Bolschewiki. Diese wiederum zählten auf ungarische Unterstützung. Die einen wie die anderen ließen außer Acht, dass die polnische Offensive in Ostgalizien schon einen halbwegs stabilen Cordon sanitaire geschaffen hatte, der die beiden roten Armeen voneinander trennte. Selbst wenn die Bolschewiki die Kraft gehabt hätten, Ungarn zu helfen (sie hatten sie nicht, weil sie an mehreren Fronten gleichzeitig kämpften), so verfügten sie doch über keine einzige Bahnverbindung zwischen Kiew und Budapest.31 Am 30. Mai griff die Armee der Räterepublik die Slowakei an. In seinem Resümee des Feldzugs vermerkte der französische Botschafter später, er habe die 108

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analytischen Zweifel über die Gründe für die Schwäche der österreichisch-ungarischen Armee zerstreut: Die Rote Armee habe mit „merkwürdiger Leichtigkeit“ die Tschechen zum Rückzug gezwungen, also hätten die Ungarn den besten Teil der k. u. k. Armee gestellt.32 Allerdings hatte gerade der Botschafter Frankreichs nicht unbedingt das Recht zu solchen Aussagen. Die wahre Ursache für die anfänglichen Niederlagen der Tschechoslowaken waren nämlich Missverständnisse und Animositäten zwischen den französischen und italienischen höheren Offizieren an der Spitze der größeren Einheiten der neu geschaffenen Armee. Die schlecht geführten Tschechoslowaken zogen sich so schnell zurück, dass die Regierung in Warschau sich fragte, was sie tun sollte, wenn Soldaten des südlichen Nachbarn die Karpaten überschritten. Polen wollte im Südosten unbedingt an Ungarn grenzen, nicht aber an eine Ungarische Räterepublik. Die Lösung des Dilemmas lieferten die Rumänen. Sie griffen Ungarn an, das den allergrößten Teil seiner Truppen in den Norden verlegt hatte und Die Räterepublik hatte der rumänischen Offensive nichts entgegenzusetzen. Ziel der Offensive war Budapest. Am 31. Juli begann auch die tschechoslowakische Gegenoffensive. Am 3. August marschierten die Rumänen in Budapest ein. Kun und die anderen Regierungsmitglieder der Räterepublik flohen. Sie wussten, was sie zu erwarten hatten. Der ungarische Schriftsteller Péter Esterházy lieferte eine knappe Zusammenfassung von Kuns Experiment: Gut vertretbare soziale Gedanken, im größten Chaos, (verbunden) mit maßloser Dummheit und, euphemistisch gesagt, menschlicher Schwäche.33 Gyula Szekfű, ein konservativer Historiker mit gebrochener Biografie (es sei nur erwähnt, dass er als letztes öffentliches Amt die Position des Botschafters des kommunistischen Nachkriegsungarn in Moskau bekleidete), brachte es 1920 noch deutlicher auf den Punkt: Die Bolschewiki seien Bucharins Grundsatz gefolgt, demzufolge alle anderen zu vernichten seien. Ihre Propaganda arbeitet mit Unwahrheiten […] und so immoralisch hat noch keine menschliche Propaganda gelogen wie diese […]. [E]s ist dieser Blut­ strom, der alle Intellektuellen von ihrem Kommunismus trennt. Anführer der Räterepublik waren „[j]ene Mitglieder der russisch-galizischen jüdischen Diaspora, die ihren Platz in der europäischen Gemeinschaft nicht gefunden haben“.34 109

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Vermutlich flohen 100 000 Ungarn, also mehr als ein Prozent der Bevölkerung, vor dem roten Terror – dem „Blutstrom“, wie Szekfű leicht übertrieben schrieb – nach Österreich, darunter jeder fünfte Aristokrat und mehr als 10 000 Offiziere. 400–500 Menschen wurden ermordet, doch wie immer vervielfachte die Propaganda die Anzahl. Unterdessen verkündete am 5. Juni der frühere A ­ djutant Franz Josephs I., Vizeadmiral Miklós Horthy, als Kriegsminister der antikommunistischen Regierung eine freiwillige Rekrutierung zur ungarischen Nationalarmee. In kurzer Zeit meldeten sich 6500 Freiwillige, darunter 3000 ­Armee- und 800 Gendarmerieoffiziere. Bald umfasste die Nationalarmee 30 000 Soldaten, doch eine – im Verhältnis zu ihrer zahlenmäßigen Stärke – große Rolle sollten die paramilitärischen Formationen spielen, die neben den regulären Einheiten existier­ ten: Das Bataillon des Hauptmanns und späteren Oberstleutnants, Baron Pál Pró­ nay, und das Bataillon Ostenburg. In Kecskemét, also unter rumänischer Besat­ zung, agierte die sogenannte Miliz von Iván Héjjas, dem Sohn eines reichen Bauern und Winzers.35 Während in den Bataillonen die Offiziere überrepräsentiert waren und man häufig auch Grundbesitzer antraf, diente in Héjjas’ Miliz ein Querschnitt der ungarischen Gesellschaft: Bauern, Beamte und Ladenbesitzer, Handwerker und ehemalige Unteroffiziere, ehemalige Polizisten und Landarbeiter. Theoretisch kämpften sie gegen die Bolschewiki, de facto erledigten sie als Auftragsmörder

Rumänische Patrouille in den Straßen von Budapest, 1919.

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lokale Streitigkeiten. Sie plünderten und ermordeten bevorzugt Juden, kollaborierten intensiv mit den rumänischen Besatzern, raubten und entführten Menschen, um Lösegeld zu erpressen; in einer Nacht folterten und erschossen sie sechs Polizisten und nach dem Abzug der Rumänen aus Kecskemét organisierten sie regelrechte Massenexekutionen. Schätzungen zufolge ermordeten sie binnen neun Wochen rund 300 Zivilisten. In den folgenden Jahren kamen weitere 400 Morde hinzu. Der weiße Terror dauerte nach Kuns Niederlage noch mehrere Jahre an. Die Anzahl der Todesopfer wurde nie offiziell festgestellt. Vermutlich starben zwischen 1500 und 3000 Zivilisten. Zum Symbol der Machtübernahme durch die Weißen wurde der von Horthy auf einem weißen Pferd angeführte Einzug der Nationalarmee in Budapest am 16. November 1919. Die Stadt bot ein trauriges Bild. Die Rumänen hatten das ganze besetzte Gebiet geplündert und in der Hauptstadt war besonders viel zu holen gewesen. Der polnische Gesandte Graf Jan Szembek äußerte sich nach seiner Ankunft in Budapest schockiert über die Folgen der „barbarischen und […] für das Land äußerst zerstörerischen“ rumänischen Besatzung.36 Wohl kaum jemand ahnte, dass das Schlimmste – der Friedensvertrag von Trianon – noch bevorstand.

1920 Piłsudski suchte vergeblich nach einem weder weißen noch roten, demokratischen „dritten Russland“, das einen polnischen Staat mit Grenzen jenseits von Bug und San anerkannt hätte. Stattdessen fand er den politischen Bankrotteur Symon Petljura, den 1919 von Polen wie von den Roten geschlagenen war lord, der nun die Reste der vereinigten Truppen der Ukrainischen und Westukrainischen Volksrepublik befehligte. Anfang 1920 umfassten sie einige Tausend Soldaten. Der größte ukrainische Warlord, Nestor Machno, verfügte über zehnfach stärkere Banden. Am 21./22. April 1920 schloss die Republik Polen einen Geheimvertrag mit der – angeblich von Petljura repräsentierten – Ukrainischen Volksrepublik. Polen erkannte die Ukraine an. Die Ukraine gab den Anspruch auf Ostgalizien und das westliche Wolhynien auf. Die polnische Regierung überließ der Ukraine das Territorium östlich dieser Gebiete bis an die polnischen Grenzen von 1772, „die ­Polen schon besitzt oder auf militärischem oder diplomatischem Wege von Russland zurückgewinnen wird“. Es handelte sich also um einen klassischen ­Angriffspakt, allerdings zwischen höchst ungleichen Partnern: Polen trat als Imperium auf, Petljura hatte nichts in der Hand. Gleichwohl agierten seine Unter111

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händler weitaus vernünftiger als ihre Vorgänger zwei Jahre zuvor in Brest. Die Polen forderten den Abschluss eines Wirtschaftsabkommens im Stil des Brester Vertrags. Den Inhalt fasst Jan Pisuliński lapidar so zusammen: Es ging u. a. um die Erlaubnis zum Export von Bodenschätzen (darunter Eisen­ erz und Mangan) und Agrarprodukten (Zucker, Vieh) sowie um Konzessionen zum Betrieb dreier Eisenerz- und Manganbergwerke im Krywbass (für 99 Jahre). Der [polnische] Entwurf sah auch die Einrichtung zollfreier Zonen in den Schwarzmeerhäfen (Nikolajew, Odessa) vor. Um die Nutzung zu ermöglichen sollte die ukrainische Regierung zudem Konzessionen für Bahnlinien nach Polen und zu den Schwarzmeerhäfen erteilen und sogar fehlende Teilstrecken bauen.37 Der von den polnischen Kolonialmachtsansprüchen an die Wand gedrängte David zögerte die Verhandlungen hinaus. Die ukrainischen Unterhändler beharrten auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit und unterschrieben letztlich auch in den folgenden Gesprächsrunden nicht, bis im August die Gesprächsprotokolle im Archiv der Diplomatiegeschichte verschwanden. Von Beginn an war nämlich klar, dass alles vom Ausgang des Polnisch-Sowjetischen Kriegs abhing. Nur Petljuras Erfolge konnten ein solides Fundament für die künftigen wirtschaftlichen und sonstigen Beziehungen schaffen. Seine Armee sollte von den Polen ausgerüstet werden und unter polnischem Kommando dienen. Am 24. April wurde ein geheimes Militärabkommen unterzeichnet, das die Bedingungen der ungleichen Freundschaft präzisierte. Es wurde erwartet, dass die Besetzung der Ukraine Petljuras – großspurig Divisionen genannten – Einheiten Zulauf verschaffen würde. Petljura zählte auf die Errichtung eines ukrainischen Staates unter seiner Führung. Das war in etwa so, als hätte ein polnischer Politiker 1918 den Vertrag von Brest-Litowsk in der Hoffnung unterzeichnet, dass er damit die Macht in Warschau gewinnen werde. Doch so dumm war kein polnischer Politiker. Für die große Mehrheit der Ukrainer, die sich überhaupt für diese Fragen interessierten (eine Minderheit der nicht ganz existierenden Nation), kam die Abtretung Ostgaliziens und eines Teils von Wolhynien einem Verrat durch Petljura gleich. Am Tag darauf begann die polnische Offensive. Am 26. April veröffentlichte Piłsudski einen Appell an das ukrainische Volk: An alle Einwohner der Ukraine! Die Armee der Republik Polen ist auf meinen Befehl weit auf das Gebiet der Ukraine vorgerückt. Der Bevölkerung dieser Gebiete gebe ich bekannt, dass die polnischen Truppen die fremden Invasoren, gegen die sich das ukraini112

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sche Volk zum Schutz ihrer Ansiedlungen vor Gewalt, Raub und Plünderung mit der Waffe in der Hand erhob, aus den von der ukrainischen Nation bewohnten Gebieten entfernen wird. Die polnischen Truppen werden so lange in der Ukraine bleiben, bis eine rechtmäßige ukrainische Regierung diese Gebiete übernehmen kann. Sobald der Nationalrat der Ukrainischen Republik eine Staatsregierung beruft, sobald an den Grenzen Streitkräfte des ukrainischen Volkes stehen werden, die das Land vor einem neuen Überfall zu schützen vermögen, und sobald die freie Nation fähig sein wird, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden – hat die polnische Armee die ehrenvolle Aufgabe des Kampfes für die Freiheit der Völker erfüllt und wird in die Grenzen der Republik Polen zurückkehren. Gemeinsam mit den polnischen Truppen kehren unter der Führung des Obersten Atamans Symon Petljura die Reihen der tapferen Söhne des Landes in die Ukraine zurück, die in den Tagen der schwersten Prüfung für das ukrainische Volk in der Republik Polen Zuflucht und Hilfe fanden. Ich glaube daran, dass die ukrainische Nation alle Kräfte aufbieten wird, um mit der Hilfe der Republik Polen die eigene Freiheit zu erkämpfen und der fruchtbaren Erde ihres Heimatlandes Glück und Wohlstand zu sichern, an dem ich mich nach der Rückkehr zur Arbeit und zum Frieden erfreuen werde. Die Truppen der Republik Polen werden allen Einwohnern der Ukraine ohne Unterschied des Standes, der Herkunft und der Religion Schutz und Obhut gewähren. Ich rufe die ukrainische Nation und alle Bewohner dieser Gebiete dazu auf, dass sie geduldig die Lasten tragen, welche die schwere Zeit des Krieges ihnen auferlegt, und die Armee der Republik Polen, so gut es in ihrer Kraft steht, im blutigen Kampf für ihr eigenes Leben und ihre eigene Freiheit unterstützen.38 Der Appell erwies sich als genauso wirksam wie ein Jahr zuvor die Ansprache an die Bevölkerung des Großfürstentums Litauen oder der in der Literatur zu Recht übergangene Aufruf an die Weißrussen. Niemand interessierte sich dafür. Die Polen wurden als „Herren“ gesehen. Die Angst vor der Wiedereinführung der Leibeigenschaft und der Rückforderung des Landes aus dem großen Grund113

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vermögen, das die Bauern bereits unter sich aufgeteilt hatten, waren letztlich größer als die Angst vor den Bolschewiki. Der junge französische Verbindungsoffizier Charles de Gaulle verstand die Ursachen ebenso gut wie seine Kollegen aus der II. Abteilung des Generalstabs der polnischen Armee, die mehrfach mahnten, man dürfe nicht auf die Unterstützung des ukrainischen Dorfes hoffen: Wenn ein Soldat nach Wasser oder nach dem Weg fragt, antwortet der Ruthene langsam, mit gleichgültiger Miene. Von Lemberg bis zur Wolga ist der Bauer – der zu viel gelitten, der Familie und Habe verlor – in sich verschlossen und trachtet nur darauf, die Requisition der letzten Hühner, des letzten Ferkels oder das alten Pferdes, die ihm noch blieben, zu verhindern […]. In tiefster Seele des Landwirts wohnt nur ein Gefühl: Hass gegen den Soldaten, gleich, ob er Lenin, Petljura, Denikin oder Piłsudski dient. Dieselben Städte erhoben sich nacheinander gegen jeden. In denselben Wäldern wurden einzelne Bolschewiki, Polen und Russen, gefoltert und massakriert.39 Ähnliche Eindrücke notierte der nationaldemokratische Gutsbesitzer Juliusz Zdanowski, ein entschiedener Gegner Piłsudskis, in einem Tagebucheintrag vom 28. April, als sich polnische Einheiten fast im Tempo des deutschen Eisenbahnfeldzugs zwei Jahre zuvor nach Osten bewegten: Die Würfel sind gefallen, doch es wird einem angst und bange. Dieser Appell [Piłsudskis] erinnert sehr an den 5. November [1916] und Petljura an unsere Ronikiers [ein Symbol der Nachgiebigkeit gegenüber Deutschland]. Wir versuchen denselben Betrug, der den Deutschen bei uns fast geglückt wäre, in Bezug auf den Osten aber komplett gescheitert ist. Wir verlängern unsere Front. Mit einer Handvoll Einheiten wollen wir ein wildes, feindliches, bewaffnetes und anarchistisches Volk befreien. Auf diesem Territorium grassiert das schreckliche Fleckfieber, das wir schon an der festen Front nicht aufhalten konnten. Und der Bauer behandelt jeden, der etwas von ihm will, als Banditen, weil er andere Konzepte als Raub nicht versteht.40 Kaum anders präsentierte sich die Situation aus der Sicht eines gewöhnlichen Feldwebels, Jerzy Konrad Maciejewskis. Er nahm an zahlreichen Requisitionen teil und sah, wie ein Teil der konfiszierten Güter in die Quartiermeisterei wanderte und der Rest in den Tornistern der Soldaten verschwand. Als seine Kompanie die ehemalige habsburgisch-russische Grenze überschritt, traf sie im ersten Dorf „auf einige Hochzeiten, die schnell endeten, weil die Bevölkerung die Polen fürchtet“. Nach Medschybisch gelangte Maciejewskis Einheit mit dem 114

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zweiten Schwung. „Das 40. Infanterieregiment der Lemberger Schützen war früher in das Städtchen einmarschiert, daher waren alle Läden auf dem Markt schon geplündert. Die Vierziger hatten die Taschen und Brotbeutel voll mit Zucker, Bonbons, getrockneten Pflaumen, Äpfeln etc. Die 2. Kompanie besetzte eine geräumige Wohnung im ersten Stock bei einem reichen Kaufmann, einem Juden. Alles war schon geplündert worden. Als wir eintrafen, schlugen gerade zwei Galiläer [Galizier] aus dem 40. Infanterieregiment mit den Gewehrkolben Fensterscheiben ein – con amore. Wir verjagten sie auf der Stelle.“ Anschließend gingen die Soldaten der 2. Kompanie selbst auf die Suche nach Nahrungsmitteln. Sie fanden einiges. Die Vierziger beneideten sie um ihre Beute. Es entspann sich ein Streit, dann eine Schlägerei, bald griffen die Soldaten zu den ­Waffen. Herbeigeeilte Offiziere trennten die beiden Gruppen. Der Feldwebel resümierte: „Die Zivilisten konnten eine hohe Meinung von uns haben: Banditen, Diebe, und außerdem schlagen sie sich untereinander. Nach den ersten ­Tagen unserer Herrschaft hieß es, die Polen seien sogar schlimmer als die ­Bolschewiki.“41 Der nationaldemokratische Intellektuelle und der Feldwebel stimmten in einem weiteren Punkt überein. Piłsudski glaube, so Zdanowski, dass die Bolschewiki ohnehin einen Angriff auf Polen planten, also müsse man ihnen zuvorkommen. „Wenn wir daher vorangehen müssen, bleibt uns nur, nach dem Strohhalm zu greifen, und sei es Petljura. Besser einen solchen Verbündeten als keinen. Aber es ist genau derselbe Versuch, den schon die Deutschen unternahmen.“ Die ukrainische Offensive sei zum Scheitern verurteilt: … hunderttausende Quadratkilometer einzunehmen ohne Möglichkeit, sie zu besetzen, ist ein seltsam abenteuerliches Unterfangen und Petljuras Hilfe bietet nicht die geringste Garantie, dass sich mit den Ukrainern ein Front­ab­ schnitt besetzten ließe; und es ist nicht möglich, einen Pakt mit ihm zu schließen und ihn abseits der Front auf einem ihm bestimmten Territorium zurückzulassen […], ein Angriff ändert nichts daran. Den zurückweichenden Feind wird er nicht zum Frieden zwingen, er verlängert unsere Front um viele Kilo­ meter, entfernt diese Front bei schon unmöglichen Kommunikationsbedin­ gungen und stellt sie vor unüberwindliche Probleme. Petljura wird die Etapp­e nicht sichern. Es gibt die Ukrainer nicht. Man kann nicht auf eine Nation zählen, mit der einen nur die gemeinsame Tradition des Kolijiwschtschyna-­ Aufstands42 verbindet und der man ausgerechnet den Teil ihres Territoriums nicht zurückgeben will, in dem die einzige etwas gebildetere und mit diesem Territorium (scil. Ostgalizien) verbundene Gesellschaft existiert […]. Man 115

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kann nicht immer und überall Wunder verlangen und das Risiko übersteigt alle denkbaren Aussichten auf einen guten Ausgang […]. Die Bauern verkaufen nichts, sondern tauschen nur, wofür uns die Tauschware fehlt, und laut sagen sie, sie wären schon der zaristischen, des Hetmanats und der bolschewistischen Mobilisierung entkommen, also seien sie auch weiter dazu imstande.43 Der Feldwebel Maciejewski fasste die Sache direkter: „Warum dieser Krieg? Gewinnen wir die Kresy zurück? Aber in diesen ‚Kresy’ sind doch 80 Prozent der Bevölkerung Ruthenen, Juden oder Russen, das heißt – Feinde. Wenn ich nicht Soldat wäre, würde ich Anarchist.“44 Der Nationaldemokrat und der Feldwebel bildeten im ersten Kriegsmonat eine Ausnahme. Kaum jemand sonst bewahrte sich einen derart klaren Kopf. Die polnische Armee griff die Rote Armee auf einer Frontlänge von 450 Kilometern an, mit überwältigendem Erfolg. Beide bolschewistische „Armeen“ (die Bezeichnung ist noch willkürlicher als im Fall von Petljuras Divisionen; in Wirklichkeit zählte eine so viele Soldaten wie eine Division, die zweite hatte die Stärke einer Brigade) wurden zerschlagen, generell wichen die Bolschewiki aber überall zurück oder – eher – flohen. Am 6. Mai rückten die Reste der Roten Armee aus Kiew ab, am Tag darauf besetzten die Polen kampflos die Hauptstadt der Ukraine. Die Avantgarde soll mit der Straßenbahn in die Stadt eingerückt sein. Norman Davies rechnet vor, dass es sich um den fünfzehnten Machtwechsel in Kiew seit dem Frühjahr 1917 handelte. Charles de Gaulle kam auf 18. 45 Die Kiewer verhielten sich in dieser Situation ebenso indifferent wie die Bauern. Sie warteten. Trotz des spektakulären Erfolgs war Piłsudski wütend. An Kazimierz Sos­ nowski schrieb er: Diese Bestien flüchten, statt Kiew zu verteidigen […]. Überall, in der ganzen Ukraine gibt es Aufstände gegen sie. Die Einnahme von Kiew ist nicht einmal eine militärische Notwendigkeit, sondern ein Signal und ein politisches Symbol. Doch […] mit dieser räuberischen Armee durch die mit den Roten sympathisierenden Aufstände zu ziehen, ist politisch und militärisch absurd. Das will ich nicht zulassen. Ich stoppe also nach der Einnahme von Kiew die Front und möchte mit Odessa das politische Symbol vollenden. Ich möchte es durch die Ukrainer selbst tun, indem ich ihnen eine gewisse Unterstützung gebe.46 116

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De Gaulle in Polen Der 26-jährige Oberleutnant geriet 1916 bei Verdun schwer verwundet in deutsche Gefangenschaft. Die Deutschen versorgten ihn und steckten ihn in ein Kriegsgefangenenlager. Er versuchte fünfmal auszubrechen. Als er im Dezember 1918 nach Hause zurückkehrte, sah er, dass andere aufgestiegen waren, während seine Karriere stagnierte. Beschleunigen konnte sie nur die Teilnahme an einem neuen Krieg – doch Frankreich führte keinen. Es unterhielt aber einzelne Einheiten und Missionen im Ausland. De Gaulle entscheidet sich für die einige Hundert Personen starke Mission in Polen. Als Ordonnanz wird ihm ein Pole aus dem Posener Land [z poznańskiego] zugeteilt, der ihn an der Westfront als deutscher Soldat hätte töten können: Die Stellungen ihrer Regimenter lagen, wie sie herausfanden, einander gegenüber. Sie unterhielten sich auf Deutsch. Am 25. April 1919 traf er in der nacheinander von „Russen, Boches und Juden“ geplünderten Festung Modlin ein. Neben den fehlenden Möbeln fielen im einige andere Dinge auf. Angeblich sollte der Sommer hier Mitte Mai den Winter ablösen. Vorerst war es kalt. Das Land war schrecklich zerstört. Die Teuerung unglaublich. Es gab alles zu kaufen, von Fleisch bis Butter, aber zu französischen Preisen. Von den Preisen für Schuhe ganz zu schweigen. Das Wichtigste: Die Polen hatten drei Jahrgänge zu den Waffen gerufen und eine Streitmacht von anderthalb Millionen Soldaten aufgestellt, der sich die aus Frankreich kommende, gut bewaffnete und von französischen Offizieren geführte Haller-Armee anschließen sollte. Sobald sie eintreffen würde, würden die Polen eine große Offensive gegen die Bolschewiki starten; daran zweifelte niemand. Man versicherte dem Franzosen, der polnische Offiziere schulen sollte, diese würden spätestens in zehn Tagen eintreffen, dann könne er mit der Arbeit beginnen. Sie trafen weder nach zehn Tagen noch nach einem Monat ein. De Gaulle wurde schnell klar, worin die Besonderheit der polnischen Armee bestand: Die Offiziere aus den drei Teilungsgebieten bildeten eine heterogene Masse, aus der man erst eine Einheit schaffen musste. Piłsudski und Haller hassten sich („Piłsudski will Haller nicht einmal im Spiegel sehen – und umgekehrt“). Das alles nahmen die französischen Offiziere der Blauen Armee als schlechtes Vorzeichen. So sehr die Situation der polnischen Armee, die sich tatsächlich gerade erst aus unterschiedlichen Elementen herausbildete, leicht zu verstehen war – obwohl sicher die wenigsten französischen Offiziere auf solche Dinge achte117

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ten –, so sehr irritierten de Gaulle das Mittelmaß, die Rückständigkeit und die Sorglosigkeit seiner Gastgeber und ihrer Institutionen. Nach einem untätigen Monat in Modlin schrieb er in die Heimat: Liebste Mama, ich habe noch keine Nachricht von Dir! Die hiesige Post existiert nicht, wie übrigens auch alles andere. Es muss wortwörtlich alles von Grund auf geschaffen werden. Die Russen haben, seit sie dieses Land besetzten, die Polen sorgfältig daran gehindert, in Handel, Industrie, Verwaltung oder Militär etwas aufzubauen. Diese Menschen, die sich selbst überlassen wurden, sind in nichts gut, doch das Schlimmste ist, dass sie sich in allem für hervorragend halten. Es wird uns viel Anstrengung kosten, ihren Staat wiederaufzubauen. Die Sache ist für uns aber so wichtig, dass sie das Risiko lohnt. Warschau ist eine charakterlose Stadt ohne besondere Eigenschaften, doch trotz allem recht angenehm und lebendig, voll von mehr oder weniger herausgeputzten Menschen – aus Russland, Weißrussland, Litauen –, deren Land von den Bolschewiki besetzt wurde und die bei allem Unglück Freude in der Unterhaltung finden. Die Warschauer Adelsfamilien, deren Vermögen unter den jüngsten Bodenreformen, dem Krieg und übertriebenem Luxus gelitten haben, helfen ihnen nach besten Kräften und versuchen, ihnen nachzueifern. Alle sind übrigens sehr höflich und bewirten uns besser, als es uns lieb ist. Alles ist sehr teuer – ungefähr dreimal teurer als in Paris –, doch die bessere Gesellschaft verzichtet auf nichts. Die Stadt ist voll von Armen, ungefähr 500 000. Wir fragen uns, wovon diese Menschen leben, da hier weder Fabriken arbeiten noch der Handel funktioniert und auch keine Bauarbeiten durchgeführt werden. Genau in der Mitte befinden sich die zahllosen, von allen sozialen Klassen abgrundtief gehassten [Juden47]. Sie haben sich am Krieg auf Kosten der Russen, Boches und Polen bereichert. Als Anhänger der Sozialrevolution haben sie viel Geld für gemeine Taten angehäuft.48 Anfang Juni trafen endlich die polnischen Teilnehmer des Offizierslehrgangs ein, der schon einen Monat zuvor hätte beginnen sollen. Von nun an besserte sich de Gaulles Stimmung. Die jungen Polen nahmen den Kurs offensichtlich ernst und erwiesen sich als dankbare Schüler. Im Verlauf von mehr als einem halben Jahr schulte de Gaulle 200 Offiziere. Im Herbst schrieb er, es sei ihm 118

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wohl gelungen, die anfangs bestehenden Vorbehalte gegenüber den Franzosen etwas abzubauen. Ein Jahr später, während des Polnisch-Sowjetischen Krieges, sollte er auf seine Schüler und sich stolz sein. Die Kurse fanden in der Militärbasis in Rembertów statt. Dort gab es den vermutlich letzten Missklang. Am 18. Juli ging de Gaulle zum Abendessen. Bei der Rückkehr fand er sein Zimmer geplündert. Die Diebe hatten alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war, darunter zwei Paar Schuhe und die Kleidung, vor allem aber 2000 Mark, also fast einen ganzen Monatssold. Die herbeigerufene Gendarmeriepatrouille versprach, Ermittlungen einzuleiten. De Gaulle glaubte nicht, dass die Täter je ermittelt würden. Er begriff nicht, wie es zu einem Einbruch in eine Militärbasis kommen konnte, und zugleich war ihm klar, dass die Chance, in einer solchen Ansammlung von Menschen die Diebe zu finden, verschwindend gering war. „Ich fühle mich gedemütigt, bin wütend und fassungslos“, schrieb er tags darauf seiner Mutter. De Gaulle unterrichtete bis März 1920, von Dezember 1919 an als Leiter der Lehrgänge. Er fand auch die Zeit, seinen französischen Kollegen einen langen, gelehrten Vortrag über die Geschichte Polens zu halten. Darin ließ er deutliche Sympathie für Polen erkennen, dem ein angemessener Platz auf der Landkarte gebühre. Zudem sei die französische Politik gegenüber Deutschland und Russland ohne ein Bündnis mit Polen unvollständig. Im April 1920 reiste de Gaulle zufrieden ab, nicht zuletzt wegen der großen Anerkennung, die er sich bei den Vorgesetzten erworben hatte. Sein Projekt einer restauration militaire, also des Aufholens des durch die zweieinhalbjährige Kriegsgefangenschaft verursachten Karriererückstands, erwies sich als gelungene Investition. Es wäre nicht verwunderlich, wenn er geahnt hätte, dass er als Polenexperte schon drei Monate später an der Weichsel unersetzlich sein würde.

Piłsudskis Verhalten im Mai 1920 ist ebenso unerklärlich wie in anderen kritischen Momenten seines Lebens.49 Einerseits war ihm bekannt, was der Feldwebel Maciejewski täglich in der Praxis erlebte („die räuberische Armee“). Insbesondere klagte er über die von den Nationaldemokraten bewunderten, gut aus­gebildeten und bewaffneten Einheiten aus Großpolen: „Ach, diese Posener Regimenter. Stellt euch vor, in Berdytschew haben sie unsere Kriegsbeute geplündert – dabei haben sie Autoreifen und Stiefel beschädigt und eine Menge Werkstattmaterial und Medikamente zerstört. Wahrlich, mit solchen Lumpen ist 119

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kein Krieg zu führen; man berichtet mir schon, der Streifen, durch den sie ziehen, sei bereit zu einem Aufstand gegen uns.“ Die bekannteste Eigenschaft der Posener Polen erwähnte er nicht, doch jeder kannte sie: Die Posener Regimenter zeichneten sich auch durch ihren Antisemitismus aus. Woher in den Soldaten aus śrem oder Gnesen, wo man kaum einem Juden begegnete, der Hass auf die „Alttestamentarischen“ kam, ist bis heute ungeklärt. Piłsudski wusste, dass in der Ukraine der Krieg im Kontext sich überlagernder sozialer und ethnischer Konflikte stand. Am 12. Mai untersagte er den Grundbesitzern die Rückkehr auf ihre ehemaligen Landgüter in der Ukraine. Damit schützte er Petljura. Zugleich überschätzte er ihn ungerechtfertigterweise. Die Idee einer ukrainischen Offensive gegen Odessa erwies sich als Hirngespinst. Zdanowski behielt recht: Petljuras Ukrainer schlugen sich vereinzelt wacker, doch sie bildeten zu keinem Zeitpunkt eine kritische Masse. Im Kampf gegen die Bolschewiki waren die Polen auf sich gestellt. Unterdessen herrschte in Warschau eine erhabene Stimmung. Der Vor­ sitzende der Verfassunggebenden Nationalversammlung, der Nationalde­mo­ krat Wojciech Trąmpczyński, verkündete bereits am 4. Mai in einer feierlichen Rede, nun erfüllte sich Adam Mickiewiczs Prophezeiung („Wenn unsre Adler im blitzschnellen Fluge/auf Chrobrys alter Grenze endlich ruhen“), und die ­Ab­geordneten verabschiedeten per Akklamation folgende Resolution: „Die ­Nachricht von dem großartigen Sieg, den der polnische Soldat unter deiner Führung errang, Kommandeur, erfüllt die ganze polnische Nation mit freudigem Stolz. Für die blutige und heldenhafte Anstrengung, der uns dem Frieden näher bringt und ein neues Fundament unter die Macht des polnischen Staates legt – sendet im Namen des dankbaren Vaterlandes die Nationalversammlung dir, Oberster Befehlshaber, und der heldenhaften Armee herzliche Dankes­ worte.“50 Piłsudskis Rückkehr nach Warschau zwei Wochen später erinnerte an den Triumphzug eines römischen Heerführers nach einem gewonnenen Krieg. Vor der Alexanderkirche wurde der frischgebackene Marschall vom Klerus und vom Vorsitzenden der Nationalversammlung begrüßt. Der Feldbischof der polnischen Armee stimmte das Tedeum an. Junge Männer spannten die Pferde aus und zogen den Wagen des bewunderten Führers bis zum Belvedere. Am Abend erschien Piłsudski in der Nationalversammlung. Der betreffende Stenogramm­auszug zeigt den Enthusiasmus und die Hoffnung auf die Vollendung der geschichtlichen Mission im Osten: 120

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Vorsitzender: Meine Herren, der Staatschef ist eingetroffen. (Der Staatschef zeigt sich in der Loge. Die Delegierten erheben sich und begrüßen ihn mit lang andauerndem, kräftigem Beifall). Herr Staatschef! Im Namen der gesamten Nationalversammlung begrüße ich dich, Oberster Befehlshaber, nach der Rückkehr vom Pfade Bolesławs des Tapferen. Seit Kirchholm und Chocim hat die polnische Nation keinen solchen Triumph seines Heeres erlebt. Doch nicht der Sieg über einen unterlegenen Feind, nicht der Nationalstolz lässt unsere Herzen höherschlagen. Die Geschichte hat noch kein Land ge­ sehen, dass unter so schweren Bedingungen wie wir für seine Staatlichkeit kämpfte. In diesem Augenblick gab dein siegreicher Marsch auf Kiew der Nation das Gefühl der eigenen Kraft, stärkte ihren Glauben an die eigene Zukunft, kräftigte ihren Geist und schuf vor allem die Voraussetzungen für einen günstigen und dauerhaften Frieden, den wir alle so sehr ersehnen. Durch die militärische Tat hast du nicht nur die Kraft des polnischen Armes bezeugt, sondern auch die beste Sehnsucht der Nation befreit und zum Banner gemacht: ihre Ritterlichkeit im Dienst der Freiheit der Völker („Bravo“-Rufe). Vergeblich zählten unsere Feinde auf die politischen Unter­schiede in Polen. Ganz Polen ist vereint im Wunsch, dass die Bevölkerung, die heute durch unsere Armee befreit wurde, selbst über ihr Schicksal entscheide, über die Form ihres Staates, über die Form ihrer Regierung. („Bravo“-Rufe). Auf ihren Bayo­ netten bringt unsere Armee dieser unterdrückten Bevölkerung die Freiheit, się bringt Frieden den Friedensliebenden Menschen vor Ort („Bravo“-Rufe). In dir, Oberster Führer, sehen wir ohne Parteiunterschiede das Symbol unserer geliebten Armee, einer Armee von einer Stärke, die unsere Nation selbst in ihren glänzendsten Zeiten nicht besaß. Die Siege, die unsere Armee unter deiner Führung errang, werden das Schicksal Polens nicht nur in unserem Osten beeinflussen. 121

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Heute weiß und sieht die ganze Welt: Polen ist nicht mehr wehrlos. Ein Hoch dem Obersten Führer und der polnischen Armee! (Langer Beifall aller Fraktionen und „Hoch!“-Rufe).51 Die Euphorie der Abgeordneten korrespondierte mit der Stimmung in den Warschauer Straßen, zumindest in den intellektuell-bürgerlichen Vierteln. Der nicht zu Übertreibungen neigende linker Agrarier Maciej Rataj erinnerte sich: „[…] die Gedanken und Herzen waren beim polnischen Soldaten, der auf den Spuren der Bolesławs nach Kiew marschierte oder, wie es schien, von Flügeln getragen flog. […] Die Menschen waren wie berauscht vom Triumph und von der ­Begeisterung.“52 Hier stoßen wir auf die erste von drei dunkeln Wolken, die im Mai schon ­deutlich sichtbar am Horizont standen, vom Stolz über den vermeintlich epochalen Sieg aber aus dem Bewusstsein verdrängt wurden. Wie wir im ersten Band von „Der vergessene Weltkrieg“ gezeigt haben, lässt sich der sorgsam gehegte Mythos vom der Kriegsbegeisterung der Völker im Sommer 1914 nach jahrzehntelanger Forschung nicht mehr aufrechterhalten. Für den Krieg demonstrierten damals vor allem Großstädter und Studenten. In Arbeitervierteln und -städten, ganz zu schweigen vom Land, herrschte deutlich weniger Enthusiasmus. Nicht anders – oder noch ambivalenter – war die Stimmung sechs Jahre später in Polen. Gegen die Expedition nach Kiew war – was auf der Hand lag – die Kommunistische Arbeiterpartei Polens (KPRP), aber auch ein Teil der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS), der Bund, die Fraktion der jüdischen Abgeordneten in der Nationalversammlung, die ukrainischen Bauern in Ostgalizien (diese hätten auch ohne einen neuen Krieg die Herrschaft Warschaus nicht akzeptiert) sowie ein Teil der Juden. Vor allem aber versuchten die polnischen Bauern massenhaft, dem Wehrdienst zu entgehen: Im Mai 1920, als man in Warschau den Erfolg der Kiew-Expedition feierte, reagierten 40 Prozent der wehrfähigen Männer nicht auf den Mobilisierungsbefehl. Die Anzahl der von der Gendarmerie festgenommenen Deserteure und versteckten Rekruten ging auf Kreisebene in die Hunderte, in größeren Gebieten in die Tausende.53 Es ist schwer vorstellbar, dass die Mehrheit von ihnen der kommunistischen Propaganda glaubte; die Situation ­erinnerte eher an die baltischen Länder vor der Bekanntmachung von Boden­ reformen. Die zweite Wolke ballte sich im Westen zusammen. Nur Frankreich unterstützte die Kiew-Expedition, indem es der polnischen Armee rund 1000 Offiziere und mehr als 2000 Unteroffiziere und Rekruten sowie reichlich Waffen und 122

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anderes Kriegsmaterial zur Verfügung stellte. Überall sonst wurde Polen von der Linken bis zur Rechten der Aggression gegen „Russland“ beschuldigt. Ein linkes, von Labour Party und Gewerkschaften gegründetes Antikriegskomitee in Großbritannien nannte sich schlicht und einfach „Hands Off Russia“. Die tschechischen und slowakischen Eisenbahner traten in einen Streik. Londoner und Danziger Hafenarbeiter taten alles, damit Lieferungen aus Großbritannien und Frankreich so spät wie möglich in Polen eintrafen. In Danzig entluden die Franzosen unter dem Schutz der Kanonen ihrer Kriegsschiffe ihre Ausrüstung letztlich selbst. Die dritte Wolke, die man in Warschau ausblendete, ballte sich in Russland zusammen. Wohl niemand begriff, wie sehr die polnische Offensive der bolschewistischen Propaganda in die Hände spielte. Die Geschichte wurde schon oft beschrieben; die Einnahme Kiews wurde für die überwältigende Mehrheit der Russen zum Symbol der Bedrohung oder gar Demütigung. Das Gespenst der Rückkehr der „polnischen Herren“ bot ideales Propagandamaterial auch zur Mobilisierung der Ukrainer. Wladimir Majakowski brachte es in einem Plakat für die Russische Telegrafenagentur auf den Punkt: „Ukrainer und Russen verbinden sich in einem Schrei: Der Herr soll nie wieder über dem Arbeiter stehen.“54 Tausende meldeten sich nun zur Roten Armee. Sogar der einzige siegreiche zaristische Kommandeur an der Ostfront, General Aleksei Aleksejewitsch Brussilow, trat ihr demonstrativ bei: Das Vaterland war in Not, also war keine Zeit für innere Konflikte. Binnen einem Monat vervielfachten und reorganisierten die Bolschewiki ihre Streitkräfte, deren größten Teil sie im Norden einsetzten. In den ersten Wochen errangen sie keine großen Erfolge, doch sie zwangen die Polen dazu, einen Teil ihrer Kräfte von der Süd- an die Nordfront zu verlegen. Am 26. Mai begannen sie im Süden eine Offensive. Angst und Schrecken verbreitete vor allem Semjon ­Budjonnys Reiterarmee, die immer wieder im Rücken der polnischen Truppen auftauchte. Angesichts der drohenden Einkreisung zogen sich die Polen am 10. Juni nach nicht ganz fünf Wochen aus Kiew zurück. Auf der ganzen Länge der Front begann ein großer Rückzug, der mehrfach zur Flucht wurde. Die beste Beschreibung dieser Wochen lieferte der heute vergessene Stanisław Rembek in seinem pazifistisch-expressionistischen Roman Na polu (Im Felde, 1937). Vor dem Zweiten Weltkrieg wurde er nur von einigen wenigen prominenten Intellektuellen wahrgenommen, nach 1945 konnte von ­einer Neuauflage nicht die Rede sein, weil das Thema und seine Gestaltung nicht einmal in den liberalsten Phasen der kommunistischen Geschichtspolitik ent123

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sprachen. Als Veteran des Kriegs von 1920 wusste Rembek, wovon er schreibt. Er schildert die Niederlage des Sommers aus der Sicht von Rekruten und Unter­ offizieren, gelegentlich auch von Unter- oder Oberleutnants. Höhere Chargen kommen im Roman nur sporadisch vor. Der Kollektivheld ist eine Schützen­ kompanie. Bei Beginn der bolschewistischen Offensive zählt sie 60 Soldaten, Unteroffiziere und jüngere Offiziere. Wir ersparen dem Leser Zitate der Beschreibungen von herausquellenden Eingeweiden und Gehirnen, zermalmten oder abgeschnittenen Gliedmaßen, von Selbstmorden und getöteten Kriegsgefangenen oder von Körpern, die von Geschossen so zerfetzt wurden, dass man nicht wusste, wie man sie bestatten soll. Rembek ging sogar noch weiter: Am Ende seines Romans lässt er auch die letzten Soldaten sterben, die nach den zahlreichen Niederlagen noch übrig sind. Die Kompanie wird nicht dezimiert. Sie wird ausgelöscht. Rembek, dessen Roman Kenner mit Erich Maria Remarques acht Jahre zuvor erschienenem Werk Im Westen nichts Neues vergleichen, zeichnete ein schockierendes, gleichwohl aber grundlegend falsches Bild. Der Polnisch-Sowjetische Krieg erinnerte in nichts an Verdun, wo tatsächlich nicht nur Kompanien, sondern ganze Regimenter innerhalb weniger Stunden vernichtet wurden. Im Osten war die Lage anders: Auf einen Kilometer (sofern man ihn überhaupt bestimmen konnte) kam ein winziger Prozentsatz der Geschütze, Mörser und schweren MGs, die in Belgien, Frankreich oder am Isonzo eingesetzt wurden. Die Truppen bewegten sich in atemberaubendem Tempo hin und zurück. Den Veteranen der Westfront war diese Art der Kriegsführung unbegreiflich. Umso besser verstand dafür Charles de Gaulle den Oberleutnant der polnischen Armee, der als preußischer Soldat einst sein Feind war, als dieser über die „kindischen Kämpfe hier“ klagte: „Das ist kein Krieg, Herr Major! Es gibt keine Toten! Die Divisionen rücken vor oder weichen zurück! Aber niemand weiß warum!“ Er selbst kommentierte den Krieg im Osten mit dem Blick des Experten noch bissiger: Eine kleine Zahl von Soldaten befindet sich an einer zu weit auseinandergezogenen Linie. Es gibt keine organisierten Stellungen, keine Reserven. Aufseiten des Feindes dasselbe Bild. Wenn eine Partei vorrückt, findet sie immer riesige Löcher zwischen den Gruppen der Verteidiger, durch die sie hindurchdringt. Dann beginnt für die Verteidiger der Rückzug – bis ihr Kommandeur beschließt, seine Kräfte neu zu gruppieren, sie auf Angriff einzustellen und loszustürmen. Dann flieht die eben noch angreifende Partei und so geht es hin und her. Das ist das Geheimnis der erstaunlichen Vor- und Rück­wärts­be­we­ gungen der Bolschewiki und der Polen […]. Sie folgen dem Prinzip der russi124

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schen Romane, von denen man immer meint, jetzt müssten sie enden, und unterdessen fangen sie von vorn an. Ein Frontaufenthalt im Stab der 3. Infanteriedivision bestätigte diesen Eindruck: Ach. Keine große Sache, eine Division, die einsam operiert. 3000 Kämpfende, verstreut auf 40 Quadratkilometer. Für die Kommunikation: weder Telefon noch Drahtlostelegraf noch optische Geräte. Jeder geht auf gut Glück in die Richtung, die ihm befohlen wurde, und am Abend suchen alle sich gegenseitig; man weiß ja auch, auf unserem Boden, in einem slawischen Land, wird sich am Ende alle irgendwie fügen.55 Zur Erinnerung: De Gaulle schrieb über den größten Krieg im Osten nach 1918, in dem (abgesehen vom russischen Bürgerkrieg) mehr Soldaten kämpften als in allen anderen Kriegen zusammen. In der schon angesprochenen legendären Schlacht von Wenden (Cēsis) verzeichneten die Sieger 450 Tote. Im Sommer 1920 verloren beide Armeen täglich weitaus mehr Soldaten. Wie viele Deserteure darunter waren, lässt sich nicht mehr feststellen. Rembek übertrieb, de Gaulle untertrieb. Die Verluste der polnischen Armee während des großen Rückzugs im Sommer waren deutlich höher als die der ­Roten Armee im Frühjahr 1920. Im Norden begann die echte Offensive der Armeegruppe von General Michail Tuchatschewski am 4. Juli. Innerhalb von acht Tagen wichen die Polen 200(!) Kilometer zurück und verloren über 50 Prozent ihrer Ausgangsstärke. Sie konnten keinen ihrer Verteidigungspläne umsetzen. Ehe sie die einst deutschen Stellungen von 1915–17 besetzten konnten, war Gaik Bschischkjan schon in ihrem Rücken. Wilna, Grodno, Białystok und die Festung Osowiec mussten noch im Juli aufgegeben werden. Ehe die polnischen Hauptstreitkräfte die Festung Brest erreichten, war diese schon in bolschewistischer Hand. Am 10. August gab Tuchatschewski den Befehl zum Angriff auf Warschau. Im Norden drangen die Bolschewiki bis an die Grenze des früheren preußischen Teilungsgebiets vor. Thorn war zum Greifen nah. Am Rand ihrer militärischen Erfolgte – von Minsk nach Warschau benötigte sie genau einen Monat – beging die Rote Armee exakt dieselben Fehler wie die Polen während ihrer sogenannten Kiew-Expedition einige Wochen zuvor. Erstens verlängerte sie den Abstand zwischen den kämpfenden Truppen und ihren Versorgungsbasen auf mehrere Hundert Kilometer. Zweitens ließ sie sich von ihren Erfolgen täuschen: Die Unterstützung durch die Bevölkerung der erober125

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ten Gebiete schien ihr selbstverständlich. Erst später bekannte Lenin der deutschen Kommunistin Clara Zetkin: […] es ist in Polen gekommen, wie es gekommen ist, wie es vielleicht kommen mußte. Sie kennen doch alle die Umstände, die bewirkt haben, daß unsere tollkühne, siegessichere Vorhut keinen Nachschub von Truppenmassen und Munition und nicht einmal von genug trockenem Brot erhalten konnte. Sie mußte Brot und anderes Unentbehrliche bei den polnischen Bauern und Kleinbürgern requirieren. Und diese erblickten in den Rotarmisten Feinde, nicht Brüder und Befreier. Sie fühlten, dachten und handelten keineswegs sozial, revolutionär, sondern national, imperialistisch. Die Revolution in Polen, mit der wir gerechnet hatten, blieb aus. Die Bauern und Arbeiter, von den Pisudski- und Daszyński-Leuten beschwindelt, verteidigten ihre Klassen­ feinde, sie ließen unsere tapferen Rotarmisten verhungern, lockten sie in Hinterhalte und schlugen sie tot. […] alle Vorzüge Budjonnys und anderer revolutionärer Heerführer konnten […] unseren politischen Rechenfehler nicht ausgleichen.56 Lenins Ausführungen betrafen im Grunde einige weitere Fehler der Roten Armee. Hätte der Weg nach Warschau durch das Dombrowaer Kohlenbecken geführt, hätte man vielleicht mehr Anhänger für die Idee einer polnischen Räterepublik gewinnen können. Doch die Südwestfront, deren politischer Kommissar der schon erwähnte Josef Stalin war, rückte sehr viel langsamer voran als Tuchatschewskis Truppen und kam im Juli in der Nähe von Lemberg zum Stehen. Damit war die Nordwestfront, die sich zum Angriff auf Warschau anschickte und im Norden die Grenze des preußischen Teilungsgebiets überschritt, ebenso isoliert wie drei Monate zuvor die polnischen Divisionen in Kiew. Tuchatschewski war von der eigenen Logistik und den eigenen Reserven abgeschnitten, von lokalen Verbündeten, auf die man ganz offensichtlich in Moskau gezählt hatte, ganz zu schweigen. Weitere Fehler betrafen die Kriegsziele. Am 2. Juli gab Tuchatschews­ ki einen Befehl, der den Charakter des Kriegs veränderte. Es ging nun nicht mehr um die Verteidigung Russlands: Über „Polens Leiche“, so der General, führe der Weg zur Entfesselung der Revolution in Europa. Als die Alliierten auf der Konferenz von Spa im Versuch, zwischen Warschau und Moskau zu vermitteln, Polen extrem ungünstige Bedingungen aufzuzwingen versuchten, offenbarten die Bolschewiki ihre wahren Absichten. Sie wollten Polen nicht nur auf die Grenzen des „Weichselgebiets“ vor 1914 zurechtstutzen, sondern auch zu einem Vasallenstaat machen. Der internationale Status Polen wäre in etwa dem ungarischen ver126

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gleichbar gewesen, die Souveränität wäre de facto noch stärker eingeschränkt worden: So wäre die Stärke der Streitkräfte begrenzt worden, zudem hätte eine Bahnlinie auf dem Territorium der Republik Polen unter russische Verwaltung gestellt werden müssen. Ebenso erfolglos endete im Sommer 1920 der Versuch, eine alternative Regierung einzusetzen. Die polnischen Kommunisten konnten weder auf die Unterstützung der Bauern (über die Auseinandersetzung Lenins und Dserschinskis mit Marchlewski in der Agrarfrage schreiben wir an anderer Stelle57) noch auf die der sogenannten Arbeiterklasse hoffen. Eine offensichtlich auf die Bajonette der Roten Armee gestützte Regierung hatte keine Überlebenschance. Darum widmete auch Stefan Żeromski, dem wir die knappste und zugleich treffendste Schilderung dieses Experiments verdanken, dem sogenannten Provisorischen Polnischen Revolutionskomitee (Polrewkom) in seiner ohnehin kurzen Erzählung Na probostwie w Wyszkowie (In der Pfarrei von Wyszków, 1920) gerade einmal einen Abschnitt. Zudem gilt sein Interesse nicht der Vision einer bolschewistischen Regierung in Warschau, sondern der Bereitschaft der polnischen politischen Klasse zu Reformen, die zur Identifikation der Gesellschaft mit dem wiedererrichteten Staat beitragen, von dem Bauern und Arbeiter eine grundsätzliche Umverteilung des Besitzes erwarten; wieder handelt es sich um dasselbe Problem wie in Litauen oder in Rumänien. Die von gegenseitigem Misstrauen oder gar Hass erfüllte politische Klasse in Warschau bestand die Prüfung des Sommers 1920 – ebenso wie im November 1918 – erstaunlich gut. Der parteilose, den Nationaldemokraten nahestehende Experte Władysław Grabski übernahm die Verantwortung für das Fiasko in Spa. Er war von Piłsudski zum Abschuss freigegeben worden: Der Marschall und faktische Staatschef war den entscheidenden Verhandlungen mit den Alliierten ferngeblieben. Grabski hatte als Ministerpräsident keine große Wahl, doch er tat, was er konnte: Ein besseres Ergebnis war nicht zu erreichen. Er zog die Konsequenzen und trat zurück. Seine Klasse sollte er drei Jahre später bei der Reform der Staatfinanzen unter Beweis stellen, die ihm noch mehr Hass eintrug. Grabskis Nachfolger wurde – als Ministerpräsident der Regierung der nationalen Verteidigung – der „bäuerliche“ Politiker Wincenty Witos. Er hatte es leichter: Der Sejm spielte keine Rolle mehr, seine Rolle hatte der Nationale Verteidigungsrat übernommen. Dennoch wurde am 15. Juli 1920 – ohne Abstimmung! – ein Gesetz über die Durchführung der Bodenreform verabschiedet, eine leere Geste, mit der die politische Klasse das „Landvolk“ oder – wie Paderewski in seinem archaischen Polnisch formulierte – die „lieben Landleute und Redermacher“ für 127

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sich einnehmen wollte.58 Im schon zitierten Tagebuch Zdanowskis, dem Piłsudski, die Linke und die bäuerlichen Delegierten gleichermaßen verhasst waren und der auch die polnischen Grundbesitzer zutiefst verachtete, wird dieses Thema mit keinem Wort erwähnt. Von ebenso symbolischem Charakter war die Rekrutierung zur sogenannten Freiwilligenarmee. Zwar traten ihr 100 000 Polen bei, doch an der Front kam sie nicht zum Einsatz. Was zählte, war die Bereitschaft zum Kampf für die Unabhängigkeit. Als de Gaulle am 1. Juli nach Warschau zurückkehrte, war er leicht entsetzt über den Stimmungswandel, der sich in seiner Abwesenheit vollzogen hatte: „Welche Veränderung! Steht da nicht Angst in jedem Gesicht? Nie habe ich Furcht bei diesem stillen Volk erlebt; doch das ist schlimmer: Resignation. Sie habe ich oft bei den Slawen gesehen: Das Gefühl der Gefahr erregt sie nicht, es drückt sie nieder.“ Er sah in diesen ersten Julitagen Armut, Hunger und Niedergeschlagenheit. „Aber in den Straßen gibt es immer noch viele elegante Offiziere, die stolz ihre Säbel tragen. Auch die Frauen haben sich nicht abgedunkelt und ihrer Sommerkleidung Schwere verliehen. Niemand schreit, es gibt keine Unruhe in der Menge. Was soll das bedeuten? Ist es die Gelassenheit einer Gesellschaft, die sich ihrer Stärke und ihrer Bestimmung bewusst ist, oder die Resignation eines Volkes nach einer unglücklichen Vergangenheit, das keine Zeit hatte, seine freie Seele wiederzuentdecken, und das Misserfolge nicht berühren?“ Nach einem Monat und noch bevor Tuchatschewski sich Warschau näherte, fand er eine Antwort auf diese Frage. Trotz immer neuer Niederlagen wuchs „[…] von oben nach unten die Moral. Die Führung, die am Anfang vor Verwunderung fast wie gelähmt war, hat sich zusammengerissen: Der Siegeswille ist zurückgekehrt und zugleich treffen Verstärkung, Waffen und Verpflegung bei der Armee ein. In den Köpfen und in den Reihen herrscht wieder Ordnung, die Soldatenherzen fassen wieder Vertrauen und auf die Lippen kehrt das Lied zurück.“59 Zwei Wochen später, als die Situation wirklich hoffnungslos schien, vermerkte der britische Gesandte in Warschau, Edgar Vincent, 1. Viscount D’Abernon, mit noch größerer Verblüffung: „Das Ausbleiben jeglicher Panik in der breiten Masse der Einwohner ist wirklich außergewöhnlich. Die höheren Schichten der Gesellschaft haben die Stadt schon verlassen und in vielen Fällen ihre Malereisammlungen und andere Kostbarkeiten der Obhut der Museumsbehörden überlassen. Warschau war schon so oft von fremden Truppen besetzt, dass die heute drohende Gefahr in der Bevölkerung weder Unruhe noch Panik hervorruft, die in anderen Städten entstehen, die noch keine bewaffnete feindliche Besetzung erlebt haben.“ Der Gesandte, der später Tuchatschewskis Niederlage als „Die 18. 128

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entscheidende Schlacht in der Weltgeschichte“ bezeichnete60 und deshalb in polnischen Büchern über das Jahr 1920 häufig zitiert wird, verstand in Wirklichkeit nur wenig von der um ihn herum herrschenden Atmosphäre. Am 27. Juli notierte er: „Der Ministerpräsident, ein Landwirt, ist heute abgereist, um seine Ernte einzubringen. Niemand sieht darin etwas Außergewöhnliches.“61 Der Gesandte des Vereinigten Königreichs fantasierte. Witos bildete seine Regierung am 24. Juli. Ab diesem Tag war er entweder in Warschau, an der Front oder dort, wo er sich am wohlsten fühlte – unter seinen bäuerlichen Wählern. D’Abernon, der weitaus gebildeter als der frischgebackene Ministerpräsident war, verstand die Botschaft nicht, die auf ein Vorbild aus der Antike zurückgriff, das ihm spätestens vor dem Abitur begegnet sein musste. Witos inszenierte sich nämlich als polnischer Cincinnatus – ein Bauer, der seine Scholle verlässt, weil das Vaterland ruft: Eines Tages, es war weder ein Feiertag noch ein Markttag und daher für Zusammenkünfte ungeeignet, blieb ich zu Hause, um das Feld für Lupinen zu pflügen und zu düngen. Gegen drei Uhr nachmittags machte mich ein Knecht darauf aufmerksam, dass ein Auto vor dem Haus vorgefahren sei, also sicher ein Besucher für mich. Ich arbeitete weiter, denn ich wusste, wer etwas von mir wollte, würde mich finden. Ich irrte mich nicht, nach ein paar Minuten kam ein Offizier mit ungeheuer ernster Miene aufs Feld und verkündete, nachdem er sich versichert hatte, dass er es mit mir zu tun hatte, er komme vom Staatschef, Piłsudski, und er habe den Befehl, mich unverzüglich nach Warschau zu bringen […]. Ich wusch mich ein wenig und eine halbe Stunde später saß ich schon im Auto.62 Witos, als Ministerpräsident von Amts wegen Mitglied des Nationalen Verteidigungsrats, spielte keine größere Rolle als das Gesetz über die Bodenreform oder die Freiwilligenarmee. Er war lediglich ein Symbol der Einheit, des Zusammenwachsens von Nation und Volk zu einer Gemeinschaft, die bereit war, das Vaterland zu verteidigen. Im Rat entschied Piłsudski. Als die Lage an der Front immer kritischer wurde, versuchte Dmowski ihn als Oberbefehlshaber abzusetzen. Piłsudski wusste nur zu gut, was sich hinter dem Antrag des Führers der Nationaldemokratie verbarg. Dmowski pries einen der unfähigsten Generäle der Polnischen Armee, er riet, man solle sich an die „Alliierten“ wenden, und betonte, nicht die Armee versage, sondern es seien „organisatorische, strategische und taktische Fehler gemacht worden, infolge derer die Armee das Vertrauen [in die Führung] verlor“. 129

I  Giganten und Pygmäen

Während der Sitzung des Nationalen Verteidigungsrates am 19. Juli explodierte Piłsudski, der seit Wochen unter extremem Stress stand: „Ihr alle steht am Abgrund, ihr werdet euch morgen die Köpfe einschlagen […]. Kann die ­Armee gesund sein,63 wenn im Augenblick der Prüfung ihr nicht standhaltet? Meine Herren, denkt nach, wenn ich Unfrieden stifte, setzt mich ab, nehmt j­emand anderen, vielleicht werdet ihr euch kurz einig, aber wacht endlich auf, setzt ein sichtbares Zeichen der Einheit, denn sonst ist alles nur notdürftiges Flickwerk, das ich auf mich nehme, weil es meine verdammte Pflicht ist.“ Dmowski kniff in diesem entscheidenden Moment: „Auch ich habe mein ganzes Leben Polen gewidmet. Ich habe die Vorwürfe nicht vorgebracht und halte sie nicht aufrecht, damit Sie abtreten, ich würde Sie bitten zu bleiben, aber in der Armeeführung werden Fehler gemacht, die die Leute demotivieren. Aber ein Mensch kann nicht alles machen.“ In der für den Kriegsausgang entscheidenden Abstimmung stimmte Dmowski dafür, dem Oberbefehlshaber das Vertrauen auszusprechen. Einen Tag später trat er aus dem Nationalen Verteidigungsrat zurück. Der uns schon bekannte Nationaldemokrat Zdanowski kommentierte: „Nachdem Dmowski Piłsudski im Verteidigungsrat ausgeschimpft hatte, stimmte er später dafür, ihm das volle Vertrauen auszusprechen. Und wieder: Er hätte ihn entweder nicht ausschimpfen oder hinterher nicht an der Abstimmung teilnehmen dürfen.“64 Was Dmowski allerdings nicht wusste und woran Piłsudski als Retter des Vater­landes nicht erinnern wollte: So schmerzlich die Attacken der roten Kavalle­ rie an den Flanken und im Rücken der zurückweichenden polnischen Truppen waren, so effektiv war die Arbeit einiger Spezialisten, die es sich zur Aufgabe gemacht haben die russischen Geheimcodes zu entschlüsseln.65 Die Polen wussten, wo sich die Einheiten der Roten befanden und welche operativen Ziele sie verfolgten. Umgekehrt wussten die Roten nichts über die polnischen Truppenbewegungen. Manchmal wiegt die Arbeit einiger Fachleute mehr als die Millionen ­Kilometer, die mehrere Hunderttausend Infanteristen im Bewegungskrieg zu­ rück­legen. Der Rest der Geschichte des Kriegs von 1920 ist schnell erzählt. Die bolschewistischen „Armeen“, die im Norden die geschwächten Einheiten von General Władysław Sikorski – dem heimlichen Helden dieses Sommers – angriffen, verloren ihre Funkgeräte. Sie schlugen blind zu und unterlagen in zahlreichen kleinen Gefechten, bis sie schließlich auseinanderfielen: Wer nicht in polnische Gefangenschaft geriet, ging über die ostpreußische Grenze und ließ sich internieren. 130

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Vor Warschau waren die Polen gut vorbereitet. Obwohl die Rote Armee dreimal Radzymin eroberte, drang sie nicht bis zum östlichen Warschauer Stadtteil Praga vor. Der Tod des Priesters Ignacy Skorupka, der die Soldaten zum Gegenangriff führte, trug das Seine bei: Er verband den Kampf um ein unabhängiges Polen mit dem dominierenden Glauben. Aus Sicht der römisch-katholischen Kirche hätte man sich kein besseres Symbol wünschen können. Piłsudski versetzte Tuchatschewski den entscheidenden Stoß. Er zog einige Divisionen östlich der Weichsel zusammen. Am 16. August griff er von Süden an. Die Rote Armee wurde komplett überrumpelt. Sie verhielt sich genau so, wie de Gaulle den Krieg 1920 beschrieben hatte: Wenn der Gegner die Initiative übernahm, blieb nur der Rückzug, der sich in Flucht verwandelte. Die Polen rückten ebenso schnell nach Osten vor wie die Bolschewiki in den Wochen zuvor nach Westen. Ende August wurde schließlich Budjonnys Reiterarmee besiegt. Im Herbst siegten die Polen noch einmal in der sogenannten Schlacht an der Memel. Beide Parteien waren nach dem fast ein halbes Jahr andauernden Bewegungskrieg, in dem schon im Sommer auf beiden Seiten Stiefel und Uniformen fehlten, völlig erschöpft. Am 12. Oktober wurde ein Waffenstillstand geschlossen, der sechs Tage später in Kraft trat. Am 18. März 1921 wurde in Riga der Friedensvertrag zwischen dem bolschewistischen Russland und der Republik Polen unterzeichnet. Es verdient ein eigenes Buch zu den polnisch-sowjetischen, polnisch-ukrainisch-­ weißrussisch-litauischen und nicht zuletzt polnisch-polnischen Beziehungen.66 Polen brauchte dringend einen Friedensschluss (und eine Verfassung, die am Tag zuvor verabschiedet wurde), um sich am 20. März bei der Volksabstimmung in Schlesien als stabiler Staat zu präsentieren, der imstande war, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Der Verlauf der Grenzen spielte in diesem Kontext keine größere Rolle. Ohne ins Detail zu gehen: Die Polen erreichten in Riga mehr oder weniger das, was sie schon 1919 hätten erreichen können. Die Ukraine und Weißrussland wurden zwischen den beiden benachbarten Großmächten aufgeteilt. Litauen ließ sich nicht aufteilen, doch es verlor Wilna und das Umland. Die polnischen Ostgrenzen entsprachen weder Piłsudskis noch Dmowskis Erwartungen. Piłsudskis Konzeption eines von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichenden Staatenbundes mit Polen als Kern durchkreuzte der Friedensvertrag von Riga ebenso wie Dmowskis Idee, der ein zu großes Polen ablehnte; in der Volkszählung von 1921 stellte sich heraus, dass jeder dritte Bürger der Republik Polen weder Pole noch römisch-katholischer Konfession war. 131

I  Giganten und Pygmäen

Doch letztlich siegte Piłsudski. Er schuf im August 1920 den Gründungs­ mythos der neuen polnischen Republik, indem er den ursprünglichen Angriffskrieg zur heldenhaften Verteidigung der Eigenstaatlichkeit gegen die bolschewistischen Horden umdeutete. Der Frieden von Riga stabilisierte die gesamte Region – die Unabhängigkeit der baltischen Staaten wäre ohne das in der lettischen Hauptstadt unterzeichnete Abkommen kaum vorstellbar gewesen. Erst jetzt – und nicht am 11. November 1918, an dem sich nichts Wichtiges ­er­eignete – wurde Piłsudski zum Gründungsvater der Zweiten Polnischen Republik.

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Kapitel 3 Kriege der Nationen Hätte allein der Wille der höheren Offiziere über den Charakter des Krieges entschieden, so hätten sich die Konflikte, die Ostmitteleuropa nach 1917 erschütterten, nicht von den Feldzügen der Jahre 1914 oder 1915 unterschieden. Trotz aller Besonderheiten von Ost- und Balkanfront wäre es weiter ein regulärer Krieg gewesen. Eine deutliche Mehrheit der Führungskader, selbst in den Reihen der russischen und ungarischen Bolschewiki, war durch Militärakademien und den Dienst in imperialen Armeen geprägt worden. Für die Rekruten galt dies in geringerem Ausmaß, doch unter günstigen Bedingungen hätten auch sie ebenso schnell wie ihre Vorgänger während des Ersten Weltkriegs gedrillt werden können. Es kam jedoch anders. Nach 1917 war es bisweilen fast unmöglich, zwischen regulären Truppen, paramilitärischen Einheiten und gewöhnlichen Banditen zu unterscheiden. Dafür gab es mehrere Ursachen. Beginnen wir mit den Führungskadern. In den Völkerkriegen starben die Offiziere mindestens ebenso häufig wie im Ersten Weltkrieg. Diese Tatsache blieb selbst Laien nicht verborgen. Anfang September 1920 nannte Isaak Babel, der mit der Reiterarmee vor den Polen floh, das Fehlen der Kommandeursebene als die „Hauptkrankheit“ seiner Division: „alle Kommandeure kommen aus den Reihen der Kämpfer. […] Schwadronskommandeure befehligen Regimenter.“ 1 Dort, wo es an entsprechend qualifizierten Landsleuten mangelte, wurden Spezialisten oder ganze Einheiten transferiert. Russische, ukrainische, weißrussische und deutsche „Regimenter“, die nicht selten den Namen ihrer charismatischen Anführer trugen, traten komplett in den Dienst dieser oder jener Nationalbewegung ein, ohne ihre bisherigen Gewohnheiten zu ändern, das heißt, sie mordeten weiter Kriegsgefangene und raubten die Zivilbevölkerung aus. Die Auflösung der imperialen Armee – zumal der chronologisch früheste und in seinen Folgen katastrophalste Zerfall der russischen Armee – brachte eine Gruppe von osteuropäischen Warlords hervor. Diese Menschen, die sich zu Herren über Leben und Tod aufschwangen, sahen sich 133

I  Giganten und Pygmäen

selbst in der Tradition der großen Atamane oder Condottieri längst vergangener Zeiten. In Wirklichkeit handelte es sich um einen Kommandeurstyp, der an der Ostfront schon 1917 mit dem Zusammenbruch der Kommandostrukturen in der zaristischen Armee aufgetaucht war: korrumpierte Spezialisten, die aus ihrer unkontrollierten Macht Profit schlugen.2 Die Einstellung solcher Söldner war immer mit einem Risiko verbunden. Die einzige Person, gegenüber der sich ein solcher Warlord loyal verhielt, war nämlich er selbst. Besser für die Professionalisierung der Streitkräfte waren individuelle Verträge, die Offizieren eine Anstellung verschafften, die nach dem Ende des Kriegs der Imperien nichts mit sich anzufangen wussten. In der Ukrainischen Galizischen Armee (UHA) fanden sich ehemalige k. u. k. Offiziere aus allen Volksgruppen der Monarchie. In den Truppen des Zentralrats und des Hetmans Skoropadski dienten Veteranen der russischen Armee, die nur selten eindeutig ukrainischer Nationalität waren. Auch in den jungen Armeen Litauens, Finnland, Lettlands und Estlands konnten erfahrene zaristische Offiziere Karriere machen. Zuletzt, kurz vor dem Marsch auf Warschau, griffen selbst die Bolschewiki auf sie zurück. Nicht alle diese Transfers führten tatsächlich zur Entstehung einer kompakten und effektiven Streitmacht. Selbst wenn man Spezialisten anwarb, konnten sie angesichts der verwickelten politischen Verhältnisse in der Region leicht zu unsicheren Elementen oder sogar Verrätern werden. Der große polnische Historiker Marceli Handelsman, der den Feldzug 1920 im 5. Regiment der Legionen mitmachte, verwies auf eine besondere Kategorie der bolschewistischen Kriegsgefangenen: Unter ihnen gab es auch solche, die sich uns wirklich gern angeschlossen hätten, die die Gefangenschaft als Etappe auf dem Weg zu Wrangel [dem An­füh­ rer der russischen Weißen] betrachteten. – Eine reinrassige Schwarze Hun­ dertschaft, vorzügliche Offiziere im Kampf gegen uns während der Offensive, liefen, als das Kriegsglück sich wendete, zu uns über, weil sie auf die Solidari­ tät der „weißen Ideale“ hofften.3 Man konnte das Loyalitätsproblem minimieren, indem man auf Söldner von weit her zurückgriff. In der polnischen Armee dienten neben französischen Ausbildern auch amerikanische Flieger. Die unter großen Mühen geschaffene tsche­­cho­ slowakische Armee besetzte die höchsten Führungspositionen mit italienischen und französischen Offizieren. Das Ziel dieser Maßnahmen war unverändert die Professionalisierung der Armee, die Disziplinierung der Ansammlungen bewaffneter Männer, von denen nur einige in regulären Armeen gedient hatten. 134

Kriege der Nationen

Auf den unteren Hierarchieebenen gab es ebenfalls zahlreiche Probleme. Nicht selten kam es zu Konflikten zwischen kriegserprobten Veteranen und jungen Soldaten, die sowohl den Dienst als auch, allgemein gefasst, weltanschauliche Fragen betrafen. Stanisław Kawczak erinnert sich, dass sein aus Veteranen der österreichisch-ungarischen Armee bestehender Zug Anfang 1919 noch immer den Befehl „Wstrzymać ogień“ nicht verstand, aber sofort auf das von früher vertraute „Feuer einstellen“ reagierte.4 Oft waren die Rudimente des Diensts in den imperialen Armeen freilich problematischer. Regelmäßig sorgten ethnische und regionale Unterschiede für Konflikte zwischen slowakischen oder deutschen Rekruten und tschechischen Offizieren oder auch zwischen polnischen Militärs aus verschiedenen Teilungsgebieten. Die größten Spannungen entstanden auf der Linie Warschau–Posen. Die Soldaten aus dem preußischen Teilungsgebiet weigerten sich, Befehle von Offizieren aus Kongresspolen auszuführen; auf ihrem Weg durch Zentral- und Ostpolen verübten sie mehr oder minder gravierende Gewalttaten an Zivilisten, hauptsächlich Juden, die sie nicht als ihre Bevölkerung, sondern wie die Einwohner eines eroberten Landes behandelten. Ihren Unmut über die neuen Verhältnisse äußerten die Veteranen der Wehrmacht bisweilen auch auf elegantere Weise: Im Kader der Kriegsmarine in Thorn verständigen sich die aus der deutschen Armee stammenden Offiziere und Unteroffiziere miteinander auf Deutsch, sie sind sehr schlecht auf alles zu sprechen, was nicht aus Deutschland oder der deutschen Armee kommt.5 Allem Anschein nach waren nicht nur Regionalismen Auslöser derartiger Konflikte. Die Weltkriegsteilnehmer trennte von den jungen Soldaten eine so intensive Erfahrung, dass man teils von einem Generationenkonflikt sprechen kann. Die beiden Gruppen hatten ganz sicher unterschiedliche Vorstellungen vom Krieg und ihrer Rolle darin. Die Älteren erwarteten eher eine Fortsetzung dessen, was sie bereits kannten. Zur bekannten, vertrauten Art der Kriegsführung von früher zählten taktische oder organisatorische Gewohnheiten sowie bestimmte Erwartungen bezüglich des angemessenen Verhaltens im Krieg. Kurz gesagt: Die Männer, die den Sturz des Zaren und zweier Kaiser in Uniform miterlebt hatten, gingen davon aus, dass selbst, wenn der Frieden nicht sofort käme, die Fortsetzung des bisherigen Kriegs doch eine ihnen mehr oder weniger bekannte Gestalt annehmen würde. Das war ein Irrtum. Die Kluft zwischen den Erwartungen und der neuen Wirklichkeit führte zu enormen Frust und auch zu Ungehorsam: 135

I  Giganten und Pygmäen

Das sind überwiegend Soldaten, die schon in der österreichischen Armee gedient haben und den Armeedienst gut kennen. Obwohl sie ausgezeichnetes soldatisches Material darstellen, sind sie doch kritisch eingestellt und reagieren auf alle Mängel, zumal infolge von Nachlässigkeit oder Ungeschicklich­ keit, sofort mit Gemurre.6 Die lang gedienten Kämpfer trafen in ihren Einheiten auf frischgebackene Rekru­ ten, denen es nicht nur an Kriegs-, sondern allgemein an Lebenserfahrung fehlte. Marceli Handelsman, der aufmerksam und scharfsinnig beobachtete, wie sich die älteren und die jüngeren Jahrgänge seines Regiments zusammenrauften, zeichnete das romantische Porträt eines unerfahrenen Rekruten: Ein junger Mensch, und das ist fast jeder polnische Soldat, der aus der Familie und dem normalen häuslichen Leben herausgerissen wurde, der – und auch das nur selten – mit immer anderen Vertreterinnen des schönen Geschlechts verkehrt, der ins Getümmel des Lagerlebens geworfen wurde, sucht in seiner Umgebung automatisch jemanden, mit dem er sein Innenleben teilen ­könnte. Er entwickelt sich erst, in seiner Seele und in seinem Kopf entstehen erstmals eigene Gedanken, formen sich unter großen psychischen Mühen Ansichten zum Vaterland, zum Leben, zum Glück und zur eigenen Person.7 Wenn wir vom lyrischen Duktus des Regimentschronisten absehen, erhalten wir das Bild eines unerfahrenen und unsicheren jungen Menschen, auf den man sich schwerlich verlassen konnte. Die Nachlässigkeit und Ungeschicklichkeit, die die polnischen Veteranen der k. u. k. Armee verärgerten, waren eine unvermeidliche Folge der beschleunigten Ausbildung neuer Kader. Kein Wunder also, dass der Aufbau neuer Armeen vom „Gemurre“ der alten Soldaten begleitet wurde. Betrachten wir einige der häufigsten Gründe für diese Unzufriedenheit.

Ausrüstung, Versorgung, Disziplin Den offensichtlichsten Unterschied zwischen dem bis 1917 geführten Krieg und den späteren Konflikten bildete vermutlich das äußere Erscheinungsbild der Truppen. Die Veränderungen sind durch Fotografien belegt, aber noch eindrücklicher sind vielleicht die in vielen Erinnerungen immer wieder anzutreffenden Erwähnungen von Begegnungen mit Formationen, deren Uniformierung nicht zum Himmel schrie. Marceli Handelsman schildert nicht ohne Genugtuung einen Sieg seiner Einheit über litauische Truppen. Besonders ein Detail schien ihm in Bezug auf die gefangen genommenen Gegner erwähnenswert: 136

Kriege der Nationen

Der tadellos uniformierte, frische, komplett ausgestattete Litauer schaute zuversichtlich drein und wirkte in Gebaren, Aussehen und der Art, wie er antwortete, sogar ein wenig hochmütig.8 Tatsächlich war Frische nicht die erste Assoziation beim Anblick der nationalen Streitkräfte Ostmitteleuropas. Die katastrophalen Ausstattungsmängel und die allgemeine Übermüdung hatten mehrere Ursachen. Aus Sicht der einfachen ­Soldaten erweckten jene den größten Unmut, die sich nicht durch objektive ­Faktoren erklären ließen. Wie die Zivilbevölkerung litten die Soldaten unter dem Mangel an Nahrung; mit umso größerer Wut beobachteten beide Gruppen die allgegenwärtige Verschwendung aufgrund der schlechten Organisation im Hinterland. Der Intendant der polnischen 3. Infanteriedivision der Legionen, Stanisław Burnagel, schilderte als typisches Beispiel eine Situation im Januar 1920. Um die Kontrolle über die Versorgung zu gewinnen, hielt der junge Staat das aus den Vorjahren bekannte System des zentralisierten Einkaufs und der Verteilung strategisch wichtiger Güter aufrecht. Zu den betroffenen Waren gehörte auch Fleisch. In der Theorie hätte es von der Staatlichen Einkaufsbehörde (Państwowy Urząd Zakupów) zu amtlich festgesetzten Preisen eingekauft, an die E ­ tappenlager geliefert und von dort an die einzelnen Divisionen verteilt werden sollen. Den einzelnen Truppenteilen war es deshalb (und vor allem, um einen Anstieg der Preise zu verhindern) untersagt, auf eigene Faust Einkäufe zu tätigen. Die ­Bauern wollten allerdings ihr Fleisch nicht zu dem niedrigen amtlichen Preis verkaufen. Burgnagel notierte: Die Situation ist also ausweglos. Für die dritte Dekade werde ich statt Fleisch für drei Tage Hering, für zwei Tage Wurst und für einen Tag Käse anschaffen. Auch Gemüse ist nur schwer zu bekommen, sie ersetzen es durch Pflaumen für drei Tage, Sauerkraut für drei Tage, und für die übrigen Tage bekommen wir vielleicht Grütze, sofern die Gerste eintrifft. Die Speckration wurde auf 20 Gramm reduziert.9 Hinzu kam, dass all diese Ersatzprodukte noch zu den Truppen im Feld transpor­ tiert werden mussten. Dabei erwies sich aber oft der Mangel an Eisenbahnwaggons oder Lokomotiven als Problem. Für die Moral der Armee war diese Verpflegungssituation verheerend. Die Soldaten klagten oder äußerten ihren Unmut auf mehr oder weniger legale Weise, indem sie etwa gegen Salzheringe protestierten oder demonstrativ – als Fleischersatz dienende – eingelegte Bohnen oder ranzige amerikanische Margarine wegwarfen.10 Schlimmer war es, wenn sie die 137

I  Giganten und Pygmäen

Mängel in der Versorgung selbst beseitigten, indem sie Dörfer und Kleinstädte plünderten. Gerade dieses Vorgehen unterschied sich kaum vom Verhalten der russischen, deutschen oder österreichisch-ungarischen Armee während des Ersten Weltkriegs. In den Dörfern an den Verbindungsstrecken nahmen sich die Soldaten, was sie brauchten. Dafür stellten sie Requisitionsscheine aus (oder auch nicht) oder händigten den schreibunkundigen Bauern Zettel mit boshaften Reimen aus. Der Verlust ihrer Vorräte und die Angst vor weiteren Kosten führten dazu, dass die Bauern ihre Lieferungen in die Städte einstellten. Deshalb drohte immer wieder Hunger, wenn zu den kriegsbedingten Schwierigkeiten noch ethnischer Zwist und soziale Konflikte hinzukamen. So auch im Frühjahr 1919 in Ostgalizien. Der Priester Ludwik Ryś aus Rawa Ruska beschrieb nüchtern den Zusammenhang zwischen dem Funktionieren des Markts und der Raubwirtschaft der durch die Region ziehenden Truppen: Auch die polnische Armee liefert ein schlechtes Beispiel. Sie erwirbt sich den Ruf: „das ist die Armee, die raubt“. Der Hass zwischen den Volksgruppen ist noch tiefer. Die Polen sind arm dran, wenn unsere Truppen sich zurückziehen. Man kann vor Hunger sterben, denn die Ukrainer verkaufen einem nichts. Das Landvolk will nichts in die Stadt bringen.11 Verschlimmert wurde die Situation der Bevölkerung in frontnahen Gebieten noch durch die Unsicherheit darüber, wie sich die jeweilige Besatzungsarmee verhalten würde. Die Erfahrungen waren überwiegend negativ, nur selten gab es freudige Überraschungen wie etwa im Sommer 1920 während der bolschewistischen Invasion in Białystok: Es war die ganze Zeit ruhig und zwei Fälle von leichtem Raub wie das Abstreifen eines Rings vom Finger einer Frau auf der Straße und in einem Laden endeten damit, dass die Täter noch am Tatort erschossen und als abschreckendes Beispiel einen ganzen Tag dort zurückgelassen wurden.12 Was die Bolschewiki als Besatzer nicht geschafft hatten, holte die das Land zurückerobernde polnische Armee mehr als nach. Drei Tage lang dauerten die Plünderungen, so lange war Białystok ein rechtsfreier Raum, was die Freude über die Befreiung deutlich trübte. Im Ringen der Imperien klagte und empörte sich die unerbittlich ausgeraubte Bevölkerung zu Recht über das Vorgehen der russischen, deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen. Dabei handelte es sich aber um Ausnahmefälle, 138

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Die erhaltenen Fotografien dokumentieren meist das friedliche Zusammenleben von Militär und Zivilbevölkerungen. Dieses Foto zeigt rumänische Offiziere mit ihren Gastgeberinnen.

denn jede dieser Armeen verfügte über ein ausgebautes Versorgungssystem, das meist funktionierte. In den „Kriegen der Pygmäen“ verkehrten sich auch in dieser Hinsicht die Proportionen zwischen Norm und Ausnahme. Nun waren die Intendanturen in der Regel überfordert und die Armee versorgte sich in der Regel vor Ort mit den nötigen Gütern. Natürlich bemühten sich die regulären Streitkräfte (einschließlich der Roten Armee) oft, die Bauern für die requirierten Güter zu bezahlen. Allerdings wurde die angebotene Währung von den Betroffenen nicht immer akzeptiert. Und das zu Recht: Das Geld, mit dem Polen, Ukrainer oder Bolschewiki zahlten, war kaum das Papier wert, auf dem es massenhaft gedruckt wurde. In dieser Situation verschwamm die Grenze zwischen Requisition und Raub zusehends. Mit der Anzahl der durch die Region ziehenden Truppen und mit den häufig wechselnden Fronten stiegen automatisch die Lasten, die die Bauern zu tragen hatten. Zu den schmerzlichsten gehörte der Fuhrdienst. Vor 1918 sahen die Bauern ihn als Gottesgeißel, doch mitunter gelang es ihnen, eine Befreiung zu erwirken, indem sie nachwiesen, dass sie gerade erst von einer Transportfahrt zurückgekehrt waren. In der neuen Situation mit häufig wechselnden Besatzern war es oft sicherer, die Zusammenarbeit mit früher am Ort stationierten Truppen, selbst wenn sie erzwungen worden war, nicht zu erwähnen. Abgesehen davon, hatten 139

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die Soldaten meist keinen Sinn für „Details“ wie die Ausstellung von Bescheinigungen für die Fuhrdienstler. Schon gar nicht auf der Flucht, wie im Juli 1920 im Dorf Bogusze bei Sokółka, […] wo ein Landwirt getötet wurde, der gerade erst von einer Fahrt nach Białystok zurückgekehrt war und nicht sofort wieder fahren wollte. Er bat den Soldaten, man möge ihn ausruhen lassen; der Soldat tötete den Landwirt und nahm sein Pferd.13 Selbst Isaak Babel bedauerte das Schicksal der polnischen Fuhrdienstler: Weiterfahrt nach Witków auf einem Fuhrwerk. Ein kleinstädtisches Fuhr­ unter­nehmen, unglückliche Kleinstädter, man schüttelt sie zwei-drei Wo­chen durch, läßt sie laufen, gibt ihnen einen Passierschein, andere Sol­daten schnap­ ­pen sie sich, schütteln sie wieder durch. Ein Zufall – in unserer Gegen­wart kam ein kleiner Junge aus dem Troß nach Hause. Nacht. Die Freude der Mutter.14 Viele der hier geführten Kriege verlangten schnelle Märsche durch lange Abschnitte. Zu tragischen Zwischenfällen kam es nicht selten bei der Requisition von Pferden, die von den Bauern entschlossen verteidigt wurden, von den Soldaten aber dringend benötigt wurden, zumal auf der Flucht. Der Bewegungskrieg mit vielen Parteien, der ab 1917 in großen Gebieten Ostmitteleuropas tobte, verstärkte die schon in den Vorjahren zu beobachtende Vermischung der militärischen und der zivilen Sphäre. Wo die Front nicht entlang einer bestimmten Linie verlief, sondern sich weit ausdehnte und ganze Gegenden erfasste, gab es für die Zivilisten keine geschützten Orte; gelegentlich kam der Krieg in die Dörfer, um im Namen des Kriegsrechts Bauern zu töten, meist aber erschien er ohne offizielle Ankündigung und missachtete alle Regeln: Am 20. Mai 1919 betrat in Liczkowce, Kreis Husiatyn, ein ihr namentlich nicht bekannter ukrainischer Soldat die Wohnung der Witwe Maria Kalinowska, Ehefrau des Franciszek, und verlangte von ihr, sie solle unverzüglich Piroggen kochen, andernfalls werde er alle erschießen. Die ebenfalls in der Wohnung anwesende Józefa Kalinowska, die 19-jährige Tochter der genannten Maria, antwortete: Wir sind arm und haben nichts, womit wir Piroggen für euch kochen könnten, geht zu reichen Leuten, vielleicht kochen die euch etwas. Der Soldat erwiderte nichts, sondern repetierte das Gewehr und schoss, die Kugel durchdrang den Kopf des Mädchens, das sofort tot umfiel. Nach dem Mord flüchtete der Täter in Richtung der russischen Grenze.15 140

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Derartige Fälle von völlig willkürlicher Gewalt gegen die Zivilbevölkerung resultierten meist aus Verkettungen unglücklicher Umstände und Überreaktionen einzelner Personen; sie hatten nicht den Charakter systematischer Verfolgung. Chaos und Orientierungslosigkeit verschärften die Situation. Der ukrainische Rückzug in Ostgalizien im Frühjahr 1919 wurde für die zunehmend erschöpften und verzweifelten Überlebenden zur Flucht. Viele litten an Typhus, blieben aber trotzdem in ihren Einheiten, weil sie die Militärkrankenhäuser fürchteten, die – zu Recht oder nicht – als Sterbehäuser galten. In den Gegenden, die die ukrainische-galizische Armee auf ihrem Rückzug durchquerte, kannten die Bauern den Gesundheitszustand der Soldaten und es kam vor, dass ganze Dörfer den Flüchtenden mit Waffengewalt den Zutritt verweigerten. Zu den Symptomen von Fleckfieber gehören Wahrnehmungsstörungen, Gewaltausbrüche und Fantasieren – all dies erschwerte eine ruhige und sachliche Kommunikation mit der lokalen Bevölkerung. Die entscheidenden Faktoren waren aber schlicht Angst und Erschöpfung, die wuchsen, je länger der Rückzug dauerte. Im Juli 1920 legten die vor der Tuchatschewski-Offensive zurückweichenden Polen unter ständigen Kämpfen Hunderte Kilometer zurück. Für die Zivilbevölkerung der betroffenen Gebiete war das eine sehr schwere Zeit: Die Bevölkerung des ganzen Kreises [Sokółka] ist der Armee offen feindlich gesinnt. In der Gemeinde Dąbrówka haben die Armee bzw. alle möglichen Gruppen von Deserteuren und Resten zerschlagener Regimenter, vor allem aber die sogenannten Wilden die Einwohner ausgeraubt, sie haben Kühe, Pferde, Getreide, Heu und – frisch aus dem Ofen – Brot mitgenommen. […] In Kundzin forderte ein Soldat, ein 17-jähriger Junge, vom Pfarrer ein Pferd; der Pfarrer besitzt keine Pferde, konnte ihm also keines geben; der erboste Junge zog den Revolver und wollte auf den Pfarrer schießen, erst auf Bitten der Familie steckte er den Revolver weg. Andere Soldaten wollten den Priester zum Verlassen des Orts zwingen und, als dieser sich kategorisch weigerte, rief einer von ihnen, ob der Priester ein Bolschewik sei, ob er alle den Bolschewiki überlassen wolle.16 Den Soldaten, die oft Hunger litten, fehlten auch Uniformen. Die tadellos und einheitlich uniformierten Litauer, denen Handelsman begegnete, waren eine Ausnahme, die gerade deswegen seine Aufmerksamkeit weckte. In ihrem Fall profitierte die Intendantur von zwei günstigen Umständen: Sie konnte einiges an Ausrüstung aus den deutschen Ober-Ost-Beständen übernehmen, außerdem mussten vergleichsweise wenige Soldaten ausgestattet werden. Angesichts des141

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sen konnten die einzelnen Truppenteile mitunter einheitlich eingekleidet werden. Manchmal achtete man sogar auf ideologische Aspekte der Uniformierung. In der von Deutschen besetzten Ukraine manifestierte sich der politische Unterschied zwischen der Grauen Division der demokratischen Linken und der Blauen Division der monarchistischen Rechten in Uniformschnitt und -farbe. Die Graue Division nutzte österreichische Uniformen, die sie um Narodniki-Symbole ergänzte; die Blaue Division erhielt von den Deutschen blaue, der Kosakentracht nachempfundene und nicht allzu praktische Uniformen (ohne Taschen).17 Auch in diesem Fall stimmte das politische Programm hinter dem Uniformschnitt letztlich nicht mit den Ansichten ihrer Träger überein und die Deutschen mussten die revoltierenden Blauen entwaffnen. In manchen Fällen entzog sich die Logik, der die Intendanten folgten, dem Verständnishorizont der Beobachter, die über Formationen wie das in Marineuniformen mit Ankeremblem paradierende 1. Huzulische Marineinfanterieregiment staunten. Von den in der Nähe von Kolomyja angeworbenen Soldaten (von denen viele zuvor tatsächlich in der k. u. k. Kriegsmarine gedient hatten) hieß es, sie „seien Seemänner von der Art, die mit U-Booten im Mais tauchen“.18 Hinter den Bemühungen um eine Vereinheitlichung der Kleidung stand freilich ein tieferer politischer Sinn. In dem Chaos, das in Ostmitteleuropa mit dem Zerfall der imperialen Streitkräfte entstanden war, bildete die Armee – wie bereits im Kontext der litauischen Staatbildung erwähnt – das erste und oft einzige funktionierende Organ der neu entstandenen Staatsgebilde. Am wichtigsten war natürlich ihre Stärke und Effektivität im Kampf, doch auch Prestige und äußere Erscheinung spielten eine gewisse Rolle. Für die Zivilisten waren sie ein Hinweis, in welchem Maß sie es mit einem ernst zu nehmenden Staat zu tun hatten. Dieses Denkmuster findet sich in vielen Erinnerungen als Gradmesser für die Erfolge und Misserfolge der jungen Staaten beim Versuch, ihre Existenz zu rechtfertigen. Die Abneigung der Rigaer Einwohner deutscher Nationalität gegen die lettischen Schützen hatte sicher viele Ursachen, doch die Umstände ihres Einmarschs im Januar 1919 trugen gewiss nicht dazu bei, das Ansehen des lettischen Kommunismus zu erhöhen. Ein Augenzeuge erinnerte sich: „Die Rigenser waren über das schlechte Aussehen der Schützen, ihre Verdrossenheit und das Fehlen von Disziplin enttäuscht.“ 19 Im Vergleich zur deutschen Armee, die einige Monate zuvor und unter den Augen Wilhelms II. durch die Straßen von Riga paradiert war, kamen sie tatsächlich schlecht weg. Die meisten in der Region kämpfenden Formationen begnügten sich mit notdürftigen Uniformen und markierten die Zugehörigkeit durch ein charakteristi142

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Defilee vor Wilhelm II. im von Deutschen besetzten Riga.

sches Element, etwa die Mütze oder auch nur ein Abzeichen an der Mütze. Durchgehend wurden die Uniformen der imperialen Armeen aufgetragen. Mit der Zeit verbesserte sich die Lage, wenngleich die Unterscheidung der einzelnen Armee nicht unbedingt leichter wurde. Immer mehr Lieferungen mit amerikanischen und britischen Uniformen trafen ein. Weil fast alle kämpfenden Parteien dieselben Lieferquellen nutzen, fiel es den Soldaten oft schwer, den Feind von den eigenen Kameraden zu unterscheiden. Das 1. Regiment der Krechowce-Ulanen präsentierte sich 1919 wie folgt: Wir hatten französische Säbel, österreichische Sättel. Die Uniformierung war damals sehr uneinheitlich. Hemden und Hosen aus alten englischen und amerikanischen Beständen, kurze österreichische Stiefel und halbelastische englische Wollgürtel, was sehr lästig und unbequem war, zumal zu Pferde. Statt Strümpfen, die es nicht gab, benutzte man Fußlappen, das heißt Stücke von Leinen, die man meist aus abgenutzter Unterwäsche gewann.20 Wie Handelsman vermerkte, sah die litauische Infanterie genauso aus wie die polnische Kavallerie. In ähnlichen amerikanischen Uniformen und mit gelben Mützenbändern unterschied sie sich nur dadurch, dass an der Stelle des Adlers eine Schleife mit dem Vytis prangte.21 Am buntesten präsentierten sich die Formationen, die auf dem schmalen Grat zwischen regulären Streitkräften und Par143

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tisanen operierten. Ihre Kleidung war in der Regel sehr individuell. Wer den Krieg noch immer mit Kavallerieabenteuern in den weiten Feldern assoziierte, konnte sich nun bestätigt sehen: Beim Aufbruch aus dem Dorf bot sich uns ein epischer Anblick. Wir sahen von Weitem die Schwadronen des Regiments, darunter auch unsere, die einen Angriff auf die Schar der Kosaken ritten. Vor dem Hintergrund der blutig untergehenden Sonne sah das mit Toten und Verwundeten übersäte Schlachtfeld aus wie ein lebendiges Abbild der alten Kampfplätze, die in Sienkiewiczs Trilogie so oft beschrieben wurden. […] Es herrschte allgemeine Erregung, alle waren nervös und abends in den Quartieren erzählte man sich Details der siegreich beendeten Schlacht. Eines davon blieb mir lebhaft in Erinnerung. Rittmeister Leon Racięcki, Anführer der dritten Schwadron, ein berüchtigter Draufgänger, traf bei dem Angriff auf einen bunt gekleideten Kosakenhaupt­ mann auf einem schönen Rappen, der im Schlachtgetümmel unsere Reihen dezimierte. Racięcki griff ihn an. Es entspann sich ein Säbelduell, während dessen die Kosaken und unsere Männer kurz im Halbkreis stehen blieben, um den Kampf zu beobachten. Nach einigen Runden fiel der Kosake nach einem Hieb von Racięcki vom Pferd, worauf unter den Kosaken Panik ausbrach, sie riefen: „Kusma Krutschkow ist gefallen!“, und gaben Fersengeld. Das war ein Wendepunkt in dieser Phase der Schlacht.22 Mitunter – entsprechende Schilderungen finden wir auch in den Erinnerungen deutscher Söldner in den baltischen Ländern – genügte bereits der Anblick regulärer, offensichtlich kampferprobter Truppen, um den Gegner zu lähmen. Am 29. Mai 1918 hielt sich eine Unterabteilung der Tschechoslowakischen Legion – Freiwillige eines nicht existierenden Staates, der Theorie nach also klassische irregulars – in Pensa auf. Plötzlich fielen Schüsse. Der uns schon bekannte polnische Gymnasiast, der diese Szene zufällig miterlebte, warf sich zu Boden, bis das Feuer eingestellt wurde und sich von unten her Fußgetrampel näherte. Ich hob den Kopf. In schnellem Schritt, halb laufend, rückten die Tschechen heran. Ich atmete erleichtert auf, die Schlacht war also schon vorbei, wenn sie in geordneten Reihen, ohne Schreie, ohne Schüsse und mit geschulterten Gewehren auf ganzer Straßenbreite dahermarschierten und der Kommandeur auf dem hölzernen Gehweg mit seinem Schritt und einem Schilfrohr, das er rhythmisch gegen den Stiefelschaft schlug, das Marschtempo vorgab. Erst als über meinem Kopf, vom Ende der Sadowa her, ein Maschinengewehr erwachte und zu rattern begann, gab der Offizier auf Tschechisch ein Kommando, auf 144

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das die Männer sich die Waffen von der Schulter rissen und in einem wütenden Bajonettangriff losstürmten, wurde mir ihre herausfordernde und schreckliche Courage bewusst. Das mit ihr verbundene Risiko und Grauen erläuterte mir später ein alter russischer Hausmeister, als ich an der Ecke Sadowa in einer Menge von Schaulustigen über einem von Stichen durchsiebten Leichnam neben dem Maschinengewehr stand. Er erklärte mir, das Schrecklichste sei eben ein solcher stummer Angriff in vorschriftsmäßiger Ordnung, mit gezügelter Leidenschaft, man könne dabei viele Männer verlieren, doch wenn die übrigen dann auf den Feind träfen, und sei es nur eine Handvoll, dann würden sie mit ihren Bajonetten alles niedermachen und niemanden verschonen, er wisse das, es sei im Krieg gewesen, und die Rotgardisten hätten es wohl auch gewusst, deswegen hätten sie die Stille nicht ertragen und seien geflohen, doch der tote Junge, der hier liege, sei eindeutig ein Zivilist.23 Ein „stummer Angriff in vorschriftsmäßiger Ordnung“, ein rhythmisch gegen den Stiefelschaft geschlagenes Schilfrohr oder schlicht eine Uniform galten in den Bedingungen des Bürgerkriegs als Attribute einer so elitären wie bedroh­lichen Einheit. Das lag nicht zuletzt daran, dass sich das – oft als Ausweis von Professionalität angesehen – einheitliche Erscheinungsbild der neu rekrutierten Einheiten trotz vorübergehender Erfolge der Intendantur oft als schwer zu er­reichendes Ziel erwies. Dies galt insbesondere für die Zeit der sich über riesige Distanzen erstreckenden Bewegungskriege. Das einheitliche Erscheinungsbild der Armee, das oft als Beweis ihrer Pro­fes­ sio­nalität betrachtet wurde, erwies sich trotz vorübergehender Erfolge der Inten­ dantur nicht selten als schwer zu erreichendes Ziel. Dies galt insbesondere für die Zeit der sich über riesige Distanzen erstreckenden Bewegungskriege. Die Kleidung, zumal das Schuhwerk, hielt die langen Märsche bei wechselndem Wetter nicht aus. Die Klagen darüber waren auf allen Seiten so häufig, dass man mitunter meinen könnte, es handele sich um eine feste Formel zur Bekräftigung des eigenen Heroismus. So etwa in den Erinnerungen des Oberbefehlshabers der Streitkräfte der Ukrainischen Volksrepublik Symon Petljura, der die Tage der Niederlage gegen die Bolschewiki schildert: „Drei Viertel unserer Kosaken haben keine Schuhe und keine Kleidung; doch die Moral ist ungebrochen!“24 Auf längere Sicht war die Moral freilich kein Ersatz für Schuhsohlen. Zur selben Zeit berichtete die Operative Abteilung des Generalstabs der polnischen Armee, dass die Stimmung der Truppen unter dem Mangel an Stiefeln leide.25 Gleich nach der Schlacht bei Warschau besuchte Ministerpräsident Wincenty Witos eine der barfüßigen Einheiten: 145

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Nur ein kleiner Teil der Soldaten trug komplette, wenn auch zerschlissene Uniformen, mindestens die Hälfte hatte kein Schuhwerk und lief barfuß, mit wunden Füßen über die abgeernteten Roggenfelder mit ihren spitzen Stoppeln. Ein großer Teil von ihnen besaß gar keinen Mantel, manche trugen allenfalls Reste von Hosen und anderen Kleidungsstücken.26 Die schnell wachsenden Truppen verschlangen Unmengen von Schuhen und das Tempo, in dem sie sie verschlissen, brachten die Versorger schier zur Verzweiflung. Ihre Meldungen erwecken den Eindruck, dass sie einen vergeblichen Kampf führten. Die Befriedigung eines Bedürfnisses ließ nur andere hervortreten. Den Einheiten, die neue Schuhe erhielten, fehlte immer noch warme Kleidung. Die durchgefrorenen Soldaten wärmten sich also an Öfen, was dazu beitrug, dass sich die neuen Stiefel blitzschnell abnutzten.27 Hungrige und barfüßige Soldaten waren nicht leicht bei der Stange zu halten, auch die Anwerbung neuer Rekruten zum Dienst am Vaterland fiel schwer. In größerer Anzahl meldeten sich Freiwillige in Ausnahmesituationen zur Armee. Das sehen wir auf beiden Seiten der polnisch-sowjetischen Kämpfe im Sommer 1920 und in der ungarischen Roten Armee während der Offensive in der Slowakei. Der „normale“, lang andauernde Krieg weckte keine so lebhaften patriotischen Emotionen; die Veteranen des Weltkriegs ließen meist jeden Enthusiasmus vermissen. Auch die Freiwilligen, die sich überhaupt fanden, zeichneten sich meist nicht durch Ausdauer im Kampf und im Ertragen der Einsatzstrapazen aus. Sobald die unmittelbare Bedrohung für das Staatswesen abgewendet war, war es schwer, sie in der Truppe zu halten. In Polen schlug der Generalstab schon zwei Wochen nach der Schlacht bei Warschau, also zu einer Zeit andauernder schwerer Kämpfe gegen den zurückweichenden Feind, Alarm: Die günstige Situation an der Front festigt in der Gesellschaft die Überzeugung, da ja das polnische Militär in groben Zügen ihre eventuelle Linie erreicht hätten, sei die weitere Rekrutierung von Freiwilligen obsolet geworden, und mehr noch, in dieser Lage müsse in kürzester Zeit wenigstens eine partielle Demobilisierung von Freiwilligen erfolgen. Die größte Welle der nationalen Begeisterung ist schon verebbt, sodass sich in der Gesellschaft jetzt wieder Überdruss und Kriegsmüdigkeit ausbreitet, was sich negativ auf die Psyche der Soldaten auswirkt.28 Erscheinungen, die in kleinem Ausmaß noch zu beherrschen waren, wurden umso bedrohlicher, je massenhafter sie auftraten. Einzelne Deserteure waren recht 146

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leicht zu fassen und zu bestrafen. Schwieriger wurde es, wenn ganze Divisionen ihren Unmut manifestierten. Die gruppenweise erfolgende Befehlsverweigerung hatte unterschiedliche Gründe. Im März 1919 verweigerten schlesische Rekruten im Teschener Schlesien den weiteren Dienst in der polnischen Armee, weil sie – so ihre Begründung – als Bewohner eines Gebiets von ungeklärter staatlicher Zugehörigkeit nicht dazu verpflichtet seien.29 Auf der anderen Seite der Grenze war die Einstellung der jungen tschechoslowakischen Armee kaum besser. Der in Ostrava stationierte František Petr klagte über „die notorischen Freiwilligen“, die sich zum Dienst meldeten, Uniform und Waffen in Empfang nähmen und dann aus den Augen der Vorgesetzten verschwänden. Nach einiger Zeit meldeten sie sich erneut, nun wieder ohne Uniform und Waffen, und bäten erneut um die Aufnahme in den Armeedienst. Einige Spezialisten machten daraus ein durchaus einträgliches Geschäftsmodell.30 Die Bauern versuchten in der ganzen für uns relevanten Region, den Militärdienst zu umgehen. Die Zwangsrekrutierung löste viele Probleme, mit denen die Armeen der jungen ostmitteleuropäischen Staaten zu kämpfen hatten, freilich nur in Verbindung mit strengen Kontrollen. Ohne empfindliche Sanktionen für den Fall der Dienstverweigerung trug sie eher zur allgemeinen Lockerung als zur Stärkung der ­öf­f entlichen Ordnung bei. An den heißen Julitagen 1920 fiel die Haltung der Reservisten vor dem Hintergrund der zur Truppe stoßenden, meist sehr jungen Frei­willigen besonders ins Auge. Die Armeeführung war beunruhigt: Die Rekrutierung der Jahrgänge 1895 bis 1902 verläuft sehr schleppend. Der Anteil der Verweigerer ist hoch; aus dem Jahrgang 1895 meldeten sich bis jetzt etwa in Łomża 33 %, in Kolno 21 %, in Ostrołęka 66 %. Ähnliche Zahlen werden aus anderen Regionen des Landes gemeldet – etwa aus der Gegend um Ciechanów, aus vielen Kreisen des Bezirks Kielce. Es kommt vor, dass ganze Gemeinden kollektiv die Abstellung von Rekruten verweigern. Die Entsen­ dung von Strafexpeditionen ist in diesen Fällen ein Mittel von zweifelhaftem Wert, wirksamer sind einigen Meldungen zufolge Maßnahmen, die den Bauern „an die Tasche“ gehen.31 In den Meldungen der polnischen Militärverwaltung von 1919 finden sich Informationen darüber, dass sich in Zentralpolen durchschnittlich weniger als ein Fünftel der Einberufenen vor der Musterungskommission einfand. Die Anzahl der Einsprüche und Anträge auf Befreiung überstieg nicht selten die Hälfte der Anzahl der zum Dienst Antretenden. Wie die Militärs feststellten, kam die Mehrzahl dieser Anträge von Rekruten jüdischer Nationalität.32 Es gab auch Berichte 147

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darüber, dass Behinderte angeheuert wurden, die sich unter falschem Namen anstelle der eigentlichen Kandidaten der Musterungskommission vorstellten.33 In Białystok brachte die Rekrutierung im April 1920 so miserable Ergebnisse, dass man sich zur Verfolgung der Kriegsdienstverweigerer entschloss. Mehr als 600 Personen wurden von der Gendarmerie in die Kasernen gebracht.34 Eine etwas andere Methode praktizierten die ungarischen Bolschewiki während der kurzen Besatzung der Ostslowakei im Juni 1919. Der neu geschaffene slowakische Sowjet beschloss die allgemeine Mobilmachung aller Männer zwischen 18 und 45 Jahren. So gut wie niemand folgte dem Aufruf. Angesichts dessen organisierten die Kommunisten in Košice eine Kundgebung, um die Einwohner auf einem der größten Plätze der Stadt zu versammeln. Nachdem der Platz sich mit Menschen gefüllt hatte, schnitten die Rote Garde und aus Budapest stammende ungarische Tschekisten alle Fluchtwege ab. Mehr als 3000 im wehrpflichtigen Alter wurden zwangsweise für die ungarische Rote Armee rekrutiert und ohne großes Federlesen an die Front gegen Rumänien geschickt. Es überrascht kaum, dass die Desertionsquote in so formierten Einheiten auf einem Rekordniveau lag.35 Dieser Exzess der verzweifelten ungarischen Bolschewiki war eine einmalige Aktion. Die Bulgaren versuchten ähnliche Maßnahmen im von ihnen besetzten Teil Serbiens systematisch durchzuführen. Mit ähnlichem Erfolg. Im Winter 1917 wurden die bis dahin kursierenden Gerückte offiziell bestätigt: Die Bewohner der bulgarischen Besatzungszone wurden ohne Rücksicht auf ihre Nationalität zwangs­einberufen. Die Aussicht, an der Saloniki-Front gegen die eigenen Landsleute kämpfen zu müssen, bewegte sehr viele junge Menschen zur Flucht in die Berge. Das wiederum war der entscheidende Faktor für den Ausbruch eines Aufstands, zu dessen Niederschlagung mehr Soldaten abgezogen werden mussten, als durch die Zwangsrekrutierung gewonnen worden waren.36 Das Scheitern des bulgarischen Experiments hielt andere nicht davon ab, denselben Weg einzuschlagen. In den Jahren 1918–1920 konnte ein aufmerksamer Beobachter leicht feststellen, welcher der jungen Staaten gerade eine Mobilmachung befohlen hatte. Die Kunde davon bewegte die jungen Männer in den Grenzregionen zum Übertritt auf die Seite der Grenze, auf der gerade nicht rekrutiert wurde. Diese spezifischen Migrationswellen schwappten zwischen Polen und Litauen hin und her sowie durch die weißrussischen und ukrainischen Gebiete. In anderen Fällen schlossen Deserteure und Kriegsunwillige sich Räuberbanden oder größeren Gruppen der sogenannten ‚Grünen‘ an, von denen noch die Rede sein wird. In den Erinnerungen von Teilnehmern der Kämpfe in Ostmitteleuropa nach 1917 finden sich zahlreiche Verweise auf die besondere Erfahrung der Solidarität 148

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unter den Kämpfern für die gemeinsamen Ziele: Unabhängigkeit, nationalstaatliche Grenzen, Weltrevolution. Doch das ist der Blick von außen. Von innen betrachtet, präsentierten sich die Formationen der nationalen oder sozialistischen Revolutionen weitaus weniger optimistisch. Auf jeden jungen Idealisten, der seine Geburtsurkunde fälschte, um in die Armee aufgenommen zu werden, kamen viele ältere Kameraden, die diametral gegensätzlichen Motiven folgten.

Das Todesbataillon, die wilde Marusja und die Frauenlegion Schon während des Ersten Weltkriegs war der Einsatz von Soldatinnen eine Besonderheit der kleineren Staaten Ostmitteleuropas wie Bulgariens und Rumäniens sowie nationaler Formationen wie der polnischen Legionen und der ukrainischen Sitscher Schützen. Die konservativen Monarchien mit ihren Reserven beschränkten sich darauf, Frauen als Krankenschwestern zu beschäftigen. Ungehindert, aber auch ohne Aussicht auf reguläre Entlohnung arbeiteten Hilfsorganisationen für Flüchtlinge, Arme oder Kriegswaisen; ihr Personal war überwiegend weiblich. Unter dem Druck derselben Notwendigkeit, die Tausende Frauen in die Fabriken trieb, mussten die Mittelmächte ihre Haltung teils revidieren. Von 1917 an ersetzten Frauen als Maschinenschreiberinnen und Beamtinnen die an die Front geschickten Männer der Armeen des Deutschen Reichs und Österreich-Ungarns. Den Spitzenplatz hinsichtlich der Beteiligung von Frauen am Krieg hatte aber Russland inne. Im Mai 1917 verkündete die Provisorische Regierung die Mobilmachung aller Ärztinnen bis zum 45. Lebensjahr. Sie erhielten denselben Rang und den gleichen Sold wie ihre männlichen Kollegen. Das war ein beispielloser Schritt. Britische und französische Medizinerinnen besetzten meist keine hohen Positionen; eine Ausnahme waren die komplett von Frauenorganisationen betriebenen Krankenhäuser (etwa die schottischen Feldkrankenhäuser in Serbien). Bald darauf entschied sich die Provisorische Regierung zu einer noch drastischeren Maßnahme. Im Juni wurde das Frauentodesbataillon unter dem Kommando von Maria Botschkarjowa gegründet. Die Regierungspropaganda versuchte das als Beleg dafür auszuschlachten, wie sehr sich Russland seit den Zeiten der zaristischen Alleinherrschaft verändert habe. Die Resonanz war aber enttäuschend. Zwar erhielt Petrograd regen Zuspruch von europäischen Demokraten und auch Vertreterinnen feministischer Bewegungen, die keine pazifistischen Standpunkte vertraten, unterstützten das Vorgehen der Regierung begeistert (so die Veteranin im Kampf um das Frauenwahlrecht in Großbritannien, Emmeline Pankhurst, die sich mit Botschkarjowa traf und andere 149

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Russinnen ermutigte, ihrem Beispiel zu folgen). Es mangelte freilich auch nicht an Skeptikern und erbitterten Gegnern des Frauenwehrdiensts. Zu ihnen gehörten paradoxerweise Politiker gegenüberliegender Ränder des politischen Spektrums: Konservative und Bolschewiki. Die ideologischen Prämissen der Ersteren bedürfen keiner näheren Erklärung. Die Bolschewiki indes waren ansonsten für die Emanzipation. Gleichwohl hatte die als kommunistische Vorkämpferin für die Rechte und die Freiheit der Frauen bekannte Ale­ xandra Kollontai ausgerechnet für das Frauenbataillon nichts als Verachtung und Spott übrig. Wie sich zeigen sollte, trafen die Bolschewiki damit die Stimmung in der Gesellschaft. Den russischen Arbeitern und Bauern ging es keineswegs um die Gleichberechtigung der Frauen. Die Argumentation, dass die unfähige Regierung sich mit drittrangigen Fragen befasse und ausländische Feministinnen das russische Volk zu weiterem unnötigen Blutvergießen anstachelten, traf auf fruchtbaren Boden. Statt die patriotische Begeisterung zu schüren, lieferten die freiwilligen Kämpferinnen ungewollt den Feinden der russischen Demokratie willkommene, wenn auch konfuse Argumente. Zudem wurden sie zu einem beliebten Spottobjekt in den gern besuchten Zivil- und Armeetheatern.37

Russische Frauen­ einheiten in einer ­deutschen Karikatur.

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Das heißt jedoch nicht, dass in den Reihen der Bolschewiki und der übrigen Parteien des russischen Bürgerkriegs keine Frauen gekämpft hätten. Im Gegenteil, sie waren dort durchaus zahlreich vertreten, selbst in für Frauen so gefährlichen Milieus wie Budjonnys Reiterarmee. Freilich war die Position, die sie dort einnahmen, offenbar recht weit von Maria Botschkarjowas Idealen entfernt: Über die Frauen in der Reiterarmee kann man einen ganzen Band schreiben. Die Schwadronen ins Gefecht, Staub, Gedröhn, die Säbel blankgezogen, wildes Gefluche, sie mit geschürzten Röcken reiten voraus, verstaubt, mit dicken Brüsten, alle sind Nutten, aber Kameraden, und Nutten, weil sie Kameraden sind, das vor allem, sie sind mit allem zu Diensten, was ihnen zu Gebote steht, sind Heldinnen, und zugleich die Verachtung für sie, sie tränken die Pferde, schleppen das Heu, reinigen das Zaumzeug, klauen das Zeugs in den Kirchen, wie auch bei der Bevölkerung.38 Zur berühmtesten Soldatin des Bürgerkriegs wurde freilich keine Kommunistin, sondern eine Anarchistin: Marusja Nikiforowna, eine Veteranin der anarchistischen Bewegung, die bei Anschlägen nicht nur einen zaristischen Gendarmen getötet hatte, wofür sie nach Sibirien verbannt worden war. Sie hatte sich der bäuerlichen Partisanenbewegung Nestor Machnos verschrieben. Im Sommer und Herbst 1917 plünderte die von Marusja geführte Einheit unerbittlich zahlreiche ukrainische Dörfer und machte für einige Zeit in der Stadt Alexandrowsk (Saporischschja) Station, deren Bewohner die Besatzer mehrere Wochen lang versorgen mussten. Zweifelhaften Ruhm erlangte Nikiforowna durch die Plünderung von Jelisawetgrad (Kropywnyzkyj), einer Stadt von fast 100 000 Einwohnern. In ihrer Karriere als anarchistische Atamanin gab es aber auch Tiefen: Nestor Machnos Adjutant erinnerte sich, das ein Streit zwischen den beiden Warlords damit endete, dass man Nikiforowna gänzlich unritterlich aus dem Eisenbahnwaggon warf, mit dem sich die Partisanen fortbewegten.39 Letztlich beendeten die Weißen das Treiben der Anarchistin. Beim Versuch eines Attentats auf Anton Denikin wurde sie verhaftet, sie landete vor dem Kriegsgericht und wurde exekutiert. In der Zeit, in der in Sowjetrussland Soldatinnen zum festen Bestandteil des Frontalltags wurden, folgte Polen im Kampf gegen die Bolschewiki trotz des Fiaskos der Gleichstellungspolitik der Provisorischen Regierung dem Petrograder Modell. Schon während der Kämpfe gegen die Ukrainer um Lemberg kamen Frauen an die vorderste Linie der Front. Ihr Einsatz im Krieg wurde 151

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durch die Gründung der Freiwilligen Frauenlegion legitimiert, eine Formation, die meist Wachdienste leistete, im heißen Sommer des Jahres 1920 aber auch an Kämpfen teilnahm. Trotz ihres Mutes und ihrer Verdienste bei der Landesverteidigung verschwanden die uniformierten Frauen mit der bolschewistischen Bedrohung. Offiziell wurde die Frauenlegion 1922 aufgelöst, tatsächlich war dieser Prozess zu diesem Zeitpunkt schon so gut wie abgeschlossen. Die Kriegskarrieren von Frauen folgen einem recht unkomplizierten Muster. In der Armeehierarchie schafften sie es nur dort relativ weit nach oben, wo allein Kompetenz und Charakter über den Rang entschieden. Durch ihr Charisma und ihre Rücksichtslosigkeit erlangte Marusja Nikiforowa mehr Macht als Maria Botschkarjowa durch Disziplin und Fachkompetenz. Doch die Ablehnung der regulären Armeen gegen Frauen in Uniform hatte meist völlig banale Ursachen. Hauptfaktoren waren meist Faulheit, Bequemlichkeit und mangelnde Flexibilität der Militärs. Die polnische Freiwillige Frauenlegion war zwar gelegentlich in Kämpfe mit den Bolschewiki involviert, doch um an den weiblichen Körperbau angepasste Uniformen kämpfte sie vergeblich. Die Mängel an der Bekleidung ergänzte man aus eigenen Mitteln, aber Armeestiefel in Frauengrößen wurden überhaupt nicht produziert. Die Soldatinnen mussten in mehrere Nummern zu großen Schuhen marschieren, sie litten und wurden oft krank. In einem Bericht der polnischen Militärverwaltung vom Juli 1920 hieß es: Der Gesundheitszustand ist schlecht. Die Legionärinnen sind von Dienst und Übungen erschöpft. Ein großer Teil der Krankheitsfälle sind wundgeriebene Stellen und Fußverletzungen infolge von Tagesmärschen. Eine recht große Anzahl von Legionärinnen leidet an Krankheiten, die Operationen verlangen, was sich negativ auf ihre künftige Mutterschaft auswirkt. Täglich kommt es zu Ohnmachten auf Posten: Am 20. Juni fielen sechs Legionärinnen in Ohnmacht, am 21. eine.40 Erschöpfung und unpassende Kleidung waren nicht die einzigen Probleme der Soldatinnen. Anfang Oktober 1920 gab das Lubliner Bataillon der Freiwilligen Frauenlegion ein abschreckendes Beispiel für schlechte Führung und katastrophale Stimmung. Unteroffizierinnen quälten Rekrutinnen, indem sie ihnen Strafen jenseits des Reglements auferlegten und sie pausenlos derb beschimpften (die männlichen Offiziere, die die Einheit kontrollierten, überraschte vor allem das Tempo, mit dem die Frauen ausgerechnet diese Seite des Soldatenlebens übernahmen). Die Lubliner Einheit war auch für den unge152

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Soldatinnen der Frauenlegion 1918 in Lemberg.

wöhnlich starken Antisemitismus in ihren Reihen bekannt. Zur gleichen Zeit rebellierten die Legionärinnen einer Einheit in Łuków, die ihre Mausergewehre gegen einschüssige französische eintauschen sollten. Der kommandierenden Offizierin blieb nur die Flucht. Bei jedem dieser Vorfälle war die Stimmung so angeheizt, dass manche Legionärinnen in Ohnmacht fielen.41 Letzten Endes vermochte die polnische Intendantur, das Problem des passenden Schuhwerks nur für die männlichen Rekruten zu lösen. Das rasche Kriegsende führte dazu, dass man die Frauen aus den Reihen der siegreichen Armee entließ, statt massenhaft Armeestiefel für sie zu produzieren.

Profis und Amateure Die nach 1917 in Ostmitteleuropa ausgetragenen Konflikte unterscheiden sich in ihrem Charakter, Ausmaß und zeitlichem Verlauf, in ihrer Intensität und Grausamkeit sowie in Hinsicht auf ihren Platz im kollektiven Gedächtnis. Gleichwohl fügen sie sich trotz der auf den ersten Blick heillos chaotischen Anhäufung von Fronten, Truppenbewegungen, individueller Hingabe und Tod zu einem Muster. Über die Rekonstruktion dieses Musters möchten wir uns einer Art Typologie der Völkerkriege annähern. Ihr Hauptkriterium sind weder das Territorium noch 153

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die Nationalität der Kämpfenden, sondern die Art der Kriegsführung, die Taktik und das Ausmaß der Belastung der Zivilbevölkerung. All diese Faktoren waren variabel, was bedeutet, dass ein und derselbe Krieg in unterschiedlichen Phasen komplett anderen Gesetzen folgen konnte, wenn sich etwa reguläre Frontkämpfe in einen Partisanenkrieg verwandelten oder umgekehrt wie im Sommer 1920 während der Tuchatschewski-Offensive gen Westen. Der stellvertretende polnische Kriegsminister General Kazimierz Sosnkowski veranschaulichte seinen Mitarbeitern die Lage damals wie folgt: […] das ist nicht mehr Partisanenkampf im großen Stil, das ist regulärer Krieg, der an den meisten Fronten mit geschlossenen Reihen geführt wird, mit Artillerie und allen Instrumenten eines späteren Weltkriegs.42 Angesichts der großen Anzahl von Kriegsschauplätzen ist es kaum möglich, der Chronologie zu folgen. Zur konkreten zeitlichen Verortung der nachfolgend beschriebenen Ereignisse sei auf das vorangegangene Kapitel verwiesen. Keine größeren Veränderungen gab es im Stellungskrieg an der Saloniki-­Front, die am ehesten dem stereotypen Bild der Westfront entsprach. Die ­multinationale französisch-serbisch-britisch-griechisch-italienische Sarrail-Armee (in der die aus dem Land evakuierten serbischen Divisionen die größte Kraft bildeten) stand gegen die durch kleine Kontingente aus Deutschland verstärkten Bulgaren sowie gegen die Österreicher und die von ihnen rekrutierten Albaner. Die Moral ließ auf beiden Seiten zu wünschen übrig, doch das anfängliche Gleichgewicht hinsichtlich der Unzufriedenheit veränderte sich mit jedem Monat zugunsten der Entente. Als die Bulgaren im Sommer 1917 erklärten, serbische Deserteure in den von ihnen besetzten Gebieten in ihre Heimatdörfer zurückkehren zu lassen, ließ sich die Disziplin auf der anderen Seite der Front immer schwerer aufrechterhalten. Hinzu kamen die Nachrichten vom Scheitern der Kerenski-Offensive und später der Niederlage der Italiener in der Schlacht von Caporetto. Die Anzahl der Desertionen stieg spürbar an, wenngleich noch keineswegs katastrophal. In der ersten Jahreshälfte 1918 verließen (nach offiziellen Angaben) 266 Soldaten die Truppe, das heißt etwas mehr als im ganzen Jahr 1917.43 Bedrohlicher aus Sicht der Führung war der Streik eines Bataillons des 10. Infanterieregiments im Sommer 1917. Vor allem durch eine Verbesserung der Versorgung konnte die ­Krise überwunden werden. Das wird insbesondere nachvollziehbar, wenn wir die Stimmung in Serbien und Bulgarien vergleichen: 500 Tage. 500 Nächte. Wecken, Schießen, Kampf, Gewehre, Maschinenge­ weh­re, Mörser, Artillerie. Kein Schlaf, kein Essen, Arbeit. Regen, Morast, Nässe. 154

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Kälte, Schnee, Sturm. 500 Tage. 500 Nächte. Weit weg von den Ver­wandten. Weit weg von der Familie. Immer weiter weg von sich selbst. Und wieder Artillerie, […] ein Feuerüberfall, Sperrfeuer.44 Kälte, Hitze, Regen und Dürre betrafen beide Seiten, doch nur die Bulgaren litten Hunger. An orthodoxen Feiertagen konnten sie sich davon überzeugen, dass es dem Feind sehr viel besser ging. Anders als in Galizien führte die Fraternisierung zwischen Bulgaren und Serben nicht zum Austausch von Gütern, sondern zur einseitigen Überlassung von Lebensmitteln aus den Beständen der gut versorgten Serben an die hungernden Bulgaren. Durch Hunger motivierte Desertionen zu den Truppen der Entente wurden 1918 zu einem ernsten Problem.45 Der Zusammenbruch der bulgarischen Verteidigung im September 1918 kam so plötzlich und unerwartet, dass die Frage nach den Ursachen bis heute umstritten ist. Die Richtung einer der beiden dominierenden Interpretationen gab schon Erich Ludendorff vor, der dieses Ereignis als Resultat eines langsamen Zerfalls der bulgarischen Armee erklärte: Die Soldaten hätten gestreikt, sie hätten die Positionen kampflos aufgegeben und seien scharenweise in ihre Heimatdörfer zurückgekehrt. Dazu wurden sie, wie er hinzufügte, auch von den selbstorganisierenden Soldatenräten ermutigt.46 Balkanische Militärhistoriker urteilen zurückhaltender. Sie sehen die Haupt­ ursache für den Zusammenbruch der Front in einem erfolgreichen Angriff einiger serbischer Divisionen, in dessen Folge die bulgarischen Einheiten sowohl den Großteil ihres Geräts als auch die Verbindung zum Hinterland verloren. Der mangelnde Wille zur Fortsetzung des Kampfs hing natürlich mit dem Hunger sowie mit der Radikalisierung der bulgarischen Gesellschaft zusammen, doch die Entscheidung, die Positionen aufzugeben, war keineswegs irrational.47 Ihr ging nämlich eine militärische Niederlage voraus, die alle Aussichten auf eine erfolgreiche Verteidigung zunichtemachte. Bis in die letzten Septembertage wurde an der Saloniki-Front ein regulärer Stellungskrieg geführt, erst dann kam der Zusammenbruch. Der polnisch-ukrainische Konflikt in Ostgalizien weist überraschend viele Gemeinsamkeiten mit der Saloniki-Front auf. Dies ist umso bemerkenswerter, weil sowohl die polnische als auch die ukrainische Geschichtsschreibung die polnisch-ukrainischen Kämpfe nicht als Fortsetzung des eben erst beendeten Weltkriegs, sondern als völlig neuen Kampf um die Unabhängigkeit und die Grenzen des Nationalstaats sehen. Und doch tat insbesondere die ukrainische Seite vieles, um den Konflikt gemäß den in den vier vorangegangenen Jahren herrschenden 155

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Regeln auszutragen. Dazu gehörte schon die Art der Rekrutierung. In Lemberg ging der Machtübernahme der Westukrainischen Volksrepublik ein Besuch west­ ukrainischer Offiziere in den Kasernen des örtlichen Regiments voran. Die aus dem Schlaf geweckten Soldaten mussten nur eine Frage beantworten: nach der Nationalität. Wer sich als Ruthene ausgab, war ab diesem Moment Teil der Streitkräfte der Westukrainischen Volksrepublik, alle anderen, vor allem Polen, wurden vom Dienst freigestellt. In den folgenden Monaten füllte man die Reihen durch Rekrutenaushebung wieder. Wie sehr man dabei bekannten, das heißt öster­reichischen Vorbildern folgte, belegen paradoxerweise die nach dem Krieg laut gewordenen Klagen polnischer Pfarrer über vermeintliche ukrainische Verbrechen. Der Geistliche Jan Szlęzak etwa sagte nach der Verdrängung der Ukrainer aus der Pfarrei Gliniany: Am schlimmsten war die Einberufung aller Männer bis 36 Jahre in die Armee. Nach Bekanntgabe der Mobilmachung wurden anfangs nur Ruthenen eingezogen, später betrachtete man auch die hiesigen Polen, da sie zu Hause Ruthe­ nisch sprachen, als lateinische Ukrainer [sic], man berief sie zum Militärdienst ein oder führte sie in den amtlichen Registern als Freiwillige.48 Die Rekruten der ukrainischen-galizischen Armee (UHA, so hießen die Streitkräfte der Westukrainischen Volksrepublik) erlebten vor allem den Stellungskrieg gegen die polnische Armee. Beide Parteien besetzten Stellungen entlang einer festen Frontlinie, die teils mehrere Monate unverändert blieb; sie beschossen einander und dezimierten sich in Angriffen und Gegenangriffen, auch unter Einsatz moderner Kampfmittel (die UHA verfügte etwa über eine Panzerwagendivision; die Polen besaßen in einer späteren Phase des Konflikts Panzer). Im ­Februar 1919 verpflichteten sich beide Seiten zur Einhaltung der Haager und der Genfer Konvention. Die Frontzeitungen heizten nicht nur die Kampfeslust an, sondern erinnerten die Soldaten auch an die Pflicht der humanitären Kriegs­ führung.49 Die Ambitionen und Pläne der ukrainischen Militärs scheiterten keineswegs nur am militärischen Misserfolg, sondern vielleicht vor allem an der ungenügenden Versorgung und am mangelnden Kampfwillen der Bewohner einer Region, die schon mehrere große Operationen hinter sich hatte. Die rekrutierten Bauern – selbst jene, deren ukrainische Nationalität keine Zweifel weckte – traten immer weniger begeistert in die Armee ein; umso häufiger verließen sie sie, um in die heimischen Dörfer zurückzukehren. Die Massendesertionen führten dazu, dass eine der Hauptbeschäftigung der UHA darin bestand, Flüchtlinge aus den eige156

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nen Reihen einzufangen, was ihrer Popularität unter den Betroffenen wie auch in der Zivilbevölkerung alles andere als zuträglich war. Abgesehen davon, mussten viele Rekruten wegen banaler Gründe wie dem Fehlen von Schuhwerk aus dem Dienst entlassen werden. Das Ansehen der UHA sank mit erschreckender Geschwindigkeit: Der ukrainische Soldat ist kampfmüde. Die Rekrutierungen finden vor der Drohkulisse von Maschinengewehren statt! Die Rekruten flüchten. Sie werden gefasst und mit Bajonetten zurückgetrieben. Revolten sind alltäglich (Kolomyja, Tarnopol). Die Kleidung ist sehr schlecht. Deshalb stehlen sie und nehmen den Leuten auf der Straße die Schuhe ab. Keine Disziplin! […] Bolschewistische Intrigen! […] Die Gefängnisse überfüllt […]. Die Offiziere verhasst wegen schwacher Intelligenz und moralischem Wert. Die Offiziere sagen selbst, im Fall des Misserfolgs würden sie als Erste von ihren Leuten gehängt werden! Zuletzt werden Polen und Juden für den Dienst abseits der Fronten eingezogen. Die Jahrgänge vom 17. bis zum 42. Lebensjahr. Die Jüngsten hinter der Front.50 Die Einhaltung der Regeln des Kriegsrechts und die Wahrung der Disziplin in den eigenen Reihen erwiesen sich insbesondere dann als schwierig, wenn die Truppen während des Kampfes auf Zivilisten trafen. Auch unter diesem Aspekt erinnerte der polnisch-ukrainische Konflikt mitunter an den Weltkrieg, konkret an den August und September 1914, als die deutsche Wehrmacht den größten Teil des belgischen Staatsgebiets besetzte. Ganz zu Beginn des Ersten Weltkriegs redeten sich die deutschen Militärs ein, die Einwohner des von ihnen überfallenen Landes führten unter Missachtung des Kriegsrechts einen meuchlerischen Kampf. Sie beschuldigten die belgischen und französischen Francs-tireurs der Heimtücke, der Tötung verwundeter Deutscher, des Giftmords und der Brandstiftung. Auf diese Anschuldigungen folgten harte Strafen: Hinrichtungen, die Vernichtung von Vermögen oder weltweit kommentierte barbarische Akte wie die Zerstörung von Leuven (und im Osten, wie wir aus dem ersten Band wissen, die Zerstörung von Kalisz und das Massaker an den Einwohnern von Šabac). In Ostgalizien war die Situation in den Jahren 1918 und 1919 insofern kompliziert, als – anders als in Leuven, Šabac oder Kalisz – die Zivilbevölkerung sich tatsächlich am Kampf beteiligte. Zudem war keine der kämpfenden Parteien in der Lage, die besetzten Gebiete schnell und effektiv zu pazifizieren. Das betraf vor allem größere Städte wie die Hauptstadt Galiziens, Lemberg. Bis auf wenige Ausnahmen gab es im Ersten Weltkrieg keine so langen und schweren Kämpfen im Stadt157

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kern einer regionalen Metropole. Belgrad etwa war, wie wir wissen, beim Einmarsch der Österreicher fast komplett entvölkert. In Lemberg hingegen gab es: In den Straßen, in allen Stadtteilen ununterbrochen Schüsse. Ukrainische Patrouillen ziehen alarmbereit und mit Gewehren durch die Straßen und schießen, wo und wie es ihnen gefällt, bisweilen auf Passanten. Sie fahren mit Panzerwagen herum, aus denen nach allen Seiten Maschinengewehre herausschauen. Der Straßenverkehr läuft trotzdem weiter. Die Straßenbahnen fahren nicht. Die Leute schlagen sich durch, so gut es geht. Wenn sie von Weitem eine Patrouille kommen sehen, verstecken sie sich in Hauseingängen, warten ab und laufen weiter. Man begegnet mehr Frauen als Männern. Sie müssen aus dem Haus, um die Familie zu ernähren. In der Stadt ist kaum noch etwas zu bekommen – Brot gibt es gar nicht, Fleisch wird mit Gold aufgewogen. Die verängstigte Bevölkerung der Umgebung hat ihre Lieferungen eingestellt; bald wird Hunger herrschen. Wir sind komplett abgeschnitten von der Welt.51 In Lemberg, wo polnische Zivilisten gegen reguläre ukrainische Truppen kämpften, verkündete die Führung der UHA im November, man werde jeden zehnten Einwohner jedes Hauses erschießen, aus dem auf ukrainische Soldaten geschossen werde. Schon in den ersten Tagen nach der Bekanntmachung wurde diese Drohung wahrgemacht.52 Zur selben Zeit konnten in einem von den Ukrainern besetzten Stadtteil die polnischen Ratsherren weitgehend ungehindert Sitzungen abhalten und wenige Tage vor der erwähnten Bekanntmachung fand im Stadttheater noch eine Aufführung statt.53 Selbst als sich in der zweiten Novemberhälfte die Situation zuspitzte, ereigneten sich noch Episoden wie die f­ olgende, von der Aleksander Czołowski, der Leiter des Stadtarchivs, berichtete: Der Offizier, der die erste und die zweite Revision leitete, konnte seine Leute noch von der Plünderung abhalten, nach der sie offen verlangten. Es endete damit, dass sie fünf Gewehre unterschiedlicher Systeme aus dem jetzigen Krieg und acht Revolver, leider Erinnerungsstücke von 1863, mitnahmen […]. Man kann wirklich von Glück reden […], dass ich an ungewöhnlich kultivierte Leute geraten war, die ihr Wort hielten und tatsächlich die Bestände schützten, denn bis zur Flucht aus dem Rathaus stand eine ukrainische Wache vor der Archivtür. […] Kampf ist Kampf, doch auch er sollte Kultur besitzen.54 In der Hauptstadt Galiziens waren die polnischen Zivilisten der Prüfstein für die Humanität und die Leistungsfähigkeit des ukrainischen Militärs. In der ostgalizi158

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schen Provinz war es oft umgekehrt. Stanisław Kawczak, der den Weltkrieg im 20. k. u. k. Infanterieregiment erlebte, beobachtete während der polnisch-ukrainischen Kämpfe in Galizien mehrere Pazifizierungen ukrainischer Dörfer durch polnische Einheiten. Seine Erinnerungen zeigen, wie schmal der Grat zwischen begründeten Repressionen und Kriegsverbrechen war: Auf dem Hof ein gutes Dutzend Zivilisten. Darunter einige Weiber und zwei Halbwüchsige. Nicht weit davon weggeworfene österreichische Gewehre. Siebzehn Gewehre und siebzehn Gefangene. Also sind die Megären und die Jungen auch gegen uns. Wir haben keine Zeit, uns lange mit ihnen zu befassen. Sie kommen mit in die Reihe der mit einem Seil aneinander Gefesselten. […] Bald darauf brachte eine Patrouille die Täter. Vier Frauen zwischen 30 und 40 Jahren und ein Halbwüchsiger. Man hatte ihnen die Gewehre abgenommen, als sie aus dem Hinterhalt schossen. „Es ist ein Elend mit den Weibern“, sorgt sich der Rittmeister. „Man weiß nicht, ob sie erschossen oder lieber aufgehängt werden sollen.“55 Die Schilderungen von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung sind für Historiker problematisch. Wie soll man sie bewerten? Wie lassen sich legitime Reaktionen auf eine reale Bedrohung von nachträglichen Rechtfertigungen von Kriegsverbrechen gegen Zivilisten unterschieden? Auf diese Fragen gibt es keine pauschale und eindeutige Antwort. Jeder Fall muss gesondert betrachtet werden. Wie in jedem Krieg waren Offensiven und Rückzüge die größte Belastung für die Zivilbevölkerung. In den Jahren 1914 und 1915 erlebten die Bewohner ganzer Regionen mehrere Besatzerwechsel, die meist mit unbegründeten, ausschließlich durch den Spionagewahn der Militärs motivierten Repressionen einhergingen. Mit dem Zerfall der imperialen Armeen änderte sich lediglich das Ausmaß dieses Phänomens. Mit dem häufigen Wechsel der „Befreier“ stieg natürlich die Gefahr, wegen Kollaboration mit dem Feind vor dem Feldgericht zu landen. Es stieg sogar exorbitant, wenn die neuen Herren der Lage die Wirklichkeit ignorierten und 1919 dieselben Maßstäbe anlegten wie 1914. Während zu Beginn des Kriegs im Prinzip nur Militärs Zugang zu Waffen und anderem Kriegsmaterial hatten, hatte sich nach den jahrelangen Kämpfen in den Dörfern alles mögliche Gerät angesammelt: Munition, Gewehre, Maschinengewehre und sogar Kanonen. Ein neuer Besatzer konnte sich angesichts dessen darauf beschränken, die Waffen zu konfiszieren und stichpunktartig Verdächtige auf illegalen Waffenbesitz zu kontrollieren. Oft aber verhielten sich die nationalen Armeen ebenso unflexibel wie kurz zuvor das österreichisch-ungarische oder russische Militär. Ost159

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mitteleuropäische Erinnerungen und Archive enthalten zahlreiche einfache und zugleich tragische Geschichten wie die Aussage einer griechisch-katholischen Bäuerin aus dem polnisch-ukrainischen Grenzgebiet: Am 12. Juni 1919 kamen sechs ukrainische Soldaten mit einem Fuhrwagen zu uns, sie befahlen uns, alle Wirtschaftsgebäude zu öffnen, und sagten, sie würden eine Requisition durchführen. Mein Mann öffnete die Gebäude und die Soldaten gingen überall hinein. Zwei kamen aus dem Stall und sagten, sie bräuchten kein Getreide, denn wir hätten Kugeln, sie suchten nicht weiter und verschwanden. Eine halbe Stunde später kam einer der Soldaten, ich glaube ein Korporal, und befahl meinem Mann, zum Feldgericht zu gehen, das sich im Gutshaus befand. Mein Mann dachte sich nichts Böses, weil die Patronen noch aus österreichischer Zeit stammten, als die Leute sie zum Zweck der Übergabe an die ukrainische Gendarmerie zu ihm gebracht hatten, und er vergessen hatte, sie den Ukrainern zu übergeben. Mein Mann war wohl schon eine Stunde im Gutshaus und meine Tochter und ich wollten schon hingehen und nachfragen, was mit ihm los war, als wir sahen, wie sechs Soldaten ihn auf einen Dorfplatz nicht weit von unserem Gehöft führten. Mein Mann sah uns und zog von Weitem den Hut und verabschiedete sich von uns. Wir wollten zu ihm hinlaufen, doch die Soldaten ließen uns nicht, dann hörten wir plötzlich Schüsse und nach der Salve sahen wir meinen Mann tot daliegen. Auf unsere Bitten erlaubte man uns, meinen Mann auf dem Friedhof zu bestatten.56 In Fällen wie diesem resultierte die Lebensgefahr für die Zivilbevölkerung aus dem Zusammenprall zweier Welten. Die Militärs versuchten das Kriegsrecht durchzusetzen, indem sie bewaffnete Diversanten und „Banditen“ für Verbrechen wie das Verstecken von illegalen Waffen oder für angebliche Sabotage hart bestraften. Letzteres hätte fast zum tragischen Ende einer von František Petr beobachteten Szene geführt. Während der polnisch-tschechischen Kämpfe im Olsagebiet kommandierte Petr eine Bahnschutzkompanie. Auf der betreffenden Strecke wurden tschechoslowakische Legionäre aus Frankreich transportiert, die gegen die Polen kämpfen sollten. Eines Tages fiel kurz vor der Abfahrt eines Zuges von einer mit Holz beladenen Lore auf dem Nachbargleis ein Stamm und versperrte die Durchfahrt. Die gereizten Legionäre wollten sofort den Bahnhofsvorsteher erschießen, den sie der Sabotage verdächtigen. Es kostete Petr einige Mühe, das Leben des unschuldigen Mannes zu retten.57 Ein derartiges Vorgehen war nicht immer willkürlich oder völlig irrational. Auch die Mittelmächte (sowie ihre Gegner) hatten während des Weltkriegs das 160

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Kriegsrecht ähnlich ausgelegt, wenn es ihnen gepasst hatte.58 Die konsequente Anwendung des Kriegsrechts in Frontgebieten wie Ostgalizien, den weißrussischen Gebieten oder, für etwas kürzere Zeit, im Olsagebiet führte unweigerlich zu Tragödien und zur Verschärfung des Konflikts. Keine Militärregierung hielt sich hier länger als etwas mehr als ein Jahr, die Fronten wechselten mitunter in atemberaubendem Tempo und Gefahr drohte den Bauern neben den regulären Einheiten auch von Deserteuren und gewöhnlichen Räubern. War es in einer solchen Situation nicht vernünftiger, den strengen Befehl zu missachten und nicht alle Waffen bei der Gendarmerie abzuliefern? Hätte man wirklich die einzige Verteidigungsmöglichkeit gegen künftige Überfälle leichtfertig aufgeben sollen? Die Grenze zwischen durch das Kriegsrecht legitimierter Gewalt und Verbrechen verwischte in derartigen Fällen fast komplett, was eine nüchterne Bewertung der Situation erschwert. Die Herausforderung ist umso größer, als die Geschichtsschreibungen in Ostmitteleuropa– anders als die von dort stammenden Rekruten – sich bereitwillig in den Dienst der patriotischen Erziehung stellten, indem sie die Schuld ihrer Länder verschwiegen und vor allem die Verbrechen der Nachbarn beschrieben. Während aber eine solche moralische Wertung im Fall längerer Besatzungen und systematischer Gewalt (wovon noch die Rede sein wird) naheliegt, so gibt es für instabile Situationen wie etwa in Ostgalizien keine ausreichenden Grundlagen. Mit weitaus größerer Wahrscheinlichkeit lassen sich die Intentionen der Kommandierenden rekonstruieren, die in Befehlen, Meldungen und anderen Äußerungen dokumentiert sind. Als Negativbeispiel kann hier das Vorgehen der russischen Führung im Ersten Weltkrieg gelten, das stärker von antisemitischen Obsessionen geprägt war als das Verhalten der einfachen Soldaten. Die auf Befehl von oben vollzogenen Zwangsaus- und -umsiedlungen schufen ein Klima, das Gewalt auch auf niedrigeren Kommandoebenen begünstigte. Angesichts der antisemitischen Haltung der Generäle waren die antijüdischen Stimmungen von Offizieren und Soldaten kein Missstand, sondern bildeten die Norm. Die meisten Konflikte, die 1917 begannen und von regulären Armeen ausgetragen wurden, hatten einen anderen Charakter. Natürlich fielen ihnen auch Zivilisten und wehrlose Kriegsgefangene zum Opfer, doch das waren Ausnahmen, die von der jeweiligen Führung mit disziplinarischen Maßnahmen bekämpft wurden. In den Völkerkriegen ging es weniger darum, die Bevölkerung zu terrorisieren, sondern sie für sich zu gewinnen. Mit dieser Absicht rückten im Frühjahr 1918 die Deutschen in die Ukraine ein. Den Großteil der dorthin entsandten Truppen bildeten schwache Einheiten der Landwehr; während der Präsenz in 161

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der Ukraine wurden konsequent alle jüngeren und besseren Soldaten an die Westfront geschickt. Die Deutschen agierten als Verbündete des Ukrainischen Zentralrats, was sich in einem strengen Verbot von Requisitionen äußerte. Ziel des Deutschen Reichs war es, die Ukraine zu unterstützen, damit diese ihre in Brest übernommenen Verpflichtungen erfüllten konnte: Brot nach Deutschland zu liefern. Freilich entsprach die Wirklichkeit im Osten schon damals nicht den Plänen und Erwartungen. Nicht lange nach dem Eintreffen in der Ukraine meldete eine Einheit: In den neu besetzten Gebieten chaotische Verhältnisse, die sich sehr langsam klären. Die Macht des Rates reicht nur bis dort, wo die deutsche Armee stationiert ist. Diejenigen, die sie hier die Bolschewiki nennen, sind bis auf die Anführer nur seltsame Banden von Soldaten und uniformierten Zivilisten. Es scheint, dass hier alle in Uniform gehen; Zivilisten trifft man kaum.59 Die Einheimischen hatten nicht nur eine Vorliebe für Uniformen. Sie waren auch bewaffnet, was angesichts der Schwäche der ukrainischen Regierung die Intervention in eine Reihe von Strafexpeditionen verwandelte. Anfangs überstellte man die gefassten „Bolschewiki“ den ukrainischen Behörden. Bald zeigte sich aber, dass die ukrainischen Gerichte nicht funktionierten und die Gefangenen nur unzureichend überwacht wurden. Nach einigen Wochen gingen die Deutschen daher dazu über, die von ihnen gefassten Verantwortlichen für Überfälle auf ihre Einheiten vor eigene Kriegsgerichte zu stellen. Dieser Schritt trug nicht zur Beruhigung der Lage bei. Die Auseinandersetzungen dauerten an, die deutschen und österreichisch-ungarischen Verluste wuchsen. In den Kämpfen um Mikolajiw am Bug, die sich überwiegend in der Stadt selbst abspielten, betrugen sie mehr als 300 deutsche und österreichisch-ungarische Offiziere und Soldaten. Die Führung der 9. Armee reagierte auf typische und vorhersehbare Weise: Es erging der Befehl, alle mit der Waffe in der Hand ergriffenen irregulären feindlichen Kämpfer unverzüglich hinzurichten. In den Wochen danach machten die Deutschen, wenn man den offiziellen Berichten der in der Ukraine stationierten 1. Königlich-Bayerischen Kavalleriebrigade glauben darf, keine Gefangenen mehr. Das größte Massaker ereignete sich im Juni 1918 nach einer gescheiterten bolschewistischen Landeoperation am Mius. Die Sieger erschossen dort mehr als 2000 gefangen genommene Kommunisten, unter denen sich auch Frauen und sogar Kinder befanden. Die Sache wurde aber publik, die sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten forderten eine Erklärung. Sie bekamen einen recht wir162

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ren Bericht über bolschewistische Grausamkeiten und den Schutz der lokalen Zivilbevölkerung zu hören.60 Im Grunde gaben die Militärs alle ihnen vorgeworfenen Taten zu und verwiesen lediglich auf diverse mildernde Umstände ihres Vorgehens. Sie beschrieben bolschewistische Bestialitäten und erinnerten an die Notwendigkeit der Wahrung der Ordnung und des Schutzes der Zivilisten. Auch die Solidarität unter Kameraden dürfte eine Rolle gespielt haben: Zwei Monate zuvor war in Taganrog Paul Rennenkampf, der unglückliche Kommandeur des Ostpreußen-Feldzugs 1914, von Bolschewiki ermordet worden. All diese Erklärungen zielten auf eine einfache Schlussfolgerung, die allerdings die deutsche Offiziersehre nicht laut auszusprechen gestattete. Die Deutschen waren in der Ukraine in einen Strudel von Ereignissen hereingezogen worden, den sie nicht zu kontrollieren vermochten. Angesichts eines multilateralen Konflikts, in dem der Unterschied zwischen Verbündeten und Feinden sowie zwischen Militär und Zivilbevölkerung ein rein theoretischer war, hatten sie sich einfach den bestehenden Verhältnissen angepasst. Trotz seiner offensichtlichen organisatorischen, militärischen und finanziellen Überlegenheit über die übrigen Akteure in der Ukraine bestimmte nicht Deutschland die Regeln des dort gespielten Spiels. Auch im besetzten Serbien trugen Maßnahmen von polizeilichem Charakter, die theoretisch die Lage beruhigen sollten, zur Zuspitzung bei. Wie wir wissen, brach dort Anfang 1917 ein Aufstand aus, der weder von den österreichischen und bulgarischen Besatzern noch von den Agenten der serbischen Exilregierung unter Kontrolle gebracht werden konnte. Dafür gab es mehrere Gründe. In den schwer zugänglichen Regionen des Landes versteckten sich immer noch kleine Gruppen serbischer Soldaten. Die Anführer dieser Trupps bekleideten oft keinen militärischen Rang, doch nach vielen Monaten in den Bergen waren sie nicht bereit, sich wem auch immer unterzuordnen; sie betrieben eine eigene Politik. Die dezentrale Struktur des serbischen Widerstands verhinderte Waffenstillstandsvereinbarungen, die ein größeres Gebiet umfasst hätten. Die Bulgaren gossen zusätzliches Öl ins Feuer, indem sie Serben in die bulgarische Armee einberiefen. Das war ein weiterer Akt eines außergewöhnlich brutalen Besatzungsregimes. Dennoch erklärte der bulgarische Ministerpräsident Wassil Radoslawow – zum ungläubigen Staunen österreichisch-ungarischer Politiker –, der Aufstand sei die Folge einer zu laxen Politik Sofias. Nach Auffassung Wiens war es genau umgekehrt: Die Grausamkeit der Bulgaren stärkte den serbischen Widerstand und verkomplizierte zudem die Lage der k. u. k. Monarchie.61 Der Kampf gegen die serbischen Aufständischen verwandelte sich in eine Kette brutaler Repressionen gegen oft völlig unbeteiligte Menschen. Auch hier taten sich die Bulgaren 163

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hervor, die methodisch Dörfer entlang der Bahnlinien abbrannten, wo zwar keine Partisanen gesichtet wurden, aber umso leichter und gefahrloser brutale Pazifizierungen durchgeführt werden konnten. Bis zum Sommer griff der Konflikt auf die österreichisch-ungarische Besatzungszone über, was große Truppenkontingente band, die man lieber an der Ostfront eingesetzt hätte. Im Kampf gegen die Partisanen hatte die Monarchie keineswegs nur Erfolge zu verzeichnen. In kleineren Gefechten wiederholten sich in kleinerem Maßstab die kompromittierenden Niederlagen des Feldzugs von 1914. Der deutsche Konsul in Belgrad berichtete, dass in einem Scharmützel eine serbische Kompanie, die der österreich-ungarische Kommandeur vor sich glaubte, plötzlich in seinem Rücken auftauchte und einen Offizier sowie 53 Soldaten tötete; hinzu kamen 120 Vermisste.62 Im Mai überfiel und brandschatzte Kosta Pećanac, einer der berühmtesten Rebellenführer, bulgarisches Territorium. Erfolge im Kampf gegen die Aufständischen stellten sich erst ein, als die Bulgaren statt regulärer Truppen eigene paramilitärische Verbände einsetzten, die ähnlich organisiert waren und ähnlich agierten wie die serbischen Partisanen. Auf diese Weise konnten manche Widerstandsnester ausgehoben und sogar einige serbische Warlords zum Dienst auf bulgarischer Seite angeworben werden. Der Kampf gegen die serbischen Partisanen dauerte mit wechselnder Inten­ sität bis Kriegsende, ohne dass eine der beiden Seiten den Sieg hätte erringen können. Es gab keine allgemeine Erhebung gegen die Besatzer, denen es wiederum nicht gelang, die wichtigsten Köpfe des Aufstands zu fassen. Die Bekämpfung von Partisanen war immer ein heikles Unterfangen. Zu harte Repressionen heizten den Widerstand oft eher noch an, als ihn zu unterdrücken, indem sie den Partisanen Zulauf bescherten – so erlitten etwa die Briten zur gleichen Zeit, als die Armeen Österreich-Ungarns und Bulgariens gegen serbische Widerständler vorgingen, eine spektakuläre politische Niederlage im Kampf gegen die irische Guerilla.63 Das einzige messbare Ergebnis des Vorgehens in Serbien waren Tausende im Kampf Getötete oder in Gefangenschaft Ermordete, niedergebrannte Dörfer und unzählige Obdachlose.64 Dietrich Beyrau konstatiert in seinen Ausführungen zu Russland, der Ende 1916 einsetzende immer schnellere Zerfall staatlicher Strukturen habe zu immer mehr dezentraler Gewalt geführt. Die neuen politischen Lager hätten das einstige Gewaltmonopol der Zentralmacht unter sich aufgeteilt: Weiße und Rote, aber auch zahllose kleinere und völlig marginale For164

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mationen, Trupps, Banden und Grüppchen.65 Obwohl Russland hinsichtlich des Ausmaßes und der Folgen einen Sonderfall darstellte, war das Phänomen gleichwohl auch in anderen Regionen Ostmitteleuropas bekannt. Die reguläre Armee, die sich in den Frontkämpfen der vorangegangenen Jahre besser oder schlechter bewährt hatte, konnte die neuen Gegner, die einen ganz anderen Krieg führten, nicht entscheidend besiegen. Da sie ihm nicht ihre Regeln aufzwingen konnten, passten sie sich den vor Ort geltenden an.

Der Eisenbahnfeldzug Ein ganzes Kapitel in Leo Trotzkis so viel gelesener wie konfuser Biografie ist dem „Zug“ gewidmet: Zweieinhalb Jahre verbrachte ich mit kurzen Unterbrechungen im Eisenbahn­ wagen, der früher einem Verkehrsminister gedient hatte. Der Wagen war vom Standpunkte des Ministerkomforts gut ausgerüstet, aber wenig für Arbeit geeignet. Hier empfing ich unterwegs die Berichterstatter, beratschlagte mich mit den örtlichen militärischen und zivilen Behörden, arbeitete die telegraphi­ schen Eingänge durch, diktierte Befehle und Artikel. Von hier aus unternahm ich mit meinen Mitarbeitern in Automobilen größere Reisen die Front entlang. In den freien Stunden diktierte ich im Wagen mein Buch gegen Kautsky […] und eine Reihe anderer Werke. In jenen Jahren habe ich mich, wie mir scheint für immer, daran gewöhnt, unter Begleitung der Pullmann­schen Federn und Räder zu schreiben und zu denken.66 Es erwies sich als eine sehr gute Idee, die gleichzeitig in mehrere Kriege an weit von­einander entfernten Fronten involvierte Armee von einem mobilen Kommandopunkt zu führen. Es war aber nicht Trotzki, der als Erster die zentrale Rolle der Eisenbahn für die Kämpfe im Osten entdeckte. Dieses Verdienst gebührt eher den deutschen und österreichisch-ungarischen Generälen, die für die im Februar 1918 während der Verhandlungspause in Brest gestartete Offensive verantwortlich zeichneten. Der blitzartige Vorstoß folgte den Eisenbahnlinien, über die sich die nicht sonderlich großen Einheiten rasch immer weiter nach Osten transportieren ließen. Das funktionierte so gut, dass man schon damals vom „Eisenbahnfeldzug“ sprach.67 Die Bedeutung der Eisenbahn für die effektive Mobilisierung und den Transport von Soldaten war den Strategen aller kriegführenden Staaten klar. Wollte man schon für den Sommer 1914 auf eine Besonderheit Ostmitteleuropas hinwei­ sen, so wären es das relativ dünne Eisenbahnnetz und die technischen Schwie165

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rigkeiten aufgrund der größeren Spurbreite im russischen Imperium. Dass ausgerechnet in einem solchen Gebiet die Eisenbahn eine strategische Hauptrolle spielte, ist nur auf den ersten Blick paradox. Der Grund war, dass die weiten, oft nur schwer zugänglichen Landstriche von nur wenigen Bahnlinien durchzogen wurden. Diesen maßen die Regierungen sowohl in der Verteidigung als auch im Angriff oberste Priorität zu. Infolgedessen rückten wenig imposante, aber an wichtigen Strecken gelegene Städte wie Kowel oder Baranowitschi in den Mittelpunkt des Interesses. Schon während der deutschen Riga-Offensive erfolgte der Rückzug von Russen und Letten meist in Zügen. Die ihnen nachsetzenden Deutschen versuchten, weiter entfernt gelegene Bahnhöfe zu besetzen, um den Fliehenden den Weg abzuschneiden. Auch die ukrainische Legende von den jungen „Spartanern“ aus Kruty belegt die zentrale Bedeutung der Bahnhöfe, zumal der an Knotenpunkten gelegenen Stationen. Der Übergang vom Krieg der Imperien zum Völkerkrieg festigte nicht nur die Bedeutung der Eisenbahn, sondern erweiterte auch das Repertoire der Möglichkeiten ihrer militärischen Nutzung. Einige davon prägten entscheidend die Gestalt Nachkriegseuropas. Beginnen wir mit der Heimkehr von der Front und aus der Gefangenschaft. Für die jungen Staaten bildete sie mitunter eine sehr viel größere organisatorische Herausforderung als der Transport der eigenen Truppeneinheiten. Für die Bewohner der an den Bahnlinien gelegenen Orte bedeutete sie eine reale Bedrohung für Besitz und Leben. Der Ministerpräsident der im November 1918 gegründeten provisorischen polnischen Volksregierung, der Sozialist Jędrzej Moraczewski, wertete diese logistische Operation im Rückblick als Prüfstein für die Qualität des Staates: Die Effektivität der Eisenbahn wurde zur ersten Voraussetzung für die Rettung des Landes. Das geschah in einem Augenblick, als die Bevölkerung spontan die verhassten ausländischen Bahnbeamten mit Kind und Kegel von ihren Posten jagte. Die Volksregierung tat, was sie konnte, um der Aufgabe gerecht zu werden. Zum Glück war das Bahnpersonal seiner Aufgabe gewachsen. Die Übernahme der Bahn erfolgte unglaublich schnell. Durch den Personalaus­ tausch wurde der Verkehr gerade einmal für einige Stunden unterbrochen. In einer großen Anstrengung brachte die Bahn die Lage unter Kontrolle und der Transport von Kriegsgefangenen verlief so reibungslos, dass die Menschen gar nicht mitbekamen, welch ungeheuren Völkermassen durch das Land flossen.68 Es muss allerdings hinzugefügt werden, dass ein großer Teil des Ost-West-Transfers an der polnischen Staatsbahn vorbeilief. Die Evakuierung der Deutschen aus 166

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den einst russischen Gebieten lief vor allem über Ostpreußen, also abseits der polnischen Hauptstrecken. Und die Rückkehr aus russischer Kriegsgefangenschaft begann schon im Frühjahr 1918 nach Unterzeichnung des Friedensvertrags von Brest-Litowsk. Der Heimweg war für die freigelassenen Kriegsgefangenen überaus mühsam und dies keineswegs nur wegen der Entfernungen und des miserablen Zustands der russischen Bahnlinien und Züge. Ein ebenso großes Hindernis war der Argwohn der deutschen und österreichisch-ungarischen Militärverwaltungen, die zudem noch schlecht zusammenarbeiteten. Die beiden mitteleuropäischen Monarchien, die sich vor bolschewistischer Agitation fürchteten, behandelten die Heimkehrer aus Russland als potenzielle Träger einer ideologischen Seuche. Dementsprechend gingen medizinische und – wie man sie damals nannte – „moralische“ Quarantäne Hand in Hand. Eine Kommission bewertete die Haltungen von Offizieren und Soldaten. Wer kommunistischer Neigungen verdächtig war, wurde endlos festgehalten oder gänzlich abgewiesen. Die Deutschen ließen vor allem Ungarn und Deutschösterreicher, die sie als besonders anfällig für revolutionäre Ideen erachteten, nur ungern passieren. Auf die von jahrelanger Gefangenschaft, Tausende Kilometer langen Reisen und Armut gezeichneten Heimkehrer wirkte dieses Prozedere überaus deprimierend: Ganz eigenartig berührte uns das unglaubliche Mißtrauen, mit dem man uns begegnete. Die Art der Aufnahme, die man allenthalben den Heimkehrern bereitete […] kränkte und verbitterte. Als Märtyrer des Vaterlandes hatten sie jahrelang fast Undenkbares ertragen müssen. Jetzt wurden sie von Hinter­ lands­­helden verdächtigt, schikaniert und bespöttelt. […] Dem jahrelangen Traum, die Heimat so wiederzufinden, wie wir sie verlassen hatten, folgte nunmehr Enttäuschung und bitteres Erwachen.69 Die allenfalls mäßige Begeisterung, mit der das Vaterland seine heimkehrenden Verteidiger empfing, hatte nicht nur ideologische, sondern auch ökonomische Gründe. In Brest-Litowsk war ein äquivalenter Austausch von Kriegsgefangenen vereinbart worden. Es sollten also ebenso viele russische Soldaten freigelassen werden, wie eigene Soldaten aus dem Osten zurückkehrten. Der messbare Nutzen der Rückkehr der Landsleute war aber fraglich. Viele von ihnen taugten selbst nach einer Rekonvaleszenzzeit nicht zum erneuten Einsatz an der Front. Alle aber mussten ernährt werden, was Mitte 1918 ein ernstes Problem darstellte. Umgekehrt wurden die russischen Gefangenen, die zum überwiegenden Teil schon seit 1914 oder 1915 in Gefangenschaft waren, zu einem wesentlichen Fak167

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tor in der Kriegsmaschine der Mittelmächte. Ihre Entlassung aus Fabrik- und Landarbeit bedeutete spürbare finanzielle Verluste. Vor diesem Hintergrund mussten die aus Russland heimkehrenden Soldaten der Habsburger und Hohenzollern mitunter lange warten, bis ihre ideologische Haltung und ihr Gesundheitszustand für so weit zufriedenstellend erklärt wurden, dass man ihnen die Rückkehr nach Hause gestatten konnte. Gleichwohl gelangten trotz aller Schikanen dennoch bolschewistische Agenten nach Deutschland oder Österreich-Ungarn. So durchlief etwa der spätere Führer der Ungarischen Räterepublik Béla Kun unter falscher Identität problemlos beide Quarantänen. Nach Ungarn kam er als Militärarzt Emil Sebestyén. Während im Frühjahr 1918 die Heimkehrer nach Deutschland und Österreich-Ungarn einer Selektion und beschwerlichen Kontrolle unterzogen wurden, wurden beide Länder einige Monate später von einer völlig unkontrollierbaren Welle von Armeetransporten überrollt. In den letzten Oktoberwochen brach die österreichisch-ungarische Front in Italien zusammen, um nicht zu sagen, sie ­löste sich in Luft auf. Die Soldaten verließen scharenweise ihre Stellungen und machten sich auf den Heimweg. Der Gesandte des britischen Foreign Office ­äußerte sich zutiefst erstaunt, dass diese Völkerwanderung nicht in einer humanitären Katastrophe endete. Manche Bilder ließen ihm das Blut in den Adern gefrieren: Die Soldaten stürzten sich auf die Züge, sie schlugen Fenster ein, um hineinzugelangen, die Waggondächer waren voller Menschen. In Tirol […] schliefen erschöpfte Soldaten auf diesen Dächern ein und stürzten – von Kameraden gestoßen oder wegen der Enge – in Kurven vom Zug. Die Mehrzahl der auf den Dächern Reisenden stürzte bei Tunneldurchfahrten ab und starb. Die ganze Bahnstrecke ist von Leichen gesäumt.70 Die unter derart schwierigen Umständen reisenden Soldaten riskierten nicht nur ihr eigenes Leben, sondern wurden bei jedem Halt auch zu einer Gefahr für die öffentliche Ordnung. Die Mehrheit wollte so schnell wie möglich nach Hause gelangen. Die Reisen dauerten freilich lange und es mangelte unterwegs nicht an Anlässen zu Konflikten. In der ersten Novemberwoche kam es an einigen österreichischen Bahnknoten zu Unruhen, unter anderen in Gnigl bei Salzburg und in Amstetten. Das Szenario war jedes Mal ähnlich: Aus den Waggons ergoss sich eine (meist zu Recht) über die unterwegs erhaltenen Lebensmittelrationen unzufriedene Soldatenmenge, teils unterstützt durch freigelassene russische Kriegsgefangene, und versuchte, die von der frisch formierten Volkswehr be168

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Deutscher Armeezug auf dem Weg in die Heimat, 1918.

wachten Nahrungsmittellager zu stürmen. Gelegentlich kam es zu Schusswechseln und Toten auf beiden Seiten. Letztlich gelang es jedes Mal, den Raub bis zur Ankunft des nächsten revoltierenden Transports zu verhindern. Die österreichische Presse verlieh den Vorfällen eine politische Dimension und sah die Verantwortung vor allem bei den Ungarn. Die Amstettner Zeitung schrieb unmittelbar danach: Es hat den Anschein, als ob der wilde Haufen die Bahnhofgastwirtschaft stürmen wollte. Die Plünderer schienen sich aber über ihr weiteres Vorgehen nicht einig zu sein, dem gleichzeitig sah man im Hintergrunde zahlreich erhobene Hände. Vordringende Gendarmen und die mittlerweile herbeigeeilte Volkswehr säumt nun mit vorgehaltener Waffe die revoltierende Menge ein, worauf dann die Entwaffnung der nichtdeutschen Soldaten vorgenommen werden konnte. Der deutschen Mannschaft wurden die Waffen belassen. Diese beklagten sich über schlechte Behandlung durch die Magyaren, die in großer Überzahl waren und den Deutschen die Lebensmittel abge169

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nommen und ihre guten Kleider und Schuhe gegen schlechte vertauscht hatten. Diese Plünderertruppe hatte bereits fünfmal, ohne Widerstand zu finden, Aus­schreitungen begangen […] Das Verhalten der deutschsprachigen Soldaten und mehrerer mitfahrender russischen Kriegsgefangenen war einwandfrei.71 Sehr viel ruhiger ging es auf den weniger stark befahrenen Strecken zu. Der tschechische k. u. k. Unteroffizier Antonín Záruba, der im Frühjahr 1918 nach einem Krankenhausaufenthalt in Sarajevo zu einem kurzen Urlaub nach Hause fuhr, erwischte zufällig einen deutschen Urlaubszug von Belgrad über Budapest, Wien und Prag nach Dresden. Die Passagiere erhielten an jedem Bahnhof Verpflegung, was der ausgezehrte tschechische Mitreisende dankend annahm. Einige Monate später wurde Záruba, der in einer Einheit im montenegrinischen Kotor Dienst tat, zufällig zum Zeugen eines illegalen Handels zwischen lokalen Schmugglern und seinen k. u. k. Kameraden. Gegen ein Bestechungsgeld wahrte er Schweigen. Einige Tage später, während derer die Nachricht vom Ende des Kriegs nach Kotor gelangt war, investierte Záruba die erhaltene Summe in die beliebteste Schmuggelware: Tabak. Mit einem prall gefüllten Rucksack und einer Heidenangst trat er den Heimweg an. Er überstand zig Kontrollen, bei denen man sich zu seinem Glück nur für seine Waffen und Munition interessierte, nicht aber für seine private Habe. Einen Moment des Schreckens erlebte der Gelegenheitsschmuggler kurz vor Ende seiner Reise. In Tschechien hatte man die Durchsuchungen in den Zügen den jungen „Falken“ übertragen, die diese Aufgabe mit dem ihrem Alter entsprechendem Eifer erfüllten. Wieder kamen Záruba ungewollt die Deutschen zu Hilfe. Weil der Zug mit einem nur flüchtig kontrollierten deutschen Transport verbunden wurde, entging Záruba der Entdeckung und gelangte mit dem Tabak nach Hause.72 So wie er kehrten – mit oder ohne Beute – Tausende auf eigene Faust in die Heimat zurück. Die Rückkehr der Deutschen, die sich in der Ukraine und Weißrussland aufhielten, verzögerte sich um einige Monate oder manchmal auch mehr. Die Kapitulation des Reichs brachte sie in eine merkwürdige Situation. Fast von einem Tag auf den anderen verwandelte sich die stärkste Streitkraft in der Region in eine Gruppe bewaffneter Zivilisten, die so schnell wie möglich nach Hause wollten. Zu diesem Zweck verhandelten die deutschen Einheiten mit den lokalen Warlords, die der ukrainischen Regierung Symon Petljuras unterstanden, oder mit den Bolschewiki. Meist bestand der Preis für die Durchreise in der H ­ erausgabe der Waffen. Nach einigen Zwischenfällen war klar, dass die völlige Entwaffnung 170

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Deutsche Kriegsgefangene nach der Rückkehr nach Konstanz, 1918.

für die Abrückenden tragische Folgen haben konnte. In einigen Fällen wurden die Reisenden sofort mit ihren eigenen Waffen erschossen, häufiger ging die Entwaffnung mit Raub einher. Die Ukrainer wiederum versuchten den Deutschen eine Organisation der Transporte aufzuzwingen, bei der die Evakuierung im Westen beginnen und erst am Ende die östlichen Gebiete der Ukraine erreichen würde, wo jeder Verbündete im Kampf gegen die Rote Armee gebraucht wurde.73 Zivilisierter verlief die Evakuierung der von Polen besetzten Gebieten, obwohl es auch hier zu mysteriösen (etwa die Bombardierung des Bahnhofs in Chełm) und kuriosen (wie die Drohung des deutschen Soldatenrats aus Białystok, als Ver­ geltung für den großpolnischen Aufstand die Stadt zu annektieren) Zwischenfällen kam.74 Insgesamt aber verlief der Abzug der Besatzer geordnet, in Abstimmung mit Eisenbahnern und Polen. Für alle Fälle ließ die Wehrmacht die Gleise zwischen Brzest und Grajewo von einer eigens angeheuerten Schutz­truppe bewachen.75 Die Massenrückkehr von der Front und aus der Gefangenschaft bildete eine zusätzliche Belastung für ein System, das ohnehin aus dem letzten Loch pfiff. Die Passagiere zerstörten nicht selten die Züge, in denen sie reisten; die überlasteten 171

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Waggons verschlissen schneller, die Fahrtzeiten verlängerten sich. Davon, welche Anstrengung Bahnreisen für zivile Passagiere bedeutete, wird noch die Rede sein. Doch auch die privilegierten Militärs hatten manchen Grund zur Klage. Der Divisionsintendant Stanisław Burnagel hielt den Kollaps des Transportwesens für eines der größten Probleme seiner gesamten Dienstzeit: Wer in dieser Zeit [im Jahr 1919] mit der Bahn nach Wilna reiste, erinnert sich zweifellos an die unglaubliche Unzuverlässigkeit der Breitspurbahn. „Die Reise­zeit vom rechten Flügel der VI. Infanteriebrigade der Legionen nach Wilna kann vermutlich 4–5 Tage betragen“, heißt es im Bericht der Divisions­ führung vom 4. Januar 1919. Kein Wunder, denn die Abfahrt des Zuges aus Wilna verzögerte sich regelmäßig um sechs Stunden, manchmal um fünf,

Verladung russischer ­Kriegs­gefangener auf dem Bahnhof Stryj.

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manchmal um zwölf, wobei der längste Halt in Nowoświęciany [Švenčionėliai] war, wo die Dampflok zum Auffüllen der Holz- und Wasservorräte in den Lokschuppen fuhr, kaputt ging und obligatorisch so lange kaputt war, bis der Lokführer aus der Stadt zurückkehrte. Im Bericht der Divisionsführung vom 4. November 1919 lesen wir, dass „der Personenzug Wilna–Turmont aus Wilna zwischen 19 Uhr und 3 Uhr in Dukszty [Dūkštas] ankommt und aus Dukszta zwischen 23 Uhr und 6 Uhr in Richtung Wilna abfährt.“ Unter diesen Umständen war die Fahrt nach Wilna eine ernste Expedition von mindestens zwei Tagen. Dieses Tempo der Bahn verhinderte auch eine schnellere Bereit­ stellung von Waggons und das größte Unglück waren Achsschäden an einem beladenen Waggon. Diese Waggons kehrten dann aus Podbrodzie [Pabradė] oder Nowowilejka [Naujoji Vilnia] zum Umladen nach Wilna zurück. Das verzögerte die Lieferung des jeweiligen Materials um mindestens zwei Tage.76 Unter dem katastrophalen Zustand der Bahn litten nicht nur die Transporte an die Front, sondern auch die in umgekehrter Richtung. So musste der in einem Gefecht mit den Bolschewiki verwundete polnische Ulan Jan Fudakowski mehre-

Eine sehr realitätsnahe Karikatur: Bahnfahrt in Kriegszeiten.

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re Stunden auf die Erstversorgung warten. Dann wurde er mit einem Lastwagen zum nächsten Bahnhof gebracht und mit anderen Verwundeten in einen Güterwaggon verfrachtet. Die Reise nach Kowel dauerte sehr lange, der Zug stand stundenlang auf kleinen Bahnhöfen oder auf freiem Feld, um Armeetransporte an die Front passieren zu lassen.77 In Kowel wurden die Verwundeten in einem Lagerhaus untergebracht, wo sie Kaffee und eine dünne Suppe erhielten, man den leichter Verletzten aber nicht einmal die Verbände wechselte. Dafür konnte man die Schwerverwundeten schon nach einigen Tagen ins Landesinnere transportieren. Der Rest verbrachte gut eine Woche in dem dunklen Lagerhaus ohne fließendes Wasser und die Möglichkeit, sich zu waschen. Eines Abends bewegten mich die Langweile und das lästige Jucken zu einem makabren Wettkampf mit einem leicht verwundeten Nachbarn, wer binnen 15 Minuten mehr Läuse aus seinem Hemd fische. Wir stellten zwei Kerzen zwischen unsere Tragen, entblößten unseren Oberkörper und gingen vor den Augen einiger Schaulustiger auf die Jagd. Eine gefangene Laus musste an die Kerzenflamme gehalten werden, die jedes Mal mit dem typischen Zischen aufloderte. Die Zuschauer zählten und nach 15 Minuten erklärte man mich zum Sieger, weil ich weit über hundert Flöhe gefangen hatte.78 Die verlausten Leichtverwundeten absolvierten noch eine kurze Reise von Kowel nach Brest. Erst dort kam Fudakowski in einen Sanitätszug, der ihn nach den vorangegangenen Erfahrungen schlicht begeisterte: Es war ein neu eingerichteter Zug aus Posen mit Posener Sanitäts- und Bahn­ personal, der gekommen war, um die ersten Verwundeten von der Front ­ab­zu­transportieren. Wir fühlten uns darin fast wie im Paradies. Makellos ­saubere Waggons, saubere Decken und Kopfkissen auf den Tragen, die in drei Etagen an den Waggonwänden angebracht wurden – kein schlechter Luxus! Im Gang zwischen den Tragen liefen fürsorgliche Sanitäter und weiß gekleidete Rotkreuzschwestern umher.79 Die meisten Soldaten der nationalen Armeen konnten von eigenen Urlaubszügen, gut ausgestatteten Lazarettzügen oder auch nur rechtzeitigen Munitions-, Waffen- und Vorratslieferungen nur träumen. Täglich begegneten sie aber Panzerzügen, die in den späteren Konflikten eine immer wichtigere Rolle spielten. 174

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Der „Eisenbahnkrieg“ wurde selbst dort geführt, wo es nur eine einzige Bahn­ linie gab und somit die Möglichkeit zu überraschenden Manövern oder gar zu einem endgültigen Sieg minimal erschien. Ein Beispiel dafür war die strategisch wichtige Linie nach Archangelsk, von wo amerikanische und britische Konvois mit Waffen, Kohle und Lebensmitteln nach Russland gelangten sowie russisches Getreide, Leder Holz und Leinen in umgekehrte Richtung auf den Weg gebracht wurden. Einige Monate nach der Machtübernahme durch die Bolschewiki wurde Archangelsk zum wichtigsten Hafen der Expeditionstruppen im Norden Russlands. Um die nach Süden führende Bahnlinie führte die Rote Armee lang an­ dauernde Kämpfe mit Franzosen und Amerikanern, die einen provisorischen Panzerzug einsetzten, der aus einigen Kohlewaggons bestand, auf die man Geschütze und MGs montiert hatte. Die Bolschewiki bauten einen ähnlichen Zug. Das umkämpfte Gebiet war selbst für russische Verhältnisse sehr dünn besiedelt und außerdem sumpfig, was es so gut wie unmöglich machte, die Flanke des Feindes zu umgehen. Angesichts dessen bestand die Strategie des amerikanisch-französischen Eisenbahnfeldzugs darin, die Russen entlang der Bahnlinie nach Süden abzudrängen. Die zurückweichenden Bolschewiki zerstörten dabei meist eine der 262 Brücken zwischen Archangelsk und Wologda. Das verlangsamte den Vormarsch der Intervenienten so sehr, dass gar keine Gegenangriffe nötig waren, um die „Eisenbahnoffensive“ aufzuhalten.80 Die echten Panzerzüge waren natürlich sehr viel eindrucksvoller als die provisorischen Züge der Amerikaner im Norden Russlands. František Petr begriff dies 1919, als man ihm das Kommando einer solchen Einheit (mit der Nummer 8) übertrug: Die Übergabe eines Panzerzugs ist keine Kleinigkeit. Der Zug besteht aus ­ei­nem Bahntrupp, einem Artillerietrupp, einem Fußtrupp, einer oder mehreren Lokomotiven, Waggons, Geschützen, Maschinengewehren, Gewehren, Grana­ten, Hunderttausenden Geschossen und so weiter und so weiter. Außer­ dem umfasst er Werkstätten, Lager sowie eine für die Erstellung diverser Listen, der Buchhaltung und von anderem zuständige Kanzlei.81 Um ein Haar wäre dieser penible Umgang der Tschechen mit der neuen Waffe in einer strategischen Katastrophe geendet. Als im Frühjahr 1919 die ungarische Rote Armee nach Norden vorrückte und die tschechoslowakischen Legionäre aus der Slowakei verdrängte, waren die Ungarn auf der Schiene überlegen. Entlang der Hauptbahnstrecken drangen die ungarischen Truppen rasch vor, unterstützt durch das Artilleriefeuer von mehr als einem Dutzend Panzerzüge. Die 175

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Tschechoslowaken konnten ihnen anfangs nur eine Handvoll entgegensetzen; die übrigen (darunter František Petrs Einheit) waren zu weit entfernt oder wurden neu organisiert. Erst nach einiger Zeit konnten die Tschechoslowaken durch die Entsendung von mehr Soldaten und – vor allem – Panzerzügen die ungarische Überlegenheit ausgleichen. Am 20. Juni, kurz vor dem Erlöschen der Kämpfe, kam es bei Nové Zámky zu einem dramatischen Gefecht. Der französische General Eugène Mittelhauser, Kommandeur der Tschechoslowaken auf diesem Abschnitt, war Augenzeuge der Schlacht, die maßgeblich zum Erliegen der ungarischen Offensive beitrug: Mein Zug war noch etwa drei Kilometer vom Bahnhof entfernt, als eine Ex­ plosion den Waggon erschütterte, bei der mehrere Fensterscheiben zu Bruch gingen. Ich vermutete den Ort der Explosion östlich von Nové Zámky und mir schien gleich, als sei die Eisenbahnbrücke über die Nitra in die Luft geflogen. Wenige Minuten später fand ich Major Bonneau, der bestätigte, dass die Brücke in dem Moment gesprengt wurde, in dem unser Panzerzug darüberfuhr […]. Im abziehenden Rauch konnte ich durch das Fernrohr den Zug auf der anderen Seite der Brücke ausmachen. Intensives Feuer aus seinen Geschützen zeugte von der energischen Haltung der Besatzung. Das Wrack der Lokomotive hing zwischen zwei zerstörten Pfeilern, sodass der Zug manövrierunfähig war. Unter dem auf ihn konzentrierten Artillerie­beschuss erin­nerte er an einen langsamen Panzer, der von den Verteidigern lahmgelegt worden war, aber unter Einsatz seiner Kanone und seiner MGs bis zuletzt kämpfte. In diesem Augenblick bat Major [Jiří] Jelínek […] um die Erlaubnis zu einem Angriff in Richtung der Brücke zwecks Verteidigung des Panzerzugs. […] Der sich langsam verziehende Rauch nach der Explosion, der intensive Beschuss, den der Zug auf sich zog, das ununterbrochene Rattern der MGs – all das verlieh dem Kampf um die Brücke bei Nové Zámky einen Charakter, der an unsere großen französischen Schlachten erinnerte. In dieser kritischen Situation war Major Jelínek, ohne zu zögern, bereit, das Risiko auf sich zu nehmen und dem Tod ins Auge zu sehen. Es verging keine Viertelstunde, bis sich die Nachricht verbreitete, Major Jelínek sei verwundet worden […], eine Kugel habe ihn eine Handbreit unter dem Herzen getroffen. Wir dachten sofort, dass es eine tödliche Wunde sei.82 Der Opfermut des Majors Jelínek war nicht vergeblich. Die Tschechoslowaken konnten den Zug verteidigen und die ungarische Offensive stoppen. Ein weites Feld für den Einsatz der technologisch avancierten Waffe eröffnete sich wäh176

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rend der Kriege im Grenzgebiet des früheren Zarenreichs. Im Januar 1919 leisteten Panzerzüge der estnischen Offensive gegen die Bolschewiki wertvolle Dienste, die heftigsten Kämpfe tobten um die Bahnknotenpunkte Paju und Võru. Letzterer wurde von Tartuer Schülern ab dem 16. Lebensjahr gegen die Bolschewiki verteidigt. Die Eroberung von Paju wiederum nahm Russen und lettischen Schützen die Möglichkeit, ihre eigenen Panzerzüge in Südestland einzusetzen.83 Einige Hundert Kilometer südlich waren die nicht sonderlich intensiven Kämpfe der recht schwachen Einheiten von Polen, Bolschewiki und Ukrainern 1919 so abhängig von der Unterstützung durch Panzerzüge, dass sich manche Stabsmeldungen wie Wildwestgeschichten lesen, nur dass es statt um das Einfangen von Mustangs und die Jagd auf Büffel um die Eroberung von Eisenbahnzügen ging: Die Gruppe von Gen. Śmigły: Panzerzug Nr. 16 mit einem Infanterie- und Kavallerietrupp erreichte im Kampf mit dem Gegner Poworsk und drängte den Feind ans Ostufer des Stochids zurück. Die Bahnbrücke über den Stochid ist zerstört. In Poworsk wurden bedeutende Mengen von Eisenbahnmaterial (60 Breitspurwaggons), Munition und Waffen erbeutet. […] Der Panzerzug Nr. 15 brach in Richtung Holoby auf. In Holoby befinden sich noch ukrainische Eisenbahner und eine schwache Miliz. Durch die Sprengung einer Brücke durch die Deutschen wurde in Holoby ein großer Schienenfuhrpark abgeschnitten (angeblich rund 1000 Waggons und zehn Lokomotiven. Die Ukrainer arbeiten fieberhaft an der Instandsetzung der Eisenbahnbrücke.84 Während dieser Kämpfe waren Panzerzüge die wichtigste Waffe und Bahnhöfe sowie einsatzfähige Lokomotiven die begehrteste Beute. Selbst zur Aufklärung entsandte man mit gut bewaffneten Patrouillen besetzte Lokomotiven. Erfolg oder Misserfolg in Gefechten wurden nicht nur nach der Anzahl der Toten und Verwundeten sowie der erbeuteten oder verlorenen Waffen, sondern auch in Waggons bemessen. Weil beide Seiten die gleiche Waffe einsetzten, kam es häufig zu Artillerieduellen zwischen einzelnen Panzerzügen. Bisweilen ereigneten sich dabei kuriose Zwischenfälle. Im November 1919 verspätete sich eine polnische Dampflok, die einen aufgegebenen ukrainischen Panzerzug abschleppen sollte, und traf vor Ort auf eine in identischer Mission entsandte Dampflok der Denikin-Armee. Nach dem Austausch von Bekundungen gegenseitiger Sympathie und friedlicher Absichten fuhren beide Seiten in entgegengesetzter Richtung auseinander.85 177

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Polnische Panzerzüge während der Kämpfe 1920.

Welche bedeutende Rolle die Eisenbahn in den Kämpfen auf litauischem, weißrussischem und ukrainischem Boden spielte, war selbst dann erkennbar, wenn andere Formationen im Vordergrund standen. Zwar wurde Wilna im April 1919 nicht mit Zügen erobert, sondern dank einer bravourösen Aktion der polnischen Kavallerie, doch das Hauptziel des Angriffs war natürlich der Bahnhof: 178

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Der Bahnhof sowie große Mengen von Eisenbahnmaterial wurden [am 19. April] um 5 Uhr ohne einen einzigen Schuss erobert. Der Überfall kam so unerwartet, dass die 400 Soldaten, die gerade in Richtung Lida transportiert werden sollten, sich ohne Widerstand in den Waggons gefangen nehmen ließen. Man schickte sofort der Infanterie einen Zug entgegen, sodass am Mittag ein Infanteriebataillon der 2. [korrekt eigentlich: 1.] Division der Legionen in einem bolschewistischen Zug in Wilna eintraf. Die Kavallerie eroberte bisher insgesamt 13 Lokomotiven, einige Hundert Waggons, zahlreiche Gewehre und Munition und 14 Maschinengewehre, hinzu kommen über 1000 Gefan­ gene. […] Auf der Bahnlinie Lida–Wilna kursieren schon Züge aus dem vom Feind erbeuteten Material.86 Paradoxerweise nahm die Bedeutung dieses Mittels ab, obwohl sich die Anzahl der Züge an der Front keineswegs verringerte. Die bolschewistische Offensive im Sommer 1920 stützte sich natürlich auch auf Panzerzüge sowie auf andere Waffenarten, darunter Panzerfahrzeuge und bewaffnete Binnensegler. Die Hauptlast trugen jedoch Infanterie und Kavallerie, die auf breiter Front operierten. Die bisher so wirksamen polnischen Panzerzüge waren unter diesen Bedingungen keine Hilfe. Bei Rückzügen eingesetzt, wurden sie regelmäßig eingekreist. Ihre Besatzungen mussten sich nicht selten aus ernsten Notlagen retten und hatten Mühe, sich zu den eigenen Leuten durchzuschlagen. Die relativ moderne Waffe entfaltete ihr volles Potenzial nicht in Massenschlachten, die an den Weltkrieg erinnerten, sondern in leicht archaisch anmutenden Kavalleriefeldzügen. Aus Sicht der Bedürfnisse der kämpfenden Armeen spielte die Eisenbahn ­eine wichtige und eindeutig positive Rolle. Die Militärbehörden strebten nach einer schnellstmöglichen Inbetriebnahme von Verbindungen und versuchten in den allermeisten Fällen Züge nicht nur als Transport-, sondern auch als Kampfmittel zu nutzen. Mitunter wurden allerdings die Nebenerscheinungen zu einem ernsten Problem. Die Hauptschwierigkeit bestand in der Wahrung von Ordnung und Disziplin unter den während der langen Transporte in den Waggons eingeschlossenen jungen Männern. Es ist kein Zufall, dass es im Umfeld von Bahnhöfen immer wieder zu ernsten Auseinandersetzungen kam. Dazu gehörte auch der Zwischenfall, der die ‚sibirische Anabasis‘ der tschechischen Legionäre auslöste. Im Herbst 1918 spielten sich Bahnhof von Charkiw nahezu identische Szenen ab, diesmal zwischen der Legion der ukrainischen Sitscher Schützen und weißen Freiwilligen. Formal führten beide Seiten keinen Krieg, vielmehr verband sie ein gemeinsamer Feind: die Bolschewiki. Dennoch war die Lage in der Ukraine an179

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gespannt. Die Züge der beiden Parteien standen auf benachbarten Gleisen und die Soldaten nutzten die Gelegenheit, sich gegenseitig Beleidigungen an den Kopf zu werfen. Einer der ukrainischen Beteiligten des Vorfalls erinnert sich an den weiteren Verlauf der Ereignisse: […] da beschlossen die Schützen unserer Hundertschaft, selbst für Ordnung zu sorgen. Sie zerrten einige russische Freiwillige in unsere Waggons und schlugen sie brutal zusammen. Es gab auch Tote. Die Freiwilligen machten dasselbe mit einigen unserer Leute. Da griffen beide Seiten zu den Gewehren, es begann eine Schießerei. Mein MG-Schütze zog ein Maschinengewehr zur Tür. In diesem Augenblick setzte sich unser Zug vorwärts in Bewegung, der Zug der Freiwilligen rückwärts, doch die Maschinengewehre feuerten schon. In beiden Zügen ertönten die Schreie der Verwundeten und die Pfiffe der Offiziere, die zur Einstellung des Feuers aufriefen.87 Für Probleme sorgten bisweilen auch die Kranken, die von der Front in die Krankenhäuser zurückkehrten. Im Juli 1920 machte sich ein Transport von 150 an Geschlechtskrankheiten leidenden polnischen Soldaten auf den Weg Richtung Westen. Ihrer Ankunft an den Bahnhöfen gingen Gerüchte über die von ihnen bei jedem Halt verursachten Skandale voraus. Vor diesem Hintergrund erlaubte die Bahnhofswache in Rzeszów ihnen gar nicht erst, die Waggons zu verlassen. Die Kranken empfanden das als krasse Verletzung ihrer Rechte. Mit Gewehren in der Hand bezogen sie auf den Waggondächern Stellung und drohten mit Gewalt, wenn man sie nicht aussteigen lasse. Die Eisenbahner waren zum Nachgeben bereit, doch die Militärs blieben hart. Unterstützt von Gendarmen und Maschinengewehren trieb eine Infanteriekompanie die Geschlechtskranken in die Waggons zurück. Es gelang sogar, sie zu entwaffnen, was die Kommandanten der nachfolgenden Bahnhöfe sehr gefreut haben dürfte.88 Eine noch ernstere Bedrohung für die innere Sicherheit im Land und für die Disziplin in der Armee waren Exzesse von Soldaten, die unterwegs an die Front waren. Die Vorfälle ähnelten sich alle, zumal sie in Polen und Rumänien einem festen Muster folgten. Die Transporte – im polnischen Fall handelte es sich meist um Regimenter aus Posen oder Pommern, in denen die rechte Indoktrination am stärksten war – hielten auf dem Weg zur Front mehrmals an, was die Soldaten dazu nutzen, die Läden in unmittelbarer Nähe zum Bahnhof gründlich zu plündern. Sowohl in Kongresspolen als auch in Ostgalizien waren die Geschäfte oft in jüdischem Besitz. Daher lässt sich oft nicht genau sagen, welche Überfälle dem „normalen“ Banditentum zuzurechnen waren und welche einen antisemitischen 180

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Hintergrund hatten. Gewissheit besteht allerdings in Fällen, in denen es entweder nichts mehr zu rauben gab oder die Soldaten das Bahnhofsgelände nicht verließen. Unter solchen Umständen ereigneten sich die meisten Überfälle, deren Opfer zumeist Juden waren. In Warschau spielten sich Anfang 1920 entsprechende Szenen auf dem Bahnhof der Wiener Bahn ab (heute befinden sich dort der Bahnhof Śródmieście und die U-Bahn-Station Centrum). Die Täter kamen so gut wie immer ungestraft davon, selbst wenn die Ordnungskräfte eingriffen. Ein typi­ ­sches Beispiel waren die Vorfälle auf dem Bahnhof Dęblin im März 1920: Während antijüdischer Exzesse auf dem Bahnhof Dęblin wurde eine Gendar­ meriepatrouille, die die Schuldigen verhaften wollte, von rund 60 großpolnischen Soldaten eingekreist, sodass die Schuldigen sich verstecken konnten. Der Kommandant des Transports reagierte nicht auf die Ausschreitungen.89 Immerhin griff in Dęblin die Gendarmerie ein, was längst nicht die Regel war. Den Opfern blieb oft nichts anderes übrig, als sich im Nachhinein dort zu beschweren, wo man sie anhören wollte. Adressat dieser Klagen war der jüdisch-­ orthodoxe Klub in der Verfassunggebenden Nationalversammlung. Die Dokumentation der geschilderten Fälle und die Reden der Delegierten vermitteln ein Bild davon, wie die Überfälle abliefen: Beim Klub der orthodoxen Abgeordneten meldete sich der in Warschau in der Gęsia-Straße 33 wohnhafte Srul Rotbard und gab Folgendes zu Protokoll: Heute, am 25. März [1920] um 6 Uhr früh, ging ich zum Bahnhof Łochów (Linie War­ schau–­Petersburg) und kaufte ein Fahrkarte 2. Klasse. Als ich in den Zug steigen wollte, ließ mich ein Offizier der Haller-Armee [d. h. der von Józef Haller geführten „Blauen Armee“] nicht hinein. Ich musste mir einen Platz in den überfüllten Waggons der 3. Klasse suchen. Bis zum Bahnhof Targówek verlief die Fahrt ruhig, denn der Schaffner hatte unseren Waggon abgeschlossen. Aus unbekanntem Grund ließ der Schaffner beim Aussteigen die Tür offen, was Soldaten ausnutzten, die hineinstürmten und die jüdischen Passagiere fast zu Tode prügelten, ihnen mit Messern die Bärte abschnitten. Mich schlugen sie schwer und schnitten mir mit einer Schere den Bart ab, mir schmerzt das Herz, einem anderen Juden schnitten sie ebenfalls den Bart ab und verprügelten ihn fürchterlich. Niemand vom Bahnpersonal reagierte auf unsere Hilferufe.90 Die Überfälle auf Juden ereigneten sich vor allem auf den meistfrequentierten Strecken und Bahnhöfen. In den Berichten von Opfern fallen immer wieder die Ortsnamen Warschau, Siedlce, Kowel und – nicht zuletzt – Koluszki. Dort hatte 181

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Mindla Ehrlich das zweifelhafte Vergnügen, polnischen Soldaten auf dem Weg nach Osten zu begegnen: Im Wartesaal in Koluszki begannen die Soldaten Juden zu schlagen, zumal bärtige, sie schlugen sie, fielen über sie her, rissen ihnen die Bärte aus oder schnitten sie mit Messern ab. […] So ging es ununterbrochen mehrere Stunden, die Szenen wiederholten sich beim Aussteigen in Skierniewice […]; hier in Skierniewice wurde ein Rabbiner aus Wolborz misshandelt. Die Soldaten versuchten ihm den Bart auszureißen, außerdem schlugen sie im Wartesaal beim Fahrkartenschalter Juden ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht. Weil ich mich für den Rabbiner aus Wolborz einsetzte, bekam auch ich zwei Faustschläge unters Auge und aufs Kinn.91 Man kann den „Krieg der Pygmäen“ aus vielen verschiedenen Perspektiven betrachten, wobei man immer nur einzelne Aspekte des überaus komplexen Bildes des im Chaos versunkenen Ostmitteleuropa zu sehen bekommt. Auch Züge, Gleise und Bahnhöfe bilden nur einen bestimmten Ausschnitt der Realität ab. Eine allein auf sie gestützte Verallgemeinerung böte ein verzerrtes Bild der Kriegswirklichkeit. Durch das Prisma der Eisenbahn erscheint die Region brutaler und stärker vom Krieg gezeichnet, als sie es tatsächlich war. Zwischen den großen Bahnstrecken existierten Enklaven, in denen es vergleichsweise friedlich zuging und die von Überfällen hungernder ehemaliger Kriegsgefangener oder Soldaten auf dem Weg zur Front verschont blieben. Gleichwohl destabilisierten die großen Migrationsbewegungen an die Front und in umgekehrter Richtung die betroffenen Staaten und lokalen Gemeinschaften. Der Krieg dünnte sich gleichsam aus, er erfasste riesige Gebiete, in denen die Moderne auf völlig archaische Kampfformen traf. Vor allem aber trug die Eisenbahn zur Ausbreitung der Gewalt bei, zumal der Gewalt gegen Juden. Letztere nahm in den Jahren 1918–1920 ein so beunruhigendes Ausmaß an, dass sich die Frage stellt, ob die von uns gewählte Perspektive das Phänomen wirklich übertreibt. Alles deutet nämlich darauf hin, dass man als Jude gar nicht das Risiko einer Bahnfahrt nach Warschau oder Lodz auf sich nehmen musste, um Beleidigungen, Schläge und manchmal sogar den Tod zu erleiden.

Der Krieg gegen die Juden In den Ausführungen zum Spionagewahn der ersten Jahre des Weltkriegs im ersten Band haben wir als Erklärung die Angst der Militärs vor dem Verrat durch Zivilisten angeführt. Die Phantasmen der Francs-tireurs, weiblicher Hecken182

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schützen, über geheime Telefonleitungen, Kirchenglocken oder Fensterbewegungen und mit dem Feind kommunizierende Bauern und Juden – all dies führte zu hysterischen Reaktionen aufseiten derer, die über die Macht zum Verurteilen und Töten verfügten. Wir wissen bereits, dass dieser Mechanismus über das Jahr 1918 hinaus wirksam blieb und etwa zur Zuspitzung der Konflikte zwischen Polen und Ukrainern in Ostgalizien beitrug. Im Hintergrund der gegenseitigen Repressionen während dieses Krieges und während vieler anderer lokaler Konflikte taucht hartnäckig aber eine dritte Gruppe von Betroffenen auf, die unmittelbar mit keiner der Konfliktparteien verbunden war. Es war schon die Rede vom Lemberger Pogrom, der die Öffentlichkeit im Westen empörte. Alle nationalen Streitkräfte in Ostmitteleuropa beteiligten sich (wenngleich in unterschiedlichem Maß) an der Gewalt gegen Juden. Selten nahm sie so spektakuläre Gestalt an wie in Lemberg, doch sie war ein beständiges, sich beharrlich wiederholendes Ritual, das sich auf immer neue Bereiche ausweitete. Darin unterschied sie sich von den selektiven Repressionen der Habsburgerarmee. Schlimmer noch, immer größere Bevölkerungsgruppen der Region hielten die antisemitische Gewalt für etwas Normales. So etwa einige polnische Soldaten, die im März 1920 den Bahnknoten in Kowel passierten: Eine Gruppe von Soldaten umringte einen Juden und schnitt ihm den Bart ab. Der Garnisonskommandant Hauptmann Witkowski, der auf die Kunde von den Unruhen in die Stadt geeilt war, traf ein, als sie schon fertig waren. Es gelang ihm aber, die Täter festzunehmen und in die Stadtkommandantur zu bringen. Einer der Soldaten verweigerte den Gehorsam, er riss sich den Mantel und das Hemd vom Leib, stellte sich an die Wand und schrie die Soldaten an, sie sollten ihn erschießen, denn wegen eines Juden ginge er nicht in Arrest. Als man ihn aber verhaftete und in der Stadtkommandantur festsetzte, versammelte sich rasch eine Soldatenmenge, die seine Freilassung forderte. Der entsprechende Befehl kam zu spät – die Wache war schon überwältigt, die Türen aufgebrochen und die Gefangenen befreit. Auf Hauptmann Witkowski, der dies zu verhindern versucht hatte, war geschossen worden. Die herbeigerufene Armeeverstärkung wurde von der großen Mehrheit der Posener terrorisiert, die vom inzwischen eingetroffenen Stadtkommandanten die Auslieferung der jüdischen Offiziere forderte. Nach vielen Überredungen und Anstrengungen des Stadtkommandanten, des Bezirkskommandanten und einiger Offiziere gelang es, die aufgebrachte Soldatenmenge zu beruhigen und ein Judenpogrom zu verhindern.92 183

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Diese neue Welle antisemitischer Gewalt unterschied sich nur durch die mangelnde Koordination und den Handlungsspielraum der örtlichen Kommandanten von der antijüdischen Kampagne der zaristischen Armee. Für die Offiziere spielte das zwar keine größere Rolle, doch der Historiker muss berücksichtigen, dass sich der Charakter der antijüdischen Exzesse gegen Ende des Kriegs wandelte. Ihre Anzahl nahm dabei deutlich zu – in einem solchen Maß, dass, wenngleich ihnen kein umfassender Plan zugrunde lag, vor allem in den Ostgebieten des polnischen Staates von systematischer Verfolgung gesprochen werden kann: Die jüdische Bevölkerung ist ständig das Ziel, an dem sich die ungeheure Energie der Soldaten entlädt, die sie sinnvollerweise für die Bolschewiki auf­ spa­­­ren sollten. Der Raub von notwendigen und überflüssigen Dingen aus Wohnungen und Läden sowie Schläge sind an der Tagesordnung. Die pol­ni­ sche Bevölkerung klagt nicht über die Soldaten, sie [nimmt] gern die von ihnen gestohlenen Dinge.93 Raub und Gewalt an Juden waren gewöhnlich Begleiterscheinungen von Rück­ zügen und des Einrückens in Städte. Der Großteil der Opfer entfiel zwangsläufig auf das ehemalige westliche Grenzland des russischen Imperiums und auf die Ostgebiete der Zweiten Polnischen Republik, wo in den Städten viele Juden lebten und die Frontlinie sich binnen kurzer Zeit um Hunderte Kilometer verschob. Ein breites Echo, zumal in der amerikanischen Presse, fand die Erschießung von über 30 Juden in Pinsk. Die Opfer waren Teilnehmer einer Versammlung, deren Zweck nicht eindeutig ermittelt werden konnte; vermutlich handelte es sich um ein Treffen zur Verteilung von Hilfsgütern unter den jüdischen Einwohnern von Pinsk oder um eine Zusammenkunft einer zionistischen Vereinigung. Die pol­ nische Stadtkommandantur betrachtete die Teilnehmer als bolschewistische Verschwörer. Das fiel ihr umso leichter, als in dieser Zeit die Rote Armee auf die Stadt vorrückte. Den Befehl zur Erschießung der Gefangenen gab Aleksander Narbutt-Łuczyński, derselbe Offizier der Legionen, der sich während der Schlacht bei Kostiuchnówka durch große Beherrschung hervorgetan hatte. Rund zwei Wochen später forderte ein Pogrom im von den Polen eroberten Wilna wahrscheinlich noch mehr Opfer, darunter befand sich der Literat Ajzyk Meir Dewernicki, ein Mitglied des Bundes. Der sich damals in Wilna aufhaltende Salomon An-Ski wurde von den Polen verhaftet (Nojech Pryłucki, Abgeordneter zur Nationalversammlung und Sohn eines Redakteurs der jiddischen Tageszeitung Der Moment, erwirkte bei den polnischen Behörden seine Freilassung und das ­Einverständnis zu seiner Abreise nach Warschau)94. Auch hier beharrten die 184

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­ ilitärs darauf, dass sie lediglich ihre patriotische Pflicht erfüllten, wenn sie M ­Zivilisten ermordeten und jüdische Läden plünderten – sie kämpften gegen den Bolschewismus. Als Reaktion auf die Nachrichten aus Polen veranstalteten jüdische Vereinigungen in den USA Ende Mai 1919 eine große Kundgebung in Baltimore, die eine Gruppe der amerikanischen Polonia vergeblich zu stören versuchte.95 Auch in anderen amerikanischen Städten gab es Proteste, während in der US-Presse immer farbigere und realitätsfernere Berichte über Tausende jüdischer Opfer des polnischen Terrors erschienen. Die Dementis von polnischen Diplomaten und Polonia-­ Aktivisten waren vergebens – insbesondere dann, wenn es sich um Personen handelte, die für ihre antisemitischen Ansichten bekannt waren. Als Ausweg aus der zunehmend unangenehmen Situation schlug Ignacy Paderewski der amerikanischen Regierung die Entsendung einer Kommission vor, die sich vor Ort ein Bild von der Lage der Juden machen sollte. Im Juli traf eine dreiköpfige Gruppe unter der Leitung von Henry Morgenthau in Polen ein. Der amerikanische ­Dip­lomat hatte zweifellos die nötige Erfahrung für diese Mission. Er war bis 1916 Botschafter der USA in Istanbul, zwei Jahre später war sein erschütternder ­Bericht über die Morde an den Armeniern erschienen, in dem er die türkische Regierung ohne Umschweife bezichtigte, sie strebe bewusst die Auslöschung eines ganzen Volkes an. Morgenthau bestätigte die Spekulationen über eine Welle organisierter Pogrome nicht, doch er stellte fest, dass es über 200 Morde gegeben habe und noch immer ein wirtschaftlicher Boykott gegen die Juden bestehe. Die übrigen Mitglieder der Kommission teilten eher die Position des polnischen Militärs, was sie zur Anfertigung eigener, für die Polen günstigerer Berichte bewegte. Es ist schwer zu sagen, ob dabei der auch amerikanischen Eliten nicht fremde Antisemitismus oder aber die nationsübergreifende Solidarität unter Soldaten die größere Rolle spielte. Beide Motive mögen etwa General Edgar Jadwin geleitet haben, der ohne Morgenthaus Wissen mehr als ein Dutzend Aussagen von Personen sammelte, die gesehen haben wollten, dass in der Nacht vor dem Pogrom bewaffnete Jüdinnen in Wilna von Hausdächern auf polnische Soldaten schossen96 (der Sommer 1920 war reich an Trugbildern polnischer Meuchelmörderinnen; ähnliche Anschuldigungen gab es etwa auch in Wyszków, wo freilich polnische Nachbarn die Soldaten von einer sofortigen Exekution abbrachten97). Letztlich zog der amerikanische General seine halsbrecherische Hypothese zurück (im Dunkeln überhaupt eine Person auf einem Hausdach zu entdecken, war schwer genug, und um zu erkennen, dass es sich dabei um eine Jüdin handelte, musste man schon Anti185

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semit sein). Jadwinds erfolglose Aktion ist ein Beleg dafür, wie unwichtig den Militärs das Schicksal der Zivilbevölkerung war. Aus der Generalsperspektive waren Soldaten die einzig glaubwürdigen Partner, selbst wenn die von ihnen gelieferten Informationen der elementaren Logik widersprachen. Die allgemeine Dominanz der Männer in Uniform brachte die Juden Ostmitteleuropas in eine wenig beneidenswerte Lage. Fast jede Nationalität der Region hatte damals eine eigene Armee, manche sogar mehrere. Den Juden, die eine Ausnahme von dieser Regel bildete, blieb das Schicksal der Zivilisten und der Opfer. Im Schatten der spektakulären und von der Presse berichteten Ereignisse spielten sich Hunderte kleinere Tragödien ab. Täter waren Weiße und Bolschewiki, Ukrainer und Polen, die Opfer – durchgehend – Juden. Isaak Babel, der seine Identität sorgfältig vor den Soldaten von Budjonnys Reiterarmee verbarg, betrachtete gleichwohl das jüdische Leiden mit besonderer Aufmerksamkeit. Das Beeindruckendste an seinen Aufzeichungen zum Feldzug des Jahres 1920 ist nicht die Anhäufung von Gräueltaten, sondern der nüchterne, sachliche Ton, in dem Babel eine Tragödie nach der anderen schildert. In Ostgalizien stieß er während einer Rast in Komarów (Komariw) in der Nähe von Sokal auf die Spuren der mit den Polen verbündeten Kosaken von Jessaul Jakowlew: Hier waren gestern die Kosaken von Jessaul Jakovlev. Ein Pogrom. Die Familie von David Zis, in den Wohnungen, ein nackter, kaum noch atmender alter Mann, der Prophet, die erschlagene alte Frau, ein Kind mit abgehackten Fin­ gern, viele atmen noch, der stinkende Blutgeruch, alles umgestürzt, Chaos, die Mutter über dem erschlagenen Sohn, eine alte Frau, zusammengerollt wie ein Kringel, 4 Menschen in einer Hütte, Schmutz, Blut unter dem schwarzen Bart, so liegen sie in ihrem Blut. […] Der Rabbi hat sich versteckt, bei ihm ist alles demoliert, bis zum Abend hat er seine Höhle nicht verlassen. 15 Menschen sind ermordet – Husid Jitzka Galer – 70 Jahre, David Zis – Diener in der Syna­ goge – 45 Jahre, Frau und Tochter – 15 Jahre, David Trost, der Schlachter, seine Frau wurde vergewaltigt.98 Das Ausmaß des Schreckens weckte in Babel eindeutige Assoziationen: Der jüdische Friedhof hinter Malin, Jahrhunderte alt, die Grabsteine umgestürzt, fast alle von derselben Form, oben oval, der Friedhof von Gras überwuchert, er hat Chmelnickij gesehen, und jetzt Budënnyj, unglückliche jüdische Bevölkerung, alles wiederholt sich, jetzt diese Geschichte – Polen – Kosaken – Juden – mit bestürzender Genauigkeit wiederholt sich alles, das neue ist der Kommunismus.99 186

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Die Mehrzahl der Verbrechen an der jüdischen Zivilbevölkerung wurde eben in der Konstellation Polen – Ukrainer – Weiße – Bolschewiki verübt. Die Schätzungen zur Anzahl der Todesopfer schwanken zwischen 30 000 und 200 000; wie viele Frauen Vergewaltigungen zum Opfer fielen, ist schwer zu sagen; auch die materiellen Schäden durch Raub und Zerstörung lassen sich nicht beziffern.100 Welche der kämpfenden Parteien für welche Tragödien verantwortlich war, ist ebenfalls nicht immer klar. Alle Seiten begingen verabscheuungswürdige Verbrechen an den zum Freiwild degradierten Juden. Allerdings schien eine Regel Bestand zu haben, die schon während des Weltkriegs in der russischen Armee gegolten hatte: Je gefährlicher eine Armee für den Gegner ist, desto weniger ist sie eine Bedrohung für die Zivilbevölkerung. Die regulären Fronteinheiten, die der strengen Armeedisziplin unterworfen waren, hatten weniger Gelegenheiten und wohl auch weniger Energie, Zivilisten zu terrorisieren. Insofern verwundert es nicht, dass die meisten und grausamsten Schilderungen der tragischen Ereignisse in der Ukraine und Weißrussland die „Kosaken“-Heere der Weißen und Roten sowie vor allem die Armee Symon Petljuras betreffen. Ein bewegendes Zeugnis ist der Bericht des ehemaligen Seelsorgers der polnischen Legionen Kazimierz Nowina-Konopka, der die Jahreswende 1918/19 in Schytomyr verbrachte. Dort sah er, wie Petljura-Leute in den Straßen willkürlich jüdische Passanten ermordeten. Die Angreifer hinterließen eine bleibende Spur: Ich betrete die Wohnung im Souterrain. Der erste Raum ist die Küche. In der Tür zum zweiten Zimmer liegt ein junger Jude, vielleicht zwanzig oder etwas älter, die Fäuste geballt und im verzerrten Gesicht noch das erstarrte Feuer des Beschützers, der mit seinem Leben seine Familie retten wollte. Doch ­direkt hinter ihm liegt eine Jüdin, offensichtlich die Mutter, denn sie umarmt ein fünf oder sechs Jahre altes, in dieser Umarmung erstarrtes Mädchen. In einem Kinderbett ein Kleinkind mit mehreren Bajonettstichen auf dem kleinen weißen Leib. Vor dem Herd liegt ein aus den Windeln gezerrter Säugling auf dem Boden. Ein Kosak musste ihn an den Beinen gepackt und mit dem Schädel gegen die Herdkante geschleudert haben, denn das Gehirn war heraus­gespritzt und klebte noch am Herd. Was hatten sie diesen Kosaken ­getan?101 Die Weißen und die Petljura-Leute versuchten gewöhnlich nicht einmal den Schein zu wahren. In ihrer Unerbittlichkeit blieben sie dem Antisemitismus der zaristischen Armee treu, der sie entstammten. Polen und Bolschewiki indes versuchten ihre Taten meist auf irgendeine Weise rational zu begründen. Paradoxer187

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weise zeigen diese unbeholfenen Versuche einer logischen Rechtfertigung der Gewalt besser als alles andere, worin sich die neue Wirklichkeit Ostmitteleuropas von den Repressionen der imperialen Armeen unterschied. Isaak Babel wurde zum unfreiwilligen Zeugen einer semioffiziellen Exekution in Berestetschko: Vor meinen Fenstern hielten ein paar Kosaken einen alten Juden mit silbergrauem Bart gepackt, der wegen Spionage erschossen werden sollte. Der Alte schrie und wollte sich losreißen. Da klemmte Kudra, ein Soldat unserer MGAbteilung, den Kopf des Alten unter seine Achsel. Der Jude verstummte und spreizte die Beine. Kudra zog mit der rechten Hand seinen Dolch, und vorsichtig, ohne sich zu bespritzen, erstach er den Alten. Dann klopfte er an die verschlossene Fensterlade. „Wenn einer möchte“, sagte er, „kann er ihn wegschaffen. Das ist erlaubt.“ 102 Man kann sich kaum vorstellen, dass eine österreichisch-ungarische, deutsche oder selbst russische Einheit eine Exekution auf diese Weise ausgeführt hätte. Von der alten Form, die das Urteil eines Militärgerichts, den Befehl eines Vorgesetzten, die Anwesenheit eines Arztes und mitunter auch eines Geistlichen erforderte, waren nur zufällige Splitter übrig geblieben. Zugleich konnten sich hinter erhaltenen alten Formen neue Inhalte verbergen. Während des Weltkriegs wurden Kontributionen meist auf feindlichem Territorium verhängt; die Anwendung dieser Maßnahme auf ganze Ortschaften im eigenen Land bedeutete ein Abweichen von der Norm. In den späteren Konflikten, in denen jede Partei das umkämpfte Gebiet für sich beanspruchte, verkehrte sich diese Regel ins Gegenteil. Man betrachtete die lokale Bevölkerung als eigene, behandelte aber bestimmte Gruppen als Feinde. Absolut krankhaft war hingegen die in den Jahren 1919 und 1920 verbreitete Praxis, ausschließlich den jüdischen Gemeinden Kontributionen aufzuerlegen und Geiseln nur aus ihren Reihen zu nehmen. Hier liegt die Vermutung nahe, dass der einzige Grund für derartige Repressionen oft allein darin bestand, sich auf Kosten der Juden, das heißt des wehrlosesten Teils der Zivilbevölkerung, zu bereichern. Als Anfang 1919 in Ostrów Kontributionen gegen die jüdische Gemeinde verhängt wurden, versuchten zionistische Aktivisten den polnischen Behörden klarzumachen, welchen Schaden derartige Aktionen dem Staat zufügten. Der Stadtkommandant begründete die Maßnahme damit, dass entgegen einer früheren Anordnung, der zufolge alle von der deutschen Armee zurückgelassenen Gegenstände bei ihm abzuliefern waren, im Rahmen einer Kontrolle festgestellt worden sei, dass ein 188

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kurz zuvor aus deutscher Kriegsgefangenschaft zurückgekehrter jüdischer Bürger ein Hemd (sein einziges) und ein Paar Unterhosen, die er schon in der Gefangenschaft getragen hatte, für sich behalten habe. Die Zionisten erklärten: Wenn der Besitz eines Hemdes, eines Paars Unterhosen und eines Paars Oberleder durch Szaja Zajdhaft, Bewohner von Ostrów, einen feindlichen Akt gegen die polnische Armee darstellt, für den die Allgemeinheit solidarisch verantwortlich ist – so sollte in diesem Fall die gesamte Einwohnerschaft der Stadt zur Verantwortung gezogen werden, nicht aber nur ein Teil, die Juden. Der Kommandant, Oberleutnant Łącki, darf die Bürger Ostróws nicht in zwei Kategorien einteilen, jüdische und christliche – nicht nur, weil es nicht dem Gesetz entspricht, sondern auch, weil eine solche Unterscheidung zu unerwünschten Exzessen führen könnte.103 Ihren Höhepunkt erreichten die gegen Besitz und Leben der Juden gerichteten Aktivitäten der polnischen Armee in einer Phase, in der sich das Schicksal des Staates entschied. Die Hysterie, die damals die Militärs und mit ihnen einen Teil der polnischen Öffentlichkeit erfasste, erinnerte lebhaft an das Vorgehen der abziehenden Österreicher in den Jahren 1914 und 1915. Der einzige Unterschied bestand darin, dass nun so gut wie alle Gewaltakte eine einzige Gruppe trafen – die Juden. Einige Tage nach der Schlacht bei Warschau meldete die offizielle Polnische Telegrafenagentur, während des Kampfes gegen die Bolschewiki hätten Juden in Płock polnische Soldaten mit kochendem Wasser übergossen und zudem über geheime Telefonverbindungen mit dem Feind kommuniziert. Der k. u. k. Gegenaufklärer Max Ronge, der angebliche Verschwörer eliminierte, die durch Kirchenglocken, Fensterläden und religiöse Lieder mit dem Feind in Verbindung traten, wäre sicher stolz gewesen auf General Józef Haller und dessen Offiziere, die den polnischen Rabbiner Chaim Szapiro zum Tod verurteilten, weil er angeblich den Bolschewiki den Weg zu einer von den Polen gehaltenen Barrikade gezeigt hatte. Die Stadträte von Płock setzten sich für ihre als Verräter angeklagten jüdischen Nachbarn ein, doch für den Rabbiner kam jede Hilfe zu spät. Das Urteil wurde sofort vollstreckt.104 Das Verfahren zur Rehabilitierung Szapiros zog sich durch die gesamte Zwischenkriegszeit; sabotiert wurde es immer wieder durch Militärs, die auf diese Weise die Ehre der polnischen Armee zu verteidigten meinten. Neben den inzwischen wohlbekannten fantastischen Geschichten über geheime Telefonleitungen, Signale und Angriffe aus dem Hinterhalt unterstellte man den Juden außerdem fehlenden Willen zum Kampf für das Vaterland. Auch dieser 189

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Vorwurf war keineswegs neu oder originell. Wenige Jahre zuvor hatte die deutsche Wehrmacht in einer die Initiatoren kompromittierenden Zählung feststellen wollen, wie viele Juden in der Armee dienten und ob sie einen prozentual angemessenen Anteil der Fronttruppen stellten. Die polnische Armee ging noch einen Schritt weiter: Im Juli 1920 entließ man die jüdischen Ärzte und Krankenschwestern aus den Militärkrankenhäusern, einen Monat später internierte man die Offiziere und Soldaten jüdischer Herkunft in einem Lager in Jabłonna. Nach Protesten aus dem In- und Ausland wurden die Internierten nach einigen Wochen wieder freigelassen, doch zweifellos hätten sie dem Vaterland an der Front bessere Dienste erwiesen als hinter Stacheldraht. Für manche war es übrigens nicht die erste Internierung, da auch jüdische Soldaten der Legionen ins Lager gesteckt wurden, die schon in Szczypiorno und Beniaminów „gesessen“ hatten. Die Atmosphäre heizte sich so sehr auf, dass die Polizei im Sommer 1920 von Morden an Juden, die sich bei den polnischen Rekrutierungsstellen meldeten, berichtete.105 Schon im Krieg der Imperien hatte sich gezeigt, dass die regulären Armeen die Zivilbevölkerung oft als Quelle von Gefahr oder leichter Beute betrachteten. Die Brutalität der Repressionen vor 1918 resultierte oft aus der fehlenden Bindung zwischen Armee und Einheimischen. Obwohl in den österreichisch-ungarischen Reihen Vertreter vieler Nationalitäten dienten, fühlte das Gros der Offiziere sich auf polnischem, ukrainischem oder serbischem Boden fremd. Nach 1918, als die in Ostmitteleuropa kämpfenden Armeen die Nationen der Region repräsentierten, hätte man eine Verbesserung der Lage erwarten können. Unterdessen nahm die Gewalt nicht ab, sondern konzentrierte sich in bis dahin ungekanntem Ausmaß auf die örtlichen Juden. Besonders unter denjenigen unter ihnen, die aktiv am politischen und kulturellen Leben der Region teilnahmen, weckte dieses Phänomen leidenschaftlichen Widerspruch. Am prägnantesten formulierte ihn eine Gruppe von Sozialaktivisten aus Lemberg einige Monate nach dem Novemberpogrom in einem Brief an den Staatsführer und die polnische Regierung: Wohin führt das alles? Wird diese systematisch ausgeübte Barbarei eines Tages enden? Wir stehen am Rand des größten Unglücks, dass unsere soziale Gruppe jemals traf, wir sind völlig wehrlos gegen die Tyrannei der aufgebrachten Soldateska und gegen die krankhafte Stimmung der hiesigen polnischen Öffentlichkeit […]. Wir sind auf diesem Boden keine Fremden, keine Heloten und auch keine Sklaven; wir sind Autochthone wie Polen und Ruthenen und wir werden für keine hier lebende Nationalität die Sklaven spielen.106 190

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Und doch ging die größte Bedrohung für die Juden nicht von den regulären Truppen aus. Als weitaus gefährlicher erwiesen sich paramilitärische Forma­tionen: Partisanen unterschiedlicher Couleur, organisierte Deserteure, Bauernbanden, darunter die „Heiducken“, in Kroatien und Bosnien marodierende ­Rebellen. Im Süden figurierten sie unter der Bezeichnung „Grüne Kader“, n ­ ördlich der Karpaten sprach man schlicht von den „Grünen“. Sie trugen maßgeblich dazu bei, dass sich der Charakter des Krieges in Ostmitteleuropa ver­änderte.

Die „Grünen“ Es ist schwer zu sagen, wo die „Grünen“ zuerst auftauchten. Leichter lassen sich die Mechanismen ihrer Entstehung, ihre Vorgehensweise und die Gründe ihres Niedergangs rekonstruieren. Anfangs handelte es sich um kleine Gruppen von Deserteuren, die sich an schwer zugänglichen Orten vor der Gendarmerie verbargen. Mit der Lockerung der Disziplin in den Armeen gewannen sie an Stärke. Im Sommer 1918 agierten im kroatischen Slawonien bereits mehrere Einheiten mit bis zu 8000 bewaffneten Männern. Jakub Beneš schätzt die Stärke der Grünen Kader im Herbst in Kroatien und Slawonien auf 50 000, in Galizien auf bis zu 20 000 sowie in Mähren und der Westslowakei (in den Kleinen Karpaten) auf jeweils je einige Tausend Männer.107 Im Lauf der Zeit gaben die losen Gruppen sich Namen und entwickelten einen Verhaltenskodex, der unvermeidlich Assoziationen zu früheren Räubern wie Robin Hood oder Janosik weckte. Grund dafür waren die immer häufigeren Scharmützel der „Grünen“ mit der Gendarmerie, ihre Überfälle auf größere Landgüter sowie der „Schutz“, den sie den örtlichen Bauern gegen die Requisition von Lebensmitteln (die sie natürlich für sich benötigten) anboten. Der Slowake Jozef Ferančík erinnert die Zeit bei den „Grünen“ als das größte Abenteuer seines Lebens: […] wir lebten lustig auf Kosten der Herren; viel verteilten wir auch an die Ar­ men, die damals hungerten […]. Die Armen sagten von uns, wir seien die Geißel Gottes für Herren und Juden. Ich denke, sie hatten Recht, denn Herren und Juden zogen nicht in den Krieg, gegen das Volk waren sie dreist und außer den Grünen Kadern war niemand imstande, diese Niedertracht zu bestrafen.108 Manche Anführer der „Grünen“ erlangten überregionale Bekanntheit, darunter der slawonische Serbe Jovo Stanisavljević, Deckname Čaruga, dessen Räuberkarriere bis 1925 andauerte, als ihn die jugoslawische Gendarmerie fasste. Einen Wendepunkt in der Geschichte der „Grünen“ markiert der Zerfall der k. u. k. Monarchie. Die Partisaneneinheiten wuchsen auf Regimentsstärke an 191

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und manche Provinzen des Staates – vor allem Slawonien – versanken in völligem Chaos. Doch nicht nur die Größenordnung des Phänomens veränderte sich, sondern auch sein Charakter. Im Oktober und November 1918 hörten die „Grünen“ auf, Banden von Deserteuren zu sein. Demobilisierte Kriegsheimkehrer aller Nationalitäten und auch Kriegsgefangene schlossen sich ihnen an, am zahlreichsten aber – zu Tausenden – die lokalen Bauern. Das verlieh der Bewegung eine neue Dynamik. Zu spüren bekamen dies vor allem die mittleren und kleineren Städte Kroatiens und Slawoniens sowie die Gegend um Trnava, die von Raubüberfällen in bislang unbekanntem Ausmaß heimgesucht wurde. Die Opfer von Überfällen und Morden gehörten meist einer der folgenden drei Gruppen an: Juden, Grundbesitzer und Vertreter der abziehenden Herrschaft. Für die in Zagreb erscheinende jüdische Tageszeitung Židov war die Welle von Pogromen, die über das Land schwappte, identisch mit der Gewalt gegen Juden in der Ukraine, Weißrussland, Litauen und auf polnischem Boden. Es schien, als sei die Obhut über die jüdischen Landesbewohner alleinige Sache Wiens gewesen, und mit dem ­Zusammenbruch der Monarchie seien sie zu Rechtlosen geworden: […] man wusste lange vorher vom Pogrom, doch man tat nichts. „Sie greifen nur die Juden an.“ Die Intelligenz beteiligte sich an den Plünderungen. Damen und junge Frauen aus der besseren Gesellschaft liefen mit der betrunkenen Menge. Diejenigen Intelligenzler, die sich nicht am Diebstahl beteiligten, standen an der Seite, betrachteten zufrieden, was vor sich ging, und kauften zu Spottpreisen die geraubten Güter. Die „edleren“ Gojim boten den Juden Zuflucht an – für 100 Kronen die Nacht. […] „Das Volk hat gesprochen!“ Lüge! Beleidigt das Volk nicht, das mitnichten schlechter ist als irgendein anderes! Gesprochen hat die unglückliche, verdorbene Intelligenz!109 Die Juden fielen den in die Städte einfallenden „Grünen“ zum Opfer. Am 29. Oktober versuchten bewaffnete Banden sogar, Zagreb einzunehmen. Außer den Städten traf die Rebellion die Grundbesitzer am härtesten. Die einen wie die anderen galten als Repräsentanten des gerade gestürzten Regimes: Es begann eine Zeit des Plünderns, zumal, wenn die sogenannten Grünen Kader auftauchten, die aus Mähren kamen und größtenteils aus Vagabunden bestanden. Sie beraubten nicht nur die Juden, sondern auch die ehemalige Grundbesitzerin Frau Pálffy, die Gemahlin Moritz Pálffys, des österreichisch-­ ungarischen Gesandten im Vatikan. Auch der örtliche Großgrundbesitzer Ferdinand Krischker kam nicht ungeschoren davon – seine Sommerresidenz 192

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Bojkov wurde gründlich geplündert. Die „Grünen Kader“ drangen auch in die Stadtverwaltung ein, wo sie den Notar Géza Čederla hängen wollten, doch die Bewohner von Nádas [heute Trstín in der Slowakei] befreiten ihn aus Dankbarkeit für seine langjährige ehrliche Arbeit aus der Hand der „Grünen“ und retteten ihm so das Leben.110 Zur Wiederherstellung der Ordnung mussten Einheiten der Nationalgarde und schließlich auch der serbischen Armee – an deren wundersame Macht zur Pazi­ fizierung der Lage man in Kroatien allgemein zu glauben schien – eingesetzt ­werden.111 Begleitet wurde das militärische Vorgehen gegen die „Grünen“ von Ver­g­el­tungsaktionen in den Dörfern, Hinrichtungen ohne Gerichtsverfahren eingeschlossen. Am Ende ließen sich die kroatischen und slowakischen „Grünen“ durch das Versprechen einer baldigen Bodenreform besänftigen und kehrten nach Hause zurück. Die Kraft dieses Arguments zeigt, wie sehr sich der ­ur­sprüng­liche Charakter der „Grünen“ geändert hatte. Binnen einigen Monaten verwandelten sich Banden marodierender Deserteure in beinahe reguläre ­Streit­kräfte und entwickelten sich dann, im Herbst 1918, zu einer massenhaften Bauernrevolte. Diese drei Stadien (Deserteursbande – Partisanentruppe – Bauernrevolte) sind auch auf einem Gebiet zu beobachten, das die Forschung zu den „Grünen“ meist ignoriert – das westliche Grenzland des ehemaligen Zarenreichs. Der Unterschied zu Slawonien und der Slowakei bestand darin, dass im Norden alle drei Stadien gleichzeitig auftraten. Die Einwohner von Dörfern und Kleinstädten wurden zur selben Zeit von Banden von Deserteuren und ehemaligen Kriegsgefangenen, größeren Einheiten oder gar Privatarmeen diverser Warlords bedroht. Hinzu kamen teils sehr starke Bauernformationen, die man in Weißrussland, der Ukraine und im Osten Polens als „Grüne“ bezeichnete. In einer Phase, in der sich die Strukturen der jungen Staaten gerade erst herausbildeten, kontrollierten sie nicht nur entlegene Randgebiete, sondern auch manche Regionen im Zentrum: Es gibt schlicht demoralisierte Kreise, deren Bevölkerung sich weigert, Steu­ ern zu zahlen, die Staatswälder abholzt, mit Waffengewalt ihre Schwarz­ brennereien verteidigt, gewohnheitsmäßig mit Banditen kooperiert, massenweise Deser­teure versteckt usw. […] Zu diesen Kreisen gehören: Kozienice, Końskie, Sandomierz, Pińsk, Iłża, Opatów. Die beiden letztgenannten, in denen es keine Armee und keine Gendarmerie gibt, sind zumal seit Langem schwieriges und verunreinigtes Terrain.112 193

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Wie gefährlich die amorphe Bauernarmee werden konnte, erfuhren die Soldaten des mehrere Tausend Mann starken III. Polnischen Korps in der Ukraine. Im April 1918 schloss die ukrainische Regierung einen Vertrag mit den Polen, der ihnen den Aufenthalt auf ihrem Territorium gestattete. Bald aber kam es zu Konflikten zwischen Armee und Bauern. Anlässe zum Streit gab es genug. Die schwache und schlecht organisierte Regierung in Kiew war nicht imstande (oder willens), für die Verpflegung der polnischen Formation zu sorgen. Angesichts dessen behalf sich die Armee mit Requisitionen, die immer größeren Widerstand hervorriefen. Öl ins Feuer gossen die lokalen Grundbesitzer, die mithilfe der Soldaten des Korps die ukrainische Bauernschaft im Zaum halten wollte. Mitte April eskalierte die Situation weiter. Eine polnische Schwadron wurde von Bauern überfallen und ermordet, in einigen anderen Dörfern stießen Requisitionskompanien auf bewaffneten Widerstand. Zur Vergeltung beschossen die Polen einige Dörfer mit Kanonen, brannten sie nieder und erschossen auch mehrere Dutzend Bauern. Die Repressionen brachten das Fass der Verbitterung zum Überlaufen. Die „Grünen“ kreisten die Soldaten ein und drängten sie in die Stadt Niemirów ab. Nach kurzem, erbittertem Kampf mussten die Polen sich ergeben. Einen Teil der Kriegsgefangenen ermordeten die Sieger an Ort und Stelle, die übrigen übergaben sie den Österreichern.113

Die Huzulenrepublik Die sowohl wegen ihrer strengen Berglandschaft und dem besonderen Klima als auch wegen ihrer zähen, im Kampf mit der Natur erprobten Bewohnern von einer romantischen Aura umwehte Huzulei wurde in der Zwischenkriegszeit zu einer Art Kolonie. Aufgeteilt zwischen zwei Staaten – der größte Teil wurde der Zweiten Polnischen Republik zugeschlagen, während die südlichen Ränder in der Karpatenukraine, einer formal autonomen Provinz der Tschechoslowakei, lagen –, nahm sie in beiden eine absolut periphere Position ein. Die von der Zentrale entsandten Beamten fielen der Melancholie oder dem Alkoholismus anheim. Der tschechische Dichter Jaroslav Durych, der in der Gegend als Militärarzt diente (er hatte sich nach dem Bankrott seiner privaten Zahnarztpraxis freiwillig gemeldet), schreibt: „Es scheint, als würde der Zug aus Prag gar nicht hier ankommen, als würde er unterwegs vor Erschöpfung umfallen und einfach liegen bleiben.“114 Die verschlafene Atmosphäre der entlegensten Provinz der Ersten Tschechischen Republik spiegelt sich auch in der knappen Charakterisierung des Lebens in Uschhorod, der Hauptstadt der Karpaten­ ukraine: 194

Kriege der Nationen

Wir haben hier Wein aus Serednje, Sliwowitz und ferbel [ein Kartenspiel]. Wir haben hier noch Reste des Uschhoroder Humors, auch wenn dieser in letzter Zeit leider verloren geht. Wir haben die Genugtuung, Bastion, Pfeiler, Wacht, Vertretung zu sein. Wir haben die Möglichkeit, im Usch zu ertrinken. Was will man mehr?115 Von der Huzulei aus betrachtet, war Uschhorod eine Großstadt. Auf der polnischen Seite der Grenze fanden sich in der wilden Berglandschaft vereinzelte Vorposten der Zivilisation wie etwa Apolinary Tarnawskis berühmtes Sanatorium in Kosów (Kossiw), das von bekannten Politikern und Wissenschaftlern besucht wurde – meist Vertretern der politischen Rechten, denn auch Tarnawski war Nationaldemokrat und Antisemit. Die Gäste, darunter Roman Dmowski und Eugeniusz Romer, aber auch Gabriela Zapolska, mussten hohen Anforderungen gerecht werden; sie mussten sich gesund und maßvoll ernähren, oft und lange in den Bergen wandern sowie „sonnenbaden“, am besten nackt. Die Bewohner der Umgebung, ukrainische Goralen, galten als mustergültige „Wilde“: In jedem Huzulen schlummerte ein Janosik oder, genauer gesagt, ein Oleksa Dowbusch – so hieß der legendäre Räuberhauptmann, der im 18. Jahrhundert mit Luntengewehr und Bergstock die Ausbeuter bestrafte und ihre bewegliche Habe an die Armen verteilte. Bevor die Huzulei aber zum tschechoslowakischen Afrika oder polnischen Wilden Westen „formatiert“ wurde, musste sie schwere Zeiten durchmachen. Der Krieg zog durch die Karpaten und brachte Zerstörung, Hinrichtungen angeblicher Moskalophiler, Hunger und Geschlechtskrankheiten; und auch Waffen, die die umsichtigen Bergbauern für alle Fälle aufbewahrten und die ihnen gute Dienste leisteten, als ab Anfang 1918 immer öfter Banden von Deserteuren in den Bergen auftauchten.116 Die Selbstverteidigung der Goralen bildete den Keim eines der flüchtigen Staatsgebilde, von denen im Herbst 1918 in Ostmitteleuropa mindestens ein gutes Dutzend entstand. Einen Tag nach der Bildung der ersten polnischen Regierung in Lublin formierte sich in Jassinja am Fuß des Tschornohora-Gebirges der Huzulische Nationalrat, der sich hauptsächlich aus angesehenen Bergbauern der Umgebung zusammensetzte. Der Rat berief eigene Beamte sowie eine Regierung und traf zugleich Vorbereitungen zu einer Bodenreform. Der Rat wusste, dass der Huzulenstaat, der gerade einmal ein paar Gemeinden umfasste, keine große Zukunft hatte. Als natürlicher Verbündeter erschien die Westukrainische Volksrepublik, die in dieser Zeit mit Polen Krieg führte und 195

I  Giganten und Pygmäen

tunlichst alles vermied, was zu einem Konflikt mit weiteren Nachbarn geführt hätte. Und in der Huzulei mangelte es nicht an potenziellen Gegnern. Die Ungarn als bisherige Herren entsandten Gendarmen nach Jassinja, die die Ordnung in der Region wiederherstellen sollten. Die Rumänen, deren Armee unmittelbar daneben operierte, hätten sich ebenfalls gern in die ukrainischen Angelegenheiten eingemischt; Polen und Tschechoslowaken beobachteten das Geschehen vorerst interessiert aus der Ferne. Schließlich erklärten die Delegierten des Rats den Beitritt zu einem gemeinsamen ukrainischen Staat, die ungarischen Gendarmen wurden auf einfallsreiche Weise entwaffnet und aus den Bergen vertrieben. Kurz schienen es, als werde alles gut enden, zumal, als die bescheidenen Streitkräfte der Republik mit westukrainischer Verstärkung die Komitatshauptstadt Marmaroschsiget einnahmen. Dies war aber schon der Anfang vom Ende der huzulischen Unabhängigkeit. Die Rumänen wollten nicht zulassen, dass sich die Ukrainer in der Nähe von Gebieten, auf die sie selbst Appetit hatten, allzu breit machten. Mit der Rückeroberung von Marmaroschsiget durch rumänische Truppen in der zweiten Januarhälfte 1919 begann die Zerschlagung der Republik. Anschließend war das Schicksal den Huzulen wieder für einige Monate wohlgesinnt. Die ungarische Rote Armee unter Béla Kun besetzte einen großen Teil der Slowakei und der Karpatenukraine, umging aber die Hauptzentren der Republik. Der Gora­ len­kleinstaat überdauerte im Niemandsland, er finanzierte sich hauptsächlich durch den Export von Holz, der einzigen natürlichen Ressource, in die Ukraine und nach Rumänien. Das Ende kam im Mai/Juni 1919, als die Rumänen einen Angriff auf Ungarn starteten und bei dieser Gelegenheit die Huzulen­republik zerschlugen. Die politisch stärker engagierten Bergbauern ver­ließen für alle Fälle ihre Heimat. Diejenigen, die blieben, wurden Opfer ­rumä­­n­ischer Repressionen, die allerdings nicht allzu hart waren. Manche ukrainischen Aktivisten kamen für einige Wochen in Arrest, andere wurden von rumänischen Soldaten geschlagen. Die übrigen Einwohner litten eher unter illegalen Requisitionen und den offenen, unverschämten Räubereien der ­Rumänen. Als das Königreich Rumänien Mitte 1920 das Gebiet der ehemaligen Huzulenrepublik offiziell an die Tschechoslowakei übergab, atmeten die Einheimischen erleichtert auf. Die kurze Geschichte der Huzulenrepublik hat sich nicht ins Menschheitsgedächtnis eingebrannt. Selbst in der Ukraine erinnert sich kaum jemand mehr an sie. Sie ist aber ein Musterbeispiel für den chaotischen Übergang vom Weltkrieg zur Zwischenkriegszeit. Sie zeigt, wie die von den hin und her zie196

Kriege der Nationen

henden Armeen in den Bauernkaten zurückgelassenen Waffen zu Geburtshelfern eines Quasistaatswesens werden konnten, wie wenig nötig war, dass die Streitkräfte eines völlig unbekannten „Staates“ eine durchaus große Stadt besetzten, und wie eine günstige Verkettung von Umständen – im Fall der Huzulen die Offensive der ungarischen Bolschewiki – die Existenz eines solchen Organismus auf über ein halbes Jahr verlängern konnte. In Ostmitteleuropa und auf dem Balkan gab es zahlreiche ähnliche schwer zugängliche, abseits der Hauptwege und -fronten gelegene Regionen wie die Huzulei. Der Krieg der Nationen ermöglichte es ihnen, einen Status zu erringen, von dem sie weder vorher noch später nicht einmal träumen konnten. Nur damals konnte das Dorf, wenigstens für kurze Zeit, zum echten Staat werden.

Die Aktivitäten der „Grünen“ in Weißrussland und der Ukraine unterschieden sich von ihrem Vorgehen in Kroatien auch hinsichtlich anderer äußerer Umstände. Hier wurden die bäuerlichen Partisanen weitaus häufiger als im Süden unvermittelt zu einer von zahlreichen Konfliktparteien. Nicht nur die Österreicher ­beobachteten die Kämpfe des III. Korps gegen die „Grünen“. In unmittelbarer Nach­barschaft rangen die Bolschewiki mit Truppen des Zentralrates. Dessen ­Tage waren freilich längst gezählt: Ende April wurde er von der Regierung von Hetman Skoropadski abgelöst. Die polnischen Soldaten wussten nicht immer, gegen wen sie eigentlich kämpften: Ukrainer, Bolschewiki oder Bauern. Ihre Gegner wussten es mitunter auch nicht. Auch während des Eisenbahnkriegs beteiligten sich die „Grünen“ aktiv am laufenden Konflikt, ohne sich eindeutig zu einer der Parteien zu bekennen. In den Armeeberichten erscheinen sie in Gestalt von Nachrichten über gekappte Telefonleitungen, Massenrodungen in den Staatswäldern und Scharmützeln mit der Armee, die die Ordnung wiederherzustellen versuchte. Weitere Belege waren „verschwindende“ Patrouillen und Requisitionstrupps. Genau ein Jahr, nachdem sich etwas weiter östlich die Tragödie der Soldaten des III. Polnischen Korps ereignet hatte, unternahm in der Gegend von Grodno die 5. Schwadron des 5. Ulanen-Regiments eine Strafexpedition in die Dörfer Welika, Morotschna, Malaya, Murawja und Pohost, deren Einwohner einen bewaffneten Überfall auf unsere zu Einkäufen entsandte Patrouille verübt hatten. Die Häuser der Rädelsführer wurden niedergebrannt, einige Banditen und Bolschewiki, die mit der Waffe in der Hand gefasst wurden, erschossen. Alle Ulanen-Pferde, die während des Überfalls auf die Patrouille verloren gegangen waren, wurden zurückerbeutet. Die bewaffneten Bauernbanden wurden zur Flucht über den Fluß Styr gezwungen.117 197

I  Giganten und Pygmäen

Im Oktober 1919 fand in der Nähe von Wiśniowiec bei Tarnopol eine breit angelegte Pazifizierungsaktion statt. Das 19. Infanterieregiment entwaffnete einige größere Einheiten der „Grünen“ mit einer Gesamtstärke von rund 3000 Mann. Das parallele Vorkommen aller Entwicklungsphasen der „Grünen“ am selben Ort und zur selben Zeit ist nicht nur ein Beleg für die im Vergleich zu Kroatien und der Slowakei schnellere Radikalisierung der Landbevölkerung in den ukrainischen und weißrussischen Gebieten. Es handelte sich auch um ein Zusammentreffen von Impulsen, die die Menschen zum Eintritt in derartige irreguläre Einheiten bewegten. An der Grenze zwischen dem ehemaligen russischen Imperium und Österreich-Ungarn spürten die Bauern zur selben Zeit den ökonomischen Druck der Armee, die Lebensmittel requirierte, und die unmittelbare Gefahr, die von den durchziehenden Armeen ausging; zum Handeln motivierte sie der Wunsch, das Land der Gutsherren in Besitz zu nehmen, sowie auch der Antisemitismus. Ein Funke genügte, um dieses Gemisch zur Explosion zu bringen. Oft war es die Bekanntmachung neuer Steuern oder einer Rekrutierung, so wie in den von den Bolschewiki besetzten Kreisen Dzisna und Wilna im Juli 1919: Diese Kreise unternahmen auf eigene Faust einen Aufstand gegen die Bol­ sche­wiki, indem sie eine „grüne Armee“ unter der Führung von Popen und Priestern gründeten. Die Bolschewiki mobilisierten in diesen Kreisen alle Männer zwischen 18 und 40 Jahren und befahlen ihnen, den Roggen zu mähen; Selbstverteidigung und Verteidigung ihres Eigentums zwangen die Bauern zum Kampf gegen die Bolschewiki. Die Bolschewiki stellten Reiter­ trupps von 40–80 Mann mit Maschinengewehren auf und töteten die „Grü­ nen“ und ihre Familien.118 Während der Tuchatschewski-Offensive ließen die Aktivitäten der Bauerntruppen nach, um kurz nach der Schlacht bei Warschau wieder aufzuleben. Die ­zurückweichenden Bolschewiki waren den Angriffen der „Grünen“ ausgesetzt, die sich mit Zuschlag zurückholten, was die Rote Armee von den Bewohnern der Region kurz zuvor auf ihrem Marsch nach Westen requiriert hatte. Historiker betrachten den „grünen Kader“ als Übergangsphänomen im engen Kontext des stürmischen Zerfalls der mitteleuropäischen Imperien. Betrachtet man das spätere Schicksal der Regionen Ostmitteleuropas, die besonders stark von diesem Phänomen betroffenen waren, kann man in dieser Hinsicht gewisse Zweifel anmelden. Nicht nur die langen „Karrieren“ von Bandenführern wie Čaruga legen andere Schlussfolgerungen nahe. Auch in auf den ersten Blick absolut friedlichen Dörfern wurden noch bis in die 1930er Jahre in den Häusern 198

Kriege der Nationen

bedeutende Mengen von Waffen aufbewahrt, von denen die Bauern gelegentlich bei Protesten auch Gebrauch machten. Noch wichtiger als die Waffen scheint der Einfluss, den der „Krieg der Pygmäen“ auf alle Beteiligten ausübte. Die Bereitschaft, zur Waffe zu greifen, wenn andere Arten der Durchsetzung der eigenen Interessen scheitern, wurde zum spezifischen Erbe, zum Charakterzug dieser Region.119 Er machte sich mitunter sogar dann noch bemerkbar, als die Gewehre des Ersten Weltkriegs längst schon vom Rost zerfressen waren.

*** Vom Augenblick an, in dem die pazifistische Revolution die russische Armee in ein loses Konglomerat bewaffneter Trupps unter Führung von Warlords verwandelte, veränderte der Krieg in Ostmitteleuropa seinen Charakter. Schon früher hatte er auf vielfache Weise die Zivilbevölkerung getroffen – mittelbar im Hinterland oder unter Besatzung sowie unmittelbar in den Frontgebieten. Nun aber, da die Anzahl der kämpfenden Parteien rasant anstieg, waren plötzlich riesige Territorien bewaffneten Gruppierungen ausgeliefert. Die auf den Ruinen der Imperien entstandenen jungen Staaten versuchten, diese unterschiedlichen Formationen der Armeedisziplin zu unterwerfen und, so gut es ging, die Zivilbevölkerung zu schützen, um deren Wohlwollen und Unterstützung zu bekommen. Die Ergebnisse dieser Versuche waren allerdings kläglich. Sie wurden von allen möglichen Räuberhauptmännern, demobilisierten Soldaten und fanatischen Antisemiten torpediert. Daher haben die Äußerungen der damaligen Beobachter oft einen melancholisch-resignativen Unterton, so etwa der Brief eines polnischen Diplomaten ans Warschauer Außenministerium vom Februar 1919: Heute ist ein besonders glücklicher Augenblick. Die überwältigende Mehrheit des Volks in der Ukraine bereitet der regulären polnischen Armee, die planmäßig und legal agiert, einen begeisterten und wohlwollenden Empfang. Die ruthenischen Bauern und Landwirte haben genug von Umstürzen, sie glauben nicht mehr an unerfüllbare Versprechungen. Man kann umstürzlerische Agitatoren unerbittlich bestrafen und den Beifall der Bevölkerung erhalten, doch mit gutem Nutzen für das Ansehen Polens kann dies nur eine reguläre, disziplinierte Armee tun, die keinen Missbrauch und keine Gewalt duldet und sich nicht von Rachegelüsten leiten lässt.120 Leider war weder die polnische Armee noch irgendeine andere Streitmacht in Ostmitteleuropa ein Heer von Engeln. 199

II KALEIDOSKOP

Kapitel 1 Soziale Konflikte Für die Menschen im Hinterland zeichnet sich der Krieg in den ersten Monaten vorerst nur am fernen Horizont ab. Sie sprachen von ihm, schmiedeten Pläne und ängstigten sich, doch meist handelte es sich um die normale Angst vor dem Neuen und Unbekannten. Die historischen Entscheidungen fielen weit weg von zu Hause, an den Rändern der mittel- und osteuropäischen Imperien. Gegen alle Regeln der Physik rückte der Horizont jedoch sukzessive näher. Mit der Mobilmachung kam die Angst um Verwandte und Freunde an der Front, der Krieg hielt langsam Einzug ins Alltagsleben. Im Rhythmus der kargen Nachrichten von den Schlachtfeldern schwankte die Stimmung im Hinterland. Aus nächster Nähe erlebten die Bewohner von Front- und Besatzungsgebieten den Krieg. Alle anderen lasen von ihm in der Zeitung oder sahen ihn im Kino. Für sie bedeutete der Krieg nicht Lebensgefahr, sondern patriotische Propaganda, Spionagewahn und vor allem für die meisten Arbeiter den Verlust der Aussicht auf angemessenes Einkommen und anständige Kost. All diese Unannehmlichkeiten ließen sich ertragen, solange man an ein baldiges Ende glaubte. Die Überzeugung, dass bald Väter und Söhne von der Front zurückkehren würden, dass die Versorgung sich verbessern und das Leben wieder in normale Bahnen finden würde, konnte aber nicht ewig halten. Die Jahre 1916/17 widerlegten sie endgültig. Beim Ausbruch des Weltkriegs lebte die Familie des Rabbiners Zynger aus Radzymin in der Krochmalna-Straße in Warschau. Der junge Icek-Hersz, später bekannt als Isaac Bashevis Singer, war damals ungefähr 13 Jahre alt (das genaue Geburtsdatum des Schriftstellers ist unbekannt) und erlebte den Alltag der ­Straße: Zwischen 1915 und 1917 starben in der Krochmalna Hunderte Menschen. Jetzt zog ein Trauerzug unter unseren Fenstern vorbei und kurz danach brachte eine Ambulanz einen Kranken fort. Ich sah Frauen ihre Fäuste gegen den 202

Soziale Konflikte

Himmel recken und hörte sie in ihrer Wut Gott einen Mörder nennen. Ich sah im Radzyminer Lehrhaus und in anderen Lehrhäusern die Chassidim mit vor Unterernährung aufgeschwollenen Leibern. Zu Hause aßen wir erfrorene Kartoffeln, die einen widerlich süßen Geschmack hatten. Die Deutschen errangen immer mehr Siege; diejenigen, die vorausgesagt hatten, der Krieg werde nicht länger als sechs Wochen dauern, mußten bald ihren Irrtum einsehen. Millionen von Menschen waren bereits umgekommen, aber Malthus’ Gott hatte noch immer nicht genug.1 Nach Jahren des Krieges erreichten Armut und Hunger in den Gesellschaften Ostmitteleuropas ein solches Ausmaß, dass die Vorkriegswirklichkeit als Bezugspunkt und Vergleichsmaßstab verblasste. An ihre Stelle trat eine völlig neue Normalität, die wir so weit untersuchen wollen, wie es die Quellen gestatten. Wir konzentrieren uns dabei auf die sozialen Reaktionen auf die eintretenden Veränderungen. Ihre langfristigen Auswirkungen sind den Historikern längst bekannt. Noch in den 1970er Jahren konstatierte Jürgen Kocka in seiner klassischen Arbeit zur deutschen Gesellschaft im Krieg, dass sich in den Jahren 1914–18 die Klassengegensätze verschärft hätten, während die Trennlinien innerhalb der einzelnen Klassen verwischt seien.2 So seien die Arbeiter sehr viel öfter als vor dem Krieg als geschlossene Gruppe aufgetreten und hätten ihre gemeinsamen Interessen gegen die – ebenfalls als homogene Gruppe mit gemeinsamen Interessen wahrgenommenen – Fabrikbesitzer vertreten. Diese Richtung des sozialen Wandels habe offene und gewaltsame Konflikte begünstigt. Sie habe Nuancen und differenzierte Haltungen verschwinden und Gruppen schrumpfen lassen, die – wie etwa die vergleichsweise wohlhabenden qualifizierten Arbeiter – in ruhigeren Zeiten die Interessen der zerstrittenen Parteien hätten in Übereinstimmung bringen und verbinden können. Der Krieg habe somit selbst dort Fronten eröffnet, wo nicht unmittelbar gekämpft wurde. Kockas Beobachtungen bedürfen freilich mancher Ergänzung. Erstens beschränkte sich die gesellschaftliche Polarisierung nicht nur auf Arbeiterklasse und Arbeitgeber. Östlich von Deutschland nahm sie mitunter überraschende Formen an. Zweitens war die Zuspitzung des sozialen Konflikts ein Prozess, der sich nur ganz erfassen lässt, wenn man seine Dynamik und seine Phasen beschreibt. Drittens reicht das Konzept der „Klasse“ zur Erklärung dieser Dynamik nicht aus. Es basiert nämlich auf einem statischen (oft einfach statistischen) Bild des Lohnarbeiters am Fließband, dessen Verhalten und Reaktionen ausschließlich aus diesem Arbeitsverhältnis heraus erklärt werden. Die Wirklichkeit war 203

II Kaleidoskop

sehr viel komplexer. In seinem wohl wichtigsten Buch über die sozialen Konflikte in der uns interessierenden Region während des Ersten Weltkriegs definiert der tschechische Historiker Rudolf Kučera die Arbeiterklasse nicht als Produkt der objektiv messbaren Modernisierungsprozesse, sondern als höchst instabiles, sich wandelndes Kollektiv, das durch zahlreiche symbolische Faktoren beeinflusst wird, die in Abhängigkeit vom sozialen Kontext die amorphe Masse der körperlich tätigen Arbeiter in einen kollektiven Akteur der Geschichte verwandeln können.3 Kučera betrachtet die tschechische Arbeiterklasse als grundsätzlich unabgeschlossenes Projekt, als ständigen Veränderungen unterliegende, aus kulturellen und symbolischen Praktiken sowie aus dem Erwerb neuer Lebenserfahrungen resultierende Erscheinung.4 Seine Ausführungen überzeugen nicht nur mit Blick auf Pilsen oder Prag. Viertens schließlich markiert – im Gegensatz zu der überwiegenden Mehrheit der auf die Westfront fokussierten Geschichtsschreibungen – das Jahr 1918 keine grundlegende Zäsur. In Osteuropa und auf dem Balkan änderten sich weder die Lebensbedingungen noch die Formen des sozialen Konflikts so sehr, dass man den 11. November 1918 als Ende eines historischen Abschnitts betrachten könnte.

Die Verwaltung des Hungers In dem Maß, in dem die Nachrichten von der Front den Hauch des Neuen verloren, richtete sich die Aufmerksamkeit der Zivilisten wieder auf Dinge, die sie unmittelbar betrafen, auf die Befriedigung der grundlegenden Lebensbedürfnisse. Das zeigen Erinnerungen und Pressenotizen aus den Jahren 1916–18 sehr deutlich. Der Prager Arzt Vladimír Vondráček erinnert sich: In den ersten zwei Jahren gab es von allem noch genug, doch später verschlechterte sich die Lage. 1916 gab es schon ernste Mängel. Anfang 1917 kam der Hunger. Das Geld war nichts mehr wert. Man musste wissen, wie man an Nahrung kam. Wer die Jahre 1917 und 1918 nicht erlebt hat, weiß nicht, was echter Hunger ist.5 Auch in Galizien wurde die Beschaffung von Lebensmitteln zum Hauptlebensinhalt der Menschen: Ein Bild des Familienlebens heute: Die Mutter läuft durch die Stadt, um Ge­ müse und Kartoffeln zu besorgen, ein Kind steht einen halben Tag vor dem Laden Schlange für Kaffee oder Zucker, das zweite vor der Molkerei, das 204

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Wiener Kinder spinnen aus Geweberesten, 1917.

­ ritte beim Bäcker und der Vater ist im Krieg, der Bruder gefallen, der Schwie­ d gersohn verwundet, der Schwager in Gefangenschaft […].6 Alle Versuche, Versorgung und Preise zu regulieren, befeuerten unweigerlich den Schwarzmarkt, die Spekulation und die gewöhnliche Kriminalität. Das Kartensystem verhinderte langfristig den illegalen Handel nicht, dafür erschwerte es die Versorgung und zwang die Einwohner der Städte zu stundenlangem Schlange­ stehen. Die Atmosphäre, die dort herrschte, war weit entfernt von patriotischer Erregung, zumal, wenn es nicht genug Waren für alle Kunden gab. Vor diesem Hintergrund kam es immer häufiger zu Hungerunruhen und Massenprotesten. Die Angst vor dem Hunger war letztlich stärker als die Angst vor der Obrigkeit. Die Nahrungskrise der Kriegszeit war deutlich gravierender als die Summe der Mängel in der Versorgung und des Versagens der Verteilungssysteme. Die Unterernährung wurde zum Massenproblem mit Konsequenzen nicht nur für die Psyche, sondern auch für die körperliche Verfassung der Menschen: Durch den Hunger bedingte Krankheiten setzen der Bevölkerung bedrohlich zu. Hungertyphus, Hühnerblindheit und Ödeme sind allgemein verbreitet. Man trifft heute kaum einen Menschen von gesundem Aussehen. Fahler Teint, starke Abmagerung, eingefallene Augen, schwerfälliger Gang, gebeugte Haltung – das sind heute feste Merkmale der Arbeiterklasse, die sich seit Län­ 205

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gerem ausschließlich von Mehl, Kartoffeln und Kohl ernährt, die zu wenig Kalorien haben, und meist ohne Fett.7 Tatsächlich wurde das Essen knapp, wenngleich aus unterschiedlichen Gründen. In Russland war meist das katastrophale Transportwesen für Hungersnöte verantwortlich. Es gab landesweit genug Lebensmittel, doch für die Bewohner der von Hunger betroffenen Regionen war dies sicherlich kein Trost. Zu allem Übel kollabierte Ende 1916 das russische Approvisationssystem, die Lebensmittelversorgung der Truppen, als die unfähige Zentralregierung die Aufgabe der Nahrungsmittelverteilung an die Selbstverwaltungsorgane (die Semstwos) übertrug und nun praktisch jedes Gouvernement eine eigene, autonome Ernährungspolitik verfolgte. Zur neuen Normalität gehörte es, dass man Lebensmitteltransporte stoppte, um die örtliche Bevölkerung zu versorgen. Die Gewinner in diesem Spiel waren die agrarisch geprägten Gouvernements, die Verlierer natürlich Moskau und Petrograd. Die politischen Auswirkungen der Dezentralisierung der Ernährungspolitik machten sich schon in der ersten Hälfte des Jahres 1917 bemerkbar.8 In der k. u. k. Monarchie funktionierte das Approvisationssystem genauso schlecht,9 was wir zunächst an einem lokalen Beispiel zeigen. In dem extrem multiethnischen Habsburgerstaat wurde jeder Nachteil einer Volksgruppe als unverdienter Gewinn einer anderen empfunden. Während des jahrelangen Kriegs und angesichts des sich ausbreitenden Mangels jeglicher materiellen Güter führten die gegenseitigen Verdächtigungen unweigerlich zur Eskalation. Im polnisch-­ jüdisch-ukrainischen Lemberg begann die echte Versorgungskrise im Herbst 1916. Die Behörden produzierten fieberhaft neue Regulierungen zur möglichst gerechten Verteilung der Folgen des lawinenartig anwachsenden Mangels an Mehl, Zucker, Brot, Kartoffeln, Fetten und Kohle. Die Zensur hatte alle Hände voll zu tun. Sie strich eifrig alle Informationen, die für Unruhe hätten sorgen können, darunter sicher auch Hinweise auf den Zielort der zwangsweise erfolgenden Lebensmittelexporte. Auf die Vorstadtgemeinden, so war letzten Endes im Kurjer Lwowski zu lesen, können wir nicht zählen, denn binnen kurzer Zeit wurden allein aus Kleparów [Klepariw, damals am Nordwestrand von Lemberg gelegen] 135 Waggons Kartoffeln abtransportiert. Alle wussten oder ahnten zumindest, dass diese Transporte nach Wien gingen. Die deutschen Soldaten standen im Verdacht, noch einmal so viel in die Heimat zu schicken. Es kursierten sogar fantastische Geschichten über Tausende deut206

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scher Kinder, die sich vor der Stadt aufhielten und alles leerfraßen.10 Das Approvisationskomitee der Hauptstadt von Galizien und Lodomerien tagte ununterbrochen. Der Polnische Kreis (die polnische Fraktion im Wiener Staatsrat) überhäufte die Regierung Cisleithaniens mit Anträgen auf eine Reduzierung der Agrar- und Requisitionskontingente („um die Bevölkerung Galiziens nicht aller Kartoffeln zu berauben.“). Seine Mitglieder wurden sogar dazu verpflichtet, die Zusammenarbeit mit der k. u. k. Kriegs-Handels-Zentrale aufzugeben, die die Abschöpfung der Peripherie zugunsten der Armee und des Zentrums koordinierte.11 Das scheinbar streng zentralistische, de facto aber dezentralisierte und auf der Durchsetzungskraft der einzelnen Akteure basierende Approvisationsregime blieb in ganz Ostmitteleuropa noch wenigstens einige Monate über den November 1918 hinaus bestehen. Recht bald aber erwiesen sich die neuen Staaten als effektivere Verwalter als das Zarenreich oder die Donaumonarchie. Die Ernährungskrise wurde unter Kontrolle gebracht. Gehen wir ein wenig in der Zeit zurück und beobachten wir, wie die Imperien in dieser Krise versagten. Die statistischen Daten zeigen für Deutschland und Österreich-Ungarn trotz der territorialen Gewinne der Jahre 1915 und 1916 einen drastischen Rückgang der Produktion wichtiger Getreide- und Gemüsesorten. Österreich-Ungarn eroberte Galizien, doch die Weizen-, Roggen- und Maisernte des Landes sank auf den niedrigsten Stand der gesamten Kriegszeit. Das katastrophale „Tief “ in der Kartoffelernte (weniger als 60 Prozent des Niveaus von 1913) wurde in Deutschland 1916, in Österreich-Ungarn 1917 erreicht.12 Die jeweiligen Versuche, die Lücken zu schließen, vertieften den Eindruck der Aussichtslosigkeit. So endete der Versuch der Haltung von Ziegen, die massenhaft vom Balkan nach Wien gebracht wurden, in einem Fiasko. Die Mehrzahl der ­Tiere verendete während des Transports, was den Wiener Speiseplan nicht aufbesserte, Serben und Rumänen jedoch eine Nahrungsquelle nahm.13 Im besetzten Montenegro, das humanitäre Hilfe aus Österreich-Ungarn erhielt, fiel die schlechte Versorgungslage sogar Durchreisenden auf: […] bald darauf [führte die Straße] bei einem halb zerstörten größeren Ge­ bäude vorbei, an welchem der Humor unserer Soldaten durch die in Lapi­dar­ schrift angebrachten Worte „Hotel-Pension Nema Ništa“ sich deutlich offenbarte.14 Das lapidare „es gibt nichts“ (nema ništa) entsprach immer öfter der Wirklichkeit in den besetzten Gebieten wie auch im Hinterland. Den Deutschen brannte 207

II Kaleidoskop

sich der „Steckrübenwinter“ 1916/17 ins Gedächtnis, als es an Kartoffeln mangelte. Mehr oder weniger ab diesem Zeitpunkt war die Politik des mächtigen Bündnisses, das unumschränkt über große Flächen Europas und Asiens herrschte, abhängig von Lebensmittellieferungen. Die vorläufigen Erfolge der Mittelmächte, etwa die Besetzung Rumäniens Ende 1916, brachten nur kurzzeitige Erleichterung, obwohl man die Instrumente der ökonomischen Ausbeutung perfektionierte. Aufgrund der Lehren aus früheren Eroberungen versuchten die Deutschen, es diesmal mit den Requisitionen nicht zu übertreiben. Stattdessen begannen sie selbst rumänische Lei zu drucken, die von den Einheimischen den Namen „bani prosti“ („Dummengroschen“) erhielten.15 Dadurch konnten sie in den ersten Monaten des Jahres 1917 rumänische Vorräte größtenteils auf freiwilliger Basis kaufen, bis die neuen, an die deutsche Reichsmark gekoppelten Banknoten an Wert verloren. Gleichwohl mussten schon 1917 im deutschen Besatzungsgebiet Lebensmittel rationiert werden. Gegen Ende des Jahres hielt – für einige Jahre fast ohne Unterbrechung – der Hunger Einzug in Rumänien. Der Staat, der vor dem Krieg ein wichtiger Ge-

Die wirtschaftliche Ausbeutung Rumäniens in einer Karikatur der Satirezeitschrift „Kikeriki“.

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treideexporteur war, musste in den Jahren 1919–20 die Vereinigten Staaten um Lebensmittelhilfen bitten. Am anderen Ende der von Deutschland kontrollierten Zone, in Wilna, stieg die Sterblichkeit unter den Juden 1917 auf das Dreifache des Vorkriegsniveaus. Ihren polnischen Nachbarn ging es nur unwesentlich besser – hier verzeichnete man doppelt so viele Todesfälle. Der jüdische Schriftsteller Heikel Lunsky erinnerte sich mit einem Anflug von Nostalgie an das Jahr 1914, als die Familien unter Tränen ihre an die Front abrückenden Männer und Söhne verabschiedet hatten. 1917 hatte niemand mehr die Kraft zur Verzweiflung.16 Der Bedarf der Kriegs- und Wirtschaftsmaschine Deutschlands und Österreich-Ungarns war so groß, dass er nur durch den direkten Zugriff auf einen der großen Nahrungsmittelproduzenten gestillt werden konnte. In Anbetracht der Tatsache, dass die größten Exporteure dem gegnerischen Lager angehörten oder durch die ­britische Seeblockade abgeschnitten waren, konnten Berlin und Wien nur auf ein Wunder hoffen. Die Eroberungen in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan verbesserten die Lage nicht, langfristig weitete sich das deutsche und österreichische Elend lediglich auf immer größere Gebiete aus.

Unter deutscher Besatzung verschwanden die Spuren der russischen Besatzung ebenso wie die Lebensmittel. Fronleichnamsprozession in Wilna 1917.

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Die Bewohner der besetzten Gebiete teilten dasselbe Schicksal und reagierten auf ähnliche Weise. Als zu Beginn des Frühjahrs 1917 in vielen deutschen Städten hungernde Arbeiter auf die Straße gingen, brachen auch im Königreich Polen Hungerunruhen aus. Wenig später wurde das Zentrum der österreichisch-­ ungarischen Rüstungsindustrie in Westtschechien von so heftigen Protesten erfasst, dass Waffen- und Munitionslieferungen an die Front bedroht waren. Je länger der Krieg dauerte, umso mehr wurden die Kriegswirtschaften der Region zu einem System kommunizierender Röhren. Erschütterungen an einem Ort riefen unerwünschte Folgen in anderen hervor. Die Versorgungskatastrophe war nicht nur eine Folge von Kriegszerstörungen und dem Rückgang der Ernten. Unter normalen Bedingungen wären die durch außergewöhnliche Umstände entstandenen Lücken durch Importe geschlossen worden. Allerdings waren die Bedingungen nicht mehr normal. Die Mittelmächte waren von Großbritannien mit einer Blockade belegt worden, deren Ziel eben darin bestand, den Feind durch die Kappung der Rohstoffzufuhr zu schwächen. Der tatsächliche Einfluss der Blockade war lange Zeit schwer einzuschätzen, weil sie bereits während des Kriegs propagandistisch ausgeschlachtet wurde. In Deutsch­ land und Österreich-Ungarn sprach man von der „Hungerblockade“ des „perfiden Albion“ gegen unschuldige Frauen und Kinder. Die Briten hingegen waren der Auffassung, die Blockade erschwere dem Feind die Kriegsführung und sei daher moralisch gerechtfertigt. Schon bald, Anfang 1917, verkehrten sich die Rollen in der Bewertung des von Deutschland ausgerufenen totalen U-Boot-Kriegs. Die Deutschen sahen darin eine adäquate Antwort auf die versuchte Aushungerung ihres Landes, die Briten waren empört. Beide Parteien versuchten, die neutralen Staaten von ihrem Standpunkt zu überzeugen. Die Bevölkerung der von den Mittelmächten besetzten Gebiete wurde zur Geisel in diesem politischen Spiel. Von Kriegsbeginn an versuchten Serben und Polen im Ausland Regierungen und private Wohltäter auf das Leiden ihrer Landsleute aufmerksam zu machen. In den Augen vieler von ihnen ging jemand anderes als Sieger aus dem Wettbewerb der Opfer um die Anteilnahme der internationalen Gemeinschaft hervor. Anfang 1915 appellierte Henryk Sienkiewicz in mehreren europäischen Zeitungen: Die Hilfe für die Belgier gereicht der Menschheit zur Ehre. Jetzt bittet mein unglückliches Vaterland darum. Unser Land, siebenmal größer als die Heimat jenes heldenhaften kleinen Volkes, wurde von unzähligen Armeen zertrampelt und zerstört. Unsere Söhne, die in den Reihen dreier feindlicher Heere zu kämpfen gezwungen werden, stehen einander in entsetzlichen brudermörde210

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rischen Kämpfen gegenüber. Feuer zerstörte unsere Städte und unsere Dörfer von den Ufern des Niemens bis zu den Gipfeln der Karpaten. Auf der ganzen Fläche unserer weiten und verwüsteten Ebenen erscheint das Gespenst des Hungers; jegliche Arbeit wurde eingestellt, der Arbeiter ruht, weil es in Polen keine Fabriken mehr gibt, der Bauer betrachtet seinen rostenden Pflug, denn es gibt weder Getreide noch Vieh. Der Kaufmann schließt aus Mangel an Käu­ fern sein Geschäft; die Feuer sind erloschen, ansteckende Krankheiten breiten sich gefährlich weit aus, Frauen und Greise haben keinen Schutz vor der Strenge des Winters, die Kinder recken ihren Müttern die mageren Händchen entgegen und verlangen nach Brot […]. Hat mein Vaterland, Polen, kein An­ recht auf eure Hilfe?17 Als ein halbes Jahr später die polnischen Gebiete und Serbien sowie noch später auch Rumänien unter deutsche und österreichisch-ungarische Besatzung gerieten, verschlechterte sich deren Versorgungslage rapide. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten sie über staatliche – russische, serbische und rumänische – Organe oder die Selbstverwaltung humanitäre Hilfen erhalten; die polnischen Gebiete unter russischer Herrschaft hatten über Mittel aus dem Tatjana-Komitee verfügt. In dem Augenblick, in dem die Mittelmächte die Kontrolle über diese Gebiete übernahmen, wurde jegliche russische Unterstützung natürlich eingestellt. Alle Versuche zur Beschaffung von Hilfsgütern aus dem Westen scheiterten an der ­unnachgiebigen Haltung Großbritanniens. Die gegen Deutschland und Öster­ reich-­Ungarn gerichtete Blockade betraf letztlich auch die Bevölkerung der von den beiden Staaten besetzten Territorien. Die prodeutsche Propaganda sah darin einen weiteren Beleg für die besondere Herzlosigkeit der Briten. Die Öffentlichkeit der besetzen Länder wurde nicht nach ihrer Meinung gefragt. Die derart konsequent umgesetzte Blockadepolitik rief sehr lange lebhafte Emotionen hervor. Politiker und Sozialaktivisten sprachen gar von einer Verschwörung mit dem Ziel, ihre Völker auszulöschen (auch Sienkiewicz waren solche Ansichten nicht fremd). Ausgewogenere Meinungen waren schwer zu finden und ernsthafte Versuche, die Auswirkungen der Blockade auf Ostmitteleuropa zu bestimmen, gab es so gut wie keine. Und doch gelingt es Experten mitunter, aus der Kakofonie gegenseitiger Anschuldigungen und heuchlerischer Empörung konkrete Informationen herauszufiltern. Sie vermitteln uns wenigstens in Teilen ein Bild der tatsächlichen Folgen der Blockade. Überaus interessante Aufschlüsse liefern Statistiken über Größe und Gewicht von Schülern der vom Krieg betroffenen Jahrgänge. Sie ermöglichen präzi211

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se Aussagen, weil Ernährungsmängel im Wachstumsalter die körperliche Entwicklung von Kindern verlangsamen. Die Messungen aus der Krisenzeit belegen den unmittelbaren Einfluss der Mangelernährung auf den Körperbau. Die Rückkehr zu einer adäquaten Ernährung führt zwar dazu, dass der junge Organismus die verlorene Zeit schnell wieder aufholt, doch im Schnitt bleiben die betroffenen Kinder etwas kleiner als glücklichere Jahrgänge. Die britische Demografin Mary Elisabeth Cox analysierte die Daten von einigen Hunderttausend deutschen Kindern aus den Jahren 1914–24.18 Die Messungen zeigen eine deutliche Verlangsamung des Wachstums von Mädchen (ab 1916) und Jungen (ab 1917) im Alter von zehn bis elf Jahren. Der größte Gewichtsrückgang wurde 1918 verzeichnet; sowohl Jungen als auch Mädchen wogen durchschnittlich ein halbes Kilogramm weniger als gleichaltrige Kinder 1914. Weil die Wachstumsverlangsamung infolge von Unterernährung zeitlich verzögert eintritt, deuten die Ergebnisse des Jahres 1918 darauf hin, wie empfindlich der „Steckrübenwinter“ die Bevölkerung des Deutschen Reichs schwächte. Cox verweist überdies auf die Unterschiede zwischen Klassen: Arbeiterkinder erfuhren die Auswirkungen der niedrigen sozialen Stellung ihrer Eltern wortwörtlich am eigenen Leib, die Kinder der Mittel- und Oberschicht schnitten im Vergleich besser ab – zumindest bis Ende 1917. Danach verringerten sich aufgrund des Mangels nicht nur im legalen Handel, sondern auch auf dem Schwarzmarkt sowie aufgrund des Schwindens der privaten Vorräte die klassenbedingten Unterschiede im Wachstum der Kinder. Allerdings nur vorübergehend. Cox’ überraschendstes Ergebnis besteht nämlich darin, dass sich unmittelbar nach Kriegsende das Wachstum deutscher Kinder in zuvor ungekanntem Ausmaß beschleunigte und dass diese Veränderung vor allem die Arbeiterkinder betraf. Das ist insofern interessant, als die Blockade keineswegs mit Kriegsende aufgehoben wurde. Die Alliierten hielten sie bis zur Unterzeichnung des Versailler Vertrags durch Deutschland im Juli 1919 aufrecht. Auch das Fischfangverbot für deutsche Hochseekutter blieb in Kraft. Trotz des Kriegsendes verbesserte sich die Versorgung Deutschlands insgesamt nicht. Des Rätsels Lösung liegt in den amerikanischen Lebensmittelhilfen für das hungernde Europa. Herbert Hoover, der bis 1918 die Hilfe für Belgien organisiert hatte, übernahm 1918 die Leitung des amerikanischen Hilfsprogramms für ganz Europa. In seiner Tätigkeit folgte er moralischen, nicht politischen Kriterien. Die US-Lieferungen gingen dorthin, wo sie am nötigsten waren, und nicht dorthin, wohin es die Siegermächte verlangten. Von dieser Politik profitierte die Bevölkerung ganz Ostmitteleuropas und sogar der Sowjetunion, insbesondere aber die 212

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ärmsten Schichten. Das erklärt auch das verblüffend schnelle Wachstum der Arbeiterkinder in Deutschland direkt nach dem Krieg – es entsprach der herrschenden Norm der gesamten Region. Auf Kritik an seiner idealistischen Haltung gegenüber dem eben erst besiegten Feind soll Hoover geantwortet haben: „Die USA führen nicht Krieg gegen deutsche Kinder.“19 Inwiefern lassen sich Cox’ Ergebnisse auf die übrigen von den Zentralmächten kontrollierten Gebiete übertragen? Außerhalb von Deutschland wurden ­nirgends vergleichbar umfangreiche Messungen durchgeführt. Stichprobenartige Untersuchungen bestätigen aber Cox’ Befunde und erlauben sogar weiter reichende Aussagen zu den Langzeitfolgen der kriegsbedingten Unterernährung. Bartosz Ogórek analysierte Daten zu Krakauer Kindern der Jahrgänge 1912–18, die in der Zwischenkriegszeit erhoben wurden.20 Die Auswirkungen der mangelhaften Ernährung in den ersten Lebensjahren waren in diesen Fällen noch nach über einem Jahrzehnt deutlich erkennbar. Die Jahrgänge 1912–1915 wiesen im Pubertätsalter ein verzögertes Wachstum auf; sie erreichten die Phase des schnellsten Wachstums nicht, wie es der Norm für die Gesamtbevölkerung entsprochen hätte, im 14. Lebensjahr, sondern erst ein Jahr später. Auch in einer anderen Hinsicht bestätigen die Krakauer Daten die deutschen Forschungsergebnisse. In Friedenszeiten wachsen Kinder aus reicheren Elternhäusern meist etwas schneller und sind im Schnitt etwas größer als ihre Altersgenossen aus den unteren sozialen Schichten. In Deutschland hielt sich dieser Effekt bis zur Mitte des Kriegs, um nach 1916 fast ganz zu verschwinden. Ähnliches zeigten die Untersuchungen an Krakauer Schülern. Die Gewichts- und Größenunterschiede zwischen Ober- und Unterschichtkindern verringerten sich, die mittleren Gruppen verschwanden. Nachdem die polnischen Gebiete amerikanische Hilfslieferungen erhielten, besserte sich die Lage ebenso schnell wie in Deutschland. Der junge polnische Staat honorierte das Engagement der Hoover-Verwaltung symbolisch, doch das ehrende Gedenken stand unter keinem guten Stern. In Warschau wurde 1922 am Königstrakt auf dem Hoover-Platz ein von Xawery Dunikowski geschaffenes Denkmal aufgestellt. Es zeigte zwei mit dem Rücken aneinander gelehnte Frauen mit kleinen Kindern auf dem Arm – ein Symbol für die von den USA vom Hunger befreite Zivilbevölkerung. Die innovative Form des Denkmals gefiel freilich nicht allen Warschauern. Unter den zahlreichen boshaften Kommentaren erfreute sich folgender Spottreim besonderer Beliebtheit: „Z przodu cyce, z tyłu cyce – polska wdzięczność Ameryce“ (vorn Titten, hinten Titten – Polens Dank an Amerika). Das mangelnde Verständnis für Dunikowskis 213

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künstlerische Vision war nicht das einzige Problem. Anfang der 1930er Jahre bekam das Denkmal Risse und musste vorübergehend entfernt und restauriert werden. Nachdem es im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört worden war, gab es mehrfach Pläne zu seiner Wiedererrichtung. Zum hundertsten Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkriegs griff der amerikanische Historiker Robert Blobaum das Thema auf.21 Keine der Initiativen war aber von Erfolg gekrönt. Erst kurz vor der Jahrhundertfeier der Unabhängigkeit Polens erinnerte auf der Krakowskie Przedmieście eine Freiluftausstellung an die amerikanische Hilfsaktion. Eine der Schautafeln zeigte ein Foto von Dunikowskis Denkmal. Im dritten Kriegsjahr wurde Ostmitteleuropa von Armut erfasst, deren Folgen noch viele Jahre nach dem Ende der Kämpfe sichtbar waren. Selbst als die Geschütze endlich schwiegen, die Versorgung sich normalisierte und die Arbeiter in die Fabriken und Werkstätten zurückkehrten, steckte den im Krieg geborenen und herangewachsenen Menschen die Erinnerung an den Hunger wortwörtlich in den Knochen. Die Versuche, die Katastrophe einzudämmen, erforderten massenhafte Lebensmittellieferungen. Dies vermochten nur die USA zu leisten; weder die Mittelmächte noch die Selbstverwaltungen der Städte im Osten Europas verfügten über die nötigen Mittel – sie konnten den allgemeinen kriegsbedingten Mangel allenfalls verwalten.

Jüdisches Geschäft im deutschen Besatzungsgebiet, 1917.

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Die Lebensmittelpolitik vereinte drei sehr verschiedene Elemente: Aufsicht, Volkserziehung und Umverteilung. Aus Sicht der Regierenden sollten diese drei Faktoren die gemeinsame Anstrengung der solidarisch agierenden Bevölkerung unterstützen. In Wirklichkeit trug jeder einzelne auf seine Weise zur Vertiefung der sozialen Unterschiede und zur Verschärfung der ethnischen, sozialen und religiösen Konflikte bei. Es hätte auch kaum anders sein können: Außer Entsagungen hatte der Staat den Menschen nämlich überhaupt nichts zu bieten. Je mehr die Vorräte schrumpften, umso härter und rücksichtsloser wurde um das Wenige gekämpft. Wie wir schon wissen, unterstanden Lebensmittelproduktion und -handel staatlichen Stellen; individueller Handel wurde verfolgt, „Spekulanten“ drohten teils drakonische Strafen. Der polnische Soziologe Ludwik Krzywicki, der noch während des Kriegs unter Pseudonym eine Sammlung seiner Artikel aus der Kundenzeitschrift „Społem“ veröffentlichte, schrieb über die ganz Warschau empörende Affäre der Butterpanscherin Magdalena Makowska, über Wacław Ickiel, der einer Kantine der Legionen zweihundert Kilo Wurst aus verdorbenem Fleisch verkaufte, oder über die Herren Krwawnik und Neumann, die Tee produzierten, bei dem eine eigens schwerer gemachte Verpackung die Hälfte des Gewichts ausmachte.22 Solche Menschen kamen vor Gericht und dieses scheute sich nicht, überaus harte Strafen zu verhängen. Man legte Höchstpreise fest, die die Polizei durchzusetzen versuchte. Die Preise wurden über die Presse öffentlich bekannt gemacht, weil man hoffte, die Bürger würden selbst einen Teil der Kontrolle übernehmen. In gewisser Weise geschah dies tatsächlich. Vor allem Fremde – Juden und Flüchtlinge – wurden oft und gern des illegalen Handels beschuldigt, den gleichwohl fast alle trieben. Kaum jemand gelangte zu so weitreichenden Schlüssen wie Kryzwicki, der eine Abhandlung über die Spekulation mit der Bemerkung abschloss: Der Mangel an Produktion ist der Quell der wahrgenommenen Auswüchse, nicht jedoch ihre Folge. Und gerade das klare Verständnis dieser Situation kann uns vor vielen irrigen Hoffnungen und nutzlosen Reflexen bewahren.23 Manchmal verzichtete die Obrigkeit unter dem Druck des menschlichen Neids auf ihre Rolle als Organisator und Kontrolleur der Truppenversorgung. Pfarrer Świeykowski, der energische Bürgermeister des schwer vom Krieg getroffenen Gorlice, verweigerte schlicht die Annahme der Anzeigen, mit denen ihn die Bewohner des Städtchens und der Umgebung überhäuften. In einer offiziellen amtlichen Note konstatierte er: 215

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Angesichts der mir zugesandten anonymen Meldungen über angeblich versteckte große Vorräte an Getreide, Mehl oder anderen Lebensmitteln in einzelnen Häusern und Familien gebe ich hiermit bekannt, dass ich derartige anonyme Meldungen gemäß dem zurecht gängigen Brauch grundsätzlich in den Papierkorb werfe und keine von ihnen nutze. Wer stichhaltige Beweise für ein illegales Verhalten eines Mitbürgers hat, soll den Mut aufbringen, die entsprechende Meldung mit seinem vollen Namen zu unterzeichnen – dann kann er sicher sein, dass ich alles Nötige veranlassen werde, um den Täter im Fall erwiesener Schuld ohne Rücksicht auf seine gesellschaftliche Stellung zur Verantwortung zu ziehen.24 Die disziplinierende Hand des Staates berührte die Betroffenen in sehr ungleichem Maß. Die Korruption war allgegenwärtig, Händler und Kunden entwickelten mit der Zeit Strategien, um sich vor Kontrollen zu schützen. In der Gegend von Wilna legten die Bauern „Kartoffeln auf den Boden des Wagens und bedecken sie mit Stroh, darauf legt sich ein Familienmitglied, das den Kranken markiert, in dem es stöhnt und sich krümmt“; das Risiko, dass der Kranke auf dem Wagen tatsächlich Typhus verbreiten könnte, sollte die deutschen Soldaten effektiv von der Revision des Gespanns abhalten.25

Jahrmarkt im von Österreich-Ungarn zurückeroberten Kolomea 1917.

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Bis zum Ende der drei Monarchien traf die obrigkeitliche Regulierung der Ernährung die Bevölkerung in den Städten sehr viel empfindlicher als auf dem Land. Die hungernden Arbeiter blickten mit wachsendem Neid auf die Bauern, zumal sie von diesen abhängig waren. Zwischen Stadt und Land entwickelte sich ein Handelstourismus, dessen Regeln keinen Zweifel daran ließen, welche Seite die stärkere war. Arbeiter und Beamte, weitaus häufiger freilich ihre Frauen, machten sich auf den Weg, um Lebensmittel zu kaufen, erst gegen Geld, doch, als das Geld wertlos wurde, ging man zum Tauschhandel über. Je länger der Krieg dauerte, umso verzweifelter wurde die Lage der Kunden, die Abneigung gegen die Bauern wuchs. Gyula Illyés, der Ende 1916 mit seiner Familie aus der Provinz nach Budapest zog, erinnert sich: […] die Gäste aus der Stadt lauerten vor den Pforten wie Hunde, die auf ein Stück Speck warten. Sie flehten um Speck, Eier oder etwas Mehl im Tausch gegen den Frack des Familienvaters, einen Perserteppich oder einen Küchen­ stuhl. Für ein paar Lebensmittel boten sie alles, was sie aus ihren Wohnungen heraustragen konnten.26 Alois Rašín, wenig später der erste Finanzminister der Tschechoslowakischen Republik, fand in manchen Bauernhäusern nicht nur ein, sondern zwei Klaviere, die von ausgehungerten Städtern mitgebracht worden waren.27 Der Konflikt zwischen Stadt und Land, von dem schon im ersten Band die Rede war, drohte die nationale Solidarität zu zerstören. Die Politiker der einzelnen Nationalitäten Ostmitteleuropas versuchten deshalb, die Lage nach Mög­ lich­keit zu beruhigen oder zumindest die Wut der Hungernden in eine andere Richtung zu lenken. Die Habsburgermonarchie bot dazu die meisten Möglichkeiten. In Wien fanden sich immer eifrige Einflüsterer, die den Einwohnern erklärten, die Schuld für die fatale Versorgung trügen die egoistischen Ungarn, die verhassten Tschechen und die lästigen polnischen, jüdischen und ukrainischen Flüchtlinge aus Galizien. In Prag wurde der deutsche Bauer, der angeblich die Stadt aushungern wollte, zur Hassfigur. Doch die politischen Vertreter der Nationalbewegungen spielten in der zweiten Kriegshälfte eine deutlich weniger dominante Rolle als zuvor. Weitgehend unabhängig von ihnen meldeten sich immer lauter die Arbeiter zu Wort. In der sozialistischen Presse äußerte sich der Zorn auf die ländliche Bourgeoisie ungehemmt, der durch keinen Nationalismus gemildert wurde.28 Der südtschechische Zimmermann Vojtěch Berger stellte keine sonderlich originelle Diagnose, als er im Herbst 1917 in seinem Tagebuch vermerkte: 217

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Die Bauern sind jetzt die Herren und lassen das gern spüren. Brot haben sie im Überfluss, Semmeln, Kuchen, Wurst, Käse, Butter, Lebensmittel, sie schmieren sich Schmalz aufs Brot und stolzieren damit herum. Manche haben einen Rest von Gewissen, aber viele geben nicht das kleinste Bisschen ab, es sei denn gegen Tabak, aber auch das kaum einer. Die Zeiten haben sich geändert, die Bauern verdienen gut, legen Geld beiseite und essen gut. Die Arbeiterklasse hungert, sie bekommt einen Fraß vorgesetzt, den selbst Ferkel liegen ließen, und selbst davon zu wenig. Überhaut stehen Ferkel heute gut im Preis, höher als Menschen. Anders als die Menschen bekommen die Schweine genug Nahrung, denn mit ihnen lässt sich gutes Geld machen.29 Die Nationalität der Bauern war Berger völlig egal. Die Wut der Arbeiter speiste sich aus ihrer Ohnmacht. Das in den osteuropäischen Imperien trotz allem halbwegs funktionierende Rechtssystem schützte das Eigentum der Bauern. Sie unterlagen Kontingentierungen und Requisitionen, während Truppendurchmärschen wurden sie unbarmherzig geplündert und geschlagen, doch der Staat fühlte sich für sie verantwortlich. Weit entfernt von den Fronten, ging das Leben in der Provinz recht lange seinen gewohnten Gang, im bekannten und vertrauten Raum des eigenen Dorfes, Kreises, Bezirks. Erst mit dem völligen Zusammenbruch der bisherigen Ordnung wurde der Hunger auch im ländlichen Raum zu einem größeren Problem. Am meisten litten Gebiete, auf die mehrere der neu gegründeten Staaten Anspruch erhoben. Dort herrschten auch dann katastrophale Zustände, wenn gerade keine Kämpfe stattfanden. Am schlimmsten betroffen waren die weißrussischen und ukrainischen Gebiete. Gleichwohl war der Hunger dort, anders als ein Jahr zuvor in Prag, keine unmittelbare Folge der Politik des Staates, sondern resultierte vielmehr aus dem Fehlen von Strukturen zur Verwaltung der bescheidenen Ressourcen. Im Herbst 1919 litten in der Gegend um Švenčionys (Święciany) mindestens ein gutes Dutzend Dörfer an Hunger. Hanna Zahorska schrieb: Sie essen Brot aus „Krebsscheren“-Blättern. Ein Arzthelfer aus der Gegend von Kobylnik [Naratsch], Wojciech Czechoń, erzählt, in manchen Dörfern habe es an die 50 Hungertote gegeben – die Menschen quellen auf und sterben. Mit mir transportierte man einen Mann zum Begräbnis nach Kobylnik, der an Hunger gestorben war. […] Neben dem Hunger grassieren auch Epide­ mien. In Myadzyel bis Wilejka – blutiger Durchfall, der auch die Armee befallen hat, die Bevölkerung fleht um Hilfe und Medikamente. Um Kocmaj – Typhus und Pocken. In Dołhinów [Daŭhinawa] außerdem Keuchhusten. Eine 218

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hohe Kindersterblichkeit. In Hoduciszki [Adutiškis] gab es im Winter Typhus und Hungertote (Schmerzen und Ödeme), der Typhus ist bis jetzt noch nicht besiegt.30 Berichte über Hungerödeme, zumal bei Kindern, gab es aus ganz Weißrussland und einem großen Teil Litauens. In Wilna durchkreuzte der Hunger – und nicht etwa der Widerstand der Einwohner oder das eigene Ungeschick – die ehrgeizigen pädagogischen Pläne der Bolschewiki. Sie strichen zwar das Fach Religion vom Stundenplan der Schulen des besetzten Wilnaer Landes, doch bald darauf kamen auch keine Kinder mehr zum Unterricht. Die Eltern versuchten sie bei Verwandten in Gegenden mit besserer Lebensmittelversorgung unterzubringen. Der zivilisatorische Niedergang der Gebiete, die bald das östliche Grenzland der Zweiten Polnischen Republik bilden sollten, ging so weit, dass manche Gegenden sich komplett entvölkerten und von Wald überwuchert wurden. In einem amtlichen Bericht werden Wolfsrudel erwähnt, die in der Nähe von Troki Reisende angegriffen haben sollen.31 Diese Meldung führt uns zu einer ganz anderen, anthropologischen Dimension der Krise: Es ist kaum vorstellbar, dass es vor 1914 in der Gegend um Troki keine Wölfe gab; Angriffe auf Reisende gab es ziemlich sicher nicht. Das Auftauchen „aggressiver Rudel“ war eher ein Symptom für die Hilflosigkeit der Menschen angesichts des Verfalls ihrer natürlichen Umgebung; eine Folge war die Rückkehr des Bösen, diesmal nicht in der Uniform eines Gendarmen, sondern in Gestalt des halbfantastischen ewigen Feindes. Abseits der mehrfach vom Krieg zerstörten Regionen galt gleichwohl die schlichte Regel des tschechischen Zimmermanns: In der Stadt lebte man schlechter. So war das Leben in Lodz Anfang 1920 noch härter als in der schlimmsten Phase nach dem Einmarsch der Deutschen: Lodz erlebt derzeit eine beispiellose Lebensmittel- und Brennstoffkrise. Der absolute Mangel an Mehl und Kohle ist für die Bevölkerung katastrophal. Riesige Menschenschlangen kehren mit leeren Händen von den Läden zurück, die Stadt versinkt nachts in Dunkelheit, weil das Gaswerk mit den letzten Vorräten läuft, die Schulen sind wegen Kohlemangel geschlossen, die Bäckereien, weil es an Mehl und Kohle fehlt. Verbitterung und Unmut gegen die Regierungsbehörden wachsen gefährlich, die kommunistische Agitation weitet sich aus und fällt auf fruchtbarsten Boden. In den letzten Monaten beläuft sich der Rückstand der Mehllieferungen für Lodz auf 640 Waggons. Absoluter Mangel an Brot, das im Wucherhandel 5 Mark das Pfund kostet. Der Mehl- und Brotschmuggel aus den Vorstädten blühen, was berechtigte 219

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Klagen über die Unfähigkeit und Untätigkeit der zuständigen Organe hervorruft. Nicht nur den Gaswerken fehlt es an Kohle, sondern in noch größerem Ausmaß der Bevölkerung. […] In den Arbeitervierteln liegt die Kinder­sterb­ lich­keit bei 85 Prozent. Unter den Schulkindern, die hungern und zum Auf­ enthalt in unbeheizten Räumen gezwungen sind, grassieren Masern, Schar­ lach und Pocken, unter den Erwachsenen fordert die Spanische Grippe ungewöhnlich viele Todesopfer. Die Dunkelheit in der Stadt begünstigt Diebstähle und Raubüberfälle, wozu auch die ungenügende Anzahl an Polizeiwachen beiträgt. […] In Lodz sind 75 000 Arbeitslose registriert.32 Die für die Approvisation verantwortlichen Beamten hatten 1920, als Lodz sich am Rand des Zusammenbruchs befand, nicht nur erste Erfahrungen im unabhängigen Polen gesammelt, sondern verfügten vor allem auch über Kompeten-

Deutsche Kontrollen und ständiges Anstehen um Lebensmittel – ein alltägliches Bild in den besetzten Gebieten.

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zen aus dem Dienst in Staats- oder Selbstverwaltungsbehörden während des Kriegs der Imperien. Sie hatten mit eigenen Augen gesehen, dass Höchstpreise und die Reglementierung des Lebensmittelmarkts keine geeigneten Mittel im Kampf gegen den Hunger in den Städten und den Schwarzhandel waren. Eine der umstrittensten Maßnahmen in der Approvisationspolitik des jungen polnischen Staates resultierte vermutlich aus dem Versuch, die Fehler der österreichisch-ungarischen und deutschen Behörden zu vermeiden. Die 1920 veröffentlichten Richtlinien des Approvisationsministeriums sahen Kontingentpreise für Getreide und Kartoffeln vor, die den Schwarzmarkt austrocknen sollten. Hohe Ankaufpreise sollten die Bauern dazu bewegen, ihre Produkte auf legalem Weg zu verkaufen. Anders als sonst nach der Festlegung neuer Höchstpreise entspannte sich die Situation allerdings nicht. Vielmehr wurden die Beamten mit Protesten wütender Verbraucher überschüttet, die beklagten, dass die neuen offiziellen Preise über den bisherigen Schwarzmarktpreisen lägen. Noch ehe sich die Empörung wieder legte, hatte sich der illegale Handel an die veränderte Situation angepasst und die Preise noch weiter erhöht. Statt den Handel mit Lebensmitteln durchlässiger zu machen, verschärften die neuen Anordnungen somit die Versorgungskrise: […] in Tschenstochau erhält die Bevölkerung seit drei Wochen kein Kartenbrot mehr, und wegen des Konflikts zwischen Bäckern und Rathaus über die Höchstpreise wurde auch die Produktion von frei verkäuflichem Brot eingestellt – weshalb es in der ganzen Stadt kein Brot gibt. Der Preis für Kartoffeln und andere lebensnotwendige Produkte steigt stetig und die Anwendung von Höchstpreisen führt allenfalls zur Einstellung der Lieferungen, die Produkte werden gründlich versteckt und es entsteht ein Schwarzhandel, der sich sein „Risiko“ gut bezahlen lässt.33 Aus dieser Zwickmühle gab es wohl keinen guten Ausweg. Die einzige effektive Lösung wäre die Rückkehr zur normalen Friedenswirtschaft gewesen. Der Versuch, eine ungenügende Menge an Lebensmittel mithilfe von Kontingenten und Höchstpreisen zu verwalten, scheiterte 1920 ebenso wie schon 1916. Der Staat war nicht stark genug, um den Markt zu disziplinieren. Gleichwohl versuchten die Behörden, nicht nur den Umlauf, sondern auch den Konsum von Lebensmitteln zu kontrollieren. In diesem Punkt fand die Appro­visationspolitik der kriegführenden Staaten eine Verbündete in der modernen Wissenschaft. Kurz vor Ausbruch des Weltkriegs fanden Ernährungswissenschaftler heraus, wie sich der energetische Wert der Nahrung bestimmen ließ. 221

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Eine Oase des freien Handels unter deutscher Besatzung. ­Verkauf von Lämmern in den Straßen Bukarests.

Durch den Krieg wurde die korrekte Bilanzierung des Nährwerts von einer interessanten Spielerei zu einer strategisch wichtigen Fähigkeit. Durch allgegenwärtige Ratschläge von Ernährungsexperten sollte die Bevölkerung dazu gebracht werden, sich mit der neuen Situation abzufinden und ihre Ernährungsweise zu rationalisieren. Anfangs richtete sich die Informationskampagne vor allem an die Untertanen der Habsburger und Hohenzollern. Mit der deutschen und österreichisch-ungarischen Besatzung verbreitete sie sich über ganze Regionen, die von den Mittelmächten kontrolliert wurden. In der Vorerntezeit 1917 informierte die Lodzer Gazeta Łódzka ihre Leser, dass sie zumindest in dieser Hinsicht in der besten aller Welten lebten: Der durch die Ernährungsbedingungen im Krieg verursachte Gewichtsverlust ist nicht so schlimm, wie jene meinen, die glauben, er führe zu Magenbe­ schwerden. Der Abbau von Fett ist in vielen Fällen sogar notwendig für den Erhalt wichtiger Organe wie etwa das Herz; körperliche Beschwerden treten erst bei deutlichem Hunger auf. Durch den allmählichen Gewichtsverlust verlieren wir nur überflüssiges Fett und vermeiden viele unerfreuliche Krank­ heiten.34 Die Kampagne gegen die Fettleibigkeit war nicht die einzige Folge der Verwissenschaftlichung der Ernährung. Der Staat griff auch in die Zusammensetzung 222

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der Nahrung ein, um die gewünschte Energiebilanz zu erreichen. Das Nachdenken über den Kaloriengehalt von Lebensmitteln hielt Einzug in Zeitschriften, die sich dafür zuvor nicht interessiert hatten. Vor allem aber prägte es maßgeblich die amtlichen Verordnungen. So erfuhr etwa die Bevölkerung im besetzten Rumänien im Januar 1917, dass man deutschen Wissenschaftlern zufolge aus 225 Gramm Weizenmehl und 150 Gramm Maismehl einen Brotlaib von durchschnittlich 440 Gramm Gewicht backen könne, was zur Deckung des Tagesbedarfs eines arbeitenden Menschen völlig ausreiche.35 Im Frühjahr 1918 präsentierte das Branchenmagazin der tschechischen Metallarbeiter Kovodělník seinen Lesern statt Rezepten für schmackhafte häusliche Gerichte folgenden Vortrag: Das menschliche Leben ist eigentlich ein Verbrennungsprozess. […] Ver­ brann­tes Material muss durch neues ersetzt werden. Der Körper verlangt nach der Zufuhr von Kohlehydraten, Fett und Eiweiß, um zu ersetzen, was verbrannt wurde. Selbst ein Mensch, der nichts tut, nicht arbeitet und jede Bewegung vermeidet, benötigt eine bestimmte Menge Lebensmittel, um den Kalorienverlust auszugleichen. […] Lägen wir den ganzen Tag bewegungslos im Bett, so könnten wir mit der zum Überleben notwendigen Menge Lebens­ mittel auskommen. Aber wir arbeiten. Deshalb ist die zum Überleben notwendige Menge für uns zu wenig. Wie jede andere Maschine ist auch der menschliche Organismus nicht in der Lage, neue Energie zu produzieren, sondern kann nur eine Form von Energie in eine andere verwandeln. Der Körper verwandelt die potenzielle Energie, die ihm durch die Nahrung zugeführt wird, in mechanische Energie.36 Wer die Faszination für die Energiebilanz des menschlichen Körpers als Symptom einer neuen, unverständlichen Mode oder als Neuigkeit ohne größere Bedeutung abtat, sollte bald eines Besseren belehrt werden. Die moderne Ernährungslehre bestimmte nämlich zunehmend die kollektive Ernährung. Im dritten Weltkriegsjahr, als der Hunger den Bewohnern der von den Mittelmächten kontrollierten Gebiete immer dreister in die Augen sah, wurden biochemische Kuriositäten zu einem wesentlichen Bestandteil des Alltagslebens. Die Karriere der Kriegsdiätetik verdankte sich den kriegsbedingten Veränderungen der Ernährungsgewohnheiten. Das sukzessive Verschwinden von Lebensmitteln aus dem Handel stellte die soziale Leiter auf den Kopf. Vor dem Krieg war die Einnahme von Mahlzeiten im eigenen Zuhause ein Merkmal für den höheren Status der Arbeitereliten. Schon 1914 zeigte sich, dass die Arbeiter 223

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der unteren Ebenen, die zur Nutzung von Kantinen berechtigt waren, unter den neuen Umständen deutlich besser dran waren. Industriebetriebe, insbesondere die strategisch wichtigen, sowie andere privilegierte Unternehmen und Institutionen konnten ihren Angestellten (und oft auch deren Familien) selbst dann noch zusätzliche Verpflegung anbieten, als die Läden schon so gut wie leer waren. Den übrigen Konsumenten, auch den vor den Krieg durchaus gut situierten, blieben die städtischen Armenküchen. Auch in diesem Fall bewirkte der Krieg somit eine Neuordnung der Gesellschaft, die sich nun in zwei Lager teilte, die den beiden Arten von Küchen entsprachen: denen für die „mittleren Schichten“ und denen für die Bedürftigen. In Ersteren speisten Teile der qualifizierten Arbeiterschaft, Beamte und Vertreter der freien Berufe, die eine neue, über den Zugang zu regelmäßiger Verpflegung definierte soziale Schicht bildeten. In den Armenküchen indes machte sich der Einfluss der Diätetik auf den Speiseplan besonders empfindlich bemerkbar, weil dort die zur Aufrechterhaltung der Vital­funktionen notwendigen Kalorien unter Nutzung minderwertigster Zutaten wie etwa tierischem Talg und ohne Rücksicht auf Geschmack oder Qualität verabreicht wurden. Die Proteste der Konsumenten wurden mit medizinischen und ernährungswissenschaftlichen Argumenten zurückgewiesen: Unter energetischem Aspekt war der Unterschied zwischen Talg und Speck minimal. Doch es existierte noch eine niedrigere Stufe: In manchen Kriegsgefangenenlagern gelangten die Köche zu dem Schluss, dass man den Speck durch mineralisches Fett ersetzen könne. Die Internierten aus Beniaminów erinnerten sich an Suppen, die nach Erdöl rochen.37 In Freiheit glich sich die Position der Konsumentengruppen 1917 teilweise an, als infolge einer katastrophalen Missernte selbst die Kantinen wichtiger Rüstungsbetriebe ihren Arbeitern keine anständige Verpflegung mehr anbieten konnten. Zu diesem Zeitpunkt bemerkten auch Militaristen wie Erich Ludendorff, denen das Schicksal der Zivilisten gleichgültig war, dass etwas Beunruhigendes vor sich ging: Das Nachlassen der Stimmung im deutschen Volke hing sehr wesentlich mit der Ernährung zusammen. Der Körper bekam in seiner täglichen Zuführung, namentlich an Eiweiß und Fetten, nicht das, was zur Erhaltung der leiblichen und geistigen Kräfte notwendig ist. Es war in weiten Kreisen ein gewisser Verfall der körperlichen und seelischen Widerstandskraft eingetreten, der eine unmännliche, hysterische Stimmung hervorrief, die im Banne der feindlichen Propaganda das unkriegerische Denken vieler Deutschen noch vermehrte.38 224

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Armenküche im besetzten Polen.

Die dritte Säule der Ernährungspolitik war – neben Disziplin und Diätetik – die Umverteilung von Lebensmitteln. Dazu dienten die angesprochenen Armenküchen, die mit der Zeit auch von durchschnittlich vermögenden Menschen genutzt wurden. Ihr Betrieb war meist Aufgabe der Selbstverwaltung, die dazu (meist ungenügende) finanzielle Unterstützung vom Staat erhielt. Das schon erwähnte tschechische Beispiel ist paradigmatisch für die gesamte Region. Fast überall wuchs die Anzahl der Menschen, die kostenlose oder subventionierte Mahlzeiten in Anspruch nahmen. Es wuchsen auch die Schlangen vor den Notküchen und die Unzufriedenheit der hungernden Bevölkerung. Eine ebenso typische Reaktion der städtischen Behörden auf die Zuspitzung der Ernährungskrise bestand darin, die sozialen Unterschiede durch die Trennung der Gaststätten für die Ärmsten von denen für die etwas besser Gestellten zu sanktionieren. Unter schwierigsten Bedingungen – etwa im zerstörten Gorlice – wurde die Armenküche zu einem weiteren Instrument der Disziplinierung der Gesellschaft. Um die „Arbeitsscheu“ zu bekämpfen, wurde der Kreis der Hilfsberechtigten nach und nach verkleinert.39 Auf diese Weise trug das Approvisationssystem zur Verschärfung der sozialen Unterschiede bei, indem es nicht nur Obdachlose und Kranke, sondern auch die Masse der Arbeiter zu Parias machte. 225

II Kaleidoskop

Die Verstärkung der sozialen Unterschiede war nicht die einzige paradoxe Auswirkung der Ausweitung der Hilfsaktion. Selbst auf diesem Feld der Innenpolitik traten zunehmend ethnische Trennlinien zutage. Die Verteilung von Lebensmitteln und der Betrieb von Küchen oblagen meist städtischen Ämtern oder Sozialorganisationen; Letztere hatten in der Regel nationalen Charakter und halfen nur den eigenen Landsleuten. Die Zentralregierungen akzeptierten das, zunächst in Russland, ab 1917 auch in der Habsburgermonarchie.40 Tatsächlich zeigte die Erfahrung der ersten Kriegsjahre, dass diese Organisationen effektiver arbeiteten und im Unterhalt weniger als die staatlichen Strukturen kosteten. Allerdings zahlten die multiethnischen Monarchien dafür einen hohen Preis. Je mehr es an Nahrung mangelte, umso heftiger wurde darum gestritten, wer am meisten der Hilfe bedurfte. In diesen Konflikten standen sich die Vertreter einzelner Volksgruppen gegenüber. Als 1917 die tschechischen Gebiete von einer Welle von Hungerrevolten überrollt wurden, warfen Tschechen und Deutsche einander gegenseitig vor, nur die eigenen Leute mit Nahrung zu versorgen. Einige dieser Revolten endeten mit der Plünderung jüdischer Läden – vielleicht der einzige Feldzug, den die verfeindeten Nationalitäten noch gemeinsam unternehmen wollten.41 In vielen Orten wurde es unmöglich, allen Bedürftigen über die ethnischen Grenzen hinweg zu helfen. Die Lubliner Zeitung Myśl Żydowska kommentierte 1916 bedauernd: Das anschaulichste Bild der Zustände […] auf dem Gebiet der polnisch-jüdischen Zusammenarbeit bietet die Arbeit der Bürgerkomitees. Die Verhandlun­ gen über jegliche sozialen Rechte der Juden nahm dort so raffinierte Formen an, dass die jüdischen Mitglieder gezwungen waren, die Komitees zu verlassen und eigenständige Sektionen zu gründen.42 Das größte Konfliktfeld war eben die Nahrungshilfe für die Armen. Die Abneigung gegen die Nachbarn manifestierte sich nicht nur darin, dass man ihre Bedürfnisse ignorierte. Die Konkurrenz um die schrumpfenden Vorräte führte auch zu Kleinkriegen, die keiner der beteiligten Parteien nutzten. Als schließlich jüdische Wohltätigkeitsorganisationen in Lublin eine eigene Hilfsaktion für die jüdische Bevölkerung starteten, erschwerte die polnische Stadtverwaltung ihnen weiter die Arbeit, indem sie ihnen etwa öffentliche Spendensammlungen untersagte.43 Ein solches aktives Handeln ging über die kalte Gleichgültigkeit gegenüber den Nachbarn hinaus. Das war offene Feindseligkeit. Die Verwaltung des Hungers im Krieg umgab sich mit dem Nimbus der modernen Wissenschaft und der rationalen staatlichen Umverteilung von Gütern. 226

Soziale Konflikte

Inszenierte Kinderspeisung im von Rumänien besetzten Budapest, 1919.

Die Resultate waren aber kaum zufriedenstellend. Die staatliche Kontrolle der Lebensmittelproduktion und des Handels belebte den Schwarzmarkt, der zur raschen Verarmung der Stadtbevölkerung und zur Bereicherung mancher Bauern beitrug. Eine gesellschaftliche Folge dieser Politik war der anwachsende Konflikt zwischen Stadt und Land – ein schwieriges Erbe, mit dem die neuen Staaten Ostmitteleuropas zu kämpfen hatten. Die Rationalisierung und Reglementierung der Ernährung und des Lebensmittelverkehrs verschärfte den Unterschied zwischen den Privilegierten, die Zugang zu besserer Kost hatten, und der Masse der Armen. Dies führte zu einer deutlichen Vergrößerung und zum Zusammenschluss einer Gruppe, die damalige Beobachter, zumal in größeren Städten und Industriezentren, mit dem Proletariat gleichsetzten. Schon Mitte 1917 sollte sich zeigen, welch starke politische Macht die Masse der hungrigen Arbeiter darstellte. Schließlich wurde das System der Umverteilung von Lebensmitteln in Gestalt von Zuteilungen, kostenlosen oder preiswerten Küchen und Teestuben und ähnlicher Initiativen zum Austragungsort ethnischer Konflikte. Das gemeinsame Elend festigte die Gesellschaften der kämpfenden Staaten keineswegs. Im Gegenteil, es verschärfte die ohnehin anwachsenden Spannungen zwischen den einzelnen Gruppen. Auf zwei anderen Feldern der Sozialpolitik – der Flüchtlingshilfe und der Kinderfürsorge – wird erkennbar, wie sehr gegenseitige Abneigung, Neid und Vorurteile die Idee der Hilfe für den Nächsten in Not pervertierten. 227

II Kaleidoskop

Flüchtlinge Kaum eine Begleiterscheinung des Ersten Weltkriegs illustriert die Dominanz der Westfront in den gängigen Darstellungen deutlicher als das Problem der Zwangsmigration. Noch während des Kriegs berichtete die Weltpresse über die Tausenden evakuierten Belgier und Franzosen, über Deportationen zur Zwangsarbeit nach Deutschland und über die Rettung verwaister Kinder. Ein wirklich apokalyptisches Ausmaß erreichten Flucht, Evakuierungen und Deportationen allerdings im Osten Europas. Schon unmittelbar nach Kriegsbeginn füllten Flüchtlinge die Straßen Ostpreußens, der Bukowina, Galiziens und Serbiens. Einige Monate später begann die russische Armee mit Massendeportationen „Verdächtiger“ – deutscher Kolonisten und Juden – in den Osten. Die deutsch-österrei­ chisch-ungarische Offensive im Frühjahr und Sommer 1915 löste eine gigan­tische Welle nur bedingt freiwilliger Evakuierungen nach Osten aus. Keine der kämpfen­ den Parteien verzichtete auf lokale Vertreibungen, die mit strategischen Zielen begründet wurden. Viele Menschen wurden unter dem Verdacht der Illoyalität interniert oder deportiert.

Auch wer der Vertreibung entging, konnte sich nicht sicher fühlen. Das Bild aus dem Jahr 1917 zeigt ein Bauernhaus nach dem Einschlag eines Artilleriegeschosses. Vor dem Haus liegen die toten Bewohner.

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Soziale Konflikte

Der britische Historiker Peter Gatrell schätzt die Anzahl der Zwangsmigranten in Ostmitteleuropa, auf dem Balkan und in Russland auf mehr als zehn Millionen. In Belgien und Frankreich wurden rund zwei Millionen Menschen evakuiert oder deportiert. Die Gesamtzahl der Menschen in Europa, die wegen des Kriegs ihren Wohnort verlassen mussten, wird auf 14 Millionen geschätzt. Auf Ostmitteleuropa und den Balkan entfallen davon somit mehr als 70 Prozent.44 Wie die Besatzung traf auch die Zwangsmigration diesen Teil Europas besonders schmerzlich. All diese Zahlen sind allerdings nur Annäherungswerte. Die Gründe für das Fehlen exakter Daten liegen auf der Hand. Vollständige Listen mit den Namen der Evakuierten hätte nur die für die Evakuierung verantwortliche Verwaltung erstellen können. Wie wir aber wissen, waren die Verwaltungsbeamten die Ersten, die flohen. Doch selbst, wenn sie bis zuletzt ausgeharrt hätten, hätten sie die Flüchtlingslisten mitnehmen müssen – ansonsten hätten sie dem Feind ein fertiges Verzeichnis der Einwohner überlassen, deren zurückgelassener Besitz als Erstes zu enteignen und die im Fall einer Rückkehr präventiv zu verhaften gewesen wären. Aus Sicht der Verwaltung war die für den Historiker bequemste Form der Dokumentation so oder so sinnlos. Immerhin existieren Daten aus den Orten, in die die Menschen flüchteten oder in denen sie auf der Flucht Station machten. Die ukrainische Historikerin Liubow Zschwanko untersuchte die Listen der Transporte, die durch die größten Umladebahnhöfe in den ukrainischen Gouvernements Russlands gingen. Auf diese Weise erhält man natürlich eine grobe

Flüchtlinge in Russland.

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II Kaleidoskop

Vorstellung vom Ausmaß der Fluchtbewegungen in der Ukraine, ungeachtet der Nationalität der Flüchtlinge. Wer sie waren und woher sie kamen, lässt sich hingegen meist nicht genau ermitteln, die einzige Information ist meist nur der ­Name des Gouvernements, aus dem ein Transport kam. Ein Journalist aus Odessa, der die große Flüchtlingswelle im Sommer und Herbst 1915 beschrieb, identifizierte zwei große Gruppen, die er anhand der Frauentrachten unterschied: Anders als die Bäuerinnen aus dem Gouvernement Cholm trugen die Bäuerinnen aus dem Gouvernement Grodno angeblich mit rotem Stoff unterfütterte Pelze.45 Derartige Kommentare lieferten weder den Lesern konkretes Wissen noch wurden sie dem tragischen Schicksal dieser Bäuerinnen gerecht. Ein anderes Problem von Zschwankos Ansatz besteht darin, dass nur der Teil der Flüchtlinge erfasst wird, der mit der Bahn evakuiert wurde. Selbst vollständige Informationen über die Umladebahnhöfe in Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn (die wir leider nicht besitzen) berücksichtigten nicht jene Flüchtlingsmassen, die nicht oder nur vorübergehend von der offiziellen Buchführung erfasst wurden. Der Forschung bleiben daher fragmentarisch erhaltene Dokumente, die an den Endpunkten der erzwungenen Migrationsbewegungen gesammelt wurden: in den Städten und Lagern, in denen die Flüchtlinge längere Zeit verbrachten, wo sie registriert wurden und Hilfsleistungen erhielten. Ein erschwerender Faktor ist hierbei die Vielzahl unkoordinierter Hilfsaktionen der einzelnen nationalen Komitees, die alle eigene Berichte, Dokumentationen und Listen erstellten. Selbst unter der Annahme, dass diese Daten vollständig sind, erlauben sie nicht unbedingt glaubwürdige Aussagen zur Anzahl der Flüchtlinge. Die amerikanische Historikerin Tara Zahra weist darauf hin, dass in ethnisch gemischten Gebieten schon vor dem Krieg nationale Hilfsorganisationen miteinander konkurrierten. Für diese war es eine Frage der Ehre, dass ihre Hilfe ausschließlich Landsleuten zugutekam. Ihre Schützlinge folgten unterdessen einer ganz anderen Logik. Deshalb beklagten etwa in Prag deutsche Aktivisten, dass von einer Essensaktion für deutsche Arbeiterkinder vor allem tschechische Arbeiterfamilien profitierten, die keine Hemmungen hätten, ihren Nachwuchs zu einem deutschen Mittagessen zu schicken.46 Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass sich die Menschen während des Weltkriegs plötzlich anders verhielten. Vieles deutet sogar darauf hin, dass sie es vermehrt taten. Das kann dazu geführt haben, dass – je nachdem, welche Organisation gerade die üppigeren Mahlzeiten anbot – Flüchtlinge mal zu der einen, mal zu der anderen Nationalität gezählt wurden und somit mehrfach in den Statistiken auftauchen. 230

Soziale Konflikte

Flüchtlinge aus Galizien.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass die Flüchtlingsstatistiken in der Regel eine potenziell sehr große Gruppe von Betroffenen nicht erfassten: Personen, die aus militärischen Gründen umgesiedelt wurden, deren Dörfer von der Artillerie dem Erdboden gleichgemacht wurden oder Ähnliches. Die von den Armeen vorgenommenen Umsiedlungen erreichten mitunter ein gigantisches Ausmaß. Im Vorfeld ihrer Operation bei Gorlice evakuierten Österreicher und Deutsche womöglich sogar 60 000 Bauern aus den frontnahen Gebieten.47 Nach der Schlacht waren die meisten von ihnen obdachlos, gleichwohl stimmte kaum jemand freiwillig der Verbringung ins Kernland der Monarchie zu. Die Menschen blieben lieber in ihrer Gegend, selbst wenn die Umstände wenig einladend waren. Mitunter hausten sie jahrelang in provisorischen Unterkünften. Als polnischer Ministerpräsident besuchte Wincenty Witos kurz nach der Schlacht bei Warschau 1920 einige solcher Geisterdörfer: Auf einer Fläche, die fast so lang wie das Dorf ist, erstreckten sich im Bett ­eines nicht regulierten Flusses wie ans Ufer geklebte Schwalbennester aus Stöcken, Schilf und Lehm zusammengeschusterte Hütten, in denen anderthalbtausend Menschen wohnten, die einst dieses große und reiche Dorf gebildet hatten. Ich sah mir die Buden anstandshalber näher an. An einer hing das Schild des einstigen Gemeindeamts. […] Ein schrecklicher Anblick war es, 231

II Kaleidoskop

als auf einen Trompetenstoß des Ortsvorstehers fast im selben Augenblick eine Schar von verarmten, schwankenden menschlichen Gestalten aus Erd­ löchern gekrochen kam, halb nackt, die sich mir zu Füßen warfen und um Rettung baten. Diese Menschen hatten sich nach Auskunft der lokalen Behör­ den von Fischen ernährt und, als diese ausgingen, von im Schlamm gefangenen, getrockneten und gemahlenen Würmern. Man fügte jeweils ein wenig Hafermehl hinzu, dass man in kleinen Mengen und unter großen Mühen beschafft hatte. […] Die von den hungrigen Pferden Gott weiß welcher Armeen angenagten uralten Eichen und Linden erinnerten an das Grauen, das durch unser Land gezogen war.48 Das Leiden der Menschen nahm im Osten Europas so viele Gestalten an, dass man es wahrscheinlich nie exakt beziffern kann. Wir werden wohl immer auf mehr oder weniger genaue Schätzungen angewiesen bleiben. In Situationen, in denen die Quellenlage keine eindeutige Bewertung eines sozialen Phänomens zulässt, können sich Historiker für gewöhnlich mit einer Analyse der mit diesem Phänomen verbundenen Erfahrung behelfen. Die Intuition legt nahe, dass sich ein solcher Zugang in Bezug auf die Flüchtlingsproblematik als fruchtbar erweisen könnte. Dem ist jedoch nicht so. Katarzyna Sierakowska zeigt anhand ihrer Studien zu den persönlichen Erfahrungen von Flüchtlingen klar die Grenzen der Analyse dieser Quellen auf. Sie ordnet kompe-

Bauern fliehen vor der heranrückenden Front.

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Soziale Konflikte

tent die aufeinanderfolgenden Etappen von Flucht und Evakuation: von der Panik und dem Chaos, das die abziehende Obrigkeit hinterließ, über die Reisen, oft in unbestimmte Richtung und ohne konkretes Ziel, bis hin zu den offiziellen oder auch provisorischen Aufenthaltsorten und den Hilfsaktionen. Doch obwohl in den von ihr zitierten Quellen die Flüchtlinge einen zentralen Platz einnehmen, bleiben sie meistens stumm. Nur sehr selten brachten sie ihre Eindrücke zu Papier und, wenn sie es taten, dann meist erst nach vielen Jahren. Eines der erschütterndsten Dokumente, die Sierakowska anführt, sind die Aufzeichnungen der zum Zeitpunkt der Flucht 14-jährigen Zofia Nowosielska. Unterwegs mussten ihre Mutter und sie ihre 3-jährige Schwester und einen Bruder, der schon auf der Wanderung geboren worden war, begraben: Meinen kleinen Bruder, dem ein Atemzug genügt hatte, um sich am Brodem des Elends zu vergiften, trug ich tief in den Wald. Ich wickelte ihn in meinen Krakauer Kittel, grub ein Loch, riss sehr viel Laub ab und füllte es auf. Ich tat das wie ein Automat, am nächsten Tag fand ich das Grab nicht mehr.49 Doch auch zwischen dieser Aufzeichnung und den geschilderten Ereignissen liegt mehr als ein Jahrzehnt, in dem Nowosielska in der Armee diente. In den während des Kriegs oder unmittelbar danach entstandenen Berichten über die Flüchtlinge dominiert in der Regel eine distanzierte Haltung der Autoren zu den beschriebenen Fakten. Am wenigsten über die Flucht hatten offenbar die Flüchtlinge selbst zu sagen. Eine der wichtigsten Ursachen für das Fehlen persönlicher Aufzeichnungen war das soziale Profil der Migranten. Den größten Teil stellten Bauern und Juden aus den osteuropäischen Schtetl; in beiden Gruppen dominierten zahlenmäßig Frauen und Kinder, unter denen die Alphabetisierungsrate besonders niedrig war. Darüber hinaus verhinderten die schwierigen Lebensumstände, dass sich eine Tagebuchkultur entwickeln konnte. Eine Ausnahme bildeten die Vertreter der Intelligenz. Ihre Erfahrungen unterschieden sich vom Durchschnitt der Vertriebenen freilich ebenso wie ihre soziale Herkunft, weshalb ihre Berichte schwerlich als repräsentativ gelten können. Ein typisches Beispiel sind die Erinnerungen Maria Walewskas, die im Frühjahr 1918 mit einer Gruppe von Intellektuellen aus Radom illegal einen Eisenbahnwaggon der dritten Klasse mietete und ukrainische Eisenbahner bestach, damit diese den Waggon an einen Güterzug von Kiew nach Lublin hängten. Walewska schreibt erklärend: Zwar hatten die Deutschen die Bahnhöfe schon besser organisiert und den Bahnverkehr geregelt, die Züge fuhren mehr oder weniger zur festgesetzten 233

II Kaleidoskop

Flüchtlingsmahlzeit, Rumänien.

Zeit und in eine bestimmte Richtung. Doch eine Aussicht auf einen Platz in den Waggons hatten nur kräftige Männer oder Weiber mit breitem Kreuz und scharfer Zunge.50 Aus Sicht des Historikers, der die typische Erfahrung der heimkehrenden Flüchtlinge rekonstruieren möchte, wäre die Schilderung eines dieser starken Männer oder scharfzüngigen Weiber weitaus interessanter. Leider gibt es davon nur ­wenige. Die typische Form der Berichte über die Kriegsmigration ist stark durch den Umstand geprägt, dass ihre Verfasser fast durchgehend der Intelligenz entstammten. Abgesehen davon, dass sie die Erfahrungen der Flüchtlinge von außen betrachteten, interessierten sie sich vor allem für ungewöhnliche, überraschende und schockierende Ereignisse. Der Alltag der Flüchtlinge schien ihnen kaum der Rede wert. So betont auch Maria Walewska in der Schilderung ihrer Rückkehr aus Kiew, dass es sich um ein absolut ungewöhnliches und deshalb erwähnenswertes Ereignis handele. In den Schilderungen der externen Beobachter, die sozial in der Regel bessergestellt waren als die Menschen, über die sie schrieben, erscheinen die Flüchtlinge gleichsam in Momentaufnahmen. Der erste Moment ist der Ausbruch von 234

Soziale Konflikte

Panik, die niemand zu beruhigen vermag. Er zeigt typischerweise schreiende Frauen (wie etwa im zitierten Bericht des russischen Journalisten aus dem Gouvernement Cholm), weinende Kinder, sinnloses Umherrennen, Chaos. Die Flüchtlinge zeigen primitive, irrationale Angst. Sie lassen sich von Emotionen leiten – ganz anders als die typischen Berichterstatter. Die Schilderungen lassen oft Verwunderung und ein kaum oder gar nicht kaschiertes Überlegenheitsgefühl des Beobachters erkennen. Schon der Entschluss zur Flucht wird infrage gestellt und es wird mit großer Distanz berichtet. So auch die Überzeugung der Lemken, die 1915 der abziehenden russischen Armee folgten: „Wenn die Russen verlieren, werden wir verhungern oder [die Österreicher] hängen uns alle auf.“51 Etwa früher, während der russischen Offensive, verliefen die Flüchtlingsströme in die entgegengesetzte Richtung, ausgelöst von derselben, nicht ganz rationalen Furcht: […] Tausende Fuhrwerke zogen täglich nach Westen – darunter sehr viele Priester. Was eigentlich vor sich ging, wusste niemand, weil es keine Zeitungen gab. Die Leute erzählten Schreckliches über die Gräueltaten der Moskalen: Bischof Chomyszyn sei geflohen, der Metropolit verschleppt [die Informatoin über die Deportation des Metropoliten Andrzej Szeptycki/Andrej Scheptyckyj erwies sich als zutreffend] und viele Priester (Ukrainer) seien erschossen oder

Rumänische ­Flüchtlinge, 1916.

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II Kaleidoskop

gehängt worden, man habe ihnen die Zungen abgeschnitten, ihre Frauen gekreuzigt und ihre Töchter vergewaltigt etc. Das alles strapazierte die Psyche, die Nerven, und da unsere Priester fast alle verheiratet sind, kam es in den Familien zu entsetzlichen Szenen. Sie gingen in der Hoffnung, nach ein oder zwei Wochen zurückkehren zu können, doch es kam anders.52 Der zweite zentrale Moment war das Leiden der heimatlosen, von Militär- und Zivilbehörden vernachlässigten Flüchtlinge, die – wie etwa von Wincenty Witos mit großem Mitgefühl geschildert – immer mit demselben Kommentar versehen wurden: Heute ziehen und ziehen nicht mehr die Armee, sondern Privatleute vorbei, von der Weichsel fliehen sie vor der Schlacht – Bauern, Weiber, Kinder, Kühe und Hühner, hier und das quiekt ein Ferkel – welch trauriger und entsetzlicher Anblick.53 Am meisten ließen sich die Beobachter offenbar von der Tragik und dem epischen Ausmaß der Flucht beeindrucken. Das Motiv umherirrender Kinder und verzweifelter Mütter ist für die Schilderungen ebenso typisch wie der Vergleich der Vertreibungen mit einer Naturkatastrophe. Stanisław Dzierzbicki bediente sich in seiner Beschreibung der Situation östlich der Weichsel in diesem Re­ gister: […] sie zogen dahin, sie zerstörten, brannten nieder, plünderten aus schierer Notwendigkeit – aus Hunger. Diese Welle, die ihren Weg mit den Leichen der unterwegs Gestorbenen markierte, verursachte größere Schäden als der Durchmarsch der größten Armee. Kein Wunder also, dass die Einheimischen ihr feindselig, zuweilen sogar mit der Waffe in der Hand entgegentraten.54 In Hinsicht auf die Metaphorik ist Dzierzbicki modellhaft für die Beschreibung der Evakuierung. Wie Peter Gatrell anmerkt, gehörte der Vergleich der Flüchtlingsmassen mit entfesselten Naturelementen zum festen Repertoire des Vertreibungsdiskurses: Oft wurden Vergleiche mit dem biblischen Exodus angestellt. Manche Beob­ achter glaubten, der „endlose Ozean“ der Flüchtlinge würde sich niemals lenken lassen. Meist aber erinnerte der Sprachgebrauch der Beobachter an die Schilderung von Naturkatastrophen, sie sprachen von gebrochenen Dämmen – von Flut, Überschwemmung oder Strom, Welle, Lawine, Lava – und von fruchtbarem, von Heuschrecken verwüstetem Land. Diese Meta­phern waren 236

Soziale Konflikte

umso stärker vor dem Hintergrund der tatsächlichen N ­ atur­katastrophen, die regelmäßig das Leben und die Wirtschaft in Russland lähmten.55 Auch die meisten Berichte über Bahnreisen stammen nicht von durchschnittlichen Flüchtlingen, sondern von Offizieren, Ärzten, Krankenschwestern oder für die Evakuierungen zuständigen Beamten. Daraus resultiert zumal in dramatischen Schilderungen eine besondere Perspektive. Charakteristisch ist ­etwa Julia Świtalska-Fularskas Bericht über die Evakuierung von Lemberg – sie schreibt als Beteiligte der Ereignisse, erzählt aber von Erlebnissen anderer ­Personen: Schon die damalige Fahrt war ein Albtraum, der mich bis heute nachts in „schlimmen Träumen“ verfolgt. Ich sehe dann, ganz real, stürmisch, entsetzlich überfüllte Züge – die Reihen der Hände, die sich an den Trittstufen klammern –, sich auf den Dächern drängende oder an den Fenstern hängende Menschen, ich höre die gellenden Schreie der Mütter und verloren gegangenen Kinder, die vergeblich nach einander rufen oder sich suchen. Hier und da schleppen sich, geführt von Kindern und Enkeln, Greise vorbei.56 Zum Zeitpunkt der geschilderten Ereignisse war Świtalska-Fularska eine junge, kinderlose Krankenschwester und damit eine prototypische Autorin dieses spezifischen Genres. Zugleich war ihre Perspektive alles andere als die eines Durchschnittsflüchtlings. Ein weiterer gut dokumentierter Moment ist die Situation der Flüchtlinge an den Orten, an denen sie längere Zeit verbrachten. Die Vielzahl der Quellen zu diesem Aspekt der Zwangsmigration resultiert aus seiner politischen Relevanz. Nachdem im Frühjahr 1917 der Wiener Staatsrat seine Tätigkeit wiederaufnahm, waren die katastrophalen Zustände in den Flüchtlingslagern eines der häufigsten Debattenthemen im Parlament. Polnische, jüdische und ukrainische Abgeordnete reichten in dieser Sache zahlreiche Proteste ein, in denen sie Äußerungen der Betroffenen zitierten. Für besondere Empörung sorgte die raue, mitunter kriminelle Behandlung der Frauen durch die Lagerwachen. Es gab Übergriffe und Vergewaltigungen, doch auch sinnvolle Hygienemaßnahmen wurden oft bewusst schikanös durchgeführt, so etwa eine Entlausung im tschechischen Choceň: Die Frauen und Mädchen waren verzweifelt – ganz abgesehen davon, dass das Abschneiden der Haare bei Frauen und Mädchen in der Dorfbevölkerung als Zeichen der Schande galt und die weibliche Eitelkeit unter dem Verlust des Haupthaars litt, wurde auch ihr Schamgefühl zutiefst verletzt, weil sie von 237

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Männern untersucht wurden und die jungen Leute, die ihnen die Haare abschnitten, sich manche Scherze erlaubten. Es spielten sich unbeschreibliche Szenen ab. Frauen und Kinder fielen in Ohnmacht, andere erlitten vor Aufregung Schwächeanfälle oder Nervenzusammenbrüche.57 Auch hinsichtlich der Lager interessierten sich die Beobachter vor allem für Abweichungen von der Norm, für Gesetzesverstöße und Regelverletzungen. Den Parlamentariern ging es naturgemäß nicht darum, die Flüchtlingspolitik des Staates zu loben, sondern deren Mängel anzuprangern. In den Schilderungen der Zustände in den Lagern dominierten daher Klagen über Schmutz, Hunger, Krankheiten, die hohe Kindersterblichkeit, die Feindseligkeit der Umgebung und die Gewalt (auch sexuelle) gegen die Internierten. Ein ganz anderes Bild ergibt sich aus den Berichten von Organisationen, die soziale Fürsorge leisteten oder etwa Schulen für geflüchtete polnische, ukrainische und jüdische Kinder unterhielten. Ganz gleich, ob sie das Imperium der Habsburger oder das der Romanows be­trafen, artikulierte sich in ihnen Zufriedenheit über die eigene Arbeit und die ­eigenen Leistungen. Alle angesprochenen Barrieren, die einen Einblick in die wirkliche Erfahrung der Zwangsmigration verhindern, resultieren vor allem aus der emotionalen ­Distanz zwischen den Flüchtlingen und den Verfassern der sie betreffenden ­Notizen. Anders als bei den Berichten über den Dienst an der Front steht in diesem Fall eine vermittelnde Instanz zwischen den Historikern und dem Gegenstand ihres Interesses – der Beobachter. Dadurch ist uns die Vertreibungserfahrung nicht unmittelbar, sondern nur von außen zugänglich. Die Aufzeichnung persönlicher Erlebnisse erfordert Zeit, Ruhe und eine gewisse Bildung – all das, was die Flüchtlinge keineswegs im Übermaß hatten. Wenn wir vor diesem Hintergrund die späteren mehr oder weniger erzwungenen Migrationen in Europa betrachten, so erscheint die Abwesenheit der Flüchtlinge in den ihnen gewidmeten Debatten eher als Norm denn als Ausnahme. Ähnliches gilt für die Gruppe der Kriegsgefangenen. Alon Rachamimov schätzt den Anteil von Offizieren unter den deutschen und österreichisch-ungarischen Soldaten, die in russische Gefangenschaft gerieten, auf 1,5 Prozent. Gleichwohl wurde die überwältigende Mehrheit der Erfahrungsberichte über die Zeit in Russland von Offizieren verfasst. Die Erinnerungen der einfachen Kriegsgefangenen gerieten ebenso in Vergessenheit wie sie selbst.58 Dennoch sind die verfügbaren Quellen für die Forschung zum Ersten Weltkrieg überaus wertvoll. Man muss sich lediglich im Klaren darüber sein, dass sie 238

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weniger über die Migrationserfahrung selbst als über das breite Spektrum der gesellschaftlichen Reaktionen auf die Flüchtlinge aussagen. In dieser Sichtweise sind die zitierten Schilderungen keineswegs nur minderwertige (weil aus zweiter Hand stammende) Quellen, sondern wertvolle Dokumente, die ein klares Bild der Vorstellungen und Emotionen vermitteln, die die Flüchtlinge in den Gesellschaften Ostmitteleuropas und des Balkans weckten. In einer solchen Lesart lassen sich einige wiederkehrende Motive entdecken. Oft wurden die Flüchtlinge als Verkörperung eines klar definierten Nationalcharakters betrachtet. Der litauische Gutsbesitzer Eugeniusz Romer, der beobachtete, wie die Russen die Bevölkerung Ostpreußens nach Osten deportierten, fühlte zwar mit den Betroffenen, betonte aber auch ihre typisch preußische Undankbarkeit. Statt sich für das Essen zu bedanken, dass ihnen die Einheimischen mitgaben, hätten die Deportierten gedroht, wenn der deutsche Kaiser mit voller Kraft gegen Russland zuschlage, werde es den Bewohnern der litauischen Gouvernements noch schlimmer ergehen. Die Deutschen würden sie zu Fuß in die Verbannung schicken. Der Hochmut und die Arroganz, die Romer diesen Preußen (die, wie er selbst anmerkte, ethnische Litauer waren) zuschrieb, entsprachen einem verbreiteten Stereotyp. Die Wahrnehmung der Kriegsflüchtlinge wurde überall von fest verwurzelten nationalen Stereotypen beeinflusst. Die tschechischen und polnischen Eliten wirkten bekanntlich insgeheim an der sukzessiven Demontage der Habsburgermonarchie mit. Unterdessen gab es im täglichen Kontakt zwischen der tschechischen Bevölkerung und den Flüchtlingen aus Galizien von Beginn an Spannungen, die sich zusehends verschärften. Von den 390 000 Flüchtlingen, die 1915 in Cisleithanien registriert waren und Hilfen von Staat und Selbstverwaltung erhielten, fanden fast 97 000 in Böhmen und mehr als 57 000 in Mähren Zuflucht. Die galizische Presse beklagte, dass manche tschechischen Journalistenkollegen die in breiten Kreisen der weniger gebildeten Bevölkerung verbreitete offene, aber ungerechtfertigte Abneigung gegen die Polen [alle Hervorhebungen im Origi­nal] schüren und so die vielen galizischen Flüchtlinge in Tschechien im Kon­takt mit der einheimischen Bevölkerung noch größeren Unannehmlich­keiten aussetzen, als sie ohnehin schon erfahren. […] Die Tatsache eines nicht zu überse­ henden Hasses, der zwar vor der kriegsbedingten Flucht den Menschen in unserem Land nicht bekannt war, den sie nun aber– oftmals völlig unverschuldet durch die armen galizischen Flüchtlinge – am eigenen Leibe erfahren, muss beim Namen genannt werden. […] Wir nehmen mit berechtigtem Bedauern zur Kenntnis, dass in den letzten drei Jahren die tschechische Presse, die doch 239

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sah, wie die galizischen Alten, Frauen und Kinder, die vor den Gräueln des Krieges nach Tschechien flohen, in tschechischen Städten und Dörfern auf Schritt und Tritt die brutalsten Beleidigungen durch die tschechischen Massen erlebten, mit keinem Wort versuchte, die wütende, wiewohl unbegründete Ab­ leh­nung zu besänftigen und die Massen zur Besinnung zu rufen.59 Der Journalist übertrieb sicher kaum, wenn er davon sprach, man gieße „Öl in ein ohnehin bereits loderndes Feuer“. Die Perspektive der anderen Seite war freilich eine ganz andere und das Bild der aus Galizien in die tschechischen Gebiete evakuierten Menschen wandelte sich – aufgrund der unterschiedlichen kulturellen und sozialen Umstände. So verweisen Milena Lenderová, Martina Halířová und Tomáš Jiránek darauf, dass den polnischen Intelligenzlern oft Hochnäsigkeit und überlegene Distanz gegenüber der Gesellschaft des provinziellen Böhmen und Mähren vorgeworfen wurde. Die Vertreter der niederen galizischen Schichten wiederum wurden meist mit Schmutz und Diebstahl identifiziert.60 Unter besonderer Beobachtung standen die Juden, die in gesonderten Lagern oder Orten untergebracht wurden. In der Gemeindechronik von Nedvězí u Říčan, einem Dorf in der Nähe von Prag, steht über ihren Aufenthalt in der Umgebung: Ende 1915 kam ein Transport polnischer Juden in unserem Dorf an, wohl an die 24, die nur noch Überreste schmutziger Lumpen am Leib hatten. Ihr ganzes Vermögen waren kleine Holztröge, in denen sie die Kinder trugen. Sie fegten unser Dorf blank. Sie waren wählerisch. Sie verlangten gleich eine größere Wohnung, weil sie angeblich daran gewöhnt seien, sie wollten gutes Mehl für ihre Matzen, frische Eier und so weiter. Die Gemeinde brachte sie im Gemeindehaus unter, weil niemand sie bei sich aufnehmen wollte. Sie fühlten sich rasch wie zu Hause, die alten Juden zogen durch die Gegend und machten Geschäfte, es ging ihnen gut. Die Einheimischen, die sparten, wo es nur ging, konnten nichts kaufen, doch die Juden hatten von allem mehr als genug! Sie kauften, zahlten überhöhte Preise, kauften Fässer an, die sich langsam füllten, doch niemand wusste, was sie darin aufbewahrten. Sie waren mit leeren Händen ins Dorf gekommen und verließen es mit vier Fuhrwerken. Aus unerfindlichen Gründen gab es bei ihnen keine Revisionen. Sie hatten Kaffee, Seife, Kakao, Schokolade, Kerzen, diverse Stoffe und andere wertvolle Waren. […] Waschen oder den Fußboden scheuern konnten sie angeblich nicht. […] Wir konnten uns nicht an sie gewöhnen und vonseiten der hiesigen Jugend widerfuhr ihnen auch nichts Gutes.61 240

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Die stereotype Wahrnehmung der jüdischen Flüchtlinge war das Resultat des Antisemitismus und des wachsenden Elends im Hinterland, doch bisweilen spielten auch neueste Erkenntnisse der Wissenschaften vom Menschen eine Rolle. Die in einem Lager festgehaltenen und einem strengen Regiment unterworfenen ukrainischen Flüchtlinge aus Wolhynien wurden (wie zuvor schon die russischen Kriegsgefangenen) zum Forschungsobjekt österreichisch-ungarischer Anthropologen. Hella Pöch (eine Studentin, Assistentin und schließlich Ehefrau des uns bereits bekannten Wiener Professors und Experten für die Vermessung der Schädel von Kriegsgefangenen, Rudolf Pöch) konzentrierte sich in einer Arbeit vor allem auf die „asiatischen“ Merkmale des Aussehens der Wol­hynier: Wiewohl unsere Kenntnis mongolischer Merkmale noch sehr zu wünschen übrig läßt, so würde ich angesichts der im folgenden geschilderten Merkmale […] ihre Zugehörigkeit zu den Mongoliden ableiten; es sind da zu nennen: die schwere fettgefüllte Deckfalte, die konkave kurze Nase mit stumpfer Spitz­ gegend, nach vor oben gerichtetem Septum, tiefansetzenden Flügeln; das breite Ohr mit dem angewachsenen oder bis in die Wangenhaut gezogenen Läppchen; die lange gerade Oberlippe; die große Breite zwischen den inneren Augenwinkeln, die halbseitig ausladende Wangengegend mit dem charakteristischen Fettpolstern, das zurückweichende Untergesicht mit dem schwach entwickelten Kinn. Der Wuchs ist nur mittel, der Körper ist gedrungen, Arme und Beine sind kurz. […] Die Frauen neigen zu einem übermäßigen Fettpolster. Die Behaarung am Körper ist spärlich, das Kopfhaar steht schütter und schlicht.62 Die Identifizierung der Ukrainer als Asiaten (für die Kriegspropaganda der Mittelmächte war auch Russland ein Teil Asiens) weckte weitere, wenig vorteilhafte Assoziationen. Die gefährlichste war der Generalverdacht der Moskalophilie. Zumal in Krisensituationen, etwa im von den Russen belagerten Przemyśl, bedeuteten solche Stereotype eine echte Gefahr für Besitz und Leben. Derartige Theorien und Phantasmen waren oft die einzige Grundlage für den österreichisch-­ ungarischen Spionagewahn. Mehr bedurfte es freilich auch nicht. In der Regel wurden den einzelnen Migrantengruppen zunächst reflexartig die – meist negativen – Eigenschaften zugeschrieben, die man mit dem ­jeweiligen Volk verband. Mit der Zeit betrachtete man sie allerdings zunehmend als Bedrohung, die sich nationalen Kategorisierungen entzog. Dann sprach man einfach von Flüchtlingen, die stahlen, Krankheiten und Schmutz verbreiteten. Sie waren anders, also schlechter. 241

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Die Stigmatisierung der „anderen“ hatte verschiedene Dimensionen. Zu Beginn des Kriegs waren meist tollwütige Hunde die Hauptschuldigen an allem Übel – die Presse ist voll von Berichten über Menschen, die von infizierten Tieren angefallen wurden. Als Nächstes galten lokale Flüchtlinge, also gleichsam Mitbürger, die aber einer anderen Nationalität angehörten, als Überträger von Krankheiten. „Huzulen umgesiedelt“, lautete im Frühjahr 1915 die triumphale Schlagzeile einer Lemberger Zeitung, die berichtete, dass nach langen Bemühungen die Flüchtlinge aus der galizischen Peripherie aus der Innenstadt in Baracken am Stadtrand verlegt worden waren – freilich nicht ohne zu warnen: „Doch auch am neuen Wohnort bleiben sie Überträger ansteckender Krankheiten.“63 Nach der Rückeroberung Lembergs durch die k. u. k. Armee untersuchte eine Regierungskommission zur Epidemiebekämpfung die Hygienebedingungen vor Ort. Sie empfahl Pflichtimpfungen und die Gründung einer epidemiologischen Klinik. Fremden wurde der Zutritt untersagt: Sobald die Klinik eröffnet wird, werden die Grenzen geschlossen, sodass die Stadt nicht Gefahr läuft, Kranke aus dieser Gegend aufzunehmen.64 Auch an anderen Orten wurden identische Maßnahmen zum Schutz vor krankheitsübertragenden „anderen“ ergriffen, doch sobald Landsleute betroffen waren, änderte sich die Bewertung diametral. So wetterte im Oktober 1916 der Staatsratsdelegierte Stanisław Głąbiński „gegen die Baracken“: Das Barackensystem basiert auf zwangsweiser Konzentration und Zusam­ men­leben sowie auf zwangsweiser Untätigkeit von unterschiedlichen Men­ schen und Temperamenten, Männern, Frauen und Kindern, unbescholtenen Bürgern und sozialem Abschaum. Es ist nicht angemessen für freie Bürger, die Schutz vor der feindlichen Invasion suchen und dabei ihre Freiheit und Bürgerrechte behalten wollen.65 Eine andere Form der Erpressung gegenüber feindlichen Gemeinschaften, die „andere“ in gleichsam pränazistische Konzentrationslager sperrten, waren finan­ zielle Argumente. „Wie viel verdient Wien an den Flüchtlingen?“, fragte ein Experte und schätzte die entsprechende Summe auf 100 Millionen Kronen.66 Gegenseitige Vorwürfe mangelnder Solidarität und der Ausnutzung des Elends der „anderen“ bildeten lange vor dem Ausbruch der russischen Revolutionen den Kern der ethnischen und sozialen Beziehungen. In der Habsburgermonarchie bezichtigte man die Flüchtlinge besonders ­häufig der Verstöße gegen die Vorschriften zur Lebensmittelverteilung. Dabei spielte die 242

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konkrete Nationalität der Betroffenen meist keine Rolle. Es genügte, dass sie fremd waren wie etwa die Bande von Flüchtlingen aus Gorizia, alle mit italie­nischen ­Namen, die im Januar 1917 in Wien der Brotspekulation überführt ­wurden.67 In den polnischen Gebieten machte man allgemein die heimkehrenden Vertriebenen aus den zentralrussischen Gouvernements für die Teuerung verantwortlich. Wegen des Preisgefälles (bis in die frühen 1920er Jahre stiegen die Lebensmittelpreise, je weiter man nach Osten kam, dasselbe galt für die Löhne der Staatsbediensteten) konnten diese Flüchtlinge tatsächlich mehr zahlen als die Einheimischen.68 Jede Information und jedes Gerücht hierzu nährte den Vorbehalt, den schon der Chronist aus Nedvězí u Říčan artikulierte: Die Flüchtlinge seien Schmarotzer, die der Staat unentgeltlich durchfüttere, während die normale Bevölkerung hungere. Mit dieser Überzeugung wurden die meisten Zwangsmigranten konfrontiert. Das wird selbst in literarischen Bearbeitungen der Problematik deutlich, etwa in einer Erzählung in einem Almanach für nach Wien evakuierte ukrainische Bauern: Ihr fragt, Herr, wie wir in der Fremde leben. Bitter ist unser Leben, wenn auch vielen scheint, es ginge uns hier gut. Die Leute sagen: Sie zahlen euch Beihilfe! Niemand will hören, dass wir „dieses Brot“ nicht freiwillig wählten. Und was für eine Beihilfe haben wir überhaupt erhalten?! Die Leiden, die wir ertragen mussten, gehen auf keine Kuhhaut. Bei uns Bergbauern leben selbst die Hunde besser als wir hier seit schon mehr als zwei Jahren.69 Gemeinsam ist den stereotypen Beschreibungen der Flüchtlinge die irrationale Überzeugung, die anderen, Fremden, seien eine Gefahr für die Einheimischen. Die zwangsausgesiedelten litauischen Preußen drohten zwar mit noch grausamerer Rache für das ihnen zugefügte Unrecht, doch selbst feindlich gesinnte Beobachter konnten diese Drohungen für bare Münze nehmen. Es waren nicht die deportierten Ostpreußen, die über das Schicksal der russischen Untertanen entscheiden sollten. Der Schmutz, mit dem man die Flüchtlinge aus Galizien assoziierte, weckte die Furcht vor unbekannten, bedrohlichen Krankheiten, die sie möglicherweise einschleppten. Tatsächlich notierten die lokalen Behörden in Mähren, dass die Einheimischen von einer gefährlichen, freilich nicht näher identifizierten „polnischen Seuche“ sprachen70 Vor allem verdächtigte man die Evakuierten, insbesondere die Juden, dass sie Typhus verbreiteten. Die moralische Panik, die 1917 in Tschechien und in den österreichischen Provinzen grassierte, hatte in der Tat eine reale Grundlage: Die Flüchtlinge waren oft krank, zumal, wenn in den Lagern, in die man sie steckte, unmenschliche Bedingungen 243

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und große Enge herrschten. All diese Krankheiten traten allerdings auch unter den Einheimischen auf, selbst wenn sie keinen Kontakt zu Migranten hatten. Man sollte das wirkliche Ausmaß der Bedrohung bedenken, das durch eine typische Verkettung von Zufällen sehr schön veranschaulicht wird. In der Zeit, in der die Furcht vor durch Flüchtlinge verbreiteten Krankheiten anstieg, brachen in Nordtschechien tatsächlich die Pocken aus, die man längt für besiegt hielt. In den Flüchtlingslagern (unter anderem in Choceň) wurden einige Dutzend Fälle registriert, elf Menschen starben. Zur gleichen Zeit waren aber Gegenden, in denen es keine Flüchtlinge gab, in weit größerem Ausmaß von der Epidemie betroffen. Die Opfer waren vor allem deutschsprachige Bewohner Nordtboehmens, die sich aus unterschiedlichen Gründen – religiösen, aber auch Zweifeln an der Wirksamkeit und Angst vor Nebenwirkungen – nicht hatten impfen lassen. Es gab mehrere Tausend Kranke und rund 100 Tote, hartnäckige Impfgegner wurden von der Armee in die Krankenhäuser gebracht. Trotz des Ausmaßes der Pockenepidemie in Nordtschechien – der größten auf tschechischem Boden während des Kriegs – und trotz der erschreckenden Dummheit der Bewohner dieser Region kam es weder in der Presse noch in der Öffentlichkeit zu einer vergleichbaren Hasskampagne gegen sie wie gegen die Flüchtlinge. Die Flüchtlinge galten als Gefahr nicht nur für die körperliche Gesundheit, sondern auch für die öffentliche Moral. Oft war von einer Invasion von Prostituierten die Rede, die zusätzlich zum ohnehin bereits besorgniserregenden Verfall der Sitten insbesondere unter einheimischen jungen Männern beitrügen. Die Umstände in den meisten Flüchtlingszentren begünstigten derlei Gedanken. Viele Frauen waren allein geflohen, ihre Männer dienten oft an der Front, Hungerprostitution war keine Seltenheit. Im Lager Německý Brod (Deutschbrod, heute Havlíčkův Brod) brachten evakuierte Galizierinnen zwischen August 1916 und August 1917 40 Kinder zur Welt. Fast die Hälfte stammte aus außerehelichen Beziehungen.71 Natürlich stieg auch unter den Einheimischen die Anzahl unehelicher Kinder. Doch das milderte nicht die Bewertung hinsichtlich der Flüchtlinge. Weil nicht zu Unrecht die Prostitution als Hauptursache für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten galt, verschmolzen moralische und epidemiologische Gefahr zu einer einzigen Bedrohung.

Die Spanische Grippe Eine der schlimmsten globalen Epidemien, die mindestens 30 Millionen Menschen tötete, blieb zunächst von Öffentlichkeit und Regierungen unbemerkt, um anschließend für lange Jahre in Vergessenheit zu geraten. In der Folge 244

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sind viele grundlegende Informationen über ihre Herkunft und ihren Verlauf besser oder schlechter belegte Spekulationen. Das mutierte Grippevirus trat erstmals wahrscheinlich im Frühjahr 1918 im Mittleren Westen der USA auf, von wo es über Armeetransporte und die Handelsmarine bis zum Juli nach Westeuropa, Asien, Australien und Nordafrika gelangte. In dieser Zeit wurden auch in Deutschland die ersten Fälle verzeichnet. Die zweite, wesentlich aggressivere Form des Virus verbreitete sich vermutlich im Herbst 1918 von Frankreich aus über den Rest der Welt. Diesmal wurde auch Mittelosteuropa voll von der Epidemie getroffen. In den folgenden Monaten litt die Region vergleichsweise am meisten, ähnlich heimgesucht wurden nur die südpazifischen Inseln.72 Die Grippe ist eine Tröpfcheninfektion; unter „normalen“ Umständen wird sie durch schlechtes Wetter begünstigt, wenn die Menschen sich überwiegend in Gebäuden aufhalten, um Regen und Kälte zu entgehen. Während des Kriegs gab es darüber hinaus zahlreiche Möglichkeiten, Menschen unter Verschluss zu halten: Kasernen, Kriegsgefangenen- und Internierungslager, Krankenhäuser, Truppentransporte – all dies trug zur raschen Verbreitung der Krankheit bei. Am anfälligsten waren junge Menschen, vor allem Männer im wehrfähigen Alter. Łukasz Mieszkowski erklärt dies so: Bei einer leichten Grippe zerstört das Immunsystem des angegriffenen Organismus – die weißen Blutkörperchen, die Leukozyten, durch die von ihnen produzierte Zytokine – die krankheitserregenden Mikroorganismen, bevor sie lebenswichtige Organe wie Lunge oder Gehirn befallen können. Die Zytokine wirken toxisch, sie verursachen unangenehme Symptome: Fieber, Kopf- oder Halsschmerzen. Im Fall der Spanischen Grippe waren die Viren in der Lage, innerhalb weniger Stunden über die Atemwege in die Lunge einzudringen. Beim Versuch, die Eindringlinge zu vernichten, zerstörten die Zytokine die Lungenbläschen, genauer gesagt: die sie umgebende Schleimhaut. Je kräftiger der Organismus, umso heftiger die Abwehrreaktion, die in einigen Fällen dazu führte, dass die Lunge wortwörtlich mit Blut volllief. Die Stärke des Immunsystems, die junge Leute normalerweise weniger krankheitsanfällig als den Rest der Bevölkerung macht, erwies sich während der Epidemie von 1918 als tödliche Falle.73 Der Krieg erschwerte die schnelle Entdeckung der Epidemie und überlagerte anschließend die Erinnerung an sie. Die Symptome waren untypisch, zudem wurden sie oft bagatellisiert. In der Armee konnte man sich leicht infizieren, 245

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die Sorge der Mediziner galt Verwundungen und ansteckenden Krankheiten, die die „Wehrfähigkeit“ beeinträchtigten. Der Spanischen Grippe wurde nicht einmal ein Bruchteil der Aufmerksamkeit zuteil, mit der man in der Armee etwa Geschlechtskrankheiten bekämpfte, von der Furcht vor Typhus ganz zu schweigen. Die Gleichgültigkeit der Zeitgenossen angesichts der Epidemie ist bis heute verblüffend. Nach ihrem Abflauen versuchte The Times sich an einer Erklärung: Die Katastrophe war so schrecklich und allgegenwärtig, dass unser Verstand, absorbiert von den Gräueln des Krieges, sie nicht zur Kenntnis nehmen wollte. Sie ging, wie sie kam, wie ein Hurrikan, der die grünen Flure des Lebens abmähte, unsere jungen Leute zu Tausenden dahinraffte und sie Krankheit und Verstümmelung auslieferte, wovon sich diese Generation nicht mehr erholen wird.74 Auch Ostmitteleuropa passt in dieses Schema. Im Herbst 1918 schlug die Spanische Grippe überall zu. Auf dem Höhepunkt der Epidemie stieg die Sterberate in furchterregende Dimensionen, in Budapest lag sie in manchen Wochen über 30 Prozent. Mancherorts kam das Leben komplett zum Erliegen: In einigen Dörfern in den Vorkarpaten und in Slowenien waren fast alle Einwohner erkrankt, die Lebenden lagen neben den Toten, die niemand zu begraben imstande war. In Großpolen lähmte die Grippe den Bahntransport und die Post. Die Krankenhäuser in den großen Städten – Prag, Warschau und Budapest – platzten aus allen Nähten. Der Kampf gegen die Krankheit wurde durch mangelndes Wissen erschwert. Lange dachte man, die Grippe würde bakteriell übertragen. Scharfsinnige Beobachter kamen im Herbst 1918 aber zu dem Schluss, dass die Bakterien in den Ausscheidungen Kranker nicht die Ursache der Infektion sein konnten. Der Bakteriologe Stanisław Serkowski vermutete in einem Gespräch mit dem Kurier Warszawski, dass womöglich bisher unentdeckte Viren für die Krankheit verantwortlich seien.75 Seine Kollegen wandten unterschiedliche, meist erfolglose Therapien an. In ganz Europa griff man im Kampf gegen die Epidemie sogar zu archaischen Methoden wie dem Aderlass, der unter anderem im Militärkrankenhaus in Warschau-Mokotów praktiziert wurde.76 Unter Nichtmedizinern verbreiteten sich Verschwörungstheorien und magische Praktiken zur Abwehr des Bösen. In dieser Hinsicht unterschied sich Ostmitteleuropa nicht von entlegenen und exotischen Ländern. Muslime in Nigeria versuchten sich durch das Trinken von Wasser, in das Koransuren getunkt wurden, vor der 246

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Ansteckung zu schützen. In anderen Teilen Schwarzafrikas glaubte man, die Krankheit würde von Hexen oder Zwillingsmüttern heraufbeschworen, die Verantwortung für alles trügen aber die Moslems oder die Europäer (Letzteres war eine durchaus rationale Hypothese)77. Zur selben Zeit ordnete Erzbischof Bilczewski in Lemberg zwei Bittprozessionen an und die jüdische Gemeinde in Krakau stiftete einem armen Brautpaar eine Hochzeitsfeier auf dem Friedhof, um Unglück von den gläubigen Juden abzuwenden.78 Als wirksamstes Mittel gegen die Epidemie erwies sich die Prävention. Die Erfahrungen des British Empire deuteten darauf hin, dass eine konsequent angewandte Quarantäne ausreichte, um das Schlimmste zu verhindern. Zugleich trug die Vernachlässigung plötzlicher Fieberfälle in den Besatzungen der Handelsschiffe maßgeblich zu katastrophalen Epidemien bei, zumal in Westsamoa und Neuseeland. In Ostmitteleuropa war es unmöglich, sich von den Nachbarn komplett abzuriegeln. Man konnte der Gefahr aber durch vorübergehende Schulschließungen und Versammlungsverbote vorbeugen. Unter diesem Gesichtspunkt handelte der tschechoslowakische Bildungsminister Gustav Habrman zweifellos sehr vernünftig, als er im November den Schülern der staatlichen Schulen die kollektive Teilnahme an Gottesdiensten untersagte. Diese Entscheidung verbesserte sicher nicht seinen Ruf in Kirchenkreisen, in denen er als ehemaliger Anarchist und kämpferischer Antiklerikaler verschrien war, doch sie trug zur Gesundheit der Staatsbürger sicher mehr bei als die Prozessionen des Erzbischofs von Lemberg.79

Eine ähnliche Verflechtung von der Furcht vor Krankheit und dem Verfall der ­öf­f entlichen Moral lässt sich in der Haltung der Staaten und Gesellschaften Ostmit­ teleuropas zu den heimkehrenden Flüchtlingen beobachten. Sofern die aus Russland zurückkehrenden Zivilisten nicht, wie Maria Walewska, illegal nach ­Hause gelangten, erwartete sie eine Quarantäne in eigens dafür eingerichteten Zentren. Es handelte sich um dieselben epidemiologischen Kontrollstellen, die Deutschland und Österreich-Ungarn zur medizinischen und ideologischen Untersuchung der aus dem Osten heimkehrenden Kriegsgefangenen geschaffen hatten. Der Besitzerwechsel änderte kaum etwas an ihrer Arbeitsweise – in diesem Fall kann man mit Recht von einer Kontinuität vor und nach dem Umbruch 1918 sprechen. Die Zivilisten wurden ebenso wie die Militärs einer obligatorischen Entlausung unterzogen, ärztlich untersucht, geimpft und – vor allem ideologisch geprüft. Wie früher schon von den Kriegsgefangenen fürchtete man von den Flüchtlingen nämlich, dass sie sich mit dem Bazillus des Bolschewismus infiziert haben könnten. 247

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Mobile deutsche Entlausungsstation.

Das ganze System hätte sicher weitgehend störungsfrei funktioniert, hätte es nicht zwei große Probleme gegeben. Das erste hatte nichts mit der Politik der neuen Staaten zu tun und existierte unabhängig von ihnen. Als der Weltkrieg fließend in eine Serie von Konflikten um nationale Grenzen überging, wurden weite Teile Ostmitteleuropas erneut zu Frontgebieten. Mit dem Vorrücken der Roten Armee nach Westen und anschließend unter sowjetischer Besatzung brach die Kontrolle über die zurückkehrenden Flüchtlinge komplett zusammen. Im Fall Litauens überquerten von rund 350 000 Heimkehrern in den Jahren 1918–24 fast 250 000 die Grenze zur Zeit der bolschewistischen Invasion, das heißt außerhalb der Kontrolle der litauischen Behörden.80 Nach dem erneuten Durchzug der Front erlangten die Litauer die Kontrolle über die Quarantänestationen zurück und das Prozedere näherte sich wieder der Norm, die an deutsche und österreichisch-ungarische Praktiken erinnerte: Die Quarantäne lag weit abseits der Stadt. […] Ich begegnete hier Menschen verschiedener Nationalität. Alle hatte der Krieg aus der Heimat vertrieben 248

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und nun kehrten sie dorthin zurück: nach Litauen, nach Polen, nach Lettland oder nach Weißrussland. […] Man hielt uns hier zwei Wochen oder länger fest, bis genug Flüchtlinge zusammengekommen waren, um einen Zug zu füllen. Es war wie im Gefängnis. Überall bewaffnete Wachen und Stacheldraht. Niemand konnte ohne Genehmigung fort. […] Man sagte uns nicht, wann wir freikämen. […] Essen gab es gerade so viel, dass wir nicht verhungerten. Zum ersten Mal im Leben habe ich so ekelhaftes Brot und Kaffee gekostet.81 Das zweite Problem, mit dem sich die in die neuen Staaten zurückkehrenden Flüchtlinge konfrontiert sahen, war die Selektion. Obwohl die Anforderungen an die Heimkehrer offiziell ihren Gesundheits- und Hygienezustand sowie ihr Verhältnis zum Kommunismus betrafen, nutzten de facto alle Nationalstaaten Ostmitteleuropas die Gelegenheit, durch die Quarantäne die ethnische Struktur ihrer Gesellschaften zu beeinflussen. Wieder lieferte Litauen ein besonders drastisches Beispiel einer solchen Politik. Mit der allmählichen Normalisierung der Lage schlossen sich die Tore für Flüchtlinge. Anfang der 1920er Jahre ließ man fast nur noch ethnische Litauer ins Land, Juden und Polen wurden abge­ wiesen, selbst wenn sie nachweisen konnten, dass sie nur in ihr Zuhause zurückkehren wollten. Die Abgewiesenen waren nicht zu beneiden. In die Repatriierungszüge gelangten sie mithilfe vorläufiger Dokumente, die von litauischen Hilfsorganisationen ausgestellt wurden. Auf dieser Grundlage ließen die russischen Behörden sie nach Litauen reisen, erkannten ihnen aber die sowjetische Staatsbürgerschaft ab. Flüchtlinge, die das unabhängige Litauen nicht aufnehmen wollte, landeten in provisorischen Lagern im Grenzstreifen und mussten darauf warten, dass eine der Seiten sich ihrer erbarmte. Flüchtlinge, die in die von Polen kontrollierten Gebiete zurückkehrten trafen auf ähnliche Probleme, wenngleich die restriktive Migrationspolitik hier eindeutig gegen die Juden gerichtet war. Die polnischen Behörden beriefen sich dabei nicht selten auf das so illegitime wie falsche Argument, dass die Juden generell mit dem Bolschewismus sympathisierten.82 Sowohl in Litauen als auch in Polen wurden oft dieselben Vorwürfe laut, die kurz zuvor noch gegen die galizischen Flüchtlinge in Cisleithanien erhoben worden waren. Im Februar 1920 schrieb die litauische konservative Monatszeitschrift Tėvynės sargas: Wegen seiner besonderen geografischen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen wurde unsere Heimat für viele Ausländer zum „gelobten Land“. Sie kommen von überall her und bringen vielfältige Bedrohungen und Leid für die echten Staatsbürger unseres Landes und für den Staat.83 249

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Andere Zeitungen wurden noch deutlicher: Die meisten der zurückkehrenden Flüchtlinge sind Juden. Sie haben in Russ­ land illegal Gold und andere wertvollen Dinge gekauft und verlagern nun ihr „Geschäft“ nach Litauen. Zugegebenermaßen mit großem Erfolg.84 In Polen versuchten, auch wenn es nicht offen ausgesprochen wurde, die staatlichen Behörden die Rückkehr der sogenannten beschency nach Möglichkeit zu verhindern, weil es sich mehrheitlich um Menschen orthodoxen und griechisch-katholischen Glaubens handelte, das heißt um Ukrainer und Weißrussen. Juden und Kommunisten dienten in diesem Fall als allgemein akzeptierter Vorwand für die Verschärfung des als Cordon sanitaire bemäntelten Grenzregimes.85 Die humanitäre Katastrophe im Vierländereck Polen–Litauen–Lettland–­ UdSSR wurde insbesondere zur realen Bedrohung, als 1921 eine neue Flüchtlingswelle nach Westen anrollte, weil die Menschen dem Hunger in der Powolschje und im Kuban-Gebiet entkommen wollten. Sowohl Polen als auch Litauen nahmen damals viele Flüchtlinge anderer Nationalitäten auf (vor allem Weißrussen). Gleichzeitig galten für die Juden weiter verschärfte Bedingungen. Die Folge war ein enormer Anstieg der jüdischen Emigration in die USA, auf den der Kongress mit der Einführung von Quoten reagierte. Daraufhin sank die Anzahl der Einwanderer von Jahr zu Jahr, bis sie 1927 bei nur noch einigen Tausend lag. Auf diese Weise verliehen die USA einer Lösung Gesetzeskraft, die die jungen Demokratien Ostmitteleuropas in aller Stille anwandten. Sämtliche angesprochenen Aspekte der Politik und der gesellschaftlichen Haltungen gegenüber den Flüchtlingen ergeben ein überaus düsteres Bild. Ihnen schlugen überwiegend negative Emotionen entgegen: Furcht, Ablehnung, Ekel. Viele Beobachter waren überrascht. Der international erfahrene und in Wien heimische k. u. k. Berufsdiplomat Alfred Wysocki wunderte sich, wie rasch alte Sympathien und selbst einfaches menschliches Mitgefühl schwanden. Vor dem Krieg seien die Polen in Wien durchaus beliebt gewesen, das habe sich nun geändert: Als aber in den Straßen [der Hauptstadt] Tausende Polen erschienen, die das Hilfskomitee über die ganze Stadt verteilt hatte, als man diesen Kriegsopfern nicht nur eine Wohnung, sondern auch Bettwäsche und anderes geben musste, änderte sich plötzlich die Einstellung der Wiener zu den Polen.86 Die wichtigste Ursache dieses Wandels war die Angst vor dem Unbekannten. Diesem Nährboden entsprossen fantastische Projektionen von Bedrohungen für die lokale Community, für den Staat und die nationale Gemeinschaft. Man betrach250

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tete die Flüchtlinge als Naturkatastrophe, als Überträger gefährlicher Krankheiten wie Typhus oder Geschlechtskrankheiten (sowie gegen Kriegsende und nach dem Krieg auch der Spanischen Grippe). Darüber hinaus galten sie als Gefahr für die Moral der Bewohner des Hinterlands. Sie erschienen in unterschiedlichen, immer schädlichen Rollen: als Prostituierte, Diebe, Wucherer, Spekulanten (natürlich meist jüdische) oder bolschewistische Agitatoren. Solche Phantasmen brachten die aufnehmenden Gesellschaften gegen die Einwanderer auf. Eine Ausnahme von diesem Trend bildete die Hilfsaktion für Flüchtlinge an ihren Zielorten und für Heimkehrer. Die ungeheure Anstrengung von Dutzenden karitativen Organisationen verdient höchsten Respekt. Sie retteten Tausende Menschenleben und halfen vielen Zwangsmigranten, im Kriegschaos den Weg nach Hause zu finden. Unter den verdienstvollsten Aktivisten dominieren Frauen wie die österreichische Zionistin und Feministin Anitta Müller, die sich unermüdlich vor allem für Kinder und Schwangere aus Galizien, der Bukowina und der Gebiete des russischen Zarenreichs einsetzte.87 Es fällt freilich auf, dass so gut wie alle derartigen Aktivitäten nicht allgemein humanitär, sondern national motiviert waren. Die Segregation war selbst für die britischen Ärztinnen und Krankenschwestern an der Salonikifront etwas völlig Normales. Eine von ihnen schrieb in einem Brief an ihre Familie, dass sie die jüdischen Flüchtlinge selbstverständlich in anderen Häusern als die christlichen untergebracht habe; Gründe dafür nannte sie nicht. Auch die Türken seien gesondert einquartiert worden und für die „Zigeuner“ habe man ein ganz eigenes Zelt organisiert.88 Noch naheliegender war ein solches Vorgehen bei Hilfsorganisationen mit ethnischem Charakter, die schon als solche den Migranten ein eindeutiges Bekenntnis zu einer der Parteien abverlangten. Das patriotische Diktat traf vor allem Waisenkinder, denen nichts anderes übrig blieb, als den Vorgaben der Aktivisten, deren Hilfe nicht ohne Indoktrination zu haben war, zu folgen. Die Folgen dieses Junktims beschreibt etwa die litauische Zeitschrift Tėvynės sargas in einem Bericht über die Neujahrsfeier in einem Waisenhaus im Wilnaer Stadtteil Antakalnis im Januar 1918: Ein zwölfjähriger, mit einer Schleife in den Nationalfarben umgürteter Junge betrat die Bühne und rezitierte mit lauter und fester Stimme das Gedicht Vilnius. Alle hörten zu – das ist unsere Hauptstadt […] gegründet durch Gediminas. Alle Ohren vernahmen den berühmten Namen Vytautas […] „Hier spielt sich der Kampf ums Dasein ab“ – mit diesen Worten endete der Junge. Alle begriffen, was gemeint war – in den Herzen der Anwesenden erwachte der Geist des mächtigen Vytautas. Der Applaus wollte nicht enden. Im 251

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ganzen Saal ertönten Schlachtrufe. Der Junge kam zurück auf die Bühne, um das Gedicht noch einmal vorzutragen.89 Man war sehr darauf bedacht, den Flüchtlingen den Kontakt mit der Muttersprache und der heimischen Kultur zu ermöglichen. Und man achtete sorgfältig darauf, sie von anderen Migrantengruppen zu separieren. Gerade in Gebieten, die von mehreren Volksgruppen für sich beansprucht wurden, verband sich mit den Flüchtlingen die Hoffnung auf einen endgültigen Sieg im ewigen Kampf. Als 1915 eine Welle litauischer Flüchtlinge in Wilna eintraf, machte die nationale Presse keinen Hehl aus ihrer Freude: Vilnius ist deutlich litauischer geworden, seitdem der Krieg begann. Die Flüchtlingswelle aus Suvalkai und Kaunas traf die Stadt mit einer Wucht, die […] das Litauische plötzlich sichtbar machte. So gesehen, ist der Krieg, zumindest bisher, ein gefährlicher Verbündeter bei der Verwurzelung des Litau­ ischen in Vilnius und unsere Flüchtlinge spielen für die Belebung des litauischen Elements eine besonders wichtige Rolle.90 Das Ziel war Gemeinschaft, freilich weder in der Vorkriegsgestalt noch im Sinn der Schicksalsgemeinschaft der Vertriebenen. Es ging um die Schaffung einer Nation und eines Staates, der aus der Kriegskatastrophe Kraft ziehen sollte. Wie Aija Priedite schreibt, […] verfügte der aus Ruinen entstehende lettische Staat über keine Güter, die er vorab den Einwohnern hätte versprechen können. Dafür konnte er aus der Quelle der Kriegshingabe schöpfen.91 Die Fokussierung auf die Mitglieder der eigenen Gemeinschaft galt selbst für Gestalten wie Anitta Müller. In ihrem Fall war es die jüdische Nation, für deren Existenz und Identität sie kämpfte – erst in Österreich-Ungarn, dann in Österreich und schließlich nach der Emigration 1935 in Palästina. Bei aller Anerkennung für die Hilfsorganisationen muss man jedoch auch die problematischen Aspekte im Blick behalten. Unterstützung erhielten meist jeweils nur die Angehörigen einer bestimmten Volksgruppe, allen anderen begegneten die Helfer mit einer kühlen Neutralität, die der Haltung der Einwohner der imperialen Zentren gegenüber den ab 1914 eintreffenden Flüchtlingsströmen zum Verwechseln ähnlich sah. Doch die Zwangsmigrationen infolge der Kriegshandlungen in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan hatten weitaus zerstörerische Folgen für die einheimischen Gesellschaften. Die Idee der ethnischen Rein252

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heit war aus der nationalistischen Politik ins Bewusstsein der ganz normalen Menschen eingesickert. Im Kreis Krasnystaw kursierte Ende 1917 das Gerücht, dass die jüdischen Flüchtlinge zurückkehren und wieder in ihre Häuser einziehen wollten, die inzwischen von einheimischen Bauern besetzt worden waren. Eine Gruppe von Landwirten wollte der Gefahr durch die Aussiedlung aller jüdischen Familien der Umgebung zuvorkommen. Der Krieg hatte sie gelehrt, wie sie vorzugehen hatten. Die rechtzeitig alarmierte k. u. k. Gendarmerie unterband die eigenmächtige Aktion.92 In den Köpfen der Bewohner Ostmitteleuropas – ganz sicher nicht nur in der Gegend von Lublin – festigte sich in den Jahren des Kriegs die Überzeugung, dass in einem wirklich freien Vaterland weder für Immigranten noch für andere Fremde Platz sei.

Die Zukunft der Nation In der tschechischen Ärztezeitschrift Časopis 1918 bedauernd:

lékařů českých

hieß es Anfang

In den Städten gibt es fast keine Kinder mehr, nur Menschlein, die stundenlang Schlange stehen – niedergedrückt von der Sorge, ob es etwas zu essen gibt, ob sie Kleidung finden – oder unter schwierigsten Bedingungen auf irgendeine andere Weise versuchen, an Nahrung zu kommen.93 Tatsächlich traf das Kriegselend Kinder in besonderem Maß, zumal in Arbeiterfamilien. Wenn die Väter zur Armee und die Mütter in die Fabriken gingen, blieben die Kinder zunehmend sich selbst überlassen. Die Schulen boten meist keine Verpflegung an. Im dritten Kriegsjahr ging überdies der Schulbesuch aus mehreren Gründen deutlich zurück. Die arbeitenden Eltern schickten ihre Kinder statt in die Schule zum Einkaufen, was in der Praxis stundenlanges Schlangestehen bedeutete. Andere hielten ihre Kinder zu Hause, weil sie das wachsende Infektionsrisiko fürchteten. Der Staat wiederum lockerte die Arbeitsvorschriften; in allen kämpfenden Monarchien arbeiteten immer häufiger auch ältere Kinder in den Fabriken. Kinder verstießen auch gegen Gesetze. Sie stahlen Kartoffeln von fremden Feldern (es gab Fälle, in denen auf die Diebe geschossen wurde), entlang der Bahnlinien stahlen Banden Kohle von den Waggons. In Böhmen nannte man diese minderjährigen Kriminellen „Kohlebarone“.94 In Warschau verdingten sich Jugendliche dazu, den Einwohnern ihre Kohlerationen ins Haus zu liefern. Manche von ihnen behielten den fremden Brennstoff für sich oder versuchten ihn weiterzuverkaufen.95 Wie verzweifelt die Situation der hilfsbedürftigsten Kinder war, zeigt der von 253

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der k. u. k. Zensur zurückgehaltene Brief der kleinen Stefanie Pěkná an ihren Vater, der an der italienischen Front kämpfte: Papa ist fort und vielleicht ist bald auch Mama fort, denn Mama will und kann sich nicht um uns kümmern. […] Sie geht jeden Morgen ohne Frühstück zur Arbeit und wir bekommen zum Mittag nur schwarzen Kaffee. Abends kommt sie ganz erschöpft nach Hause und weint vor Hunger und wir weinen mit ihr. Wenn sie zur Arbeit geht, bleiben wir allein zu Hause, hungrig, und niemand kümmert sich um uns.96 Die dramatische Situation der Kinder erforderte entschiedene Maßnahmen. Eine Vorreiterrolle auf diesem Gebiet spielten tschechische nationale Organisationen, die sich schon vor dem Krieg auf den Betrieb von Waisenhäusern konzentriert hatten (Česká zemská komise pro ochranu dětí a péči o mládež, Tschechische Landeskommission für Kinder- und Jugendfürsorge). Die ersten Weltkriegsjahre überzeugten die tschechischen Aktivisten, dass sie ihre Tätigkeit ausweiten mussten. Einen wichtigen Impuls für die Hilfsaktion lieferte das im Oktober 1917 in allen größeren Zeitungen veröffentlichte Manifest der Schriftstellerin Růžena Svobodová mit dem aus dem St.-Wenzels-Choral entlehnten Titel Nedej zahynouti [Lass sie nicht untergehen]: Lass sie nicht untergehen! In diesem Augenblick, in dem die Nation erwacht, ein gemeinsames großes Ziel vor Augen, wenden wir uns an die tschechische Öffentlichkeit. In der Ferne sehen wir den Glanz des gelobten Landes, doch zwischen dem heutigen Tag und seinem Licht liegen noch viele dunkle Tage voller Mühen, durch die wir hindurchgehen müssen und durch die wir die Nation führen müssen. Die Nation, das sind wir alle: Arme und ­Reiche, Satte und Hungernde. Unser königliches Prag, unsere nationale Metropole stirbt. […] Die tschechischen Kinder schlafen vor Hunger in der Schule ein und fallen in Ohnmacht, während ihre halb nackten, hungernden Mütter frostige Nächte in endlosen Schlangen verbringen, um wenigstens irgendetwas Essbares zu erobern, was aber den Hungertod ihrer Familien nur hinauszögert. Dabei brauchen wir doch jedes dieser Leben so sehr. Wir müssen die Ernährer für die Kinder bewahren und die Kinder für die Zukunft. Lass sie nicht untergehen!97 Die aktivste Organisation der Kinderfürsorge war České srdce (Tschechisches Herz). Ihre Aktivitäten beschränkten sich nicht auf Hilfen für Waisenkinder, sondern umfassten auch ein breit angelegtes Programm zur Verpflegung von 254

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Stadtkindern in Gasthäusern und reicheren Familien (diese Kinder nannte man „nationale Kostgänger“). Tausende Kinder wurden aufs Land verschickt, wo tschechische Bauernfamilien sie vor dem Hunger retten sollten (diese Kinder wiederum hießen „nationale Gäste“). Wenngleich es mitunter Klagen gab, die Gäste würden als kostenlose Arbeitskräfte ausgenutzt, so verdankten doch die allermeisten dem Tschechischen Herz ihre Gesundheit, wenn nicht ihr Leben. Die Hilfsaktion für die tschechischen Kinder weckte rasch die Aufmerksamkeit anderer Volksgruppen der Habsburgermonarchie. Es entstanden zahlreiche österreichisch-deutsche, polnische, slowenische und andere Organisationen, die vergleichbare Aktivitäten unternahmen, wenngleich nie in einem solchen Ausmaß wie die vermögenden und gut organisierten Tschechen. Noch 1917 fand dieses ehrenamtliche System die Billigung der Behörden im österreichischen Teil der Monarchie. Die Beamten in Wien ordneten an, dass die Nothilfe auf Provinzebene durch Organisationen von nationalem Charakter geleistet werden solle.98 Tatsächlich waren die ethnisch dezentralisierten Strukturen effizienter als die von Wien aus gesteuerte Hilfe. Letztere scheiterte mitunter auch an unglücklichen Umständen. Kaiser Karl I. initiierte 1918 nach dem Vorbild der „nationalen Gäste“ eine Aktion für die deutschsprachigen Regionen, doch die nach Ungarn verschickten Kinder kamen dort in Gebiete, in denen die

Die österreichischen Kinder reisten auf unterschiedlichen Wegen nach Ungarn, auch über die Donau.

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II Kaleidoskop

Spanische Grippe grassierte. Die Presse gab dem Unternehmen, den Folgen entsprechend, den Namen „Der Weg in den Tod“.99 Die Kinderhilfsaktionen waren unter einem weiteren Aspekt nicht unproblematisch. Wie im Fall der Flüchtlingshilfe war auch hier die karitative Tätigkeit stark nationalistisch motiviert. Die Helfer interessierten sich nicht generell für Kinder in Not, sondern für Kinder der eigenen Nationalität. In dieser Hinsicht konkurrierten die Hilfsorganisationen miteinander, was unter dem Gesichtspunkt der Effizienz wenig nützlich scheint. So resultierte die Entscheidung des Tschechischen Herzens, einen Ableger in Wien zu gründen, weniger aus einem konkret festgestellten Hilfsbedarf denn aus der Überzeugung, man müsse das tschechische Nationalbewusstsein der mehreren Tausend tschechischen Wiener bewahren. Auf eine andere Dimension der Kinderhilfe verweist Tara Zahra. Die Historiker betrachteten die letzten Jahre der Habsburgermonarchie gewohnheitsmäßig als Zeit, in der die gewaltige Kraft der Nationalismen das Imperium sprengte. Im gegebenen Fall ist die Wirklichkeit komplexer. Die tschechischen Nationalisten, und nach ihrem Beispiel auch die deutsch-österreichischen und anderen, wurden als Ersatz für die insuffizienten staatlichen Behörden in die Politik der Monarchie integriert.100 Statt zum Kampf kam es hier also zu einer Symbiose. Längerfristig bereitete diese Zusammenarbeit den Boden für den teils verblüffend reibungslosen Regimewechsel. Zumindest in der Sozialpolitik mussten die jungen Staaten Ostmitteleuropas nicht ganz von vorn anfangen, weil zuvor bereits viele Behörden der zerfallenden Monarchien eine nationale Politik betrieben und damit ihrer Zeit in gewisser Wese voraus waren.

Revolte Mitten im „Steckrübenwinter“ 1916/1917 meldete die Militärverwaltung einer deutschen Stadt an die Berliner Zentrale: Es ist eine eigentümliche Erscheinung, daß das Volk sich schließlich in jede Entbehrung findet, daß es aber niemand vertragen kann, wenn der andere ein bißchen mehr hat als er selbst. Würde es gelingen, Gewißheit zu verbreiten, daß die Nahrungsmittelunbequemlichkeiten gleichmäßig verteilt wären, dann würde die Unzufriedenheit sofort verschwinden.101 Entgegen der gängigen Interpretationen von Streiks, Hungerrevolten und sogar sozialistischen und nationalen Revolutionen war es in der Tat oft das Gefühl der Ungerechtigkeit, das sowohl in den letzten Weltkriegsjahren als auch im schwie256

Soziale Konflikte

rigen Entstehungsprozess der neuen Staaten in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan Arbeiter, Bauern und Soldaten, Frauen und Männer gegen die Regierungen aufbrachte. In jeder dieser sozialen Gruppen wuchs der Widerstand in einem anderen Tempo. Der ungleiche Zugang zu Nahrung bewirkte, dass sich als Erstes diejenigen empörten, die auf den legalen Erwerb von Lebensmitteln angewiesen waren. In Ungarn nahm im Herbst 1917 das Murren in den Dörfern die Gestalt allgemeiner Unzufrie­den­ heit an, doch in den großen Städten verwandelte es sich in eine politische Bewegung. Auf dem Land sprach man 1918 vom Untergang der Alten Welt und vom Jüngsten Gericht, doch in den Städten trieb derselbe Impuls die Menschen zum Generalstreik und zur Revolution.102 Die ersten Revolten gab es schon 1916, vor allem in Russland. Auslöser war die Wut der Frauen über die Teuerung und das Verschwinden von Waren von den städtischen Märkten. Noch im selben Jahr wurden „Weiberaufstände“ auch in der Habsburgermonarchie zur Normalität. Dies war freilich nur der Auftakt zu einer mächtigen Welle von Protesten, die auch für die k. u. k. Regierung zur ernsten Bedrohung wurden. So versetzten die Arbeiterinnen der Pilsener Škoda-­ Werke der Rüstungsproduktion einen überaus schmerzlichen Stoß. Im Mai 1917 ereignete sich dort das schlimmste Unglück in der tschechischen Geschichte, als eine Munitionsfabrik explodierte. Dabei starben über 200 Arbeiterinnen (in der Sprengstoff- und Geschossproduktion arbeiteten deutlich mehr Frauen als Männer), mehrere Dutzend in der Fabrik angestellte Kinder sowie eine unbekannte Anzahl von Arbeitern, die mit Renovierungs- und Aufräumarbeiten beschäftigt waren. Zu den Opfern gehörten neben Einheimischen auch Kroaten und verhältnismäßig viele Galizier. Das Krankenhaus in Pilsen war zu klein, um alle Verletzten zu versorgen; Operationen und Amputationen wurden auch an provisorischen Rettungspunkten durchgeführt. Als die Folgen der Explosion beseitigt waren (was lange dauerte und weitere Todesopfer durch Blindgänger kostete), veröffentlichte eine Untersuchungs­ kommission der Armee Empfehlungen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Ende Juni wurde allerdings klar, dass die Regierung eine andere Lösung bevorzugte: Der Betrieb wurde dem Militär unterstellt. Die Arbeiter unterlagen ab diesem Zeitpunkt dem Armeereglement. Ihre Reaktion war für die Regierung allerdings eine große Überraschung. Am 27. Juni legten die Beschäftigten in den gesamten Škoda-Werken die Arbeit nieder. In den darauffolgenden Tagen versammelten sich zigtausend Arbeiterinnen und Arbeiter vor den Fabrikmauern, 257

II Kaleidoskop

Die Rüstungsfabriken waren zunehmend auf weibliche Arbeitskräfte angewiesen.

wo zweimal täglich sozialdemokratische Abgeordnete sprachen, deren Reden sogleich in fast alle Sprachen der Monarchie übersetzt wurden. Zwischen den Kundgebungen hielten sich die Arbeiter zwar auf dem Fabrikgelände auf, doch sie arbeiteten nicht. Nicht nur das Ausmaß und der Organisationsgrad des Streiks überraschten. Nicht minder verblüffend war, dass das Gros der von den Arbeitern gestellten Forderungen erfüllt wurde. Die Arbeitszeiten in der Fabrik wurden verkürzt, die Löhne stiegen, die Verpflegung in der Arbeiterkantine verbesserte sich und man einigte sich auf eine Bezahlung von Überstunden. Die Übereinkunft galt für alle Gruppen von Beschäftigten einschließlich Frauen und Kindern. Nur die kriegsgefangenen russischen und italienischen Zwangsarbeiter in Pilsen profitierten nicht unmittelbar von den Ergebnissen des Protests, an dem sie sich auch nicht hatten beteiligen können.103 Der Streik in Pilsen war Vorbote weiterer Konflikte. Wenig später wurde Prag von einer Streikwelle überrollt, bald darauf gab es Proteste in anderen Städten der Monarchie sowie in Deutschland. Die Auswirkungen dieser Streiks waren sehr verschieden. Rudolf Kučera spricht vor dem Hintergrund der Ereignisse in Pilsen von zwei unterschiedlichen Streiktypen. Erfolgreich waren Proteste meist dann, wenn sich verschiedene Vorkriegslager vereinigten, wenn Frauen und Männer unterschiedlicher Nationalität für ihre gemeinsamen ökonomischen In258

Soziale Konflikte

teressen kämpften. Das Engagement der Frauen in der Streikbewegung war von entscheidender Bedeutung. Anders als männliche Arbeiter konnten sie nicht in die Armee eingezogen werden, was der Obrigkeit ein wirksames Druckmittel nahm. Das Kriegsministerium lehnte die Beschäftigung einer größeren Anzahl von Frauen in der Rüstungsindustrie lange ab, weil man glaubte, Frauen hätten einen „angeborenen Hang zur Agitation“.104 Vorbehalte gab es auch aufseiten erfahrener sozialdemokratischer Politiker, die sich fragten, inwieweit sie überwiegend aus Frauen zusammengesetzte Fabrikbelegschaften lenken könnten. Beide Seiten hatten recht: Das Engagement des weiblichen Teils der Belegschaft vergrößerte die Entschlossenheit der Streikenden und die Bereitschaft zum Festhalten an konkreten materiellen Forderungen. Selbst nichtarbeitende Frauen galten als gefährliche Agitatorinnen. So schreibt etwa ein preußischer Beamter im Sommer 1917 über die Ehefrauen oberschlesischer Bergleute: Seit Wochen finden sich fast täglich in meinem Amte oder bei mir persönlich Scharen von Frauen ein und bitten um die Beseitigung der Lebensmittel­ schwierigkeiten und um Zuweisung ausreichender Lebensmittel- und Brot­ men­gen. Es sind meist 40–50 Frauen von Arbeitern, welche in der Arbeiter­ kolonie der Gott-mit-uns-Grube wohnen […] Die weitere und wichtigste Maßnahme zur Vorbeugung größerer Arbeiterunruhen kann aber nur in der raschen und ausreichenden Zuweisung von Lebensmitteln, insbesondere von Frühkartoffeln, erblickt werden. Geschieht dies nicht, so ist zu besorgen, daß der weibliche Teil der Bevölkerung die Männer noch besonders zu Arbeiter­ unruhen und Aufsässigkeit anreizen wird.105

Die Škoda-Werke während des Kriegs.

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II Kaleidoskop

Den Streikführern in den Škoda-Werken gelang es, dieses Potenzial voll auszunutzen. Die unmittelbar nach Ausbruch der Pilsener Proteste begonnenen Streiks in Prag indes wurden von einer relativ kleinen Gruppe junger, nicht mit der Sozialdemokratie verbundener Facharbeiter organisiert. Vor dem Hintergrund der demokratischen Pilsener Bewegung wirkten sie elitär und fanden deshalb nicht die massenhafte Unterstützung der Belegschaften. Es handelte sich eher um einen Versuch, die neue Klasse der Arbeiterinnen und Arbeiter für Zwecke zu instrumentalisieren, die mit ihren Interessen kaum etwas zu tun hatten. Die Organisatoren der Streiks übersahen oder unterschätzten den Einfluss, den der Krieg auf die Arbeiterklasse der tschechischen Gebiete ausgeübt hatte. Zweifellos rief die Nachricht von der Russischen Revolution auch jenseits der russischen Industriezentren ein großes Echo unter den Arbeitern hervor. Die streikenden Tschechen und Deutschen wussten schon von ihr. Allerdings handelte es sich im Sommer 1917 noch um recht bruchstückhafte Informationen. Erst die nach dem Friedensschluss mit dem bolschewistischen Russland nach Österreich-Ungarn und Deutschland heimkehrenden Kriegsgefangenen brachten genauere Kunde, vor allem aber berichteten sie, was sie dort gesehen hatten. Wichtiger für frühere Arbeiterproteste sind daher die lokalen Rahmenbedingungen, die sich in Pilsen in den Jahren vor dem Streik radikal wandelten. Die Erfahrung der Kriegswirtschaft veränderte die Arbeiterklasse grundlegend. Die massenhafte Mobilisierung der Frauen erweiterte ihre Reihen und beeinflusste die arbeitsbezogenen und politischen Forderungen. Die von der Obrigkeit mit Privilegien ausgestatteten Industriellen regierten in ihren Fabriken mit harter Hand, was die Ansichten und die Vorgehensweise der Streikenden radikalisierte. Die Arbeiter hatten aus früheren kleineren und erfolglosen Protesten gelernt. Kurz vor dem Streik in Pilsen hatten in Prostějov einige Tausend Näherinnen demonstriert; die herbeigerufene Armee hatte elf Frauen und sechs Jungen im Alter von 13 bis 18 Jahren getötet. Die brutale Reaktion der österreichischen Obrigkeit hatte selbst in den neutralen Staaten für Empörung gesorgt.106 Die Revolten und Streiks während des Kriegs zeigten den Arbeitern, dass sie über reale Macht verfügten. Bald merkten sie auch, dass ihnen für Streikaktionen immer geringere Strafen drohten. Selbst die kämpferischsten Arbeiter aus Pilsen und Prag, die letztlich im Arrest landeten, blieben nicht lange dort. Schon im Juli 1917 gab es eine Amnestie, die von der Bevölkerung so freudig aufgenommen wurde, dass einige tschechische Nationalaktivisten fürchteten, es könne zu einer dauerhaften Verständigung der Monarchie mit der Arbeiterklasse kommen. Jan Herben, ein Mitarbeiter Masaryks, vermerkte: 260

Soziale Konflikte

Man hat eine kaiserliche Amnestie verkündet. Ich fürchte, die Menschen in Tschechien werden deshalb in Begeisterung verfallen. Bei U Fleků wurde bis in den Morgen getrunken, manch einer soff 20–25 Glas Bier. Wenn die Bestie, die uns Stücke aus dem Körper riss und nach dem Krieg ganz unterwerfen wollte, mit dem Schwanz zu wackeln beginnt, dann ist dies ein klares Indiz, dass der Krieg verloren ist und neue Zeiten anbrechen.107 Herbens Befürchtungen erwiesen sich als voreilig. Die Loyalität der Arbeiter war auf längere Sicht nur über eine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen zu gewinnen. Das konnte die Monarchie sich nicht leisten. Weitaus treffender war seine Einschätzung der Lage Österreich-Ungarns. Im Verhältnis des Staates zu seinen Untertanen begann wirklich eine neue Epoche. Ihr wichtigstes Merkmal war das wachsende Bewusstsein der Regierenden, dass die Arbeiter eine Kraft darstellten, mit der man rechnen musste. Wie stark sie waren, bewiesen sie im Januar 1918, als eine Welle von Arbeiterprotesten die deutsche und österreichische Rüstungsindustrie nahezu komplett lahmlegte. Der Streik breitete sich blitzartig aus. Die Meldungen der k. u. k. Behörden zeigen, dass in einigen zentralen Betrieben so gut wie alle Arbeiter streikten. Mitte des Monats standen die gigantischen Fabriken im Wiener Arsenal (die 15 000 Menschen beschäftigten) still. In ganz Wien streikten damals mindestens viermal so viele Arbeiter. Wenige Tage später legte auch Pilsen erneut die Arbeit nieder, in Kladno verließen Tausende Hüttenarbeiter die Öfen, im Ostrauer Revier besetzten Bergleute die Kohlegruben. Die Unruhen griffen auf Niederösterreich, die Steiermark, Triest und Brünn über. In Krakau brach am 16. Januar eine Hungerrevolte aus. Als am 19. Januar die Belegschaften der größten Fabriken Ungarns in Streik traten, war die Kontinuität der Rüstungsproduktion ernsthaft bedroht. An den Protesten beteiligte sich insgesamt fast eine Million Arbeiterinnen und Arbeiter.108 Für die Obrigkeit war es ein schwacher Trost, dass die Arbeiter

Eine Warteschlange um Lebensmittel in Warschau.

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II Kaleidoskop

der Habsburgermonarchie solidarisch auftraten und über nationale Trennlinien die Forderungen der Genossen an anderen Standorten unterstützten und damit gleichsam die bestehende politische Ordnung bestätigten. Die sozialdemokratischen Streikführer in Győr verteilten unter den Arbeitern zweisprachige (Ungarisch und Deutsch) Flugblätter, die zur Solidarität aufriefen: Hundertausende der deutsch-österreichischen sozialistischen Arbeiter streiken bereits seit Tagen. Die Bande gemeinsamer Leiden, gemeinsamer Ziele und gemeinsamer Ideale knüpft auch die ungarischen sozialistischen Arbeiter an sie, die jetzt, ihrem Beispiele folgend, ebenfalls die Arbeit einstellen.109 Die Organisation der Arbeiterproteste in den Betrieben zeigte, dass man die Lektion des Streiks in den Škoda-Werken begriffen hatte. Es blieb überwiegend ruhig, die Armee musste nicht eingreifen, weil die Streikenden selbst für Ordnung sorgten. Das politische Sprachrohr der Arbeiter waren wie in Pilsen die Sozialdemokraten. Die Beobachter aus Polizei und Armee bemerkten eine weitere Parallele zu den Pilsener Ereignissen, aus der sie aber ganz falsche Schlüsse zogen: Augenzeugen schilderten die [in Győr] stattgehabten Versammlungen und Umzüge als nicht sehr ernst zu nehmend und äußerten sich dahin, daß derlei Arrangements von Seite der Demonstrationsteilnehmer mehr als „Hetz“ aufgenommen wurden wie auch unter der oft nach einigen Tausenden zählenden Menge zum größten Teil Weiber und Mädchen und viele halbwüchsige Jungen das Hauptkontingent bilden.110 Angesichts des ungeheuren Ausmaßes der Bewegung wirken die anfänglichen Forderungen der Streikenden eher bescheiden. Unmittelbarer Anlass der Proteste war eine amtlich verfügte Kürzung der Mehlrationen. Ihre Rücknahme war fester Bestandteil der Forderungskataloge der streikenden Belegschaften. Zu den ersten, die eine Delegation zu Verhandlungen mit der Obrigkeit entsandten, gehörten die Bahnarbeiter aus einem Werk in Wien-Floridsdorf. Neben höheren Mehlrationen forderten sie Schuhe, Arbeitskleidung und eine Erhöhung der ­Löhne für Akkordarbeit.111 Andere Belegschaften forderten Hülsenfrüchte oder Grieß als Ausgleich für die geschrumpften Mehlrationen, höhere Grundlöhne, kürzere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen. Wie in Pilsen erfüllte die erschrockene Obrigkeit viele dieser Forderungen. Mit dem Anschwellen der Streikwelle verschärfte sich aber ein grundsätzliches Problem: Wo sollte man die Vorräte hernehmen, die man den streikenden Arbeitern versprach, damit sie die Proteste beendeten. Am 18. Januar meldete die Bahnhofskommandantur in Ost262

Soziale Konflikte

rava telefonisch, vor den örtlichen Mehllagern versammelten sich Arbeiter aus Galizien und dem Olsagebiet, um die zugesagten Rationen abzuholen. Das für sie bestimmte Mehl sei aber bereits ausgegeben; es gebe nur noch einen Rest aus dem Bestand für die mährischen Eisenbahner. Mit der Ausgabe dieses Mehls an Galizier und Schlesier könne man die Lage zwar vorübergehend beruhigen, doch binnen der nächsten 24 Stunden stünde man vor dem Problem, dass die Mähren ihre Rationen nicht erhielten.112 Der offensichtliche Interessenkonflikt zwischen den verschiedenen streikenden Arbeitergruppen hätte nur gelöst werden können, indem man den Forderungskatalog so erweitert hätte, dass mit einem Schlag die Versorgungsprobleme im ganzen Land gelöst worden wären. Die Lösung formulierte Wladimir Iljitsch Lenin als Verfasser des „Dekrets über den Frieden“ des Allrussischen Sowjetkongresses, das zu einem sofortigen gerechten Frieden ohne Annexionen und Kontributionen aufrief. Obwohl es keine direkte Einflussnahme auf die österreichisch-ungarischen und deutschen Sozialdemokraten gab (es bestanden nicht einmal engere Kontakte), gewann diese – scheinbar höchst einfache – Forderung in ihren Kreisen zunehmend an Popularität. Die Aufnahme von Waffenstillstands- und anschließend Friedensverhandlungen zwischen den Mittelmächten und Sowjetrussland war im November 1917 für die Streikenden von zentraler Bedeutung. Sie weckte nämlich die Hoffnung, dass ein Frieden wirklich möglich sei und der mythische Reichtum Russlands und der fruchtbaren Ukraine helfen werde, die Nahrungsmittelkrise zu überwinden. Die Presse berichtete über den Verlauf der Gespräche, jeder konnte erfahren, dass Russland einen bedingungslosen Frieden wollte, während die Mittelmächte und insbesondere Deutschland auf ihren territorialen Eroberungen beharrten. Unterdessen entstanden in einigen deutschen, österreichischen und ungarischen Fabriken Arbeiterräte nach russischem Vorbild, wobei niemand so richtig wusste, was sie konkret zu tun hätten. Am zweiten Tag des Streiks in Floridsdorf übermittelte ein Vertrauensmann der Streikenden der Gegenseite die folgende Erklärung: Die Arbeiterschaft ist durch die jetzigen Ereignisse signalisiert, daß die Frie­ dens­verhandlungen mit Rußland, dem demokratischsten Staatswesen der Welt, gefährdet sind; es handelt sich hier jetzt nicht mehr um das ¼ kg Mehl, sondern um die eheste Herbeiführung des Friedens. Aus diesem Grunde sind wir nicht in der Lage, die Arbeit wieder aufzunehmen[,] insolange uns nicht Bürgschaften gegeben werden, daß auch die österreichischen Machthaber bereit sind, Frieden zu schließen auf der Grundlage ohne offene oder verhüllte Annexionen, auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker113. 263

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Die sich mit den streikenden österreichischen Kollegen solidarisierenden Ungarn formulierten etwas umfassendere Forderungen. Der Friede mit Russland war aber auch für sie eine Grundbedingung: Ihren Pflichten getreu, hat sich die Leitung der sozialistisch-demokratischen Partei der Forderungen der Arbeiter angenommen und wurde deren Für­spre­ cher. Als solcher fordert sie die Regierung auf, die rechtmäßigen For­derungen der Arbeiterschaft hinsichtlich des Friedens, des Wahlrechtes und der allgemeinen Ernährung zu erfüllen. Es ist die Pflicht der den Frieden und die Demokratie wünschenden Elemente der bürgerlichen Gesellschaft, die Be­ wegung der Arbeiter zu unterstützen.114 Interessanterweise teilte die Regierung der Monarchie im Prinzip die Haltung der Arbeiter bezüglich einer engen Verknüpfung der beiden Parolen des Januarstreiks: Frieden und Brot. Außenminister Ottokar Czernin, der Österreich-Ungarn in Brest vertrat, gelangte unter dem Eindruck der Nachrichten aus seinem Land zu der Überzeugung, dass nur ein sofortiger Friedensschluss und Nahrungsmittellieferungen aus Russland oder der Ukraine die Lage retten könnten. Daher drängte er zunächst Deutschland zu einem möglichst raschen Frieden mit Russland und hoffte anschließend inständig auf einen „Brotfrieden“ mit der Ukraine. Er überschätzte offensichtlich die positiven Auswirkungen beider Schritte.

Brest-Litowsk Faktisch endete der Krieg an der Ostfront im Herbst 1917, das formelle Ende besiegelten der Separatfrieden mit der Ukraine am 9. Februar und der Friedensschluss mit Russland am 3. März 1918. Die vorangegangenen Verhandlungen gehören zu den eigentümlichsten des 20. Jahrhunderts. Auf die Gespräche mit der Ukraine gehen wir an anderer Stelle ein: Die Kiewer Regierung musste im Moment der Unterzeichnung des Friedensvertrags aus der Hauptstadt fliehen, die von den Bolschewiki gleichsam nebenbei, ohne größere Anstrengung eingenommen wurde. Auch die Gespräche mit den Vertretern des neuen Russland gingen gleichsam durch die Seitentür – wenngleich eine andere – in die Diplomatiegeschichte ein. Die Repräsentanten Deutschlands, Österreich-Ungarns, Bulgariens und der Türkei waren allesamt Politiker, Berufsdiplomaten oder Militärs. Ganz anders die russische Delegation: Leo Trotzki, der revolutionäre Gelehrte aus dem Wiener Café Central, sowie ein anonymer wortkarger Bauer und eine bekannte Terroristin (der Erinnerung eines deutschen Delegierten gemäß von 264

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Brennende Armeelager in Kiew kurz vor dem Einmarsch der Mittelmächte im Juni 1918.

der Anmut einer ältlichen Haushälterin), die ihren Gesprächspartner gern zeigte, wie sie vor Jahren einen russischen Gouverneur erschossen hatte. Auf der einen Seite Imperien, auf der anderen – etwas unbegreiflich Neues. In den Diplomatiegeschichtsbüchern kam derlei nicht vor. Die Delegationen trafen sich erstmals am 1. Dezember 1917. Die Mittelmächte wollten Frieden und Brot, die Russen spielten auf Zeit, um zunächst die Revolution im eigenen Land zu vollenden und dann nach Europa zu tragen. Ohne eine Atempause, so Lenin, sei das bolschewistische Experiment zum Scheitern verurteilt. Die Zeit lief für die Roten und sie wollten so viel wie möglich gewinnen. Die Deutschen und die Vertreter Österreich-Ungarns hatten ein anderes Zeitempfinden. Sie glaubten, die Zeit werde der imperialen Idee zum Sieg verhelfen. Nur die wachsenden Schwierigkeiten in der Versorgung des eigenen Hinterlandes trieben sie zur Eile. Mit Russland – gleich welchem – wollten sie ein für alle Mal abrechnen und die feindliche Macht ausschalten. Der erste Leiter der russischen Delegation, Adolf Abramowitsch Joffe, war weitsichtiger. Er sagte den Delegierten der Mittelmächte offen, dass es sich um einen anderen Frieden handeln werde: Ihre Imperien würden ohnehin unterliegen, weil sie von den streikenden, kriegsmüden Arbeitern gesprengt wür265

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den. Die Delegation des roten Russland bediente sich bei dem modischen Vokabular der Reden Wilsons: Frieden ohne Annexionen, Selbstbestimmungs­ recht der Völker, Verzicht auf Reparationen. Auch Trotzki, der Anfang Januar 1918 Joffe ablöste, verachtete die Vertreter des Ancien Régime. Er amüsierte sich damit, ihnen seine Verhandlungsposition aufzuzwingen. Die Bolschewiki wollten weder ein für Russland schändliches Dokument unterzeichnen noch weiterkämpfen. Also: „Weder Krieg noch Frieden“. Sollten doch die Deutschen sehen, wie sie damit klarkamen, während im Reich gerade die größte Streikwelle der Geschichte anlief. Die Mittelmächte reagierten, indem sie zunächst den erwähnten Separatfrieden mit der Ukraine schlossen, der ihnen theoretisch eine Million Tonnen Getreide sicherte. Eine Woche danach teilten sie Russland mit, der vereinbarte Waffenstillstand sei abgelaufen. Die Einheiten der Ostfront wurden in Züge gesetzt (über den „Eisenbahnfeldzug“ schreiben wir an anderer Stelle) und rückten nach Osten vor. So vor vollendete Fakten gestellt, gaben die Bolschewiki nach und unterzeichneten am 3. März den Frieden von Brest-Litowsk. Russland schrumpfte auf die Größe vor der Regierungszeit Peters I. Im Westen verlor es ein Viertel seines Territoriums, die baltischen, weichselländischen, weißrussischen und ukrainischen Gouvernements sowie Finnland – insgesamt 1 400 000 km2 und 60 Millionen Menschen, das heißt ein Drittel der Bevölkerung. Die Brester Verträge hatten auch eine polnische Dimension, die zeigt, wie das Schicksal eines Landes zur Metapher für die Geschichte eines Kontinents

Verhandlungstisch in Brest-Litowsk.

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werden kann. Damit ist nicht gemeint, dass Russland den Anspruch auf die künftigen Gebiete der Republik Polen aufgab; von dort hatte es sich faktisch schon 1915 zurückgezogen. Der Vertrag bestätigte nur den Status quo. Wichtiger war die Übereinkunft mit der Ukrainischen Volksrepublik im Februar 1918, die dem nur auf dem Papier existierenden Staat das Gouvernement Cholm zusprach. Als Reaktion kündigten die Polen der Habsburgermonarchie den Gehorsam auf. Der Anführer der galizischen Sozialisten, Ignacy Daszyńs­ ki, verkündete im Staatsrat: „Am 9. Februar erlosch der Stern der Habsburger am polnischen Firmament.“ Die Massenstreiks und andere Formen des zivilen Ungehorsams, etwa die Rückgabe von k. u. k. Orden und Auszeichnungen, sowie die Revolte der 2. Brigade der Legionen bei Rarańcza waren tatsächlich bedeutsam für Europa (obwohl Europa sie kaum wahrnahm, weil gleichzeitig andere wichtige Dinge geschahen): Eine historische Nation, der zweifellos das Recht auf Selbstbestimmung zustand, wurde von einem Imperium wie eine Provinz des 18. Jahrhunderts behandelt, als man ohne die geringsten Skrupel mit fremden Territorien handelte, sie annektierte, gegen andere eintauschte oder ihre Grenzen oder Namen änderte. Karl Otmar Freiherr von Aretin schrieb 1981 am Beispiel der polnischen Teilungen über „Tausch, Teilung und Länderschacher“ als Methode zur Bewahrung des Gleichgewichts im Europa der Aufklärung.115 Die Delegierten der Mittelmächte in Brest begriffen nicht, dass diese Epoche gerade endete. Auch in diesem Sinn sind die Brester Verhandlungen und Verträge sowohl Beleg für den Gipfel des imperialen Denkens als auch ein – wenn auch völlig vergessener116 – Meilenstein auf dem Weg der Imperien in den Untergang.

Die Januarstreiks zwangen die Regierungen der Mittelmächte zu zahlreichen Zugeständnissen und beeinflussten auch ihre Verhandlungsposition in Brest, doch ihre langfristig gravierendste Folge war der radikale innenpolitische Wandel. Bisher hatten die Machthaber auf Arbeiterproteste automatisch mit Gewalt reagiert. Die streikenden Betriebe wurden dem Militär unterstellt, die Arbeiter diszipliniert, regierungsfeindliche Positionen gnadenlos unterdrückt. Nun präsentierten sich die Arbeiter als starke, gut organisierte politische Kraft, die nicht länger gewaltsam kleingehalten werden konnte. Wie bedeutsam diese Machtdemonstration war, zeigt die auf den ersten Blick nicht mit den Streiks zusammenhängende Entscheidung Berlins, endlich auch die fatalen Lebens- und Arbeitsbedingungen ausländischer Arbeiter zu verbessern. Zumindest für kurze Zeit hielten selbst Betonköpfe wie Ludendorff und 267

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Hindenburg, die inzwischen nicht mehr nur die Armee, sondern die ganze deutsche Wirtschaft lenkten, die Zufriedenheit der Arbeiterklasse für eine notwendige Voraussetzung für das Funktionieren der Kriegsmaschinerie. Das größte Kontingent an Zwangsarbeitern bildeten Polen, überwiegend aus dem besetzten Königreich. Sie waren zwar formell keine Kriegsgefangenen (ein Teil von ihnen erhielt den recht unklaren Status „internierter Zivilgefangener“ 117), doch sie hatten in der Praxis nicht die Möglichkeit, Arbeit abzulehnen, Verträge zu kündigen und nach Hause zurückzukehren. Schon Ende 1917 war die Einrichtung einer Instanz beschlossen worden, die ihre Situation prüfen und gegebenenfalls zu Verbesserungen beitragen sollte, doch konkrete Schritte wurden erst nach der Streikwelle Anfang 1918 unternommen. Der in Berlin ansässige polnische Industrielle Karol Rose gehörte als Experte einer der zuständigen Regionalkommissionen an. Wegen seiner allzu kritischen Haltung gegenüber den deutschen Arbeitgebern blieb er nicht lange im Amt, doch zuvor konnte er einige große Landgüter sowie die zum BASF-Konzern gehörenden Leunawerke besichtigen. Roses Aufgabe bestand in der Befragung der dort beschäftigten polnischen Arbeiter. Diese klagten im Gespräch mit dem polnischsprachigen Kommissionsmitglied großenteils über dieselben Dinge, unter denen auch ihre deutschen Kollegen litten: Hunger und gelegentlich Schläge. Offensichtlich und eindeutig diskriminierend waren hingegen die Umstände, unter denen man sie zu wohnen zwang: Wir sahen schreckliche, ja makabre Bilder. Manche Arbeiterfamilien hausten in Lehmhütten ohne Fußboden, Vater, Mutter und Kinder lagen auf dem feuchten Lehm, von den Wänden tropfte das Wasser. Wenn das offene Feuer erlosch, war es dort so kalt, dass die Menschen sich gegenseitig wärmen mussten, weil es keine Öfen gab. Wir erblickten Menschen mit abgestumpftem Gesichtsausdruck, die von den dantesken Leiden zeugten, die diese armen Schlucker seit Monaten oder gar Jahren durchmachten.118 Der Eifer bei der Verbesserung der Arbeitsbedingungen der Zwangsarbeiter verflog schnell. Die überaus kritischen Berichte von Experten wie Rose bewegten die deutschen Behörden dazu, die gesamte Aktion unter den Teppich zu kehren. Wenn überhaupt Korrekturen vorgenommen wurden, dann so, dass niemand auf die Idee kam, der Anstoß dazu sei von außen gekommen. Keine Verbesserungen gab es für die in Bergwerken und Fabriken beschäftigten Kriegsgefangenen. Ihre Löhne und Nahrungsmittelrationen wurden auf der Grundlage der Normen für freie Arbeiter berechnet und um diverse, mehr oder weniger fiktive indirekte 268

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Kosten reduziert. Um Unmutsausbrüche zu verhindern, wurden die Arbeiter dieser untersten Kaste streng von der Polizei kontrolliert; ihnen war untersagt, mit Zivilisten Kontakt aufzunehmen, sich ohne Begleitung einer Wache vom Arbeitsplatz zu entfernen oder Einkäufe zu tätigen; zudem unterlagen sie einer strikten Prohibition.119

Die Bucht von Kotor Die große Streikwelle in den Industriezentren Österreich-Ungarns lähmte nicht nur die Kriegsproduktion, sondern betraf die Streitkräfte auch unmittelbar. Am 1. Februar 1918 kam es am Marinestützpunkt in Kotor am Fuß des montenegrinischen Berges Lovćen zum größten Aufstand österreichisch-ungarischer Matrosen. Der revoltierenden Besatzung des Panzerkreuzers Sankt Georg schlossen sich rasch Matrosen anderer Schiffe an. Die Meuterer verdeutlichten ihren Standpunkt durch drei Flaggen: Die k. u. k. Flagge blieb an ihrem Ort, doch neben ihr hisste man eine rote, die Solidarität mit den Arbeitern signalisierte, und eine weiße, die den Wunsch nach einem schnellstmöglichen Frieden ausdrückte. Einige Offiziere wurden von den Besatzungen festgesetzt, ein Teil blieb aber auf freiem Fuß, was die Wirkung des Aufstands erheblich schwächte. Der Kommandant der Kreuzerflottille Konteradmiral Alexander Hansa nahm Verhandlungen mit dem Vertreter der Matrosen Anton Grabar auf. Wie er im ersten Bericht über die Ereignisse feststellt, hatten die Meuterer kein konkretes Programm: Der vorerwähnte Matrose Grabar, momentan scheinbar der Wortführer, verlangte in höchst erregtem Tone, zeitweise von den Leuten sekundiert, nach sofortigem Frieden und Entlassung, weil die Leute nicht mehr weiter Dienst machen können und sie und ihre Familien verhungern würden. Es wurden auch weitere nebensächlichere Wünsche laut, wie Menageaufbesserung, bessere Bekleidung, Urlaubsvermehrung etz.120 Erst gegen Abend erarbeiteten die Matrosen eine Liste von neun Forderungen, darunter die Loslösung der Monarchie von Deutschland, die Aufnahme von Friedensverhandlungen mit den USA, die Demokratisierung des Landes, die Verlängerung von Urlauben, der Verzicht auf anstrengende Manöver und Übungen, die gerechte Verteilung der Verpflegung zwischen Besatzung und Offizieren, die Abschaffung der Zensur und die Lieferung von Zigaretten. Außerdem forderten die Matrosen Straffreiheit für die Beteiligten der Meuterei. Die k. u. k. Führung verfolgte jedoch andere Pläne. Schon am ersten Tag des 269

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Aufstands wurden an Land in der Nähe des Hafens alle verfügbaren Artillerieeinheiten zusammengezogen. Die streikenden Matrosen wurden in einem Ulti­matum zur sofortigen Wiederaufnahme des Dienstes aufgefordert. Am 2. Februar zeigte sich, dass die Armee es ernst meinte. Die Besatzung der betagten, zum Küstenschutz eingesetzten Kronprinz Erzherzog Rudolf wurde beim Versuch, sich der revoltierenden Flottille anzuschließen, vom Land aus beschossen. Noch am selben Tag holten einige Schiffe die roten und weißen Flaggen ein und beendeten den Protest. Der Rest folgte am 3. Februar angesichts des drohenden Beschusses durch deutsche U-Boote, die inzwischen in der Bucht eingetroffen waren. Das war das Ende des Aufstands. Die Matrosen versuchten noch, die sozialdemokratischen Abgeordneten in Wien sowie Mihály Károlyi zu kontaktieren. Sie hatten allerdings keine Funkverbindung mehr und die Offiziere vor Ort zeigten nicht das geringste Verständnis für die Motive ihres Vorgehens. Der Aufstand in der Bucht von Kotor endete mit der vollständigen und bedingungslosen Kapitulation der Matrosen. Mehr als 400 Seeleute kamen vor ­österreichisch-ungarische Kriegsgerichte. Zu ihrem Glück wurden vor dem Untergang der Monarchie keine Urteile gesprochen. Die vier Anführer des Aufstandes hingegen wurden eine Woche nach Beendigung der Verhandlungen erschossen. Lernte die k. u. k. Armee aus den überraschenden und bedrohlichen Ereignissen? Der Bericht von Konteradmiral Hansa lässt daran zweifeln. Hinsichtlich der Ursachen des Aufstands vermerkt er zwar, dass Briefe aus der Heimat, die das Elend im Hinterland schilderten, den Matrosen den Anstoß zum Handeln gaben. Letztlich verfällt Hansa aber in alte Denkschablonen und sieht den Auslöser in einer tschechischen Intrige. Er betont, einer der Exekutierten sei Tscheche gewesen (obwohl Franz Rasch in Wirklichkeit Deutschböhme war), und greift damit Gerüchte über ein Prager „Komitee“ auf, das angeblich die tschechischen Matrosen lenkte, denen sich dann Kroaten und Italiener anschlossen. Die Hierarchie der Nationalitäten wurde durch die (absolut haltlose) Versicherung abgerundet, Deutsche und Ungarn seien wie immer treu geblieben, weshalb der Aufstand ohne größere Verluste hätte niedergeschlagen werden können.121 Der Versuch des Militärs, die Hauptverantwortung auf die illoyalen Tschechen abzuwälzen, stand nicht nur im Widerspruch zu den Tatsachen, sondern erwies sich auf etwas längere Sicht sogar als kontraproduktiv: Statt die Loyalität von Deutschen und Ungarn zu stärken und die Slawen einzuschüchtern, wur270

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de er für alle Volksgruppen zum Beleg des Realitätsverlusts der Machthaber. Im Frühjahr 1918 kehrten gemäß der Brester Vereinbarungen immer mehr Kriegsgefangene aus Russland in ihre Einheiten zurück. Fast umgehend kam es in den Garnisonsstädten der Monarchie zu Aufständen, in denen die Heimkehrer oft die Hauptrolle spielten. Die Protestbewegung hatte internationalen Charakter. In der Steiermark plünderten revoltierende Soldaten die Stadt Judenburg. Im nahen Murau ermordeten slowenische Rekruten mehrere Offiziere. Größere Unruhen gab es auch im tschechischen Rumburk und in Pécs sowie in Kragujevac im besetzten Serbien. Dabei waren Parolen in allen Sprachen der Monarchie zu hören. Die Armee setzte weiter auf Gewalt. Die Proteste wurden niedergeschlagen, die Anführer exemplarisch bestraft. Öffentliche Hinrichtungen sollten die ­Disziplin stärken, kosteten den Staat aber Ansehen und Sympathie bei der Bevölkerung. Die düsteren Schauspiele hatten unerwartete Folgen. In Pécs verwandelte sich die Urteilsvollstreckung entgegen den Plänen der Führung in einen Rummel, lokale Gastronomen verkauften Bratwurst und Bier an die Schaulustigen. In Rumburk applaudierte das deutsche Publikum dem Exe­ kutionskommando, weil man sich freute, dass es Tschechen erschoss. In ­Kragujevac wiederum folgte den Verurteilten eine bewegte Menge. Kriegsgeliebte fielen den Rebellen, laut klagend, um den Hals. Nachdem das bosnische Exekutionskommando die letzten Opfer erschossen hatte, herrschte niedergedrückte Stille.122 Die Obrigkeit, die noch immer zu töten vermochte, verlor allmählich die Kontrolle über die Lebenden.

Die zahlreichen Streiks und Revolten in Deutschland und Österreich-Ungarn in der zweiten Jahreshälfte 1917 und Anfang 1918 zogen weitreichende Konsequenzen nach sich. Im März 1918 brachen in Ungarn erneut Massenproteste aus. ­Einen für den 1. Mai angekündigten Generalstreik konnten die Machthaber noch verhindern, die aktivsten Anführer wurden zwangsrekrutiert und an die Front geschickt.123 Im Herbst 1918 erhob sich kurz vor dem Zerfall Österreich-Ungarns in Tschechien eine neue Protestwelle. Auch die politischen Vertreter der Nationalbewegungen, die nach dem Zerfall der Imperien die Macht übernehmen wollten, hatten offenbar ihre Schlüsse aus der Lektion gezogen, die die Arbeiterklasse den Mittelmächten erteilt hatte. Auf die nach 1918 ausbrechenden Streiks behandelten sie diese jüngst erwachte, überaus bedrohliche Kraft mit enormer Vorsicht. An vielen Orten riss die Serie der kriegsbedingten Streiks bis Anfang der 1920er Jahre nicht ab; mehr noch, Protest erhob sich auch in agrarisch ge271

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prägten Regionen oder in Städten, in denen der Krieg zur Deindustrialisierung geführt hatte. Die von den Mittelmächten besetzten Gebiete hatten schon vor dem Krieg nicht zu den meistindustrialisierten Regionen gehört. Das Königreich Polen und die Ostseegouvernements, die in dieser Hinsicht am besten entwickelt waren, erlebten zunächst die Evakuierung und Zerstörungen der zurückweichenden Russen und anschließend die planmäßige Demontage in Verbindung mit der Requisition von Rohstoffen, die selbst Unternehmern ein normales Arbeiten unmöglich machte, die die Produktion wieder hätten aufnehmen können. Eine wichtige Ausnahme bildeten die Bergwerke des Dombrowaer Kohlebeckens, wo die deutsche Verwaltung den Abbau auszuweiten versuchte. Die Historiker schätzen, dass im ganzen Königreich Polen nach 1915 höchstens ein Drittel der Industriearbeitsplätze erhalten blieb.124 In den Ostseegouvernements erlebte die Gegend um Riga als die am besten entwickelte Region den dramatischsten Niedergang. 1917 schlug selbst das derart dezimierte und streng überwachte Proletariat denselben Weg wie die Arbeiter in Pilsen ein. Ein Bericht des k. u. k. Generalgouvernements schätzte die Lage im deutschen Besatzungsgebiet als ernst ein: Es wurde bereits im vorigen politischen Berichte auf das Bestehen einer Gärung sowie auf einzelne Folgeerscheinungen derselben (Streik in Metall­ fabri­ken in Warschau, Ruhestörungen in Noworadomsk, Widersetzlichkeit gegen obrigkeitliche Organe etc.) hingewiesen. Ähnliche Erscheinungen sind auch weiterhin zu vermerken. So sind am 11. April in Warschau zwei Fabriken, dann die Werkstätten der Wien-Warschauer Bahn und andere Eisenbahn­ werkstätten in den Ausstand getreten. Der Umstand, dass einzelne Streiks (die Gesamtzahl der Streikenden soll sich auf ungefähr 3500 Mann belaufen haben) noch immer nicht beigelegt wurden, trotzdem eine größere Anzahl der Anführer durch die Deutschen verhaftet und in Internierungslager untergebracht wurde, beweist die Organisationsfähigkeit und Solidarität der Strei­ kenden. Im Übrigen muss betont werden, dass es sich vorläufig um eine nur auf ökonomischer Basis fußende Bewegung handelt, die von rein sozialdemokratischen Organisationen geleitet wird. Nach erhaltenen Informationen muss aber festgestellt werden, dass eine Prädisposition für die Unterstützung einer solchen Bewegung auch bei den radikalen politischen Parteien zu finden ist und gewiss einen Widerhall in den breiten Massen der Bevölkerung finden würde.125 272

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Unter dem Einfluss der Nachrichten aus Deutschland und Österreich-Ungarn kam es auch im Januar und Februar 1918 in den besetzten Gebieten zu Streiks und Demonstrationen unter dem Motto „Brot und Frieden“. Entsprechend der Größe der lokalen Arbeiterklasse hatten sie zwar ein geringeres Ausmaß, der Verlauf und die Parolen waren aber dieselben. Schon damals bemerkten aufmerksame Beobachter einen Wandel. Bisher hatten die Arbeiterproteste – wie die Kundgebungen im Inneren der Imperien – auf die Erzwingung einer Verbesserung der Versorgungssituation und der Arbeitsbedingungen abgezielt. Die Warschauer Proteste im Januar 1918 besaßen bereits deutlich politischen Charakter. Mit der Politisierung des Protests ging die Aufsplitterung einher. Nun handelte es sich nicht mehr um den gemeinsamen Kampf aller Arbeiter, sondern um eine Reihe konkurrierender Proteste mit recht unterschiedlichen Zielen: In Warschau, also dem Ausgangspunkte der Streikbewegung, hatte der Streik am ersten Tage (19.1) mehr ein soziales Gepräge, wenn auch schon an diesem Tage die PPS-Rechte mit politischen Losungen hervortrat. Als Ver­anstalter dieses Streiks sind die SDKPiL und PPS-Linke zu nennen, denen sich auch der NZR anschloss; alle vier Parteien gaben an diesem Tage Auf­rufe heraus, wobei sich die Argumentation für die Notwendigkeit des Streiks nach den oben erörterten Gesichtspunkten, also vernehmlich nach politischen und nur seitens der PPS-Linken und der SDKPiL auch nach wirtschaftlichen Gesichts­ punkten richtete. […] Wenig Eindruck machte der am Sonntag den 20.1 durch die jüdische sozialistische Organisation Bund inszenierte Streik. Dieser stellte sich auf rein soziale Grundlagen und erstreckte sich hauptsächlich auf die jüdische Arbeiterschaft. Dagegen hatte einen rein politischen Charakter der Streik, den die PPS-Rechte am 21.1 organisierte. Auch dieser Streik war kein allgemeiner. Den größten Erfolg sah die PPS-Rechte darin, dass die Arbeiter sämtlicher Fabriken, die unter deutscher Verwaltung stehen, in Ausstand getreten waren. Dieser letzte Streik war, wie bereits erwähnt, lediglich unter ­politischen Losungen durchgeführt worden, er galt als Protest gegen die Okku­­pa­tion, sowie gegen die unterwürfige „Diplomatie“ des Regent­schafts­ rates und der polnischen Regierung im Verhältnisse zu den beiden Zentral­ mächten.126 Am effektivsten wussten die sozialistischen Anhänger Józef Piłsudskis die Unzufriedenheit der Arbeiter für den politischen Kampf zu nutzen. Dass der Anführer der Bewegung in Deutschland in Haft saß, verlieh ihm sicher zusätzliche Glaubwürdigkeit. In den besetzten Gebieten scheinen sich die Proteste eher als im 273

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deutschen und österreichisch-ungarischen Hinterland politisiert zu haben. In Wien, Prag, Budapest oder Krakau war die Regierung, gegen die man demonstrierte, immerhin die eigene. Im von den Mittelmächten besetzten Königreich Polen konnten die Agitatoren den sozialen Konflikt leichter als integralen Teil des Kampfes für die Befreiung von fremder Herrschaft darstellen. Dies bekamen die deutschen und österreichisch-ungarischen Besatzer schon Anfang Februar 1918 zu spüren, als eine Welle von Protesten gegen den Brester Vertrag mit der Ukrainischen Volksrepublik durch die polnischen Gebiete schwappte. Der Regentschaftsrat äußerte seine Empörung darüber, dass das ehe­malige Gouvernement Cholm der Ukraine zugeschlagen wurde, polnische Politiker in Wien und Lemberg legten demonstrativ ihre Ämter nieder und revoltierende Einheiten unter der Führung von Józef Haller schlugen sich (nach einem blutigen Kampf gegen ein kroatisches Infanterieregiment) auf die russische Seite der Front durch. Die polnische Fraktion im Wiener Staatsrat verkündete, das Ziel der polnischen Politik sei ab sofort die volle Unabhängigkeit des ungeteilten ­Vaterlandes. Arbeiterrevolten erwiesen sich als überaus geeignetes Mittel des nationalen Protests, was für die Mittelmächte eine unangenehme Überraschung war. Aus Wiener oder Berliner Sicht war die Logik dieser Verknüpfung schwer zu begreifen. Noch im Januar hatten polnische Arbeiter mit ihren Kollegen aus Tschechien, Österreich und Deutschland Frieden und Brot gefordert. Wenige Wochen später, nachdem sowohl ein Frieden als auch Lieferungen ukrainischen Getreides ausgehandelt worden waren, kam es statt zur Beruhigung der Lage zu einem neuen Ausbruch der Unzufriedenheit, teils unter Beteiligung derselben Arbeiter. Zudem wuchs im Zuge der Politisierung die Teilnehmerzahl der einzelnen Manifestationen. Schon am 12. Februar demonstrierten in Lublin rund 15 000 Menschen: Aus den, während des Umzuges getragenen Aufschriften und aus den ge­ haltenen Reden war zu entnehmen, dass gegen die beiden okkupierenden Staaten keine freundliche Stimmung herrscht. Hierbei ist auch trotz der Versicherung der Führer der sozialistischen Partei, dass die Demonstration einen ruhigen Verlauf haben wird, gerade in der Gruppe dieser Partei zu dem beklagenswerten Vorfalle gekommen, dass Bilder beider Majestäten durch ein Individuum (halbwüchsiger Bursche) welches bis nun noch nicht eruiert werden konnte, verbrannt worden.127 Im Februar 1918 wurde der Arbeiterprotest zum Teil der nationalen Demonstration der Unzufriedenheit mit der Politik der Großmächte. Am 18. Februar brach 274

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in Galizien ein Generalstreik aus. Der Protest vereinte Beamte, Freiberufler und Arbeiter; mit dem klassenkämpferischen Streik in den Škoda-Werken hatte er kaum noch etwas gemeinsam: Nach dem Rücktritt der Regierung organisierte man in Warschau Straßen­ manifestationen. In österreichischen und deutschen Ämtern wurden Schei­ ben eingeschlagen. Am 13. Februar gab es abends eine feierliche Sitzung des Warschauer Stadtrats, der die neue Teilung Polens verurteilte. Der General­ gouverneur verhängte dafür eine Kontribution von 250 000 Mark gegen die Stadt. Am 14. Februar kam das Leben in Warschau zum Erliegen: Die Straßen­ bahnen fuhren nicht; Fabriken und Werkstätten stellten die Arbeit ein; Läden, Restaurants und Cafés blieben geschlossen; Banken, Büros und Sozialein­ rich­tungen desgleichen; in allen Arten von Schulen wurde der Unterricht ausgesetzt; Theater und Kinos strichen alle Vorführungen; die Volksmassen strömten auf die Straße, um zu manifestieren. Bei einem Angriff der deutschen Armee gab es einige Dutzend Verletzte.128 Der solidarische Charakter der Massenproteste anlässlich des Brester Vertrags sollte allerdings eine Ausnahme bleiben. Die Politisierung der Bewegung, die aus existenziellen Forderungen der Arbeiterschaft erwachsen war, schweißte die verschiedenen Klassen und sozialen Gruppen keineswegs zu einer gemeinsamen Front zusammen. Im Gegenteil, die Streiks und Demonstrationen standen zunehmend im Dienst von Partikularinteressen. Schon die Februarmanifestationen weckten den Protest des linken Flügels der polnischen Arbeiterbewegung, der sich in der Parole „Schluss mit dem Unabhängigkeits-Theater“ 129 artikulierte. Ab diesem Zeitpunkt waren Streiks nicht mehr nur ein Instrument des Kampfs um Arbeiterrechte, sondern auch der Konkurrenz zwischen einzelnen politischen Lagern oder auch Berufsgruppen. Der Sturz der drei Kaiser änderte daran verblüffend wenig. In allen Staaten Ostmitteleuropas und des Balkans griffen einzelne soziale Gruppen oder mitunter auch kleinere Interessengruppen so häufig zu diesem Mittel, dass der Streik fast zur Norm wurde. Er erfasste auch Gebiete, von denen ihn die polizeiliche und militärische Kontrolle der kaiserlichen Armeen bislang ferngehalten hatten – vor allem das Land. Bis zu den 1920er Jahren wurde der ländliche Raum in den baltischen Staaten, Polen, Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien regelmäßig von Landarbeiterstreiks erschüttert. Bisweilen handelte es sich wie etwa in Masowien an der Jahreswende 1918/19 um sogenannte schwarze Streiks, was bedeutete, dass das Vieh auf den Gutshöfen kein Futter bekam. 275

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Früher oder später streikte ohnehin jeder. So legten im Januar 1919 die Bäcker in Kielce die Arbeit nieder, was wiederum die hungernden Arbeiter aufbrachte. In Krakau protestierten im März die Insassen des Gefängnisses Montelupich. Ebenfalls im März streikten in Lodz zwei Wochen lang die Hausmeister. Im Dombrowaer Kohlebecken protestierten die Bergmänner sowohl 1919 als auch 1920 mehrfach. Rumänien wurde 1918 von einem Streik der Eisenbahner lahmgelegt; etwa zur selben Zeit stand in Lodz und Warschau der Nahverkehr still. Während die tschechoslowakische Armee in der Slowakei gegen die ungarischen Kommunisten kämpfte, streikten im Ostrauer Revier Bergleute und Hüttenarbeiter. Einige Wochen später stand Ostrau wieder still, diesmal infolge des Gerüchts, dass die Westmächte das Olsagebiet Polen zuschlagen wollten. Ähnliche Motive hatte im Januar 1920 der Protest der deutschen Eisenbahner in Kattowitz. Im Dezember 1919 streikte das galizische Erdölrevier, wenige Wochen später streikten die Posener Setzer, denen sich im Februar die Drucker anschlossen. Gleichzeitig legten in Lodz die Straßenbahnfahrer die Arbeit nieder. Auch Staatsbedienstete, selbst uniformierte und bewaffnete, nutzten diese Verhandlungsmethode. Anfang 1920 erklärten die tschechoslowakischen Legionäre ihre Streikbereitschaft – aus Unmut über ihre angekündigte Entwaffnung und partielle Eingliederung in die reguläre Armee des jungen Staates. Während der ersten ungarischen Revolution, die Károlyis liberale Regierung an die Macht brachte, verweigerte die gegen die Demonstranten in Stellung gebrachte Polizei zunächst den Einsatz, um eine bessere Versorgung durchzusetzen, und gründete anschließend eine eigene Gewerkschaft, bevor sie schließlich gemeinsam mit Briefträgern und Telefonistinnen auf die Seite der Revolution überlief.130 Dies war längst nicht der originellste Streik der damaligen Zeit. Im Januar 1919 legte auf Initiative der sozialistischen Gewerkschaften das Pflegepersonal in der Klinik für psychisch Kranke in Tworki bei Warschau die Arbeit nieder. Weil die überraschte Obrigkeit nicht alle Streikforderungen umgehend erfüllen konnte, griff sie zu einer außergewöhnlichen Maßnahme und entsandte Soldaten nach Tworki, die vorübergehend die Aufgaben der Pflegekräfte übernahmen.131 Die Bedingungen der Streikenden bildeten mitunter eine überraschende Mischung aus politischen Parolen und der Forderung nach Befriedigung der grundlegendsten materiellen Bedürfnisse. Manche Proteste erklärten auf Transparenten ihre Unterstützung für den „ersten Arbeiter- und Bauernstaat“ oder für das zweite derartige Experiment – die Ungarische Räterepublik. Trotz der Radikalität der Parolen sollte man den Organisationsgrad der Manifestationen nicht überschätzen. In einem gewissen Maß schwächte die Allgegenwärtigkeit von 276

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Protesten ihre Wirkung. Überdies litten die revolutionärsten Gebiete des früheren russischen Imperiums infolge der russischen Evakuierung und der deutschen Deindustrialisierung unter allgemeiner Arbeitslosigkeit. Dementsprechend waren die Teilnehmerzahlen von Arbeiterprotesten geringer als sie es vor 1915 ­hätten sein können. Unter den neuen Bedingungen brachten selbst große und radikalisierte Industriezentren keine mit dem Streik der Pilsener Arbeiter ver­ gleich­­bare Protestaktion zustande. In Żyrardów beschäftigte die Industrie vor dem Krieg weit über 10 000 Menschen. Im November 1918 übernahm vorübergehend ein Arbeiterrat die Macht, der sogar einen Teil der von den zurückweichenden Deutschen zurückgelassenen Waffen an sich nehmen konnte. Trotzdem spielten in den Protesten von März und Mai 1919 nicht die Arbeiter, sondern die Arbeitslosen die Hauptrolle. Am 12. und 13. [März] organisierten linksradikale Parteien – SP, Bund, eine PPS-Fraktion – in Żyrardów eine Reihe von Kundgebungen und Mani­fes­ta­ tionszügen. An einem dieser Züge nahmen über 1000 Personen teil – überwiegend Juden und Frauen. An der Spitze des Zuges ritten vier Arbeiter mit roten Schärpen. Man trug Banner mit den Parolen „Tod den Bourgeois und Kapitalisten! Es lebe die Revolution!“ und ein Banner mit einer jüdischen Aufschrift. Man skandierte linksradikale Losungen, schmähte Armee und Regierung. In der Wisłocka-Straße, wo der Zug stoppte, sprach jemand auf Russisch zur Menge, dann hielt das Mitglied des Arbeiterdelegiertenrats Choiński eine linksradikale Rede. Immer wieder gab es Rufe: Es lebe Lenin! Es lebe Trotzki! Nieder mit der Armee, nieder mit der Gendarmerie!132 Die Behördenberichte lassen vermuten, dass die Proteste mit der Zeit die Züge eines Rituals annahmen. Von manchen Kundgebungen lässt sich nichts weiter sagen, als dass die Teilnehmer ihre allgemeine Unzufriedenheit zum Ausdruck brachten. So kam etwa eine Demonstration in Słupca in Großpolen ohne jegliche konkrete Forderungen aus: In Słupca (Kreis Kalisz) versammelten sich rund 300 Menschen mit einer roten Fahne unter Gesängen und Rufen vor dem Sitz der Regierungskommission; die Menge stellte keine Forderungen. Anlass der Unruhen war die allgemeine Unzufriedenheit über die Anordnungen der Kreisbehörden, die schlechte Arbeit der Sicherheitsbehörden und das Fehlen von Arbeit.133 In anderen Fällen verfolgten die Demonstrationen und Streiks sehr konkrete ­Ziele. Meist forderte man schlicht höhere Löhne. Die Obrigkeit, die um jeden 277

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Preis eine Revolution verhindern wollte, gab nach und befriedigte die finanziellen Ansprüche, indem sie neues Geld drucken ließ. Schwerer war die Forderung nach besserer Versorgung zu erfüllen. Dafür streikten im Oktober 1920 fast alle Betriebe in Lodz für 24 Stunden, rund 80 000 Arbeiter beteiligten sich an der Demonstration.134 Diese Ritualisierung der Proteste und finanziellen Zugeständnisse erklärt zum Teil die nach dem Krieg in der Region grassierende Inflation und Hyperinflation. Mitunter belegen die Forderungen, mit denen man in den Kampf für die Rechte der Arbeiter zog, weniger die Gewichtigkeit der politischen oder ökonomischen Probleme als die wachsenden Kommunikationsschwierigkeiten zwischen den sozialen Gruppen. Unter normalen Umständen hätten sich viele Fragen sicher im Dialog zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern klären lassen. Mit der spätestens ab 1917 zunehmenden Verschärfung der sozialen Konflikte wurde jedoch der Protest die normale Form zur Artikulation der eigenen Standpunkte. So forderten etwa die Stallknechte in Nordmasowien: 1. Die Verlegung von Holzfußböden anstelle von Lehm. 2. Die Anbringung von Fensterklappen zum Lüften der Wohnungen. 3. In Zukunft den Bau von zwei Wohnräumen für eine Familie.135 Vielleicht hatte General Jan Jacyna recht mit seiner Einschätzung des 1.-MaiMarschs 1919 in Wilna: Beim Anblick der vorüberziehenden Menge drängt sich der Gedanke auf, dass viele dieser guten Seelen sich unter dem Einfluss einer gewissen Hypnose oder eines Zwangs hier einfanden, und wer weiß, ob nicht ein Teil von ihnen auch bei der Kundgebung zum 3. Mai wieder dabei sein und mit der gleichen Inbrunst patriotische Hymnen singen wird.136 Streiks und Demonstrationen dienten zunehmend zum Ausdruck allgemeiner Unzufriedenheit sowie zur Artikulation einfachster Bedürfnisse. Sie wurden auch zur Waffe im Kampf der Parteien und Fraktionen um die Führungsrolle innerhalb der Arbeiterschaft. Die spektakulärste Instrumentalisierung des Missmuts unter den Arbeitern im Parteien- oder gar Fraktionen-Kampf ereignete sich Ende 1920 in der Tschechoslowakei. In der dortigen sozialdemokratischen Partei konkurrierten seit Längerem der gemäßigte Flügel, der die Regierungen der jungen Republik stützte, und die Linke, die der von Moskau kontrollierten Dritten Internationalen beitreten wollte. Im September 1920 übernahm die von Bohumír Šmeral, dem Vorkriegsführer der Sozialdemokratie, unterstützte Linke das Pra278

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ger Hauptquartier der Partei mitsamt der im Gebäude befindlichen Druckerei, in der die sozialdemokratische Parteizeitung Právo lidu hergestellt wurde. Die – zumindest vorübergehend – siegreiche Linke ersetzte dieses durch die von Šmeral redigierte Zeitung Rudé právo. Die unterlegene Fraktion klagte vor Gericht gegen die „Putschisten“ (ein Beleg für die rasche Stabilisierung der Tschechoslowakei nach Kriegsende). Im Dezember 1920 fiel das Urteil, dem zufolge das Gebäude mitsamt der Druckerei der bisherigen Führung der Sozialdemokraten zurückgegeben werden musste; die Polizei besetzte das strittige Gebäude. Die Linke rief daraufhin einen Generalstreik aus, der allerdings nicht das ganze Land erfasste – in den größeren Städten gab es keine ernsteren Beeinträchtigungen –, sondern sich auf kleinere, von den Linken dominierte Industriezentren konzentrierte.137 Das Zentrum der Bewegung lag im mittelböhmischen Kladno. Dort gab es Auseinandersetzungen zwischen streikenden Arbeitern und Armee sowie Polizei und den Großteil der landesweit rund 3000 Verhaftungen. Die wegen des illegalen Streiks Verurteilten saßen etwas mehr als Jahr in Haft. Im Januar 1922 wurden sie von Präsident Masaryk amnestiert. Zu dieser Zeit offenbarte sich auch eine langfristige Folge des Konflikts in der Sozialdemokratie. 1921 gründete die rebellierende Linke eine eigene kommunistische Partei. Das schwer geprüfte Kladno wurde zu einer ihrer Hochburgen. Die Erfahrung des Dezemberstreiks mobilisierte nicht nur die Arbeiter vor Ort, sondern half den Kommunisten auch im Wettbewerb mit den bisher vorherrschenden Sozialdemokraten. Nach 1917 waren Streiks und Demonstrationen von Arbeitern und Landarbeitern eine allgemein verbreitete Erscheinung in ganz Ostmitteleuropa und auf dem Balkan. Das in den Kriegsjahren aufgestaute Potenzial an Misstrauen und Feindseligkeit zwischen den sozialen Schichten war damit keineswegs erschöpft. In der ländlichen und kleinstädtischen Provinz manifestierte sich die Radikalisierung der sozialen Konflikte weitaus häufiger in Form von Unruhen und Krawal­ len. Auch in dieser Hinsicht spielten die tschechischen Gebiete eine Vorreiterrolle. Wenige Wochen nach dem großen Streik in den Škoda-Werken war Pilsen Schauplatz einer der ersten und zugleich größten Revolte. Dann ergoss sich eine Welle von Unruhen über das ganze Land. Rudolf Kučera verweist auf ihren volkstümlichen Charakter: Sie waren Ausdruck der „moralischen Ökonomie“ der arbei­ tenden Mehrheit, die sich über die Ungerechtigkeit des Kriegskapitalismus empörte. Es kam zwar auch zu Plünderungen von Läden und Lagerstätten, doch typisch waren andere Formen des Ungehorsams, etwa die Verteilung von geraubten Waren oder die Zerstörung von Luxusgegenständen. Mit den vereinzelten Fällen von Raub ließ sich diese Form des Widerstands nicht hinreichend erklären. 279

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Die gewaltsam in die Zentren tschechischer Städte eindringenden Arbeiter kündeten vom Ende der bisherigen Ordnung. Sie forderten nicht nur den Staats­ apparat, sondern auch das Bürgertum heraus. Ende Juni, Anfang August wurde Oberschlesien von den Unruhen erfasst. Die Plünderungen in Gleiwitz und Schwientochlowitz verliefen nach dem gleichen Muster. Die Demonstranten raubten nicht nur, sondern verteilten die Waren nach eigenem Gerechtigkeitsempfinden an Ort und Stelle. Nach diesen Ereignissen mussten sich fast 1000 Angeklagte vor schlesischen Gerichten verantworten.138 In Regionen, in denen die Mittelschicht kleinerer Städte sehr oft einer anderen Nationalität und Konfession als die Bevölkerung der umliegenden Dörfer angehörte, hatten die Unruhen mitunter Pogromcharakter. Die „moralische Ökonomie“, die sich in der Erniedrigung der Besitzenden und der Umverteilung von Gütern manifestierte, hatte in diesem Kontext ein besonderes Kolorit. Die Staaten, zumal die nach 1918 entstandenen, standen vor einer der wichtigsten Reifeprüfungen, nämlich vor der Aufgabe, die Volksgerechtigkeit mit der Aufrechterhaltung der sozialen und ökonomischen Ordnung in Einklang zu bringen. Zur Jahreswende 1918/19 wurden in allen Ländern der Region Überfälle auf Lebensmittel- und andere Lager zur Gewohnheit. Die Täter waren oft Soldaten, die von der Front heimkehrten. Die Atmosphäre dieser Umbruchzeit schildert der tschechische kommunistische Schriftsteller Ivan Olbracht am Beispiel eines Dorfs in der tiefsten Karpatenukraine: Es wurde Frieden. Aber, lieber Gott, was war das für ein Frieden! Und dafür hatten sie auch noch vor den Ikonen geklagt und gebetet? Irgendein Teufel hatte die Leute besessen gemacht. Oder war vielleicht ein neuer Komet irgendwo erschienen? Möglich auch, daß die alten Kräfte noch immer nicht aufgehört hatten, ihre Wirkung auszuüben; denn so große Sünden gab es doch gar nicht und konnte es auch gar nicht geben, weder unter den Mächtigen noch unter den kleinen Leuten, daß Gott von all dieser Not und diesem Elend nicht genug haben sollte. Jetzt, da es wieder an der Zeit war, die Theiß hinunter zu in die Ebene zu gehen, um für Maiskörner und einen Sack Weizen zum Backen von Weißbrot zu arbeiten […], jetzt benahmen sich die Männer, als könnten sie noch immer nicht zu Verstand kommen. Aber wie hätten sie auch wissen können, was in der Welt vorging, da ihnen der Pfarrer und der Ortsvorsteher Hersch Wolf jeder etwas anderes vorlog!139 280

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Im Oktober 1918 können weder der Pfarrer noch der Ortsvorsteher den von der Front heimkehrenden Bauern die neue Ordnung erklären. Als sich herausstellt, dass der Gemeindenotar die Dorfbewohner wieder um ihre Zuteilung betrogen hatte – er handelte wie während des Kriegs, ohne daran zu denken, dass die Soldaten zurückgekehrt waren –, veranstalten die Bauern ein Pogrom. Besonders leidenschaftlich beteiligen sich die Frauen, Töchter und Mütter: „Aber nun war es vorbei mit der soldatischen Ruhe, denn hier griffen auch die Frauen ein. Rote Flecken sprangen ihnen in die Gesichter, ihre Herzen klopften bis zum Hals.“140 Männer und Frauen zerstören einträchtig alles, was sie an die verhasste Herrschaft und an reiche Juden erinnert. Am Abend streiten die betrunkenen Bauern um eine erbeutete Waffe. Zwei Männer sterben. Am Ende des für seine Mitbürger so schönen Tages dankt der älteste und klügste Mann der Familie, Hersch Lejb Wolf, Gott dafür, dass niemand auf die Idee kam, die tödlichen Schüsse könnten aus seinem Haus gekommen sein. Kurz darauf kommt eine Armeekompanie unter dem Kommando von Mendl Wolf, dem Sohn des Ortsvorstehers, ins Dorf. Die Soldaten führen eine brutale Pazifizierungsaktion durch und stellen die alte Ordnung wieder her: Die Bauern verschuldeten sich noch tiefer bei den örtlichen Wucherern als vor dem Krieg. Die Verursacher derartiger Störungen waren nicht immer demobilisierte Soldaten oder Einheimische. Ebenso gut konnten es entlassene Kriegsgefangene oder Bauern aus weiter entfernten Dörfern sein. Auch die von Olbracht beschriebene Pazifizierung durch Gendarmen war keineswegs die Regel. Oft reagierte die Obrigkeit mild; wo es möglich war, versuchte man nicht zu intervenieren und hoffte, dass sich die Dinge von selbst regelten. Aufgegangen scheint diese Taktik im Fall des Guts Jelonki, das […] von Arbeitern besetzt wurde, die Enteignung der Fabrik und der Ziegelei und eine Kriegsentschädigung fordern. Sie stehen unter dem Einfluss der Sozialdemokratie und wollen das erste kommunistische Landgut gründen.141 In Jelonki entstand keine Kolchose, obwohl die Obrigkeit passiv blieb. Man unternahm auch nichts gegen die regelmäßigen Plünderungen von Läden. Die sich häufenden illegalen Abholzungen von Wäldern blieben ebenfalls meist ungesühnt. Das Ausmaß der Rechtlosigkeit in den einzelnen Ländern Ostmitteleuropas und auf dem Balkan ist schwer zu bestimmen, doch lässt sich die Hierarchie des Chaos annähernd beschreiben. Am einen Ende wäre die Ukraine zu verorten, am anderen die Tschechoslowakei, wo der Regimewechsel insbesondere im tsche281

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chischen Staatsteil friedlich verlief. Von der Ukraine, wo an den Unruhen meist eine Armee beteiligt war, war schon die Rede. Nun interessieren uns die typischen Symptome der Missachtung des Rechts unter den verhältnismäßig zivilisiertesten Umständen. Dem vergleichsweise sanften Übergang von der alten zur neuen Ordnung verdankt sich überdies ein reiches Datenmaterial, das verallgemeinernde Schlussfolgerungen erlaubt. Dies erleichtert die Bewertung der Situation in anderen Teilen Ostmitteleuropas. Noch während des Weltkriegs verzeichnete die k. u. k. Polizei eine rasante Zunahme der Frauen- und Jugendkriminalität.142 Das war insofern wenig überraschend, als viele potenzielle männliche Täter an der Front waren und damit aus den Kriminalstatistiken des Hinterlands verschwanden. Nach ihrer Rückkehr zeigte die (nun schon tschechoslowakische) Statistik einen explosionsartigen Anstieg der Verbrechensrate. Auch dies entsprach der Logik: Die Kriegsheimkehrer vergrößerten die Gruppe der potenziellen Gesetzesbrecher. Ähnliches registrierte man seinerzeit auch in Österreich. Die überwiegende Mehrzahl der registrierten Straftaten waren Eigentumsdelikte. Einen Teil davon ignorierte die Polizei einfach, etwa die Enteignungsaktionen der Arbeiterorganisation Černá ruka (Schwarze Hand), die arme Arbeiterfamilien vor der Ausquartierung schützte und vor allem deutsche Bürger aus deren eigenen Häusern vertrieb, um tschechische Arbeiter darin unterzubringen.143 Außerhalb von Prag waren in Böhmen zwei große Plünderungswellen zu verzeichnen: im November 1918 und Mitte 1919. Der tschechische Historiker Václav Šmidrkal spricht von typischen Ausbrüchen der „Volksgerechtigkeit“ und verweist auf die spezifische Bedeutung, die die Täter Begriffen wie „Republik“ oder „Demokratie“ verliehen. „Das ist mal eine Republik!“ wurde zum freudigen Ausruf der Zufriedenheit mit dem Zustand der Rechtlosigkeit, in dem die Macht der stärksten Gruppe gehörte, die zudem von ihrem moralischen Recht auf Wiedergutmachung allen erlittenen Unrechts überzeugt war. Opfer dieser „Gerechtigkeit“ wurden die lokalen „Ausbeuter“: Laden-, Wirtshaus- und gelegentlich Gutsbesitzer. Im August 1919 nahmen Bäuerinnen aus dem Umland von Minsk bei einer Befragung durch Mitglieder der Morgenthau-Kommission überrascht zur Kenntnis, dass dieses Mal kein Akt der „Gerechtigkeit“ an den örtlichen jüdischen Ladenbesitzern vollzogen werden würde: An diesem Tag sprachen die Amerikaner mit Bäuerinnen aus der Umgebung, die nicht verhehlten, dass sie wegen jüdischer Habe nach Minsk gekommen waren. Sie waren sehr enttäuscht und böse, als sie erfuhren, dass die Soldaten den Befehl hatten, Diebe zu verhaften.144 282

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Sehr viel häufiger kam es aber tatsächlich zu Überfällen. Typisch für deren Verlauf waren die Vorfälle im osttschechischen Dorf Francova Lhota. Nach der ­Messe zog eine Gruppe Einheimischer unter kämpferischen Parolen zum Wirtshaus. Sie ließen sich Bier einschenken, ohne dafür zu bezahlen. Nach einer Weile, als sich Nachbarn aus der weiteren Umgebung hinzugesellt hatten, töteten die Gäste das Geflügel der Schankwirtin und machten sich an die Plünderung der Privaträume. Anschließend zogen sie zum nächsten Wirtshaus im nahe gelegenen Dorf Střelná. Dort schenkten sie sich zum Schlachtruf „Hej, Tschechoslowaken, auf zum Schanktisch!“ selbst Bier ein, natürlich ohne die Absicht, es zu bezahlen.145 Die Absicht, den echten und vermeintlichen Profiteuren des Kriegs Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, bildete wohl den wichtigsten Faktor dieser Unruhen. Es kam vor, dass man neben den Plünderungen die Menge Menschen, die als Wucherer oder Händler galten, auf den Marktplatz oder in die Dorfmitte trieb, um sie zu demütigen und ihnen das Versprechen abzuzwingen, dass sie künftig die Preise nicht mehr treiben.146 Bisweilen folgte die „Volksgerechtigkeit“ allerdings auch ganz anderen Motiven. Die beiden erwähnten tschechischen Wirtshäuser gehörten Juden, was die Täter sehr wohl wussten. Es ist schwer zu sagen, inwieweit die alkoholisierte Menge von sozialen Motiven, der Sühnung von echtem Unrecht geleitet wurde und inwieweit von Antisemitismus. Wesentlich leichter fällt dies im Fall der Welle organisierter Pogrome, die zunächst im Sommer 1918 und dann, ähnlich wie in der Tschechoslowakei, im Mai 1919 durch die polnischen Gebiete rollte. Die erste Serie von Übergriffen war bis zu einem gewissen Grad eine Protestreaktion gegen den Vertrag von Brest. Die hungernde Stadt- und Kleinstadtbevölkerung attackierte die Juden, die sie für die Hauptverursacher der allgemeinen Teuerung und der Versorgungsmängel hielt.147 Die zweite Pogromwelle war vor allem ein Werk der Bauern, denen man schon eher eine Verantwortung für das Elend der Städter hätte zuschreiben können. Der grundlegende Unterschied zwischen Polen und der Tschechoslowakei bestand im Ausmaß, nicht in der Art. In Polen ging es nicht um einzelne Opfer, sondern um ganze Gemeinschaften, die allenfalls in Ausnahmefällen die Gelegenheit gehabt hatten, sich am Krieg zu bereichern. Oft waren sie ärmer als ihre Verfolger, reiche Bauern aus den umliegenden Dörfern. Ihre „Schuld“ bestand allein darin, dass sie Juden waren. Die einzige Chance auf Rettung vor solchen „Akten der Gerechtigkeit“ bot das entschiedene Eingreifen von Armee oder Polizei. Am 2. Mai 1919 veranstaltete „in Miechów […] die Zivilbevölkerung ein Judenpogrom. Der Regierungskommissar konnte die Situation nicht kontrollieren; 283

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es gab zwei Tote und sieben Verletzte.“ 148 Tags darauf beruhigte sich die Situation mitnichten. Die täglichen Meldungen aus Miechów spiegeln die Dramatik der Ereignisse: In Miechów setzte die Menge um 3 Uhr morgens das Judenpogrom fort. Man traf Vorbereitungen, sie niederzumachen. Als die Gendarmerie einschritt, wurde sie mit Steinen beworfen. Ein Gendarm wurde mit einem Messer verletzt. Die Gendarmerie eröffnete das Feuer, zwei Zivilisten wurden getötet, eine Frau verwundet. Der Regierungskommissar bittet um Verstärkung.149 Mithilfe der Verstärkung konnte die Stadt schließlich pazifiziert werden. Am 4. Mai berichtete der Kommissar: In Miechów hat die Armee die Lage unter ihre Kontrolle gebracht. Gestern holte die Menge einen Juden aus dem Krankenhaus und tötete ihn. Die Betei­ ligten wurden von der Gendarmerie verhaftet.150 Die Bauern und Bürger, die in Miechów oder wenige Tage später in Kolbuszowa Pogrome verübten, handelten sicher nicht aus patriotischem Pflichtbewusstsein. In ihren Augen waren die Juden keine Verräter des polnischen Vaterlands, sondern im Gegenteil Unterstützer der Herren und Beamten. Anders als die von Soldaten oder Marodeuren veranstalteten Pogrome standen die zivilen Pogrome nicht im Zeichen der Verteidigung des Staates, sondern des Kampfs gegen dessen Ungerechtigkeit. Für die Opfer spielte dieser Unterschied natürlich keine Rolle. Für die Militärbehörden waren die Bauernunruhen jedoch eine noch größere Herausforderung als die zur selben Zeit grassierende soldatische Gewalt gegen Juden. Im Mai 1919 nahmen sie in der Gegend um Rzeszów solche Ausmaße an, dass Armeeeinheiten aus dem Olsagebiet herangezogen werden mussten, was die polnische Präsenz in dem immer noch umstrittenen Gebiet schwächte. Das größte Pogrom ereignete sich am 6. Mai in Kolbuszowa: Am Morgen begannen sich die Leute aus den umliegenden Dörfern zu versammeln. Sie wollten Pogrome veranstalten und drohten, wenn man sie nicht in die Stadt lasse, würden sie beim Eintreffen von Verstärkung aus den Dörfern die Armee angreifen. Trotz Bitten und Drohen der politischen Beamten ging die Menge nicht auseinander, sondern wuchs immer bedrohlicher an. Sie kreiste die Soldaten ein und wollte sie entwaffnen. Weil die Bauern mit Stöcken angriffen, erwiderte man mit Schüssen, bis jetzt wurden acht Tote und viele Verwundete gezählt. Aus der Armee wurden der Gendarm Szczupak und der Rekrut Guzik getötet. Die Truppen des 20. Infanterie­regi­ments muss284

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ten sich wegen ihrer geringen Anzahl ins Stadtzentrum zurückziehen. Die Menge zählte rund 8000 Menschen. Um die Menge herum wurde das Gedränge immer dichter, man riss den Soldaten die Gewehre aus den Händen, weshalb die Armee sich zurückzog, sie erwiderte die Angriffe mit Feuer und besetzte einen Gendarmerieposten, wo sie bis zum Schluss ausharrte. Ein Teil der Menge belagerte die Armee, der andere machte sich ans Plündern, man tötete gut ein Dutzend Juden und vergewaltigte ein 16-jähriges Mädchen.151

*** 1917 konnte niemand mehr ernsthaft daran zweifeln, dass der tobende Krieg wirklich ein Weltkrieg war. Gleichzeitig war er für die betroffenen Gesellschaften nicht länger eine vorübergehende Anomalität. Viele seiner Begleiterscheinungen nahmen dauerhafte Züge an. Die Rationierung von Nahrungsmitteln, Ersatzprodukte, verlängerte Arbeitszeiten in Fabriken, in denen Frauen und Kinder arbeiteten, kilometerlange Schlangen, Hunger – all das wurde im Hinterland zum Alltag. Die neue Normalität erforderte die Errichtung einer neuen sozialen Hierarchie, eine neue Einteilung von Privilegierten und Benachteiligten. Der allgemeine Mangel verschärfte die Unterschiede zwischen den Gruppen, da sich keine deutlichere Trennlinie als die zwischen Menschen mit und Menschen ohne Zugang zu Nahrung denken lässt. Dort, wo zuvor Gleichgültigkeit herrschte, wuchs nun Feindschaft, die durch die Rivalität um Güter des Grundbedarfs verstärkt wurde. Flüchtlinge – also eine besonders auf die Unterstützung und Toleranz der aufnehmenden Gesellschaften angewiesene Gruppe – waren mit Ablehnung und teilweise Hass konfrontiert. Ähnlich erging es den Zwangsarbeitern, die nach 1918 nicht sofort in die Heimat zurückkehrten. Im Klima der allgemeinen Empörung über die Bestimmungen des Vertrags von Versailles riefen selbst gemäßigte deutschen Zeitungen dazu auf, diese fremden, eigentlich feindlichen Elemente schnellstmöglich zu entfernen: … im vaterländischen Interesse [liegt] die sofortige Entlassung aller noch in deutschen Betrieben im Verdienst stehenden polnischen und tschechischen Arbeiter […]. Jeder deutsche Arbeiter – und wäre er der roteste Sozi (denn die Farbe verblaßt) – ist uns zehntausendmal lieber als ein schleimiger polnischer oder tschechischer Judasknecht, der vielleicht um einen niedrigeren Lohn an dem großen Grabe Deutschlands schaufeln hilft. Also: hinaus mit diesem Gesocks aus deutschen Betrieben, hinaus aus Deutschland.152 285

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Das Bewusstsein der begrenzten Ressourcen und die wachsenden sozialen Unterschiede führten auch zu einer Zuspitzung des Konflikts zwischen Arbeit­ nehmern und Arbeitgebern. In Ostmitteleuropa wurden Streiks und Arbeiter­ proteste für eine lange Zeit zu einem normalen Bestandteil der politischen Aus­einan­der­setzung. Dort, wo Streiks keinen Sinn hatten – auf dem Land und in Kleinstädten –, schlugen sich Unzufriedenheit und soziale Konflikte in Fällen von Selbstjustiz nieder. Die bedrohlichste und komplexeste Form waren Pogrome, die von den Anstiftern als Akte der Gerechtigkeit gegen einen kollektiven Ausbeuter – die Juden – betrachtet wurden. Für die neuen Staaten mit ihren Bevölkerungen aus einander hassenden Menschen war die Befriedung dieser Konflikte und die Nivellierung der extremsten Unterschiede womöglich eine wichtigere Aufgabe als die Konsolidierung der Verwaltung und der Schutz der Grenzen. In dieser Hinsicht erwies sich das Erbe des Krieges als überaus kompliziert: Plebejer gegen Patrizier, Arbeiter gegen Kapitalisten, Volk gegen Herren. Bin­ nen vier Jahren durchliefen diese fundamentalen Kriterien zur Beschrei­bung der sozialen Verhältnisse einen grundlegenden Wandel. Der Krieg brachte die natürliche und soziale Ordnung zum Einsturz, er zerstörte den Produk­ tions­rhythmus und machte selbst das minimale Existenzniveau zur Heraus­ forderung, auf neue und äußerst brutale Weise verdeutlichte er den Kontrast zwischen Reich und Arm und weckte den Widerstand der bisher Unter­ drückten. Der Krieg dezimierte die Ernten und die Menschen. Es überdauerte nur die Saat des Hasses.153

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Kapitel 2 Transformation Bis jetzt haben wir vor allem den Untergang der alten Ordnungen beschreiben. Seine bedrohlichen Nebenwirkungen – etwa die Zuspitzung sozialer Konflikte und die Privatisierung der Gewalt – prägten die zweite Hälfte des Großen Kriegs. Ab 1917 zerfielen die Armeen der Imperien, die Gesellschaften verwandelten sich in Ansammlungen verfeindeter ethnischer und politischer Stämme. Schließlich zerfielen die Imperien selbst und eröffneten den Blick auf ein chaotisches Bild miteinander kämpfender Staaten. Die Gewalt, die diesen Prozess begleitete, manifestierte sich nicht nur im bewaffneten Kampf, sondern etwa auch in den Verhandlungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern oder in dem Bereich der Sozialpolitik und der Kultur. Die Auflösung der alten Strukturen und die damit verbundenen Wirren sind aber nur ein Ausschnitt der Prozesse, die in den Monaten vor dem Ende des imperialen Ostmitteleuropa abliefen. In derselben Zeit entstanden die Grundlagen für ein völlig neues System. Dazu gehörte der Wandel der sozialen Hierarchie, die Neubestimmung der Position und des Prestiges einzelner Gruppen. Von den Arbeitern als neuer Kraft war schon die Rede. In den politischen Auseinandersetzungen nach 1918 nahmen zudem drei andere soziale Gruppen eine fast ebenso exponierte Stellung ein: Frauen, Bauern und ethnische Minderheiten. Das zweite große Thema der politischen Debatte war die Wirtschaft, die nach dem Krieg in neue Bahnen gelenkt werden musste. In den damaligen Wirtschaftsdoktrinen beschränkten sich Eingriffe in den Markt de facto auf die Geldpolitik. Beim Blick auf die Probleme, die sich vor den jungen Staaten Ostmitteleuropas auftürmten, entdeckt man unschwer Parallelen zu einer späteren Umgestaltung der Fundamente der sozialen und ökonomischen Ordnung in diesem Teil der Welt. Ganz wie 1989 durchlief Ostmitteleuropa 1918 eine Systemtransformation. In der Geschichtsschreibung tauchte dieser Vergleich erst vor Kurzem auf. Florian Kührer-Wielach und Sarah Lemmen schlagen vor, man solle die Trans287

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formation nicht als einmaligen Umbruch, sondern als Prozess betrachten, als komplexe, unumkehrbare Veränderung aller Lebensbereiche: Politik, Kultur, Wirtschaft und Sozialbeziehungen. Ostmitteleuropa eigne sich für derartige Forschung wie kaum eine andere Region Europas. Sowohl 1989 als auch 1918 hätten hier tiefgreifende Umwälzungen stattgefunden.1 Fast von einem Tag auf den anderen änderte sich fast alles: Regierung, Staatsgrenzen, Währung, Hierarchien. Beide Transformationen brachten Gewinner und Verlierer hervor, beide waren reich an Affären und ideologischen Auseinandersetzungen, in beiden spielte der Kampf gegen galoppierende Inflation und leere Regale eine zentrale Rolle. Mit beiden verband sich auch die Enttäuschung über inkompetente oder unaufrichtige Menschen in verantwortungsvollen Berufen: Beamte, Polizisten, Eisenbahner, Banker. Das Vertrauen, das diese Berufsgruppen vor dem Krieg genossen, schmolz mit den Familienersparnissen der Staatsbürger. Der Literaturwissenschaftler und polnische Gesandte in Bukarest, Stanisław Wędkiewicz, berichtete an die polnische Regierung: Zu berücksichtigen ist auch die miserable öffentliche Moral in Rumänien – der Sittenverfall in der Verwaltung, die dreisten Parteikämpfe, die Bestech­ lichkeit der Beamten, der beispiellose politische Zynismus und der Wille zur Selbstbereicherung, der stärker als jede Bindung ans Vaterland ist. Das Volk ist gesund, aber ungebildet und ohne Einfluss. Den Staat regiert Bukarest, das bevölkert ist von Betrügern mit minimalem ethischen Bewusstsein.2 Auf Reisen spürte man am deutlichsten, wie grundlegend der Wandel war. Wędkiewicz wusste darüber einiges zu erzählen. Im Herbst 1918 fuhren die rumänischen Züge noch halbwegs nach dem von den deutschen Besatzern erstellten Fahrplan. Zwei Jahre später schrieb Wędkiewicz über die Folgen der Niederschlagung eines Streiks der rumänischen Eisenbahner: Die Eisenbahn wurde komplett militarisiert, doch ohne sichtbare Folgen. Die Arbeiter leisten passiven Widerstand. Die Züge fahren unregelmäßig in beschleunigtem Tempo ein. Die Zeitungen, die übrigens der Zensur unterliegen, bringen vage, knappe Meldungen über Sprengstoffanschläge auf die Waggons reisender Minister.3 In den folgenden Wochen besserte sich die Lage nicht: Der Generalstreik wurde zwar mit harten Repressionen niedergeschlagen, doch die angestrebten Ziele wurden nicht erreicht. Die Eisenbahn funktioniert immer schlechter, ständig kommt es zu Katastrophen, die Verspätungen 288

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betragen bis zu 24 oder 30 Stunden, Lokomotiven – selbst neue, gerade erst aus Amerika importierte – sind nach wenigen Tagen auf unerklärliche Weise unbrauchbar. Es kursieren Gerüchte, wonach es sich um bewusste Sabotage handeln soll. […] Die Gesellschaft ist sich darüber im Klaren, dass die Eisenbahnkatastrophe den Kurs des Lei drückt, die Städte auszehrt, den Export ruiniert und die Hauptstadt von den unzufriedenen rumänischen Provinzen isoliert.4 Der fatale Zustand der rumänischen Eisenbahn machte sich auch bemerkbar, als Wędkiewicz nach Polen zurückbeordert wurde. Im November 1920 schrieb er nach Warschau: Das Eisenbahnministerium hat mir erst für den 17. Dezember einen Platz im Zug zugewiesen. So lange muss ich daher bleiben, weil es unmöglich ist, ohne Pelz eine so lange Zeit in einem Waggon mit eingeschlagenen Fenstern oder auf dem Dach zu reisen.5 Rumänien war keine Ausnahme. Der Kollaps der Infrastruktur war eine offensichtliche Kriegsfolge, die notorischen Verspätungen und häufigen Unglücke waren eine Folge provisorischer Instandsetzungen und des Mangels an qualifiziertem Personal. Ende 1922 bewertete die polnische Gesandtschaft in Charkiw den Zustand der ukrainischen Bahnen: Im Vorjahr lag die Anzahl der Personenzüge bei ca. zehn Prozent des Stands von 1913, im laufenden Jahr bei ca. 20 Prozent. […] Das ist entschieden zu wenig, die Züge sind überfüllt und Reisende warten oft mehrere Tage, um einen Platz in einem Zug zu bekommen. Die Geschwindigkeit der Personenzüge beträgt je nach Zustand der Gleise bei Eilzügen 26–37 Werst pro Stunde [eine Werst ist etwas mehr als ein Kilometer], bei Post- und Mischzügen 15–26 Werst pro Stunde. Auf Nebenstrecken schaffen die Züge weniger als 480 Werst pro 24 Stunden. Beim jetzigen Zustand der Bahngleise, insbesondere der Schwel­ len, sind höhere Geschwindigkeiten nicht möglich und nach offizieller Aus­ sage des Bezirksdirektors wird die Bahn das Tempo weiter senken müssen, wenn es nicht gelingt, die Schwellen in einen deutlich besseren Zustand zu versetzen.6 Die Kriegsschäden erklärten aber nicht alles. Viele Probleme waren eine Folge des Zerfalls der Imperien. Die neuen Grenzen zerrissen die bestehenden Bahnverbindungen, wodurch der Verkehr auf den bisher genutzten Linien fast kom289

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plett eingestellt wurde. Ein drastisches Beispiel dafür war Ungarn. Das Verkehrsnetz Transleithaniens erfüllte nicht nur eine praktische, sondern auch eine politische Funktion: Alle wichtigen Linien liefen sternförmig in Budapest zusammen, direkte Verbindungen zwischen den einzelnen Provinzen gab es nicht. Als nun die Siegermächte Ungarn an eigentlich allen Seiten beschnitten, verlor dieses Netz seinen Sinn. Der britische Politologe David Mitrany weist darauf hin, dass vor dem Krieg 23 Bahnlinien und 79 Hauptstraßen über die 3700 Kilometer lange ungarische Staatsgrenze führten. Nach Trianon hatte diese Grenze nur noch eine Länge von 1450 Kilometern, doch dafür 46 Eisenbahn- und 107 Straßengrenzübergänge (von denen die meisten geschlossen waren). Vor 1918 deckten sich die Staatsgrenzen meist mit natürlichen Grenzen – Flüssen, Gebirgspässen und Ähnlichem. Nun verliefen plötzlich 80 Prozent über freies Feld.7 An der Peripherie verloren viele Städte ihre Bahnhöfe an den Nachbarstaat, viele Stationen wurden nutzlos, weil die nächstgelegenen Städte der Tschechoslowakei, Rumänien, Jugoslawien oder Österreich zugesprochen wurden. Die Grenzen durchschnitten nicht nur Verkehrswege, sondern unter anderem auch die traditionellen Weiderouten der Karpatenschafe. Fachleute auf dem Gebiet des internationalen Handels rechneten damit, dass die erforderliche Neuausrichtung der Verkehrssysteme den Handel und das Alltagsleben in Ostmitteleuropa noch lange beeinträchtigen würde: In Polen etwa liegt die durchschnittliche Dichte des Schienennetzes bei 5,2 km pro 100 km2, doch die Abweichungen von diesem Durchschnitt schwanken zwischen 13,5 km in Schlesien und 2,7 km in den Ostgebieten. Darüber hinaus entsprach die Struktur des ohne Berücksichtigung auf die lokalen Erforder­ nisse geplanten Netzes nach der Herausbildung neuer Handelsnetze nach 1919 in keinster Weise mehr den Bedürfnissen. In der neuen Tschechoslo­wa­ kischen Republik verschob sich der Warenverkehr um 90 Grad von der Linie Nord–Süd zur Linie West–Ost. In Rumänien erforderten die territorialen Veränderungen die Zusammenführung von vier Verkehrssystemen, darunter drei, deren Zentren außerhalb des Königreichs lagen. Als Folge waren manche Linien überlastet, während andere praktisch stilllagen.8 Zu den Kriegsschäden kam somit das Chaos infolge der Grenzverschiebungen und der durch sie erzwungenen räumlichen Neuorientierung. Auch die neuen Regierungen trugen ihr Scherflein dazu bei. Sie demonstrierten ihre Autorität vermittels uniformierter Amtsträger, die Reisende und Waren kontrollierten. Weil aber in der Region zur uns interessierenden Zeit immer einige Kriege ge290

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führt wurden, waren die von beflissenen Soldaten und Polizisten durchgeführten Kontrollen in der Regel beschwerlich. Einige Tage nach der Schlacht bei Warschau beobachtete ein Beamter des Büros für Auslandspropaganda des polnischen Ministerratspräsidiums die folgende Szene: Auf Reisen. An der polnischen Grenze werden die Passagiere schrecklichen Schikanen unterzogen, die den Ruf eines zivilisierten Landes untergraben. Man nimmt ihnen alles Geld ab und lässt ihnen die lächerliche Summe von 1000 polnischen Mark, für die man nicht einmal eine Fahrkarte zum nächsten tschechischen Bahnhof kaufen kann, zumal die Tschechen unser Geld nicht wollen. Unsere Beamten verhalten sich schlecht und z. B. waren einige französische Exoffiziere, denen man das Reisegeld abnahm, schwer empört, so eine Dummheit würden sie nicht durchgehen lassen etc. […] Das sind anscheinend kleine Dinge, doch sie schaden uns sehr und ihretwegen spricht man [das heißt in der Schweiz, wohin der Verfasser des Berichts reiste] von uns wie von einem tiefasiatischen Land. Möge Daszyński an den Finanz­ minister appellieren und mögen sie kluge Anordnungen statt idiotischer erlassen.9 Das Transportwesen war nur einer von vielen Lebensbereichen, die sich unter dem Einfluss der Umwälzungen in Ostmitteleuropa grundlegend veränderten. Die Bewältigung der neuen Herausforderungen oblag nun jedoch nicht mehr den alten Herrschaftsstrukturen, sondern ebenfalls neuen und oft unerfahrenen Fachleuten, die neben dem Bahnverkehr auch die Landwirtschaft, das Arbeitsrecht oder das Wirtschaftssystem an die veränderten Bedingungen anpassen mussten. Wir wollen einige dieser Experten und Herausforderungen näher betrachten.

Auf der Suche nach Kapital Anfang 1830 veröffentlichte Graf István Széchenyi in Budapest eine Broschüre mit dem Titel Hitel (Kredit). Der Magnat und zugleich erste ungarische Liberale entrüstete sich darin über die Hindernisse, die einer Modernisierung seines Landes im Weg standen, etwa die Privilegien des Adels und den übertriebenen Autoritarismus des Monarchen. An erster Stelle nannte er das titelgebende Problem: den Kredit oder genauer den Mangel an Kredit, der eine Entwicklung des Landes verhinderte. Von diesem Zeitpunkt an entdeckten zig Ökonomen und politische Denker in Ostmitteleuropa immer wieder dieselbe Wahrheit: Um zu expandieren, benötige die Wirtschaft der rückständigen Region Kapital, das sie auf den 291

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heimischen Märkten meist nicht finde. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, müsse man ausländisches Kapital heranziehen oder verborgene heimische Ressourcen freisetzen. Oder wenigstens die dazu notwendigen Voraussetzungen schaffen. In den vier Jahren der Kriegswirtschaft hatte sich dieses altbekannte Problem deutlich verschärft. Jeder der neuen Staaten (wie auch das gestutzte Bulgarien und das gewachsene Rumänien) musste nicht nur die Verarmung der Gesellschaft und das Einbrechen der Steuereinnahmen bewältigen, sondern auch das Vertrauen in die eigene Währung wiederherstellen. Nicht immer war dabei klar, welches überhaupt die richtige Währung war. Es waren nämlich viele im Umlauf, zumal direkt nach dem Umbruch. Der Ökonom und nationalkonservative Politiker Juliusz Zdanowski schrieb Ende November 1918 über den Finanzmarkt in Lublin, das wenige Wochen zuvor noch Hauptstadt des k. u. k. Generalgouvernements Lublin gewesen war: Eine Reihe von Banken, die von der Besatzung hergelockt wurden, steht leer. Umso mehr, als jede Veränderung der Situation jedes Mal den Lauf der Geschäfte unterbricht und die Unternehmerschaft abwartet, bis sich die Lage klärt. Auch in den Läden und Syndikaten herrscht ungewöhnliche Stagnation. Wieder einmal bestätigt sich, dass das Geld stabile Verhältnisse braucht. Nur diese locken es hervor. Unterdessen gibt es unerhörte Kurssprünge zwischen den Währungen. Vor drei Tagen fiel der Rubel von 1,60 Mark auf 1,30, heute stieg er auf 1,48. Die Mark, die gestern bei 178 Kronen stand, stieg heute auf 200. […] Charakteristisch ist, dass oft ein Mangel an Kleingeld herrschte. Jetzt werden 1.000er-Beträge in den Banken nur in Kleingeld ausgezahlt.10 Die Stabilisierung der monetären Verhältnisse war ein schwieriger und langwieriger Prozess, in dem die Psychologie eine ebenso große Rolle wie die Ökonomie spielte. Es war schon die Rede von den weißrussischen Bauern in den Gebieten, um die der junge polnische Staat mit den Bolschewiki kämpfte. Nach verbreiteter Auffassung der Einheimischen vertrauten sie weder dem polnischen noch dem sowjetischen Geld, sondern den zaristischen Rubeln. Im Fall von Kurantmünzen ist der Glaube an die Währung eines nicht mehr existierenden Staates noch nachvollziehbar. Doch er betraf mitunter auch die Banknoten untergegangener Staaten, also grundsätzlich wertloses Papier. Der amerikanische Statistiker Edward Dana Durand entwickelte dazu eine originelle Theorie. Als Gesandter der US-Regierung verbrachte er 1920 einige Zeit in Kiew und wurde Zeuge mehrerer Machtwechsel. Durand interessierte sich vor allem für den damit ver292

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Ukrainische Karbowanez, eine der weniger beliebten Währungen der Region.

bundenen Währungsaustausch und insbesondere für das Verhalten der Konsumenten. Aus seinen Beobachtungen ging hervor, dass die Beliebtheit der polnischen Mark, des zaristischen Rubel, des Karbowanez des Ukrainischen Nationalrats und auch des sowjetischen Rubels offensichtlich damit zusammenhing, wer jeweils die Stadt regierte. Am stabilsten war in diesem Chaos die von der Regierung des Hetmans Pawlo Skoropadskyj ausgegebenen Hrywnja. Warum? Durand spekulierte: Der wahrscheinlichste Grund war wohl, dass die Bauern sich einfach an diese Währung gewöhnt hatten, doch es drängt sich der Gedanke auf, dass es paradoxerweise auch am Scheitern dieser Regierung gelegen haben könnte – im Gegensatz zu den anderen war sie nicht mehr imstande, Banknoten zu drucken!11 Unabhängig davon, ob diese Vermutung zutrifft, berührt Durand hier die brennendste Frage der Nachkriegsgeldwirtschaft: den Vertrauensverlust der Konsumenten in die Währung. Dabei darf nicht übersehen werden, dass schon die kriegführenden Imperien das Ihre zur Schwächung der lokalen Währungen beitrugen. Die rumänischen Goldreserven, die zur Deckung des Lei dienten, wurden angesichts der deutsch-­ österreichisch-ungarisch-bulgarischen Gegenoffensive nach Russland evakuiert, wo sie spurlos verschwanden. Den Rest des Kapitals nahmen die Deutschen, die das Land in kurzer Zeit in den ökonomischen Ruin führten und den Lei in eine Währung ohne größeren Wert verwandelten. Das benachbarte Bulgarien, obwohl es nicht okkupiert, sondern mit dem Reich verbündet war, wurde zum Objekt der aggressiven Handelspolitik des Verbündeten. Berlin nutzte es rücksichtslos aus, dass der bulgarische Warenexport durch von Deutschland kontrollierte 293

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Gebiete erfolgen musste. Man versuchte den Verbündeten zum Verkauf von Nahrungsmitteln und Tabak zu von Berlin bestimmten Niedrigpreisen zu zwingen, indem man den Export in die neutralen Staaten blockierte. Zugleich erschwerte man die Lieferung von Maschinen und technischen Geräten, um den Import aus Bulgarien auf Rohstoffe für die deutsche Industrie zu beschränken. Noch während des Kriegs gab es im bulgarischen Parlament heftige Auseinandersetzungen über diese Handelspolitik; die Abgeordneten der Linken und der Mitte mahnten, die Öffnung des Markts für Importe aus Deutschland zerstöre die heimische Industrie, während der Export von Nahrungsmitteln und Rohstoffen das Land verarmen lasse.12 In den besetzten Gebieten in Ostmitteleuropa führten die Deutschen eigene Papierwährungen ein: in Ober Ost war es der (in Kowno gedruckte) sogenannte Ostrubel, im Königreich Polen die polnische Mark, die zum Wechselkurs von 1 : 1 mit der Reichsmark konvertibel waren. Die Regionalwährungen waren fest an die Reichswährung gekoppelt und unterlagen somit einer Inflation, die mindestens dem Wertverlust der Reichsmark entsprach. In den polnischen Gebieten garantierte die Verwaltung des Generalgouvernements Warschau für die Emis­sionen. Sie verpflichtete sich, in Zukunft polnische Mark „zum Nenn­ wert“ gegen deutsche zu tauschen. Die Emission war somit eine Art Darlehen, das die Bevölkerung des Königreichs Polen dem Reich gewährte. […] Die Verpflichtung wurde nach dem Krieg eingelöst, als freilich in Deutschland schon eine hohe Inflation herrschte. In einer solchen Situation bedeutete die Formel „zum Nennwert“, dass der finanzielle Nutzen des Umtauschs verschwindend gering war.13 Diese Wirtschaftspolitik führte zur Teuerung. Solange die Preisbewegungen durch einigermaßen starke staatliche Stellen kontrolliert wurden, erzwangen die Behörden niedrigere Preise, als der Markt sie diktierte, indem sie Höchstpreise für die wichtigsten Produkte festlegten und gegen „Spekulanten“ vorgingen. Infolgedessen waren zwar viele Waren vergleichsweise billig, verschwanden aber vom Markt, weil es sich nicht lohnte, sie zu verkaufen. Je länger der Krieg dauerte, umso schwächer wurde die eiserne Hand des Staates und es entstand ein Schwarzmarkt, auf dem die Preise meist deutlich über den amtlichen lagen. Je legaler dieser inoffizielle Markt wurde, desto schneller verloren die Kriegswährungen an Wert. Mit der Niederlage Deutschlands und Österreich-Ungarns brachen die letzten Dämme. Die galoppierende Inflation wurde zum Schreckgespenst der ersten Nachkriegsjahre. 294

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Die Herausforderung für die jungen Staaten Ostmitteleuropas bestand darin, die Menge des Papiergelds drastisch zu reduzieren und Deckungskapital für die restliche Summe zu finden. Die Aufgabe war umso schwerer, als die Schaffung neuer staatlicher Strukturen große Ausgaben erforderte und die Steuerforderungen drastisch gesunken waren. Bedeutsam war der Kampf um wirtschaftliche Stabilität auch unter Imageaspekten. Das Handeln von Regierungen oder sogar einzelnen Ministern unterlag der Bewertung durch die globalen Märkte. Manche Staaten und Politiker galten ausländischen Beobachtern als Musterknaben der Transformation, doch es mangelte auch nicht an Versagern oder auch tragischen Helden, deren ehrgeizige Pläne zur Bändigung des Chaos und zur Sanierung der öffentlichen Finanzen an den unterschiedlichsten Hindernissen scheiterten. Um ihre Arbeit überhaupt irgendwie materiell abzusichern, griffen die Staatsregierungen in der Region oft zum Mittel der Vermögenssteuer. Meist handelte es sich um eine einmalige Abgabe auf Geld- oder anderes Vermögen wie etwa Grundbesitz. Meist sorgte ein System von Ausnahmen dafür, dass tatsächlich nur die Reichsten von der Steuer betroffen waren. Diesen Weg gingen die Tschechoslowakei, Österreich und Ungarn, allerdings mit ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Betrachten wir zunächst das mit Abstand erfolgreichste Beispiel. Der Erfolg hat üblicherweise viele Väter, doch im Fall der wirtschaftlichen Transformation in den tschechischen Gebieten war die Sache eindeutig. Der erste Finanzminister der Tschechoslowakischen Republik, Alois Rašín, hatte schon in den letzten Monaten der k. u. k. Monarchie mit den Vorbereitungen für den Systemwechsel begonnen. Für den nationalkonservativen Politiker war der Untergang Österreich-Ungarns beschlossene Sache und er richtete seine ganze Konzentration darauf, dass er ohne unnötiges Chaos vonstattenging. Schon im Frühjahr 1918 soll er im Gespräch mit einem Freund gesagt haben: Wir müssen wissen, was wir in der ersten Minute tun, in fünf Minuten, in der ersten halben Stunde, in einer Stunde, was wir am ersten Tag erledigen müssen, am zweiten … Wir müssen bereit sein.14 Die Vorbereitungen umfassten einen Plan zur Übernahme eines Teils der Verpflichtungen der Österreichisch-Ungarischen Bank, die Rücknahme eines Teils der Banknoten und die Stempelung der im Umlauf verbleibenden Scheine, die Registrierung des Vermögens der Bürger und die Verhinderung von Kapital­ flucht. Die Stempelung der österreich-ungarischen Geldscheine erfolgte zwischen Ende Februar und Anfang März 1919. Für diese Zeit wurden die Staatsgrenzen geschlossen und jeglicher Kapitalzufluss unterbunden. Gleichzeitig 295

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be­hielt der tschechoslowakische Staat die Hälfte der Banknoten als Zwangsdarlehen zu einem Prozent Zins ein. Auch die Hälfte der Spareinlangen in den Banken im Staatsgebiet wurde eingefroren. Mit dieser Aktion verschaffte sich die Regierung einen Überblick über die im Umlauf befindliche Geldmenge und verhinderte zugleich die Ausfuhr von Kapital. Anschließend wurden zwei neue progressive Steuern geplant und rasch eingeführt: auf Vermögen von mehr als 25 000 Kronen sowie auf Kriegsgewinne. Um das Vertrauen der Steuerzahler zu gewinnen, ließ Rašín gesetzlich garantieren, dass die Mittel aus diesen Steuern nicht zum Ausgleich des laufenden Haushaltsdefizits eingesetzt würden, sondern ausschließlich zum Aufkauf österreichisch-ungarischer Anleihen und für bestimmte staatliche Investitionen.15 Begleitet wurde diese Operation von zahlreichen kleineren, aber beschwerlichen Maßnahmen. So erinnerte Rašín im Rückblick daran, welch große Herausforderung es war, die Bilanzen der beiden Teile des tschechoslowakischen Staats zu vergleichen In Cisleithanien begann das Haushaltsjahr im Juli, in Ungarn hingegen am 1. Januar.16 Doch auch diese Hürden wurden genommen. Die Krone wurde bald zu einer stabilen Währung, die keinen heftigen Schwankungen unterlag. Im Vergleich zu den anderen Staaten der Region (mit Ausnahme Finnlands) stach die Tschechoslowakei dadurch hervor, dass ihr Geld im Inland genauso viel wert war wie im Ausland. Anders als die Währungen Bulgariens, Rumäniens oder Polens kostete die Krone in Umrechnung auf die im Land erworbenen Waren ebenso viel wie im Verhältnis zum Dollar.17 Allerdings hatte die Transformation soziale Schattenseiten: Die höheren Exportkosten belasteten die heimische Produktion und führten zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. Finanzminister Rašín bezahlte die Transformation letztlich mit seinem Leben. Die Kommunistische Partei, die die Reformen von Anfang an ablehnte, erklärte ihn zum Hauptfeind. Im Januar 1923 wurde Rašín bei einem Attentat erschossen; Täter war ein junger tschechischer Anarchokommunist, von Beruf Versicherungsangestellter. In der tschechoslowakischen Währung blieb der Minister über seinen Tod hinaus präsent: Sein Gesicht wurde zum Motiv der 20-Kronen-Scheine. Das tschechoslowakische Beispiel wirkte ansteckend, führte aber nirgends zu vergleichbaren Resultaten. Vor allem die von Österreich und Ungarn unternommenen Versuche zur Einführung einer Vermögenssteuer kamen im Vergleich zu Prag zu spät. Die instabile politische Situation, zumal in Ungarn, sowie die Unsicherheit hinsichtlich der Bedingungen, die die Siegermächte den Verlierern in Paris diktieren würden, sorgten dafür, dass der Finanzoperation eine monatelange öffentliche Debatte voranging. Dadurch hatten die Besitzer der größten Spar­ 296

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einlagen in den österreichischen und ungarischen Banken ausreichend Zeit, um ihr Geld an sicherere Orte zu transferieren. Darüber hinaus begingen Österreicher und Ungarn weitere Fehler. Die österreichischen Zahlungsvorgaben erwiesen sich als äußerst lax, was die Korruption begünstigte und das Vertrauen in die Regierung untergrub. Zudem wurde der Steuereinzug zeitlich gestreckt, wodurch sich angesichts der hohen Inflation der Wert der vom Staat eingenommenen Mittel deutlich verringerte. Die Einnahmen dienten keinem langfristigen Ziel, sondern verschwanden restlos im defizitären laufenden Haushalt. 1922 wurde die Idee einer einmaligen Vermögensabgabe zugunsten einer niedrigeren ständigen Steuer aufgegeben. Dies war allerdings keine souveräne Entscheidung des österreichischen Finanzministers, sondern geschah auf Druck des Völkerbundes, der eingreifen musste, um die junge Republik vor dem Bankrott zu bewahren.18 In Ungarn stieß die Besteuerung größerer Vermögen auf andere Hindernisse. Zwei Revolutionen und eine blutige Gegenrevolution machten jegliches sinnvolle Handeln unmöglich. Die Politiker, die im Besitz der Notenpressen waren, machten davon unbedenklich Gebrauch, weshalb Ungarn zum letzten Nutzer der ungestempelten k. u. k. Währung wurde. Unter den Bedingungen des „weißen Terrors“ rückte jede Idee, die nach Verstaatlichung roch, ihren Urheber in den Verdacht der Sympathie mit dem Bolschewismus. Deshalb sprach Lóránt Hegedűs, Finanzminister der Jahre 1920–21, lieber von einer Abgabe zugunsten des Staates im Gegenzug für die Gewinne, die das so besteuerte Vermögen während des Kriegs gebracht habe. Eigentlich konfiszierte die Regierung „im Gegenzug“ das gesamte Vermögen und gab es nach Entrichtung der festgelegten Steuer (die nicht nur in Geld, sondern auch in Naturalien bezahlt werden konnte) an die Eigentümer zurück. Die Einnahmen sollten der Rückzahlung ungarischer Verbindlichkeiten dienen. Allerdings verband Ungarn anders als die Tschechoslowakei die Einführung der Vermögenssteuer nicht mit der Bekämpfung der Inflation. Lange Zahlungsfristen minderten den realen Wert der eingenommenen Mittel erheblich. Letztlich versetzten die Groß- und Kleingrundbesitzer, die die Steuer solidarisch boykottierten, Hegedűs’ Plänen den Todesstoß Die fehlenden Einnahmen aus der einmaligen Abgabe hatten fatale Auswirkungen auf das gesamte Programm zur Rettung der ungarischen Wirtschaft. Schädlich war auch die Unsicherheit über die Höhe der Reparationen, die Ungarn würde zahlen müssen. Hegedűs versuchte die Währung mit Methoden der klassischen Ökonomie zu stützten, das heißt durch Ausgabenkürzungen. Sein ehrgeiziger Plan umfasste sogar eine Aufwertung der Krone, die aber trotz aller Bemühungen und aller Ent297

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schlossenheit des Finanzministers wieder an Wert verlor. Schließlich trat Hegedűs von seinem Amt zurück und das Land versank wie kurz zuvor Österreich im Chaos der Inflation: 1923 befand sich Ungarn auf demselben Weg in die Katastrophe, den ein Jahr zuvor das Nachbarland gegangen war. Der Haushalt war aus dem Gleich­ gewicht geraten. Die Ausgaben lagen weit über den Einnahmen. Das Defizit wurde durch Inflation ausgeglichen. Der Kurs der Krone war gesunken und sank weiter, bis er zuletzt sogar unter dem Kurs der österreichischen Krone lag. Gleichzeitig verminderte der niedrigere Wert der Krone die Steuerein­ nah­men, was das Haushaltsdefizit vergrößerte und zum Anstieg der Inflation beitrug. Die Finanzlage des Landes verschlechterte sich stetig, es war der­ selbe Teufelskreis wie in anderen Ländern Nachkriegseuropas. Ohne solide finanzielle Basis begann das gesamte Wirtschaftsleben zu schrumpfen und abzusterben.19 Die statistischen Daten dokumentieren anschaulich den unterschiedlichen Zustand der Wirtschaft in den drei Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie. Ende 1924 lag die Summe der in der Tschechoslowakei im Umlauf befindlichen Banknoten bei 78 Prozent des Stands von Dezember 1920. In Ungarn waren es erschreckende 1300 Prozent, in Österreich 1270 Prozent. Am US-Markt stieg der Kurs der tschechoslowakischen Krone in den Jahren 1921–1924 von 1,24 auf 3,02 Cent, während die ungarische Krone von 0,15 auf 0,0013 und die österreichische von 0,038 auf 0,0014 Cent sank.20 Die miserablen Resultate der österreichischen und ungarischen Bemühungen zum Wiederaufbau ihrer Wirtschaft zwangen den Völkerbund, zu interve­ nieren. Finanzhilfen und niedrig verzinste Kredite waren aber an politische Bedingungen gekoppelt. Vor allem forderten die Geberländer von ihren neuen Schütz­lingen, dass sie das Medikament gegen alle bisherigen Wirtschaftsprobleme absetzten, also die Notenpressen stoppten. In Ungarn wurde zu diesem Zweck eine unabhängige Notenbank gegründet, die zumindest in der Theorie frei von Regierungseingriffen war. Man empfand es als Schande, dass diese Maßnahme Budapest von fremden Staaten aufgezwungen worden war, doch die eigentliche Demütigung stand noch bevor. Der Völkerbund erwartete als Gegenleistung für seine Finanzhilfen nicht nur die Sanierung der öffentlichen Finanzen, sondern auch eine Konsolidierung der Beziehungen zwischen Ungarn und seinen Nachbarstaaten. Ministerpräsident István Bethlen wurde zu einer Reihe von Begegnungen mit den Vertretern von Staaten gezwungen, gegen die Ungarn eine 298

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intensive revisionistische Kampagne führte (und gegen die es kürzlich noch gekämpft hatte). Die Gespräche mit Edvard Beneš konnten weder in Budapest noch in Prag stattfinden. Um Kritik oder gar Unruhen zu vermeiden, trafen die beiden Politiker sich lieber auf neutralem Boden in Genf. Letztlich fand man aber konstruktive Lösungen für die brennendsten Probleme, etwa den exakten Verlauf der neuen Grenzen und die Regeln für die Repatriierung. Eine weitere Bedingung, die Ungarn erfüllten musste, war ein ausgeglichener Haushalt, der durch eine reale (inflationsbereinigte) Anhebung der Steuern erreicht werden konnte. All diese Maßnahmen waren Voraussetzung für die Aktivierung des wichtigsten Teils des Hilfspakets – den Kredit. Die Erfahrungen der Tschechoslowakei, Ungarns und Österreichs zeigen, wie wichtig das Vertrauen der Verbraucher und der Märkte für die Wirtschaftspolitik war. Man konnte es gewinnen, indem man – wie Alois Rašín – entschlossen, aber aufrichtig handelte. In den instabilen Nachkriegsverhältnissen musste die Transformation schnell durchgeführt werden, damit es nicht zum plötzlichen Abzug von Kapital kam. Gleichzeitig musste man Gewissheit schaffen, dass die öffentlichen Abgaben nicht irgendwo versickerten, sondern tatsächlich dem Abbau der langfristigen Kriegsverbindlichkeiten des Staates dienten. Letztendlich konnten aber alle Staaten Ostmitteleuropas ihre Währungen stabilisieren. Die Tschechoslowakei und Finnland gelang es auf eindrucksvolle Weise, Lettland, Estland und Litauen etwas weniger spektakulär. Ungarn und Österreich profitierten von der Intervention des Völkerbundes. Zur selben Zeit konnte auch die Inflation in Jugoslawien, Rumänien und Bulgarien gebremst werden. Der Nachzügler in der Region war Polen, wo bis 1923 Hyperinflation herrschte. Die Gründe für diese Verspätung scheinen auf der Hand zu liegen. Von allen Nachfolgstaaten hatte Polen mit der Zusammenführung der inkohärenten Finanz-, Verkehrs- und Rechtssysteme von drei Imperien die meisten Schwierigkeiten zu bewältigen. Außerdem führte das Land Kriege an fast all seinen Grenzen. Der größte – gegen das sowjetische Russland – endete formell erst 1921, als etwa in der Tschechoslowakei die Soldaten schon seit zwei Jahren allenfalls bei Manövern zur Waffe griffen. Eine unweigerliche Begleiterscheinung der F ­ eldzüge waren die Verrohung der Sitten, Banditentum und die allgemeine Geringschätzung von Recht und Ordnung. Vergrößert wurde das Chaos durch die verspätete Heimkehr von Hunderttausenden Kriegsmigranten. Aufmerksame Beobachter der polnischen Politik entdeckten freilich noch weitaus mehr außergewöhnliche Probleme. So erfasste Edward Dana Durand den Ausnahmecharakter der polnischen Inflation: 299

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Von allen europäischen Staaten liefert Polen das interessanteste Material zu Studien über die Geldabwertung. Die Inflation hält dort an und ist höher als je zuvor. Zudem handelte es sich um eine reine, hausgemachte Inflation, deren Folgen sich weitgehend unabhängig von sonstigen außerordentlichen und destruktiven Einflüssen untersuchen lassen. Anders als Österreich, wo die knappen Ressourcen kaum zur Deckung des hohen Kapitals ausreichen […]; anders als Deutschland, Ungarn oder Bulgarien, die von der Last der Repara­ tionen niedergedrückt werden; anders als Griechenland, das gerade erst einen Krieg verlor, verfügt Polen über vielfältige und ausreichende Ressourcen, es hat keine besonderen finanziellen Lasten zu tragen und lebt seit drei Jahren im Frieden. Die Sonderausgaben im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Sowjetrussland erklären, ohne sie zu rechtfertigen, die Inflation der ersten beiden Jahre der Unabhängigkeit Polens. Danach entfiel aber die Begründung für die weitere Emission von Papiergeld – die einzige Ausflucht wäre vielleicht die Schwierigkeit, auf dem steilen und rutschigen Abhang, den Polen bisher hinabrutschte, das Gleichgewicht zu halten.21 Polen war tatsächlich ein Sonderfall. Vor den Reformen Władysław Grabskis (die aus dem zeitlichen Rahmen dieses Buchs herausfallen) versuchte Finanzminister Jerzy Michalski, die polnische Mark durch die Aktivierung heimischer Ressourcen und Steuererhöhungen zu stabilisieren. Schon allein die Ankündigung zeigte Wirkung: Zur Jahreswende 1921/22 begannen die Preise endlich zu sinken, obwohl die Notenpressen immer noch auf Hochtouren liefen. Für einige Monate blieb der Kurs der polnischen Mark stabil, brach aber jedes Mal sofort ein, sobald die Regierung (durchaus gemäß dem Plan) neues Geld nachdruckte. Auf diese Weise artikulierten die polnischen Verbraucher ihr mangelndes Vertrauen in die Absichten und die Kompetenz der Regierenden. Die Besonderheit der polnischen Transformation tritt noch deutlicher zutage, wenn wir die klassische Frage nach Gewinnern und Verlierern stellen. In den Kriegsjahren wäre die Antwort leichtgefallen: Die Kosten der Kriegswirtschaft trugen vor allem die hungernden Arbeiter – sowohl diejenigen, die Arbeit hatten, als auch die immer zahlreicheren Arbeitslosen. Die Gewinner fanden sich hauptsächlich unter den reicheren Bauern, die über die nachgefragteste Ware – Nahrungsmittel – verfügten. Das unabhängige Polen fiel bald aus diesem Schema heraus. Die wachsende politische Macht der Arbeiter zwang die Arbeitgeber, vor allem aber den Staat zu zahlreichen Zugeständnissen. Andere soziale Gruppen hatten keine vergleichbar starke Verhandlungsposition, was zu höchst ungewöhn300

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lichen Preisstrukturen und Lohnregelungen führte. Der Begriff „Inflation“ weckt die Vorstellung von dahinschmelzenden Löhnen, die verzweifelte Menschen schnellstmöglich auszugeben versuchen, weil sie am nächsten Tag vielleicht das Papier nicht mehr wert sind, auf dem die Banknoten gedruckt wurden. Unterdessen hielt in Polen die Lohnentwicklung nicht nur mit der Inflation mit, sondern übertraf sie sogar. In den Arbeitsverträgen wurde häufig die automatische Anpassung des Lohns an die steigenden Lebenshaltungskosten vereinbart, was einerseits die Arbeitnehmer vor Kaufkraftverlusten schützte, andererseits aber effektiv eine Reduzierung des Geldangebots verhinderte. Die Arbeiter profitierten auch davon, dass per Gesetz die Mieten eingefroren wurden. Die Infla­tion reduzierte binnen Kurzem den Anteil der Mietkosten am Durchschnitts­einkommen einer Arbeiterfamilie von einem Fünftel auf ein Hundertstel. In Ver­bindung mit einer neuen Sozialgesetzgebung (Achtstundentag) und der angekündigten Verstaatlichung wenigstens eines Teils der Industrie schienen die Zukunftsperspektiven für die ärmsten Bevölkerungsgruppen alles andere als schlecht. Leidtragende der Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Arbeitern und Bauern waren natürlich die Immobilien- und Landbesitzer. In Tagebüchern und Aufzeichnungen aus den ersten Nachkriegsjahren beklagen nicht nur in Polen zahlreiche Vertreter dieser sozialen Klassen ihr tragisches Schicksal. Manche Ökonomen pflichteten ihnen bei. Anfang 1919 schreib Juliusz Zdanowski: Die Landstände sind heute die ärmste Klasse von Menschen. Die Löhne, Ausgaben und Gehälter der Arbeiter steigen (ein Setzer verdient heute in Warschau 250 Mark pro Tag), während der Gutsherr (nur er, denn der Bauer ist nicht betroffen) seine Ware zum ein halbes Jahr zuvor festgelegten Preis verkaufen soll. Die Staatsschuld wächst. Die Industrie steht still und die einzige Steuer, mit der man rechnet, sollen die Gutsbesitzer zahlen. Außerdem droht man ihnen mit Enteignung, was vor Angst jedes rationale Wirtschaften unmöglich macht. Jede Belastung und Anschuldigung der Gutsbesitzer wird mit Beifall aufgenommen.22 Die Ausnahmestellung Polens beruhte nicht auf einer besonders hohen Inflation, denn darunter litten unter den Nachkriegsbedingungen die Märkte fast aller Staaten der Region. Für die Beobachter – meist westeuropäische Ökonomen – war eher interessant, wie die Bevölkerung mit dieser unnatürlichen Situation umging. Es handelte sich wahrscheinlich um die radikalste regionale Variante der Anpassung an die vom Krieg geschaffenen Verhältnisse. Zugleich erinnerte 301

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die lockere Geldpolitik der polnischen Regierung am ehesten an Deutschland, das als Reaktion auf die Reparationsforderungen der Siegermächte massenhaft ungedecktes Geld druckte. Die Polen lernten damit zu leben. 1922 und 1923 sah es sogar einige Monate lang so aus, als könnte die von der Inflation befeuerte Wirtschaft eine durchaus gehörige Dynamik entwickeln. Kredite, hauptsächlich staatliche, waren schwer zugänglich, doch dafür fast umsonst, weil sie durch die Abwertung der Währung abbezahlt wurden. Die Preise stiegen, also verteuerten sich die produzierten Waren. Überdies sank der Wert der polnischen Mark im Ausland schneller als im Inland, was den Export lukrativer machte.23 Das Problem lag jedoch darin, dass die westliche Finanzoligarchie erst über Investitionen in Ostmitteleuropa nachdenken wollte, wenn sich die dortigen V ­ olkswirtschaften den gängigen Modellen anglichen. Unter Rückbezug auf den historischen Vergleich vom Beginn unserer Beschreibung dieser ersten wirtschaftlichen Transfor­ mation in Ostmitteleuropa könnte man die Botschaft, die der Westen dem Osten sandte, auf die Formel bringen: „There is no alternative.“ In dieser Frage vertrat selbst der wichtigste Gegner eines „harten“ Liberalismus, John Maynard Keynes, einen eindeutigen Standpunkt: Die Schwächung der Währung zerstöre die kapitalistische Wirtschaft. Durch den Prozeß fortschreitender Inflation kann eine Regierung insgeheim einen wichtigen Teil des Vermögens ihrer Bürger konfiszieren. Mit dieser Metho­de findet nicht nur eine Konfiszierung statt, sondern eine willkürliche Konfiszierung, und während dieser Prozeß viele verarmen lässt, bereichert er tatsächlich einige andere. Diese willkürliche Umverteilung gefährdet nicht nur die Sicherheit, sondern auch das Vertrauen in die Rechtmäßigkeit der Vertei­ lung des gesellschaftlichen Reichtums. Diejenigen, die von diesem System […] einen Nutzen haben, werden zu „Profiteuren“, Gegenstand des Hasses nicht nur des Proletariats, sondern auch der durch die Inflation verarmten Bourgeoisie. Schreitet die Inflation fort […], geraten alle Beziehungen zwischen Schuldnern und Gläubigern – Beziehungen, welche für den Kapitalismus fundamental sind – in eine solche Unordnung, daß sie fast bedeutungslos werden […]. Es gibt kein subtileres und gewisseres Mittel, um das Fundament der Gesellschaft umzustürzen […]. In Rußland und Österreich-Ungarn hat dieser Prozeß den Punkt erreicht, wo die Währung für Zwecke des Außen­ handels praktisch wertlos ist. […] Das Elend dort und die Auflösung der gesellschaftlichen Organisation sind allzu bekannt, als daß sie einer Analyse bedürften, und diese Länder erleben bereits in der Wirklichkeit das, was für den Rest Europas noch im Bereich der Vorhersage liegt.24 302

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Für die Staaten Ostmitteleuropas bedeuteten die Bedingungen der internationalen Finanzinstitutionen, dass sie manche der ungeschriebenen Kompromisse mit der Gesellschaft aufkündigen mussten. Wie jeder Vergleich hat freilich auch der Vergleich des Wandels nach 1918 und nach 1989 seine Grenzen. Am Beginn dieses Kapitels haben wir auf die Auflösung der Raum- und Verkehrsstrukturen infolge der Neubestimmung fast aller ostmitteleuropäischen Grenzen hingewiesen. Auf etwas längere Sicht sollte sich dieser Umbruch für die Volkswirtschaften der Region als der folgenschwerste erweisen. Der ungarische Historiker György Ránki beschreibt diesen Prozess als gescheiterten Versuch Frankreichs und Großbritanniens, die wirtschaftliche Vorherrschaft in diesem Teil Europas zu gewinnen.25 Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs war Ostmitteleuropa durch ein recht festes Netz wirtschaftlicher Abhängigkeiten verbunden. Agrar- und Industrieregionen lagen oft innerhalb der Grenzen eines Staates, wodurch die meisten Handelsbarrieren wegfielen. Die Produkte der Wiener Fabriken waren weder in Triest noch in Czernowitz ausländische Ware. Mit Blick auf die gesamte Region nahm Deutschland eine dominante Position ein. Während des Kriegs trieb das Reich die Festigung dieser Dominanz sogar noch voran. Auf der einen Seite wurde es durch die dramatische Versorgungssituation der Mittelmächte dazu gezwungen; durch Handel gelangte man wesentlich leichter an Nahrungsmittel als durch Kontributionen. Auf der anderen Seite wurde diese Politik durch die intellektuellen Anstrengungen der Befürworter des Konzepts „Mitteleuropa“ begünstigt. Die Niederlage Berlins und Wiens schwächte diese Einflüsse für eine gewisse Zeit, obwohl – wie Ránki zeigt – letztlich weder Frankreich noch Großbritannien ihren Platz als dominierende Wirtschaftsmacht in der Region einzunehmen vermochten. Noch kurz zuvor hatte es ausgesehen, als laufe alles auf eine immer engere Integration hinaus; mit dem allmählichen Erlöschen der bewaffneten Konflikte stagnierte die wirtschaftliche Entwicklung Ostmitteleuropas, um anschließend eine ganz andere Richtung einzuschlagen. Die aus den Ruinen der Imperien entstandenen jungen Staaten hatten kein Interesse an einer Wiederbelebung der Handelsbeziehungen der Vorkriegszeit. Vielmehr versuchten sie, durch hohe Zölle, direkte Markteingriffe und Reglemen­ tierungen den eigenen Produzenten unter die Arme zu greifen. Protektionismus und Barrieren für den Außenhandel galten außerdem als weiterer Schritt zur Konsolidierung der neuen Staaten. Es wurde gleichsam zu einem patriotischen Akt, frisch eroberte Territorien in einem klar von den feindlichen Nachbarn abgegrenzten Zollgebiet zusammenzuführen. Dort, wo – wie etwa in Rumänien – 303

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die heimische Industrie noch in den Kinderschuhen steckte, bestand das Ziel darin, sie in sicherem Abstand von der mörderischen ausländischen Konkurrenz zu beleben und zu modernisieren. Anfangs betrachtete man diese Fortsetzung der im Krieg praktizierten Abschottung der Märkte gegen Waren aus Feindesstaaten als vorübergehende Maßnahme, bis die Volkswirtschaften stabilisiert waren. Tatsächlich wurden in dem Maß, in dem sich die internationalen Beziehungen normalisierten, sukzessive auch die nach dem Krieg verhängten Importverbote aufgehoben. Das bedeutete aber keineswegs eine Liberalisierung des Handels. Mitte der 1920er Jahre traten in der gesamten Region neue Importzölle in Kraft: Die in den 1920er Jahren von den Staaten Mittel- und Südosteuropas eingeführten Zölle unterschieden sich in zweierlei Hinsicht deutlich von den Vor­ kriegs­zöllen: Sie betrafen wesentlich mehr Produkte und waren sehr viel ­höher. In der Atmosphäre des allgegenwärtigen Protektionismus kamen mehrere, einander ergänzende Faktoren zusammen. Der Schutz galt nicht ein­ zelnen Industriebereichen, sondern der Zahlungsbilanz, die verbessert werden musste, wenn die Preise der exportierten Waren fielen, zumal in der Zeit der chaotischen Kursschwankungen Anfang der 1920er Jahre. Obwohl in den Jahren 1924–1927 viele Handelsabkommen Breschen in diese Zollbarrie­ren schlugen, führte dies weder zu internationaler Zusammenarbeit noch zur Ab­ schwächung des Isolationismus. Trotz Nachbarschaft, natürlichen Gege­ben­­ hei­ten und historischen Traditionen ging der Handel zwischen den Staaten der Region stark zurück.26 Während die Transformation nach 1989 zur Öffnung der Märkte der ehemaligen Ostblockstaaten für ausländisches Kapital und ausländische Waren führte, blieb die Transformation nach 1918 in dieser Hinsicht weitgehend folgenlos. Der Monetarismus der Regierungen, die zur Bekämpfung der Inflation sogar steigende Arbeitslosigkeit, Steuererhöhungen und sinkende Einkünfte in Kauf nahmen, verband sich mit ihrem Protektionismus zugunsten der heimischen Industrie und ihrem Isolationismus. Die maßgeblichen Ökonomen vertraten die Auffassung, die rückständigen Staaten müssten sich vor allem um das heimische Kapital kümmern, indem sie innerhalb der Staatsgrenzen einen radikalen Liberalismus praktizierten, nicht aber darüber hinaus. In der Praxis bedeutete dies den Fortbestand der Zollbarrieren und das Ende der Stimulation der Nachfrage mithilfe der Notenpresse. Abgesehen von ökonomischen Erwägungen, entsprang diese verblüffende Liaison von Marktfreundlichkeit und Isolationismus einem 304

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rein politischen Kalkül. Die Wirtschaftspolitik in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan befand sich immer noch im Kriegszustand; das Hauptanliegen bestand darin, das eigene Potenzial gegen die feindliche Konkurrenz zu schützen. Den Preis für den Schutz des heimischen Kapitals zahlten die Arbeiter und Bauern und damit die sozialen Gruppen, die unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg als größte Gewinner der Transformation galten.

Bodenreformen Die in vielen Tagebüchern und Erinnerungen aus dieser Zeit wiederkehrende Klage über das Schicksal der Grundbesitzer in Ostmitteleuropa war durchaus begründet. Diese Gruppe erlitt tatsächlich enorme Verluste durch Krieg, sanktionierten und wilden Raub sowie durch den Fiskalismus der neuen Nationalstaaten in den ersten Jahren ihres Bestehens (als die Regierungen Arbeiter- und Bauernrevolten noch mehr fürchteten als die Inflation). Außerdem waren die Zwischenkriegsjahre in Polen und Rumänien eine Zeit, in der ein großer Teil der Landbevölkerung nicht nur seine Position verbesserte, sondern ganz aus dem Wirtschaftskreislauf ausschied. Włodzimierz Mędrzecki spricht in diesem Zusam­ menhang vom „posttraditionellen sozialen Sektor“: Die grundlegenden Lebensstrategien seiner Teilnehmer stammten aus der vorindustriellen Welt. Sie dienten der Sicherung der basalen materiellen Bedürfnisse und dem Schutz der Familie, die gleichzeitig die zentrale soziale und ökonomische Gruppe darstellte.27 Auf einer der niedrigsten Stufen der sozialen Leiter standen die Bauern in den Regionen, in die der Kapitalismus nur punktuell vorgedrungen war. Im sumpfigen Polesien, dessen national nicht eindeutig definierte Bevölkerung von weißrussischen und ukrainischen Nationalisten umworben wurde, stützte sich die traditionelle ökonomische Ordnung auf ein archaisches Verständnis vom Recht des Grundbesitzes. Der polnische Soziologe Józef Obrębski charakterisierte die Mentalität der polesischen Muschiks wie folgt: Die Verfügung über das Land ist eine der komplexesten sozialen Institutionen, weil sie das Verhältnis des Menschen zum Land bestimmt. Sie ist umso komplexer, je primitiver und weniger rationalisiert die Strukturen sind, mit denen wir es zu tun haben. Polesien ist in dieser Hinsicht ein sehr anschauliches Beispiel für ein aus heutiger Sicht primitives, komplexes und nicht rationalisiertes Gesellschaftssystem. […] Das zentrale gesellschaftliche – nicht gesetzliche – Recht auf Land leitet sich nicht aus dokumentierten und belegbaren 305

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Ansprüchen ab, sondern aus der Lebenspraxis, das heißt durch die Nutzung dieser im kollektiven Besitz befindlichen Gebiete durch das Individuum, das sein Nutzungsrecht durch eine Reihe gewohnheitsmäßiger Leistungen gegenüber den anderen Mitbesitzern erwirbt. Einen Rechtsanspruch auf das Land [haben] die folgenden [Subjekte]: der Zar (oder der Staat), der Herr, der Bauer, das Dorf, die Kirche (oder der Pope). […] Diese Besitzverhältnisse in Polesien [werden] von Juristen mit den Begriffen der Rechtsperson und des Rechtsobjekts umfasst. Rechtspersonen [sind] Herr, Bauer, Gemeinde. […] Dort, wo die Vielzahl der Ansprüche zu doppelter Nutzung führt, [entsteht] ein Rechtsverhältnis nicht zwischen Subjekt und Objekt, sondern zwischen Objekt und Objekt. Die Hauptaufgabe der Reform ist es, dieses archaische Verhältnis aufzulösen.28 Die Bauern aus der archaischen Welt der Pflicht in die moderne Welt des Besitzes zu versetzen, war eine ehrgeizige wie schwierige Aufgabe, die die jungen Nationalstaaten durch Bodenreformen zu lösen versuchten. Ein genauerer Blick auf die lokalen Varianten in der Umsetzung dieser Reformen zeigt aber, dass auch ganz andere Motive eine Rolle spielten. Zunächst ist anzumerken, dass die Frage der Bodenreform nicht alle Staaten Ostmitteleuropas in gleichem Maß betraf. So besaßen etwa Österreich, der tschechische Teil der Tschechoslowakei oder der slowenische Teil Jugoslawiens schon vor 1914 eine starke Bauernschaft, die fest in die kapitalistische Wirtschaft integriert und politisch gut repräsentiert war. In anderen Ländern, etwa in Serbien oder Bulgarien, hatten sich die tradierten Formen des Landbesitzes mit einer starken Schicht reicher Landwirte erhalten. Große Grundvermögen gab es kaum, das größte Problem schien die Verschuldung der Höfe.29 Ganz anders sah es vor allem auf dem Gebiet des einstigen russischen Imperiums und in Rumänien aus. Gleichwohl entsprach die Heftigkeit der Debatte über die Bodenreform nicht immer den realen Unterschieden in der Verteilung des Grundbesitzes. Die Kriegsjahre zeitigten auf dem Land überall dieselben Folgen. Die reicheren Bauern wurden vor allem dank des Schwarzmarkts noch reicher. Mit der Zeit übernahmen sie selbst in so konservativen Gegenden wie der ungarischen Provinz Posten in der lokalen Selbstverwaltung.30 Gleichzeitig rutschte die arme Dorfbevölkerung immer schneller ins Elend und radikalisierte sich, wie etwa die von Péter Hanák zitierten Briefe aus ungarischen Dörfern zeigen. In den schlimmsten Fällen kam es – nicht nur in Ungarn – zu den schon angesprochenen Aufständen von Soldatenfrauen, den sogenannten Reservistinnen. Im Herbst 306

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1918 begleiteten chaotische Ausbrüche unkoordinierter Gewalt – Überfälle auf Dorfbeamte, Müller, Kaufleute – den Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Herrschaft. Aufmerksame Beobachter erkannten aber rasch, dass sich der Charakter der Unruhen veränderte. Die anfangs spontanen Revolten verwandelten sich in organisierte Aktionen. Ein Beispiel dafür war der Überfall von Bauern auf die Stadt Kaposvár. Die Angreifer waren gut vorbereitet und hatten eine ausreichende Anzahl von Fuhrwerken für den Abtransport der Beute mobilisiert. Es müssen also auch vermögendere Landwirte beteiligt gewesen sein, weil arme Bauern weder Fuhrwagen noch Pferde besaßen.31 Ein ähnliches Bild boten einige Pogrome in den polnischen Gebieten. Der Bauernüberfall auf Kolbuszowa, wo die Menge gegen Soldaten und Gendarmen vorging, war spontan und vorbereitet zugleich. Die mehreren Tausend Bauern, die sich aktiv an dem Pogrom beteiligten, stammten aus der armen Dorfbevölkerung, im Hintergrund warteten jedoch schon die reicheren Bauern mit ihren Fuhrwerken. Die Gewalt auf dem Land wurde gegen Kriegsende endemisch. Stanisław Stempowski, auf dessen Gut im Osten der Ukraine deutsche Kriegsgefangene arbeiteten, vermerkte die wachsende „Dreistigkeit“ seiner bäuerlichen Nachbarn. Immer öfter wurden „seine“ Kriegsgefangenen von Dorfweibern geschlagen, die immer unerschrockener seine Felder abgrasten. Stempowski erinnerte sich daran, was ein benachbarter Landwirt ihm in den Revolutionsjahren 1905–07 gesagt hatte: Einst fragte mich Dmytri Kret, ob es die Duma noch gebe. Ich antwortete, ja, es gebe sie noch, und wollte wissen, warum ihn das interessierte. „Solange es die Duma gibt, funktioniert das Recht nicht und man kann alles tun, alles ist erlaubt.“ „Was denn zum Beispiel?“ „Rebellieren. Denn wenn die Bauern nicht rebellieren, dann heißt das, sie sind zufrieden mit ihrem Leben, und man wird ihnen kein Land geben.“ Und deswegen rebellieren auch unsere Bauern.32 Die Bauern waren in Aufruhr und in Gebieten, durch die die Front gezogen war, zu allem Übel oft auch bewaffnet. Vor 1914 hatte der Staat meist mit drakonischen Maßnahmen reagiert; Beispiele waren der Einsatz der k. u. k. Polizei bei Pogromen in Galizien in den 1890er Jahren oder das brutale Vorgehen der rumänischen Armee gegen revoltierende Bauern während des Aufstands von 1907. 1918 sah die Sache anders aus. Selbst Staaten, die theoretisch an Stärke gewonnen hatten, agierten sehr viel zurückhaltender. Die bolschewistische Revolution, die den Bauern Land versprach, versetzte alle Nachbarländer in Angst und Schrecken. Schon Ende 1916 stellte die rumänische Regierung ihren Bauernsoldaten 307

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für den Kriegsdienst Land in Aussicht. Der königliche Appell war recht nebulös formuliert: […] indem sie für die Einheit der Nation kämpfen, kämpfen die Bauern auch für ihre politische und wirtschaftliche Befreiung. Ihre Tapferkeit gibt ihnen größere Rechte auf das Land, das sie verteidigen; darum halten wir es heute mehr als je zuvor für unsere Pflicht, eine Boden- und Wahlrechtsreform durchzuführen.33 Doch schon wenige Monate später begann die rumänische Regierung – die sah, wie die verbündete russische Armee auseinanderfiel – in den noch immer von ihr kontrollierten Gebieten (das heißt in Bessarabien) mit der Parzellierung der ersten großen Grundvermögen.34 Die in den Jahren 1918–21 von der ersten Nachkriegsregierung unter General Alexandru Averescu durchgeführte Bodenreform gehörte zu den radikalsten Veränderungen der Struktur des Grundbesitzes in Ostmitteleuropa nach dem Ersten Weltkrieg. Der Ministerpräsident, ein konservativer Militär mit autoritären Zügen und Veteran der Niederschlagung des Bauernaufstands von 1907, vollzog die Umverteilung (bei finanzieller Entschädigung der Vorbesitzer) von rund einem Drittel der agrarisch genutzten Flächen des Landes. Es handelte sich um eine Operation von gigantischem Ausmaß, selbst wenn man berücksichtigt, dass die rumänische Regierung bevorzugt ungarische und russische Grundbesitzer enteignete. Fast 1,5 Millionen Bauern erhielten Land, das sie innerhalb von 25 Jahren abbezahlen sollten; ein Teil wurde den Selbstverwaltungen überschrieben.35 Es ist kaum vorstellbar, dass sich die rumänische Obrigkeit in ruhigeren Zeiten zu einem derart entschlossenen Schritt durchgerungen hätte. Ein klarer Zusammenhang zwischen der bolschewistischen Bedrohung und der Bereitschaft zur Linderung des Elends der Bauern bestand auch in Polen. Im Juli 1920, also während der Tuchatschewski-Offensive, beschloss das Parlament eine radikale Bodenreform, deren Umsetzung freilich auf einen späteren Zeitpunkt verschoben wurde. Als es so weit war, erwies sich das Ausmaß der Umverteilung als recht überschaubar. Mitte der 1920er Jahre gehörte etwa die Hälfte der Ackerflächen Großgrundbesitzern, die, nebenbei bemerkt, deutlich ertragreicher wirtschafteten als die Kleinbauern.36 In vielen Gegenden des Landes erinnerten materielle Situation und Mentalität der Bauern noch kurz vor dem Zweiten Weltkrieg an die von Obrębski beschriebenen archaischen Verhältnisse. Der ukrainische Zentralrat ließ sich von einer Mischung aus Furcht und Faszination und der Hoffnung auf nationale Wiedergeburt leiten. Die Übergabe des 308

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gesamten Landes an die Bauern ohne Entschädigung der Besitzer wurde schon im sogenannten dritten Universal von November 1917 bekannt gemacht. Die ukrainische Linke war entschlossen, den Menschen mehr als die Bolschewiki zu bieten. Einige Mitglieder des Zentralrats standen dem Programm jedoch skeptisch gegenüber. Der ukrainische Grundbesitzer und Kulturmäzen Jewhen Tschykalenko bemerkte im Gespräch mit Mychajlo Hruschewskyj, diese Reform mache jeden zum Feind der ukrainischen Staatlichkeit, der mehr Land besitzt, als die vorgesehene gesetzliche Norm erlaubt, und nur mit dem Proletariat lässt sich kein Staat errichten.37 Die Skepsis der Konservativen war berechtigt. Die Bauern reagierten auf die neue Wohltat des Staates, indem sie Höfe und Wälder der Gutsherren mit doppel­ tem Elan plünderten. Aufgrund der ethnischen Zusammensetzung der Grundbesitzerschaft auf dem Gebiet der Ukraine protestierte vor allem die ­Presse der polnischen Minderheit (mit Ausnahme der sozialistischen Zeitungen); der Minister für polnische Angelegenheiten in der ukrainischen Regierung erklärte seinen Rücktritt (den er aber rasch zurücknahm). Wenige Wochen später sah sich die Ukraine einer bolschewistischen Offensive gegenüber, was den Zentralrat zur Verabschiedung des vierten Universals bewog. Es enthielt die Erklärung der ­vollen Unabhängigkeit, einen an alle Staatsbürger gerichteten Aufruf zur Verteidigung des Vaterlandes, die Ankündigung der Errichtung einer Volksmiliz an­ stelle der (praktisch ohnehin nicht mehr existenten) regulären Armee sowie die folgende Information: In der Agrarfrage hat die in der letzten Sitzung des Rates gewählte Kommission auf der Grundlage des Beschlusses der 8. Sitzung über die Abschaffung des Privateigentums und die Vergesellschaftung des Bodens schon einen Geset­ zesentwurf über die entschädigungslose Übertragung des Grundbesitzes an die arbeitenden Massen erarbeitet. […] Die Regierung des Zentralrats unternimmt alle erforderlichen Schritte, damit die Umverteilung des Landes zugunsten der Bauern durch die Dorfkomitees noch vor der Frühjahrsaussaat vollzogen werden kann. Die Wälder, Gewässer und Bodenschätze unseres Landes sind das Eigentum der ukrainischen arbeitenden Massen.38 Die Auswirkungen der ukrainischen Bodenreform auf die Struktur des Grundbesitzes sind schwer einzuschätzen, weil diese keine materielle Gestalt mehr annahm. Mehr weiß man über die Reaktionen der Begünstigten. Im August 1919 309

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veranstaltete das Außenministerium der Ukrainischen Volksrepublik in Karlsbad ein Botschaftertreffen. Dort bewertete der ukrainische Botschafter in Berlin, der Linguist Roman Smal-Stockyj, die Lage auf dem ukrainischen Land rückblickend wie folgt: Die Stimmung in den Dörfern ist ruhig, abwartend. Von Sozialisierung des Bodens wollen die Dörfler nichts hören, sie möchten Grundeigentum. […] Zur ukrainischen Regierung und zur Staatlichkeit äußern sie sich ganz ungeniert. Sie sagen: „Wir brauchen einen Herrn, unter dem Kaiser war das Leben billiger.“ Die Staatsmacht hat keinerlei Einfluss auf die Dörfer.39 Außenminister Wolodymyr Temnyzkyj widersprach Smal-Stockyj nicht, sondern bekannte: Wir wollen offen sein: Unsere Position ist aussichtslos. Die Regierung wird von keiner sozialen Schicht unterstützt. Die ukrainischen Parteien sprechen die Angelegenheiten der Bauern und Arbeitern an, doch keine von ihnen repräsentiert die wahre Stärke dieser Schichten. Und deshalb ist die Regierung vom Volk isoliert. Früher standen die Massen entschieden hinter dem Bol­ sche­wismus und demonstrierten gegen die Ukrainer. Heute haben sie sich vom Bolschewismus abgewandt und bekennen sich trotzdem weder zur ukrainischen Nationalität noch zur ukrainischen Staatlichkeit. Die feindselige Haltung gegenüber Ausländern darf man nicht mit Nationalbewusstsein verwechseln, denn sie sind auch Feinde der galizischen Ukrainer. Wenn sie auf dem Land sagen, es gebe keine Herrschaft, so bedeutet das, dass sie einen Zaren wollen.40 War die Furcht vor bolschewistischer Agitation begründet? Sofern man Lenins Parole von der Enteignung der Großgrundbesitzer und der Übergabe des Lands an die Bauern ernst nimmt, ja. Anders als die sozialistischen Experimentatoren in der Ukraine wusste der Anführer der Bolschewiki, was die Bauern hören wollten. Wenn man aber die bolschewistische Praxis in Ostmitteleuropa betrachtet, so erscheinen die panischen Reaktionen weit weniger gerechtfertigt. Die bolsche­ ­wistische Politik für den ländlichen Raum zeigte sich in den polnischen Gebieten kurz während der Tuchatschewski-Offensive im Sommer 1920. Und gerade sie bildete den Gegenstand des schärfsten Streits innerhalb der kommunistischen Partei. Während Lenin und Felix Dserschinski den polnischen Bauern das Land als Eigentum überlassen wollten, waren Julian Marchlewski und die Mehrheit der Mitglieder des Provisorischen Polnischen Revolutionskomitees für die Kol310

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lektivierung. Dabei orientierten sie sich nicht nur an der kommunistischen Ideologie. Auch Beobachtungen aus der jüngsten russischen Vergangenheit spielten eine Rolle: Bekanntlich wollte aber Marchlewski, der sich der Verteilung des Groß­grund­ besitzes an landlose Bauern und Kleinbauern entgegensetzte, die Fehler Russ­ lands vermeiden, wo die Gutshöfe geplündert worden waren, einschließlich der Zerstörung des Inventars, der Maschinen und Geräte, was ihre Produktivität minderte, während die ärmsten Bauern ohnehin nichts gewannen, weil die Gutsböden meist reicheren Bauern und Kulaken zufielen. Für Marchlewski waren die Gutshöfe „Brotfabriken“, die man verstaatlichen und teils sogar zu größeren „Kombinaten“ verbinden musste, statt sie zu parzellieren.41 Angesichts des Dilemmas, entweder die Unterstützung der Bauern zu verlieren oder den Zusammenbruch der Nahrungsmittelproduktion zu riskieren, wählten die polnischen Kommunisten die erste Option. Damit zeigten sie, dass sie die jüngsten Ereignisse in der Region falsch interpretierten. Doch sie waren nicht die Einzigen. Eine ähnliche Haltung vertraten etwa die rumänischen Kommunisten, die naiv mit der Unterstützung der Bauern für die Kollektivierung rechneten.42 Kaum ein Jahr vor Marchlewskis Streit mit Dserschinski und Lenin gingen auch die ungarischen Kommunisten denselben Weg, freilich mit dem schlechestmöglichen Ergebnis. Ein Blick auf den ungarischen Versuch zur Lösung der Agrarfrage ermöglicht eine Vorstellung davon, in welche Richtung die Pläne der verhinderten kommunistischen Machthaber in Polen gingen. Nach der Machtübernahme in Budapest vollzogen Béla Kun und seine Mitstrei­ ter schnell zahlreiche radikale Reformen. Mitunter auch zu radikale. Kuns Stellvertreter (und nach 1947 der „ungarische Stalin“) Mátyás Rákosi verfügte von einem Tag auf den anderen die Schließung aller Geschäfte mit Ausnahme der Lebensmittelläden und Apotheken. Auf den Verkauf von Waren ohne Genehmigung der Regierung stand die Todesstrafe. Die absurde Anordnung wurde schon einen Tag später zurückgenommen, doch die meisten Geschäfte blieben geschlos­ sen. Vergleichbar übereilt und undurchdacht war die Politik der Verstaatlichung von fast allem, Schmuck und Ersparnisse der Staatsbürger eingeschlossen. Auch die Agrarpolitik der ungarischen Kommunisten bildete keine Ausnahme. Die kommunistische Presse wetterte gegen die von der Regierung Károlyi ­begonnene Aufteilung des Großgrundbesitzes unter den Bauern: Es war einer der größten Fehler der ungarischen Revolution, daß sie die reaktionäre Demagogie tolerierte und die Verbreitung jener unsinnigen, unmögli311

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chen, krankhaften und antisozialistischen Losung duldete, daß Bodenreform mit Bodenaufteilung identisch sei.43 Weil die Bauern sich weigerten, ihr Land gegen das von den Kommunisten gedruckte Geld zu verkaufen, schickte man Requisitionskommandos in die Provinz. Die Bauern störte auch der aufdringliche Antiklerikalismus der Regierung. Die Abneigung war gegenseitig: Die Kommunisten sahen in den Bauern eine konterrevolutionäre Klasse. In einem Bericht aus Westungarn meldeten die dortigen Kommissare im Mai 1919: Die Bauernschaft ist überall konterrevolutionär und die passive Arbeiterklasse hat keine Sympathie für die Diktatur des Proletariats. Die Armee verweigert den Gehorsam. Täglich treffen Berichte über konterrevolutionäre Umtriebe ein. […] Im Komitat Mosonmagyaróvár revoltieren viele Dörfer, zur Wieder­ her­stellung der Ordnung müssen wahre Schlachten geführt werden. […] Dort, wo die Bauern nicht offen rebellieren können, ertragen sie unsere Herrschaft mit unterdrückter Wut. Man könnte ruckzuck mit ihnen fertig werden, wenn nur die Arbeiter revolutionär genug wären; doch diese sind zu keinen Opfern fähig.44 Die Bauern folgten einem völlig rationalen Kalkül. Die vermögenderen fielen unter das Gesetz über die Verstaatlichung des Bodens. Auch die weniger vermögenden konnten sich nicht sicher fühlen, weil die Regierung keine Untergrenze für die zu nationalisierenden Flächen bestimmt hatte. Diese Herangehens­weise ­gefiel niemandem auf dem Land. Die zur Agitation der Bauern in die Provinz entsandten Emissäre des Innenministeriums bekamen das am eigenen Leib zu spüren. Einer von ihnen berichtete: Ich wollte ihnen den Erlass Nr. 38 über die Bodenreform vorlesen. Punkt 1 [der Boden ist ausschließliches Eigentum der Arbeitenden] wurde mit Applaus quittiert, doch als ich Punkt 2 vorlas [Verstaatlichung großer und mittlerer Grundvermögen mitsamt dem beweglichen Vermögen], brach ein Sturm der Entrüstung los und die Leute fingen an zu schreien: „Nieder mit dem Kom­ munismus!“, „Schlagt die Banditen!“, „Einsperren das Schwein!“, „Wir lassen uns vom Staat nichts wegnehmen!“45 Im Juni 1919 wurde in Budapest der Rätekongress einberufen. Eigentlich sollte er die Einheit des städtischen und ländlichen Proletariats demonstrieren, doch er wurde zum Schauplatz von Wortgefechten, in denen meist Delegierte vom Land 312

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in der Offensive waren. Während die Redner die Brutalität und Ignoranz der Budapester Genossen anprangerten, ergänzten ihre Mitstreiter im Saal frei heraus: „Nieder mit den Juden!“46 Einer der Delegierten sagte: Auf den schwarzen Flügeln des Nepotismus und der Bürokratie kamen die Kommissare für Produktionsfragen ins Dorf geflogen. Doch ihr Wissen über die Landwirtschaft stammt aus Bilderbüchern für Kinder. Im Kreis Enying wollte ein Kommissar, dass wir im April Weizen säen.47 Schließlich trat der über derartige Impertinenz erboste Béla Kun ans Rednerpult: Das, was sich hinter der Frontlinie und selbst auf diesem Kongress abspielt, ist eine offene Aufforderung zum Pogrom und zur Konterrevolution. Hier, in diesem Saal, wurde gestern ein handgeschriebener Pogromaufruf verteilt, der anschließend auf den Schreibtisch eines unserer Genossen geschmuggelt wurde […]. Wie soll die Rote Armee Kampfwillen aufbringen und die Moral aufrechterhalten, wenn hier, auf dem Nationalen Rätekongress, und selbst auf dem Parteikongress gegen die Juden gehetzt und zu Pogromen aufgerufen wird? Die Bauern hungern die Städte aus und rebellieren. Die Provinz befindet sich nicht nur deshalb im Feuer der Konterrevolution, weil es, wie der Genosse Horváth [einer der Delegierten vom Land] sagt, überall von Peiesträgern wimmelt, sondern vor allem, weil unsere Genossen aus der Provinz jegliches Opfer scheuen […]. Ich als Jude scheue mich nicht, dieses Thema anzusprechen. Mein Vater war Jude, aber ich bin keiner mehr, weil ich Sozialist und Kom­ munist wurde. Doch viele von denen, die in christlichen Familien geboren wurden, sind immer noch, was sie waren: christliche Sozialisten.48 Letzten Endes veränderte die ungarische Räteregierung auf dem Land kaum etwas. Dennoch erzeugte sie große Empörung und an manchen Orten auch den bewaffneten Widerstand der enttäuschten Bauern. Die großen Grundvermögen blieben ungeteilt. Zwar wechselte der Besitzer, doch jemand, der sich nicht für Politik interessierte, konnte das übersehen. Der komplette Kader der Gutsangestellten, Ökonomen und Pächter blieb vor Ort und erfüllte weiter seine bisherigen Pflichten, wenngleich nun nicht mehr im Namen aristokratischer Besitzer, sondern im Namen der Räteregierung. Der Agrarkommissar György Nyisztor gab offen zu, dass dies keine Wunschlösung, sondern schlichter Notwendigkeit geschuldet war: Ich könnte wetten, dass so ein Ökonom gestern noch mit der Knute dort stand, als Sklaventreiber seines Herrn. Seine Seele ist von bourgeoiser Ideologie 313

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durchtränkt. Aber, um Gottes willen [sic!], sagt mir doch, wo wir angemessenen, kompetenten Ersatz hätten auftreiben sollen?49 Für die Kommunisten hatte ihr Vorgehen fatale Folgen. Das konterrevolutionäre Regime von Miklós Horthy konnte von Anfang auf die Unterstützung nicht nur der Gutsbesitzer, sondern auch der mittelreichen Bauern zählen. Sowohl die einen als auch die anderen waren der Sorge um ihr Vermögen müde und sehnten sich nach einer Stabilisierung der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Wiederherstellung der alten Ordnung nahmen sie erleichtert auf. Die neue Regierung wollte jedoch den Bogen nicht überspannen und die Struktur des Grundbesitzes den neuen Zeiten anpassen. 1920 trat eine neue Bodenreform in Kraft, die etwas weniger als zehn Prozent der bewirtschafteten Flächen betraf und von der mehr als 100 000 Kleinbauern profitierten. Freilich hatte Horthy nicht vor, echte oder vermeintliche kommunistische Sympathisanten davonkommen zu lassen. Das Landproletariat stellte etwa die Hälfte der mehreren Tausend Todesopfer der Repressionen „weißer“ und rumänischer Militärs und damit genauso viele wie die Juden, die wie überall der Zusammenarbeit mit den Kommunisten verdächtigt wurden. Außerdem wurden im ganzen Land „kompromittierte“ Landarbeiter entlassen; auf den staatlichen Gütern waren bis zu einem Viertel der Arbeiter betroffen.50 Rumänien und Ungarn sind Beispiele für eine Agrarpolitik, die von der Angst vor Bauernrevolten und dem Stopp der Nahrungsmittellieferungen in die Städte diktiert wurde. Die verblüffende Entscheidung der polnischen und ungarischen Kommunisten, den Großgrundbesitz de facto weiterbestehen zu lassen, war bis zu einem gewissen Grad ein Reflex der Kriegserfahrung der Mittelmächte. Diese lehrte, dass es leichter war, große Landwirtschaftsbetriebe zu kontrollieren oder sogar direkt zu verwalten, als ununterbrochen mit einer Masse von Kleinbauern zu verhandeln. Auch hier ging es letztlich nicht um eine Verbesserung des Lebens der Bauern, sondern um die Sicherung einer adäquaten Versorgung für Arbeiter und Soldaten. Für die klugen Beobachtungen Józef Obrębskis war in dieser Politik kein Platz. Der ukrainische Versuch, den ländlichen Raum für die nationale Sache zu mobilisieren, ist das vielleicht extremste Beispiel dafür, wie weit die Reformideen von den wirklichen Bedürfnissen der Bauern entfernt waren. Statt über eine sinnvolle Umverteilung des Grundbesitzes und der gesellschaftlichen Transformation nachzudenken, versuchte die Ukrainische Volksrepublik die Bauern auf ihre Seite zu ziehen, indem sie ihnen das ausschließliche Recht auf den Besitz des gesamten Grundeigentums zuerkannte. 314

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Die bisher skizzierten Bodenreformen waren ebenso radikal in ihrer Rhetorik wie begrenzt in ihrer Reichweite. Komplett durchgeführt wurde die Umverteilung des Grundbesitzes nur in Rumänien, was die materielle Situation der Bauern allerdings kaum verbesserte, weil ihnen nur kleine, wenig ertragreiche Höfe zugewiesen wurden. Die zwei baltischen Staaten Estland und Lettland gingen das Problem ganz anders an. Beide Staaten wiesen eine höchst spezifische Sozialstruktur auf: Die Bauern gehörten zu fast 100 Prozent dem neuen Herrschervolk an, die Großgrundbesitzer hingegen meist der ethnischen Minderheit. Während der Diskussion über eine künftige Reform um die Jahreswende 1918/19 wurde dies deutlich sichtbar. Ende November schrieb die lettische Zeitung Jaunakas Sinjas: Es muß gesagt werden, daß bei der Aufrollung der Agrarfrage das wirtschaftliche Gewicht des Adels stark abnehmen wird, denn die Agrarfrage kann nur im demokratischen Sinne gelöst werden. In Erkenntnis dieser Sachlage stemmen sich die Ritterschaften gegen die großen Umwälzungen, die in Livland und Estland vor sich gegangen sind. Die Edelleute hoffen noch immer, daß Umstände eintreten könnten, die ihre Situation verbessern würden. Die Erwartungen und die Sehnsucht des Adels waren bisher mit dem monarchistischen Deutschland verknüpft, doch besteht dieses Deutschland nicht mehr. Auf die Entente können die Edelleute auch nicht hoffen.51 In beiden Ländern betrachtete man die Reform als Frage der historischen Gerechtigkeit. Jahrhundertlang waren Esten und Letten Untertanen und die deutschen Barone Herren gewesen. Während der Revolution 1905–07, als der Klassenkonflikt bürgerkriegsähnliche Ausmaße annahm, hatte der russische Staat die deutschen Grundbesitzer vor den lettischen und estnischen Bauern geschützt. Zu den alten Rechnungen kamen nach 1914 neue hinzu, vor allem im Zusammenhang mit der Haltung der Baltendeutschen in den lettischen und estnischen Unabhängigkeitskriegen. Tatsächlich wurden beide Reformen – die estnische 1919 und die lettische 1920 – oft als Rache angesehen. Man arbeitete mit Methoden, die die Betroffenen als schreiendes Unrecht empfanden. In Estland umfasste die Reform 96,6 Prozent des Grundbesitzes und damit etwa die Hälfte der Staatsfläche, in Lettland war es ähnlich. Verstaatlicht wurden auch Wälder und Viehherden. Eine Entschädigung der Gutsbesitzer war nicht vorgesehen. Den bisherigen Besitzern blieb zwar ein Teil des Vermögens, doch auch diese Reste versuchte man zu entwerten oder zu konfiszieren. In Lettland, wo die einstigen Barone 50 Hektar Land 315

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behalten durften, wurden abwesenden Besitzern (die sich meist in Deutschland aufhielten) die schlechtestmöglichen Parzellen zugeteilt. In Estland übernahm der Staat die Kontrolle über das Vermögen abwesender Eigentümer und, wenn diese nicht rasch ihre Ansprüche anmeldeten, verloren sie ihren Besitz unwiderruflich. Man forderte von den neuen alten Besitzern, ihre gesamte Ackerfläche zu besäen. Wer sich nicht daran hielt, wurde enteignet. Das alles verlief in feierlicher Atmosphäre. Die linke Tageszeitung Sotsialdemokraat schrieb: Die Bodenreform ist da, die Gutshöfe werden übernommen, der Feudalismus wird abgeschafft und die Nester der Sklavenbesitzer verwandeln sich in Kul­ tur­zentren. […] Natürlich gefällt diese Veränderung all jenen ganz und gar nicht, die sich an Sklavenarbeit bereicherten. Sie gefällt natürlich denjenigen nicht, deren Interessen mit den Interessen der Barone verflochten waren. Und auch nicht denjenigen, die davon träumen, eines Tages selbst zu Baronen zu ­werden.52 Unter diesen Umständen verzichteten viele geflüchtete Grundbesitzer auf eine Rückkehr. Gleiches galt für die übrigen Emigranten der jüngsten Zeit, die zahlreichen Pächter, Ökonomen, Gutsangestellten und auch Handwerker deutscher Abstammung. In den Augen der Zeitgenossen waren die baltischen Reformen ein Erfolg: radikal und zugleich konsequent umgesetzt. Unter dem Aspekt der politischen Einheit der neuen Staaten scheint eine solche Einschätzung gerechtfertigt. Für viele Bauern bedeutete die Reform eine materielle Verbesserung, für den Staat eine deutliche Erweiterung seiner gesellschaftlichen Basis. Die niedrige Siedlungsdichte war zweifellos hilfreich: Es war genügend Land vorhanden, um die Bedürfnisse der Bauern zu befriedigen und Höfe von einer Größe zu schaffen, die ein autarkes Wirtschaften ermöglichten.53 Niemand machte dabei einen Hehl daraus, dass das langfristige Ziel der Reform nicht die Modernisierung der Landwirtschaft war, sondern die Vollendung der lettischen und estnischen Nationenbildung. Unter wirtschaftlichem Aspekt waren die Ergebnisse weniger beeindruckend. Estland und Lettland konnten nicht an das Produktivitätswachstum der – größeren und moderneren – Vorkriegswirtschaften anknüpfen. Außerdem wurde die Bodenreform wie die ungarische – und wie generell jede große Umverteilung – von Korruptionsaffären und frustrierenden Versäumnissen begleitet. Die Presse berichtete über staatliche Verwalter der enteigneten Güter, die ihre Pflichten vernachlässigten, Geld unterschlugen, Raubbau an den Wäldern betrieben, Verwandte und Bekannte einstellten oder schlicht inkompetent waren.54 316

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Obwohl die Bodenreform in Litauen ein ähnliches Ausmaß wie in den baltischen Nachbarstaaten hatte, führte sie nicht zu vergleichbaren Erfolgen.55 Dafür hatte sie dieselben negativen Begleiterscheinungen. Auch hier wurden jahrhundertealte Wälder gerodet oder Schlossparks verkommen lassen. Die Zerstörung wurde von patriotischen Losungen untermalt, denn die Grundbesitzer waren überwiegend nicht ethnische Litauer, sondern Polen, Russen oder Deutsche.56 Das Empfinden, es werde ein Akt der historischen Gerechtigkeit vollzogen, schützte gleichwohl nicht vor der Enttäuschung über den Preis, der dafür gezahlt werden musste. Aus solchen Beobachtungen speiste sich die zunehmend laute Kritik an den Bodenreformen in Ostmitteleuropa. Unabhängig vom Land und von der Sprache, in der sie geäußert wurde, waren die Argumente oft dieselben. Jewhen Tschykalenko erklärte Hruschewskyj, der Staat schmälere seine gesellschaftliche und wirtschaftliche Basis, indem er die Gutsbesitzer schädige. Die deutschsprachige Estländische Zeitung fügte dieser taktischen Erwägung ein moralisches Argument hinzu: Geboren aus engherzigen Chauvinismus, aufgebaut auf der Basis sozialistischer Utopien, ist das neue Gesetz ein grober Appell an diejenigen Instinkte der Massen, die wir mit Recht nicht gerade zu den edelsten Trieben der menschlichen Natur rechnen. Nehmen und nach Möglichkeit nicht zahlen – das ist der primitive Aktionsplan, den die Verfasser des Gesetzes entwickeln.57 Auch die schon im Ersten Weltkrieg entstandenen Gutsbesitzerverbände verwiesen auf den moralischen Schaden, der entstünde, wenn man den Bauern die geistige Führung durch die Herren nähme. Zur Rhetorik der Verbände kamen praktische Aktivitäten – der Kampf gegen die Abholzung von Wäldern und die Besetzung von Weideland oder das Bemühen um günstige Kredite für verschuldete Gutsbesitzer.58 Ein weiterer Einwand gegen die Bodenreformen verband sich mit der Frage nach den eigentlichen Profiteuren. Denn es waren nur scheinbar die landlosen Bauern und Kleinbauern. In Wirklichkeit hatten eher wohlhabendere Bauern die größere politische Durchsetzungskraft bis hin zu einer eigenen Partei. Zdanowski übertrieb sicher nur wenig, als er im Dezember 1918 vermerkte: In Miechów konnte ich feststellen, wie der tatsächlich vollzogene Umsturz neue Kräfte an die Oberfläche gespült hat. Zumal in einer so absolut ländlichen Gegend sind Agrarparolen die mitreißendste Melodie. Und das in einer Versammlung reicher Bauern. Hier geht es mitnichten um die Bedürfnisse 317

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der Arbeitslosen, wie es immer heißt, nicht um ideale Gerechtigkeit. Die Agrarfrage ist in diesem Kreis die Frage nach Anlagemöglichkeiten für das von eben diesen reichen Bauern angehäufte Geld.59 Das gewichtigste Wort zur Verteidigung des Adelsbesitzes kam jedoch aus einer gänzlich unerwarteten Richtung. Anders als in Estland, Lettland oder Rumänien schien es in den tschechischen Gebieten, als sei der ländliche Raum bereits ein vollwertiger Bestandteil der kapitalistischen Wirtschaft und als könnten die Bauern effektiv für ihre Rechte kämpfen. Gleichwohl führte auch die Tschechoslowakei eine Bodenreform durch, in deren Zuge die größten Grundbesitzer enteignet wurden. Ein wesentliches Merkmal des entsprechenden Gesetzes war der Spielraum, den es der Verwaltung bei der Aufteilung der Güter ließ. Betroffen waren im Prinzip (gegen Entschädigung) Ackerflächen von mehr als 150 Hektar oder allgemeine Flächen von mehr 250 Hektar. Unter bestimmten Bedingungen konnten Interessenten zu niedrigen Preisen sogenannte Restgüter von etwa 100 Hektar erwerben. Im Gegensatz zu den meisten anderen Bodenreformen in der Region bevorzugte die Reform in den tschechischen Gebieten Landwirte, die Kapital und Erfahrung besaßen und ihre Höfe vergrößern wollten. Aus diesem Milieu stammte auch der tschechische Historiker Josef Pekař, der um die Jahreswende 1922/23 in der Tageszeitung Národní listy in mehreren Artikeln die Prämissen der Reform kritisierte. Die meisten der von ihm angeführten Argumente ließen sich auf alle anderen Fälle anwenden. Pekařs erster und wichtigster Kritikpunkt muss damaligen Beobachtern ebenso offensichtlich erscheinen sein, wie er heutigen Historikern offensichtlich erscheint. Die Radikalität der Bodenreform hing entscheidend von der ­Nationalität der Großgrundbesitzer ab. Überall dort, wo sie nicht dem herrschenden Volk angehörten, versuchte man sie nach Möglichkeit zu schwächen. Im tschechischen Fall richtete sich die Reform, ähnlich wie in Lettland und ­Estland, vor allem gegen die Deutschen, in Rumänien und der Slowakei gegen die Ungarn, in Jugoslawien gegen die bosnischen Muslime, die ungarischen Gutsbesitzer in der Wojwodina, die kroatischen Großgrundbesitzer und gegen die österreichischen Landeigentümer in Slowenien, in der Ukraine gegen die Polen. In all diesen Fällen waren die Reformen durch Nationalismus motiviert. Die ­aktivsten Kritiker einer solchen Politik waren die Sudetendeutschen. Bis 1929 gingen beim Völkerbund elf Protestschreiben der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakischen Republik ein. In allen stand mehr oder weniger das ­Gleiche: 318

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[…] die Durchführung der Bodenreform hat gezeigt, daß es den Tschechen nicht um einen sozialen Ausgleich zu tun war, sondern daß sie […] in der Bodenenteignung und Neuverteilung die „gesetzliche“ Möglichkeit sahen, die anderen Volksgruppen in ihrer Lebenskraft gefährlich zu schwächen.60 Die tschechischen Politiker lieferten bereitwillig Argumente, die diese Anklage stützten, indem sie offen zugaben, es gehe ihnen darum, deutschen Besitz an Tschechen und ungarischen Besitz an Slowaken zu übertragen. Inwieweit es sich dabei um Rhetorik handelte und inwieweit um echte Überzeugung, ist unter Historikern bis heute umstritten. Vielleicht, so Jaromír Balcar, wollten die Prager Abgeordneten nur den Eindruck vermitteln, sie hätten die Lage im Griff, während die Bodenreform in Wirklichkeit eine Reaktion auf die beunruhigenden Nachrichten aus der Slowakei war, wo die revoltierenden Bauern selbst die Aufteilung großer Ländereien in Angriff nahmen. Angeheizt wurde die Stimmung noch durch Ankündigungen der ungarischen Kommunisten, die den Bauern in der Slowakei die Verteilung des Großgrundbesitzes versprachen, obwohl sie im eigenen Land darauf verzichteten.61 Für Pekař war aber gerade die Rhetorik das größte Problem. Die Aussagen gegen die deutschen und ungarischen Grundbesitzer machten auf ihn den schlechtesten Eindruck. Problematisch war nicht der Nationalismus, der sich in ihnen manifestierte, sondern dessen Art: Es war ein unsicherer, unmoralischer, schäbiger Nationalismus: Mir scheint, den Tschechen ist noch nicht ausreichend bewusst, was es bedeutet, dass wir einen eigenen Staat haben, einen Staat, der über enorme wirtschaftliche und finanzielle Mittel verfügt; mir scheint, sie leiden noch immer unter der Vorstellung der eigenen Kleinheit und Schwäche, deshalb sehnen sie sich nach einem Handeln, dass ihnen – wie sie meinen – ruckzuck bringen soll, was ein vorausschauender Mensch und wahrer Politiker lieber nach und nach erreichen würde, durch ein moralisch einwandfreies Handeln, Sparsamkeit, eigenes Bemühen und eigene Arbeit. Mein Nationalismus wünscht sich ein selbstsicheres, sich seiner Stärke bewusstes Tschechien, das Hinterlist und Gewalt verachtet.62 Trotz der schönen Parolen von sozialer Gerechtigkeit waren viele Bodenreformen der Nachkriegszeit nichts anderes als Manifestationen des Nationalismus schwacher und kleingeistiger Völker. Pekař ging noch weiter – er richtete den Blick zurück auf die historische Ungerechtigkeit, die durch die Reform angeblich gesühnt 319

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werden sollte. Im tschechischen Fall ging es um die Folgen der Niederlage der böhmischen Stände im Kampf gegen die katholischen Habsburger 1620 in der Schlacht am Weißen Berg. Im Anschluss waren die protestantischen Eliten gegen katholische ausgetauscht worden. In der verbreiteten Interpretation wurde der Protestantismus mit dem Tschechentum gleichgesetzt, der Katholizismus hingegen mit dem prohabsburgischen Deutschtum. Pekař stellte diese Sicht auf die Vergangenheit infrage und wies darauf hin, dass eine wirkliche Rückgabe der Ländereien an die einstigen Eigentümer die Anzahl der deutschen ­Grundbesitzer nicht verringern, sondern im Gegenteil vergrößern würde. Darüber hinaus habe sich gerade dieser Adel durch die Finanzierung zahlreicher Projekte, etwa des Museums des Königreichs Böhmens, und die Förderung des größten Nationalhis­ torikers František Palacký um die tschechische nationale Sache verdient gemacht. Die neuzeitlichen Konfessionsgrenzen in moderne nationale Kategorien zu übersetzen, widerspreche nicht nur fundamentalen geschichtswissenschaftlichen Prinzipien. Bei einer konsequenten Anwendung gelangte man auch zu völlig anderen Ergebnissen als den von den Reformern angestrebten. Ein weiterer Punkt, der Pekař störte, war die Geringschätzung des Rechts, die selbst die frisch verabschiedeten Bestimmungen zur Bodenreform betraf. Nicht nur in der Tschechoslowakei waren die Entscheidungen darüber, wem wie viel Land genommen und wem zu welchem Preis Land verkauft wurde, reine Ermessenssache. Die bruchstückhaften Daten deuten darauf hin, dass Bauern „tsche­ chos­lowakischer“ Nationalität um ein Vielfaches häufiger Boden erhielten als Deutsche oder Magyaren in vergleichbarer materieller Situation.63 Entgegen der Behauptungen sudetendeutscher Propagandisten war das keine Frage der tsche­ cho­slowakischen Gesetze, sondern vielmehr ihrer mangelhaften Umsetzung.64 Mitunter ereigneten sich auch Fälle von offenem Unrecht. Pekař verteidigte sogar die frühere Herrscherfamilie, die das Schloss Konopiště zurückforderte, dass mit der kompletten Liegenschaft nationalisiert worden war. Nach Auffassung des Historikers fiel der Sitz Franz Ferdinands nicht unter die Kriterien der Bodenreform. Der Erzherzog erlebte die neuen Zeiten nicht mehr und sein Sohn Max war nicht mehr Thronfolger. Andernfalls, so Pekařs Argumentation, wäre Karl I. ein gewöhnlicher Usurpator gewesen. Dieser Liste von Kritikpunkten fügte Pekař einen weiteren hinzu, den wir aus der Debatte um die Bodenreform in Estland kennen. Die Gutswälder und -parks gehörten zu den gepflegtesten und schönsten Beispielen der Sorge des Menschen um die Natur. Ihre ökonomische Ausbeutung hielt Pekař nicht nur für barbarisch, sondern auch für zutiefst unpatriotisch. Nicht nur er war der Auffassung, dass die 320

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Übertragung des Umverteilungsprozederes an die Agrarpartei statt zu einer gerechten Aufteilung zum Stimmenkauf gegen Land führen würde. Die Bodenreformen rollten über Ostmitteleuropa hinweg wie eine Lawine. Binnen weniger Jahre gelangten sie in der einen oder anderen Form fast überall hin. Kenner der Situation auf dem Land bezweifelten nicht, dass sie notwendig waren, um einen großen Teil der Gesellschaft ins wirtschaftliche und politische Leben der jungen Staaten zu integrieren. Und doch führten die meisten Maßnahmen nicht zu einer grundlegenden Verbesserung der Lage der Bauern. In Polen und Ungarn war das Ausmaß der Veränderungen zu gering, in Rumänien und Jugoslawien waren die neu geschaffenen Höfe zu klein. Die Bauern, um deren Sympathien die unabhängige Ukraine mit den Bolschewiki rivalisierte, fielen ein Jahrzehnt später dem Holodomor zum Opfer. Selbst dort, wo die Reform nach allgemeiner Auffassung erfolgreich verlief – in der Tschechoslowakei, in Lettland und in Estland –, produzierten die Bauernhöfe weniger Nahrungsmittel zu höheren Preisen als vor dem Krieg. Die Enttäuschung rührte daher, dass die politischen Ziele der Reformen komplett an den Bedürfnissen der Bauern vorbeigingen. Die Regierungen und Parteien wollten die ethnischen Verhältnisse zugunsten des herrschenden Volkes verändern und gleichzeitig die Unterstützung der Bauern gewinnen. Letzteres versuchte man auf die einfachste Weise, indem man real oder wenigstens symbolisch auf den Adel einschlug. Nicht von ungefähr verboten direkt nach dem Ersten Weltkrieg fast alle Parlamente der unabhängigen Staaten das Führen von Adelstiteln. Viele Reformen machten auch den Eindruck, als dienten sie nicht primär der Verbesserung der bäuerlichen Lebensbedingungen als vielmehr der Abrechnung mit den „Relikten des Feudalismus“ – ungeachtet der realen Verfehlungen oder Verdienste des Adels. Historische Ereignisse zählten mehr als die Kriegserfahrungen der letzten Jahre, in denen die Grundbesitzer mindestens ebenso sehr gelitten hatten wie die Bauern. Vielleicht attackierte man die Aristokratie aber auch gerade deswegen, weil sie keine wirkliche Macht mehr darstellte. Verarmt und ohne politischen Einfluss, in ständiger Sorge vor Bauernaufständen oder der bolschewistischen Invasion war sie ein dankbares Ziel. Auch darauf wies der untypische tschechische Verteidiger des Adels hin: Ihr sagt: Revolution. Als Historiker weiß ich, was die Revolution vermag, zumal eine richtige und nicht nur ein Imitat. Daher hätte ich durchaus Ver­ ständnis für die Losung: Nehmen wir den Reichen, was sie zu viel haben, und geben wir es den Armen; ihr seht also, ich bin nicht grundsätzlich gegen die Bodenreform. Aber ich verstehe überhaupt nicht, warum die tschechische 321

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Revolution die echten Haie des Kapitalismus in Frieden ließ, die Finanz- und Industriemagnaten, die bei uns im letzten halben Jahrhundert stark geworden sind und die immer und überall dem antinationalen Lager angehören. Stattdessen richtete sich der revolutionäre Furor nur gegen den Landadel, der seit Jahrhunderten in tschechischem Boden verwurzelt ist und ebenso lange Träger der tschechischen Geschichte war, gegen einen Adel, der sich trotz aller Schwächen und Sünden unbestreitbar große Verdienste für das tschechische Volk erwarb.65

Vaterland und Unterhosen Der Krieg veränderte die soziale Stellung der Frau auf für jeden offensichtliche und für viele irritierende Weise. Entscheidend war nicht einmal, dass Ehefrauen, Töchter und Schwestern die Plätze der an die Front geschickten Männer einnahmen. Auch nicht, dass die Anzahl der uniformierten Briefträgerinnen oder Straßenbahnschaffnerinnen stetig stieg. Selbst die Sanitäterinnen, die notorisch der heimlichen Prostitution verdächtigt wurden, forderten die überkommenen Verhältnisse nicht so sehr heraus wie die Politisierung der Frauen. Wie Ute Frevert schreibt, glaubte man im Deutschen Reich, ein Sieg des deutschen „Männerstaates“ würde […] feministischen Forderun­gen langfristig den Wind aus den Segeln nehmen und Politik wieder uneingeschränkt als nationale Selbstbehauptung und damit als Männersache erscheinen lassen.66 Unterdessen wurde, je länger der Krieg dauerte, die Forderung nach einem Frauen­ wahlrecht und überhaupt nach Gleichberechtigung immer lauter. In den ersten Kriegsjahren betätigten sich Frauenorganisationen vor allem auf dem Feld der karitativen Hilfe. Adressaten waren ausgewählte hilfsbedürftige Gruppen, meist Angehörige der eigenen Volksgruppe. Die Aktivitäten wirkten ansteckend: Die jüdische Presse betrachtete die Wohltätigkeitsorganisationen der polnischen Frauen als Vorbild für die jüdischen Damen aus der besseren Gesellschaft, estnische Frauen eiferten den Deutschen und Österreicherinnen nach, indem sie ihren Soldaten Pakete mit Zigaretten und warmer Unterwäsche an die Front schickten, denn damit sollte „heimelige Wärme und Liebe in den kalten Verteidigungsgraben gebracht“67 werden. Die häufigste Form des Engagements von Frauen war der Betrieb von Armenküchen und die Kriegswaisenfürsorge. All diese Bereiche der Sozialhilfe unterlagen bald der Ethnisierung. Man 322

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imitierte zwar fremde Muster, doch man verlieh ihnen jedes Mal einen dezidiert nationalen Charakter. Sehr auf nationale Symbolik bedacht war etwa die nach deutschem Vorbild gegründete finnische Organisation Lotta Svärd, in der sich Sanitäterinnen, Kanzleibeamtinnen und andere Frauen, die ohne Uniform hinter der Front dienten, zusammenfanden. Lotta Svärd wiederum wurde zur Inspiration für die estnische Naikodukaitse, die sich selbstredend um estnische Soldaten kümmerte.68 Manchmal wurde die Zielgruppe einer Organisation noch enger gefasst. Die Frauenliga des Obersten Nationalkomitees in Galizien und später die Frauenliga zur Kriegsvorbereitung unterstützten grundsätzlich nur polnische Legionäre und deren Familien. Nach November 1918 dehnten sie ihre Aktivitä-

Kreuzstichdarstellung der ­ euen beruflichen Tätigkeits­ n felder von Frauen.

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ten auf alle Soldaten der polnischen Streitkräfte aus, auch auf die einfachen Rekruten. Diese Veränderung gefiel nicht allen Aktivistinnen: Charakteristisch ist die Aussage einer der Liga-Frauen, dass die Fürsorge für die Soldaten ihren ganzen Reiz verliere, [wenn] nun die Rekruten kämen, die zum Armeedienst gezwungen wurden, und man nicht mit denen zu tun habe, die für die Idee kämpften.69 Die Ausgabe von warmen Mahlzeiten und das Senden von Paketen an die Front waren jedoch keineswegs die einzigen Aufgaben der Frauenorganisationen, die sich mit der Zeit immer mutiger am lokalpolitischen Leben beteiligten. Für viele konservative Kommentatoren waren die „Liga-Frauen“ unerträgliche Claqueurinnen Piłsudskis, manchmal auch sozialistische Agitatorinnen. Juliusz Zda­ nowski brandmarkte ihr Verhalten im Parlament Anfang 1919: Das Publikum benimmt sich wie auf einer Kundgebung. Es applaudiert und ruft Bravo an Stellen, die ihm gefallen. […] Einige Liga-Frauen oder Hysterike­ rinnen überreichten Daszyński einen Blumenstrauß, mit dem er umherspaziert.70 Eine ähnliche allergische Reaktion auf die öffentlichen Auftritte der Frauen hätte fast sogar zum Verbot der Organisation geführt. Schon 1917 war es in diesem Kontext zu einer ernsten Krise in der Krakauer Frauenliga gekommen. Der (später heiliggesprochene) Lemberger Erzbischof Józef Bilczewski kritisierte in einem Hirtenbrief die Frauenliga als sozialistische Agentur, die unter dem Deckmantel der Wohltätigkeit eine gottlose Ideologie im Volk verbreite. Er versäumte auch nicht darauf hinzuweisen, dass an der Spitze des Lemberger Ablegers eine Jüdin stand. Die angegriffene Organisation nahm den Kampf nicht auf, sondern kapitulierte sofort, indem sie aus dem Obersten Nationalkomitee austrat (und damit zeigte, was in Wirklichkeit Bilczewskis Groll erregte). Dieser Schritt besänftigte den Erzbischof, der den Liga-Frauen erlaubte, weiter mit katholischen Frauenorganisationen zusammenzuarbeiten.71 Dass der Frauenbewegung die Linke näherstand als die Konservativen, überraschte niemanden. Entscheidend für die Feministinnen waren dabei weniger die liberalen Sitten- und Sozialvorstellungen, sondern vor allem die Unterstützung der Sozialisten für die Einführung des Frauenwahlrechts. Gerade diese gemeinsame Forderung der Linken und der Frauenverbände wurde in den letzten Jahren des Ersten Weltkriegs zu einem sehr konkreten Projekt. Wenige Monate nach der Affäre mit dem Erzbischof fand in Warschau ein Frauenkongress mit 324

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mehr als tausend Delegierten und Gästen statt. Das Kongressmotto lautete: „Bürgerwerdung der Frauen in einem unabhängigen vereinten polnischen Staat“. Die Rednerinnen betonten durchgehend, dass es kein Zurück zur Vorkriegssituation der Frauen gebe. Wirtschaft und Politik lieferten starke Argumente. Die Frauen waren massenhaft in den Arbeitsmarkt eingetreten, doch sie trugen auch, wie Romana Pachucka nachdrücklich unterstrich, die Last eines Krieges, der von Männern verschuldet worden war.72 Es sei höchste Zeit, dass sie sich aktiv an der Neuausrichtung der Politik beteiligten, die zu dieser Katastrophe geführt habe. Pachuckas Worte trafen exakt den Geist der Zeit. Wenig später hörte man identische Worte von Feministinnen in ganz Ostmitteleuropa. So schlug auch während einer Volksabstimmungskundgebung in Kärnten eine slowenische Aktivistin die gleichen Töne an: Gott sei mein Zeuge, dass wir Frauen, wenn wir Hosen trügen, uns fürchterlich für die Katastrophe schämen würden, die von den auch so intelligenten Män­nern heraufbeschworen wurde. Sie waren es, die sich gegenseitig metzelten und mordeten, während wir, die Frauen, litten […] und warteten, bis diese Wahnsinnigen wieder zur Besinnung kommen. […] In diesen langen Jahren haben wir, die Frauen, uns geschworen, dass in Zukunft auch wir öffentlich etwas zu sagen haben werden, dass wir die Gemeinden, die Kreise und das Land mitverwalten werden. Wir werden uns weniger für die neuesten […] Hüte und Pullover interessieren, sondern darauf konzentrieren, wie wir leben wollen […], damit wir alle zufrieden und glücklich sein können und damit uns die Männer nicht wieder in dieses Krieg genannte Chaos hereinziehen können.73 Das Argument, politische Rechte für die Frauen brächten der Welt den Frieden, war infantil und zudem ein wenig konfus. Tatsächlich engagierte sich ein Teil der europäischen Feministinnen während des Kriegs in der Friedensbewegung. 1915 fand im neutralen Den Haag der internationale Frauenfriedenskongress statt, an dem eine sehr große Delegation ungarischer Frauenverbände teilnahm.74 Vor allem das linksliberale Milieu um die Zeitschrift A Nő (Die Frau) vertrat konsequent eine pazifistische Position: Man argumentierte, nur die Gleichberechtigung könne ein neuerliches Blutvergießen verhindern. Kronbeweis war das auch von Feministinnen in anderen Ländern immer wieder beschworene Norwegen – das Land, in dem Frauen das allgemeine Wahlrecht besaßen und in dem kein Krieg herrschte. Einige der ungarischen Aktivistinnen waren im oppositionellen Galileo-Kreis aktiv, weshalb sie unter polizeilicher Beobachtung standen, und 325

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A Nő unterlag einer strengen Zensur. 1918 wurden einige Aktivisten wegen der Teilnahme an Antikriegsdemonstrationen verhaftet.75 Allerdings war nur eine kleine Minderheit der Feministinnen pazifistisch gesinnt. Die Mehrheit wirkte an der Kriegsanstrengung mit und bezog daraus die Argumente für die „Bürgerwerdung“. Den größten Teil der zur Beteiligung am Krieg mobilisierten Frauen stellten natürlich Krankenschwestern und Maschinenschreiberinnen, Arbeiterinnen und Beamtinnen. Doch es gab bekanntlich auch Frauen, die mit der Waffe in der Hand kämpften. Eine besondere Gruppe von Polinnen, Tschechinnen und Ukrainerinnen waren die Agentinnen und Informantinnen, die weiblichen Spione. Die meisten gab es im Dienst der Polnischen Legionen und in der geheimen Polnischen Militärorganisation (Polska ­Organizacja Wojskowa), was klar auf die Frauenliga als Hauptreservoir der Ge­ heim­­dienste hindeutet. Schon zu Kriegsbeginn arbeiteten im Nachrichtendienst der Legionen fast 50 Frauen, die Piłsudski und durch dessen Vermittlung den Mittelmächten Informationen lieferten.76 Tomasz Nałęcz schreibt dazu: Wie viel Józef Piłsudski persönlich dem Nachrichtendienst verdankte, zeigten am deutlichsten die zahlreichen Auszeichnungen, die auf die zahlenmäßig kleine Einheit niederregneten. Fast die Hälfte der Kurierinnen erhielt den Orden „Für treue Dienste“. Im freien Polen wurden von den 46 weiblichen Mitgliedern des Nachrichtendiensts sieben mit dem Kreuz Virtuti Militari und siebzehn mit dem Tapferkeitskreuz ausgezeichnet.77 Das politische Engagement war mit realen Gefahren für Leben und Gesundheit verbunden. Nicht alle Kurierinnen erlebten das Kriegsende und keine Seite scheute sich, der Spionage verdächtige Frauen zu hängen. Selbst Frauen, die sich nicht unmittelbar engagierten, waren von Repressionen betroffen. Im Oktober 1915 wurde Alice Masaryková, die Tochter des „Staatsverräters“ Tomáš Garrigue Masaryk, verhaftet. Sie verbrachte acht Monate in einem Wiener Gefängnis, wo sie vielen Frauen begegnete, die man der unterschiedlichsten Vergehen beschuldigte – keineswegs nur politischer, denn sie teilte notgedrungen die Zelle mit Kriminellen, die sich als sympathische Leidensgenossinnen erwiesen. Angesichts der Strenge der österreichisch-ungarischen Gerichte hatten die „normalen“ Häftlinge womöglich Mitleid mit ihren Kameradinnen, denen selbst für absurd harmlose Akte des Ungehorsams drakonische Strafen drohten: Als ich in Wien ins Gefängnis kam, saßen in Zelle 207 außer mir noch zwei Tschechinnen. Frau Saková bekam zwölf Jahre, weil sie sich positiv über die russische Armee geäußert hatte. Rela Kotíková wurde für den Besitz und die 326

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Verteilung eines prorussischen Flugblatts zum Tod durch den Strang verurteilt.78 Alice Masaryková hatte mehr Glück. Die Anklage gegen sie stand von Anfang an auf tönernen Füßen. Wie sie später berichtete, versuchte ihr Vater die Familie aus seinen Aktivitäten herauszuhalten. An der Unterstützungsaktion für Masaryková beteiligten sich auch amerikanische Feministen, was wohl den Ausschlag dafür gab, dass sie letztlich freigelassen wurde. Gerade noch rechtzeitig, denn trotz der netten Zellengenossinnen hatte die unbegründete Haft ihre Psyche ernsthaft angegriffen. Im Frühjahr 1916 klagte sie in einem Brief an die Mutter: Liebste Mutter, ich will Dir berichten, was ich soeben erlebte. Ich hatte einen Nerven­zu­ sammenbruch. Jede Nacht wache ich auf und weiß nicht, wo ich bin, und dann kann ich mich nicht erinnern, weshalb ich hier gelandet bin. Mein Herz schlägt so stark, dass ich fast keine Luft bekomme, und das geht nun schon mehr als zwei Monate so. Jetzt habe ich Hoffnung, dass ich überlebe, aber ich stand kurz vor dem völligen Zusammenbruch. Mein Verstand teilte sich in zwei Hälften: Die eine war völlig leer, in der anderen rauschte es ständig, sodass ich nicht verstand, was man zu mir sagte. Ich fühle, dass ich am falschen Ort bin.79 Der Krieg involvierte selbst die Frauen, die mit ihm nichts zu tun haben wollten. Auch insofern verwundert es nicht, dass ihre politisch bewussten Geschlechtsgenossinnen eine Verbesserung ihrer sozialen und politischen Stellung anstrebten. Ein Flugblatt der polnischen Frauenliga brachte im Oktober 1918 die Sache auf den Punkt: Polen entsteht! […] wir glauben, dass es groß, unabhängig, vereint und volksnah sein muss – als polnische Staatsbürgerinnen begrüßen wir ein solches Vaterland! In diesem so wichtigen historischen Moment, in dem die alte morsche Weltordnung einstürzt und die Götzen des uralten Aberglaubens zu Staub zerfallen – in diesem Moment darf auch die entschiedene und starke Forderung der Frauen nach gleichen staatsbürgerlichen Rechten nicht fehlen. Wer in hochtrabenden Phrasen demokratische Parolen und Programme verkündet und die Gleichberechtigung der Frau stillschweigend übergeht – der ist ein Lügner und ein politischer und gesellschaftlicher Betrüger. Wer in schönen Worten vom wiedergeborenen Polen spricht und nicht deutlich sagt, 327

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dass jede Polin eine gleichberechtigte Bürgerin dieses neuen Polen sein muss – der trägt nur die Worte von der Wiedergeburt auf den Lippen, doch in der Seele die alten Vorurteile! Wir fordern die vollen Bürgerrechte für die polnische Frau, damit sie uneingeschränkt mit ihrer ganzen Arbeit dem wiedererstehenden Vaterland dienen kann.80 Nicht immer wurde die Erwartung, dass den Frauen im Gegenzug für ihren ­patriotischen Einsatz endlich gleiche Rechte zugestanden würden, so offen ausgesprochen wie im Fall der polnischen Frauenliga.81 Doch sie war weitverbreitet, selbst in konservativen und nationalistischen Frauenverbänden, die gerade während des Krieges ihre Hilfs- und Propagandaaktivitäten verstärkt hatten.82 In­ wieweit sich die Hoffnungen der politisch aktiven Frauen erfüllten, ist nicht eindeutig zu sagen. Ihre Forderungen trafen auf Widerstand, teils auch entgegen öffentlicher Solidaritätsbekundungen. Im Februar 1918 forderten litauische Feministinnen und konservative Aktivistinnen in einer von 20 000 Menschen unterzeichneten Petition an die Taryba (den Litauischen Staatsrat, der das noch immer inexistente Parlament ersetzte) die Kooptation von Frauen. Der Moment der Übergabe war gut gewählt, man begann gerade mit der Erweiterung des bislang 20-köpfigen Rates, dessen Mitgliederzahl sich damit kurz vor seiner Auf­ lösung verdoppelte. Der Vorsitzende der Taryba, Antanas Smetona, nahm die Petition entgegen und versprach den Delegierten seine Unterstützung. Letztlich schloss er sich aber der Fraktion an, die den Standpunkt vertrat, die Politik sei kein Ort für Frauen, und legte die Sache zu den Akten.83 Smetonas Verhalten war in gewisser Weise typisch für die Region. Die Notwendigkeit der Einführung des Wahlrechts für Frauen wurde allgemein anerkannt – solange diese Großmütigkeit keine allzu konkreten Folgen hatte. In der Praxis erwies sich der Übergang von der Legislative zur Exekutive als unüberwindliche Barriere für den politischen Aufstieg der Frauen. In fast allen Staaten Ostmitteleuropas und des Balkans saßen Frauen in den Parlamenten. In die – meist schwachen und oft wechselnden – Regierungen schafften sie es so gut wie nirgends. Sehr selten besetzten sie auch hohe Ämter in den politischen Parteien (wenn doch, meist in sozialistischen).84 Obwohl das Wahlrecht zweifellos eine neue Ära in der Geschichte der Frauenbewegungen einläutete, bedeutete es vorerst weder wirkliche politische Mitbestimmung noch einen Wandel der Vorstellungen von den sozialen Rollen der Geschlechter.85 Nach Ausnahmen von dieser Regel sucht man vergeblich. Vorreiter der „Bürgerwerdung“ war die Tschechoslowakei, in deren Nationalversammlung acht 328

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Frauen saßen (bei insgesamt 269 Delegierten). Tomáš Garrigue Masaryk, nun nicht mehr Staatsverräter, sondern allgemein geschätzter Anführer, bekundete anlässlich der ersten Sitzung des Parlaments seine Freude darüber, dass unter den Abgeordneten auch Frauen zu sehen seien. Im gleichen Sinn äußerten sich landesweit die regierungstreuen Medien. Die slowakische Frauenzeitschrift Slovenská žena schrieb feierlich: Der Weltkrieg hat auf wunderbare Weise alle Forderungen nach Gleich­be­ rechtigung der Frauen erfüllt, denn in eben dieser Zeit haben Frauen aus der ganzen Welt bewiesen, dass sie selbst große Herausforderungen geistig zu erfassen und zu bewältigen vermögen. Vor allem die tschechoslowakische Frau, der die k. u. k. Regierung nahezu keine Rechte zuerkannte, stellte ihre Reife in jeder Hinsicht unter Beweis – politisch, wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell. Auf allen Gebieten des menschlichen Tuns vollbrachte sie bewundernswerte Leistungen. Es wäre also ein Akt der Gerechtigkeit, wenn die Tschechoslowakische Republik diejenige zum vollberechtigten Bürger machte, die sich am meisten für die Nation opfert und arbeitet, indem sie ihr dieselben Rechte verleiht, wie sie die Männer besitzen. Und es ist Sache der slowakischen Frau, diese Rechte nun legal und zum Wohl ihres Volkes zu nutzen.86 Was derartige Deklarationen wert waren, zeigt ein Blick auf die Nationalversammlung, in der keine einzige Slowakin saß. Die Slowakei wurde von Alice Masaryková vertreten, deren Verbindungen zu diesem Teil der Republik rein symbolischer Natur waren. Eine weitere Enttäuschung brachte den Slowakinnen die parlamentarische Arbeit an der Vereinheitlichung des Zivilgesetzbuches. Wie andere Staaten Ostmitteleuropas auch hatte die Tschechoslowakei mehrere unterschiedliche Rechtssysteme geerbt. Die in der Slowakei und der Karpatenukraine geltenden ungarischen Gesetze unterschieden sich in vielen Punkten von den österreichischen (und damit den tschechischen). Einer dieser Punkte war die rechtliche Stellung der Frau. Vor 1918 waren die Untertaninnen des ungarischen Königs im Fall einer Scheidung oder des Tods ihres Ehemanns materiell weitaus besser abgesichert als die Frauen in Cisleithanien. Sie waren auch weniger von den Männern abhängig. Diese zwei Sachverhalte, die teils als Überbleibsel des Feudalismus galten, teils als liberale und moderne Lösungen gepriesen wurden, gerieten nach 1918 ins Kreuzfeuer der Kritik. Unter dem Banner des Kampfs gegen die „Magyarisierung“ und „mittelalterliche Relikte“ beschnitt der moderne tschechoslowakische Staat Schritt für Schritt die Rechte, derer sich die Frauen in der Slowakei vor 1918 erfreuten.87 329

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Der Staat gab also den Frauen mit der einen Hand politische Rechte, nahm ihnen jedoch einen Teil ihrer ökonomischen und bürgerlichen Rechte. Diese ­Regel galt mit gewissen Abweichungen auch in anderen Staaten der Region. In Polen, wo die Vereinheitlichung der Rechtsnormen mindestens ebenso schwierig wie in der Tschechoslowakei war, waren auf dem Papier eigentlich alle poli­ tischen Fraktionen der Verfassunggebenden Nationalversammlung für die Gleichberechtigung. In der Praxis stießen die Arbeiten an der Vereinheitlichung und Liberalisierung des Zivilrechts auf ähnliche Probleme wie im Nachbarland. In zig konkreten Paragrafen existierten schmerzliche Einschränkungen, etwa in Bezug auf das Recht von Frauen, über ihr eigenes Vermögen zu verfügen oder als Partei vor einem Notar aufzutreten. Aus Sicht der Vorkämpferinnen für die Frauenrechte wirkte dies wie eine bewusste Blockade der Anhänger der patriarchalischen Ordnung. Historiker des polnischen Rechts sehen darin eher einen Ausdruck der in der politischen Klasse verbreiteten Überzeugung, dass die bürgerlichen Rechte der Frau unwichtig seien. Gegen die Systemdebatten über Staat und Nation war dieser Bereich von vornherein zu einer marginalen Rolle verurteilt.88 Die neue Freiheit brachte den Frauen zahlreiche Enttäuschungen – der Unwille der Männer, die Macht zu teilen, war nur eine davon. Die Erinnerungen und Tagebücher aus dieser Zeit sind voll von Schilderungen frustrierender Erlebnisse. Der Beitrag der Frauen zur Kriegsanstrengung wurde mit dem Ende des Weltkriegs bedeutungslos. Noch kurz zuvor mächtige Organisationen wie die polnische Frauenliga schrumpften zusammen und verwandelten sich in karitative Nichtregierungsorganisationen mit immer geringeren politischen Ansprüchen.89 Die österreichische Sanitäterin Marianne Jarka erinnerte sich, wie ihr nach der Rückkehr vom Isonzo seitens der Nachbarn völlige Gleichgültigkeit entgegenschlug. Um ihre zwei Kinder zu ernähren, musste sie ihre Auszeichnungen für treue Dienste bei der Milchfrau gegen Milch eintauschen. Verbittert sah die ehemalige Kriegsheldin mit an, wie die Milchfrau den Glitzerschmuck ihren Kindern zum Spielen gab.90 Eine nicht ganz so traurige, aber kaum weniger frustrierende Erfahrung machte eine Aktivistin der Frauenliga in Radom. Die Unabhängigkeit kleidete sich dort ins Rot der sozialistischen Fahnen, in die man das Rathaus gehüllt hatte. Ob­ wohl den meisten Liga-Frauen die linken Positionen der neuen polnischen Obrig­ keit zu radikal waren, meldeten sie sich zahlreich, um dem wiedererstandenen Vaterland zu dienen. Das lokale Militärkommando hatte ihnen nur eines anzubie­ ten: Unterhosen für die Soldaten zu nähen.91 330

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Viele Frauen empfanden den Undank des Vaterlandes im Moment des politischen Umbruchs. Eines der politisch aktiveren Milieus in den tschechischen Ge­ bie­ten waren die Lehrerinnen, die sich vor allem bei Wohltätigkeitsaktionen in der Kriegszeit verdient gemacht hatten. Als nach dem Krieg jedoch der erste landesweite Lehrerkongress stattfand, wurde keine Frau zur Teilnahme zugelassen (an dem letzten Vorkriegskongress 1908 hatten acht Rektorinnen von Mädchenschulen teilgenommen). Die Lehrerinnenzeitschrift Časopis učitelek kommentierte: […] gerade haben wir die erste Enttäuschung erlebt. […] In der freien tschecho­ slowakischen Republik mussten wir einen schmerzlichen Schlag hinnehmen, weil der erste landesweite Lehrerkongress ganz ohne Vertreterinnen der Frauen stattfinden wird.92 Auch die Bilanz der Veränderung der beruflichen Stellung der Lehrerinnen war ambivalent. Die Tschechoslowakei schaffte eine der unangenehmsten Vorschriften des alten Österreich ab, die aktiven Lehrerinnen die Heirat untersagte. Eine Änderung des Familienstands bedeutete somit nicht mehr den Verlust der Arbeit. Dennoch erhielten die von der Front zurückkehrenden Lehrer rasch ihre alten Arbeitsstellen zurück, während den sie bis dahin vertretenden Kolleginnen die Arbeitslosigkeit drohte. Als Sicherheitsventil erwiesen sich die Slowakei und die Karpatenukraine. Die ungarischen Schulen beschäftigten Lehrer, die meist die örtliche Sprache nicht kannten und sich auch nicht die Mühe machten, sie zu erlernen – das Ziel bestand schließlich in der Magyarisierung möglichst vieler stammesfremder Landesbewohner. Das hatte zur Folge, dass im Osten des Landes nach 1918 fast 100 Prozent der Lehrerstellen neu besetzt wurden. Hier fand sich ein Platz für die arbeitslosen tschechischen Lehrerinnen, sofern sie bis zu einem vorgegebenen Termin die Grundlagen der slowakischen Sprache beherrschten. Trotz der staatlichen Propaganda, die auf Schritt und Tritt den Slogan von der Einheit der tschechoslowakischen Nation propagierte, bedeutete der Umzug für viele von ihnen eine Reise in eine völlig andere Welt. Albína Honzáková, eine Tschechischlehrerin am Jungengymnasium in Trenčín schrieb: Vielleicht werden sich diese Jungen irgendwann daran gewöhnen, aber was soll man tun, wenn es diesen unerzogenen Kindern im Blut liegt und sie sich nicht daran gewöhnen? Sprich leiser, dann werden vielleicht auch sie leiser. Ich stelle mir das schon vor! Diese Kinder sind nicht auf Schule dressiert – sie sind viel lebhafter. Natürlich kann man mit solchen Geschöpfen klarkommen, 331

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solange man nicht paukerhaft handelt; man muss sie interessieren, ihnen viele Bilder zeigen, sie unterhalten. Man braucht Lehrmittel. Das hilft dir, sie in den Griff zu bekommen.93 Diese drei Frauen – die tschechische Lehrerin, die österreichische Krankenschwester und die polnische Liga-Frau – unterschieden sich in vielem: in ihrem ökonomischen Status, im Ansehen, wahrscheinlich auch in den politischen Ansichten. Gemeinsam war allen dreien das Gefühl der Enttäuschung. Die Wandel der gesellschaftlichen Stellung der Frau, eine der wenigen positiven Begleiterscheinungen des Kriegs, erwies sich als begrenzt, teils sogar umkehrbar. Die Enttäuschung wäre sicher kleiner, der Ton der Aufzeichnungen sanfter gewesen, wenn die Verfasserinnen kühl die Vor- und Nachteile der neuen Situation abgewogen hätten. Nach vier Jahren Weltkrieg war jedoch kein Raum mehr für nüchterne Kalkulationen. Die Frauen, die ihrem Land so viele Opfer gebracht hatten, erwarteten große Dinge. Stattdessen sahen sie kleine und durchschnittliche. Eine Notiz von Maria Walewska aus den ersten Tagen der Unabhängigkeit in Radom bringt das Gefühl, dass hier ein Ideal durch den Dreck gezogen wird, treffend zum Ausdruck: Am unerträglichsten waren die altehrwürdigen Matronen. Aufgewachsen in der Tradition der nicht nur aufopferungsvollen, sondern auch klugen polnischen Matronen und immer ein wenig auf den Sockel gehoben, erstaunt lauschte ich dem seichten Geplauder und Getratsche. Ich erinnere mich noch, wie begeistert eine der Damen eine Platte mit fein geschnittenem weißen Kalbfleisch vorzeigte, das mit dunkelrotem, mit Rote-Bete-Saft gefärbtem Krautsalat garniert war. […] Dieser polnisch-patriotische Akzent stieß auf großes Gefallen.94 Die Beispiele beeindruckender Karrieren von Frauen während des politischen Umbruchs zeigen paradoxerweise noch deutlicher, worin die Begrenztheit ihres Aufstiegs bestand. Einer der wenigen Schlüssel zum Erfolg war, ganz traditionell, die Herkunft. Das wohl beste Beispiel war die schon erwähnte Alice Masaryková. Der Vater, wegen dessen Aktivitäten sie ins habsburgische Gefängnis gebracht wurde, stand 1919 auch hinter ihrer Ernennung zur Vorsitzenden des Tschecho­ slo­wakischen Roten Kreuzes. In diesem wichtigen Amt zeichnete sie sich durch große Effektivität aus. Sie organisierte nicht nur Hilfsgüter aus unterschiedlichsten Quellen, sondern holte auch amerikanische Expertinnen auf dem Feld der Sozialfürsorge ins Land, um ihre eigenen Mitarbeiterinnen schulen zu lassen, die 332

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sie inzwischen schon aus Studentinnenkreisen rekrutieren konnte. In der Zwi­ schen­kriegszeit bestimmte diese Gruppe von Expertinnen die tschechoslowa­ kische Sozialpolitik. Alice Masaryková erwies sich als absolute Meisterin der ­Diplomatie. Über ihre Begegnung mit Herbert Hoover berichtete eine ihrer Mitarbeiterinnen: Sie besuchte ihn in seinem Büro. Es war schlicht und aufgeräumt, fast ohne Spuren von Korrespondenz auf dem Schreibtisch. Sie sagte, er wirke wie ein Mann, der gewissenhaft seine Pflicht erfülle. Sie erzählte ihm von den tschechischen Kindern in Žižkov, einer Vorstadt von Prag, wo die meisten Kinder unter vier Jahren noch nie Milch gekostet hätten. Sie sähen nicht aus wie Kinder; ihre Gesichter seien alt und ernst, die eingefallenen Augen drückten jahrelangen Schmerz aus. Ihre kleinen Körper bestünden nur aus Haut und Knochen. Alice Masaryková sagte das alles ohne Groll. Sie lebte schon so lange unter diesen Armen, dass sie stark geworden war, sie konzentrierte sich einzig und allein darauf, den Leidenden zu helfen. Als sie Hoover ein Stück graues Maisbrot zeigte, wie man es in der Tschechoslowakei überall aß, und einen Papierstrampler, wie die Mütter sie ihren Babys anzogen, liefen ihm Tränen über die Wangen.95 Während Alice Masaryková mehrfach bei nationalen oder internationalen öffentlichen Ereignissen an der Seite ihres Vaters gleichsam als erste Dame der tschechoslowakischen Revolution auftrat, spielte in Ungarn eine Frau mit diametral anderen Ansichten und gänzlich verschiedenem Naturell eine ähnliche politische Rolle: Cécile Tormay. Die beliebte Schriftstellerin (die zwischen den Kriegen als ungarische Nobelpreiskandidatin galt) verdankte ihre Position in der Öffentlichkeit ihrem glühenden Antikommunismus und Antisemitismus. Ihre fiktionalisierte Autobiografie Bujdosó könyv (Buch eines Flüchtigen, 1922) ist ein Steinbruch stark parteiischer Informationen über den Alltag im bolschewistischen Budapest. Mit ihr wurde Tormay zur unangefochtenen ersten Dame der ungarischen Konterrevolution. Diese Position resultierte natürlich aus ihren festen Überzeugungen. Wie die ungarische Historikerin Judith Szapor erklärt, spielte auch die Enttäuschung über die Haltung der ungarischen Sozialdemokratie in der Frauenfrage eine nicht unbedeutende Rolle. Die Revolution, die Tormay am eigenen Leib zu spüren bekam, brachte den Ungarinnen weder Freiheit noch Sicherheit. Angesichts dessen war die Unterstützung der Konterrevolution ein durchaus logischer Schritt. In den Wahlen von 1920, die unter den Bedingungen des „weißen Terrors“ stattfanden, wandte sich die künftige Regierungspartei mit 333

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einem Aufruf an die frischgebackenen Staatsbürgerinnen, der geschickt Liebe und Hass vermischte: Schwestern! Ungarische christliche Frauen! Bevor ihr an die Wahlurne tretet, prüft euer Gewissen! Jeder mit den Juden sympathisierende Abgeordnete, der es ins Parlament schafft, bedeutet einen Schritt nach links, in Richtung Kommunismus. Der Kommunist macht die Frauen zu Parias der Gesellschaft, weil seine Gesetze nicht die Ehefrauen schützen! Sie erkennen die Heiligkeit der Ehe nicht an! Der Mann kann die Frau verlassen, wann immer es ihm gefällt. Mütter! Wenn ihr wählen geht, denkt an die unschuldigen Engelsgesichter eurer Töchter, denn ihr Schicksal ist in eurer Hand! Die Wahl ist geheim! Niemand wird jemals erfahren, ob ihr eurem Gewissen gefolgt seid, der Stimme eures Herzens! Schwestern! Diesmal, vielleicht zum letzten Mal, liegt unser Schicksal in unseren Händen.96 Tormay wurde zum Symbol dieser Ausprägung weiblichen politischen Engagements: extrem rechts und antisemitisch. Inwieweit beeinflussten ihre Stimme und die Stimmen anderer rechter Aktivistinnen die Ergebnisse der ersten Wahlen in den neu gegründeten oder in neuer Gestalt wiedererstandenen Staaten Ostmitteleuropas und des Balkans? Wenn man damaligen Beobachtern glaubt, taten sie es genau so, wie Cécile Tormay es sich wünschte. Die Aktivistinnen der Linken sparten nicht mit Kritik an den konservativen Ansichten der Hausfrauen. Anna Sychravová, sozialdemokratische Kandidatin bei den tschechoslowakischen Wahlen von 1920, konstatierte unumwunden, die Mehrheit der Frauen stimme für die Pfarrer statt für die Sozialistinnen, denen sie doch ihre politischen Rechte verdankten.97 Noch in den 1930er Jahren klagte die slowakische Frauenzeitschrift Živena: Auf welche Art beteiligt sich die Slowakin am politischen Leben? Denn wir dachten, die Zulassung der Frau zu den Wahlurnen gäbe ihr nicht nur das Recht, gemäß ihrer tiefsten Überzeugung abzustimmen, sondern eröffnete ihr auch die Möglichkeit zu umfangreicherer und erfüllterer politischer Aktivi­ tät. Jedoch ist, was wir sehen, aus weiblicher Perspektive sehr enttäuschend. Die Frauen haben die Grenzen ihrer verdammten Passivität nicht überschritten. Schon das Stimmverhalten. Es sieht überall dort leidlich gut aus, wo sie wirklich ihrer aus eigener Erfahrung und eigenem Nachdenken gewonnenen Überzeugung folgen. Oft aber, unglaublich oft, sehen wir, dass die Frauen sich 334

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überhaupt nicht für Politik interessieren. Wenn Wahlen anstehen, wählen sie, weil sie es müssen, denn das sogenannte Recht ist eigentlich eine Pflicht. Und wie wählen sie? Meistens so, wie es ihnen ihr Mann gesagt hat.98 Wir werden nie erfahren, ob die Frauen wirklich so wählten, wie es ihnen der Ehe­ mann oder der Pfarrer befahlen. Es gab damals noch keine Meinungsumfragen, auf deren Grundlage man es überprüfen könnte.99 Alle Einschätzungen, sowohl der rechte Glaube an das Gewissen der Frauen als auch die linke Enttäuschung über ihre intellektuelle Trägheit, basierten auf ausschnittartigen Beobach­tungen oder vorab feststehenden Haltungen. Mit anderen Worten, sie waren genauso viel wert wie die Überzeugung der Pazifistinnen, es hätte keinen Krieg gegeben, wenn Frauen an der Regierung gewesen wären. Die ersten Jahre der Unabhängigkeit zeigten, dass die Zuerkennung politischer Rechte keineswegs gleichbedeutend mit der „Bürgerwerdung“ der Frauen war, von der die Teilnehmerinnen des Warschauer Kongresses gesprochen hatten. Sehr bald wurde klar, dass die Emanzipation nicht durch veraltete Gesetze, sondern durch die Barrieren in den Köpfen der Menschen behindert wurde. Die Feministinnen reagierten, indem sie zu bewährten Handlungsformen zurückkehrten. 1923 wurde in Prag der liberale Frauennationalrat gegründet, dessen programmatisches Manifest die Erfahrung vieler Frauen auch in anderen Staaten der Region widerspiegelt: All die alten österreichischen Argumente werden zu Lebenswahrheiten, all die alten Wege, gegen die die tschechischen Repräsentanten in Wien und im Landtag einst und bisweilen sogar scharf protestierten, scheinen nun die einzigen Wegweiser bei der Organisation unserer staatlichen Ordnung. Wir sehen keine Bereitschaft, diese Ordnung den neuen Wahrheiten anzupassen, wir sehen nicht einmal den geringsten Willen, es zu tun, das heißt, die Frauen anzuhören, die neue Wege aufzeigen, ihnen zu vertrauen. Angesichts dessen hat es sich als notwendig erwiesen, dass die tschechischen Frauen wieder eine Frauenbewegung organisieren, um die Idee der Frauenräte neu zu beleben.100

Die Überflüssigen – ethnische Minderheiten Der Historiker Włodzimierz Mędrzecki vertritt hinsichtlich der Nationalitäten­ problematik in Polen im uns interessierenden Zeitraum eine eindeutige Auffassung, die auch für die übrigen Staaten Ostmitteleuropas und des Balkans Geltung beanspruchen kann: 335

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In den Jahren 1917–23 kam es im Zuge der Herausbildung einer völlig neuen politischen und territorialen Ordnung zur offenen Konfrontation der National­ bewegungen und zum Blutvergießen. Damit verbanden sich die Formulierung maximalistischer politischer Programme sowie die bewusste Darstellung anderer Nationen in den negativsten Farben als eingeschworene Feinde. Viele Milieus, auch solche, die sich aus dem Konflikt herauszuhalten versuchten (etwa Juden, Schlesier, Poleschuken, die Einwohner ethnisch und konfessionell gemischter Dörfer etc.), wurden Ziel massiver Propaganda­kampagnen, oft auch von Schikanen oder Repressionen. In dieser Situation gewann die nationale Selbstidentifikation als konstitutiver Faktor der individuellen und kollektiven Identität deutlich an Bedeutung. Auch die Vorstellungen von der Gesell­schaft wurden weitaus stärker von nationalen Trennlinien als vor 1914 geprägt.101 Diese neue Nachkriegswelt wurde von zwei Gattungen bevölkert: den politischen Nationen und den Minderheiten. Vor 1914 waren beide in Ostmitteleuropa so gut wie nicht aufgetreten; die multiethnischen Imperien kannten als Vielvölker­ staaten formell keine nationalen Minderheiten (was sie freilich nicht daran hinderte, die Rechte der nichtherrschenden Völker einzuschränken, etwa der Ukrainer in Russland oder der Polen in Deutschland). Nach 1918 stieg die Anzahl der herrschenden Völker deutlich an, noch stärker wuchs jedoch die Anzahl der enttäuschten Verlierer der nationalen Freiheitskämpfe oder Hinterbliebenen der alten Staaten: die Ukrainer und die Deutschen in Polen, die Ungarn in allen ­benachbarten Staaten, die Deutschen in den baltischen Staaten und in der Tschecho­slowakei, die Bulgaren, Siebenbürger Sachsen, Banater Schwaben und Székler in Rumänien und so weiter. Die neue Situation entsprach in nichts den zuvor dominierenden Vorstellungen von Nation, Staat und Territorium. Wenn nämlich die politischen Programme etwas gemeinsam hatten, dann den Wunsch, alle diese Dinge ausschließlich für sich zu besitzen. Und zwar am liebsten, indem man sie von den anderen zurückgewann, die sich in der näheren oder ferneren Vergangenheit angeeignet hatten, „was schon immer uns gehörte“. In einem Bericht über die Stimmungslage seiner Landsleute während der Kämpfe gegen die ehemaligen deutschen und russischen Verbündeten (Bermondt-Awaloffs Söldner) fasste der lettische Journalist Kārlis Skalbe seine Empfindungen in Worte: In diesen Tagen habe ich das lettische Riga gesehen. Ich habe es nie zuvor so stolz und schön gesehen. Was hat bewirkt, dass die Häuser und Türme höher 336

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gewachsen und fester im Boden verankert zu sein scheinen? Es ist nicht die strenge Erscheinung der Soldaten, die heroischen Waffenglanz in die Straßen brachten. Vielmehr scheint das Volk einen Kopf gewachsen zu sein. Die ganze Stadt kämpft. Das muss man gesehen haben. Die ganze Stadt steht in der ersten Frontlinie, es kämpfen Frauen, es kämpfen Kinder, wovon schlichte, bewegende Todesanzeigen in den Zeitungen zeugen: „Unsere Tochter starb durch ein feindliches Geschoss.“ Ein Schrapnell explodiert zwischen den Häusern, doch niemand sagt: „Wir müssen Riga verlassen.“ Die ganze Stadt kämpft. […] Wir sehen ein junges, heldenhaftes Gesicht. Das ist das lettische Riga. Bisher kannten wir nur das deutsche oder jüdische Riga. In diesen Tagen ist das lettische Riga geboren worden, das fortan unser Herz, unsere Seele und unser Wille sein wird.102 Die tatsächlichen ethnischen Verhältnisse in der Hauptstadt des unabhängigen Lettland spielten in diesem poetischen Bild keine größere Rolle. Wen kümmerte es schon, dass in der Stadt weiterhin überwiegend Deutsche lebten, da man ja zumindest nach eigener Auffassung den moralischen Anspruch auf die Stadt besaß. Das „lettische Riga“ war in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan kein Einzelfall. Überall begegnen wir einer vergleichbaren Rhetorik der symbolischen Aneignung des Raumes, die sehr oft mit der völligen Missachtung der ebenfalls dort lebenden anderen einhergeht. Bei der Festlegung der nationalstaatlichen Grenzen nahmen die neuen ethnischen Mehrheiten die Minderheiten meist nicht wahr. Manchmal stieß diese – mitunter bewusste – Ignoranz auf keinen Widerspruch: Die weißrussischen oder mazedonischen Bauern äußerten sich selten zu den politischen Projekten, die über ihre Zukunft entscheiden sollten. Insgesamt führte der Erste Weltkrieg aber zur politischen Mobilisierung nicht nur der Eliten, sondern selbst solcher sozialen Schichten, die sich bisher von der Politik ferngehalten hatten. Im Sommer 1917 konstatierte Szmuel Jackan im Feuilleton der verbreiteten jiddischsprachigen Tageszeitung Hajnt: Ihr betretet ein Haus, ihr steigt in einen Bahnwaggon und trefft Bekannte, die einst anscheinend den Mund nicht aufbekamen, die nie ein religiöses Buch, nicht einmal eine Zeitung in der Hand hatten, die nicht lesen konnten und glotzten wie der Ochs vorm Berg, und nun? Was sie für Weise geworden sind, was für Experten, was für Politiker, mit welchem Elan, mit welcher Sicherheit sie über alle wichtigen Fragen dieser Welt sprechen. 337

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Und dieser Wandel, sagt ihr, vollzog sich innerhalb von drei Jahren. Drei Jahre nennt ihr die Zeit, die sie durchlebten, seit die ganze Welt, mitsamt uns allen, sich um 180 Grad drehte. Drei Jahre sagt ihr. Oh nein, das sind nicht drei Jahre, das ist ein ganzes Jahrhundert.103 Zu den politischen Folgen dieses Prozesses gehören auch die Entwicklung der jüdischen Parteien im von Deutschland besetzten Polen und die drei zionistischen Kongresse, die zwischen September 1916 und Oktober 1917 stattfanden. Die Ideen für eine jüdische Autonomie reichten von der Zusammenarbeit mit den Polen über die Beteiligung am Aufbau einer unabhängigen Ukraine bis hin zum Zusammenschluss mit den Bolschewiki, die noch immer frei von Nationalchauvinismus schienen. Derartige Gedankenspiele bildeten in der uns interessierenden Region eine Ausnahme, denn nur im Fall der Juden war es eine politisch weithin akzeptierte Option, weiter als Minderheit zu existieren. Die anderen Volksgruppen strebten eher danach, in einem eigenen Staat, und sei er noch so klein, die Mehrheit zu bilden. Als die polnische Unabhängigkeit immer deutlichere Konturen annahm, äußerte Jackan in Hajnt die Hoffnung, auch die polnische Mehrheit werde die Reifeprüfung des Lebens in einem eigenen Staat bestehen: Und ich habe keine Zweifel, dass die polnische Nation, die soeben in ein neues Leben eintritt, begreifen wird, dass sie in ihrem eigenen Interesse, im Interesse des eigenen Glücks, das sich nur im friedlichen Zusammenleben aller gesellschaftlicher Gruppen erreichen lässt, sich auch um die Millionen jüdischer Mitbürger kümmern und ihnen die uneingeschränkte Möglichkeit eines freien Nationallebens gewähren muss.104 Doch selbst in diesem Fall bewirkte der Krieg einen Wandel der politischen Prioritäten und erweiterte das Spektrum des Vorstellbaren. Im November 1917 versprach der britische Außenminister Arthur Balfour den Juden die Errichtung einer „Heimstätte in Palästina“. Ein unabhängiger jüdischer Staat war damit zwar noch nicht in Sicht, gleichwohl war nun das Leben als Minderheit auch für die Juden nicht mehr die einzige Zukunftsperspektive. Weder die Mehrheiten noch die Minderheiten waren auf die neuen ethnischen Verhältnisse vorbereitet. Das führte auch in den ruhigsten Regionen im 338

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Nachkriegsostmitteleuropa zu Konflikten, mitunter sogar zu Blutvergießen. Und auch der Friedensalltag bot zahlreiche Gründe für Verbitterung. Tausende kleine Ereignisse, tägliche Bosheiten und Missverständnisse schufen selbst in anscheinend banalen Dingen ein Klima der Spannung und gegenseitigen Ablehnung. In der polnischen Verfassunggebenden Nationalversammlung trat große Konsternation ein, als sich herausstellte, dass der älteste Delegierte ein Rabbiner namens Perlmutter von der konservativen Partei Agudat Yisrael war. Die Abgeordneten konnten sich nicht vorstellen, dass die erste Sitzung des wiedererstandenen polnischen Parlaments von einem jüdischen Alterspräsidenten eröffnet werden sollte. Aufgelöst wurde die peinliche Situation durch das Eintreffen von Fürst Radziwiłł. Er war zwar wenig populär und wurde der allzu bereitwilligen Kooperation mit den Deutschen beschuldigt, doch er war älter als Perlmutter und übernahm deshalb das ehrenvolle Amt. In den ersten Jahren nach dem Weltkrieg mangelte es nicht an ähnlichen Beispielen für die Kleingeistigkeit der herrschenden Völker. Eine Ausnahme bildete eigentlich nur das bolschewistische Russland, wo die Nationalität (vorerst) keinen Einfluss auf die Karrierechancen hatte. Für externe Beobachter war dies eine der größten Überraschungen: […] der polnische Nachrichtendienst und die diplomatischen Stellen in der Sowjetunion hatten einige Arbeit mit der Überwachung der Polen, die als bolschewistische Kommissare amtierten. Nach offiziellen Angaben gab es in Relation zur Gesamtzahl der Angehörigen der Volksgruppe unter den Polen dreimal so viele Parteimitglieder wie unter den Russen, siebenmal so viele wie unter den Weißrussen und zehnmal so viele wie bei den Ukrainern. 1922 machten die polnischen Kommunisten in der Sowjetunion rund ein Prozent der dort lebenden Polen aus, während der Anteil der Kommunisten an der Gesamtbevölkerung bei 0,29 Prozent lag. Damit bildeten sie nach Russen, Ukrainern und Juden die viertgrößte Gruppe.105 Westlich des kommunistischen Paradieses stellte sich die Situation völlig anders dar. So entzündeten sich etwa täglich Konflikte an der Frage nach dem Status von Kriegsveteranen, die aus Sicht ihres neuen Vaterlandes auf der falschen Seite gekämpft hatten. Im April 1919 formulierten deutsche Kriegsinvaliden während eines Treffens in Jablonec einen scharfen Protest gegen die Art und Weise, wie die Tschechoslowakei – deren Bürger sie nun waren – mit ihnen umging: Das deutsche Volk ist erniedrigt worden. Wir haben in diesem Kriege geblutet und zwecklos ohne jeden Nutzen für uns. […] Die Unternehmer sollen uns als 339

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deutsche Arbeiter betrachten und nicht als Krüppel, denn wir sind denkende Menschen und wollen das Beste. Wir wollen nicht weiter als Bettler am Pran­ ger stehen, denn wir sind nicht nur als traurige Besiegte in diesem Kriege[,] sondern auch an unserem Körper nachhaus gekommen. […] Wir wollen als Kriegsverletzte behandelt werden und nicht als Krüppel.106 Im März 1919 war im westlichen Teil der Tschechoslowakei der Konflikt zwischen den Deutschen und ihrem neuen Vaterland eskaliert. Unmittelbarer Auslöser war das landesweite Verbot der Durchführung von Wahlen zur konstituierenden Nationalversammlung in Wien. Als Reaktion riefen die deutschen Parteien ihre Anhänger zum Generalstreik auf. An manchen Orten kamen noch andere Motive hinzu: der Protest gegen die Teuerung, die Forderung nach höheren Arbeitslöhnen und vor allem der Widerstand gegen die von Minister Rašín verkündete Währungsreform. Aus Sicht der Deutschen nahm diese nicht nur den Menschen einen Teil ihrer Ersparnisse (davon waren alle Nationalitäten gleichermaßen betroffen), sondern sie bedeutete auch den Abschied von der bisherigen, noch immer von den Österreichern ausgegebenen Währung.107 Am Tag des Streiks fanden in vielen tschechischen Städten Demonstrationen statt. Mancherorts gab es Auseinandersetzungen, die blutigsten in Kadaň, Šternberk und Karlovy Vary. Nach Angaben der tschechoslowakischen Behörden kamen 57 Menschen ums Leben, darunter Frauen und Kinder. Fünf der Opfer waren tschechischer Nationalität, außerdem starb ein tschechoslowakischer Soldat deutscher Nationalität. Der Streit darüber, wer die größere Verantwortung für die blutigen Ereig­ nisse des Frühjahrs 1919 trug, zog sich durch die gesamte Zwischenkriegszeit, doch er entfernte sich schon bald von den tragischen Fakten. Für die eine Seite handelte es sich um die Verteidigung der Unabhängigkeit des jungen Staates gegen die Gelüste des deutschen Imperialismus. Für die andere Seite war es der Gründungsmythos einer neuen politischen Gemeinschaft. Den ersten Standpunkt formulierte am klarsten der tschechoslowakische Ministerpräsident ­Karel Kramář im Gespräch mit aufgebrachten österreichischen Regierungsmitgliedern: „Ich bin wahrlich erstaunt“, merkte er mit leichter Ironie an, „dass die Herren die Bedeutung eines historischen Ereignisses vom Rang eines Weltkriegs nicht begreifen. Wir haben in diesem Krieg gesiegt und daher befinden wir uns nun in einer Situation wie der österreichische Hof nach der Schlacht am Weißen Berg.“108 340

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Die deutschen Nationalisten wiederum hatten mit den Opfern der Märzdemonstrationen die ersten Märtyrer der eigenen Sache. Eine langfristige Folge dieser und anderer Kraftproben war die erneute Einführung von Kriegsgebräuchen in Bereiche, in denen sie längst nicht mehr nötig gewesen wären. Der Untergang der Monarchie bedeutete für die tschechischen Fabriken die Befreiung von der beschwerlichen Militärverwaltung, die drakonischen Körperstrafen gegen die Arbeiter wurden abgeschafft, Verpflegung und Arbeitsbedingungen besserten sich. Die Ruhe hielt aber nur kurz an. Während man in Kadaň und Šternberk noch die Toten zählte, fand in den Pilsener Škoda-Werken eine Säuberungsaktion statt, in deren Zuge fast alle Deutschen aus den Führungs- und Angestelltenkadern entfernt wurden. Gleichzeitig verweigerten die Behörden deutschen Unternehmern die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft, um sie auf diese Weise zum Verkauf ihrer Firmen zu zwingen. Im Ostrauer Revier forderte 1921 eine Versammlung aller dort tätigen tschechischen Parteien die Entlassung aller nach 1914 eingestellten deutschen Hüttenarbeiter sowie ein Verbot der Einstellung neuer deutscher Arbeiter.109 Die Konflikte zwischen den unsicheren Mehrheiten und den sich keineswegs als solche betrachtenden Minderheiten hatten jedes Mal einen konkreten politischen und wirtschaftlichen Hintergrund. Es ging um Sicherheit, die Neuverteilung von Prestige und Gütern und um die Dominanz im öffentlichen Raum. Neben all diesen mehr oder weniger rationalen Motiven fällt ein weiterer Faktor ins Auge, der ein friedliches Zusammenleben der neuen „herrschenden“ Nationen und der Landsleute anderer Nationalitäten verhinderte: Obwohl es merkwürdig klingen mag, hatte niemand eine Idee, wie eine nationale Minderheit in Staat und Gesellschaft funktionieren sollte. Eine solche Idee hätte die Abkehr von den wichtigsten Forderungen der eigenen Nationalbewegung erfordert – unabhängiger Staat und eigenes Staatsterritorium. Der Vorreiter einer neuen Konzeption von kultureller Identität entstammte einer Nation, die von der Friedenskonferenz besonders brutal behandelt worden war. Der ungarische Architekt, Ethnograf und Schriftsteller Károly Kós entschloss sich, im nun rumänischen Siebenbürgen zu bleiben, obwohl sein Ansehen ihm die Fortsetzung seiner Karriere in Budapest erlaubt hätte (vor dem Krieg hatte er unter anderem die Gebäude des Zoologischen Gartens der ungarischen Hauptstadt entworfen). Im alt-neuen Vaterland wirkte Kós an der Gründung einer linken Partei der Siebenbürger Ungarn mit und wurde mit der Zeit zu deren Vordenker. Kós hielt eine Rückkehr Siebenbürgens zur ungarischen Krone für ausgeschlossen. Die Heimat der Siebenbürger gleich welcher Nationalität sei Siebenbürgen: 341

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Welchen Weg die Nationen und Kulturen Siebenbürgens in Zukunft gehen werden, ist allein die Entscheidung dieser Nationen. Wie die Geschichte lehrt, gehörte Siebenbürgen denen, die sich mit diesem Land identifizierten, mit seinem Schicksal und seiner Psyche, und es wird ihnen auch weiterhin gehören. Siebenbürgen hatte seine glücklichsten Zeiten, hatte die blühendste und reichste Kultur, wenn die hier lebenden Nationen im gemeinsamen, vereinten Willen die Besonderheit des Siebenbürger Schicksals akzeptierten und das Land durch die Kraft ihrer verschiedenen Intellekte stärkten.110 Der Zeitgeist stand allerdings im Widerspruch zu allen Versuchen, die nationalen, regionalen und politischen Identitäten in Einklang zu bringen. Starke Regionalismen – in unserem Kontext vor allem die schlesische Bewegung – gerieten rasch in den Verdacht des Separatismus oder des Verrats. Nicht ganz zu Unrecht. Manche schlesischen Aktivisten glaubten wirklich, die Pariser Konferenz bringe der Region die Unabhängigkeit oder verhindere wenigstens ihre Teilung. Derartige Hoffnungen zeugten von einem mangelnden Gespür für die politischen Realitäten. Im Endeffekt spielten Polen, Deutschland und die Tschechoslowakei die Schlesier gegeneinander aus, ohne deren Sache auch nur einen Moment wirklich unterstützen zu wollen. So schrieb der tschechoslowakische Ministerpräsident Karl Kramář dem in Paris weilenden Edvard Beneš: Ich hatte heute sehr interessanten Besuch von drei Männern aus dem preußischen Schlesien: zwei Wasserpolen und ein Deutscher. Sie sagten mir, sie wollten weder zu Deutschland noch zu Polen gehören, sondern wünschten sich für ganz Oberschlesien […] eine unabhängige Republik unter dem Schutz des tschechoslowakischen Staates. Auf weitere Nachfragen erklärten sie, sie hätten nichts gegen ein gemeinsames Zollgebiet mit uns, auch nichts gegen ein Militärabkommen. Es war eine sehr interessante, doch auch recht ermüdende Begegnung. Sie möchten, dass wir sie auf der Konferenz unterstützen. Ich habe die Sache im Ministerrat vorgestellt. Wir sind zu dem Schluss gelangt, dass dies für uns sogar von Vorteil wäre, weil eine solche Volksbewegung im preußischen Schlesien uns einen moralischen Vorteil in unseren Bemü­ hun­gen um die Rückgabe Ratibors und der Oderregion verschafft. Ich habe ihnen gesagt, wir würden die Sache überdenken, und wenn sie nach Paris ­kämen, stünden wir auf ihrer Seite. Für heute aber könnten wir ohnehin nicht öffentlich für sie eintreten – das Ganze dient uns nur als Druckmittel, damit wir nicht nur die drei Ratiborer Dekanate, sondern auch einen Teil des Kohlereviers hinter der Oder erhalten.111 342

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Entschiedenster Gegner eines unabhängigen Schlesien war Polen, das die separatistische Bewegung sehr effektiv bekämpfte und die Anführer Józef Kożdoń und Ewald Latacz (einer von Kramářs Besuchern) zur Emigration zwang. In Deutschland wurden Anfang 1919 zahlreiche schlesische Aktivisten verhaftet. Und selbst die den Schlesiern am wohlwollendsten gesinnten tschechoslowakischen Politiker glaubten nicht an ihre politischen Visionen. Die Alternative war ein nationalistischer Regionalismus, der besonders in den Grenzgebieten üppig blühte. Die deutsche Enklave in Ostpreußen erwies sich als ein guter Nährboden für eine auf Hass und Verachtung für die Nachbarn gegründete Ideologie. Schon während des Ersten Weltkriegs keimte der Kult um die Schlacht bei Tannenberg und die Person Hindenburgs. Ein min­ destens ebenso wichtiges Fundament des neuen ideologischen Konstrukts war ­­ein – teils bewusst schwammig gehaltenes – Feindbild. In Übereinstimmung mit den allgemein bekannten Fakten trug der Feind russische Uniform und hatte 1914 die Provinz überfallen. In der mythischen Wirklichkeit waren freilich nicht die Russen der Feind, sondern die slawische, genauer gesagt die polnische Gefahr. Der Sieg bei der Volksabstimmung in den Masuren im Sommer 1920 wurde mit dem militärischen Sieg einige Jahre zuvor verglichen. Das alte Schlachtfeld wurde auf die ganze Provinz ausgedehnt, und die Befürchtung war, dass eine slawische Welle das letzte Bollwerk des Deutschtums im Osten überfluten würde. Aber nicht ohne Kampf! Ostpreußen war nicht mehr Provinz, sondern eine Kolonie, eine rings von der slawischen Flut umrandete Insel. […] Jetzt hieß es, […] sich zu wehren bis zum letzten Blutstropfen. […] Das war die Stimmung, die alle Herzen in Ostpreußen mit unerschütterlicher Ent­schlos­ senheit beherrschte.112 Im ostpreußischen Bild der belagerten Festung fehlte allerdings ein störendes Detail: Die Besatzung dieser deutschen Festung bestand aus polnischsprachigen und zweifellos slawischen Masuren. Für viele von ihnen wurde der Mythos der brennenden Mark, die der Aggression aus dem Osten die Stirn bot, zur Eintrittskarte ins echte Deutschtum – das Heldentum des Kampfs um das Land überdeckte alle Mängel ihrer Herkunft.113 Weder das Klima der ersten Nachkriegsjahre noch die politische Kultur der Region begünstigten ein einvernehmliches Zusammenleben von Minderheiten und Mehrheiten. Die rechtliche Eingliederung der Minderheiten in die Strukturen von Staaten, zu dem sie mitunter keinerlei Bindung empfanden, bildete eine 343

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Gedenkfeier zur Schlacht bei Tannenberg, 1918.

große Herausforderung. Es gab kaum historische Erfahrungen, aus denen man hätte lernen können. Sie waren auch nicht sonderlich positiv. In den europäischen Salons erinnerte man sich noch gut daran, wie dreist Rumänien 1878 seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber den jüdischen Bürgern des Landes umgangen hatte. Kurz gesagt, hatte der Staat sich verpflichtet, den Juden die gleichen Rechte wie allen anderen Staatsbürgern zu geben, und dann den meisten Juden im Land die Staatsbürgerschaft verweigert. Wer sich nicht an diese alte Geschichte erinnerte oder glaubte, der rumänische Antisemitismus habe sich mit der Zeit abgeschwächt, konnte sich leicht davon überzeugen, dass sich seither absolut nichts geändert hatte. Ende 1917 begannen die Friedensverhandlungen zwischen den Mittelmächten und dem besiegten Rumänien. Die Emanzipation der rumänischen Juden war einer der umstrittensten Vertragspunkte. Vor allem die Vertreter Österreich-Ungarns wollten nicht noch einmal dasselbe erleben wie 1878. ­Eine nicht unbedeutende Rolle spielte dabei die jüdische Presse sowohl in Wien als auch in der k. u. k. Provinz (etwa die Neue Lemberger Zeitung). Unter dem Druck der (vorerst) siegreichen Mächte verabschiedete das rumänische Par­ lament im Juli 1918 ein Gesetz über die Einbürgerung der Juden – gegen den Wi344

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derstand der starken antisemitischen Lobby, deren Anführer Alexandru Cuza ununterbrochen stundenlange Reden über die gefährlichen Nachteile einer Gleichberechtigung der Juden schwang. Sein Einsatz war nur scheinbar vergeblich. Das neue Gesetz erwies sich in den Details weitaus weniger großmütig als die begleitenden öffentlichen Erklärungen. Die Verwaltungsbehörden behielten die fast uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit darüber, wer von den im Land lebenden Juden die rumänische Staatsbürgerschaft verdiente und wer nicht. Die Betroffenen selbst blieben in dieser Frage machtlos. Die von Bewerbern geforderte amtliche Bestätigung, dass weder sie selbst noch ihre Eltern jemals Untertanen eines anderen Staates gewesen seien, erwies sich in den meisten Fällen als ausreichend hohe Hürde. Darüber hinaus erließ die rumänische Regierung keine Ausführungsbestimmungen zu diesem Gesetz. Doch selbst, wenn sie es getan hätte – schon wurden mit dem Wechsel des Bündnispartners alle unter deutscher Besatzung verabschiedeten Gesetze formal annulliert.114 Die rumänischen Erfahrungen wurden zum gewichtigen Argument für die Errichtung von Mechanismen zum Schutz der Rechte nationaler Minderheiten im Rahmen des Völkerbundes. Hinzu kamen die nach Paris durchdringenden Nachrichten von der Pogromwelle, die Ostmitteleuropa überrollte, und insbesondere von den empörenden Lemberger Ereignissen im November 1918. Nach Festlegung der Vertragsbestimmungen mit dem besiegten Deutschland formulierten die Siegermächte allgemeine Grundsätze hinsichtlich der neu geschaffenen Staaten (Polen, Tschechoslowakei, Jugoslawien), der übrigen Kriegsverlierer (Österreich, Ungarn und Bulgarien) sowie der Länder, die an Territorium gewonnen hatten (Rumänien, Griechenland). Der erste modellhafte Minderheitenvertrag wurde – zusammen mit dem Abkommen über die Grenzen und den internatio­na­ len Status des polnischen Staates – am 28. Juni 1919 in Versailles mit Polen ­ge­schlossen. Er garantierte gleiche Rechte für alle Bürger ungeachtet ihrer eth­ni­ schen Abstammung, das Recht auf Unterricht in der eigenen Sprache sowie Religionsfreiheit und andere Freiheiten, die ohnehin sowohl in der polnischen Verfassung als auch in den Grundgesetzen anderer ostmitteleuropäischer Staaten verankert waren. Das rumänische Beispiel hatte überdies verdeutlicht, dass das Problem der Minderheiten nicht in der Verweigerung von Rechten lag, sondern in der Missachtung von Rechten, die man ihnen schon gewährt hatte. Um derlei in Zukunft zu verhindern, etablierten die Minderheitenverträge ein Berufungsverfahren in Form einer Völkerbundklage vor. In der Praxis wurden solche Klagen selten öffentlich, weil schon die Aussicht auf eine internationale Debatte über die Rechtsstaatlichkeit der jungen Staaten eine abschreckende 345

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Wirkung besaß. Zudem wurde die Wirksamkeit dieses Mechanismus dadurch beeinträchtigt, dass nur Völkerbundmitglieder – also Staaten – ein Klagerecht besaßen, wodurch staatenlose Volksgruppen praktisch keinen wirksamen Schutz besaßen, obwohl die Erfahrung des letzten Krieges lehrte, dass sie dieses Schutzes am meisten bedurften.115 Die Grenzen des Systems waren allgemein bekannt, gleichzeitig ließ die Einführung wenigstens eines Surrogats internationaler Kontrolle über die Allmacht der Nationalstaaten für die Zukunft hoffen. Entsprechend zurückhaltend kommentierte der amerikanische Völkerrechtsexperte Theodore S. Woolsey den polnischen Vertrag: Das ist wirklich ein völliger Wandel in der Organisation der Völkergemein­ schaft. Man braucht Fantasie und Hoffnung, um ihn sich vorzustellen. Doch die einzige Alternative ist die Verzweiflung.116 Bei den unmittelbar Betroffenen, das heißt den jungen Staaten Ostmitteleuropas, kamen die Minderheitenverträge schlecht an. Die Gründe lagen von Beginn an klar auf der Hand und die gewichtigsten Gegenargumente wurden schon in der Ratifikationsdebatte im polnischen Parlament vorgebracht. Nicht zu Unrecht sprach man von einem einseitigen Diktat der Großmächte. Einem überdies ungerechten, weil es nur die jungen Staaten Ostmitteleuropas betraf, nicht aber Deutschland, wo schließlich eine zahlenmäßig durchaus starke polnische Minderheit lebte. Im Unterschied zur der früheren Debatte im rumänischen Parlament kam in Polen der Protest gegen den Vertrag von der Linken, die ansonsten am ehesten alle Minderheitenrechte anerkannte, während die Rechte, auch die nationalistische und antisemitische, ihn verteidigte, weil ihre Politiker ihn ausgehandelt hatten. Das war nicht das einzige Paradoxon im Kontext der Ratifizierung des Vertrags von Versailles. Noch merkwürdiger ist es aus heutiger Sicht, dass der Ton der „Versailles-Debatte“ im polnischen Parlament sich nicht von den deutschen Debatten unterschied. Die Abgeordneten der Republik Polen, die sicher zu den größten Gewinnern der Pariser Verhandlungen gehörte, äußerten sich über deren Resultate nicht weniger empört als die Vertreter des beschnittenen und gedemütigten Deutschen Reichs.117 Der internationale Rahmen des Minderheitenschutzes war somit von Beginn an umstritten. Die Atmosphäre im Umfeld seiner Festlegung trug nicht dazu bei, die ethnischen Konflikte zu entschärfen. Im Gegenteil, zum Katalog der gegenseitigen Ressentiments kam nun noch der gekränkte Stolz der neuen Herrschervölker, die von den Großmächten wie Kinder behandelt wurden, die man belehren musste und auf deren Vernunft und Aufrichtigkeit man nicht allzu sehr 346

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vertrauen durfte. Aus Sicht der großen Politik boten die ethnischen Verhältnisse in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan einen wahrlich düsteren Anblick. Für die Mehrzahl der Nationen, denen die Unabhängigkeit verwehrt geblieben war, hatte sich die Situation im Vergleich zur Vorkriegszeit deutlich verschlechtert. Das war auch nicht weiter erstaunlich. Ein jüdischer Beobachter des politischen Lebens im alten russischen Staat kommentierte lakonisch: „Es ist sehr viel besser, eine Sechsmillionenminderheit zu sein als eine Menge kleiner Minderheiten in kleinen Staaten.“118 Wenn wir jedoch die konkreten Verhältnisse vor Ort betrachten, sehen wir, dass es längst nicht überall Nationalitätenkonflikte gab. In einigen Fällen waren die Gemeinschaften des ethnischen Grenzgebiets nicht an Streit interessiert. Dazu gehörten die Bewohner der Stadt Międzychód (deutsch: Birnbaum) im westlichen Teil Großpolens. Dort waren 1914 mehr als 80 Prozent der Bevölkerung Deutsche. Das Jahr 1918 brachte einen raschen Wandel, die Vertreter der bisherigen Mehrheit flüchteten in Scharen nach Westen und die Polen nahmen ihren Platz ein. 1921 lag der Bevölkerungsanteil der Polen bereits bei 60 Prozent. Trotzdem (oder vielleicht teils auch wegen des Bevölkerungsaustauschs) standen die frühen 1920er Jahre in Międzychód im Zeichen der Zusammenarbeit über ethnische Trennlinien hinweg. 1922 entstanden erstmals in der Stadtgeschichte Kaufmannsvereinigungen ohne nationale Einschränkungen. Im Vorstand des Verbandes selbstständiger Kaufleute saßen sowohl Polen als auch Deutsche. Auch andere gesellschaftliche Organisationen erarbeiteten ähnliche Modelle, wobei meist Polen die Führungspositionen erhielten und Deutsche die Stellvertreterposten. Wichtiger noch, bei den ersten Stadtratswahlen siegte die Liste der städtischen Kaufleute, die auf der Basis eines Nationalitätenkompromisses entstanden war. Die Kandidaten deutscher Nationalität besetzten ein Drittel der Plätze. Die Zusammenarbeit endete vor den nächsten Wahlen im Jahr 1925. Nun dominierten antideutsche Parolen den Wahlkampf und als stärkste Liste ging die nationalistische Nationale Arbeiterpartei hervor. Deutsche hielten immer noch einige Sitze im Stadtrat, doch der Stil der lokalen Politik änderte sich deutlich. Den größten Teil der Legislaturperiode bestimmten die Versuche der polnischen Mehrheit, den Anführer der deutschen Ratsfraktion, Pfarrer Eberhard Wick, seines Amtes zu entheben.119 Der von den polnischen Nationalisten gehasste Geistliche ist ein weiteres ­Beispiel dafür, wie wenig das Leben im ethnischen Grenzland den im Zentrum gehegten Vorstellungen entsprach. Wick stammte aus Schlesien, wo er den Ruf eines feurigen polnischen Patrioten genoss und unter anderem am dritten Schle347

II Kaleidoskop

sischen Aufstand teilnahm. In Międzychód stand er auf der anderen Seite der Barrikade. Im Wahlkampf 1925 bezichtigten seine Gegner ihn der Spionage für Deutschland, später versuchten sie, nachzuweisen, dass er keine öffentlichen Ämter bekleiden dürfe, weil er die deutsche Staatsangehörigkeit behalten habe. Anfang der 1930er Jahre begegnen wir Wick als Anhänger der Sanacja, der hingebungsvoll den Piłsudski-Kult pflegte. Die letzte Erwähnung seines Namens – bezeichnenderweise eine Denunziation, als habe er seine deutsche Nationalität versteckt – findet sich in Archivdokumenten aus dem Jahr 1947. Mindestens bis zu diesem Datum blieb Eberhard Wick dauerhaft in Międzychód.120 Inwieweit solche Lebensläufe Ausnahmen waren, ist schwer zu sagen. Historiker arbeiten oft mit leicht zugänglichen Quellen, die im Zentrum entstan­den – Dokumenten von Regierungen und Behörden oder öffentlichen Meinungs­ führern. In Fällen wie dem der Stadt Miedzychód verlangen es faszinierend verwickelte Schicksale von Figuren, die zwischen Minderheit und Mehrheit oszillierten, ihre politische und nationale Zugehörigkeit wechselten und doch immer am selben Ort blieben, dass man eine sehr viel tiefere Ebene hinabsteigt – zu lokalen und privaten Dokumenten. Doch auch, wenn diese viel interessantes Material liefern können, darf man nicht darauf hoffen, mit ihrer Hilfe auf Muster zu stoßen, die sich häufiger als nur punktuell wiederholen. Manchmal helfen Akten der Ermittlungsbehörden, die durch die Aktivitäten von Personen ungeklärter Zugehörigkeit alarmiert wurden. Der ungarische Historiker Gábor Egry entdeckte die Spuren einiger derartiger Menschen in Siebenbürgen, dessen Bewohner – ähnlich wie die Deutschen in den von Polen in Besitz genommenen Gebieten – die Option hatten, entweder die ungarische Staats­ angehörigkeit anzunehmen und nach Ungarn überzusiedeln oder aber in Rumänien zu bleiben. Keiner der beiden Staaten gestattete eine doppelte Staatsbürgerschaft, was den Unentschlossenen das Leben sehr erschwerte. Es gab jedoch findige Menschen, die diese Hürden umgingen. Egry nennt das Beispiel von Károly Rácz, einem jungen Siebenbürger Ungarn, der sich der drohenden Einberufung in die rumänische Armee entzog, indem er die „ungarische Option“ wählte. Doch statt, wie es das Gesetz vorsah, nach Ungarn zu ziehen, blieb er mit einigen Kameraden, die sich in einer ähnlichen Lage befanden, in seinem Heimatdorf. Noch interessanter scheint der Fall Ákos Hirschs, eines Restaurators aus Aiud. Nachdem er seinen Dienst im lokalen Honved-Regiment abgeleistet hatte, kehrte er im November 1918 in seine Heimatstadt zurück. Auf der Suche nach Arbeit verließ er sie jedoch bald wieder und ging nach Budapest. Dort blieb er bis 1926, als ans Tagelicht kam, dass er die vorgeschriebenen Formalitäten zur Bestäti348

Transformation

gung der ungarischen Staatsbürgerschaft nicht erledigt hatte. Die ungarische Polizei schickte ihn mit einer vorläufigen Genehmigung zum Grenzübertritt – denn Hirsch besaß weder einen ungarischen noch einen rumänischen Pass – nach Rumänien zurück. Zurück in Aiud tat er nichts, um seinen Status zu klären. Höchstwahrscheinlich durch Bestechung gelang es ihm, seinen Aufenthalt in der Stadt zu legalisieren und auch einen rumänischen Wehrpass und, wichtiger noch, den Reservistenstatus (ab 1918 drohte ihm nämlich die Einberufung in die rumänische Armee) zu bekommen. Wir kennen die beiden skizzierten Geschichten, weil die rumänische Polizei schließlich das listige Spiel durchschaute, doch es gab weitaus mehr solcher Fälle, von denen längst nicht alle aufgedeckt wurden.121 Sie sind Beispiele für die Verteidigungsmechanismen, die die Menschen im Grenzland entwickelten, weil das Vorgehen der Herrschenden sie dazu zwingen sollte, sich in den lokalen Konflikten eindeutig zu einer Seite zu bekennen. Wie das Schicksal der Vorkämpfer für die Autonomie Schlesiens zeigte, garantierten Neutralitätserklärungen im Territorialstreit der „großen“ Nationen keine Sicherheit. Deshalb entschlossen sich kleine Gemeinschaften oder Einzelpersonen gleichsam zum Slalom von einer Identität zur anderen, je nachdem, wo sie sich größere Vorteile erhofften. In einigen Teilen Ostmitteleuropas und des Balkans, zu denen neben Schlesien oder Siebenbürgen zweifellos auch das griechisch-bulgarische Grenzland gehörte, handelte es sich geradezu um einen „Volkssport“.122 Die Anstrengungen, die ein solches Lavieren zwischen den Nationalstaaten kostete, veranschaulichen einmal mehr das Ausmaß der Revolution, die der Zerfall der multiethnischen Imperien in der Region auslöste.

*** Die neue Ordnung, die sich aus den Trümmern der Imperien entwickelte, erschütterte die Position vieler sozialer Gruppen, indem sie manche emporhob und anderen Wohlstand und Privilegien nahm. Die ökonomischen Reformen führten zu einem Austausch der Finanzeliten sowie zur Schwächung des Großgrundbesitzes. Die Bodenreformen verbesserten, wenngleich in höchst unterschiedlichem Ausmaß, die Lebenssituation der durchschnittlich vermögenden Bauern und sanktionierten den durch die Kriegswirtschaft bedingten Aufstieg dieser Gruppe. Deutlich ambivalenter waren die Folgen des – in formaler Hinsicht revolutionären – Wandels der sozialen Stellung der Frauen. Diese merkten schnell, dass politische Rechte nicht Gleichheit bedeuteten. Aus Enttäuschung 349

II Kaleidoskop

und Verbitterung wussten viele Feministinnen die Möglichkeiten, die sich dank der Frauenbewegung eröffneten, nicht richtig zu würdigen. Zu den klaren Verlierern der Transformation zählten die Vertreter der mittleren Klassen, die keiner der neuen herrschenden Nationen angehörten und – im Verhältnis zu ihrer bisherigen Stellung – die größten ökonomischen Einbußen erlitten. Die nationalistische Verzerrung der wirtschaftlichen Umgestaltung und der Bodenreformen schloss sie aus dem Kreis der Transformationsgewinner aus und nicht selten nahm ihnen der Chauvinismus der neuen Machthaber auch alle Karrierechancen im Staatsapparat oder in der Politik. Aus dieser Gruppe rekrutierten sich die Heerscharen der Unzufriedenen, auf denen wenig später autoritäre Regierungen ihre Herrschaft gründeten.

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III MAFIA

Kapitel 1 Nationalbewegungen Die Stunde „null“ Aus der Distanz eines Jahrhunderts scheinen symbolische Daten und individuelle Verdienste über jegliche Diskussion erhaben. Jeder oder fast jeder weiß, wann sein Land die Unabhängigkeit erlangte und wem es sie verdankt. Dieses in Schulbüchern verewigte und jährlich an Nationalfeiertagen rituell aktualisierte Wissen ist ein fester Bestandteil der Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa. Die Parallelen zwischen ihnen gehen jedoch über das Festliche hinaus. Die symbolischen Grenzdaten der staatlichen Unabhängigkeit teilen ein weiteres, auf den ersten Blick etwas überraschendes Merkmal: Sie sind fast ausnahmslos willkürlich gewählt. Die Unabhängigkeit Estlands wurde am 24. Februar 1918 ausgerufen und bis zur Annexion durch die UdSSR auch an diesem Jahrestag gefeiert. Doch schon am 25. Februar marschierten deutsche Truppen in Tallinn ein, die die bescheidenen estnischen Streitkräfte umgehend entwaffneten. Den Unterzeichnern der Unabhängigkeitserklärung erging es noch schlechter. Konstantin Päts, damals Vizebürgermeister von Tallinn, kam in ein deutsches Lager, Jüri Vilms, für einen Tag stellvertretender Ministerpräsident und Justizminister, wurde unter nie ganz geklärten Umständen erschossen.1 Erst ein Jahr später, im Mai 1919, bestätigte die estnische Nationalversammlung offiziell die Unabhängigkeitserklärung, diesmal mit der Aussicht, sie wenigstens für eine gewisse Zeit zu bewahren. Litauen indes, das eine Woche vor Estland seine Unabhängigkeit erklärte, hatte nicht einmal begrenzte Zeit, um sich an der wiedergewonnenen Souveränität zu erfreuen. Die Deutschen, die das Land kontrollierten, ließen eine Veröffentlichung der Unabhängigkeitserklärung der Taryba gar nicht erst zu und dachten stattdessen über eine Annexion des gesamten Landes nach.2 Die litauische Regierung balancierte noch einige Monate am Rand des Nichts, in ständiger Erwartung ihrer Auflösung oder auch der Verhaftung ihrer Mitglieder durch die Besatzungsmacht. Doch selbst über diese Ängste durfte nicht offen gesprochen 352

Nationalbewegungen

werden. Die deutsche Militärzensur, die weiterhin die litauische Presse überwachte, kassierte etwa einen Artikel des sozialdemokratischen Blattes Darbo Balsas, das zu fragen wagte: „Wird unser Land wirklich frei und unabhängig oder entpuppt sich der Begriff der Unabhängigkeit als leere Hülle?“3 Als am 18. November 1918 Lettland dem Beispiel der Nachbarn folgte, war die Wehrmacht schon seit einer Woche keine offizielle Kriegspartei mehr. Und doch erging es den Letten kaum besser. Nach sechs Wochen Freiheit fiel Riga in die Hand der Bolschewiki. Der erste Ministerpräsident Kārlis Ulmanis schrieb rückblickend: Die meisten von uns erinnern sich, in welch katastrophalem Zustand sich unser Land als Folge des großen Kriegs, der Revolution und der deutschen Besatzung Ende 1918 befand. Den Menschen fehlten Brot und Unabhängigkeit, sie wurden von Soldaten, Bolschewiki und Marodeuren ausgeplündert. Unter diesen Umständen ist leicht zu begreifen, dass sie von der Regierung ihrer eigenen, jungen Republik Rettung erhofften. Doch diese Regierung verfügte damals weder über Mittel noch über wirkliche Macht, denn diese lag damals immer noch in den Händen der fremden Besatzungsbehörden. Das Einzige, worauf unsere Regierung sich stützen konnte, waren die Gerechtigkeit unserer Sache und der unerschütterliche Glauben an den Willen des Volkes, frei und unabhängig zu werden.4 Der Weg der baltischen Staaten zur Unabhängigkeit führte über viele Zwischen­ etappen. Keine von ihnen kann als Durchbruch gelten, als echte und unbestreitbare „Stunde null“ der neuen Staatlichkeit. Weiter südlich war es ein wenig anders, doch im Grund sehr ähnlich. Wir übergehen hier zwei Länder, in denen nicht die Unabhängigkeit, sondern die Annexion neuer Provinzen gefeiert wurde: Rumänien und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. In Warschau, wo unter dem wachsamen Blick des deutschen Generalgouverneurs schon seit zwei Jahren eine autonome polnische Regierung amtierte, ereignete sich am 11. November 1918 nichts, was größere Festlichkeiten gerechtfertigt hätte. Das Land erhielt nicht die volle Souveränität, es gab nicht einmal entsprechende symbolische Erklärungen. Auch die Bestimmung der Geburtsstunde des Staats der Tschechen und Slowaken ist keineswegs so einfach und eindeutig, wie man in der Zwischenkriegszeit behauptete. František Soukup, ein Hauptakteur des Prager Umsturzes im Oktober 1918 und wichtigster „Verklärer“ dieser Ereignisse, schrieb in einem dicken Jubiläumsband: 353

III Mafia

Der 28. Oktober 1918 ist der Höhepunkt der bisherigen Geschichte unseres Volkes; an diesem Tag proklamierte unser Volk nach dem gemeinsamen Willen von Millionen die Tschechoslowakische Republik und berief Tomáš Garrigue Masaryk an ihre Spitze. Es gibt nichts Größeres in unserer Geschichte. In Hinsicht auf die moralische Stärke und die bewundernswerte Einigkeit der Überzeugungen! Das gigantische Ausmaß des Kampfes und die heldenhafte Tatkraft! Die Entschlossenheit, jedes Opfer zu bringen, für die Freiheit des Volkes zu kämpfen und die Bedeutung der Freiheit für die Menschheit zu begreifen. […] An jenem 28. Oktober defilierte der ganze Weltkrieg vor den Augen unserer Seelen! Die endlosen Soldatenfriedhöfe von Meer zu Meer, an allen Fronten der Welt. Die ungezählten Millionen von Menschen […] – von allen, die für die Freiheit und Demokratie der neuen Welt gefallen sind, alle, denen wir unser neues Leben verdanken!5 Gleichzeitig benennt Soukups Buch zahlreiche andere Daten, die wichtige Etappen auf dem Weg zur Freiheit markieren. Wir wollen nur die wichtigsten erwähnen. Am 13. April 1918 legten die im Prager Gemeindehaus (Obecní dům) versam­ melten Bürger einen „Revolutionseid“ ab: „Wir wollen kein Leben ohne Freiheit und Unabhängigkeit, wir wollen unser Schicksal durch unsere eigene Regierung bestimmen lassen, wir wollen frei und uneingeschränkt unsere Zukunft auf­ bauen, wie es jedes bewusste Volk in der zivilisierten Welt erstrebt.“6 Am 16. Mai tagte – unter anderem – dort der Kongress der „unterdrückten Völker“ Österreich-­ Ungarns, der von Massendemonstrationen für die nationale Unabhängigkeit in den Prager Straßen begleitet wurde. Am 1. und 2. Oktober griffen in der letzten Sitzung des Wiener Staatsrates die tschechischen Delegierten nicht nur die Regierung, sondern die Idee der Habsburgermonarchie so scharf an, dass ein Kompromiss zwischen Wien und Prag undenkbar schien. Ein deutscher Abgeordneter konstatierte entsetzt und ratlos: Meine Herren, das ist nicht mehr Verrat an diesem Staat, dies wäre ein zu schwaches Wort. Für derart unerhörte Ideen müsste ein völlig neues Wort erfunden werden. Ich habe dieses Wort noch nicht gefunden, das die ganze Schamlosigkeit eines solchen Denkens angemessen und scharf genug beschreiben würde.7 Die Vorstellungskraft der Habsburger-Loyalisten sollte noch auf manche Probe gestellt werden. Am 14. Oktober riefen die Sozialdemokraten einen Generalstreik aus, den die österreichischen Behörden nur mithilfe des Militärs unter Kontrolle 354

Nationalbewegungen

bringen konnten – für die tschechische Linke war in der Zwischenkriegszeit dieses Datum wichtiger als der 28. Oktober. Und am 18. Oktober schließlich erklärte Masaryk in Washington die tschechische Unabhängigkeit. Und es war auch Masaryk, der das Datum des tschechoslowakischen Nationalfeiertags bestimmte. Seine Entscheidung, der realen Machtübernahme durch das Nationalkomitee den höchsten Symbolwert zuzuerkennen, war politisch nicht unumstritten.8 Erstens war der 28. Oktober fast nur für Prag und – in geringerem Maß – die übrigen tschechischen Gebiete bedeutsam. In Bratislava, dem damals noch magyarisch-deutschen Pozsony, hatte sich an diesem Tag nichts Besonderes ereignet. Erst am 30. Oktober hatten sich in Martin (Turócszentmárton) mit Genehmigung der ungarischen Obrigkeit die slowakischen Nationalaktivisten zu einem Kongress getroffen. In einer dort verabschiedeten Resolution forderten sie für die Slowaken das Recht auf Selbstbestimmung. Doch das war noch nicht alles. Als die meisten Unterzeichner schon auf dem Heimweg waren, traf Milan Hodža aus Budapest mit der Nachricht von der Kapitulation Österreich-Ungarns in Martin ein. Unter dem Eindruck dieser Neuigkeit strich man einige Passagen aus der Resolution, etwa die Forderung nach der Zulassung einer selbstständigen slowakischen Delegation zur Friedenskonferenz (man gelangte zu dem

1918 – ein schlechtes Jahr für die Monarchie.

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III Mafia

Schluss, dass sie in einer Situation, in der sich bereits eine tschechoslowakische Delegation in Paris aufhielt, als Misstrauensvotum gegen die junge Republik aufgefasst werden könnte).9 Sowohl die spätere Veröffentlichung der slowakischen Erklärung als auch die nachträglichen inhaltlichen Eingriffe boten einen Nährboden für Kritik am tschechischen „Imperialismus“ und mitunter für fantastische Spekulationen. So hieß es etwa, Hodžas Änderungen hätten den Inhalt des Dokuments so sehr entstellt, dass es jede Bedeutung verloren habe. Hartnäckig hielten sich auch Gerüchte über ein Geheimprotokoll, das den Slowaken mehr politische Autonomie versprochen haben sollte, als sie im neuen Staat tatsächlich erhielten. Die Zweifel hinsichtlich der Ereignisse des 30. Oktober fielen auf den Feiertag der tschechoslowakischen Unabhängigkeit zurück – vielen Slowaken blieb er fremd. Kritik an Masaryks Entscheidung kam auch aus einer anderen Richtung. Der 28. Oktober symbolisierte den landesweiten Widerstand gegen die Habsburger. Dabei ehrte er auch Akteure des öffentlichen Lebens, die sich (wie etwa Soukup) erst recht spät zu Akten der Zivilcourage durchgerungen hatten. Bis dahin waren

Der Böhmische Löwe zerreißt die schwarz-goldene Flagge. Im Hintergrund das Symbol des nationalen Untergangs – Schloss Stern auf dem Weißen Berg, rechts der Hradschin.

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Nationalbewegungen

sie loyale Untertanen der Monarchie. Der Verlauf der Ereignisse an diesem Tag (wovon noch die Rede sein wird) rechtfertigte das in diesem Kontext oft benutzte Wort Revolution nicht ganz. In den Augen der Radikalen fehlten dem Umsturz vom 28. Oktober zur richtigen Revolution das Blut, das Feuer und die Galgen für die Verräter. Das alles störte die tschechoslowakischen Legionäre, die sich für die einzig wahren Helden der Nationalrevolution hielten. In der Presse und in öffentlichen Reden wiesen sie während der gesamten Zwischenkriegszeit immer wieder darauf hin, dass die wahren Revolutionäre sich im Herbst 1918 in Sibirien befanden und nicht in Prag.10

Zwei Lager Die Kritik der Legionäre berührte eine Frage, deren Relevanz über die Festlegung eines Datums für den Nationalfeiertag weit hinausging. Im Kern ging es darum, wer die Unabhängigkeit erkämpft hatte. Der tschechoslowakische Fall ist insofern paradigmatisch, weil hier die gegensätzlichen Standpunkte offen und ausführlich artikuliert wurden und man bei allem Streit und allen Debatten auch um Verständigung und einen Kompromiss bemüht war. Ähnliche Mechanismen wirkten auch, wenngleich in geringerem Ausmaß, in Polen und im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Im Folgenden möchten wir die typischen Akteure des Kampfs um die Erinnerung vorstellen. Eine bedeutende Gruppe waren die Mitglieder des Auslandswiderstands (wie man sie in der Tschechoslowakei nannte). Den politischen Arm dieses Milieus bildete das Tschechoslowakische Komitee, anfangs: Tschechisches Auslandskomitee, unter der Führung des tschechisch-slowakischen Triumvirats Tomáš Garrigue Masaryk, Edvard Beneš und Milan Rastislav Štefánik. Die Aktivisten des Komitees wirkten in Paris und London, sie bemühten sich um die Anerkennung der Entente-Staaten und um Geld, das meist von der Diaspora in den USA kam. Ihr Hauptbetätigungsfeld war jedoch die – an die ausländische Öffentlichkeit und insbesondere die westlichen Eliten gerichtete – Propaganda (über sie schreiben wir ausführlicher in einem späteren Kapitel). Masaryk selbst umschreibt in seinem auf Englisch geführten Tagebuch die Erwartungen des Komitees ungewöhnlich zurückhaltend: „Man kann allenfalls eine kleine Zahl von intelligenten Menschen informieren und ihnen einige Ideen geben.“ 11 In der Tat war das Manövrierfeld der wenigen Privatmänner, die zudem als Staatsverräter von Österreich steckbrieflich gesucht wurden, nicht sonderlich groß. Es erweiterte sich aber nach und nach im Zuge der internationalen Entwicklung. Eine wichtige Etappe auf diesem Weg war die Übernahme der politischen Schirmherrschaft 357

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über die in Russland, Frankreich und Italien aus Kriegsgefangenen tschechischer und slowakischer Nationalität formierten Truppeneinheiten. Ein weiterer entscheidender Moment war die Anerkennung des Komitees als Auslandsvertretung des noch immer „besetzten“ Landes durch die Entente-Staaten. Bis es jedoch so weit war, durchlebten die tschechoslowakischen Emigranten allerdings lange Jahre der Unsicherheit und der Enttäuschung sowohl über die schwierige eigene Lebenslage als auch über die Haltung der Politiker im Land, die weiterhin ihre Treue zur Monarchie bekundeten. Derselben Monarchie, die Masaryk an den Galgen bringen wollte.

Der Abstieg aus dem Himmel In dem Moment, in dem die Kugeln des Attentäters den habsburgischen Thron­ folger trafen, erlebte Milan Rastislav Štefánik wahrscheinlich die schönste Zeit seines bisherigen Lebens, das von Wissenschaft und Arbeit erfüllt war. Eine Woche vor dem Attentat war er 34 geworden und wollte im Sommer 1914 mit der Verwirklichung seiner Lebensträume beginnen. Man könnte sagen: Das Leben stand ihm offen. Darauf hatte er konsequent hingearbeitet. Der Pastorensohn aus der Westslowakei war zum Studium nach Prag gekommen. Er studierte zunächst am Polytechnikum und dann an der mathematisch-­ ­naturwissenschaftlichen Fakultät der Tschechischen Universität. Gleichzeitig beteiligte er sich aktiv am Kulturleben der Prager Slowaken. Wie viele von ­ihnen kam er bald unter die Fittiche des Gurus der jungen Generation, des geist­reichen Philosophen Tomáš Garrigue Masaryk. Für Štefániks hohe Ansprüche war Prag allerdings zu klein. Nach dem Studium ging er nach Frankreich, wo er eine Laufbahn als Astronom begann. Schon damals war er unter den Zeitgenossen umstritten. Er war nicht nur krankhaft ehrgeizig und sehr begabt, sondern auch ein attraktiver Mann, dessen wissenschaftliche Karriere beständig von vermögenden, meist älteren Damen finanziell unterstützt wurde. All dies weckte die Abneigung mancher Fachkollegen (wie auch mancher Weggefährten in kulturellen und politischen Kreisen). Die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts verbrachte Štefánik mit Forschungsreisen durch die ganze Welt, Beobachtungen von Sternen und einem recht rasanten Aufstieg in der wissenschaftlichen Hierarchie. Außerdem nahm er die französische Staats­ bürgerschaft an. Im Sommer 1914 war er auf dem Höhepunkt angelangt. Im Auftrag der französischen Regierung reiste er nach Marrakesch, um dort den Bau eines neuen astronomischen Observatoriums zu beaufsichtigen. Unter358

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wegs erfuhr er, dass er vom Präsidenten der Republik mit dem Orden der ­Ehrenlegion ausgezeichnet worden war. Die Nachricht vom Kriegsausbruch stellte Štefániks Leben wortwörtlich auf den Kopf. Er gab seine verheißungsvolle Karriere auf und kehrte nach Frankreich zurück, wo er sich unverzüglich bei seiner Einheit meldete – dem Infanterieregiment aus Chartres. Damit begann ein geheimnisvoller Abschnitt seines Lebens. Obwohl er sich dem Dienst nicht entzog, landete er nicht an der Front, sondern auf dem Operationstisch. Die Rekonvaleszenz nach der Magen­ operation – nicht der ersten und nicht der letzten in seinem kurzen Leben – wurde zum Albtraum. Die französischen Ärzte und Krankenschwestern verdächtigten ihn, er wolle sich im Hinterland versteckt halten – umso mehr, als er (obwohl Bürger der Republik) ihnen wie Ausländer suspekt vorkam. Zu allem Übel war Štefánik – anders als die meisten Franzosen, dafür aber wie der preußische Erzfeind – Protestant. Als er nach der Entlassung aus dem Krankenhaus erfuhr, dass seine Verlobte ihn nicht mehr sehen wollte, war er dem Zusammenbruch nahe. Betrachtet man Štefániks Kriegsabenteuer jedoch aus einer anderen Perspektive, kann man zu dem Schluss gelangen, dass der Slowake letztlich Glück hatte. Während des schlimmsten Gemetzels der ersten Kriegsmonate lag er im Krankenhaus. Nach der Entlassung meldete er sich zur Luftwaffe. Er musste allerdings erst lernen, wie man ein Flugzeug steuert. Den ersten Kampfeinsatz flog er deshalb erst Mitte 1915. Angesichts der französischen Verluste in diesem Heeresteil am Beginn des Kriegs war auch dies eine glückliche Fügung. Danach kam seine Karriere in Gang. Schon in der Fliegerschule war er als ausgezeichneter Meteorologe aufgefallen und hatte de facto den Wetterdienst in der französischen Luftwaffe organisiert. Eigentlich hätte er in diesem Moment aus dem aktiven Armeedienst austreten und sich, statt im Kampf sein Leben zu riskieren, der Ausbildung von Wetterfliegern widmen können. Doch er hatte andere Pläne. Schon früher hatte er sich um eine Versetzung zum französischen Luftgeschwader in Serbien bemüht. Sein Wunsch ging in Er­ füllung, doch kurz darauf starteten Deutschland, Österreich-Ungarn und ­Bulgarien die Entscheidungsoffensive auf dem Balkan. Angesichts der bevorstehenden Niederlage flohen die französischen Flieger nach Süden, doch Štefá­nik, dem als Einzigem im Fall der Gefangennahme die Exekution gedroht hätte, hatte kein Flugzeug. Seine eilig aus einigen Wracks zusammengebastelte Maschine stürzte über Albanien ab. Der unglückliche, von seinem Magengeschwür geplagte Pilot bereitete sich auf den Tod vor. 359

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Das Schicksal meinte es jedoch weiter gut mit Štefánik. Die Italiener entsandten ein Schiff, das ihn sicher nach Brindisi und anschließend nach Frankreich brachte, wo man ihn gleich operierte. Warum solche Sorge um einen einzelnen Soldaten? Sicher nicht wegen seiner Qualifikation als Meteo­ rologe, sondern höchstwahrscheinlich aus politischem Kalkül. Štefánik war in Frankreich bereits in Propagandaaktivitäten zur Mobilisierung der Slawen gegen die Habs­burgermonarchie involviert. Anfangs hatte er allein gearbeitet, bald aber Kontakt zu seinem früheren Lehrer Masaryk und zu Edvard Beneš aufgenommen. Im Trio der Gründerväter spielte er die Rolle des ­Eisbrechers. Dank seiner Kontakte, seines gesellschaftlichen Schliffs (die Frauen!) und Sprachtalents öffnete er den tschechischen Kameraden die ­Türen zu den europäischen Regierungen. Gleichzeitig strebte er unablässig danach, seinen Namen durch große, ungewöhnliche Taten zu verewigen. Auf dem Weg in die Unsterblichkeit war das Flugzeug sein fast untrennbarer Begleiter. Nicht von ungefähr erinnert Štefániks Selbststilisierung als Ritter an Gabriele d’Annunzio, einen anderen Helden der Lüfte. Beide waren einander ähnlich und gingen einen ähnlichen Weg, nur dass der Slowake der Erste war. Mehrfach gelang es ihm, politische Aktivität und Abenteuer miteinander zu verbinden, auf spektakulärste Weise wohl kurz nach seinem Eintritt in die Luftwaffe des Königreichs Italien im Frühjahr 1916. Beladen mit Hunderttausenden tschechischen Flugblättern, unternahm er einen riskanten Erkundungsflug weit hinter feindlichen Linien, um sie persönlich aus dem Flugzeug abzu­ werfen. Er wiederholte die Mission mehrfach (d’Annunzio musste auf seinen berühmten Flug über Wien noch zwei Jahre warten), was ihm allgemeine Bewunderung eintrug, aber auch – zu seinem Unglück – sein Vertrauen in die italie­nischen Maschinen wachsen ließ. Ende des Jahres wechselte er erneut die Front und warf seine Flugblätter über Rumänien ab. Dort bemühte er sich erstmals um die Gründung von Freiwilligeneinheiten aus ehemaligen tschechischen und slowakischen Kriegsgefangenen. Es fiel Štefánik leicht, Kontakte zu knüpfen und die Sympathien einflussreicher Personen zu gewinnen. Deshalb entsandte Masaryk ihn in ein für die tschechoslowakische Auslandsaktion extrem schwieriges Gebiet: ins zaristische Russland. Für Petrograd bestand die einzig akzeptable Statusveränderung der tschechischen Gebiete in ihrer Eingliederung ins russische Imperium. Štefánik sollte die Genehmigung zur Anwerbung von Kriegsgefangenen für die tschechoslowakischen Legionen einholen, diese Soldaten der Führung 360

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des Tschechoslowakischen Komitees unterstellen und bei alldem möglichst niemandem auf die Füße treten. Im Februar wurde er in der russischen Hauptstadt mit abgrundtiefem Misstrauen empfangen, als plane er, persönlich den Zaren zu stürzen. Die Ochrana drang sogar in sein Hotelzimmer ein, betäubte ihn mit Äther und durchsuchte sein Gepäck nach kompromittierenden Materialien.12 Dennoch war Štefániks Mission ein Erfolg. Die Erlaubnis zur Schaffung tschechischer und slowakischer Einheiten war eine der letzten Entscheidungen der Stawka vor dem politischen Umsturz. Den Rest des Kriegs verbrachte Štefánik auf Reisen. Er war in den USA, in Italien und noch einmal in Russland; er organisierte Truppen, sammelte Geld und knüpfte Kontakte. Oder holte die Kastanien aus dem Feuer: Die letzte Kriegsmission des Slowaken bestand darin, die tschechoslowakischen Legionäre aus Sibirien herauszuführen. Dafür fehlte er dort, wo die wichtigsten Entscheidungen fielen. In Paris wurde die Tschechoslowakei von Beneš repräsentiert, mit dem Štefánik nie eine gemeinsame Sprache fand. Mit Kriegsende wurde der bis dahin unersetzliche Štefánik plötzlich nicht mehr gebraucht. Die tschechoslowakische Nation brauchte nur einen Vater und das konnte niemand anderes als Masaryk sein. Um die Außenpolitik, in der Štefánik sich bis dahin hervorragend bewährt hatte, kümmerte sich Beneš. Als Trostpreis sollte dem dritten Staatsgründer die Verwaltung der Slowakei übertragen werden. Hier endet die Geschichte und der Mythos beginnt. In seinem monumentalen Werk über die Staatsgründung spekuliert Ferdinand Peroutka, dass der beliebte und liberale Politiker an der Macht ein ernsthafter Gegner der katholischen Volkspartei geworden wäre – wenn er lebend in Bratislava eingetroffen wäre. Doch sein italienisches Flugzeug, das er natürlich selbst steuerte, stürzte kurz vor der Landung ab. Im Wrack fand man die verkohlten Leichen der Besatzung. Štefánik lag etwas abseits; vermutlich hatte er vor dem Aufprall aus der Maschine springen können.13 Flugzeugkatastrophen sind ein dankbarer Gegenstand für Verschwörungstheo­ rien. So auch in diesem Fall. Schon kurz nach dem Unglück kursierten Gerüchte, Soldaten hätten den Befehl bekommen, die italienische Maschine zu beschießen. Hauptverdächtige waren wie immer die Ungarn. Besonnenere Beobachter vermuteten, jemand habe vielleicht die italienischen Hoheitszeichen am Flugzeug mit ungarischen verwechselt. Hartnäckig hielt sich auch die Unterstellung, Beneš habe sich seines Rivalen ein für alle Mal entledigen wollen. Dieser Aspekt des Štefánik-Mythos erwies sich mit der Zeit als der langlebigste. 361

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Schon in der Zwischenkriegstschechoslowakei löste sich das Bild des toten Helden von der konkreten Person Štefániks. Der tschechophile liberale Demokrat verwandelte sich nach seinem Tod in einen Pionier des slowakischen Faschismus und Kämpfer gegen den „jüdisch-freimaurerischen Tschechoslowakismus eines Beneš und Masaryk“, wie die rechtsextreme Presse schrieb.14 Der Propagandachef des slowakischen Staates ging 1941 noch einen Schritt weiter. In seinen Augen war Štefánik der erste slowakische Verfechter des autoritären Systems, das in dem heute entstehenden neuen Europa Adolf Hitler verkörpert. […] Štefánik würde heute mit Adolf Hitler marschieren, ja, er würde der slowakische Hitler. Darum haben die Gegner der Freiheit des slowakischen Volks kein Anrecht auf Štefánik; kein Anrecht auf ihn haben die Gegner der autoritären Ordnung des neuen Europa, das allen Völkern freie Entfaltung garantiert.15 Der tote slowakische d’Annunzio (und für manche der „slowakische Hitler“) bleibt eine Inspiration. Eine der letzten Erwähnungen in der slowakischen Presse verdankte er dem Kandidaten von Robert Ficos Smer-Partei für das Direktorenamt des slowakischen Instituts für das Gedächtnis der Nation: Ján Hrubýs Bachelorarbeit handelte von der Katastrophe von Bratislava. Der Verfasser hatte seiner Fantasie darin freien Lauf gelassen und sowohl Beneš als auch Masaryk des politischen Mordes beschuldigt. Warum die Arbeit trotz negativer Gutachten und mangelnder Faktentreue von der Universität Trnava angenommen worden war, konnten auch Nachforschungen der Opposition nicht ans Tageslicht bringen. Vielleicht war Bestechung im Spiel, vielleicht die uneigennützige Hilfe eines anderen Anhängers von Verschwörungstheorien. Auch außerhalb der Slowakei gibt es schließlich Menschen, die nicht an einfache Flugzeugunglücke glauben.

Das Tschechoslowakische Komitee stand vor denselben Problemen, die auch den übrigen nationalen Komitees und Organisationen die Arbeit erschwerten. Nächster „Verwandter“ und Verbündeter der Tschechoslowaken war das Jugoslawische Komitee mit Ante Trumbić und Frano Supilo an der Spitze. Ihre Lage war noch widriger als die von Masaryk, Štefánik und Beneš. Die Öffentlichkeit brannte keineswegs auf die Abschaffung der Monarchie, außerdem verhandelte das Komitee mit wechselndem Erfolg mit einer serbischen Regierung, die eine sehr viel bessere internationale Position hatte und mitnichten von der jugoslawischen Idee überzeugt war. Ministerpräsident Pašić hielt lange an der großserbischen 362

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Option fest, vor allem mit Blick auf eine Annexion Makedoniens. Die jugoslawische Lösung hätte für ihn eine Verschlechterung des Verhältnisses zu Italien bedeutet, wo gerade die Propagandakampagne „Dalmatia nostra“ angelaufen war.16 Und er brauchte die Unterstützung Italiens in anderen Territorialstreitigkeiten, etwa mit Bulgarien. Unter diesen Umständen erforderte der Kampf um internationale Anerkennung Geld (auch hier: vor allem von Kroaten und Slowenen aus den USA)17 sowie die Kontrolle über die Streitkräfte und schließlich verlangte der Kampf um Einfluss auf die Situation im Inland den Jugoslawen noch größere Anstrengungen ab. Im Kontext der anderen im Ausland tätigen Komitees unterschieden sich die Polen durch eine noch größere politische Zersplitterung sowie durch noch stärkere Animositäten zwischen den einzelnen Lagern. Der ebenso große wie von den Nationaldemokraten gehasste Historiker Szymon Askenazy ließ kein gutes Haar an der polnischen Auslandspropaganda: Gewiss wird auch daraus ein Nutzen erwachsen, doch leider wird er in keinem Verhältnis zu den aus polnischen Spargroschen finanzierten enormen Kosten und, schlimmer noch, zu den großen Anforderungen des Augenblicks stehen […]. Ihre Publikationen werden fast nur von den Polen selbst gelesen. Von den Ausländern indes, für die sie doch eigentlich bestimmt sind, von den ausländischen Redaktionen, Institutionen und Behörden werden sie meist in den Papierkorb geworfen. Das gilt für die Auslandspressearbeit beider „Rich­ tungs“-Lager gleichermaßen, denn es ist keine Frage der „Richtung“, sondern des Niveaus dieser Arbeit.18 Askenazys Botschaft war klar: Was die polnischen Agenturen in der Schweiz, in Frankreich und in den USA vermeintlich für die Bedürfnisse der einheimischen Leser produzierten, taugte in Wirklichkeit oft nur für den Papierkorb. Dafür gab es zwei Gründe: Erstens waren die polnischen Politiker tief gespalten; die oft widersprüchliche Aussagen vermochten die ausländischen Leser nicht zur Unterstützung der sogenannten polnischen Sache zu bewegen, von der ohnehin kaum jemand etwas wusste. Zweitens ließen sowohl ihre Fremdsprachenkenntnisse als auch ihr Wissen über die Mentalität der potenziellen Empfänger – des Anwalts in Lausanne, des Kaufmanns in Bordeaux oder des Bankangestellten in New York – vieles zu wünschen übrig. Die polnischen Propagandainitiativen waren für die ausländischen Adressaten ebenso unverständlich wie die tschechoslowakischen oder jugoslawischen. Trotzdem bemühten sich die Politiker um die echte Unterstützung der Groß363

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mächte. Dmowski setzte im ersten Kriegsjahr auf die russische Karte. Niemand von Rang in Petrograd wollte mit ihm sprechen. Als die Deutschen im August 1915 das Königreich Polen, Litauen, das westliche Weißrussland und einen Teil Lettlands besetzten, emigrierte Dmowski. Im sogenannten Westen fand er nicht die schlechtesten Bedingungen vor. Der betagte Nobelpreisträger Henryk Sienkiewicz und der Musiker Ignacy Paderewski hatten schon im Januar 1915 bei der Schweizer Obrigkeit die Legalisierung eines Hilfskomitees für die polnischen Kriegsopfer erwirkt (darüber haben wir im ersten Band geschrieben). Doch alles, was über eine legale karitative Tätigkeit hinausging, gestaltete sich schwierig: In Frankreich und Großbritannien sah man keinen Raum für die Vision der Unabhängigkeit eines Gebildes, das aus russischer Sicht längst zum Priwislinskij Kraj (Weichselland) zusammengeschrumpft war. Paris und London fürchteten, Russland durch die Anerkennung Polens zu einem Separatfrieden mit den Mittelmächten zu provozieren. Diese Angst bestimmte bis zur Oktoberrevolution 1917 ihre Haltung zu den polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen. Parallel dazu arbeitete das Oberste Nationalkomitee, das schon im August 1914 von galizischen und Wiener Politikern gegründet worden war. Auf dem Papier überparteilich, verzettelte es sich bald im Dickicht der Intrigen einzelner Mitglieder, des Konflikts mit Piłsudski, der zeitgleichen Aktion Dmowskis in der Schweiz, des Streits zwischen Wien und Berlin (wer hätte – nach dem erwarteten Sieg der Mittelmächte – das in dieser oder jener Form wiedergeschaffene Polen de facto regieren sollen?) und der Auseinandersetzung mit der im besetzten Königreich Polen entstehenden, vom Staatsrat, vom Regentschaftsrat und der von Deutschland abhängigen Warschauer Regierung unterstützten polnischen Verwaltung. Der Horizont verändert sich erst 1917. Dmowski hatte jahrelang für die Restitution der Autonomie des Königreichs Polen innerhalb des russischen Impe­riums gekämpft. Damit unterschied er sich kaum von den slawischen Delegierten im Wiener Staatsrat – auch die Tschechen oder Slowenen dachten zunächst nicht an Unabhängigkeit, sondern an den Ausbau ihrer Rechte in den Grenzen der Habsburgermonarchie. Piłsudski, der an seiner Legende als charismatischer Anführer der Legionen arbeitete (der er nie war – er führte die I. Brigade, was zur Mythenbildung ausreichte), verweigerte 1917 demonstrativ den Eid auf die ­beiden Kaiser und ließ sich in der Festung Magdeburg internieren, wo er – entgegen der Assoziation von finsteren Kasematten – unter luxuriösen Bedingungen lebte: in einem Holzhaus, mit einer Ordonnanz und seinem Lieblingsuntergebenen Sosnkowski als Gesprächspartner, die Mahlzeiten kamen aus einem nahen Restaurant. 364

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Mehr als Piłsudskis Schriften oder Dmowskis nicht minder apodiktischen Ausführungen verraten uns die Erinnerungen einer damals drittrangingen Person, des späteren Außenministers (1926–32) August Zaleski. Obwohl er in Großbritannien aufgewachsen war, war er für Londoner Politiker und Journalisten ein klassischer Nobody: ein Gesandter aus einem entlegenen Winkel Ruritaniens. Am ehesten schienen ihn die lokalen Juden zu kennen, die über die Ränder Europas unvergleichlich mehr als ein schottischer Lord oder ein Sozialist aus Liverpool wussten. Zaleski hatte schon 1915 während eines kurzen Aufenthalts in der Schweiz die Riva­lität zwischen den verschiedenen Flügeln der polnischen Emigration erlebt. In London sah es in dieser Hinsicht keineswegs anders oder gar besser aus. Zaleski erhielt den merkwürdigen Status eines informellen Gesandten Piłsudskis, der freilich gegen Russland und damit gegen einen Verbündeten Großbritanniens ­kämpfte. Und er hatte mit ganz profanen Schwierigkeiten zu kämpfen: Wer sich daran gewöhnt hat, Bürger eines freien Staates zu sein, kann sich kaum vorstellen, mit welchen Problemen sich ein Mensch herumschlägt, der ein staatenloses Volk zu vertreten versucht. Nehmen wir nur einen wichtigen technischen Unterschied: Ein diplomatischer Vertreter eines anerkannten Staates besitzt nicht nur persönliche Immunität, sondern kann sich ungehindert mit s­einer Regierung verständigen – per Diplomatenpost oder durch chiffrierte Depeschen –, seine Mitarbeiter sind von vielen lästigen Vorschriften befreit und – keine Bagatelle – er hat leichten Zugang zu Regierung und Behörden seines Gastlandes. Hinzu kam ein weiteres Problem: Gemäß den britischen Vorschriften über den Handel mit Feindesländern wäre die Annahme von Geld aus Polen eine Straftat gewesen, selbst wenn es antideutschen Aktivitäten gedient hätte. Unterstützung konnte also nur von den Polen in Russland kommen,19 die – wie Zaleski wusste – ganz andere Sorgen hatten: Sofern sie sich finanziell engagierten wollten, unterstützten sie die Hunderttausenden polnischen Flüchtlinge, die über das ganze riesige Land verstreut waren. Zaleski hielt Vorträge, veröffentlichte Broschüren (das Ziel von Askenazys Spott) und versuchte seinen Gastgebern die antipolnische Stereotype zu erklären, die ja sehr viel älter waren als der Name Priwislinskij Kraj (oder, nicht weniger verächtlich, auf Deutsch: Russisch-Polen). Immer wieder reiste er in die Schweiz, wo er dasselbe tat und auf dieselben Probleme traf. Überall führte er einen stillen Krieg gegen die Gesandten des Polnischen Nationalkomitees, die es ihm natürlich mit gleicher Münze heimzahlten. Nach dem Krieg warf Dmowski ihm vor, er habe „politische Gespräche mit den Engländern 365

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[geführt], von denen ihn diejenigen besonders schätzen, die der polnischen Sache feindlich gesinnt sind.“20 In Stockholm oder Den Haag sah der Kampf um die Erlangung der Eigenstaatlichkeit ähnlich aus. Ohne die zweite russische Revolution und den Separatfrieden von Brest-Litowsk, der Russland aus dem Kreis der Alliierten ausschloss, hätten alle diese Anstrengungen nicht viel gebracht. Norman Davies fasst dieses Unterkapitel der Geschichte des Ersten Weltkriegs treffend zusammen: In den Folgejahren beschrieben viele polnische Historiker die Wiedergeburt des polnischen Staates als natürliche Folge des Kampfes der Nation in der Teilungszeit. In ihren Augen handelte es sich um das einzig richtige, um nicht zu sagen unvermeidliche Ziel des „Wegs zur Unabhängigkeit“. […] Gleichwohl kann man nicht unbedingt davon ausgehen, dass der Wunsch der Vater der Tat war. Im Grunde hatten die Polen nur wenige Gelegenheiten, für die ­eigene Unabhängigkeit zu kämpfen. Alle Bemühungen, die sie in dieser Richtung unternahmen, einschließlich der Legionen, waren gescheitert. Alle Ideen zur Errichtung eines polnischen Staates in Zusammenarbeit mit den Mittel­mäch­ ten, mit Russland oder mit der Entente waren im Sand verlaufen. Das Ergebnis des Kriegs für die polnischen Gebiete war von niemandem vorhergesehen worden und letztlich ohne Kampf zustande gekommen. Wenn der Historiker zwischen der Erlangung der nationalen Unabhängigkeit im November 1918 und den anschließenden Kämpfen zu ihrer Verteidigung und Bewahrung unterscheiden soll, so kann er nur zu dem Schluss gelangen, dass die Wünsche und Taten der polnischen Bevölkerung bis zuletzt weitestgehend bedeutungslos waren. Mindestens ein skeptischer Beobachter hielt die Schaffung eines unabhängigen Polen 1918 für das Resultat eines „glücklichen Zufalls“. Für ­religiös denkende Menschen war sie gleichsam ein Wunder.21 Warum hat bisher keiner der polnischen Historiker, die die Geschichte der „polnischen Sache“ erforschen, auch nur den Versuch unternommen, diese Einschätzung zu widerlegen? In der Praxis bestand das Ziel aller Unabhängigkeitsbewegungen darin, der mitunter verzweifelten politischen und finanziellen Lage zum Trotz die eigene „Sache“ bekannt zu machen. Zumal in den ersten Kriegsjahren war dabei viel Hochstapelei im Spiel. Edvard Beneš schreibt darüber ganz unverblümt in einem Brief an seinen im Land gebliebenen Bruder: Meine politische Tätigkeit kostet eine Menge Geld. Ich bewege mich in vermögenden Kreisen, in einem elitären Zirkel von Politikern, Journalisten und 366

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­ iplo­maten jeglicher Nationalität, die alle ein ungeheures Kastenbewusstsein D besitzen. Um erfolgreich zu sein, muss ich entsprechend auftreten. Im Augen­ blick habe ich genug Geld, um noch ein Jahr so zu überleben, aber ich brauche eine Reserve, denn die Leute müssen wissen, dass ich Geld habe, auch wenn ich nicht damit um mich werfe. Wir leben hier mehr vom Bluff als irgendwo sonst.22 Der Erfolg der Bemühungen um Gehör im Westen bemaß sich an der Anzahl und der Position der für eine Zusammenarbeit gewonnenen Politiker und Journalisten. Die besten Ergebnisse konnten die Tschechoslowaken vorweisen, die vom Wohlwollen einer Gruppe prominenter Intellektueller aus Frankreich und Großbritannien profitierten, darunter die Historiker Ernest Denis und Robert Seton-Watson, der Journalist Henry Wickham-Steed und der Slawist Louis Léger. Sie alle standen unter dem Eindruck von Masaryks Persönlichkeit und sympathisierten mit seinem demokratischen Programm. Sehr viel reservierter war ihre Haltung gegenüber Roman Dmowski und seinen Mitstreitern. In dieser idealistischen Phase der europäischen Politik (und sicher nicht nur damals) weckte Tomáš Garrigue Masaryks Humanismus größere Sympathien als Dmowskis nationaler Egoismus und Antisemitismus. Ungeachtet der (zeitweise recht angespannten) Beziehungen zwischen dem polnischen und dem tschechoslowakischen Komitee durchliefen beide ähnliche Entwicklungsstadien und standen vor ähnlichen Herausforderungen. Anfangs kämpften sie um diplomatische Anerkennung und ein klares Profil, später um Einfluss auf die ausländische Öffentlichkeit und die politischen Eliten. Gegen Ende bestand die Hauptaufgabe darin, die französische, britische und italienische Straße davon zu überzeugen, dass die Unterstützung der „nationalen Sache“ das Blutvergießen nicht verlängern, sondern verkürzen würde.23 Den Höhepunkt ihrer politischen Karriere erklommen die Mitglieder der Komitees nach Kriegsende, als sie ihre Länder bei der Friedens­ konferenz vertraten und die tschechoslowakischen Legionen die reale Macht über große Gebiete Sibiriens übernahmen, was ihnen einen zentralen Platz in der politischen Vorstellungswelt der westeuropäischen Öffentlichkeit sicherte.24 In diesem Augenblick standen die einstigen „Hochstapler“ auf den Gipfeln der Weltpolitik. Im Krieg um Erinnerungshoheit und Anerkennung konkurrierten die Akteure des „Auslandswiderstands“ mit denjenigen Politikern, die den Krieg im Inland verbracht hatten. Sie hatten das Los der Zivilbevölkerung geteilt und meist keinen offenen Widerstand gegen die Obrigkeit oder die Besatzer gewagt. Ihr Loya367

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lismus und ihre Vorsicht waren oft verlacht worden. In einer Zeit, in der Trumbić, Masaryk oder Beneš der Strang gedroht hätte, wenn sie zu früh einen Fuß auf heimischen Boden gesetzt hätten (Štefánik nahm dieses Risiko bewusst auf sich), hatten ihre Landsleute Treueerklärungen abgelegt – die tschechischen Inlandspolitiker im Dezember 1916 und im Januar 1917, die kroatischen und slowenischen Mitglieder des Jugoslawischen Klubs noch im Mai 1917.25 Erst in den letzten Kriegsmonaten, als die gesellschaftliche Stimmung sich radikalisierte und es nicht mehr so viel kostete, Mut zu zeigen, waren auch von den Inlandspolitikern schärfere Töne zu vernehmen. Allmählich kam die Spirale in Gang, die František Soukup in seinem Buch über den 28. Oktober beschreibt: Protestversammlungen, kritische Parlamentsreden, Demonstrationen. Die Politiker waren nicht die treibende Kraft in diesem Prozess. Sie hörten vielmehr die Stimme der Menge, schlossen sich der Mehrheit an und schwammen mehr oder weniger geschickt auf der Welle des gesellschaftlichen Aufruhrs. Keine dieser Aktivitäten bedrohte unmittelbar die Existenz des Staates. Loyalität und Forderungen nach einer Verbesserung der Situation des eigenen Volkes in der multiethnischen Monarchie schlossen einander nicht aus. Wie ihre polnischen und ukrainischen Kollegen in Galizien verbanden die tschechischen Politiker auf diese Weise beide Patriotismen: den staatlichen und den nationalen. Die slowenischen und kroatischen Abgeordneten im Wiener Parlament forderten die Vereinigung der jugoslawischen Provinzen zu einem einzigen territorialen Organismus. Das war insofern ein schwer umzusetzender Plan, als er Zugeständnisse nicht nur von Wien, sondern auch von Budapest erforderte, aber er war keineswegs unrealistisch. Das durch die militärischen Blamagen der Monarchie vergiftete Klima stand einem vernünftigen Kompromiss jedoch im Weg. Die Hetze gegen die slawischen Soldaten der k. u. k. Armee, denen man eine Neigung zum Verrat und mangelnden Patriotismus unterstellte, befeuerte den deutsch-österreichischen Chauvinismus der politischen Eliten in Wien. Die Chancen auf eine friedliche Einigung schwanden von Tag zu Tag. Die Reden der slawischen Delegierten verloren ihren konstruktiven Charakter und wurden zu Manifestationen der Unzufriedenheit über die deutsche Dominanz. Von dieser Entwicklung blieb auch das Projekt der Schaffung einer jugoslawischen Provinz nicht unberührt. Die erstmals im Mai 1917 artikulierte Forderung wurde umso häufiger wiederholt, je weiter sich die Lage des Staates verschlechterte, und bot immer öfter den Vorwand zum parlamentarischen Schlagabtausch. Fast ein Jahr später mahnte der slowenische Abgeordnete Verstovšek: „[S]o wird jede Regierung verschwinden, während die Südslawen nicht ausgerottet werden. Es ist Wahnsinn, jetzt 368

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nach diesem Völkerringen ganze Nationen unterdrücken zu wollen.“26 Sehr viel schärfer formulierte es während derselben Debatte Verstovšeks mährischer Kollege Adolf Stranský: Und ich wiederhole abermals feierlich das Wort unsres Palacký, dass Öster­ reich nur so lange existieren kann, so lange es seine Völker wollen werden, und überhaupt nicht mehr existieren kann, sobald seine Völker aufhören werden, es zu wollen. Nun, die slawischen Völker Österreichs haben klar und deutlich in ihren Deklarationen gesagt, was sie wollen und was sie nicht wollen, und wenn Herr v. Seidler, anstatt dahin zu arbeiten, daß alle machthabenden Faktoren diesem unseren nationalen Willen dienstbar werden, vor uns den Geßlerhut eines Österreichs aufrichtet, welches als Rückgrat und Haupt das deutsche Volk haben muss, dann möge er zur Kenntnis nehmen, daß wir dieses sein zisleithanisches mit deutschem Rückgrat behaftetes Österreich in alle Ewigkeit hassen, daß wir es bekämpfen werden und daß wir es auch zuguterletzt, so Gott will, so sicher zertrümmern werden, daß nicht einmal der Gestank dieses Seidlerschen Österreich übrig bleibt!27

Wiederaufnahme der Beratungen des Staatsrats 1917.

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Kurz zuvor hatte sich im selben Saal eine nicht minder dramatische Szene abgespielt, in der die polnischen Delegierten die Hauptrolle spielten. Während ganz Galizien von Protesten gegen die Unterzeichnung des Brester Friedensvertrags mit der Ukraine erschüttert wurde, sollten die Repräsentanten der Provinz die feierlichen Glückwünsche des Abgeordnetenhauses an den Kaiser mitanhören. Als der Parlamentspräsident mit der Verlesung des Textes begann, erhoben die Polen sich von ihren Plätzen, sangen das Lied Mazurek Dąbrowskiego (die spätere polnische Nationalhymne) und verließen anschließend den Saal, begleitet von den sich mit ihnen solidarisierenden Tschechen, Kroaten und Slowenen.28 Diese und andere Demonstrationen, von denen es in den letzten Monaten des Bestehens der Monarchie viele gab, erforderten von allen Beteiligten Zivilcourage. Ab 1917 musste aber niemand mehr einen Prozess wegen Staatsverrats fürchten, ab 1918 zogen sie gar keine unangenehmen Konsequenzen mehr nach sich. Im Gegenteil, sie boten Gelegenheit, auf spektakuläre Weise die Erinnerung an die Loyalitätsbekundungen der ersten Kriegsjahre zu verwischen. Nirgendwo in Ostmitteleuropa konnten die im Land gebliebenen Politiker ernsthaft behaupten, sie hätten der Monarchie den Todesstoß versetzt und den Weg für die Gründung der neuen Staaten bereitet. Konnten es die Akteure des Auslandswiderstands? Sie hatten in manchen Fällen eine heldenhafte Haltung bewiesen, doch ihr tatsächlicher Einfluss auf den Kriegsverlauf war marginal. Russland war von den Mittelmächten besiegt worden. Den Krieg gegen Deutschland und Österreich-Ungarn im Osten hatte niemand gewonnen. Auf dem Balkan feierten sich Franzosen, Griechen und die Briten aus der Orientarmee als Sieger, obwohl eigentlich die bulgarischen Soldaten mit ihrem Streik das Ende des Weltkriegs auf dem Balkan herbeigeführt hatten. Gleichwohl spielten beide politische Lager – das ausländische und das inländische – beim Aufbau der neuen Staaten in Ostmitteleuropa eine wesentliche Rolle, wenn auch eine andere als die, die sie sich nachträglich zuschrieben.

Die Modellierung der Erinnerung Die politischen Auslandsvertretungen von Jugoslawen, Tschechoslowaken und Polen entwickelten schon während des Kriegs Erzählungen über ihr Wirken. In der Zwischenkriegszeit wurden einige dieser Erzählungen zu Bestsellern, manche prägen das gängige Bild dieser Jahre bis heute. Als wahrer Starautor erwies sich Masaryk, der – ganz nach den Gesetzen des Mediengeschäfts – unterschiedliche Zielgruppen bediente. Für das anspruchsvolle und gebildete Publikum (dem zudem Geduld abverlangt wird, denn das Buch ist weder kurz noch leicht 370

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zu lesen) verfasste er Die Weltrevolution, einen Band mit Kriegserinnerungen und Reflexionen.29 Weniger ambitionierten Lesern bot ein in Buchform erschienenes, von Karl Čapek geführtes Gespräch mit Masaryk einen Zugang zur Biografie des Staatspräsidenten.30 Der direkte Ton dieses Gesprächs und Masaryks (zugegebenermaßen) bisweilen rührend bescheidene Persönlichkeit machten dieses Buch überaus populär, sodass es auch in andere Sprachen übersetzt wurde. In dieser Hinsicht überflügelte der tschechoslowakische Staatspräsident seine Konkurrenten, die wie Józef Piłsudski oder Roman Dmowski vor allem in ihrem Heimatland bekannt waren. Die inländischen Politiker standen vor einer sehr viel schwierigeren Herausforderung. Ihre Kriegsschicksale waren reich an dramatischen Wendungen, doch dafür lastete auf ihnen der Verdacht der Kollaboration mit dem alten Regime. Die Mythologisierung ihrer Rolle im Unabhängigkeitskampf erforderte eine gewisse geistige Gymnastik und überdies das Wohlwollen der neuen politischen Eliten. Die besten Effekte erzielten die tschechischen Politiker, die während des Kriegs mit der Geheimorganisation Maffie verbunden gewesen waren. Diese Organisation war fast gleichzeitig mit dem Beginn von Masaryks antihabsburgischem Kreuzzug aktiv geworden. Das Hauptziel der tschechischen Mafiosi hatte darin bestanden, den Kontakt zum Auslandswiderstand aufrechtzuerhalten. Zu diesem Zweck arbeitete man mit Kurieren, die auch Informationen über die Stimmung im Land übermittelten. Meist handelte es sich um Frauen, zumal, wenn sie wie die tschechischstämmigen Amerikanerinnen Anna Chaloupková und Milada Jarušková ausländische Reisepässe besaßen. Dabei war die Geheim­ tätigkeit von einem Hauch von Abenteuerromantik umweht: Die Mittel, die die Maffie einsetzte, um Informationen aus dem In- und Aus­ land zu gewinnen und auszutauschen, waren schier unerschöpflich. Nachrich­ ten wurden in zerschnittenen und wieder zusammengeklebten Postkarten verschickt oder in Buchumschläge eingenäht, man versteckte sie zwischen den Brettern von Fässern, in Schuhsohlen, in den hohlen Stöcken und Spitzen von Regenschirmen, in Kleidung und Unterwäsche und auf viele andere Arten. Die Mitglieder der Maffie hatten Decknamen und nutzen eine Geheim­ schrift zur Aufzeichnung ihrer Informationen.31 Nicht von ungefähr erinnert die Erzählung von den Leistungen der Maffie stark an die Halluzinationen der k. u. k. Spionageabwehr oder die fantastischen Berichte über Spione in Frauenkleidern und die Übermittlung geheimer Botschaften durch Fenster und Kirchenglocken. Die reale Bedeutung dieser geheimdienstli371

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chen Aktivitäten während des Kriegs war aber eher gering. Historisch gesehen, waren die hin- und hergeschmuggelten Berichte über die Stimmung im Land von ähnlich zweifelhafter Relevanz wie das Überkleben des Kaiseradlers auf den Briefkästen mit aus Papier ausgeschnittenen weißen Löwen in Pilsen Ende September 1918.32 All diese im engeren Sinn politischen Aktionen stellten für die Monarchie keine auch nur annähernd ähnliche Bedrohung dar wie die Arbeiterstreiks, Hungerrevolten oder Unruhen in der Provinz. Das änderte sich erst in den letzten Wochen der Monarchie. Zuerst entdeckte ein Mitarbeiter der Maffie den Verlauf der geheimen Telefonverbindung zwischen den Regierungssitzen in Berlin und Wien. Ab dem Herbst 1918 hörten die Tschechen diese Verbindung ab, bis sie sich im Oktober angesichts des nahenden Umbruchs entschlossen, sie zu kappen, um den beiden Regierungen die Koordination ihres Handelns zu erschweren. Zu diesem Zeitpunkt waren sowohl in den tschechischen Gebieten als auch in den anderen habsburgischen Provinzen Nationalkomitees aktiv. Wien konnte und wollte diese konkurrierenden Herrschaftsorgane nicht mehr unterdrücken. Der Verlauf der Ereignisse des 28. Oktober belegt, wie gründlich die Inlandspolitiker sich auf die Machtübernahme vorbereitet hatten. In diesem Fall vermittelt František Soukups poetische Schilderung ein treffendes Bild der Wirklichkeit: Schließlich bestimmte man Tag und Stunde des Umsturzes. Es gab keinen Schritt des Habsburger Hofes, kein Manöver des österreichischen Armee­ oberkommandos oder der österreichischen Regierung, über den das National­ komitee nicht exakt und präzise informiert gewesen wäre. Das National­ komitee wusste alles, die österreichische Obrigkeit wusste nichts. Sie mühten sich mit kaiserlichen Manifestationen ab, während schon die tschechoslowakische Revolution vor der Tür stand, das tödliche Schicksal der Habsburger.33 Was aus der Sicht tschechischer Politiker den Namen Revolution verdiente, war für andere freilich eher eine friedliche Machtübergabe. Die boshaften Kommentare der mit den tschechoslowakischen Legionen sympathisierenden Presse zielten auf eben diesen wunden Punkt des Mythos vom 28. Oktober. In gewisser Weise hatte sogar die österreichisch-ungarische Obrigkeit an der Vorbereitung des Umsturzes mitgewirkt. Wenige Tage zuvor hatte Vlastimil Tusar, Emissär des Prager Nationalkomitees in Wien, mit dem letzten cisleithanischen Ministerpräsidenten Heinrich Lammasch vereinbart, dass die Ministerialbeamten tschechischer Nationalität, die für den Aufbau der tschechoslowakischen Regierungsbehörden gebraucht wurden, von ihrem österreichischen Arbeitgeber beurlaubt 372

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würden.34 In den Prager Straßen gab es am Tag des Umsturzes glücklicherweise keine Scharmützel mit den immer noch zahlreich präsenten k. u. k. Truppen. Beide Seiten, die Stadtkommandantur und das Nationalkomitee, vereinbarten eine friedliche Koexistenz und die durch die Straßen patrouillierenden Soldaten trugen zum Zeichen, dass sie die neue Herrschaft repräsentierten, Kokarden in den tschechischen Nationalfarben.35 In Kroatien, der Slowakei, Galizien und den besetzten Gebieten verlief der Zerfall der Monarchie ähnlich. Die Armee hörte auf, zu existieren. Die heimatnah stationierten Soldaten traten in die neuen nationalen Streitkräfte ein. Ihre Kameraden aus entfernteren Gegenden dachten nur noch daran, möglichst schnell in die Heimat zurückzukehren. Im Königreich Polen, also in besetztem Gebiet, wo die Truppendisziplin länger hätte Bestand haben sollen als im Hinterland, unterstanden schon Anfang November 1918 nur noch die bosnischen Kompanien dem Wiener Kommando.36 Unter solchen Bedingungen konnte es keine nationale Revolution geben – es fehlte schlicht der Gegner, gegen den man hätte kämpfen können. Die bisherige Herrschaft hatte sich in Luft aufgelöst. Die tatsächliche Rolle der Nationalkomitees und sonstiger Organe der neuen Herrschaft bestand darin, das Machtvakuum zu füllen und den politischen Transformationsprozess zu zivilisieren. Das gelang im Allgemeinen sehr gut. Die letzten Zuckungen der Monarchie verliefen ohne größere Unruhen, bewaffnete Auseinandersetzungen oder Auswüchse von Banditentum. Das alles geschah etwas früher und etwas später, zunächst im Kontext der durch den Streik in den Pilsener Škoda-Werken initiierten Sozialproteste, später dann in der Phase der Errichtung der Fundamente der neuen Staatswesen. Die Machtübernahme war im Vergleich dazu das Undramatischste. Und eben darin, so scheint es, lag das Problem der Historiografen der nationalen „Revolutionen“. Die friedliche Machtübernahme an sich bot natürlich Grund zur Zufriedenheit. Sie eignete sich allerdings nicht als Fundament der heroischen Legendenbildung, umso weniger, je mehr Zeit seit dem Herbst 1918 verging und je mehr die Erinnerung an ihn verblasste. Die Art und Weise, in der etwa die tschechoslowakischen Politiker das Bild ihrer Geheimtätigkeit gegen die Habsburger ausmalten, lässt vermuten, dass sie sich den Gründungsmythos des neuen Staates nicht ohne Heldentum vorstellen konnten. Da Masaryk sein Wirken während des Kriegs als Weltrevolution bezeichnete, wollten auch die inländischen Politiker Teil einer Revolution gewesen sein – und sei es einer unblutigen und friedlichen.

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Kapitel 2 Der „Krieg der Geister“ im Osten Der Erste Weltkrieg nimmt nicht nur in der Propaganda-, sondern auch in der Geistesgeschichte Europas eine Sonderstellung ein. Nicht deshalb, weil er ihr neue Themen geliefert hätte (obwohl er tatsächlich einige lieferte). Im Grunde war, was Schriftsteller und Wissenschaftler ihren Mitbürgern zum Krieg zu sagen hatten, seit mindestens einem Jahrhundert gleichgeblieben. Den Glauben an den eigenen Sieg, das Verteufeln und Verhöhnen des Gegners, die Berufung auf die göttliche Vorsehung – all dies finden wir schon in patriotischen Texten von Professoren und Dichtern der Napoleonzeit. Neu waren die – für die Moderne charakteristischen – technischen Möglichkeiten der Verbreitung von Informationen und das Ausmaß ihre Rezeption. Inhaltlich schwangen sich die Intellektuellen indes zu neuen Höhen auf, indem sie die alten Motive, Invektiven und Metaphern um Erkenntnisse der modernen Wissenschaft erweiterten. Das alles wäre vielleicht weit weniger beeindruckend, gäbe es nicht erstaunliche Parallelen zwischen dem, was man in der Zeit des Ersten Weltkriegs sagen und schreiben konnte, und dem, was während des folgenden Weltkriegs wirklich geschah. Im Rückblick drängt sich der Eindruck auf, als hätte die 1914 ausgebrachte Saat rasch zu keimen begonnen und fünfzwanzig Jahre später reiche tödliche Frucht getragen.

Krieg der Geister Die Mobilisierung der Intellektuellen im Sommer und Frühherbst 1914 verlief ebenso reibungslos wie die allgemeine Mobilmachung. Viele von ihnen meldeten sich auch zum Frontdienst und starben oft schon in den ersten, blutigsten Kriegsmonaten im Westen. Insbesondere die deutschen und britischen Universitäten lieferten ihren Armeen hoch qualifiziertes Kanonenfutter. Freilich konnte und wollte nicht jeder fürs Vaterland sterben. Im Hinterland verblieben Hunderte, die sich aufgrund ihres Alters und ihrer Position besser für Wortgefechte als 374

Der „Krieg der Geister“ im Osten

für Bajonettangriffe eigneten. Manche der Jüngeren und Leistungsfähigeren wie etwa Thomas Mann sorgten selbst dafür, dass sie nicht eingezogen wurden. Umso engagierter führten sie den Kampf mit Artikeln und Pamphleten. Das bedeutete nicht immer, dass sie sich in den Dienst der staatlichen Propagandamaschinerie stellten. Meist machten sich die Autoren eigene Gedanken über den Sinn dieses Krieges und die Rolle, die ihr Volk darin spielen sollte. Schon damals sprach man auch außerhalb Deutschlands vom „Krieg der Geister“ – nicht ganz grundlos, denn auf längere Sicht sollten tatsächlich die Deutschen in dieser Auseinandersetzung den Ton angeben. An der echten Front lag die Initiative in den ersten Wochen bei Deutschland und Österreich-Ungarn, doch auf dem Papier führten Franzosen, Belgier und Briten den ersten Stoß. Der deutsche Überfall auf das neutrale Belgien war ein Verstoß gegen das Völkerrecht. In der französischen und britischen Presse sprach man mit einer recht derben, aber durchaus auch zuvor bei der Beschreibung ­internationaler Verhältnisse verwendeten Metapher von der „Vergewaltigung Belgiens“. In diesem Fall ging die Berichterstattung allerdings bald über die

Die deutschen Verbrechen in Belgien in der Darstellung eines russischen Künstlers.

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­ ewöhnliche Metaphorik hinaus. Insbesondere die – oft reich illustrierten – Song derausgaben enthielten schockierende Schilderungen brutaler Sexualmorde, die deutsche Soldaten an Belgierinnen und Französinnen begangen haben sollen. Man sprach von „blutrünstigen Hunnen“ und versah die Artikel mit entsprechenden Bildern (darunter auch Archivaufnahmen von russischen Pogromen, die ­angeblich deutsche Gräueltaten in Belgien zeigten). Man prägte sogar ein neues Wort für die Deutschen: „Germ-Huns“.1 Die Assoziation von Deutschen und Hun­nen deutet auf die Intention der Entente-Propagandisten: Der Feind sollte entmenschlicht, als Bestie dargestellt werden. Viele bedeutende Schriftsteller, Wissenschaftler und Künstler griffen diese Rhetorik verblüffend leichtgläubig auf. Einige, darunter der junge Philosoph und Historiker Arnold J. Toynbee, veröffentlichten in Zusammenarbeit mit ihren Regierungen regelmäßig antideutsche Broschüren. In The German Terror in France zitierte der feinsinnige Kulturtheoretiker Toynbee Geschichten von an Haustüren genagelten Frauen mit aufgeschlitzten Bäuchen und abgeschnittenen Brüsten, die man in Orten gefunden habe, in denen die Deutschen gewesen seien,2 als genüge es nicht, die „normalen“ Vergewaltigungen und Morde zu beschreiben, die in den ersten Kriegswochen von den Deutschen in großer Anzahl begangen wurden. Als müsse man sie um gruselige, doch völlig unglaubwürdige Umstände ergänzen. Wie etwa diese: Eine junge Mutter aus der Gegend von Bailleul konnte nicht genug Kaffee für 23 deutsche Soldaten aufbrühen, also tauchte ein Soldat den Kopf ihres Kindes in das kochende Wasser.3 Diese entsetzlichen Geschichten wurden von bedeutenden Intellektuellen weiterverbreitet. Einer, dessen Stimme besonders aufmerksam gehört wurde, war Henri Bergson. Der französische Philosoph verlieh überdies als Erster den anfangs unkoordinierten Bekundungen der Empörung und des Grauens einen tieferen, metaphysischen Sinn: Am 8. September 1914 hielt er den ersten Vortrag einer Reihe, in der er den Krieg als Kampf der Zivilisation (repräsentiert durch Frankreich, Belgien und England) gegen die deutsche Barbarei beschrieb. Die tatsächlichen, aber häufiger aus den Fingern gesogenen Nachrichten über die ­zügellosen Gräueltaten den Deutschen (einige davon würden wir heute als „Fake News“ bezeichnen) betrachtete er als Symptom der psychischen Verfassung des ganzen Volkes und als logische Folge der deutschen Kultur. Dieser Gedanke ­wurde sofort aufgegriffen. Immer häufiger wurden nicht so sehr die deutschen Kriegs­verbrechen, sondern der Deutsche an sich zum Gegenstand gelehrter 376

Der „Krieg der Geister“ im Osten

Pamphlete. Am 18. September erschien in der Times der erste deutschlandkritische Appell britischer Akademiker und Schriftsteller. Sie betonten die für die deutsche Kultur angeblich charakteristische Aggressivität sowie ihren Hang zur Selbstgefälligkeit.4 Im November veröffentlichte die Académie des Sciences ein Papier, in dem es hieß, alle großen Entdeckungen in Mathematik und Naturwissenschaften der letzten drei Jahrhunderte seien von französischen und angelsächsischen Gelehrten gemacht worden, die Deutschen seien nämlich von Natur aus unfähig zu schöpferischen Leistungen.5 Wissenschaftliche Gesellschaften in Frankreich und Großbritannien begannen damit, deutsche Auslandsmitglieder auszuschließen. Einige Organisationen in den Staaten der Mittelmächte reagierten mit ähnlichen Maßnahmen. Im Dezember hielt Bergson einen weiteren, für den antideutschen Diskurs wegweisenden Vortrag. Einst, so Bergson, habe Deutschland tatsächlich für poetische und metaphysische Kultur gestanden. Diese Entwicklung sei durch die preußische Dominanz beendet worden. Preußen habe Deutschland eine unmenschliche mechanische, an die militärischen Strukturen der deutschen Armee erinnernde Organisation aufgezwungen. Unter dem Einfluss dieses Drills oder auch infolge der angeborenen Wesensmerkmale der Preußen evozierte die Idee Preußens immer die Vision von Brutalität, Strenge und Automatismus, gleichsam, als ob alles dort wie in einem Uhrwerk funktioniere, von den Gesten ihrer Herrscher bis hin zum Schritt ihrer Soldaten.6 Die primitiven und von sich eingenommenen Deutschen hätten ohne Gewissensbisse und tieferes Nachdenken die kranken Theorien des französischen Rassisten Gobineau übernommen, den – so Bergsons konfuse Argumentation – in seiner Heimat niemand lese. Diese Theorien ließen sie glauben, das Morden von Frauen und Kindern sei im Rahmen der zivilisierten Kriegsführung zulässig und entspreche sogar der mystischen Berufung Deutschlands. Dies sei ein Fehler, für den die Deutschen nicht nur mit der militärischen Niederlage, sondern auch mit dem Ausschluss aus dem Kreis der Kulturvölker bezahlen werde. Die barbarische Gewalt, die man dem deutschen Feind vorwarf, weckte Abscheu und Entsetzen. Der bekannte Astronom Camille Flammarion verwies in seiner Analyse der deutschen Mentalität auf eine ganze Reihe psychisch ähnlich verfasster historischer Gemeinschaften: von Attilas Hunnen über Tamerlans Mongolen bis hin zu den germanischen Barbaren.7 André Suarès zog in einem ähnlichen Kontext ein fiktionales Beispiel heran und nannte die Preußen den „Ali Baba der Völker“.8 Das Paradox bestand darin, dass 1914 die Barbaren über 377

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die neuesten wissenschaftlichen und technischen Errungenschaften verfügten. Dieser Widerspruch bildete eines der zentralen Motive antideutscher Charakterstudien. Der idealistische Philosoph Émile Boutroux argumentierte: […] trotz aller Wissenschaft wurden die Deutschen in Wirklichkeit kaum von der Zivilisation berührt […]; noch im 19. Jahrhundert waren sie primitiv und kulturlos und diese ihre ‚Kultur’, die sich auf Spezialisten und Gelehrte beschränkt, vermochte weder die Seele des Volkes zu durchdringen noch seinen Charakter zu beeinflussen.9 Man beschrieb die Deutschen als pedantisch, doktrinär und formalistisch und sprach ihnen höhere Gefühle und natürlich auch den französischen Esprit ab. Angebliche Folge dieser psychischen Defizite war die von Émile Durkheim, dem großen Soziologen, diagnostizierte Hypertrophie des Staates.10 Symbol und zugleich schrecklichstes Produkt des deutschen Geistes war für die französischen Autoren der dem militaristischen Staat untertane, talentlose und amoralische deutsche Professor – ein Höhlenmensch mit akademischen Würden. Die deutsche Antwort auf diese Vorwürfe ließ nicht lange auf sich warten. Im September 1914 veröffentlichten 93 Professoren einen Aufruf an die Kulturwelt, in dem sie die Vorwürfe gegen die deutsche Armee entschieden zurückwiesen. In ihrer Antwort auf Bergsons Kritik griffen die Verfasser des Appells freilich zu rassistischen Argumenten: Es ist nicht wahr, daß unsere Kriegsführung die Gesetze des Völkerrechts miß­achtet. Sie kennt keine zuchtlose Grausamkeit. Im Osten aber tränkt das Blut der von russischen Horden hingeschlachteten Frauen und Kinder die Erde, und im Westen zerreißen Dumdumgeschosse unseren Kriegern die Brust. Sich als Verteidiger europäischer Zivilisation zu gebärden, haben die am wenigsten das Recht, die sich mit Russen und Serben verbünden und der Welt das schmachvolle Schauspiel bieten, Mongolen und Neger auf die weiße Rasse zu hetzen.11 Im Oktober unterzeichneten 3000 deutsche Akademiker die noch radikalere Er­ klärung der Hochschullehrer des Deutschen Reiches, die sich entrüstet gegen alle Versuche verwahrte, den „preußischen Militarismus“ von der deutschen Kultur abzugrenzen.12 Sie sahen in diesem Militarismus ein edles, von Geist durchdrungenes Phänomen, das die primitiven, alltagsverhafteten Franzosen und Engländer nicht begriffen. Den endgültigen Zusammenschluss von Militarismus und Kultur vollzog Werner Sombart, einer der wichtigsten europäischen Soziologen, 378

Der „Krieg der Geister“ im Osten

der in seinem 1915 erschienenen, viel diskutierten Werk Händler und Helden den deutschen „Krieg der Geister“ auf dieselbe Ebene erhob, die bisher von Berson dominiert wurde – auf die Ebene von Mystizismus und Philosophie.13 Sombart griff einen der französischen und belgischen Vorwürfe vom Beginn des Kriegs auf und machte ihn zum Ausgangspunkt seiner eigenen, positiven Bewertung des deutschen Nationalcharakters. Bergson assoziierte den Militarismus mit blinder Grausamkeit, preußischem Drill und dem unnötigen Verschleiß der besten Existenzen. Sombart betrachtete all diese Assoziationen als Symptome des niederen Materialismus und Merkantilismus der französischen und britischen „Händler“. Nur der echte (also deutsche) Idealismus erlaube es, zu begreifen, dass es sich bisweilen lohne, für ein höheres Gut – das Volk, den Staat und den deutschen Geist – zu kämpfen und zu sterben. Die Deutschen hätten dies begriffen, ihre Gegner nicht. Erstere seien daher geborene Helden, das auserwählte Volk der Moderne, Letztere hingegen beschränkte und feige Materialisten. Zahlreiche Autoren folgten Sombart, indem sie den von ihm entworfenen Rahmen mit Inhalt füllten oder mit anderen Worten denselben Grundgedanken formulierten, nämlich dass Deutschland durch seinen Idealismus dem degenerierten Westen geistig überlegen sei. Thomas Mann fasste das etwa in die Formel des „Unpolitischen“, das heißt des fundamentalen Unterschieds zwischen der deutschen Kultur und der demokratischen Ordnung. Weniger hochrangige Denker entfalteten die Motive des Neids und des Verrats der „Händler“, indem sie Pamphlete über das „perfide Albion“ und das „vor Hass kranke“ Frankreich verfassten. Am Beginn des Ersten Weltkriegs stand für viele dieser Autoren eine internationale Verschwörung gegen das Deutsche Reich.14 Die treibende Kraft dieser Verschwörung vermutete man in England: England! […] England ist das Volk, das in der Welt das Wort „Gentleman“ geprägt hat, – dies Wort, das soviel Nobles mit wenig Buchstaben umschließt, so viel, daß man es mehr nur fühlen als sagen kann. Laßt euch nicht täuschen! Schlagt die Bibel auf! Die Schlange ist die erste, die in der Welt das Wort: „Gott“ ausspricht. England ist der Mephistopheles in der ganzen Tragödie. Richard III. konnte nur ein Engländer sein, und England ist heute wie ein einziger Richard III.15 Die offiziellen Begründungen für den Kriegseintritt der Gegner wurden als Betrug oder, wie Else Hasse schrieb, „Grimassen“ entlarvt: Wer im blutigen Ernst des Krieges zu mimen versucht, bringt nur Grimassen fertig. Englands Kriegsvorwände und seine Frömmigkeit, Frankreichs „Heilig­ 379

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keit“, Rußlands „Kulturmission“, Serbiens und Italiens „gerechte Sache“ sind Grimasse gewesen. Ihre Mimik wirkte mit jedem weiteren Kriegsmonat mehr und mehr als unnatürliche Verzerrung …16 Das wahre Motiv für den Kriegseintritt Englands war – nach der fast eihelligen Auffassung der deutschen Autoren – der Neid und der Hass auf die Deutschen im Allgemeinen. Seit Jahrzehnten hat die englische Nation mit hellem Neid auf die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands, auf unsere Machtstellung in der Welt geblickt. Sie wollte nicht dulden, daß auch wir uns einen Platz an der Sonne erkämpfen.17 Den Grund für die schnellere Entwicklung des Reiches erblickte man – wie auch anders – im Nationalcharakter: […] unser Handel ist in den letzten Jahren um das vielfache stärker gestiegen als der englische. Aber selbst Engländer erkennen an, daß der Grund dazu einzig und allein im Rückgang englischer Volkskraft liegt, daß dort der Sport zu sehr das Übergewicht bekommen hat, daß die gründliche wissenschaftliche Methode, mit der der deutsche Kaufmann und Industrielle vorgeht, in England nicht seinesgleichen hat.18 Der französisch-britisch-deutsche „Krieg der Geister“ wurde bis Mitte 1916 mit großer Intensität geführt. Dann ließ die Begeisterung der Intellektuellen merklich nach, immer häufiger waren pazifistische Stimmen zu vernehmen. Ganz anders in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan.

Der gemeinsame Feind Im Osten und Südosten Europas riefen die Salven des „Kriegs der Geister“ anfangs ein recht verhaltenes Echo hervor. Die deutschen Grausamkeiten in Belgien prangten auf den Zeitungstiteln, manche lokalen Frankophilen multiplizierten die Erzählung von der germanischen Barbarei und den modernen Hunnen. Vor der Evakuierung des Königreichs Polen erschienen noch erste Übersetzungen einiger westlicher Propagandabroschüren.19 Man betrachtete die intellektuellen Scharmützel mit einer gewissen – nicht nur räumlich, sondern auch situativ bedingten – Distanz. Antoni Żuk beschrieb sie in der im Königreich Polen erschienenen Zeitschrift Myśl Polska als etwas von den verschlafenen heimischen Verhältnissen weit Entferntes: 380

Der „Krieg der Geister“ im Osten

Seit Kriegsbeginn verhält sich ganz Europa wie ein intelligenter und gebildeter Mensch, der überraschend von einer schweren, langwierigen Krankheit befallen wurde; er verliert sofort jedes geistige Interesse, er vergisst seine ästhetischen Bedürfnisse, gibt seine gewohnte Lektüre auf und geht nicht mehr ins Theater oder ins Konzert. Stattdessen widmet er seine ganze intellektuelle Kraft dem Studium medizinischer Schriften und forscht in den Theorien von Pathologen, Klinikern und Therapeuten nach Ursachen, Verlauf und Folgen seiner Krankheit. Ähnlich verhält es sich derzeit mit dem Geistesleben Englands, Frankreichs, Russlands und vermutlich auch Deutschlands […]. In all diesen Ländern erscheinen zahllose Publikationen, die sowohl der Dar­ stellung der Kriegsereignisse gewidmet sind als auch versuchen, den im ersten Fieber zerrissenen Faden des Kulturlebens zusammenzuknüpfen und auf das blutige Knäuel der Geschichtskatastrophe zu wickeln. Diese Publi­katio­ nen weisen zwar viele Züge auf, die aus dem obigen Vergleich hervorgehen: Sie entspringen aktuellen utilitaristischen Erwägungen, einer a priori feststehenden Haltung oder sogar der Kriegspropaganda. Gleichwohl belegen sie immerhin, dass der Geist im kranken Körper noch lebendig ist.20 Mit den Deutschen kam die westeuropäische Krankheit, über die Żuk schrieb, auch nach Ostmitteleuropa. Ab dem Frühjahr 1915 besetzten deutsche Truppen nach und nach immer größere Gebiete. Die Offensive der Mittelmächte mobilisierte die einheimischen Intellektuellen, die in der deutschen Erzählung eine Nische für sich suchten. Sie fanden sie in Gestalt der Russophobie. Auf diesem Feld legten polnische oder ukrainische Autoren, die nicht selten auf Deutsch schrieben, oft sogar größeren Eifer an den Tag als ihre deutschen Kollegen. Dafür gab es Gründe. Für die Deutschen waren Großbritannien und das diesem treu ergebene Frankreich die Hauptfeinde. Die Intellektuellen an Weichsel und Dnjepr waren weder von diesem Konflikt betroffen noch interessierte er sie sonderlich. Russland lag nicht nur näher, sondern konnte auch für schier unendlich viel Unrecht verantwortlich gemacht werden. Die deutschen und österreichischen Beschreibungen der Russen fielen überraschend differenziert aus.21 Als sei der zivilisatorische Abgrund, der sie von Europa trennte, ein mildernder Umstand: selbst wenn man ihnen Verbrechen vorwarf, dann eher nicht aus Berechnung. Wenn man auf ihre rassische Fremdheit hinwies, dann meist deshalb, um Abweichungen von der zivilisierten Kriegsführung zu erklären. Bruno Keyser konstatierte: „Die friedlichen, leitenden Ideen des russischen Volkes sind seit langem andere als die blutigen Pläne der Großfürs­ 381

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ten und ihrer goldbetreßten Beamten […].“22 Keyser war keine Ausnahme, auch andere deutsche Publizisten blickten nachsichtiger auf Russland als auf die anderen Kriegsgegner. Ganz anders die polnischen, ukrainischen und jüdischen Publizisten und Gelehrten. Wilhelm Feldman etwa nannte den „gegenwärtigen Krieg ­[einen] Ausdruck des Volkswillens von ganz Russland“.23 Die polnischen und ukrainischen Autoren entdeckten bei den Russen dieselbe Falschheit wie die Deutschen bei den Engländern. Tadeusz Grabowski thematisierte die russische Mimikry: Mit perfekt vorgetäuschtem Groll gegen die undankbare „Schwester“ [Polen], ja sogar Mitleid wegen ihrer ewigen Ohnmacht, zerreißt sich Russland vor den Augen der naiven Slawen das Gewand und beklagt vor ihr großherzig das Scheitern der vielen Anstrengungen zur Befreiung, Vereinigung und Be­ glückung der Allslawen.24 Max Riwkeß fügte dem russischen Sündenregister noch die infame Verfolgung der Juden hinzu, die er vor seiner Emigration ins Deutsche Reich am eigenen Leib erfahren hatte.25 Andere stimmten ihm bei; die Nationalitätenpolitik der ­zaris­ti­schen Regierung produzierte ganze Heerscharen von überzeugten Russophoben. Auf diese Weise entwickelte sich in Ostmitteleuropa ab 1915 eine eigene Variante des „Kriegs der Geister“. Rasch fanden sich auch Denker, die im lokalen Maßstab dasselbe wie Bergson in Frankreich und Sombart in Deutschland leisteten, das heißt die Verlagerung der Aufmerksamkeit von den konkreten – selbst dann, wenn sie erfunden waren – Verbrechen des Feindes auf seinen Nationalcharakter. Dazu diente ihnen ein Topos, der uns im ersten Band im Kontext der „zivilisatorischen Mission“ der Mittelmächte im Osten begegnete: Asien. Freilich dachten Deutsche und Österreicher, wenn sie von Asien oder Halbasien sprachen, unter anderem auch an Ukrainer und Polen. Diese wiederum bemühten sich in ihren Kriegsschriften unübersehbar, diesen Makel an den östlichen Nachbarn, die finstere russische Tyrannei, weiterzugeben. Stanisław Przybyszewski etwa gelangte 1917 im Vergleich der polnischen und der russischen „Seele“ zu folgender Gegenüberstellung: Auf der einen Seite eine enorme Aktivität, Schmiegsamkeit, ein rastloses Vor­ wärtsdrängen und eine fast gierige, nimmersatte Eroberungslust im Ge­biete des Geistes […] – auf der anderen Seite eine vollkommene Passivität, ein steinharter Eigensinn, der allem Fremden sich feindselig entgegenstemmte, ein starrer asiatischer Konservatismus […].26 382

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Damit griff Przybyszewski in seiner auf Polnisch und Deutsch veröffentlichten Broschüre ein zentrales Motiv des damals verbreiteten Russlandbildes auf. In fast identischen Worten beschrieb Dmytro Doncow, in der Zwischenkriegszeit ein Vordenker des ukrainischen integralen Nationalismus, die Charakterunterschiede zwischen Russen und Ukrainern: Auf einer Seite die Aktivität einer ihrer Rechte bewußten, in ihren Kräften nicht gebundenen Gesellschaft, auf der anderen Trägheit, Mangel an Oppo­ sitionsgeist, orientalische, fast asiatische-passive Demut vor jeder Gewalt.27 Beide Autoren waren der Ansicht, dass die von Peter I. in Russland eingeführte westliche Zivilisation dort keine Wurzeln geschlagen habe. Russland sei nur ein scheinbar zivilisiertes Land, unter der Oberfläche schlummere sein wahres barbarisches Wesen. Polnische Autoren versuchten in Anknüpfung an die im 19. Jahrhundert entwickelten Ideen des polnisch-ukrainischen Ethnopsychologen Franciszek ­ Duchiński die philosophisch-spekulative These von der „asiatischen Natur“ Russlands durch Analysen der Geschichte des Zarenreichs wissenschaftlich zu belegen.28 In einer 1917 veröffentlichten Geschichte Russlands beschrieb Feliks Koneczny Russlands als unbeständiges, wechselhaftes Gebilde: Im Vergleich zu den großen Veränderungen, die die im Großfürstentum Mos­ kau, im Moskauer Reich, im Zarentum „der ganzen Rus“ und schließlich im Russischen Reich verbundenen Gebiete durchliefen, erweckt die Ver­gang­en­ heit der polnischen Gebiete den Eindruck unerschütterlicher Beständig­keit.29 Die bewegte Geschichte habe den Charakter der Bevölkerung geprägt, die laut Koneczny von zwei grundverschiedenen Ethnien – finnisch-turanischen Stämmen und Slawen – gebildet wurde. Die Konsequenz: Jede Zivilisation blieb dort auf halbem Wege stecken, unvollendet, nicht angemessen ausgenutzt. Die einander fremden Elemente verbanden sich nicht miteinander, es war […] – im Gegensatz zu den Ländern des Westens – eine mechanische Mischung, keine chemische.30 Mit noch größerem Nachdruck verwies Jan Karol Kochanowski, der erste Redakteur der geschichtswissenschaftlichen Zeitschrift Przegląd Historyczny, auf die Verwandtschaft von Russen und finnisch-mongolischen Stämmen. In seiner für diese ethnopsychologische Richtung maßgeblichen Arbeit Polska w świetle psychiki własnej i obcej (Polen im Licht der eigenen und fremden Psyche) erklärte 383

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er den Nationalcharakter nicht nur mit klimatischen und geografischen Einflüssen, sondern auch mit der „Eigentümlichkeit“ der einzelnen Völker. Russland sei von Kultur (europäischer oder asiatischer) weitgehend unberührt geblieben, die wahre Mentalität des Landes sei das Nomadentum.31 Die große Geschichte habe sich lediglich auf der Oberfläche abgespielt, das Volk sei „bis zum heutigen Tag […] schlechthin unzivilisiert wie vor Jahrhunderten“.32 Das moderne russische Volk sei aus „nomadischen Finnen aus dem Norden, ebensolchen Mongolen aus dem Osten, chasarischen Nomaden aus dem Süden und später den Kosaken“ entstanden.33 Unter polnischen, ukrainischen und jüdischen Autoren war der Wunsch, Russland komplett aus der europäischen Völkerfamilie auszuschließen, besonders stark ausgeprägt. Die weniger zahlreichen, aber ebenso leidenschaftlichen Rumänen und Bulgaren standen ihnen allerdings kaum nach. Bei den von Juozas Gabrys-Paršaitis in der Schweiz organisierten Treffen der nationalen Minderheiten versammelten sich ganze Heerscharen radikaler Russophober. Der gemeinsame Hass war freilich das Einzige, was diese Menschen verband. Abgesehen von dem allgemeinen Wunsch, die russische Dominanz abzuschütteln, waren die Völker Ostmitteleuropas und des Balkans heillos zerstritten. Wegen der schier endlosen Liste lokaler Fehden und ungelöster Probleme war der „Krieg der Geister“ in dieser Region Europas besonders facettenreich. Unter anderem aus diesem Grund beschränkten sich die Unterschiede zwischen dem westlichen und dem östlichen „Krieg der Geister“ nicht auf das abweichende Russlandbild. Wie in fast jeder anderen war auch in dieser Hinsicht die Situation im Osten und Südosten des Kontinents weitaus komplizierter. Meist gab es mehr als zwei verfeindete Parteien, was den auf dem Papier ausgetragenen Kampf der Intellektuellen zu einer vielschichtigen und multilateralen Angelegenheit machte. Es wurden auch Bündnisse geschlossen, doch meist nur taktische und kurzlebige. So verurteilten etwa ukrainische und polnische Publizisten einhellig das „asiatische“ Russland, was den Eindruck vermittelte, sie verfolgten ein gemeinsames politisches Interesse. Dem war aber mitnichten so – parallel zu den Attacken gegen Russland verfassten dieselben Autoren entsprechende antipolnische oder antiukrainische Broschüren und Artikel. Das polnisch-ukrainische Beispiel veranschaulicht einen weiteren wichtigen Aspekt: Die Fronten des „Kriegs der Geister“ verliefen häufig innerhalb der Staatsgrenzen. Wohl auf keinem anderen Gebiet war die Ethnisierung der Imperien so deutlich sichtbar. Auch der endgültige Zerfall dieser Imperien bedeutete somit nicht das Ende des „Kriegs der Geister“. Eine logische Folge dieser Situation bestand darin, dass die 384

Der „Krieg der Geister“ im Osten

Intellektuellen nach 1918 im Kampfmodus verharrten. Wie im wirklichen Krieg bedeutete der Waffenstillstand an der Westfront nicht das Ende ihrer Aktivitäten. Einige „Kriege der Pygmäen“ wirkten wie eine proportional verkleinerte und vereinfachte Version des Weltkriegs einschließlich seiner medialen und intellektuellen Begleiterscheinungen: der Pressekampagnen über die enthemmte Grausamkeit des Gegners und der Stimmen empörter Intellektueller, die aus konfusen Zeitungsberichten ethnopsychologische Schlüsse zogen.

Die Leidenschaften des Jan Zamorski Der polnisch-ukrainische Krieg in Ostgalizien war weniger ein Konflikt zwischen zwei Staaten als vielmehr ein Konflikt zwischen zwei Staatsgründungsprojekten. Als er Anfang November 1918 ausbrach, gab es auf keiner der zwei Seiten eine funktionsfähige Regierung, eine ausreichend entwickelte Verwaltung oder eine fertig formierte Armee. Trotzdem erinnerte dieser Krieg von allen „Kriegen der Pygmäen“ am ehesten an die kurz zuvor beendeten Kämpfe an der Westfront. Polen und Ukrainer schlugen sich entlang einer befestigten Front, den Offensiven ging vorbereitendes Artilleriefeuer voran, die Aufklärung wurde von der Luftwaffe geleistet. Auch unter Propagandagesichtspunkten kam die Situation in Ostgalizien den deutschen und französischen Verhältnissen recht nahe – wenn nicht in der Anzahl der Broschüren, Artikel und Flugblätter, so doch sicher in den Inhalten. Die Gräueltaten des Feindes spielten darin eine ebenso wichtige Rolle wie in der französischen und britischen Propaganda des Sommers und Herbstes 1914. Man scheute dabei auch vor wenig glaubhaften Vorwürfen sexueller Gewalt nicht zurück. Besonders aktiv in dieser Hinsicht war der nationaldemokratische Delegierte der Verfassunggebenden Nationalversammlung Jan Zamorski, eine schillernde Figur. Von Beruf war er Gymnasiallehrer für Französisch, vor dem Krieg hatte er als Delegierter im Wiener Parlament gesessen. Nach der Einberufung zum Militär kam er an die italienische Front, doch er desertierte bald; ab dem Frühjahr 1918 beteiligte er sich an Propagandaaktivitäten, die darauf abzielten, die slawischen Soldaten der k. u. k. Armee für die Entente zu gewinnen. Von Italien ging er direkt an die polnisch-ukrainische Front, wo er eine ähnliche Aufgabe erfüllen sollte. Dazu bekam er ein effektives Instrument in die Hand – eine parlamentarische Sonderkommission zur Untersuchung der „hajdamakischen Verbrechen“ (wie es in offiziellen Dokumenten hieß) in Ostgalizien. In der Debatte über die Berufung dieser Kommission behauptet Zamorski vom Rednerpult, die ukrainischen „Hajdamaken“ in Ost­ 385

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galizien trieben polnische junge Frauen in Militärbordelle, wo sie zügelloser Gewalt ausgesetzt seien: Wenn man die Leute zur Arbeit trieb, achtete man besonders auf die jungen Frauen. Nach der Arbeit wurden diese jungen Frauen den Soldaten zur freien Verfügung überlassen. Der Herr Kommandant Klee, ein großer ukrainischer Ataman deutscher Abstammung, errichte in Schowkwa ein Militärbordell mit jungen polnischen Frauen. […] Außerdem bringen die Soldaten, nachdem sie der Reihe nach ihre Gelüste gestillt haben, ihre Opfer um. Wir haben Aussagen darüber, wie etwa in Chodaczków Wielki bei Tarnopol, einem rein polnischen Dorf, vier junge Frauen im Garten ermordet wurden […]; die ukrainischen Soldaten schnitten ihnen die Brüste ab und bewarfen sich zu Spaß mit ihnen wie mit Bällen […]. Von den Frauen weiß man, dass man ihnen die Brüste abschnitt, ihnen Paprika einführte oder ihnen Handgranaten in den Schambereich steckte, die man dann mithilfe einer Lunte zündete, um die betroffenen Nonnen oder Legionärinnen in die Luft zu sprengen. Derartige Fälle kommen recht häufig vor.34 Ein Charakteristikum des polnisch-ukrainischen Kriegs in Ostgalizien war die Kluft zwischen den scharfen gegenseitigen Beschuldigungen wegen angeblicher Kriegsverbrechen und dem – zumindest in der ersten Phase des Konflikts – relativ zivilisierten Verlauf der Kämpfe. So arbeiteten etwa in Lemberg die städtischen Institutionen trotz laufender Gefechte weiter. Polnisch-ukrainische Komitees kontrollierten gemeinsam das Wasser- und Elektrizitätswerk, immer wieder wurden Feuerpausen eingelegt, damit die Einwohner ihre Vorräte auffüllen konnten.35 Der Direktor des Lemberger Stadtarchivs konstatierte kurz nach dem Eintreffen der polnischen Entsatztruppen, die ukrainischen Soldaten hätten sich entgegen anfänglicher Befürchtungen vorbildlich verhalten und die wertvollen Archivbestände geschützt. Beeindruckt vermerkte er: „Kampf ist Kampf, doch Kultur sollte seine Tugend sein.“36 Polen und die Westukrainische Volksrepublik schlossen ein Abkommen über die beiderseitige Achtung der Haager und Genfer Konventionen und wiesen in Zeitungen und Flugblättern für ihre Soldaten konsequent darauf hin.37 Die Situation verschärfte sich immer dann, wenn auf einer der beiden Seiten nicht uniformierte „freie Schützen“ kämpften. In Lemberg kam es zu Exekutionen von polnischen Verteidigern und sogar von Bewohnern der Häuser, aus denen auf ukrainische Truppen geschossen worden war (ein solcher Vorfall ereignete sich am 4. November 1918). Tragische Zwischenfälle gab es auch in der von 386

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polnischen Einheiten besetzten Provinz. Hier wurden – wie der bereits erwähnte Stanisław Kawczak vermerkte – die Polen aus Bauernhäusern beschossen, etwa im Dorf Pyrohiw, wo anschließend verdächtige „Weiber und Grünschnäbel“ festgenommen wurden.38 In einem Konflikt, in dem mal auf der einen, mal auf der anderen Seite „Frauen und Halbwüchsige“ standen, musste es unweigerlich zu Missbrauch, Gewalt und Verbrechen kommen. Das hatten schon die Balkankriege gezeigt. Weniger glaubhaft waren entsprechende Berichte, wenn auf beiden Seiten uniformierte Einheiten kämpften. Und ganz absurd wurde es im Fall von verdrehten, aufgebauschten oder erfundenen Geschichten wie denen, die der Abgeordnete Zamorski seinen Parlamentskollegen erzählte. Die ukrainische „Antwort“ auf derartige Vorwürfe bestand in einigen Publikationen, die in verschiedene Sprachen übersetzt wurden. Das sogenannte Blutige Buch beschrieb, wie polnische Soldaten Ukrainerinnen aus dem Dorf Kliczyce mit Säbeln verstümmelten und anschließend lebend begruben, oder schilderte das Schicksal ukrainischer Kinder aus dem Dorf Nahujowytsch bei Drohobytsch: Die polnischen Legionäre trieben alle ukrainischen Kinder aus dem Dorf zusammen und sperrten sie in den hölzernen Glockenturm, den sie dann mit Stroh umhäuften und in Brand steckten. Von außen hörte man verzweifeltes Weinen und Schreien. Einige Kinder konnten den Flammen entkommen. Die polnischen Legionäre schossen mit Maschinengewehren auf die verbrannten, flüchtenden Kinder und töteten zwei von ihnen.39 In einem Memorandum an die französische Regierung beklagten ukrainische Politiker die polnische „Politik des Völkermords“, das Ausstechen von Augen und Vergewaltigungen. Unweit von Lemberg wurden junge Frauen aus den besten Familien aus ihren Häusern gezerrt und öffentlich vergewaltigt. Für ihre Freilassung forderte man anschließend hohe Geldbeträge und in manchen Fällen wurden sogar bis zu 5000 Kronen zur Befreiung der unglücklichen Opfer polnischer Gewalt gezahlt. […] Diese Gräueltaten kommen den barbarischen Verbrechen auf dem Balkan oder in Armenien gleich. Und das Massaker im Dorf Cherche übertrifft diese alten Verbrechen sogar. […] Die polnischen Legionäre umstellten das Dorf. Dann setzten sie es von allen Seiten in Brand. Alle Bewohner, die zu fliehen versuchten, wurden erschossen oder mit dem Bajonett erstochen. Man sah polnische Soldaten lebende Kinder packen und in die Flammen werfen.40 387

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Auch in anderen Orten, etwa in Selyski und in Tyssowetz, wurden angeblich Kinder ins Feuer geworfen. Die Aufzählungen tatsächlicher und angeblicher polnischer Verbrechen in Galizien waren auch – ähnlich wie Zamorskis Rede – ein Beleg für die spezifische Rezeption der westlichen Weltkriegspropaganda. Der Vorwurf der besonderen Brutalität gegenüber Frauen und Kindern erinnerte an die Schilderungen der deutschen Verbrechen in Belgien. Zeugnisse, also Aussagen von Opfern und Zeugen oder Fotografien, spielten in dieser Propaganda eine zentrale Rolle – das von ihnen ausgehende Grauen des Todes sollte die Leser oder Betrachter in moralische Panik versetzen. Auch auf diesem Gebiet erwies sich Jan Zamorski als besonders einfallsreich. Auf der Suche nach gutem Material schreckte er auch vor Fälschungen nicht zurück: Er nutzte Fotografien von Opfern ganz anderer Verbrechen und machte die Soldaten der Westukrainischen Volksrepublik für ihren Tod verantwortlich, so auch im Fall von Jadwiga Mroczkowska, laut parlamentarischer Sonderkommission eine von Ukrainern in Galizien bestialisch ermordete polnische Sanitäterin. In Wirklichkeit war Mroczkowska tatsächlich von ukrainischer Hand gestorben, allerdings an einem ganz anderen Ort und unter anderen Umständen. Anfang

Die sterblichen Überreste von Jadwiga Mroczkowska. Der Abgeordnete Jan Zamorski nutzte dieses Foto zu Propagandazwecken.

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Der „Krieg der Geister“ im Osten

1918 war sie Soldatin des polnischen III. Korps, das sich im Osten der Ukraine aufhielt. Die Einheit, die formal dem ukrainischen Zentralrat unterstand, erhielt nicht genügend Verpflegung, was sie zu Requisitionen in der Umgebung zwang. Mroczkowska gehörte einem Trupp an, der Nahrung für Soldaten und Pferde beschaffen sollte. Die Expedition endete allerdings tragisch: Die Bauern leisteten Widerstand, einige polnische Soldaten, darunter Mroczkowska, kamen ums Leben. Zur Vergeltung brannten die Polen das Dorf Kaczanówka nieder und erschossen einige Dutzend Bauern. Dies wiederum löste einen Bauernaufstand aus, der mit der Zerschlagung der polnischen Einheit im Kampf gegen die „Grünen“ bei Niemirów endete.41 Mit ein wenig Zynismus könnte man sagen, ein so erfahrener Propagandist wie Zamorski konnte den Gedanken nicht ertragen, dass ein so hervorragendes Material wie das Foto einer toten jungen Frau ungenutzt bleiben sollte. Darum wählte er einen anderen Weg – Fake News.

Ein weiterer Aspekt war charakteristisch für die Propagandaaktivitäten in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan. Sombart oder Bergson konnten frei argumentieren, weil sie sicher waren, dass ihre Leser genug über Frankreich und Deutschland wussten, um ihre Ausführungen richtig zu verstehen. Ihre Kollegen aus dem Osten hingegen konnten eher nicht davon ausgehen, dass die politischen Ziele Estlands, Bulgariens oder der Ukraine allgemein bekannt waren. Hier bedurfte es also nicht nur der Polemik, sondern auch ernsthafter didaktischer Anstrengungen sowohl in Bezug auf die unwissenden Ausländer als auch in Richtung des einheimischen Publikums. Letzten Endes existierten viele Staaten Ostmitteleuropas 1914 nur in den Träumen der Nationalaktivisten. Selbst ihre Landsleute hatten nicht immer eine genaue Vorstellung vom Charakter oder dem Territorium der eigenen Nation. Oder aber – was häufiger der Fall war – ihre Vorstellungen entsprachen nicht den Erwartungen der nationalen Eliten. Man musste sie erst an die Unabhängigkeit gewöhnen.

Geist und Knochen In dieser Hinsicht bestehen auch die größten Unterschiede zwischen dem „Krieg der Geister“ im Westen und im Osten. Bevor die Intellektuellen in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan anfangen konnten, ihre Visionen vom Nationalcharakter darzulegen, mussten sie sich erst einmal vergewissern, dass ihre Leser überhaupt verstanden, worum es ging. Dieser Umstand beeinflusste sowohl die Zusammensetzung der Teilnehmer der Wortgefechte als auch den Stil ihrer 389

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­ erke. Die Wissenschaftler in diesem Teil Europas hatten nur selten die MögW lichkeit, in einem symbolischen Akt die Mitgliedschaft in ausländischen Gremien niederzulegen. Anders als in Frankreich oder Großbritannien schlossen die wissenschaftlichen Gesellschaften auch niemanden aus. Häufiger stellten sie kriegsbedingt selbst ihre Tätigkeit ein. Dafür griffen hier Naturwissenschaftler, Anthropologen und Geografen öfter als im Westen zur Feder. Die Stimme der Schrift­steller und Philosophen indes war schwächer. Angesichts dessen stützte sich auch die Argumentation im regionalen „Krieg der Geister“ weniger auf ­philosophische Spekulationen, sondern mehr auf das, was damals als moderne Wissenschaft galt. Eine Rolle spielten auch praktische Erfahrungen, etwa von polnischen und ukrainischen Beteiligten der österreichisch-ungarischen Rassenuntersuchungen an Kriegsgefangenen. All dies verlieh diesem Genre der parawissenschaftlichen Publizistik einen ganz eigenen Charakter. Man möchte meinen, historische Argumente hätten ausgereicht, um den Anspruch auf Territorien und zivilisatorische Reife zu legitimieren. Tatsächlich wurden in den Kriegspublikationen von Bulgaren, Serben, Polen oder Ukrainern die nationalen Forderungen oft mit der tausendjährigen Tradition der Eigenstaatlichkeit begründet. Die Frage war nur, ob das genügte. Nach der Lektüre der entsprechenden Bücher, Broschüren und Artikel lautet die Antwort eher nein. Kaum jemand beließ es nämlich bei der Feststellung historischer Fakten. Die ukrainische Kriegsliteratur etwa ging in der Regel noch einen Schritt weiter. Natürlich betonten Autoren wie der große Historiker Mychajlo Hruschewskyj, der Wiener Reichsratsdelegierte Lonhyn Zehelsky oder der Geograf Stepan Rudnyzkyj, dass entgegen der allgemeinen Auffassung die Kiewer Rus nichts mit den Anfängen des modernen Russland zu tun gehabt habe, sondern ausschließlich die Wiege der ukrainischen Staatlichkeit gewesen sei. Erst die kolonisatorische und zivilisatorische Arbeit der Ukrainer habe später zur Gründung des Großfürstentums Moskau geführt, das sich anschließend unrechtmäßig die fremde Vergangenheit einverleibt habe.42 An diesem Punkt hätte man sicher die Beweisführung für abgeschlossen erachten können. Die ukrainischen Autoren gingen jedoch immer weiter und weiter in die Geschichte zurück und wechselten von der Geschichte auf das Feld der Rassenanthropologie. In solchen Momenten zeigte sich die Spezifik des „Kriegs der Geister“ im ­Osten. Stepan Rudnyzkyj, Absolvent der Universitäten in Lemberg und Wien, räumte zwar ein, dass die Ukrainer wie fast alle Völker rassische Mischlinge seien. Im Grunde, so Rudnyzkyj im Einklang mit der damals vorherrschenden Auffassung der europäischen physischen Anthropologen, entspreche kein Volk exakt 390

Der „Krieg der Geister“ im Osten

einem bestimmten rassischen Typ, jedes sei ein historisches gewachsenes Mosaik der unterschiedlichsten Einflüsse. Und doch behauptete der Gelehrte, die rassische Mischung auf dem Gebiet seines Volkes unterscheide sich grundlegend sowohl von der russischen als auch von der polnischen Mischung. Überhaupt ­sei – so schrieb er und stellte damit ganz nebenbei eine allgemein vorherrschende Überzeugung infrage – der Osten Europas in rassischer Hinsicht weit weniger heterogen als der Westen. Das ethnische Mosaik, von dem im Westen so viel gesprochen werde, sei lediglich ein oberflächlicher Eindruck. Darunter verberge sich eine einfache und nahezu unveränderliche anthropologische Struktur, die den Bewohnern in die Knochen eingeschrieben sei. Doch selbst vor diesem vergleichsweise einheitlichen Hintergrund, so Rudnyzkyj, überrasche die Ukraine durch ihre rassische Reinheit, die sie trotz solcher Katastrophen wie der Mongolenüberfälle über die Jahrhunderte bewahrt habe. Die Eindringlinge, erklärte er, seien nie lange in der Ukraine geblieben und hätten keinerlei Einfluss auf die Einheimischen gehabt. Ganz anders dagegen in Russland und Polen – dort hätten sie nicht nur große materielle Zerstörungen, sondern auch eine dauerhafte Spur in den Genen der lokalen Bevölkerung hinterlassen.43 Gegen eine Verwandtschaft zwischen Ukrainern und Polen, Russen oder Mongolen sprachen nach Rudnyzkyjs Auffassung eindeutig auch die biometrischen Daten, die er in älteren Publikationen zur russischen Ukraine gefunden hatte. Wenn sie (wie meistens) nicht seinen Thesen entsprachen, erklärte er, wie sie zu verstehen seien. So auch im Fall eines schlichten tabellarischen Vergleichs grundlegender statistischer Daten zum Körperbau von Polen, Ukrainern und Russen, der so gut wie keine ­signifikanten Abweichungen zeigte: Diese drei Zahlenreihen, das Ergebnis naturwissenschaftlicher Forschung, sagen mehr als dicke Bücher. […] Diese wenigen Zahlen belegen eindeutig, dass wir, die Ukrainer, ein eigenständiges Volk sind, dass wir keine polonisierten Moskalen oder russifizierten Polen sind, sondern ein auch unter rassischen Gesichtspunkten eigenständiges Volk, was man von Polen und Moskalen wiederum nicht sagen kann.44 Rudnyzkyj versuchte seine Leser davon zu überzeugen, dass die Kiewer Rus ­keineswegs die Grundlage des ukrainischen Nationalbewusstseins bilde. Gegenüber dem von den Urahnen ererbten rassischen Typ sei sie lediglich eine Episode in der Geschichte des Volkes gewesen – eine wichtige, doch keineswegs die wichtigste. Das Recht der Ukrainer auf eine eigene politische Existenzform erwachse nicht aus ihrer Geschichte, sondern aus ihrer biologischen Verschiedenheit von 391

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den Nachbarn. Diese wiederum verschmolzen bei Rudnyzkyj zu einer einzigen, nicht sonderlich anziehenden Masse. Dieselben Messdaten, die als Beleg für die ukrainische Eigenständigkeit dienten, belegten angeblich auch die enge rassische Verwandtschaft von Polen und Russen sowie ihre – durch die Kontamination mit mongolischen Einflüssen – rassische Minderwertigkeit im Vergleich zu den Ukrainern. In einer anschließenden, schon nach dem Krieg geschriebenen und an die ukrainische Intelligenz adressierten Abhandlung entwarf Rudnyzkyj dann das Programm einer nationalen Eugenik. Den sozialhygienischen Entwurf verband er mit dem Aufruf, Ehen mit Vertretern rassisch unwerter Völker – Polen, Russen, Rumänen, Juden, Türken und Tataren – zu vermeiden. Für zulässig oder gar erwünscht erklärte er hingegen Verbindungen mit nordischen Germanen, ­dinarischen Südslawen oder Tschechen.45 Rudnyzkyj war nicht der Erste, der die Unabhängigkeit mithilfe der Rassen­ anthropologie zu legitimieren versuchte. Vor ihm hatte unter anderen der in Serbien tätige slowenische Ethnograf und Anthropologe Niko Županić einen ähnlichen Weg eingeschlagen. Županić betrieb seit dem ersten Balkankrieg in Belgrad anthropologische Forschungen an türkischen und bulgarischen Kriegsgefangenen und entwickelte parallel eine Theorie des serbischen Rassetyps. Diesen Typ repräsentierten seiner Ansicht nach vor allem Serben, Montenegriner und Kroaten, aber auch Makedonier und Albaner, selbst wenn diese auf den ersten Blick nicht viel mit den Serben gemeinsam zu haben schienen. Dafür schloss er die Bulgaren nachdrücklich aus dieser rassischen Familie aus.46 In Županićs Auslegung wurde das jugoslawische Programm vom politischen Projekt zum ­Abbild einer biologischen Wirklichkeit. Ähnlich argumentierten auch litauische Nationalaktivisten, um ihren Anspruch auf Gebiete mit einer weißrussisch- und polnischsprachigen Bevölkerung zu legitimieren. Einer von ihnen, Andrzej Rondomański, der häufiger die litauische Version seines Nachnamens – Rondomanskis – verwendete, war überzeugt, dass der litauische Sieg biologisch determiniert sei. Die polnische Kultur in Weiß­ russland und Litauen sei nämlich aus dem „litauischen Typ“ hervorgegangen, der – weil am besten an die lokalen Bedingungen angepasst – am Ende die Oberhand behalten müsse.47 Man müsse nur erst das ethnisch Litauische von den polnischen Einflüssen und Spuren reinigen, die es überlagerten. Die Intellektuellen aus Ostmittel- und Südosteuropa beriefen sich sowohl dann auf die Rasse, wenn sie (wie Rudnyzkyj) das eigene Volk von fremden abgrenzen wollten, als auch dann, wenn sie (wie Županić) davon träumten, ihr Vaterland um eine Bevölkerung zu erweitern, der man erst erklären musste, wer sie war. 392

Der „Krieg der Geister“ im Osten

Beiden Argumentationslinien gemeinsam war der normative Duktus des Wissenschaftlichen, der in den entsprechenden Publikationen zur entscheidenden Instanz in Fragen der „wahren“ Identität des Menschen wurde. In Ungarn erfüllte dieser Zweig der Kriegspublizistik noch eine weitere Funktion – er bewahrte die Magyaren vor rassischer Isolation und machte ihnen Hoffnung auf künftige Größe. Besonders engagiert waren hier die Aktivisten der panturanischen Bewegung, die eine Bruderschaft der Völker von Japan bis nach Ungarn propagierten. Im Gegensatz zu Rudnyzkyj und den meisten anderen Rasseanthropologen sah der Kopf der Bewegung, Alajos Paikert, in den Turaniern (also unter anderen auch den Mongolen) ein besonders wertvolles zivilisatorisches Element: Die russischen Turk-Tataren sind bekannt als sehr intelligente, tüchtige und erfolgreiche Kaufleute, Bankiers und Unternehmer. Auch müssen wir nicht vergessen, daß die Turk-Tataren zur Zeit[,] als die Russen sie unterjochten, eine bedeutend höhere Kultur erreicht haben, als ihre Besieger. […] Die Tataren Rußlands sind auch äußerlich von den Südländern Europas kaum zu unterscheiden; się besitzen keine Mongolenzüge, sondern sind hübsche, braunäugige, braun- oder schwarzhaarige Leute, mit oft klassisch edlen und intelligenten Gesichtern von fast reinweißer Farbe.48 Aus dieser Perspektive besetzte das slawische Russland die von den edlen Turaniern bewohnten Gebiete und profitierte von den Früchten ihrer schöpferischen Kraft. Paikert betonte unter anderem, dass Peter der Große sich durch seine tatarische Abstammung legitimiert habe. Auch Buddha war in seinen Augen kein Arier, sondern Turanier. Aufgrund ihrer Eigenschaften seien die Turanier dazu prädestiniert, sich mit den Germanen zusammenzuschließen – gegen Russland ebenso wie gegen England, das „in so schroffem Gegensatz zur germanischen und turanischen Auffassung von Ehre, Männlichkeit und Offenheit“ stehe.49 Der geopolitische Reiz dieser Vision lag in der Größe der imaginierten Gemeinschaft. Paikert schätzte die turanische Völkergruppe auf 610 Millionen Menschen, was – wie Lajos Sarsi Nagy, ein anderer Vertreter der panturanischen Bewegung, unumwunden feststellte – den Ungarn ein Gefühl der Stärke verlieh.50 Nicht mehr einsame Insel im Meer der Slawen und Rumänen, sondern Brückenkopf der größten Weltmacht – eine solch unverhoffte Wendung des Schicksals mochte die sich verschlechternde Stimmung in Transleithanien positiv beeinflussen. Als turanische Völker nannte Paikert unter anderen: europäische und asiatische Türken, Bulgaren, Finnen, Esten, Tataren, Chinesen, Japaner, die Völker des Kaukasus und Sibiriens, Tibetaner und Koreaner. Sarsi Nagy zählte auch 393

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die Bewohner Indiens und Persiens hinzu. In einer so zahlreichen Gesellschaft war wahrhaftig kein Raum für das Gefühl der Einsamkeit, unter dem die ungarischen Publizisten früher oft litten. Endlich gab es eine Panidee, die man den aus ungarischer Sicht bedrohlichen Phantasmen des Panslawismus und des Pangermanismus entgegenstellen konnte. Die praktischen Auswirkungen der panturanischen Hirngespinste bekamen vor allem die russischen Kriegsgefangenen zu spüren. Budapest verfügte, dass all diejenigen unter ihnen, die man zur „turanischen“ Nationalität zählte, nach Ungarn zu bringen seien. Dort gab man ihnen nach Möglichkeit eine leichte Arbeit und vor allem genug zu essen. In diesem einen Fall brachte der Rassismus den Menschen etwas offensichtlich Gutes. Im Rückblick erwies sich unter den im Krieg entwickelten anthropologischen Theorien die Rassentypologie des polnischen Ethnologen Jan Czekanowski als am folgenreichsten. Wie Rudnyzkyj ging er davon aus, dass Ostmitteleuropa sich hinsichtlich der rassischen Struktur vom westlichen Teil des Kontinents unterscheide und dass sich die Klassifikationen der westlichen Anthropologen nicht auf den Osten übertragen ließen. Die polnischen Gebiete wurden laut Czekanowski von vier rassischen Haupttypen bewohnt: dem nordischen, dem subnordischen (den er auch als sarmatischen bezeichnete), dem dinarischen und dem urslawischen.51 Die Mehrheit der ethnischen Polen ordnete er dem subnordischen Typ zu, wenngleich ihre slawischen Vorfahren in ferner Vergangenheit dem nordischen Typ angehört hätten.52 Der polnische Typ habe sich im Lauf der Jahrhunderte entwickelt und sich ideal an die Bedingungen des von ihm bewohnten Gebietes angepasst. Er sei weder völlig gegen fremde Einflüsse abgeschottet (wie die Ukrainer laut Rudnyzkyj) noch durch so klare ethnische Grenzen abgegrenzt ­gewesen wie Serben und Albaner (deren Verwandtschaft Županić behauptete). Czekanowski schrieb ihm auch keine absolute Überlegenheit über die übrigen rassischen Typen zu (wie es die deutschen Anhänger der nordischen Theorie taten). Dieses Geschick bei der Schaffung eines „maßgeschneiderten“ rassischen Typs für das eigene Volk war wohl der entscheidende Grund für Czekanowskis Popularität in der Nachkriegszeit. In Finnland dienten nach dem blutigen Bürger­ krieg, der manche Anthropologen zu rassistischen Deutungen veranlasste (die finnisch-mongolischen „Roten“ gegen die nordischen „Weißen“), an Czekanowski anknüpfende Forschungen der Wiederherstellung der nationalen Einheit. Der Anthropologe Yrjö Kaarlo Suominen konstatierte in seinem Resümee dieser Forschungen, die schwedischen Landesbewohner unterschieden sich von den übrigen nur durch ihre Sprache, nicht durch die Rasse; sowohl sie als auch die meisten anderen Finnen seien dem ostbaltischen Typ zuzurechnen. Die nordi394

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schen Urfinnen hätten sich – wie Czekanowskis subnordischer Typ – an die Lebensbedingungen in ihrer Heimat angepasst und so einen in jeder Hinsicht bewundernswerten und perfekt an den gegebenen Ort und die gegebene Zeit akklimatisierten Rassetyp hervorgebracht.53 In der Zwischenkriegszeit wurde Czekanowskis Rassen­typologie zum Exportschlager der polnischen physischen Anthropologie. Unter anderen Ländern wurde sie in Jugoslawien wohlwollend rezipiert.54 In Polen und in den Nachbarländern hielt sich ihr Einfluss bis weit nach 1945.

Der Kampf um den Leser Während des Ersten Weltkriegs waren andere Autoren international bekannter als Czekanowski, unter anderen Rudnyzkyj und der serbische Geograf Jovan Cvijić. Beide taten einiges für ihren Erfolg. Rudnyzkyj übersetzte seine Arbeiten selbst ins Deutsche und veröffentlichte immer neue ergänzte oder gekürzte Fassungen seines Vorkriegswerks über die Geografie der Ukraine.55 Eine leicht gekürzte Ausgabe erschien auf Italienisch, Ungarisch, Englisch, Tschechisch und Russisch. Auch andere ukrainische Publizisten und ihre deutschen und österreichischen Verbündeten schöpften aus dieser Quelle.56 Unter anderem war die 1915 in München veröffentlichte Denkschrift des Bundes zur Befreiung der Ukraine größtenteils aus Rudnyzkyjs Arbeiten abgeschrieben.57 Wichtiger war für die ukrainischen Aktivisten aber, dass diese Arbeiten von den deutschen Fachkollegen positiv aufgenommen wurden.58 Deutsche Autoren, die ihren Landsleuten die Situation im Osten näherbringen wollten, zitierten oder paraphrasierten die wichtigsten Passagen aus Rudnyzkyjs Buch. Unmittelbar nach der offiziellen Anerkennung der ukrainischen Souveränität durch das Reich im Friedensvertrag von Brest-Litowsk erschien in Berlin ein Sammelband mit Texten über den neuesten Verbündeten Deutschlands. Die von Maximilian W. Meyer-Heydenhagen verfasste rassische Charakteristik der Landesbewohner lässt deutliche Anleihen bei Rudnyzkyj erkennen: Sind aber die Ukrainer somit eine Mischrasse, in der das slawische Element überwiegt, so bilden się doch jedenfalls eine eigenartige alte Mischung, die von der polnischen oder der russischen Mischung vollkommen verschieden ist. Sie sind weder polonisierte Russen noch russifizierte Polen, noch weniger sind się Slawo-Mongolen wie die Russen.59 Der enorme Einfluss von Rudnyzkyjs Büchern und Broschüren auf das Denken deutscher Ostmitteleuropaexperten rief unter den polnischen Politaktivisten in 395

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Wien, Berlin und Krakau große Besorgnis hervor. Während Rudnyzkyjs ukrainischsprachige Publikationen kaum auf Widerhall stießen, waren seine deutschsprachigen Werke in der polnischen Kriegspublizistik Gegenstand zahlreicher Richtigstellungen und Polemiken, die sich ebenfalls in erster Linie an das deutschsprachige Publikum richteten. In manchen Fällen handelt es sich eindeutig um Eingriffe in letzter Sekunde, die offenbar kurz vor der Drucklegung unter dem Eindruck der jeweils neuesten der zahlreichen Publikationen des Ukrainers vorgenommen wurden, so vermutlich auch im Fall des Historikers und Mitarbeiters des Obersten Nationalkomitees Stanisław Smolka. In der deutschen Ausgabe einer für das Nationalkomitee erstellten Sammlung von Aufsätzen zur Geschichte Russlands erscheint Rudnyzkyj in einer langen Fußnote, die höchstwahrscheinlich erst nach der Drucklegung eines Teils des Buches eingefügt wurde: Es wird nicht überflüssig sein, zu bemerken, daß man – mit Rücksicht darauf, was die jüngsten Erfahrungen in bezug auf die sogenannten „Ergebnisse“ der bisher vorgenommenen anthropologischen Untersuchungen aufweisen – das vermeiden sollte, was beispielsweise Rudnytzkij in seinem Buche „Ukraina. Land und Volk“, Wien 1916, S. 179 ff., tut, indem er die Durchschnittszahlen der verschiedenen anthropologischen Merkmale für das ganze Gebiet der von den ruthenischen Volksstämmen bewohnten Gebiete berechnet (Wuchs, Brust­umfang, Arm- und Beinlänge, Schädel- und Nasenform, Gesichtsbreite, Augen- und Haarfarbe). Eine ganz unfruchtbare Arbeit, die nur geeignet ist, die ganze Frage zu verdunkeln, besonders wenn es sich um einen Gegenstand handelt, wie der unsrige, wo ernste wissenschaftliche Untersuchungen, obwohl noch nicht genug fortgeschritten, immerhin hinreichen, auffallend typische Unterschiede unter den einzelnen ruthenischen Ländern in bezug auf die oben angeführten Merkmale festzustellen.60 Rudnyzkyj beließ es freilich nicht bei der anthropologischen Argumentation. Er war Geograf und seine Kriegspublikationen hatten überwiegend geografischen Charakter. Die Rasse war darin nur einer von vielen Gründen, die für die Unabhängigkeit der Ukraine sprachen. Darüber hinaus bediente sich Rudnyzkyj eines ganzen Arsenals von Argumenten, die fast jede Erscheinung der belebten und unbelebten Natur betrafen: Nicht Meere und Gebirge scheiden in Osteuropa Naturgebiete und anthropogeographische Einheiten, sondern morphologische Schattierungen, hydrographische und klimatische Grenzen, pedologische und pflanzengeographische Verhältnisse.61 396

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Jedem dieser Faktoren widmete Rudnyzkyj in seinen zahlreichen Veröffentlichungen der Kriegszeit längere Abschnitte. Die Schlussfolgerung war aber jedes Mal dieselbe: Man erkennt die Ukraine selbst mit verbundenen Augen – an der Temperatur, der Luftfeuchtigkeit oder dem Duft der Pflanzen. Über das Klima schrieb er etwa: Das mitteleuropäische Klimagebiet hört an den Westgrenzen Ukrainas auf. Ebenso umfaßt das kühle osteuropäische Kontinentalklima, welches ganz Weiß- und Großrußland beherrscht, nur unbedeutende Grenzgebiete im Nor­ den des ukrainischen Territoriums. Das ukrainische Klima nimmt eine vollkommen selbständige Stellung ein. Es ist mehr kontinental als das mitteleuropäische und von dem großrussischen unterscheidet es sich durch seine größere Milde. Ukraina teilt mit Frankreich den Vorzug, daß auf ihrem Gebiete sich der unvermittelte Übergang vom gemäßigten Klima Osteuropas zum mittelländischen Klima Südeuropas vollzieht. […] Die großzügige Einheitlichkeit des ukrainischen Klimas hat neuerdings den französischen Geographen de Martonne bewogen, das ukrainische Klima als einen der Klimatypen des Erdballs aufzustellen.62 Selbst die Tektonik, so Rudnyzkyj, belegte die Verschiedenheit der Ukraine von den Nachbarländern. Das Land liege auf einer eigenen Platte und habe eine ganz eigene geologische Entwicklung durchlaufen. Um diese Besonderheit zu unterstreichen, schuf er eigene neue Namen für geologische Formationen.63 Auch in hydrografischer Hinsicht handelte es sich angeblich um ein einheitliches und klar abgegrenztes Territorium.64 In längerer erdgeschichtlicher Perspektive sollte entscheidend gewesen, dass die Ukraine während der letzten Eiszeit nicht vergletschert war.65 Während Rudnyzkyjs Argumentation in der Rassefrage – zur Besorgnis polnischer Politiker – bei deutschen und österreichischen Experten auf fruchtbaren Boden fiel, hatte er auf geografischem Gebiet ebenbürtige Konkurrenten. Der unmittelbarste und gefährlichste war ein Kollege von der Universität Lemberg, der polnische Geograf Eugeniusz Romer (die Namensgleichheit mit dem litauischen Gutsbesitzer aus dem ersten Band ist kein Zufall, die Herren waren verwandt). Sein Geograficzno-statystyczny atlas Polski (Geografisch-statistischer ­Atlas Polens, 1916) belegte auf vielfältige Art die natürliche Einheit eines Territoriums, das weit über die kühnsten Forderungen der polnischen Irredentisten ­hinausreichte. Im Osten nahm Romer die polnischen Grenzen von 1772 als ­Ausgangspunkt, im Westen und Norden fügte er Gebiete mit polnischsprachiger 397

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Bevölkerung hinzu, darunter Oberschlesien, Ermland und Masuren. Wie Rudnyz­kyj kümmerte sich auch Romer persönlich um die Verbreitung seiner ­Arbeiten. Ihm lag weniger am Wohlwollen der Deutschen (auf das er ohnehin nicht rechnen konnte) als an Resonanz im Westen.66 Bis 1918 stand ihm jedoch das Ausfuhrverbot für Publikationen aus Österreich-Ungarn und Deutschland im Weg.67 Die Blockade war so effektiv, dass bis zum Ende des Weltkriegs der Atlas nur von polnischen, deutschen und österreichischen Experten rezensiert wurde. Erst später folgten begeisterte Besprechungen in französischen und angel­säch­sischen Zeitschriften. Die interessanteste der frühen deutschsprachigen Reaktionen auf Romers Atlas war zweifellos die Mitte 1918 in der Geographischen Zeitschrift erschienene Rezension von Max Friederichsen. Der Autor zeigte wenig Sympathie für die politische Tendenz des besprochenen Werkes. Er hielt es für ein unangemessenes Zeichen von radikalem Nationalismus, dass Romer die Grenzen von 1772 als Basis für seine statistischen und kartografischen Arbeiten nahm. Unter diesem Gesichtspunkt bewertete er den Atlas als schädlich, weil er die polnischen Emotionen anheizte, statt sie zu besänftigen.68 Alle Vorbehalte rückten jedoch in den Hintergrund, als Friedrichsen sich der handwerklichen Seite des Atlas zuwandte. Hier folgte ein Lob auf das andere, selbst wenn es mitunter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervorgepresst wirkte. Romers Karten erwiesen sich als transparent und gut zu handhaben, die Erweiterung des untersuchten Gebiets über die Grenzen Kongresspolens hinaus führte zu interessanten Ergebnissen. Österreichische Geografen äußerten sich ähnlich. In seiner Rezension für die Kartographische und schul-geographische Zeitschrift schrieb der Wiener Professor Hugo Hassinger, ein deutscher Nationalist: Mag auch darin eine national-politische Tendenz erblickt werden von der sich auch die Nationalitätenkarte des Atlasses nicht ganz ferngehalten hat, so ist doch im allgemeinen bei der Durchführung der außerordentlich mühevollen Arbeit an diesem Atlas die wissenschaftliche Objektivität am Werke gewesen und wir freuen uns, für einen bedeutenden Teil Europas, der drei verschiedenen Staaten angehört, eine einheitliche kartographische Bearbeitung der physisch- und anthropogeographischen Verhältnisse erhalten zu haben.69 Übersetzungen verliehen dem Atlas weiteres politisches Gewicht. Noch 1918 ­erschien in den USA eine Auswahl von Karten mit englischsprachigen Kommentaren. Anders als in der Originalausgabe von 1916 informierte bereits die Einlei398

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tung den Leser, dass es sich um eine wissenschaftliche Begründung der pol­ nischen Gebietsansprüche nach Kriegsende handelte. Andere Veränderungen betrafen die Karten selbst: In einigen Fällen fügte Romer Linien ein, die den strategischen Rang der (seiner Meinung nach) natürlichen Grenzen Polens verdeutlichen sollten.70 1921 erschien eine weitere Ausgabe, diesmal mit einem ausführlicheren französischsprachigen Kommentar zu den Karten.71 Beide stießen bei den Lesern, an denen Romer am meisten gelegen war – amerikanischen, französischen und britischen Wissenschaftlern und Regierungsexperten –, auf überaus positiven Widerhall. Das bedeutete, dass ihm ein äußerst kompliziertes Kunststück gelungen war, nämlich auf wissenschaftlich seriöse Weise die ­internationale Situation seines Landes zu beeinflussen.

Buche, Ehre, Vaterland Die Beteiligten des „Kriegs der Geister“ kämpften mit allen verfügbaren Waffen. In ihren Reden, Presseartikeln und Broschüren fanden sich – einzeln oder gebündelt – historische, ethnografische, rassische, wirtschaftliche und strategische Argumente zur Begründung der Notwendigkeit der Errichtung dieses oder jenes Staates sowie des Verlaufs seiner Grenzen. Die meisten davon wiederholten sich so oft, dass sie mit der Zeit vorhersehbar wurden. Die hundertste Arbeit, die etwa nachwies, dass Makedonien ein rein bulgarisches (oder rein serbisches) Territorium sei, interessierte kaum noch jemanden. Sie war allenfalls Teil eines zunehmend leeren Rituals. Von Zeit zu Zeit wurden aber doch neue und originelle Gedanken formuliert, die zugleich den Kriterien der modernen Wissenschaft entsprachen. Ein Meister dieser Kunst war Eugeniusz Romer, der die von ihm vorgeschlagenen künftigen Grenzen Polens aus der einheitlichen Flora der betroffenen Territorien ableitete. Dabei spielte eine konkrete Baumart eine ganz besondere Rolle: Die floristische Landkarte lässt keinen Zweifel, dass Podolien floristisch ein rein polnische Landschaft ist, und die insulare Ausbreitung der Buche, dieses für den Westen Europas so charakteristischen Baumes, über Kamjanez am Smotrytsch hinaus verleiht unserer Konzeption der – aus der Natur des Landes sowie den auf ihm sich vollziehenden Lebensprozessen abgeleiteten – Territorialgrenzen eine verblüffende Schlüssigkeit.72 Für Romer war die Ostgrenze Polens zugleich das Ende West- und der Anfang Osteuropas. Die Ausbreitung der Buche markierte diese beiden Linien und lieferte der „polnischen Sache“ ein frisches und originelles Argument. 399

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Auch bei anderen Geografen in Ostmitteleuropa erfreute sich der Baum großer Beliebtheit, insbesondere um die Jahreswende 1918/19, als die neuen Staatsgrenzen festgelegt wurden. Einige Jahre später griff der rumänische Geograf Simion Mehedinţi Romers Idee noch einmal auf. In seiner Darstellung der rumänischen Gebietsansprüche betrachtete er die Buchenwälder als Zeichen der Zugehörigkeit zum westlichen Teil Europas. In der trockenen Steppe, so Mehedinţi, wüchsen keine Buchen; ihr Ausbreitungsgebiet ende an den Füßen der Karpaten und am Ufer des Dnister (womit Bessarabien auf der rumänischen Seite der Grenze liege).73 Doch die Buche trennte nicht nur Europas Osten vom Westen. Bisweilen war sie von noch größerem Nutzen, wenn sie das gesamte oder fast das gesamte Territorium eines erträumten Nationalstaats bedeckte. So behauptete der tschechische Botaniker Karel Domin 1918, das Vorkommensgebiet der Buche entspreche dem „natürlichen“ Verlauf der tschechischen Grenzen, und entwickelte daraus die allgemeinere These von der floristischen und anthropogeografischen Verschiedenheit der tschechischen von den benachbarten deutschen Gebieten: Das in jeder Hinsicht so charakteristische und eigene, so farbige und in Hinsicht auf seine Zusammensetzung vielfältige und dabei doch eine große Einheit bildende Territorium des tschechischen Volkes besitzt somit eine der reichsten Floren im Herzen Europas, die sich radikal und klar von der Flora der Nachbarterritorien unterscheidet. Ein Blick auf die Karte, in der ich die Vegetationsverhältnisse des tschechischen Nationalgebietes und der Nachbarländer darstelle, reicht aus, um diesen Unterschied mehr als deutlich zu machen.74 Domins Karte ließ in der Tat keinen Zweifel: Die böhmische und mährische Vegetation verlangten unbedingt nach einem unabhängigen Staat. Grund des plötzlichen Interesses an floristischen Fragen in Ostmitteleuropa war die bevorstehende Pariser Friedenskonferenz. Im diplomatischen Kampf um möglichst vorteilhafte Grenzen wurden alle verfügbaren Kräfte mobilisiert – meist Experten in Grenz- und Bevölkerungsfragen, aber unter anderen eben auch Botaniker und Geologen. Ihre Aufgabe bestand darin, möglichst schlagkräftige Argumente für die politischen Verhandlungen bereitzustellen. Die Ausbreitung der Buche, in Friedenszeiten ein interessantes Detail ohne jede politische Bedeutung, war hierzu bestens geeignet. Mit ihrer Hilfe ließ sich etwa belegen, dass sich mithilfe der Natur bessere, „natürlichere“ Grenzen 400

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ziehen ließen als etwa anhand des Kriteriums der ethnischen Bevölkerungsstruktur. Romer begründete auf diese Weise, warum dem polnischen Staat Gebiete zuerkannt werden sollten, die mehrheitlich von Ukrainern bewohnt wurden. Domin zeigte auf, wie die tschechische Natur das Land zu einer Einheit formte, selbst wenn die Ränder von Deutschen bewohnt wurden, die mitnichten von tschechoslowakischen Pässen träumten. Unterdessen wuchsen die Bäume weiter vor sich hin, ohne sich darum zu kümmern, dass ihnen gerade jemand eine Staatsbürgerschaft verliehen hatte.

Rudnyzkyj und Romer zeichneten sich unter den Beteiligten des regionalen „Kriegs der Geister“ dadurch aus, dass sie es geschickt verstanden, Expertenwissen und politische Botschaft miteinander zu verbinden. Ein Beleg dafür waren die internationalen Reaktionen auf ihre Publikationen der Kriegs- und Nachkriegszeit. Überflügelt wurden die beiden aber noch von dem serbischen Geografen Jovan Cvijić, einem echten Star der letzten Kriegs- und ersten Friedensjahre. Auch Cvijić musste 1914, als Rudnyzkyj und Romer aus dem von russischen Truppen besetzten Lemberg flohen, sein Haus und kurz darauf sein Land ver­ lassen. Belgrad wurde zur Frontstadt und geriet mehrfach unter Beschuss der österreichisch-ungarischen Artillerie. Während der Kämpfe wurde überdies die Bibliothek des Gelehrten zerstört. Seine Wege in der Fremde waren weitaus verworrener und kräftezehrender als die des Polen und des Ukrainers. Als größte serbische Autorität in ethnografischen und kartografischen Fragen wurde er zum wertvollen Berater der Regierung. Im Namen und auf Bitten des Ministerpräsidenten Nikola Pašić weilte er ab 1915 in London, Paris und der Schweiz, für eine bestimmte Zeit auch in den USA. In Pašićs Auftrag erstellte er die ersten Landkarten des künftigen Jugoslawiens.75 Darüber hinaus war er ein gefragter Ansprechpartner für französische und britische Balkanexperten und unermüdlicher Lieferant von Aufsätzen und Artikeln für Zeitschriften mit Bezug zur Region.76 Im akademischen Jahr 1917/18 hielt er auf Einladung des damals führenden französischen Geografen Vidal de la Blache an der Sorbonne eine Vorlesung über sein Lieblingsthema: die ethnischen und kulturellen Verhältnisse auf der Balkanhalbinsel. Aus dieser Vorlesung ging eines der einflussreichsten geografischen Werke der Kriegszeit hervor: der 1918 erschienene Band La Péninsule Balkanique. Géographie humaine. Was war der Grund für Cvijićs Popularität? Seinen Ruf als hervorragender Geograf hatte er sich bereits vor dem Krieg erarbeitet, nicht nur durch seine Pionierarbeit auf dem Gebiet der Geomorphologie, sondern auch durch seinen Zu401

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gang zu kontroversen ethnischen Fragen. Gegenstand der erbittertsten Auseinandersetzungen zwischen balkanischen Geografen war damals Makedonien. Cvijić wusste, dass die westeuropäische Öffentlichkeit der Grenzstreitigkeiten auf dem Balkan längst überdrüssig war. Er versuchte nicht, ein eigenes Konzept durchzusetzen, sondern stimmte selbst in die Klage über buntgescheckte Landkarten, wechselnde und suspekte Statistiken und Karten ein. Seine Kritik betraf Kollegen aller Nationalitäten; die Maximalforderungen serbischer Autoren kommentierte er ebenso spitz wie griechische oder bulgarische. Auch Westeuropäer bekamen ihr Fett ab, denn in Cvijićs Augen wiederholten sie denselben Fehler, indem sie in einer Region klare ethnische Grenzen ziehen wollten, in der dies unmöglich war. Demgegenüber vertrat Cvijić die These, dass die Bewohner Makedoniens, die makedonischen Slawen oder Makedoslawen, noch kein ethnisches Bewusstsein entwickelt hätten. Es handele sich um eine Masse, aus der die entsprechenden Schulen, Behörden und die Armee sowohl gute Serben als auch gute Bulgaren oder sogar Griechen formen könnten. Cvijić diskreditierte auch die klassischen Argumente der verfeindeten Lager. Dazu gehörte etwa der regelmäßig von Sofia als Beleg für den bulgarischen Charakter der Provinz vorgebrachte Hinweis darauf, dass Tausende bulgarische Nationalisten eben aus Makedonien stammten: Darüber hinaus wissen alle unvoreingenommenen, gebildeten Menschen in Makedonien, seien sie als Serben erzogen worden oder als Bulgaren, dass die Bevölkerung der makedonischen Slawen keine feste serbische oder bulgarische Nationalität besitzt. Angesichts dessen können wir ohne Schaden die chauvinistischen Autoren lesen, die beweisen wollen, dass die Makedonier reine Serben oder, im Gegenteil, reinblütige Bulgaren seien.77 Neben anderen Vorzügen überzeugten Cvijićs Thesen durch ihre Klarheit. Sie schienen Ordnung in einen Bereich zu bringen, in dem bisher völliges Chaos geherrscht hatte. Darüber hinaus wirkten sie frei von nationalistischer Verbissenheit. Statt die ethnische Zugehörigkeit dieses oder jenes Gebietes zu behaupten, schrieb Cvijić über psychische Typen und Volkskultur. Auf der Grundlage eigener Beobachtungen (er hatte mehr als ein Jahrzehnt mit Wanderungen durch den Balkan verbracht) beschrieb er Zivilisationstypen, die einzelne Nationalitäten einander annäherten (etwa Serben und Bulgaren) oder voneinander unterschieden (etwa Makedonier und Bulgaren). Cvijić betonte, dass jeder Versuch der Festlegung klarer Grenzen auf dem Balkan von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Insbesondere dort, wo religiöse 402

Der „Krieg der Geister“ im Osten

und sprachliche Nähe die Verständigung erleichterten, existierten vielmehr breite Übergangszonen, in denen eine ethnisch gemischte Bevölkerung lebte. Als Beispiel nannte Cvijić das Grenzland zwischen Serbien und Bulgarien. In solchen Fällen – konstatierte er Anfang 1913, also noch zu einem Zeitpunkt, an dem Serbien und Bulgarien militärische Verbündete waren – könne man nur solche Teile des Grenzlandes (einschließlich Makedoniens) an Bulgarien und Serbien anschließen, deren Bevölkerung bereits eine echte serbische oder bulgarische Identität besäßen. Das großzügige Angebot einer Teilung Makedoniens hatte freilich einen Haken. In seiner Erörterung der sprachlichen und kulturellen Ähnlichkeiten zwischen den beiden slawischen Völkern hatte Cvijić gleichsam nebenbei eine volkskulturelle Nähe zwischen der Bevölkerung Westbulgariens und Makedoniens und den Serben festgestellt: Die Serben besitzen eindeutig mehr Lieder und Volksweisen als die Bulgaren. Ohne näher auf diese komplexe und interessante Erscheinung eingehen zu wollen, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen, dass die Makedonier, zumal westlich das Wardars, über eine ähnlich große Anzahl an beidem verfügen wie die Serben.78 Hinsichtlich der Bevölkerung Albaniens argumentierte Cvijić differenzierter, indem er zwischen einzelnen ethnisch-kulturellen Gruppen wie albanisierten Serben oder albanischsprachigen orthodoxen Serben unterschied. Seine Grundannahme lautete, dass die Grenze zwischen Albanern und Serben fließend sei. Selbst wenn sie andere Sprachen sprächen, seien Volkskultur und psychischer Typ der Bevölkerung einander nahe. Diese Nähe sprach natürlich weniger für ­eine Erweiterung des albanischen Staatsterritoriums, sondern – wie Cvijić darlegte – für eine Abrundung der künftigen serbischen Nachkriegsgrenzen. Cvijić, Rudnyzkyj und Romer waren die führenden Köpfe unter Dutzenden ähnlicher Autoren, die sich in Osteuropa und auf dem Balkan am „Krieg der Geister“ beteiligten. Sie handelten ähnlich wie ihre westeuropäischen Kollegen, vermutlich auch aus denselben Motiven. Allerdings war die Situation ihrer Herkunftsländer eine andere. Deshalb hatten sie es einerseits schwerer: Sie waren zur Emigration gezwungen und mussten zahlreiche Unannehmlichkeiten ertragen, ihre Publikationen mussten neben einem politischen Programm für die Kriegs- und Nachkriegszeit auch grundlegende Informationen über ihr Land und dessen Bewohner vermitteln und sie konnten nicht davon ausgehen, dass ihre ausländischen Leser etwas über die Geschichte und Gegenwart der Region wussten. Andererseits verlieh aber gerade dies ihren Arbeiten ein besonderes Gewicht 403

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und machte sie selbst zu maßgeblichen Instanzen bei der konkreten Ausgestaltung der Nachkriegsgrenzen und nationalen Ideologien. Die Kriegspublikationen Sombarts, Bergsons und Manns wurden nach 1918 von niemandem mehr als seriöse Quellen von Wissen über Deutsche und Franzosen gelesen. Heute liest man sie allenfalls noch als Zeitzeugnisse oder als Nebenwerke von Autoren, die durch ganz andere Texte berühmt wurden. Anders im Fall der östlichen Auflage des „Kriegs der Geister“. Die hier während des Ersten Weltkriegs formulierten Ideen hallten noch lange nach, einigen begegnet man bis heute von Zeit zu Zeit im öffentlichen Diskurs. Während der Balkankriege der 1990er Jahre erlebte Županićs Rassentheorie eine unerwartete Renaissance. Rudnyzkyjs extravaganteste Theorien gehören zum geistigen Arsenal der extremen ukrainischen Rechten. Die sich ab der Zwischenkriegszeit in der Region dynamisch entwickelnden geopolitischen Entwürfe griffen immer wieder auf Romer, Rudnyzkyj, Mehedinţi oder Cvijić zurück. Der „Krieg der Geister“ in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan verdient aus mehreren Gründen Aufmerksamkeit. Er involvierte hochkarätige Intellektuelle, die freilich anders als im Westen eher der Wissenschaft als der Welt der Kultur entstammten. Ihre Kriegspublikationen beeinflussten das Schicksal der Völker und Staaten im 20. Jahrhundert womöglich noch stärker als Bergsons und Sombarts philosophische Scharmützel. An der Ostfront wurde nicht nur beschrieben und theoretisiert. Die hier entwickelten Rassentheorien und geografischen Modelle führten mitunter zu konkreten politischen Lösungen. Ihre Wirkmacht war somit größer als im westlichen „Krieg der Geister“. Aus der zeitlichen Distanz wird überdies ein weiteres Merkmal dieses regionalen pseudowissenschaftlich-politischen Schaffens erkennbar. Während sich bei Autoren wie Mann, Sombart oder Bergson die wertvollen Werke leicht von den unrühmlichen Produkten der Kriegszeit trennen lassen, wäre eine solche Unterscheidung im Fall Rudnyzkyjs, Romers, Mehedinţis oder Cvijićs sehr viel schwerer zu treffen. In ihren Werken mischten sich Wissenschaft und Nationalismus auf eine Weise, dass nicht immer erkennbar ist, wo das eine endet und das andere beginnt.

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Kapitel 3 Die Pariser Konferenz und

der Vertrag von Versailles

Anders als der gängige Name suggeriert, tagte die Konferenz nicht in Versailles, sondern in Paris. Zu den wichtigsten Sitzungen versammelte man sich am Sitz des französischen Außenministeriums am Quai d’Orsay. Nur die Schlusssitzung fand außerhalb von Paris im Schloss Ludwigs XIV. statt. Das erste Treffen der Diplomaten war chaotisch vorbereitet. Seit der letzten großen europäischen Friedenskonferenz (1878 in Berlin) waren vierzig Jahre vergangen. Niemand wusste mehr, wie man eine solche Veranstaltung organisiert, etwa was die Konferenzsprache sein sollte. Im 19. Jahrhundert hatte das Französische dominiert. Die Franzosen sahen natürlich keinen Grund, daran etwas zu ändern, Amerikaner und Briten waren ganz anderer Ansicht. Ein anderes Problem betraf die Frage, wie man sich vor dem Geheimdienst der Gastgeber schützen sollte. Während des Weltkriegs hatte der Spionagewahn monströse Ausmaße erreicht. Nun nahm die Furcht vor dem Durchsickern von Informationen zur Konkurrenz konkrete Gestalt an. Es ging nicht mehr um allmächtige Juden, die dem Feind Geheimsignale gaben und über versteckte unterirdische Telefonleitungen oder Lichtzeichen vom Rathausturm Nachrichten weiterleiteten. Verdächtig waren nun Müllmänner, Zimmermädchen, Postbeamte und Kellner, von professionellen Spionen ganz zu schweigen. Der britische Premierminister David Lloyd George und Edward House, der engste Berater von US-Präsident Woodrow Wilson, dachten an ein neutrales Land als Gastgeber der Konferenz. Wilson bevorzugte Genf, doch dort wimmelte es angeblich von Spionen. Am Ende setzte sich der 70-jährige französische Ministerpräsident Georges Clemenceau gegen die jüngeren Kollegen durch. Zum Ort der Gespräche wurde Paris bestimmt, die Hauptstadt eines vom Trauma vier Jahre langer Kämpfe und der Besatzung weiter Teile seines Territoriums gezeichneten Landes, in dem das Bedürfnis nach Sicherheit und der Wille zum Aus405

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schluss der tödlichen Gefahr Deutschland aus dem Kreis der gleichberechtigten Staaten stärker als irgendwo sonst in Westeuropa waren. Zu keinem Zeitpunkt hatte man auch nur daran gedacht, die Konferenz in einem osteuropäischen Staat abzuhalten.

Verfahren und Argumente Die Vorrunde hatte also Frankreich gewonnen. Während sich die Wahl von Paris als Ort der Verhandlungen rational mit den horrenden französischen Weltkriegsverlusten begründen ließ, zeugte das Datum der feierlichen Eröffnung der Konferenz von der symbolischen Bedeutung, die Frankreich dem Friedensvertrag geben wollte: Am 18. Januar 1919 jährte sich zum vierzigsten Mal der Tag, an dem in Versailles die Gründung des Deutschen Reichs verkündet worden war. Nun revanchierten sich die Franzosen für diese Demütigung, vermutlich ohne sich genau im Klaren zu sein, wie sehr sich die Zeiten geändert hatten. Die Konferenz wurde nämlich zum Schauplatz des Zusammenpralls der alten und der neuen Ordnung. Es dominierten die traditionellen europäischen Mächte Frankreich und Großbritannien. Von einem Konzert der Großmächte konnte freilich keine Rede mehr sein. Das Deutsche Reich war nach der Niederlage 1918 zu einer parlamentarischen Demokratie geworden. Trotzdem behandelte man es wie einen besiegten Barbaren, dem sogar der Zutritt zu den Verhandlungssälen verweigert wurde. Das Habsburgerreich, das zuletzt unter dem Namen Österreich-Ungarn firmierte, hatte aufgehört, zu existieren. Aus einem Subjekt mit jahrhundertelanger Großmachttradition waren zwei Verhandlungsobjekte geworden, Deutschösterreich und Ungarn; statt über das Schicksal eines Imperiums debattierte man über zwei kleine mitteleuropäische Staaten, in denen noch dazu eine Revolution auszubrechen drohte. Noch schlimmer standen die Dinge in Russland. Während der Pariser Verhandlungen zeichnete es sich immer deutlicher ab, dass die bolschewistische Revolution siegen würde. Die von den Deutschen unterstützte Rückkehr Wladimir Iljitsch Lenins nach Russland 1917 entpuppte sich zusehends als ein entscheidendes Moment des Weltkriegs. Auch die Entstehung neuer Staaten veränderte die bisherigen Kräfteverhältnisse, doch auch diese mussten der neuen Geopolitik Rechnung tragen. Das bisher unbekannte und konturlose Intermarium gehörte keinem Imperium mehr an, sondern lag plötzlich zwischen dem besiegten Deutschland und dem unberechenbaren Russland. Im Westen waren die Grenzverschiebungen minimal, abgesehen von einigen kleineren Veränderungen, beschränkten sie sich auf die Rückgabe Elsass-Lothringens an Frankreich und die 406

Die Pariser Konferenz und der Vertrag von Versailles

Besetzung Südtirols durch Italien. Das Deutsche Reich, Österreich und Italien blieben weiterhin Nachbarn der Slawen. Unterdessen entstand an den östlichen Rändern des Intermariums eine neue Großmacht, die alle bisher in Europa geltenden politischen und ökonomischen Prinzipien ablehnte. Mit anderen Worten, von den fünf Mächten der sogenannten Pentarchie des 19. Jahrhunderts – Frankreich, Großbritannien, Preußen/Deutschland, Österreich/Österreich-Ungarn und Russland – waren nur noch die ersten zwei übrig, doch auch an ihnen war der Krieg nicht spurlos vorübergegangen. Sowjetrussland konnte man vorerst von Europa fernhalten, zumal der Alte Kontinent mit den Vereinigten Staaten von Amerika einen starken Verbündeten gewonnen hatte. Die Europäer setzten große Hoffnungen in die USA, die vom Krieg unberührt geblieben waren. Das Land war Großgläubiger der Alliierten sowie eine Wirtschafts-, Finanz-, See- und Militärmacht. Dieses Potenzial verband sich mit frischen Ideen, die im Gegensatz zum Bolschewismus die bestehenden Verhältnisse nicht negierten, sondern – auf teils visionäre Weise – ihre Moder­nisierung verhießen. Das 1917 postulierte Ende der Geheimdiplomatie und die Abkehr vom „Gleichgewicht der Kräfte“, vor allem aber das Prinzip der Selbstbestimmung der Völker, die Forderung nach einem gerechten Frieden und das Projekt internationaler Sicherheitsgarantien in Gestalt eines Völkerbundes inspirierten die politischen Eliten in fast allen europäischen Staaten. Und keineswegs nur die Eliten: Als Woodrow Wilson am 14. Dezember 1918 in Paris eintraf, wurde er von einer riesigen Menschenmenge willkommen geheißen. Nicht nur die Pariser glaubten, der US-Präsident ebne ihnen den Weg in eine neue, bessere Welt. Unterdessen sah selbst der amerikanische Messias, der Europa kaum kannte, Schwierigkeiten voraus. Einerseits war er aufrichtig überzeugt, dass nur Gerechtigkeit und Aufmerksamkeit für die Stimme der einfachen Menschen einen dauerhaften Frieden garantieren könnten. Auf der anderen Seite verkündete er, die neuen Staaten sollten nur solche Bürger bekommen, die es auch sein wollten (den entsprechenden, von seinen Mitarbeitern eilfertig notierten Monolog hielt er auf Höhe der Azoren einige Tage vor seiner Ankunft in Frankreich). Und hier wurde es bereits kompliziert. Was war mit Danzig, einer deutschen Stadt, in der die Polen mehr als nur einen Zugang zum Hafen bekommen wollten? Ohnehin stellten die Polen übertriebene Forderungen und auch in anderen Teilen der Region war die Lage alles andere als klar.1 Zu den vorhersehbaren, wiewohl vorerst nur in groben Umrissen bekannten inhaltlichen Problemen kamen organisatorische hinzu. Die ersten Wochen der 407

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Konferenz verliefen chaotisch. Zwar hatte das britische Foreign Office ein historisches Gutachten zum Wiener Kongress von 1815 erstellen lassen, doch die Lektüre erwies sich als wenig hilfreich – hundert Jahre zuvor waren die Entscheidungen im Kreis der Pentarchie gefallen. Damals drohte keine Revolution und niemand beabsichtigte, die Tschechen, Griechen oder Polen anzuhören, ganz zu schweigen von den Rumänen oder Ukrainern, von deren Existenz man nicht einmal etwas ahnte. 1815 hatte noch niemand von Vietnamesen oder ­Saudis gehört, während die Pariser Konferenz sich nicht nur mit Europa, sondern auch mit dem Fernen, Mittleren und Nahen Osten befassen sollte. Und ­natürlich mit den Kolonien – die Aufteilung der deutschen Hinterlassenschaft bedeutete ebenfalls einige Arbeit.

Lasst uns Kolonien fordern! Die Liste der in Paris während der Friedensverhandlungen besprochenen Themen war lang: territoriale Veränderungen in Europa und auf anderen Kontinenten, Reparationen, die Neuregelung des Völkerrechts und aktuelle außenpolitische Fragen – die Mächtigen der Welt hatten wirklich alle Hände voll zu tun. Doch all das war fast nichts im Vergleich zur Masse der Probleme und Ideen, die bei den inoffiziellen Treffen von Politikern und Experten verschiedener Delegationen diskutiert wurden. Mitunter wurden gerade bei solchen Gelegenheiten die wichtigsten Beschlüsse ausgehandelt, die dann von den Delegierten nur noch „abgesegnet“ werden mussten. Häufiger aber blieb es beim lockeren Austausch und bei mehr oder weniger fantastischen Projekten ohne große Aussicht auf Verwirklichung. Eines davon war der Plan, dem wiedererstandenen Polen afrikanische Kolonien zu beschaffen. Die Idee stammte vermutlich von dem polnischstämmigen französischen ­Reisenden und Botaniker Jan Dybowski, einem anerkannten Experten für tropische Landwirtschaft. Er besuchte Ende Februar 1919 die polnische Delegation auf der Friedenskonferenz und eröffnete ihnen die verlockende Perspektive der Übernahme eines Teils der deutschen Kolonien in Afrika. Seine Argumentation war durchaus schlüssig. Polen hatte vom Deutschen Reich proportional rund zehn Prozent des Territoriums und einen etwa ebenso großen Bevölkerungsanteil (gemessen am Vorkriegsstand) geerbt. Außerdem hatten die Siegermächte dem Land einen entsprechenden Anteil an beweglichen Gütern – beispielsweise Lokomotiven und Waggons – aus vormals deutschem Besitz zugesprochen. Was sprach also dagegen, Polen auch zehn Prozent der deutschen Kolonien zu überlassen? 408

Die Pariser Konferenz und der Vertrag von Versailles

Bei den polnischen Delegierten stieß der Vorschlag zunächst auf Begeisterung. Władysław Konopczyński vermerkte in seinem Tagebuch: Ich war fast der Einzige, der die Forderung nach der Kolonie Togo skeptisch betrachtete, weil ich nicht sicher war, ob wir sie bekommen würden, ob wir in der Lage wären, sie zu verwalten, und ob sich das Geschäft lohnen würde. Bemerkenswerterweise wies nur [Eugeniusz] Romer auf die Armut und verschiedene andere Probleme des Landes hin, die anderen (außer [Franciszek] Bujak, wie mir scheint) erfreute die Aussicht einer solchen Expansion.2 Die politischen Entscheidungsträger der polnischen Delegation wollten allerdings keine neue Front eröffnen. Daher brachte sie die Kolonialfrage nicht aufs Tapet, was ihr die heimischen Imperialisten noch lange nachtrugen. Die Vision polnischer Kolonien in Afrika bewegte selbst nach Abschluss der Pariser Verhandlungen noch die Gemüter. Die politisch einflussreiche Liga Morska i Kolonialna (See- und Kolonialliga), eine Nichtregierungsorganisation mit einem enormen Zulauf (kurz vor dem Zweiten Weltkrieg zählte sie mehr als eine Million Mitglieder), machte Lobbyarbeit für den Anspruch auf einen Teil Kame­ runs, an dessen Entdeckung schließlich auch der polnische Reisende Stefan Szolc-Rogoziński beteiligt gewesen sei. Zur Verankerung der Kolonialidee in der Gesellschaft organisierte die Liga Massenveranstaltungen (wie die Tage des Meeres oder die Kolonialtage) und leistete entsprechende Pressearbeit. Außerdem setzte sie sich für die Institutionalisierung der Kolonialwissenschaf­ ten ein, die in unterschiedlicher Gestalt an einigen polnischen Universitäten gelehrt wurden. Organ der Liga war die Monatsschrift Morze (Das Meer), deren Auflage in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre 250 000 Exemplare betrug. Marek Arpad Kowalski beschreibt ausführlich die programmatische Entwicklung der See- und Kolonialliga. Der erste Impuls, das heißt die informellen Gespräche in Paris, entsprang dem Wunsch, die Gelegenheit zur Verbesserung der internationalen Position Polens zu nutzen. Später wurde die Überseeexpansion mit anderen Zielen verknüpft. Man sah in ihr ein Mittel gegen die relative Überbevölkerung des Landes. Abgesehen davon, erhoffte man sich leichteren Zugang zu seltenen Rohstoffen sowie die Erweiterung des Absatzmarktes für polnische Industrieprodukte. Ein weiteres durchgängiges Motiv in der Zwischenkriegspublizistik war die Notwendigkeit der Sicherung des Austauschs mit den polnischen Emigranten. Die Auswanderung sollte so organisiert werden, dass größere polnische Gemeinschaften entstünden, die 409

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den Kontakt zur Heimat halten und darüber hinaus als Faktor der polnischen Außenpolitik wirken könnten. Die Nationaldemokratie sah in der kolonialen Expansion eine Chance zur „Abschiebung“ möglichst vieler Juden und Ukrainer, deren Platz polnische Siedler einnehmen sollten.3 Andere Motive waren weniger handfest und schwerer fassbar. Der Geograf Stanisław Pawłowski schrieb in den 1930er Jahren, die Expansion sei ein Zeichen für die Gesundheit eines Staatswesens: „Staaten, die Kolonien erobern, sind junge Staaten voller Lebenskraft und Elan, die zu neuen Kristallisationsprozessen fähig sind.“4 Insofern sei es der beste Beweis für die Vitalität von Staat und Volk, wenn in Schwarzafrika die polnische Flagge gehisst würde. Wie realistisch waren die polnischen Pläne einer kolonialen Expansion und wie ernsthaft wurden sie von den polnischen Regierungen verfolgt? Auf höchs­ ter Ebene herrschte offenbar wenig Begeisterung. Piłsudski soll den Aktivisten der Liga gesagt haben: „Für Träume von Eroberungen ist in Polen kein Platz.“ Minister Józef Beck erinnerte sich: In der sogenannten Kolonialfrage schwappte eine Welle geradezu kindlicher Erregung durch Polen. Ich habe unseren „Kolonisten“ von Anfang an gesagt, in meinen Augen begännen die polnischen Kolonien in Rembertów [damals Vorort, heute Stadtteil von Warschau].5 Offenbar glaubte außer den Funktionären der See- und Kolonialliga niemand an polnische Kolonien in Togo oder Kamerun. Aus Sicht der polnischen Staats­ räson schien es aber bisweilen nützlich, das Thema am Köcheln zu halten, um die eigene Verhandlungsposition in wirklich wichtigen Fragen zu verbessern. Dazu gehörte unter anderem die Emigrationsfreiheit, die von den westlichen Staaten seit Anfang der 1920er Jahre eingeschränkt wurde. Aus Warschauer Sicht war Kamerun kein Zweck, sondern gelegentlich ein Mittel zum Zweck – etwa einer Heraufsetzung der Einwanderungsquoten in die Vereinigten Staaten oder nach Großbritannien.

Die Delegation des Vereinigen Königreichs auf dem Wiener Kongress hatte fünfzehn Personen gezählt. In Paris waren es mehr als 400, doch ein großer Teil ihrer Arbeit führte zu nichts. Die Konferenz hatte weder ein Programm noch eine Struktur. Die Politiker verstanden die unzähligen Detailfragen nicht, die ihnen von den Vertretern der ostmittel- und südosteuropäischen Staaten aufgetischt wurden, und auch die grundlegenden Probleme waren ihnen völlig fremd. Der italienische Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando hörte überrascht von 410

Die Pariser Konferenz und der Vertrag von Versailles

der Existenz Österreichisch-Schlesiens, dem zentralen Streitobjekt zwischen Polen und der Tschechoslowakei. Lloyd George machte aus seiner Unwissenheit gar eine Tugend: Dass er noch nie von „Teschen“ gehört habe, führte er im britischen Unterhaus als Beleg dafür an, mit welch exotischen Themen er es Paris zu tun gehabt habe. Die Japaner sprachen durchgängig kein Französisch, abgesehen davon, waren ihnen die europäischen Angelegenheiten herzlich egal. Ein Mitglied der britischen Delegation brachte diese Mischung aus Unwissen und Desinteresse in einem Bonmot über die Einstellung der obersten Vertreter Großbritanniens zu den Friedensverhandlungen auf den Punkt: [Lordsiegelbewahrer] Bonar Law hat Interesse an der Materie, aber keine Ahnung; [Außenminister] Balfour hat Ahnung von der Materie, aber kein Interesse; [Premierminister] Lloyd George hat weder Ahnung noch Interesse.6 Der vierte britische Vertreter, der ehemalige australische Premierminister Joseph Cook, ähnelte in seiner Haltung Law, war aber kämpferischer veranlagt als dieser. Wenn er sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, hörte er nicht mehr auf die Einflüsterungen der Diplomaten, sondern kämpfte „wie ein junger Bulle“ für Dinge, von denen er keinen blassen Schimmer hatte. Auf die Vertreter der „assoziierten Staaten“, also der Nichtgroßmächte, machte das einen verheerenden Eindruck: Die Erörterung der für sie elementaren Fragen, klagte etwa der rumänische Ministerpräsident Ion Brătianu, langweile die Entscheidungsträger zu Tode, halte sie aber keineswegs davon ab, Beschlüsse zu fassen.7 Nicht nur die ersten Wochen der Konferenz waren ein inhaltliches und organisatorisches Chaos. Der ursprüngliche Plan, demzufolge der Rat der Zehn (bestehend aus den Regierungschefs und Außenministern Frankreichs, Japans, der USA, Großbritanniens und Italiens) die an ihn herangetragenen Fragen lösen sollte, erwies sich als nicht praktikabel. Im Zuge einiger Umbesetzungen reduzierte sich das Entscheidungsgremium zunächst auf fünf Mitglieder, dann auf vier und schließlich auf die sogenannten Großen Drei: den Ministerpräsidenten Frankreichs, den Premierminister Großbritanniens und den Präsidenten der USA. Die Beschlussvorlagen wurden von fast sechzig Ausschüssen und Unterausschüssen erarbeitet (die insgesamt 1646-mal tagten), in denen mit der Zeit die Stimme der Experten mindestens ebenso viel wie die Meinung der Politiker zählte – woher hätte der französische Außenminister auch die Spezifik des Banats kennen sollen oder ein britischer Delegierter die nicht minder komplizierte Situation in Klaipėda? Welchen Wert das Wissen der Experten haben konnte, erfuhr der amerikanische Geograf Douglas Wilson Johnson als Teilnehmer der Be411

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ratungen über die Grenzziehung zwischen Rumänien und Jugoslawien. In einem Brief berichtete er seinem älteren Kollegen William M. Davis überrascht: Und ich muss Dir sagen, dass die Geografie auf der Friedenskonferenz eine sehr viel größere Rolle spielte, als ich vorher dachte oder hätte vermuten können. Anfangs hatten die Geografen kaum direkten Kontakt zu den Kom­mis­ saren und überhaupt keinen zum Präsidenten. Mit der Zeit zeigte sich aber ihr Wert und sie übernahmen eine immer wichtigere Rolle. In einem bestimmten Moment dachten manche „Großkopferte“, man könne die meisten Experten entlassen, doch letzten Endes mussten wir uns die Erlaubnis zur Rückkehr an unsere amerikanischen Universitäten hart erkämpfen. Ich reichte Mitte Juni meine Kündigung zum 1. Juli ein, hauptsächlich wegen der extremen nervlichen Erschöpfung, die mich so nah wie noch nie an einen völligen Zusam­ menbruch gebracht hatte. Doch die Kommissare wollten mich nicht gehen lassen und gaben mir als Motivation, zu bleiben, eine Gehaltserhöhung von 200 Dollar monatlich, zwei Wochen bezahlten Urlaub und einen Cadillac mit Chauffeur. […] Ich erwähne diese privaten Dinge nur, damit Du Dir ein Bild machen kannst, wie sehr der Experte für „Grenzgeografie“ zum unverzichtbaren Bestandteil der Konferenzmaschinerie geworden war. […] Weil in vielen Fällen die Grenzen komplett von den Territorialausschüssen oder ihren Unter­ ausschüssen bestimmt wurden, hatte ich die einmalige Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass geografische Faktoren in die Lösung von Territorialfragen und die Festlegung internationaler Grenzen einflossen. Meine Kollegen akzeptierten bereitwillig meine geografischen Argumente. Von einigen der neuen europäischen Grenzen kann ich mit einer gewissen Genugtuung sagen, dass sie so verlaufen, wie sie verlaufen, weil die Kommissare meine Argumente übernahmen und entsprechende Entscheidungen trafen.8 Entgegen der bis heute verbreiteten Auffassung von der westlichen Ignoranz in Bezug auf Ostmittel- und Südosteuropa kannten die amerikanischen und britischen Geografen und Historiker die Region sehr gut. Der polnische Experte Antoni Sujkowski warnte die Mitglieder seiner Delegation völlig zu Recht, dass der amerikanische Historiker und Sachverständige Robert Lord hervorragend über die ethnischen Verhältnisse in Litauen Bescheid wisse: „Meiner Ansicht nach weiß er mehr, als uns lieb sein kann.“9 Ein größeres Kompliment war kaum denkbar und viele Kollegen Lords waren ebenso gut vorbereitet. Eugeniusz Romer bekundete ihnen rückblickend so melancholisch wie aufrichtig nostalgisch seine Wertschätzung: 412

Die Pariser Konferenz und der Vertrag von Versailles

Mit höchstem Respekt, aber auch mit Verwunderung betrachten wir im Nach­ hinein die gewissenhaften Forscher aus Übersee, die die polnische Sache aus so großer Ferne betrachteten und doch nach klaren Kriterien zwischen Wahrheit und Unwahrheit, vor allem aber zwischen geraden und ungeraden, trügerischen und verbotenen Wegen unterschieden.10 Es ist schwer vorstellbar, dass sich die Experten der besiegten Staaten ähnlich geäußert hätten, doch das ist ein rein theoretischer Gedanke: So wie deutsche, bulgarische oder ungarische Politiker nicht an den Beratungstisch eingeladen wurden, so tagten auch die Fachausschüsse und Unterausschüsse ohne Experten aus den Verliererstaaten. Beruhte die von Romer artikulierte Anerkennung für die Experten der Siegermächte auf Gegenseitigkeit? Die Aussagen von Franzosen, Briten und Amerikanern liefern ein etwas differenzierteres Bild der Kollegen aus dem Osten und Südosten Europas. Der Geograf und Chefberater der US-Delegation Isaiah Bowman beklagte ihre Neigung, den „nationalen Besitzstand“ auf Kosten der Nachbarn erweitern zu wollen: Jede Nationalität Mitteleuropas verfügte über ein eigenes Repertoire statistischer und kartografischer Tricks. Wo die Statistik nicht weiterhalf, versuchte man es mit bunten Karten. Es bedürfte einer umfangreichen Monografie, um alle Arten von kriegs- und friedensbedingten kartografischen Manipulationen zu analysieren. Man hatte ein neues Instrument entdeckt – die Sprache der Landkarte. Die Landkarte war ebenso effektiv wie ein reißerisches Plakat, doch allein die Tatsache, dass es sich um eine Landkarte handelte, machte sie vertrauenswürdig, authentisch. Mehrfach sollten verfälschte Landkarten ­irrige Argumentationen stützen. Die offensichtlichsten Fälle betrafen den Balkan.11 Freilich äußerten sich dieselben Personen oft lobend über die Arbeit von Koryphäen der osteuropäischen Wissenschaft wie Romer oder Jovan Cvijić, die ihnen aus früheren Lektüren bekannt waren. Sie kannten auch die Kriegspublikationen dieser Fachleute, die nun die neuen europäischen Staaten repräsentierten. Sie schätzten ihre Professionalität und gingen taktvoll über den tendenziösen Charakter mancher Werke hinweg. Ende April 1919 schrieb Bowman an Romer. Ich muss die Gelegenheit nutzen, dass wir beide uns für einige Zeit in Paris aufhalten, und Dir sagen, dass Dein Atlas der amerikanischen Regierung bei der Vorbereitung auf die Friedenskonferenz eine große Hilfe war. […] Dein 413

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Atlas hat uns in vielerlei Hinsicht die Arbeit erleichtert, wir konnten viele Memoranden zu polnischen Fragen sehr viel schneller verfassen, als es sonst möglich gewesen wäre. Unbedingt erwähnen muss ich auch den höchst anerkennenswerten Geist nicht nur des Atlas, sondern auch der begleitenden statistischen Materialien. Du folgst einer Methode, die in jungen Nationalitäten selten angewandt wird, das heißt, Du stützt Deine Karten auf veröffentlichte, meist offizielle statistische Daten und bewertest die Glaubwürdigkeit dieser Daten. Als Geograf möchte ich Dir meine Bewunderung und unser aller Hochachtung für Deinen unter so schwierigen Bedingungen entstandenen Atlas versichern.12 Natürlich traten die Experten der Siegerstaaten nicht als geschlossene, durch ein gemeinsames Wissen und die akademische Tradition geeinte Gruppe auf. Jeder von ihnen hatte seine eigenen Sympathien und Antipathien und nicht jeder konnte oder wollte sie für die Zeit der Pariser Konferenz verbergen. Der häufig geäußerte Verdacht der Parteilichkeit war oft absolut gerechtfertigt. Roman Dmowski und seine nächsten Mitarbeiter zeigten anklagend auf den aus Ostgalizien stammenden britischen Historiker Sir Lewis Namier. Der in Paris vor allem durch seine gefälschten Karten des ethnischen polnisch-ukrainischen Grenzlands aufgefallene Jan Czekanowski schrieb: […] Hauptinformant der englischen Regierung in polnischen Angelegenheiten war der Jude Bernstein aus Koszyłowce in Galizisch-Podolien, der sich offiziell „Nemir“ nannte und unseren Politikern als fanatischer jüdischer Nationa­ list und Polenfeind bekannt war.13 Tatsächlich versuchte Namier, ein überzeugter Sozialist und Piłsudski-Anhänger, Dmowskis Pläne zu durchkreuzen, wann immer es ging – selbst um den Preis des Bruchs mit seiner noch immer in Polen lebenden Familie. Als er sich während des Polnisch-Ukrainischen Kriegs auf die Seite der Westukrainischen Volksrepublik stellte, wurde er von seinem Vater enterbt.14 Gemeinsam war allen Sachverständigen gleich welcher Nationalität, dass sie auf Schritt und Tritt nicht nur mit Berufsdiplomaten konfrontiert wurden, die ganz anders dachten (vor allem in Kategorien des Gleichgewichts der Kräfte), sondern auch mit der ihnen bis dahin unbekannten Ministerialbürokratie, die alle möglichen Hindernisse vor ihnen auftürmte, und vor allem mit Politikern, deren Zukunft von den Ergebnissen abhing, die sie aus Paris mit nach Hause bringen würden. Aus diesem Grund verließen zunächst der italienische und später 414

Die Pariser Konferenz und der Vertrag von Versailles

der rumänische Ministerpräsident aus Protest gegen die Entscheidungen der „Großen Drei“ türenschlagend die Konferenz und kehrten in die Heimat zurück. Die Wähler honorierten mitunter derartige Gesten, die Großmächte eher nicht. Gleichwohl war die Nationalität ein trennender Faktor. Die Amerikaner wurden zwar nicht nur von Romer geschätzt, doch sie bildeten eine Ausnahme, weil sie die Region gleichsam aus der Vogelperspektive betrachteten. Die Sachverständigen aus den unmittelbar betroffenen Ländern bedienten sich eines breiten Fächers von Argumenten, der Umgang mit den „harten“ statistischen Fakten reichte von verifizierbaren Interpretationen über verzerrte Darstellungen, etwa in Gestalt grotesker Hervorhebungen eines einzigen Aspekts, bis hin zu Fälschun­ gen, die sowohl in der umfangreichen Publizistik zur Konferenz als auch in den erhaltenen Landkarten dokumentiert sind. Ihre ungeschriebene Geschichte ist ein Thema für sich. Die Bedeutung von Landkarten für die Entscheidungsträger der Friedenskonferenz ist kaum mit einem der Informationsträger des Internetzeitalters zu vergleichen. Sie dienten als bequeme Stütze für alle Detaillösungen, von denen man wusste, dass sie sich zu grundlegenden Entscheidungen summieren würden. Anders als Menschen mussten sie nicht akkreditiert werden, sie redeten keinen Unsinn und verlangten weder Lob noch sonstige Anerkennung; sie überzeugten durch Klarheit und Anschaulichkeit. Die Zeichner aller Delegationen hatten mehr als genug zu tun. Zu Teofil Szumański, dem wichtigsten polnischen Kartografen, notierte Romer: […] er schuftet wie ein Ochse oder ein Esel oder ich. Einmal zeichnete er nach einem zehnstündigen Arbeitstag noch bis früh um halb fünf, erst um sechs legte er sich schlafen.15 Tatsächlich wurden die Landkarten oft nachts angefertigt – in unterschiedlichen Varianten und Formaten, auch die Farben spielten eine große Rolle.

Eine geheimnisumwitterte Landkarte Auf der Pariser Friedenskonferenz wurde oft um Landkarten gestritten. Manche Konflikte schwelten anschließend jahrelang fort. Das galt auch für die besonders kontroverse Problematik des deutsch-polnischen Grenzlands. Der Ingenieur Jakob Spett hatte 1918 eine Sprachenkarte der Ostprovinzen des Deutschen Reichs veröffentlicht. Die Umstände ihrer Entstehung liegen bis heute im Dunkeln, Spett trat weder vorher noch nachher als Kartograf in Erscheinung. Der deutsche Geograf Walter Geisler fand Anfang der 1930er Jah415

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re heraus, dass Spett wahrscheinlich jüdischer Abstammung war und als Angestellter der österreichisch-ungarischen Bahn während des Kriegs in den von österreichischen Truppen besetzten Gebieten des Königreichs Polen arbeitete. 1917 wandte Spett sich mit dem Projekt einer kartografischen Darstellung der Ergebnisse der preußischen Volkszählung von 1910 an die von Justus Perthes gegründete Geographische Verlagsanstalt in Gotha, seinerzeit die renommierteste Adresse in Deutschland. Der Verlag lehnte ab, stellte Spett aber eine Rohkarte zur Verfügung (auf der lediglich Flüsse und Eisenbahnlinien eingezeichnet waren) und übernahm den Druck der Karte, die dann im Verlag Moritz Perles in Wien erschien. Die Militärzensur hatte keine Einwände gegen Spetts Werk, sodass die Sprachenkarte genau rechtzeitig zu den Friedensverhandlungen auf den Markt kam. In Spetts Karte war die deutschsprachige Bevölkerung rot markiert, die polnischsprachige Bevölkerung grün. Die Farbwahl entsprach den Gepflogenheiten der damaligen Kartografen, die Rot als dominante Farbe jeweils „ihrer“ Seite vorbehielten. In drei Abstufungen (50, 70 und 85 Prozent) gab Spett an, wie viele Kinder im Schulalter jeweils Deutsch oder Polnisch sprachen. Die Darstellung stützte sich auf unverfälschte statistische Daten der preußischen Schulbehörden. Hier und da machte Spett kleinere Fehler, allerdings in beide Richtungen. Man hätte also meinen können, es handele sich einfach um eine kartografische Darstellung allgemein zugänglicher Informationen. Dennoch wurde die Karte von deutschen Geografen ungewöhnlich scharf kritisiert. Man warf Spett vor (zu Unrecht), er habe bewusst einen blassen Rotton und ein sattes Grün gewählt, um den „polnischen“ Teil der Karte stärker hervorzuheben. Man kritisierte, dass er kaum besiedelte Waldgebiete farbig markiert habe und dass er die polnischsprachige Bevölkerung als ethnische Einheit behandele, ohne die regionalen (oder womöglich noch bedeutsameren) Unterschiede zwischen Polen, Kaschuben und Schlesiern zu berücksichtigen. Der entscheidende, von deutschen Geografen wie ein Mantra wiederholte Kritikpunkt betraf nicht mehr die Karte, sondern ihren Urheber. Spett war Jude, vermutlich sogar aus Galizien – das genügte, um ihn als polnischen Agenten abzustempeln. Nicht nur dieser letzte Vorwurf war absurd. Bei näherem Hinsehen erweisen sich auch die übrigen als ungerechtfertigt. Das von Spett verwendete Rot hatte keineswegs den inkriminierten Ton, ganz abgesehen davon, dass die endgültige Farbgebung der Karte vor allem von der Druckmaschine abhing, in 416

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Ein Auszug aus Jakob Spetts Landkarte von 1918.

diesem Fall einem bewährten deutschen Gerät der Perthes’schen Verlagsanstalt. Die von Spett verwendete deutsche Schulstatistik lieferte auch anderen Kartografen glaubwürdige und leicht nutzbare Daten zu den sprachlichen Verhältnissen in Ostpreußen und, weil sie reinen Gebrauchszwecken diente, wurde der Anteil der polnischen Bevölkerung nicht kleingerechnet. Dass Spett gerade dieses Material nutzte, zeugte weder von methodologischer Inkompetenz noch von nationalistischer Verblendung. Auch der Verzicht auf detaillierte Angaben zu den Sprechern polnischer Dialekte hatte pragmatische Gründe. Die Statistik diente ursprünglich den preußischen Schulbehörden, die wissen wollten, wie viele polnischsprachige Lehrer eingestellt werden mussten und wo sie gebraucht wurden. Ob es sich bei den Schülern um „Kaschuben“, „Oberschlesier“ oder „Wasserpolen“ handelte, spielte keine Rolle. Spett selbst beteiligte sich nicht an der Debatte über sein Werk. Dafür traten polnische Geografen für ihn ein. Das war keine sonderlich schwere Aufgabe, wie ein Blick in die von Eugeniusz Romer unmittelbar nach Kriegsende gegründete Zeitschrift Polski Przegląd Kartograficzny (Polnische Kartografische Rundschau) zeigt. Józef Wąsowicz widmete den Attacken gegen Spett einen längeren Artikel, in dem er die Schwachstellen und vor allem den Anachronis417

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mus der deutschen Argumentation aufzeigte. Er erinnerte daran, dass die Einteilung in der polnischsprachigen Bevölkerung in Kaschuben, Oberschlesier und Masuren ebenso eine Erfindung der Kriegszeit war wie der Gedanke, die ethnische Kartografie könne – statt der vermeintlich „objektiven“ Daten wissenschaftlicher Studien oder amtlicher Statistiken – das wahre Nationalbewusstsein sowie die (etwa in Volksabstimmungen artikulierten) politischen Sympathien der Bevölkerung abbilden. Zuletzt sprach er den wundesten Punkt an: Spetts Karte war im wichtigsten deutschen kartografischen Verlag erschienen, der auch die nationalistischen Werke deutscher Geografen und die wichtigste Fachzeitschrift des Landes – Petermanns Mitteilungen – veröffentlichte: Dass Justus Perthes Spetts Karte druckte, mag ein Fauxpas des Verlags gewesen sein. Ein Fauxpas waren dann aber auch alle preußischen Volkszählungen der Vorkriegszeit, die deutschen Sprachen- und Nationalitätenkarten, der preußische statistische Atlas, die Studien von Partsch, Sering, Albert oder Weber sowie zahlreiche anderen Arbeiten zur polnischen Frage. Ein noch größerer Fauxpas ist freilich die Abhandlung von Prof. Geisler, der Spetts Karte zunächst bewarb, dann aber in der schönen Reihe ­Petermanns Mitteilungen Ergänzungshefte ein politisch-propa­gandistisches Pamphlet publizierte. In diesem Fall wäre es sehr viel besser und aus deutscher Sicht anständiger gewesen, zu schweigen.16 War Spett tatsächlich ein polnischer Agent, der geschickt das Datenmaterial, die Technik und die politische Naivität der Deutschen ausnutzte? Die Historiker sind geteilter Ansicht. In der neueren Literatur vertritt etwa Ulrike Jureit eine gegenteilige Meinung.17 Benjamin Conrad hingegen unterstellt in seiner fundierten Monografie über die Umstände der Festlegung der polnischen Grenzen Spett unlautere Intentionen und führt den Beschluss der Siegermächte über eine Volksabstimmung in Ermland und Masuren maßgeblich auf seine Karte zurück.18 Welche Absichten Spett wirklich verfolgte, wird sich nicht mehr feststellen lassen. Mehr wissen wir über den tatsächlichen Einfluss seiner Karte auf die Entscheidungen der Pariser Konferenz. 1934 bat Richard Hartshorne, Professor an der University of Minnesota, den Präsidenten der American Geographical Society Isaiah Bowman um Auskunft in dieser Sache.19 Dieser erwiderte, die Experten der Siegermächte hätten Spetts Karte Anfang 1919 erhalten, sie aber nicht benutzt, weil sie damals bereits über eigene, amerikanische Arbeiten zum deutsch-polnischen Grenzland verfügt 418

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hätten. Die Übereinstimmungen zwischen den Beschlüssen von Versailles und einigen Aspekten von Spetts Karte seien daher rein zufällig.20 Die Geschichte der angeblich gefälschten Landkarte eines angeblichen polnischen Agenten zeigt, wie sehr sich die Imperien der Vorkriegszeit und die nach dem Krieg entstandenen Nationalstaaten unterschieden. Zwar kannte man auch vor 1914 politische Verfolgungen und nationalen Druck, doch der Staat hielt sich meist an die von ihm aufgestellten Regeln. Zweck der Statistik war die möglichst redliche Information und nicht die Verbesserung der Befindlichkeit des herrschenden Volkes. Nach 1918 schrumpften die Räume, die von unmittelbarer politischer Einflussnahme frei waren, zusehends zusammen. Über die meisten Volkszählungen in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan (sowie auch in Deutschland) zwischen den Kriegen lässt sich vieles ­sagen, nicht aber, dass sie der redlichen Information dienten. Ganz so, als hätte man ernsthaft gefürchtet, es könnte ein Ingenieur, Eisenbahner oder sonstiger Amateur Kartograf spielen und noch größere Verwirrung als der mysteriöse Jakob Spett stiften.

Bei den Treffen der Sachverständigen wurde mitunter emotional argumentiert. Je kleiner das Land, desto häufiger war die Rede von Ehre und der Wiedergutmachung von Unrecht. Gleichwohl hatten die Experten immer wieder andere, gleichsam übernationale Gründe zur Frustration. Bei der Bestimmung der neuen Grenzen prallten strategische und ethnische Erwägungen aufeinander, hinzu kam das Kriterium der Nachkriegsgerechtigkeit – die Sieger beanspruchten Gebiete der Besiegten. Wenn all diese Punkte gegeneinander abgewogen worden waren und ein konkreter Vorschlag für einen Grenzabschnitt vorlag – was Stunden, Tage oder Wochen dauern konnte –, legten oft die Geografen ihr Veto ein, weil wegen der Topografie oder dem Verlauf von Straßen und Bahnlinien der gefundene Kompromiss nicht infrage kam. All diese Probleme waren Folge des Konflikts zwischen dem wilsonschen Prinzip der Selbstbestimmung und den realen Besiedelungsverhältnissen. Zwischen Ostsee, Adria, Schwarzem Meer und Ägäis lebten – oft in denselben oder benachbarten Dörfern oder in derselben Straße – Esten, Letten, Russen, Litauer, Juden, Deutsche, Weißrussen, Polen, Ukrainer, Tschechen, Slowaken, Ungarn, Rumänen, Italiener, Türken, Griechen, Tataren, Armenier, Österreicher, Slowenen, Kroaten, Serben und Albaner, gar nicht zu reden von weniger bekannten ethnischen Gruppen oder Glaubensgemeinschaften. Niemand wusste, was Selbstbestimmung in einer solchen Situation bedeutete. Wirklich das Recht auf 419

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einen Nationalstaat? Oder ging es eher um Autonomie beziehungsweise weit­ge­ hende Selbstverwaltung? Auf einer solchen Interpretation des Rechts auf Selbstbestimmung gründete die zwischen den Vertretern Kroatiens (nominell des Jugo­slawischen Komitees mit Sitz in London) und des Königreichs Serbien aus­ gehandelte sogenannte Deklaration von Korfu (7.–20. Juli 1917) über die Gründung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Theoretisch sollten alle Volksgruppen gleichberechtigt sein. In Artikel 13 der Deklaration hieß es explizit, die künftige Verfassung garantiere „dem Volk“ die Möglichkeit, seine Wünsche im Rahmen der territorialen Selbstverwaltung zu realisieren. Niemandem kam es freilich in den Sinn, die Montenegriner und Bosnier (im Grunde auch die Slowenen) zu fragen, ob sie sich wirklich in einem von der serbischen Karadjordjević-Dynastie regierten Staat verwirklichten wollten. Damit stellt sich eine weitere grundlegende Frage: Wer hatte ein Recht auf Selbstbestimmung? Ein wie auch immer definiertes Volk? Und wenn ja, stand es den Angehörigen aller Völker überall zu, das heißt den Ungarn im Banat, in Siebenbürgen und in der Slowakei, den Deutschen in Böhmen und Mähren oder den Ukrainern in Galizien? Jemand musste als Staatsvolk (Titularvolk) anerkannt werden und das waren nachvollziehbarerweise weder die oben genannten Gruppen noch die Italiener im kroatischen Teil Jugoslawiens oder die Deutschen in Lettland und Siebenbürgen. In letzteren Fällen war die Sache einigermaßen klar. Italiener und Deutsche blieben eine Minderheit, nur eben in einem anderen Staat. Ein großer Teil der neuen Minderheiten freilich hatte bisher dem Titularvolk angehört. Nun fanden sie sich (ohne ihre Wohnorte verlassen zu haben) infolge der Beschlüsse der Friedenskonferenz auf der anderen Seite der Landgrenze mit dem Staat ihres eigenen Volkes wieder – etwa die Ungarn in der Slowakei, im Banat und in Siebenbürgen oder die Deutschen entlang der neu gezogenen deutsch-tschechoslowakischen oder deutsch-polnischen Grenze. Noch anders war die Lage der Polen in Schlesien oder der Slowenen in Kärnten: Ihre Vertreter forderten Änderungen am Grenzverlauf, die ihnen den Anschluss an den gerade entstandenen Nationalstaat erlaubt hätten. Die neuen Grenzen konnten nirgends den ethnischen Besiedelungsverhältnissen gerecht werden. Und was, wenn ein umstrittenes Territorium keine zahlenmäßig, wirtschaftlich und kulturell dominierende ethnische Gruppe aufwies und schon lange zu einem anderen Staat gehörte? Die einen beriefen sich in solchen Fällen auf historische Rechte, andere auf die relative Mehrheit gegenüber den Nachbarn (oder umgekehrt auf die zivilisatorischen Verdienste der „eigenen“ Minderheit für das jeweilige Gebiet), wieder andere auf ihren Beitrag zum Sieg der Alliierten im 420

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Weltkrieg, strategische Gründe oder geheime Zusatzvereinbarungen zu Abkommen aus der Kriegszeit. Politiker und Experten argumentierten mit sprachlicher Verwandtschaft, beriefen sich auf tatsächliche oder erfundene Kulturgemeinschaften und propagierten die Befreiung der „Brüder“ von – am besten jahrhundertelanger – fremder Unterdrückung. Dabei wurde es gang und gäbe, dass zur Rechtfertigung einzelner geforderter Grenzverläufe unterschiedliche, oft absolut widersprüchliche Argumente angeführt wurden. Ein typisches Beispiel war die Tschechoslowakei. Für die Eingliederung großer, mehrheitlich von Deutschen und – im Olsagebiet – Polen bewohnter Gebiete führte man das historische Argument des Erhalts der Einheit der Länder der Wenzelskrone an. Den Anschluss der Slowakei, die nie zur Wenzelskrone gehört hatte, begründeten die Tschechen mit der sprachlichen und – an den Haaren herbeigezogenen – kulturellen Nähe sowie mit der Notwendigkeit, die slowakischen Brüder vom Joch der Magyarisierung zu befreien. Auf die Karpatenukraine, den dritten Bestandteil des neuen Staates, traf keines dieser Argumente zu. Sie wurde der Tschechoslowakei zugesprochen, weil Ungarn (das ohnehin keinen rechtmäßigen Anspruch mehr geltend machen konnte) bestraft werden sollte und die Ukraine weder Stimme noch Staatswesen besaß.21 Die einheimischen Eliten, die sich den ukrainischen Gebieten nicht zugehörig fühlten, hatten jahrzehntelang den Mythos der Region gepflegt, die im Mittelalter als erste von den Magyaren eingenommen worden war und deren ruthenische Bewohner sich Árpáds Reitern bei deren weiteren Eroberungszügen anschlossen.22 Somit wurde paradoxerweise die einzige ethnisch fremde Provinz Ungarns, in der Budapests zentralistische Politik Früchte getragen hatte, zu einer tschechischen Kolonie im Herzen Europas.23 Wir müssen keine weiteren Beispiele anführen. Bei einer näheren Betrachtung der Argumentation zu den Staatsgrenzen Jugoslawiens oder Großrumäniens lässt sich exakt dieselbe Denkweise erkennen.24 Die polnische Situation ähnelte am ehesten der tschechoslowakischen. Als sich während der Beratungen in der Nacht vom 2. auf den 3. März 1919 das Konzept weit nach Osten ausgreifender Staatsgrenzen durchsetzte (freilich nur scheinbar, das Projekt wurde nie realisiert), gab das nicht nur Romer zu denken: Was wird aus dem Prinzip des auf einer nationalen Mehrheit gründenden Staates? In den östlichen Grenzgebieten wurden über Nacht die Grundsätze hinweggefegt, die im Westen unantastbar sind und denen wir uns dort beugen. „Das ist doch Raub“, sagte mir Dmowski am Telefon […], dass wir PreußischSchlesien beanspruchen, in das die Deutschen so viel Arbeit und Kapital investierten. Die Begriffe der Stärke und des Triumphs im Verhältnis zu unseren 421

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Nachbarn im Osten und im Westen wollen mir nicht in den Kopf. Welche Töne haben wir zuletzt gegenüber unserem westlichen Nachbarn angeschlagen?25 Nach außen ließ man sich derartige Zweifel nicht anmerken. Die Italiener erhoben Anspruch auf Rijeka (Fiume), alle Nachbarn Ungarns auf alle Grenzgebiete des Königreichs, das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen auf das österreichische Kärnten und einige andere Provinzen, Polen auf das deutsche Danzig, Litauen auf das ebenfalls deutsche Klaipėda (Memel) und so weiter. Dazu war jedes Argument recht, selbst der Geburtsort des jeweiligen Staatsoberhaupts. Was konnte es bedeuten, dass Józef Piłsudski ausgerechnet in Litauen zur Welt gekommen war? In etwa genauso viel wie die Tatsache, dass Tomáš Garrigue Masaryk aus der Mährischen Slowakei stammte. Für die Akquisiteure der tschechischen Außenpolitik war dieser Umstand ein griffiges Argument für den Anschluss der Slowakei an Tschechien.26 Besonders trügerisch war die sprachlich begründete Annahme einer ­ethnischen Verwandtschaft. Weil man die Sprache für einen Beleg von Nationalbewusstsein hielt, betrachtete man Menschen jenseits der Grenze, die eine ähnliche Sprache sprachen, als Landsleute. In Südkärnten sprachen 70 Prozent der Bevölkerung Slowenisch. Die Volksabstimmung im Oktober 1920 endete freilich mit einem überraschenden Ergebnis: 60 Prozent der Wähler stimmten für Österreich, was bedeutete, dass sich zwei Fünftel der slowenischsprachigen Kärntner für den Verblieb in Österreich ausgesprochen hatten. Noch eindeutiger war drei Monate zuvor eine ähnliche Volksabstimmung in Ostpreußen ausgefallen. Im Kreis Marienwerder (Kwidzyn) hatten 1910 14 Prozent der Einwohner Polnisch als Muttersprache angegeben, im Kreis Allenstein (Olsztyn) 44 Prozent. Für die weitere Zugehörigkeit zu Deutschland stimmten im Kreis Marienwerder 92 Prozent, im Kreis Allenstein 98 Prozent. Die Polen erklärten – und erklären bis ­­heu­­­te – dieses Ergebnis mit dem Zeitpunkt der Abstimmung: Im Juli 1920 rückte die Rote Armee auf Warschau vor, die Republik Polen schien verloren. Die polnischsprachigen Ermländer (Katholiken) und Masuren (Protestanten) hatten demnach wenig Gründe, für Polen zu stimmen. Darin steckt ein Körnchen Wahrheit. Doch erklärt das Datum der Volksabstimmung auch das Ergebnis in Marggrabowa (Olecko), das auf Drängen der polnischen Unterhändler dem Abstimmungsgebiet hinzugefügt wurde, weil nach offiziellen preußischen Statistiken ein Drittel der Einwohner des Kreises Polnisch sprachen? Dort stimmten 28 627 Personen (99,993 Prozent) für die Zugehörigkeit zu Ostpreußen und zwei (0,007 Prozent) für die Zugehörigkeit zu Polen. 422

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Das Ergebnis von Marggrabowa war ein Ereignis von europaweiter Bedeutung. Nach dem Selbstmord der Imperien erstreckte sich die ostmittel- und südosteuropäische Erbmasse von Finnland bis Rumelien und darüber hinaus bis nach Kleinasien, wo die Interessen Griechenlands und der Türkei aufeinanderstießen. Clemenceau, Lloyd George und Wilson konnten unmöglich alle, ja nicht einmal alle grundlegenden Probleme kennen, die sich mit der Aufteilung dieses Nachlasses unter der Vielzahl der mehr oder minder legitimen Erbberechtigten verbanden. Vielmehr erkannten sie im Verlauf der Konferenz, dass das Prinzip der Selbstbestimmung in der Praxis sehr unpraktisch war, dass es neue Konflikte schuf, ohne die alten zu lösen, und dass es der Heuchelei und Lüge Tür und Tor öffnete. Dass der im Vorfeld von Wilson beschworenen abstrakten Gerechtigkeit nicht Genüge getan werden könne, mussten sie bereits vor Beginn der Konferenz geahnt haben. Paradoxerweise verfielen weder Experten noch Politiker auf die scheinbar ein­fachste Lösung: den Austausch der Bevölkerung in den strittigen Gebieten. Die Idee war zu revolutionär, sie widersprach zu sehr den Grundwerten der sogenannten westlichen Welt. Freiwillige Migration, Assimilation, Veränderungen der ethnischen Mehrheitsverhältnisse infolge von Geburtenraten oder Urbanisierung – all diese Prozesse kannte und akzeptierte man schon im 19. Jahrhundert. Die Vorstellung, ganze Bevölkerungsgruppen zu grenzüberschreitenden Wanderungen ins Unbekannte zu zwingen, passte (noch) nicht in die kultivierten Köpfe von Europäern und Amerikanern. Bezeichnenderweise griff man erst 1923 bei den Friedensgesprächen in Lausanne zu diesem Mittel, als sich abzeichnete, dass es nach dem Griechisch-Türkischen Krieg keine Perspektive für ein friedliches Miteinander von Griechen und Türken „auf dem Balkan“ geben würde, der ohnehin allgemein als moralisch schlechterer Teil der weißen Menschheit galt. An dieser Stelle müssen wir kurz in der Zeit zurückgehen.

Megali Idea oder Die Große Idee Die Megali Idea entpuppte sich für Griechenland als Fluch. Sie war Ende des 18. Jahrhunderts von dem Revolutionär Regis Velistinlis erdacht und 1796 in einer in Wien erschienenen Broschüre bekannt gemacht worden. Velistinlis träumte von einem Großgriechenland, den gesamten Südbalkan, Kreta, Rhodos, Zypern, die Ägäischen Inseln und Istanbul betrachtete er als Teile des – die Zeit von der Antike bis zum Byzantinischen Reich umfassenden – griechischen historischen Erbes, die es aus der Herrschaft der Osmanen zu „befreien“ gelte. Die 1830 erlangte Unabhängigkeit Griechenlands war in dieser Vision 423

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nur der erste Schritt auf dem Weg zur Restitution der historischen Größe Griechenlands, das heißt zur Erneuerung des Byzantinischen Imperiums. In einer Rede vor der Nationalversammlung erklärte Premierminister Ioannis Kolettis dieses Programm 1844 zur Staatsräson: Das Königreich sei nur ein Teil Griechenlands und dazu noch der ärmste. Griechenland, das seien ebenso die oben genannten Inseln, das osmanische Rumelien sowie West- und Nordanatolien; Athen sei zwar die Hauptstadt des Königreichs, doch die wahre Hauptstadt sei erst das vom türkischen Joch befreite Istanbul, das zweite Zentrum des Hellenismus und die Hoffnung aller Griechen. Im Sinn dieses Denkens wurde 1863 Georg I. zum König der Hellenen gekrönt, das heißt nicht nur der Bürger des Königreichs, sondern auch der griechischen Untertanen des Sultans. Sein Sohn Konstantin I. wurde von den Anhängern der Großen Idee zu Konstantin XII. umgetauft – zum Nachfolger des letzten byzantinischen Kaisers Konstantin XI. Palailogos, der 1453 am Tag der Eroberung Konstantinopels durch die Osmanen ums Leben gekommen war. Die einfachen Griechen sahen sich nicht unbedingt als künftige Herren eines Imperiums, doch auch die späteren griechischen Regierungen erweiterten Schritt für Schritt das Staatsgebiet. Den größten Zuwachs erzielten sie in den Balkankriegen der Jahre 1912–13. Das Königreich wuchs um fast das Doppelte, doch es blieb ein kleines und armes Land an der Peripherie. Den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und das Bündnis zwischen dem Osmanischen Reich und den Mittelmächten betrachtete man als Chance, endlich den zentralen Teil der Großen Idee zu verwirklichen: die Aufteilung des osmanischen Staates und die Errichtung eines Großgriechenlands auf beiden Seiten der Ägäis und am Südufer des Schwarzen Meeres. Gesicht dieses Programms war Premierminister Eleftherios Venizelos. Im ersten Band haben wir beschrieben, wie er im Juni 1917 die Abdankung des prodeutschen Königs Konstantin herbeiführte. Obwohl Griechenland kurz darauf in den Krieg eintrat, geschah an der Front nicht viel. Ein Jahr später zeigte eine lokale griechisch-französische Offensive im Norden, dass der Widerstand der vom Krieg erschöpften Bulgaren mit jedem Gefecht schwächer wurde. Die bulgarischen Generäle meldeten dem Zaren, dass die Soldaten massenweise desertierten, sich selbst verstümmelten oder ins Hinterland flüchteten. Mit diesen Truppen sei an eine Gegenoffensive nicht zu denken. Als Mitte September 1918 Franzosen, Serben und Griechen ihre große Offensive starteten, kam ihnen nach zwei Tagen der Gegner abhanden. Die bulgarischen Soldaten desertierten nicht nur, sondern schlossen sich – je ferner der 424

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Front, desto besser – zu marodierenden Banden zusammen, die auf die staatlichen Institutionen pfiffen. Am 29. September erkannte Bulgarien mit der Unterzeichnung des Waffenstillstands von Thessaloniki als erste Mittelmacht seine Niederlage an.27 Damit war Venizelos’ bislang stärkster Widersacher in Makedonien und Thrakien (das heißt in Rumelien) aus dem Spiel. Nun richtete sich das griechische Augenmerk auf Anatolien – das Osmanische Reich war in noch schlechterer Verfassung als Bulgarien. Und der Premierminister hatte schon 1915 bekundet, er träume von der Errichtung eines großen und mächtigen Griechenland, nicht durch Unterwerfung, sondern als natürliche Rückkehr zu den Grenzen, in denen sich der Hellenismus seit prähistorischen Zeiten entwickelte.28 Der Untergang der Regionalmacht, die das Osmanische Reich bis zum Herbst 1918 trotz allem darstellte, schuf vermeintlich ideale Bedingungen für diese „natürliche Rückkehr“ zu den uralten Grenzen. In der am 30. Oktober in Moudros unterzeichneten Waffenstillstandsvereinbarung – in Wirklichkeit eigentlich eine Kapitulation – akzeptierte Istanbul das Recht der Alliierten, Besatzungstruppen auf dem Territorium des nur noch theoretisch existierenden Imperiums zu stationieren. Die Franzosen rückten am 12. November in der Hauptstadt ein. Außerdem landeten französische Truppen auf dem Gebiet des heutigen Syrien, das im Sykes-Picot-Abkommen von 1916 zur französischen Einflusszone erklärt worden war; kleinere Einheiten besetzten einige Häfen in Nordanatolien. Die Briten trafen einen Tag nach den Franzosen in Istanbul ein, die Italiener drei Monate später, als schon die Pariser Friedenskonferenz tagte. Das Osmanische Reich hörte auf zu existieren. Zum ersten Mal seit 1453 wurde seine Hauptstadt von fremden Truppen eingenommen, dazu noch kampflos. Die Briten brachten die als Kriegsverbrecher angeklagten türkischen Offiziere in eigene Gefängnisse auf Malta. Die einstige Großmacht wurde behandelt wie eine Kolonie. In der türkischen Bevölkerung griff das Gefühl der Demütigung, der Scham und des Hasses auf die unfähige politische Klasse um sich. In Anatolien entstanden diverse Widerstandsgruppen, von der Armee, die in Teilen dem Sultan und den Istanbuler Eliten den Gehorsam verweigerte, über konspirative Netzwerke bis hin zu Partisanentrupps, die sowohl gegen die Reste der alten Ordnung als auch gegen die Besatzer kämpften. Venizelos begriff entweder die anatolische Entwicklung nicht oder er unterschätzte sie. In Paris stellte er zum wiederholten Mal seinen Plan einer Auftei425

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lung Anatoliens vor. Er umfasste die griechische Herrschaft über die Westküste, eine große entmilitarisierte Zone im Norden und Nordwesten des Landes (einschließlich Istanbuls), die Abtrennung der von Armeniern bewohnten Gebiete und nicht näher bestimmte Rechte für die Kurden. Das alles bot Stoff für hochkomplizierte Verhandlungen: Wer in Paris hatte je von den Kurden gehört? Die Armenier kannte man immerhin als Händlervolk. Im Hintergrund der Pariser Gespräche lauerte ein Rebell, der vorerst im Dienst des Sultans blieb: Mustafa Kemal Pascha, der legendäre Sieger in der Schlacht von Gallipoli 1915, dem diese Friedensbedingungen enormen Zulauf verschafften. Am 15. Mai 1919 landeten die ersten griechischen Einheiten in Smyrna. Ohne große Mühen besetzten sie ein großes Gebiet an der anatolischen Westküste. Der am 10. August 1920 geschlossene Vertrag von Sèvres gab den Griechen alles, was sie wollten: die europäischen Besitzungen der Türkei und weite Gebiete östlich von Smyrna, in denen nach einer Übergangszeit von fünf Jahren ein Referendum über die staatliche Zugehörigkeit durchgeführt werden sollte. Die Griechen waren gut ausgebildet und ausgerüstet. Ein Jahr lang gingen sie aus allen Gefechten mit den Türken siegreich hervor. Sie drangen bis zur Südküste des Marmarameers vor; 1922 waren sie nur noch 70 Kilometer von Ankara entfernt, damals noch eine Provinzstadt, die Mustafa Kemal zwei Jahre später zum Sitz der neuen – nun türkischen, nicht mehr osmanischen – Nationalversammlung erklärte. „In Bursa schnorrten sich die griechischen Truppen ihr Essen zusammen, zechten und jagten noch eine Moschee in die Luft“, schreibt 80 Jahre später Jeffrey Eugenides in seinem Roman Middlesex, dessen Handlung 1922 in Kleinasien einsetzt.29 In der anatolischen Hochebene verlor die Megali Idea ihre magische Wirkung. Die ganze Versorgung des 200 000-köpfigen Expeditionskorps hing an einer einzigen Bahnlinie. Seit zwei Jahren führten die griechischen Truppen auf fremdem, türkischem Boden de facto einen Kolonialkrieg gegen eine allmählich erstarkende nationale Befreiungsarmee, deren Motivation unvergleichbar existenzieller war: Die Türkei hatte in Sèvres bis auf Anatolien alles verloren und war deshalb bereit, bis zum Letzten um ihr Kernland zu kämpfen. Mit der Schlacht von Dumlupınar wendete sich im August 1922 das Schicksal. Die schlecht geführte griechische Armee – die diese Schlacht nicht hätte verlieren müssen – verlor zahlreiche Soldaten (50.ooo Tote, Verwundete und Gefangene), die gesamte Artillerie und Munition, Flugzeuge und Lastwagen. In der Türkei wird der 30. August bis heute als Zafer Bayramı (Tag des Sieges) gefeiert. 426

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Die Reste des Expeditionskorps wichen in Panik zurück. Unterwegs raubten und brandschatzten die Griechen, was ihnen in die Quere kam. Es ist kaum vorstellbar, dass viele Soldaten aus der vordersten Frontlinie darunter waren. Dumlupınar liegt 250 Kilometer von Smyrna entfernt – diese Strecke ließ sich nicht innerhalb einer Woche bewältigen. Am 8. September bestiegen die übrig gebliebenen Soldaten in Smyrna griechische Schiffe und verließen das Land. Tags darauf marschierten die siegreichen türkischen Truppen in die Stadt ein. Gâvur Izmir (das treulose Smyrna) war eine schmackhafte Beute – nur Istanbul war größer und reicher. Das ebenso attraktive, fast 3000 Jahre jüngere Odessa befand sich seit zwei Jahren in der Hand der Bolschewiki und hatte bereits seine griechischen Bewohner und das Kolorit einer multiethnischen Hafenstadt verloren. Im mit Smyrna vergleichbaren Thessaloniki war bei einem Großbrand im August 1917 insgesamt ein Drittel der Stadt, das ganze jüdisch-christliche Zentrum, in Flammen aufgegangen. Vor diesem Hintergrund konnte das kosmopolitische Smyrna selbst im achten Kriegsjahr noch immer als Paradies gelten. Mindestens die Hälfte der Bevölkerung von Smyrna – Griechen (von hier lebten sicher mehr als in Athen), Armenier und die sogenannten Levantiner – waren Christen. Bislang war ihnen kein Leid widerfahren, nicht einmal während des Massakers an den Armeniern 1915. In den Tagen vor dem Abzug der griechischen Truppen waren vermutlich 150 000 Griechen in die Stadt geflohen, in der nun 400 000 Menschen lebten. Nach den in den vergangenen Jahren im Namen der Megali Idea begangenen Verbrechen hatten sie allen Grund, die Rache der Muslime zu fürchten. Sie glaubten aber, in Smyrna seien sie wenigstens für einige Zeit sicher. Im Hafen der Stadt lagen 21 britische, französische, amerikanische und italienische Kriegsschiffe – Panzerschiffe der neuesten Generation, Kreuzer und Zerstörer. Griechen und Armenier hielten sie für Garanten von Frieden und Ordnung. Sie wussten nicht, dass alle Schiffskommandanten – unabhängig von der Flagge – denselben Befehl erhalten hatten: die eigenen Staatsbürger schützen und sich nicht in die Händel der örtlichen Wilden einmischen. Es gibt erschütternde Berichte jüngerer britischer und amerikanischer Marineoffiziere, die während der folgenden Tage begriffen, dass die Türken den Griechen und Armeniern überlegen waren. Für die Eroberer waren die alliierten Panzerschiffe und Kreuzer – immerhin das größte Geschwader, das bis dahin im Mittelmeer gesehen worden war und das die muslimischen Viertel binnen weniger Stunden in Schutt und Asche hätte legen können – bloße Kulisse, die nicht der Beachtung wert war. Ernest 427

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Hemingway las die Berichte und verarbeitete sie in seiner Kurzgeschichte Auf dem Quai in Smyrna (1930). Am 13. September brachen die ersten Brände aus. Jeffrey Eugenides liefert eine bessere Beschreibung dieses Abends als die Offiziere der alliierten Flotte: Im ganzen armenischen Viertel erblühen Feuer. Wie Millionen Glühwürmchen fliegen Funken durch die dunkle Stadt, besamen jede Stelle, an der sie landen, mit einem Feuerkeim. […] Und diese Feuer sind von einer widernatürlichen Hartnäckigkeit. Sobald die Feuerwehr einen Brand löscht, lodert anderswo ein anderer auf. Sie brechen in Heuwagen und Abfalleimern aus, sie folgen Kerosinfährten auf der Straßenmitte, sie biegen um Ecken, sie gehen durch eingetretene Türen. […] jedes Haus setzt seinen Nachbarn in Brand, bis ganze Häuserblocks brennen. Über die Stadt weht der Geruch von brennenden Gegenständen, die eigentlich nicht brennen sollten: Schuhcreme, Rattengift, Zahnpasta, Klaviersaiten, Bruchbändern, Gymnastikkeulen. Und Haut und Haaren. Für Eugenides steht außer Frage, dass die „Kerosinfährten“, auf denen sich das Feuer durch die armenischen und griechischen Viertel fraß (die Juden waren ausnahmsweise nicht betroffen), von türkischen Soldaten gelegt wurden. Auch die Historiker sind sich darin einig, dass die Türken grausame Rache für die vergangenen drei Jahre übten. Sie mordeten, legten Feuer, vergewaltigten und raubten. Bis heute fällt es ihnen schwer, diese Geschichte zu erzählen, denn in diesen Tagen hielt sich Mustafa Kemal persönlich in Smyrna auf. War er wirklich gegen das Massaker? Ungeklärt bleibt auch, ob nun 10 000 oder 100 000 Griechen und Armenier umkamen oder ob 50 000 oder 200 000 Menschen die Flucht aus der brennenden Stadt gelang. Im Hafen spielten sich dramatische Szenen ab: Die 21 stolzen Kriegsschiffe der Alliierten nahmen nur Staatsbürger ihrer Länder an Bord. Die Christen ertranken wortwörtlich vor den Augen der jungen Gentlemen, die ob der außergewöhnlichen Situation in einiger Verlegenheit waren. Über diese Scham schreiben Hemingway und Eugenides. Über etwas anderes schreiben sie nicht. Am 11. September 1922 zettelte Oberst Nikolaos Plastiras, ein verdienter Frontoffizier, eine Revolte gegen König Konstantin I. an. Man suchte einen Sündenbock – nicht nur für die Auslöschung des Expeditionskorps, sondern auch für das Scheitern der Megali Idea, mit dem just die 3000-jährige griechische Präsenz in Kleinasien geendet hatte. Der eigentlich Verantwortliche – Venizelos – hatte die Parlamentswah428

Die Pariser Konferenz und der Vertrag von Versailles

len 1920 verloren und das Land verlassen. Deshalb wendete sich Plastiras gegen den König und zwang den unglücklichen Monarchen rasch zur zweiten Abdankung nach 1917. Diesmal war sie endgültig. Aus Sicht der Menschen auf dem Quai in Smyrna hatte der Putsch keinen ironischen Beigeschmack, er war Teil ihrer Tragödie. Die Marine unterstützte Plastiras. Die Griechen im Königreich hatten andere Sorgen als die Rettung ihrer Landsleute an der keineswegs fernen Westküste Anatoliens. Die ersten griechischen Rettungsschiffe legten am 24. September in Smyrna an. Für die totale Niederlage, die Schande und den Tod von mindestens einigen Zehntausend Landsleuten wurden in Griechenland sechs eher zufällig ausgewählte Personen zur Verantwortung gezogen, darunter der Premierminister der Jahre 1921–22, sein Nachfolger und zwei Generäle. Die Junta klagte sie des Staatsverrats an. Der Prozess vor einem außerordentlichen Militärtribunal dauerte knapp zwei Wochen. Im November 1922 wurden beide Premierminister, ein weiterer Politiker und der letzte Oberkommandierende des Anatolien-Feldzugs zum Tod verurteilt, der Bruder des Königs zur Verbannung, ein weiterer General zu lebenslanger Haft. Die Todesurteile wurden umgehend vollstreckt. Die mehr als eine Million Griechen, die in den darauffolgenden Monaten ihre Heimatorte in Kleinasien verlassen mussten, empfanden sicher keine große Genugtuung über die Erschießung einiger ihnen kaum bekannter Personen. Noch weniger interessierte das Athener Justizverbrechen die mehreren Hunderttausend Muslime, die aus dem Westen und Norden des einstigen Imperiums nach Anatolien übersiedeln mussten. Grund zur Freude hatte eigentlich nur Eleftherios Venizelos – die Hingerichteten gehörten zu den politischen Gegnern des Expremierministers. Er selbst genoss weiter den Ruf eines Staats­ ­manns.

Auf Drängen Großbritanniens beschloss man in Lausanne einen Bevölkerungsaustausch, das heißt die nachträgliche Legalisierung der massenhaften Vertreibung von Griechen aus Kleinasien (rund 1,25 Millionen) und Muslimen aus Griechenland (rund 500 000).30 Dieser Beschluss hatte unerwartete Auswirkungen. Nachdem die meisten Griechen aus Anatolien verschwunden waren, sah Atatürk keinen Sinn in einer Fortsetzung des Konflikts. Schon 1930 – gerade einmal acht Jahre nach dem Brand von Smyrna(!) – schlossen die Türkei und Griechenland einen Freundschaftsvertrag. Die Flüchtlinge und Vertriebenen wurden in keinem der beiden Länder integriert. In Griechenland bildeten sie mindestens bis in 429

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die 1940er Jahre eine eigene Gruppe – mit katastrophalen Folgen für die Geschichte des Landes. Zwei weitere Aspekte der Pariser Friedensverhandlungen seien noch kurz erwähnt. Erstens stellten die „kleinen“ oder „jungen“ Staaten Territorialforderungen an die Großmächte, die in keinem Zusammenhang mit den ethnischen Verhältnissen standen. Der Ministerpräsident Italiens – theoretisch einer Großmacht – berief sich auf den Londoner Vertrag von 1915, in dem Frankreich und Großbritannien den Italienern Gebietsgewinne auf der östlichen Seite der Adria zugesichert hatten. Jetzt wollte Rom noch mehr. Rumänien erinnerte an den Vertrag von Bukarest aus dem Jahr 1916, der dem Land als Gegenleistung für den Kriegseintritt das ungarische Siebenbürgen und das Banat sowie die österreichische Bukowina versprach. Wilson wollte nichts von den Geheimabkommen aus der Zeit des Weltkriegs wissen, die nach der Revolution durch die Bolschewiki öffentlich gemacht worden waren. Die USA fühlten sich nicht daran gebunden, sie waren nicht in den Krieg eingetreten, um die ebenso alten wie schändlichen Praktiken der Großmachtdiplomatie fortzuführen. Zweitens war die Gründung des Völkerbundes als Organisation zur Sicherung des Friedens, die alle zivilisierten Völker vereinte, deren Führungsgremium aber von den Großmächten dominiert wurde, nicht sonderlich umstritten. Der zu diesem Zweck eingesetzte Ausschuss erledigte seine Aufgabe schnell. Schon im Februar lag ein im Grunde fertiger Satzungsentwurf vor, der Ende April von der Vollversammlung der Friedenskonferenz angenommen wurde. Obwohl die Europäer um teils grundsätzliche Fragen stritten – etwa das Recht des Völkerbundes zu direkten Interventionen oder das Prinzip der Einstimmigkeit –, waren sich alle Beteiligten grundsätzlich einig, dass eine internationale Organisation als oberste Instanz der neuen, wilsonschen Weltordnung sinnvoll sei. Frankreich wollte den Völkerbund mit möglichst weitreichenden Kompetenzen ausstatten, die Briten bevorzugten eher eine bescheidenere Variante. Unumstritten war auch, dass Deutschland und Russland nicht zum Kreis der Gründungsnationen gehörten und vorerst aus dem Völkerbund ausgeschlossen blieben. Allerdings formierte sich in den Vereinigten Staaten der Widerstand gegen die bloße Idee einer internationalen Organisation. Als Wilson im März die Heimat besuchte, bekräftigten die Republikaner im US-Kongress ihre ­ablehnende Haltung zu den Vorstellungen des demokratischen Präsidenten. Kaum jemand rechnete allerdings zu diesem Zeitpunkt damit, dass sie in der Lage seien, eine Rückkehr zum Isolationismus durchzusetzen und damit die Handlungsfähig­keit des Völkerbunds von Anfang an stark zu beschneiden. 430

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Die kleineren Staaten standen der Idee des Völkerbundes grundsätzlich positiv gegenüber. Für die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Polen und Rumänien bedeutete sie eine internationale Garantie ihrer Existenz und ihres Besitzstandes. Der Preis war der Verlust von Teilen der eigenen Souveränität: Der Völkerbund sollte in Konfliktfällen die Schuldfrage klären und über Klagen nationaler Minderheiten gegen das Titularvolk befinden. Dieser letzte Punkt stand bis Mai 1919 im Schatten anderer Fragen. Im Juni wurde er plötzlich virulent, darauf kommen wir später zurück.

Das Gespenst des Kommunismus – ­ das Odessa-Krim-­Experiment Am 1. Mai 1919 lösten Polizei und Armee im Zentrum von Paris gewaltsam eine illegale Arbeiterdemonstration auf. Der scharfsinnige Amerikaner Charles Seymour wunderte sich sehr über das brutale Vorgehen der Polizei. Zum Anblick der Massen mit roten Fahnen notierte er: „Das hätte auch Petrograd [im Jahr 1917] oder die Revolution von 1848 sein können, die nicht weit von hier und auf ganz ähnliche Weise begann.“31 Die Teilnehmer der Friedenskonferenz hatten oft ähnliche Assoziationen. Sollte eine Folge des Kriegs die Revolution sein, eine ganze Serie von nationalen und kommunistischen Revolutionen, die die europäische Landkarte unwiderruflich änderten? Der Bolschewismus ergoss sich weit über die Grenzen Russlands hinaus. In der Ukraine erwies er sich stärker als alle nationalen Bewegungen. Die finnische kommunistische Partei war schon im August 1918 in Moskau gegründet worden, die österreichische in den letzten Kriegstagen Anfang November 1918, die ungarische rund zwei Wochen später, die Kommunistische Arbeiterpartei ­Polens (die Jahre später in Kommunistische Partei Polens umbenannt wurde) im Dezember und die deutsche an der Jahreswende 1918/19. In den ersten M ­ ärztagen 1919 gründeten in Moskau die Vertreter von 29 kommunistischen – das heißt revolutionären – Parteien und Bewegungen die Dritte Internationale, die sich als Gegenkraft zur (sozialistischen) Zweiten Internationalen verstand, die einen Monat zuvor erstmals nach der Katastrophe von 1914 in Berlin zusammen­gekommen war. Zunächst machte dieser Zusammenschluss keinen ernst zu ­nehmenden Eindruck. In vielen Ländern wirkten die in Moskau versammelten kommunistischen „Parteien“ und „Bewegungen“ neben den mächtigen, in sozia­listi­schen und sozialdemokratischen Parteien und „roten“ Gewerkschaften organisierten Arbeiter­ bewegungen wie sektiererische Randgruppen. 431

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Trotzdem betrachteten zahlreiche Teilnehmer der Pariser Friedenskonferenz den Kommunismus als ähnlich große Herausforderung wie den Hunger oder regionale bewaffnete Konflikte. Am 12. und 13. Januar ließ die deutsche Regierung in Berlin den protokommunistischen Spartakusaufstand niederschlagen. Bei dieser Gelegenheit ermordeten Freikorpsoffiziere mit Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zwei emblematische Figuren der – nicht nur deutschen – radikalen Linken. Am 21. Februar fiel Kurt Eisner, der linkssozialistische Ministerpräsident des Freistaats Bayern, kurz vor Bekanntgabe seines Rücktritts einem Attentat zum Opfer. Am 21. März rief Béla Kun in Budapest die Ungarische Räterepublik aus. Am 7. April verkündete die radikale Linke in München die Errichtung der Bayerischen Räte­republik. Armee und Polizei hielten jedoch der Regierung die Treue und setzte am 2. Mai dem revolutionären Spuk mit der Besetzung Münchens ein Ende. Überall – darüber schreiben wir ausführlicher in den Kapiteln zu Finnland und Ungarn – arbeitete die radikale Linke von Anfang an mit Mitteln des („roten“) Terrors; echte und vermeintliche Gegner wurden inhaftiert, oft auch ermordet. Und überall forderte der Terror der siegreichen Weißen unter echten und vermeintlichen Kommunisten sowie ihren Sympathisanten noch zahlreichere Opfer. Die Nachrichten von den Morden, Unruhen, bewaffneten Kämpfen und Exekutionen drangen rasch nach Paris durch. Berlin, München und Budapest waren nicht Charkiw oder Pensa. Man fühlte sich diesen Städten nicht nur kulturell verbunden – umso mehr, je klarer man den Hass der Pariser Polizisten auf die einhei­ mischen „Roten“ erkannte. Das alles geschah wirklich und es geschah im Herzen des neu gestalteten Europas. In Paris kursierten auch Gerüchte über revolutionäre Stimmungen in anderen Metropolen. Oft war in diesem Zusammenhang von Wien die Rede. Nach dem Ausbruch der ungarischen Revolution reagierten die Alliierten verblüffend schnell und hoben die Nahrungsmittelblockade für Österreich auf. Diese einfache Maßnahme brachte den gewünschten Erfolg. Vorerst jedoch, mindestens von Januar bis Mai, schwebte das Gespenst der Revolution über Deutschland, Österreich und Ungarn. Eine Machtübernahme der Kommunisten in Mitteleuropa hätte sie zu direkten Nachbarn der westlichen Staaten gemacht. Deshalb wurde plötzlich Polen und Rumänien große Wertschätzung zuteil, die im Verlauf der Friedenskonferenz zu Stützpfeilern der mitteleuropäischen Ordnung wurden. Die Überlegung des Westens lautete: Wenn sie dem Angriff „Bolschewiens“ standhielten, dann bliebe der Kommunismus eine postrussische Erscheinung, die durch einen Cordon sanitaire vom Westen getrennt wäre, dessen tragende Säulen nur Warschau und Bukarest sein konnten. 432

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Den Damm gegen den gen Westen andrängenden Bolschewismus bilden Polen im Norden und Rumänien im Süden. Diese beiden Staaten sind der Schutzwall, an dem sich bisher die Wellen des Bolschewismus zerschlagen,32 die aus Russland, der Ukraine, Ungarn und Deutschland anbrandeten. Die anscheinend größenwahnsinnige Ansicht eines polnischen Diplomaten war allerdings keine ausschließliche Projektion seines Wunschdenkens. Aus dem Nichts des Frühjahrs 1918, als Polen überhaupt nicht existierte und Rumänien gerade zum wehrlosen Vasallen Deutschland wurde, waren Warschau und Budapest binnen eines Jahres zu wichtigen Faktoren der entstehenden europäischen Nachkriegsordnung aufgestiegen. Zu verdanken hatten sie dies in gewisser Weise dem Bolschewismus. Als alternative Maßnahme gegen den Vormarsch des Kommunismus erwogen die Alliierten ein direktes militärisches Eingreifen in Russland und der Ukraine. Ende 1918 waren zwischen Wladiwostok, Murmansk (damals Murman genannt) und dem Kaukasus insgesamt 150 000, nach manchen Schätzungen sogar 180 000 alliierte Soldaten stationiert. An Material und Gerät mangelte es nicht, man begann gerade erst mit der Demobilisierung der millionenstarken Armeen. Gegen eine Intervention sprachen allerdings die noch frischen Erfahrungen der Deutschen, denen es nach der Besetzung der Ukraine im März 1918 nicht gelungen war, die lokalen Kriege zwischen Grünen, Roten und Weißen zu beenden. Sie hatten sich auf die Kontrolle der Bahnlinien und der größeren Städte beschränken müssen und waren, ohne Aussicht auf einen entscheidenden Sieg, immer wieder in blutige Kämpfe verwickelt worden. Das Hauptargument gegen einen Feldzug im Osten war aber die Stimmung der Bevölkerung und der Soldaten in den alliierten Staaten. Ganz abgesehen von den Sympathien für die russische Revolution – die weit über die in Entstehung befindlichen kommunistischen Parteien hinaus verbreitet waren –, hatten die Menschen einfach genug vom Krieg. Und kaum jemand glaubte, dass sich die endlosen ukrainischen und russischen Weiten beherrschen ließen. Lloyd George und Wilson hatten nicht vor, ihre politische Position für derart ungewisse Pläne aufs Spiel zu setzen. Trotzdem bereiteten die französischen Militärs eine Intervention vor. Zum Versuchsgelände wurden die Krim und Odessa. Die zentrale Aufgabe bestand darin, eine Unterstützungsbasis für die Weißen zu schaffen. In anderen Varianten war von einer groß angelegten französisch-rumänisch-griechischen Offensive in der Ukraine die Rede. Der Auftrag erwies sich als unausführbar. Als am 17. Dezember 1918 die ersten Einheiten der französi433

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schen Donauarmee in Odessa eintrafen, bestätigten sich die düstersten Prognosen: Es mangelte an Koordination, Verbündeten und Motivation. Viele Soldaten sympathisierten offen mit dem Gegner, das heißt mit den Bolschewiki. Das Kommando der Operation lag in den Händen zweier französischer Generäle: Henri Berthelot war hauptsächlich mit rumänischen Angelegenheiten befasst und residierte in Bukarest. An der Krimfront zeigte er sich während der dreimonatigen Dauer der Operation zweimal für wenige Tage. Sein Stab hatte enorme Probleme in der Kommunikation sowohl mit Paris als auch mit dem zweiten Befehlshaber, Louis Franchet d’Espérey, der wiederum in Istanbul residierte. Er kam nur einmal persönlich nach Odessa, war aber für die Logistik des Krimfeldzugs und die Koordination aller Operationen im Dreieck Bukarest–Odessa–Istanbul verantwortlich. Beide Generäle waren einander in herzlicher Abneigung verbunden. Franchet d’Espérey hielt Berthelot für einen intelligenten Weichling, Berthelot bezichtigte seinen Kollegen des Größenwahns („er spielt Napoleon“). Nicht ohne Grund: Franchet d’Espérey mochte große Auftritte und seine Ankunft in Istanbul einen Monat zuvor war zu einem Triumphzug durch die begeisterten Massen der dort lebenden Griechen und Armenier geworden. Vor allem aber hielt Berthelot ihn für einen ungebildeten Grobian. In der Einschätzung der Lage waren sie sich jedoch einig. Franchet d’Espérey bezeichnete im privaten Gespräch die Organisation der Operation als absurden Einfall des französischen Generalstabs, der von Auslandsangelegenheiten keine Ahnung habe. Berthelot hielt – natürlich ebenfalls privat – die Idee einer Einigung der russischen Weißen, die aus Krieg und Revolution offensichtlich nichts gelernt hatten, für utopisch. Nach einem viertägigen Aufenthalt in Odessa klagte er im Februar 1920: Was für eine Rasse. Stolz, wie es nur Menschen sein können, die den ganzen Tag den eigenen Nabel betrachten. Sie denken an nichts anderes, als daran, dass wir ihre Arbeit erledigen werden. Sie werden es sich gut gehen lassen, während wir für sie die Kastanien aus dem Feuer holen. Ich habe diesen Ort mit Freude verlassen und ich würde nur ungern zurückkehren […].33 Paris wusste tatsächlich nicht, worauf es sich einließ. Die Bolschewiki machten der Ukrainischen Volksrepublik im Februar gleichsam en passant den Garaus. Es genügten 6000 Soldaten, deren Kommandeur nicht einmal persönlich an der Einnahme Kiews teilnahm, weil ihm schon auf dem Weg nach Charkiw eingefallen war, dass er Wichtigeres zu tun hatte. Große Teile des Expeditionskorps und der Bevölkerung der Krim – Griechen, Armenier, Russen, Ukrainer, Tataren und 434

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Juden – sympathisierten mit den Bolschewiki. Die Ethnisierung des Konflikts blühte, niemand wollte für eine ukrainische Republik sterben. Die weißen Russen sprachen den Ukrainern das Recht auf Souveränität ab, die Armenier erinnerten sich daran, wie es ihren Landsleuten im Osmanischen Reich ergangen war, die Griechen wussten, dass die anderen ihnen die Präsenz griechischer Einheiten im Expeditionskorps nicht verzeihen würden, und die Juden hatten gute Gründe, sich vor allen zu fürchten. Die einheimischen Bauern und Arbeiter waren über alle ethnischen Grenzen hinweg im Hass auf die Weißen vereint. Der polnische Schriftsteller Stefan Żeromski beschreibt diese explosive Gemengelage in seinem Roman Vorfrühling am Beispiel des revolutionären Baku. Das von ihm gezeichnete Bild einer Stadt, in der alle gegen alle kämpfen, vergisst der Leser nicht so bald. Auch die österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen, die das Schicksal in die aserbaidschanische Hauptstadt verschlagen hatte, erinnerten sich nach Jahren noch lebhaft daran. Einer von ihnen, František Perna, notierte im Frühjahr 1918: Die Türken kamen – wir hatten uns eigentlich schon an sie gewöhnt. Wir saßen in unserem Lazarett und nährten unsere Neugier auf Nachrichten von Ankömmlingen aus der Stadt. Berichte von Plünderungen brachten uns nicht mehr aus dem Gleichgewicht. Türken und einheimische Tataren gingen durch die Häuser und suchten nach Armeniern. Die Männer erschossen sie, die Frauen trieben sie in die Stadt. Die Tataren aus Baku wussten genau, wo die Armenier zu finden waren und wo sie ihre Läden hatten … Sie verschonten nicht einmal die Alten. Die hübscheren Frauen und Mädchen trieben sie ­hinauf in ihr Lager … Die alten hielten sie mitsamt den Kindern in der Stadt fest. In manchen armenischen Häusern blieben die Kinder allein zurück. Ihre Väter waren erschossen worden und, als man ihre Mütter verschleppte, fürchteten sich die Kinder, ihnen zu folgen. „Sie werden mich doch töten“, weinte ein Kind, als es sich vor Furcht von der Mutter losriss. Auf dem Peter-Platz stapeln sich die Leichen und überall liegen tote Armenier in den Straßen. Die Berichte über die Exekutionen klingen mitunter unglaubwürdig. Angeb­lich binden sie Frauen an einen Pfahl und schneiden ihnen mit dem Kindschal den Kopf ab …34 Wie Baku bot auch Odessa im fünften Kriegsjahr ein Bild des Elends und der Verzweiflung. Vor dem Krieg hatte die Stadt eine halbe Million Einwohner, nun drängten sich zusätzlich Hunderttausende in den Schlangen vor den Suppenküchen und Nachtasylen, die meisten von ihnen mittellose Flüchtlinge. Die franzö435

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sischen Soldaten, zum großen Teil Afrikaner, sahen unabhängig von ihrer Einstellung zum Kommunismus keinen Sinn in der Fortsetzung des Kriegs. Manche von ihnen rebellierten offen, andere sabotierten stillschweigend die Ausführung von Befehlen. Wie ein französischer Offizier notierte, wussten die Soldaten nicht, warum sie in einem Land kämpfen sollten, mit dem sich Frankreich nicht im Krieg befand. Ein anderer Offizier pflichtete ihm bei: Die Soldaten wollten nicht deshalb nicht gegen die Bolschewiki kämpfen, weil sie auf deren Seite seien, sondern, weil sie diesen Kampf schlicht für eine Dummheit hielten. Sie alle lebten im Schatten der Bedrohung durch die Spanische Grippe, die sie weit mehr fürchteten als Offiziere oder Bolschewiki. Ein anderes Problem war die multinationale Zusammensetzung der alliierten Truppen. Die Franzosen hatten einige Divisionen entsenden wollten, doch am Schwarzen Meer trafen lediglich 15 000 Soldaten ein. Die Griechen schickten nur 23 000 statt der vorgesehenen 42 000 Soldaten, weil ihnen Schiffe für den Transport fehlten. Anstelle der versprochenen rumänischen Divisionen kam mehr oder weniger ein Regiment (2500 Soldaten). Den Rest der 70 000 Soldaten stellten hauptsächlich polnische (rund 3000) und russische „weiße“ Freiwillige. Für die Griechen war es die erste Marineoperation seit der Wiedererlangung der ­Unabhängigkeit. Eleftherios Venizelos, der ansonsten in Paris als konsequenter Anhänger der Alliierten auftrat, war nicht sonderlich begeistert von der Idee, griechische Truppen nach Odessa zu schicken, die er an der Nordgrenze und in Kleinasien brauchte. Doch Clemenceau wusste, dass der griechische Premierminister zur Realisierung der Megali Idea die Hilfe der Alliierten brauchte. Also stellte er Venizelos vor die Wahl: „Wenn ihr Griechen uns im Stich lasst, lasse ich euch im Stich.“35 Das reichte dann auch aus. Während der Kämpfe im Süden der Ukraine merkten die griechischen Offiziere rasch, dass sie von den Franzosen nicht als Verbündete, sondern als Befehlsempfänger betrachtet wurden – obwohl es gerade in den französischen Einheiten immer wieder zu Revolten und Desertionen kam und sich die Logistik der von Frankreich geleiteten Operation als katastrophal erwies: „In Russland traf keine Armee ein, sondern viele Soldaten“, denen es an allem fehlte. In den selten stattfindenden Gefechten mit angreifenden bolschewistischen Truppen zog das Expeditionskorps meist den Kürzeren. Nach dem Verlust von Mikolajiw und Cherson in der Mitte des Monats März wurde allen Beteiligten klar, dass es aussichtslos war, mit zu schwachen, demotivierten ausländischen Kräften auf einem fremden Territorium zu kämpfen, dessen Bevölkerung entweder gleichgültig war oder den Gegner unterstützte. Die Hoffnung, dass in diesem quasikolonialen Krieg die Weißen zum Bindeglied zwischen 436

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Expeditionskorps und Einheimischen werden könnten, hatte man schon sehr viel früher begraben. Am 24. März beschlossen die Pariser Politiker den Abbruch der Odessa-­KrimOperation. Die Evakuierung der alliierten Einheiten dauerte bis Mitte April, in Sewastopol sogar bis zum 28. April. Mit ihnen verließen mindestens 12 000 dort ansässige Griechen die Krim und Odessa – eine weitere Gruppe von Menschen, die durch Krieg, Revolution und Bürgerkrieg entwurzelt wurden. Parallel zur Operation auf der Krim gab es einige andere bewaffnete Konflikte, die mit „Bolschewien“ nichts zu tun hatten. Wir haben ausführlich darüber geschrieben, doch es ist durchaus lohnend, sich noch einmal vor Augen zu führen, wie rasant sich an allen Fronten die Lage änderte. Im seit November 1918 tobenden Polnisch-Ukrainischen Krieg in Ostgalizien gewannen die Polen sukzessive die Initiative zurück. Am 4. März schlug die Polizei in Böhmen und Mähren deutsche Demonstrationen nieder, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker auch auf dem Gebiet der Wenzelskrone einforderten. Dabei starben 58 Demonstranten, 84 wurden verletzt. Es ging um ein tatsächlich westliches Europa. Deutsche und österreichische Zeitungen waren voll von schockierenden Berichten über das grausame Vorgehen der tschechischen Polizei. Am 21. März rief – wie schon erwähnt – die neue Regierung in Budapest die Ungarische Räterepublik aus. Die ungarische Armee marschierte in die Slowakei ein, wo sie innerhalb weniger Tage die dort stationierten tschechoslowakischen Einheiten zerschlug und bis zur Tatra vordrang. Eine gehörige Mitverantwortung trugen auch in diesem Fall die kommandierenden französischen und italienischen Offiziere, die sich um Vorrang und Prestige stritten, statt ihre Aufgaben zu erfüllen. Am 16. April unternahmen deutsche Söldner (Baltische Landeswehr und Eiserne Division) – die bisher gemeinsam mit Esten und Letten gegen die Bolschewiki gekämpft hatten – in Liepāja einen Putschversuch. Ziel war die Wiederherstellung der deutschen Hegemonie in Lettland. Auf den Bajonetten der Söldner entstand eine Marionettenregierung, die von Teilen der einheimischen Deutschen unterstützt wurde. Das Kabinett von Kārlis Ulmanis flüchtete sich auf ein Schiff, das von einem britischen Geschwader geschützt wurde. Am selben Tag griff Rumänien Ungarn an. Am 19. April besetzten polnische Truppen Wilna. In Russland lief die Offensive der Weißen. Die Truppen von Admiral Alexander Koltschak eroberten Kasan. Die tschechoslowakischen Legionen kontrollierten die Transsibirische Eisenbahn. Odessa war nur eine Episode auf der Landkarte der Konflikte, die sich, wie der bereits zitierte polnische Diplomat notierte, „vom Rhein bis nach Asien“ erstreckten.36 437

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Intermarium oder Die Neuvermessung der Landkarte ­zwischen Ostsee und Adria Osteuropa nahm in Paris viel Zeit in Anspruch. Die Großmächte und die Vertreter der betroffenen Staaten konzentrierten sich nämlich auf die Frage der künftigen Grenzen, deren Lösung – wie oben beschrieben – einer Quadratur des Kreises gleichkam. In diesem Zusammenhang muss an eines erinnert werden. Wir vereinfachen die Lage, wenn wir vom Standpunkt eines Staates in einer bestimmten Frage sprechen. In jedem Land und in jeder Pariser Delegation existierten unterschiedliche, teils widersprüchliche Auffassungen hinsichtlich der jeweils besten Lösung für ein Problem. Sie konnten aus unterschiedlichen Weltanschauungen resultieren – der Zugehörigkeit zu unterschiedlichen politischen Parteien –, oft spielten aber emotionale Faktoren die Hauptrolle: die Erinnerung an vergangene oder aktuelle Kämpfe um die „Herrschaft über die Seelen“ im Heimatland, persön­ liche Animositäten, gegenseitige Schuldzuweisungen im Zusammenhang mit Nie­der­lagen im Weltkrieg. Den besten Eindruck machte in dieser Hinsicht die tschechoslowakische Delegation. Der nationaldemokratische, einst prorussische Ministerpräsident Karel Kramář vertrat zwar oft andere Meinungen als der prowestliche Präsident Tomáš Garrigue Masaryk und Außenminister Edvard Beneš. Doch das fiel kaum ins Gewicht, weil die Großmächte die beiden Letztgenannten als verantwortliche Gesprächspartner betrachteten und Beneš rasch zum wichtigsten Unterhändler seiner Delegation wurde. Dieses Monopol verteidigte er nicht nur gegen andere Politiker. Auch die tschechoslowakischen Experten klagten lange darüber, dass ihr Chef ihren Rat nicht hören wolle. Zu ihrer Frustration trugen auch die ungewöhnlich niedrigen Diäten bei, die sie erhielten. Die Mitglieder der Delegation logierten in ordentlichen Hotels, konnten sich aber die Mahlzeiten in den Hotelrestaurants nicht leisten. Also suchten sie in der Umgebung nach günstigeren Lokalen. Der renommierte Völkerrechtler Jan Krčmář erinnerte sich: […] niemand wollte etwas von uns, wirklich niemand. Jaroslav Kallab [ebenfalls ein Jurist] und ich baten immer wieder, man möge uns etwas zu tun geben, aber vergebens. Ein paar Tage lang wanderten wir durch Paris […], doch nach einer guten Woche […] ziellosen Umherstreunens beschlossen wir, aufzugeben und nach Prag zurückzukehren. Es bereitete uns absolut keine Freude, vom Gnadenbrot der Delegation zu leben, während zu Hause w ­ ichtige Aufgaben unerledigt blieben.37 438

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Der Ärger der Experten zählte natürlich weniger als die schlagzeilenträchtige Empörung der Politiker. Als Beneš bei einem Treffen mit den Großmächten die tschechischen Argumente darlegte, bat der weitaus weniger konziliante Kramář ums Wort. Clemenceau fertigte den Ministerpräsidenten brüsk ab: Für die tschechoslowakischen Angelegenheiten werde ein Sonderausschuss eingerichtet, dort könne der Ministerpräsident stundenlang sprechen, nun aber bitte er zu einer Tasse Tee.38 Das Gefühl der Überlegenheit über die „Kleinen“ äußerte sich vor allem in den Umgangsformen. Anders war es, wenn es um Punkte ging, die den Großmächten wichtig waren. Deshalb wurde die Tschechoslowakei ausschließlich von Tschechen vertreten, deshalb fehlte an Benešs Seite der unangefochtene slowakische Anführer Milan Rastislav Štefánik und deshalb fragte man nicht, wie viele Slowaken überhaupt mit den Tschechen in einem gemeinsamen Staat leben wollten. Und auch die Tschechen übergingen derartige Fragen großzügig. Der Kontrast zwischen Tschechen und Rumänen, deren Delegation der langjährige Ministerpräsident Ion Brătianu anführte, war verblüffend. Die Vertreter der Großmächte wussten, dass Brătianus Position nicht so stark war, wie er behauptete. Ähnliches galt für die Position seines Landes, das sich in Paris als ewiger Verbündeter der Entente präsentierte, den diese im entscheidenden Moment im Stich gelassen habe, als Rumänien im Herbst 1916 – selbst verschuldet – in eine kritische Situation geriet. Die Alliierten erinnerten sich freilich sehr gut daran, dass der „ewige Verbündete“ zuvor zwei Jahre lang mit den Mittelmächten und der Entente um möglichst vorteilhafte Bedingungen für einen Kriegseintritt auf einer der beiden Seiten gefeilscht hatte. Im Feldzug von 1916 hatte Bukarest seine Kräfte und seine Fähigkeiten überschätzt und binnen einiger Wochen eine vernichtende Niederlage erlitten. Die Regierung erkannte, dass sie Zugeständnisse machen musste. 1918 unterzeichneten die Rumänen – im Gegensatz zu Belgien und Serbien, die sich seit 1914 (Belgien) beziehungsweise 1915 (Serbien) in einer ähnlichen Situation befanden, das heißt teilweise oder ganz von den Mittelmächten besetzt waren – den demütigenden Frieden von Bukarest. Wieder setzten die Eliten – diesmal Brătianus Gegner, die diesen für die Katastrophe von 1916 verantwortlich machten – aufs falsche Pferd. Als sich abzeichnete, dass die Deutschen den Krieg doch verlieren würden, begann das Bukarester Parlament die Ratifizierung des Friedensvertrags hinauszuzögern. Als schon alles entschieden war, kehrte der „ewige Verbündete“ ins Lager der Entente zurück und erklärte am 10. November 1918, also im allerletzten Moment, Deutschland den Krieg. Brătianu sprach in Paris demnach nicht für alle Rumänen. Ein nicht geringer Teil 439

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seiner Landsleute hielt ihn für nicht geeignet, das Land zu vertreten. Hinzu kam das Temperament des Ministerpräsidenten, der für die große Diplomatie etwas zu aufbrausend war. Eines Tages wurden Brătianu und Beneš in derselben Sitzung Beschlüsse des Rates zu ihren Ländern vorgelegt. Brătianu brüllte, tobte und lehnte die Vorschläge komplett ab. Auch Beneš verhehlte seine Enttäuschung nicht, dennoch „verkündete er wie gewöhnlich mit einem Lächeln, die Tschechen würden tun was sie könnten, um zu helfen“.39 Beneš bekam in dieser Sitzung alles, worum er bat, Brătianu hingegen nichts. Das änderte gleichwohl nichts an der Tatsache, dass Rumänien letztlich zum großen Gewinner der Pariser Konferenz wurde. Die Schwierigkeiten, mit denen der rumänische Ministerpräsident in Paris und im eigenen Land kämpfen musste, waren nichts im Vergleich zu den Problemen von Nikola Pašić, dem Leiter der Delegation der Serben, Kroaten und ­Slowenen. Pašić war mit wenigen Unterbrechungen seit 1904 Ministerpräsident Serbiens gewesen, nun repräsentierte er einen neuen, multiethnischen Staat. Von der Tschechoslowakei oder Rumänien erwartete niemand, dass sie Vertreter der besiegten Nationen – das heißt ihre Mitbürger deutscher und ungarischer Nationalität – in ihre Delegationen aufnahmen. Die Slowaken wiederum waren als Volk so wenig bekannt und anerkannt, dass ihre Abwesenheit kaum jemandem auffiel. Pašić hingegen hatte keine Wahl: Seine hundertköpfige Delegation bestand nicht nur aus Serben, sondern zwangsläufig auch aus Kroaten und Slowenen. Kroatien war eines der ältesten Königreiche Europas, Slowenien nicht. Oft verwechselte man (und verwechselt) die Slowenen mit Slowaken, dennoch konnte man sie nicht übergehen. Sie repräsentierten ein nicht nur im Vergleich zur Slowakei hohes zivilisatorisches Niveau, sie verfügten über im cisleithanischen Parlamentarismus erprobte Politiker und wussten, dass das Format des am 1. Dezember 1918 proklamierten Königreiches der Serben, Kroaten und Slowenen sie auch auf internationalem Parkett unentbehrlich machte. Ähnlich wie Tschechen, Polen und Rumänen konnten die Serben mit der Unterstützung Frankreichs rechnen. Paris brauchte die Tschechoslowakei und Polen gegen Deutschland, Polen und Rumänien gegen den Bolschewismus, Rumänien, die Tschechoslowakei und Jugoslawien gegen Ungarn sowie Jugoslawien als Gegengewicht zu Italien. Pašić agierte fast ebenso geschickt wie Beneš. Probleme hatte er mit den Kroaten, die feststellten, dass die Festlegungen der Deklaration von Korfu nicht den realen Verhältnissen entsprachen. Im November 1918 verfügte nur Serbien über echte Streitkräfte, sodass die serbische Armee zur jugoslawischen wurde; auch die Verwaltung des neu entstehenden Königreichs wurde von Serben dominiert. 440

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Die in Korfu versprochene Gleichberechtigung von Serben, Kroaten und Slowenen war von Anfang an eine Fiktion, zumal Pašić mehrfach zu verstehen gab, dass die Serben die Gleicheren unter den Gleichen seien. Die Überzeugung, mit der er diesen Standpunkt vertrat, kontrastiert scharf mit den überaus vagen Antworten auf die Frage nach dem Selbstverständnis der Bewohner des jugoslawischen Staates. Der serbische Politiker sprach mal von den „drei Stämmen eines Volkes“, dann wieder von einem „Volk mit drei Namen“ oder sogar von „Stammesbrüdern“. Außen vor blieben natürlich die Makedonier, die in der amtlichen Statistik als Serben figurierten.40 Aufgrund der Einverleibung von Teilen des Westbalkans (nur Albanien behielt seine Souveränität) war das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen dreimal so groß wie Serbien 1914. Pašić hatte allen Grund sowohl zur Freude über die territorialen Zugewinne als auch zur Sorge über den nationalen Charakter des neuen Staates. Die Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit den kroatischen und slowenischen Delegierten in Paris ­nährte diese Sorge. Vor diesem Hintergrund war Polen mit Blick auf die ethnisch gemischten Grenzgebiete (im weitesten Sinn: betroffen war ein Gebiet von mindestens 200 000 km2) und die inneren Spannungen im Land durchaus ein typischer Fall. Die polnischen Vertreter – überwiegend Nationaldemokraten und Piłsudski-Anhänger – erinnerten sich noch an die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Rechten und Linken in den Jahren 1906 und 1907. Die gegenseitige Abneigung reichte mitunter bis zum Hass; in jedem Fall sprach man dem Gegner jegliche Ehre ab. Zu diesem Erbe kamen die gegensätzlichen Verhaltensweisen der Weltkriegszeit: Piłsudski und seine Legionen kämpften bis 1917 auf der Seite der Mittelmächte, Dmowski setzte in dieser Zeit auf Russland und später auf die Westmächte. Letzterer ging im Sommer 1918 davon aus, dass das von ihm und um ihn als Führungspersönlichkeit aufgebaute Polnische Nationalkomitee Polen regieren würde. Stattdessen gründeten die Sozialisten im November und Dezember 1918 in Lublin und Warschau die ersten zwei polnischen Regierungen, die von der nationaldemokratischen Presse derb und unbarmherzig kritisiert wurden. Provisorischer Staatsführer wurde Piłsudski, der wiederum wusste, dass das am Ort der Friedenskonferenz ansässige Polnische Nationalkomitee sehr viel bessere Kontakte zu den Staaten der Entente besaß als das in Warschau entstehende Außenministerium (das im Januar von Ministerstwo Spraw Zewnętrznych [Ministerium für Äußere Angelegenheiten] in Ministerstwo Spraw Zagranicznych [Ministerium für Auslandsangelegenheiten] umbenannt wurde41). In den staatlichen Institutionen und im Ausland, wo die – einander nicht selten bekriegenden – Ver441

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treter von Nationalkomitee und Regierung aktiv waren, herrschte hinsichtlich des Prozederes und des Informationsflusses ein kaum in den Griff zu bekommendes Chaos. Briefe und Schriftstücke kamen erst nach Wochen an, die Reise auf der Strecke Warschau–Paris dauerte mehrere Tage, die theoretisch chiffrierte Korrespondenz wurde von den Franzosen mitgelesen, weil das Nationalkomitee in Ermangelung eines eigenen das französische Kommunikationsnetz nutzen musste. Es mangelte an Geld, Strukturen und Erfahrungen. Politisch fanden Linke und Rechte Anfang 1919 zueinander: Am 16. Januar berief Piłsudski den als Vertreter des Nationalkomitees geltenden Pianisten und Amateurpolitiker Ignacy Paderewski zum polnischen Ministerpräsidenten. Die Behebung der – von niemandem verschuldeten, aus den unfertigen staatlichen Strukturen resultierenden – Mängel in Organisation und Kommunikation brauchte mehr Zeit. Gegen Ende der Konferenz sah die Lage wesentlich besser als im Januar 1919 aus, doch vom Normalzustand, dass eine Depesche spätestens am Folgetag auf dem Schreibtisch des Entscheidungsträgers lag, war man immer noch weit entfernt. Unterdessen bat der Rat der Zehn die polnische Delegation schon für den 29. Januar zum ersten Gespräch. Der zweite polnische Delegierte für die Konferenz – Paderewski – war in Warschau mit der Regierungsbildung beschäftigt, weshalb Dmowski die Aufgabe zufiel, dem Rat die polnischen Lösungsvorschläge für die Quadratur des Kreises vorzustellen. Dmowskis Pariser Erinnerungen spiegeln den Charakter des Führers der Nationaldemokratie: Er sah sich fast ausnahmslos von Durchschnittsmenschen ohne politischen Sachverstand umgeben. Dementsprechend schildert er das Eintreffen des Konferenzbüros – einige Dutzend Experten und zwei Kisten mit Unterlagen: Der Mensch kann vieles ertragen – aber zwei Kisten voller Referate! Hätte ich vorher gewusst, was sich in diesen Truhen befand – und dort befand sich alles, was man über Polen denken konnte, nur nicht das, was uns in unseren Materialien fehlte –, so hätte ich darum gebeten, dass man um Gottes willen wenigstens diese Truhen verschlossen lassen möge. Der Nutzen des Büros bestand darin, dass sich unter den vielen Mitarbeitern eine Handvoll fand, die kompetent genug waren, um als Experten und Ausschussmitglieder zu ­arbeiten. Ich habe nie verstanden, was sich die Leute dachten, die vor der Konferenz bei Hinz und Kunz Referate zu allen möglichen polnischen Themen bestellten, die oft nichts mit unserer Sache auf der Konferenz zu tun hatten. Dachten sie etwa, Lloyd George werde sie lesen? […] Denn für uns war das überflüssig 442

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und wir hatten keine Zeit dazu. Einer der Grundsätze des effektiven Arbeitens besteht darin, dass man keine unnützen Dinge tut, und des guten Wirtschaf­ tens – dass man kein Geld für überflüssige Dinge ausgibt.42 Dmowski kannte weder den Inhalt der „Kisten“ noch – vermutlich – den Großteil der Mitarbeiter des Konferenzbüros. Er ging einfach wie immer davon aus, dass er es mit reinen Amateuren zu tun hatte. Was aber für das Verständnis der schwierigen Situation des polnischen ­Chef­­unterhändlers noch wichtiger ist: Seiner Ansicht nach verstand niemand das Wesen der Politik und der polnischen Sache, als deren größter Feind sich in Paris wieder einmal die Juden entpuppten. Die antipolnische und prodeutsche jüdische Politik wurde („wie man sagte“) in einer Freimaurerloge in der Berliner Dorothenstraße geplant. Ihr wichtigster Vollstrecker in Paris war der Premier­ minister des Vereinigten Königreichs, der Polen in den ersten Monaten der ­Konferenz offensichtlich deshalb nicht geschadet hatte, weil die zerstrittenen ­Juden noch nicht zu einer Übereinkunft gelangt waren und ihm noch keine „genauen Instruktionen“ geschickt hatten. Eingeträufelt wurde Lloyd George das antipolnische Gift angeblich von niemand anderem als dem teuflischen Lewis Namier.

Herr Aszkenazy in Paris Das Werk Polityka polska i odbudowanie państwa (Die polnische Politik und die Wiedererrichtung des Staates), mit dem Roman Dmowski sich selbst ein Denkmal für seine Verdienste während der Pariser Verhandlungen setzte, erscheint heute als erstaunliche Mischung nüchterner politischer Analysen und antisemitischer Halluzinationen. Dmowski witterte fast überall jüdische Ränke und nahm ganz offensichtlich an, sie bestimmten die Politik sowohl der Siegermächte als auch Deutschlands und des bolschewistischen Russlands. Die Außenpolitik wird selten zur Projektion von Phobien und Phantasmen, doch während und unmittelbar nach der Friedenskonferenz folgte fast die gesamte Nationaldemokratie, die populärste politische Kraft in Polen, ihrem Anführer. Ins Fadenkreuz der Nationaldemokraten geriet unter anderen der bekannte Historiker Szymon Askenazy, ein glühender Patriot. Aber leider eben auch Jude. Während des Kriegs lebte Askenazy in der Schweiz, wo er mit Henryk Sienkie­ wicz und Ignacy Paderewski die Arbeit des sogenannten Veveyer Komitees – einer Hilfsorganisation für polnische Kriegsopfer – organisierte. 1920 über443

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nahm er das Amt des Bevollmächtigten der Republik Polen beim frisch ge­gründeten Völkerbund. In dieser Funktion sollte er unter anderem den katastrophalen Ruf Polens aufbessern, wo – wie die westliche Presse kolpor­ tierte – Chaos und Pogromstimmung herrschten. Dies galt insbesondere für die Zeit unmittelbar vor und kurz nach der Schlacht bei Warschau. Askenazy meldete dem Büro für Auslandspropaganda des Ministerratspräsidiums: Ebenso verheerend ist das Echo der antijüdischen Repressionen nach der Abwehr der Bolschewiki in den zurückeroberten Orten sowie der Vorfälle im Lager Jabłonna. Es gibt zahlreiche Berichte von zahlreichen jüdischen Augen­zeugen, teils auch von den Amerikanern. Das führt zum Wiederauf­ leben der in letzter Zeit abflauenden antipolnischen Ressentiments in den hiesigen jüdischen und den ihnen nahestehenden christlichen Kreisen. […] Diese Repressionen werden hier mit den Repressionen der Österreicher nach der Rückeroberung Galiziens verglichen.43 Die Berichte, die Askenazy aus Polen erhielt, machten ihm die Aufgabe nicht leichter. Ihre Verfasser reproduzierten in gutem oder bösem Glauben die primitivsten antisemitischen Stereotype. Sie versuchten gar nicht erst zu beweisen, dass die Gerüchte über die polnischen Repressionen übertrieben seien, sondern erklärten lieber, warum die Juden verdienten, was ihnen geschah. As­kenazy klagte: Die mir in diesen Angelegenheiten übersandten Materialien sind nicht nur unnütz, sondern könnten uns sogar schaden. Die allgemeinen Angaben über Einheiten polnischstämmiger Juden in der bolschewistischen Armee etwa sind ohne nähere Informationen völlig nutzlos. Ebenso die Berichte über die Begeisterung der Juden für die Bolschewiki. Wir bräuchten konkrete Fälle, die tödliche Repressionen rechtfertigen würden. Der mir kürzlich übersandte Bericht des Majors Błaszkiewicz über die Standgerichte in Minsk […] könnte einen ganz anderen Eindruck als den gewünschten hervorrufen, weil darin nur von den Methoden [des Vollzugs] der Todesstrafe an den Juden und von der Freilassung angeklagter Christen wegen mangelnder Einstimmigkeit die Rede ist oder Äußerungen der zum Tod Verurteilten unmittelbar vor der Exekution als erschwerende Umstände angeführt werden. Derartige Berichte belegen meiner Meinung nach vor allem, dass ihre Verfasser absolut nicht wissen, welche Wirkung sie in der ausländischen Öffentlichkeit hervorrufen sollen.44

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Askenazy nutzte eine völlig andere und weitaus effektivere Strategie. Er knüpfte Kontakte zu französischen Journalisten und Wissenschaftlern, die er zu propolnischen Artikeln anregte. Außerdem versuchte er, Unternehmer, die in den polnischen Gebieten Geschäfte machten, zur Kooperation zu bewegen. Er sprach vor allem die Kreise an, aus denen Kritik an der polnischen Politik kam. Dabei vergaß er nicht, seine Herkunft zu erwähnen. Den polnischen ­Diplomaten, insbesondere den Nationaldemokraten, konnte man leicht Antisemitismus unterstellen. In Bezug auf Askenazy ging dieser Vorwurf meist ins Leere. Zu seinem Unglück rühmte Askenazy sich seiner diplomatischen Verdienste gegenüber den Pariser Korrespondenten der Warschauer Tageszeitungen ­W Kurier Warszawska und Gazeta Warszawska. Für Letztere besuchte ihn der junge (24-jährige) und begabte Journalist Kazimierz Smogorzewski, der während der Friedenskonferenz Dmowskis Privatsekretär war. Die Gazeta Warszawska war für ihren Antisemitismus bekannt, was in Askenazy gewisse Befürchtungen weckte, doch letztlich glaubte er Smogorzewski und dem ihn begleitenden Mitarbeiter der polnischen Presseagentur, dass es in dem Interview nicht um weltanschauliche Fragen, sondern ausschließlich um seine Tätigkeit gehen solle. Dass dies ein Fehler war, erkannte er Anfang September 1920, als in der Gazeta Warszawska ein Artikel mit dem Titel Herr Aszkenazy in Paris erschien. Die falsche Schreibung des Namens, der auf diese Weise noch jüdischer klang, war kein Zufall. Smogorzewski war außer sich vor Empörung, dass Askenazy es wagte, den Stil und den Erfolg der nationaldemokratischen Außenpolitik infrage zu stellen. Weil damals der ehemalige stellvertretende Vorsitzende (und Hauptmäzen) des Nationalkomitees polnischer Gesandter in Paris war, hatte die Kränkung auch eine ganz konkrete, persönliche Dimension. Smogorzewski wetterte: Eine wahrlich sonderbare Auffassung von der Rolle der ausländischen Gesandten! Prof. Aszkenazy meint also, Herr Zamoyski repräsentiere in Paris nicht die Republik Polen, sondern bloß die Nationaldemokratie! […] Wir wissen, dass Prof. Aszkenazy einer großen Bruderschaft angehört, die ein konstitutives Element einer anonymen Macht bildet. Darum gibt es nur zwei Möglichkeiten: Entweder dient Prof. Aszkenazy dieser anonymen Macht und kann in diesem Fall nicht „Diener der Republik Polen“ sein, denn diese beiden Dinge schließen einander aus; oder aber er hat den aufrichtigen Wunsch, der Republik zu dienen, und wird in diesem Fall „dort, wo man die antipolnische Propaganda organisiert“, nicht nur für „nicht vertrauenswür445

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dig“ gehalten, sondern als Verräter vor die Tür gesetzt. […] In beiden Fällen wäre somit das Geld, das Gen. Daszyński für Prof. Aszkenazys Aktivitäten bestimmte, zum Fenster hinausgeworfen.45 Wer der Republik Polen besser diente, stellt wohl außer Frage. Die antisemitischen Attacken gegen den polnischen Bevollmächtigten, der sein Land gegen den Vorwurf des Antisemitismus zu verteidigen versuchte, trugen weder zur Imageverbesserung des Landes bei noch erleichterten sie Askenazy die weitere Arbeit, zumal es sich bei der Affäre um „Herrn Aszkenazy“ keineswegs um einen Einzelfall handelte. Sie war einer von vielen Belegen für die nationaldemokratische Vorstellung von Außenpolitik. In dieser Vorstellung stand die Staatsräson nicht nur hinter den Parteiinteressen zurück, sondern auch hinter Phobien, Komplexen und der Angst vor einer „anonymen Macht“.

Dmowskis Antisemitismus war allgemein bekannt, was er selbst genau wusste. Doch erst vor diesem Hintergrund versteht man seine private Erinnerung an den ersten und wohl wichtigsten polnischen Auftritt bei der Friedenskonferenz. Die Schilderung ist recht chaotisch. Am 29. Januar 1919 wusste er angeblich nicht, warum er zur Sitzung des Obersten Rats „geladen“ wurde. Erst vor Ort will er erfahren haben, dass es um „die gegenwärtige Lage Polens“ ging, also mehr oder weniger um alles. Dann „erfuhr“ er, dass er auch die polnischen Territorialvorstellungen darlegen solle. In seinen Erinnerungen deutet er an, er habe improvisiert. Er habe fünf Stunden lang auf Französisch und Englisch gesprochen und dabei als sein eigener Übersetzer fungiert. Nur nebenbei bemerkt: Damals sprach der Führer der polnischen Rechten fließend Russisch, Englisch und Französisch, sein linker Hauptrivale Russisch und Französisch (Deutsch etwas schlechter) – im 21. Jahrhundert unvorstellbar. Doch zurück zu Dmowskis Bericht. Warum nahm er keinen Konferenzdolmetscher zu Hilfe? Weil in einer der vorangegangenen Sitzungen „Herr Mantoux (ein Jude), ein sehr begabter Mensch, der beide Sprachen ausgezeichnet beherrschte“46, angeblich den Sinn seiner Aussagen verdreht und aus Polen „die größte Bedrohung für den künftigen Frieden“47 gemacht hatte. „Nicht einmal mit den Übersetzern hatten wir Polen Glück“48, kommentiert Dmowski und fügt an, in einer Pause der Sitzung vom 29. Januar habe Balfour versucht, ein Gespräch zwischen ihm und Lloyd George zu vermitteln: „Doch der Premierminister machte auf dem Absatz kehrt und ging seiner Wege.“49 Wie in einem Brennglas zeigt sich hier der emotionale Konflikt zwischen den „kleinen“ Teilnehmern der 446

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Friedenskonferenz und den Großmächten, dessen Nährboden Ressentiments und Misstrauen, Geringschätzung und Komplexe bildeten. Die heute oft verlachte Political Correctness hätte manches Gespräch erleichtert, doch 1919 behandelten die Vertreter der Großmächte ihre Gesprächspartner und Bittsteller grundsätzlich von oben herab. Dmowski war wohl nur insofern eine Ausnahme, als sein Weltbild von der fixen Idee einer jüdischen Verschwörung geprägt war, doch auch das ist nicht sicher. Dmowskis fünfstündiger Vortrag ermüdete die Zuhörer, doch inhaltlich wusste der Pole durchaus zu überzeugen. Er forderte relativ viel von Deutschland: die infolge der Teilungen verlorenen Gebiete, kleinere Korrekturen in anderen Grenzabschnitten, Pommerellen und Danzig – und damit zwangsläufig die Abtrennung Ostpreußens vom Reich – sowie vor allem das hochindustrialisierte Oberschlesien. Im Süden verlangte er von der Tschechoslowakei das fast genauso gut entwickelte Olsagebiet, im Osten war er zu großen territorialen Zugeständnissen bereit. Angesichts der Forderungen anderer kleinerer Staaten klang das nicht sonderlich imperialistisch.

Die Resultate Konstanty Ildefons Gałczyński brachte 1946 in einem Text über eine andere Pariser Konferenz die universellen Mechanismen von Friedensverhandlungen sowie den Kern der deutschen Frage im Jahr 1919 auf den Punkt. In einem Sketch mit dem Titel Gżegżółka na konferencji pokojowej (Der Kuckuck auf der Friedenskonferenz) schrieb er: Eine Friedenskonferenz ist ein lustiges Mittagsmahl nach einem Begräbnis. Man muss nur darauf achten, den Leichnam nicht zu tief zu begraben. Er könnte noch zu etwas nütze sein.50 Der Verlauf der Pariser Konferenz von 1919 wurde schon so oft beschrieben, dass wir uns auf einen kurzen Abriss beschränken. Als größtes Problem erwies sich Deutschland. Anfangs waren die Alliierten sich einig. Man wollte das Land moralisch brandmarken (wegen Kriegsschuld und Kriegsverbrechen), materiell bestrafen (durch Reparationen, die gleichsam eine Revanche für die gigantische Kontribution darstellten, die das Reich 1871 Frankreich auferlegt hatte) und physisch schwächen (durch die Amputation so vieler Glieder, dass es dem europäischen Riesen schwerfallen würde, zur alten Stärke zurückzufinden). Die deutschen Streitkräfte sollten auf ein Minimum reduziert werden. Vor allem Frankreich befürwortete einen harten Kurs. Lloyd George versprach den briti447

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schen Bürgern im Wahlkampf goldene Berge in Gestalt deutscher Reparationsleistungen. Vor einer solchen Lösung warnte in Paris unter anderen der Ökonom John Maynard Keynes: Weder Europa noch Großbritannien könnten es sich leisten, die deutsche Volkswirtschaft aus dem Wirtschaftskreislauf des Kontinents auszuschließen. Nach einigen Wochen änderte Lloyd George seine Meinung. Am 22. März ließ er in Fontainebleau eine Simulation durchführen. Robin Hankey, der Sekretär des Nationalen Verteidigungsrats, vertrat die Position Großbritanniens: Natürlich müsse man das Deutsche Reich bestrafen und ihm die Kolonien nehmen, doch man dürfe nicht zulassen, dass zu harte Friedensbedingungen die Deutschen in die Arme des Bolschewismus trieben. Henry Wilson, der Chef des Imperialen Generalstabs, sagte als Vertreter des deutschen Standpunkts mehr oder weniger dasselbe: Wenn man mit dem Westen keine vernünftigen Friedensbedingungen aushandeln könne, bleibe Berlin als einzige Option Russland. Dann stellte er die Situation aus Sicht einer Französin dar, die Rache für die gefallenen Männer und Wiedergutmachung für ihr so schwer geprüftes Volk forderte. Lloyd Georges Privatsekretär Philip Kerr fasste die Ergebnisse der Debatte im sogenannten Fontainebleau-­Memorandum zusammen, das den weiteren Verlauf der Friedenskonferenz maßgeblich beeinflusste. Gałczyński kannte dieses Dokument wohl nicht, doch er hätte zufrieden sein können. Die symbolträchtigen Artikel blieben, doch die Höhe der Reparationen war offen, Danzig fiel nicht an Polen und für Oberschlesien wurde anstelle des sofortigen Anschlusses an Polen eine Volksabstimmung vorgesehen. Am 7. Mai wurde der Vertragsentwurf den Deutschen vorgelegt. Dmowski, ganz sicher kein Germanophiler, erinnert sich rückblickend: Der Moment, in denen man den Deutschen die Friedensbedingungen übergab, war im Verlauf der ganzen Konferenz der einzige, in dem sich das historische Drama unserer Generation kristallisierte. Clemenceau präsentierte den Entwurf als Dokument der Wiedergutmachung für die Demütigung von 1871 und für den Weltkrieg: „Seine Rede war eine einzige Anklage gegen die Deutschen, die den Krieg begonnen und auf rücksichtslose, grausame Weise geführt hatten.“ Der deutsche Außenminister Ulrich von Brockdorff-Rantzau hingegen wirkte wie ein Mensch, der nach langer Krankheit das Bett verlassen hatte, seine Hände zitterten, er hielt sich kaum auf den Beinen. Man führte sie [die deutsche Delegation] wie Angeklagte vor das Tribunal, sie nahmen schweigend ihre Plätze ein. Von Brockdorff-Rantzau antwortete auf Clemenceaus Rede 448

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im Sitzen, weil seine Beine ihm den Dienst versagten. Er sprach auf Deutsch, womit er der deutschen Sprache denselben Status verschaffte, den das Französische und Englische bei der Konferenz innehatten. […] Seine Haltung zeugte von Würde und Stolz […]. Er trat auf als besiegter Feind, der Respekt einforderte. Ich muss zugeben, dass er in dieser Rolle eine gewisse persönliche Sympathie in mir weckte.51 Dmowski bewies mehr Empathie für den besiegten Feind als Lloyd George, ­Clemenceau und Wilson zusammen: Sie hielten von Brockdorff-Rantzau für einen arroganten Trottel und bedauerten, ihm überhaupt die Möglichkeit einer Erwiderung gegeben zu haben. Alle an den Ereignissen des 7. Mai Beteiligten behielten in Erinnerung, was sie wollten. Dmowski befand sich zum ersten Mal in seinem Leben im Lager der Sieger, von Brockdorff-Rantzau zum ersten Mal auf der anderen Seite. Der Rollentausch hatte symbolischen Charakter. Man könnte das „historische Drama“ dieser Generation ebenso gut als Revolution bezeichnen, doch es wäre sinnlos, um Begriffe zu streiten. Dmowskis Erinnerungen verdeutlichen so oder so die Bedeutung des Augenblicks: Der Sohn eines Steinmetzes aus einem Dorf bei Warschau beobachtete die Demütigung eines preußischen Aristokraten aus einer Position, die derjenigen der größten Staatsmänner fast ebenbürtig war. Zum ersten Mal begegneten sich ein Pole und ein Deutscher in einer solchen Konstellation. Allgemeiner gesagt, wichen im Einklang mit Wilsons – im Verlauf der Konferenz pulverisierter, aber dennoch geschichtemachender – Idee die Imperien allmählich den Nationen. Die Habsburgermonarchie und Bismarcks Reich waren als Erste an der Reihe. Briten und Franzosen konnten vorerst froh sein, dass das Recht der Sieger ihre Überseebesitzungen und Kolonien schützte. In Deutschland löste der Vertragsentwurf vom 7. Mai von der extremen Rechten bis zur Linken große Empörung aus. Am 12. Mai trat der sozialdemokratische Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann zurück. Die Begründung seines Rücktritts gehört zu den Klassikern der politischen Rhetorik: „Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in solche Fesseln legt?“ Am 29. Mai legte Berlin einen Gegenentwurf vor, der in der Antwort der Pariser Konferenz vom 17. Juni in geringem Maß berücksichtigt wurde. Die größten Zugeständnisse betrafen deutsch-polnische Angelegenheiten. Zugleich stellte man den Deutschen faktisch ein Ultimatum: entweder die Annahme der Friedensbedingungen oder einen neuen Krieg. Am 23. Juni – 80 Minuten vor Ablauf der von den Alliierten gesetzten Frist – stimmte der Reichstag mit 237 zu 138 Stimmen für die erste ­Option. 449

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Unterzeichnet wurde der Friedensvertrag am 28. Juni 1919, an dem fünften Jahrestag der Ermordung Franz Ferdinands, im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles. Clemenceau sorgte auch diesmal für einen feierlichen Rahmen und angemessene Schaueffekte. Er ließ Soldaten in Galauniform und französische Kriegsinvaliden (die ihre verstümmelten Gesichter zeigten) nach Versailles kommen. Für das Deutsche Reich setzten mit dem aktuellen Außenminister und dem Verkehrsminister zwei unbekannte Sozialdemokraten ihre Unterschriften unter den Vertrag. Für die Republik Polen unterzeichneten Dmowski und Paderewski. Die Deutschen verloren – unter Berücksichtigung der Ergebnisse der späteren Volksabstimmungen – ein Achtel ihres Territoriums und zehn Prozent ihrer Bevölkerung. Sie mussten die alleinige Kriegsschuld und Reparationen in unbekann­ ter Höhe akzeptieren; ihre Streitkräfte wurden auf die Größe eines kleinen Berufsheers ohne Marine und Luftwaffe zusammengestutzt. Insgesamt erging es Berlin nicht schlechter als Bulgarien (Vertrag von Neuilly-sur-Seine vom 27. November 1919) und wesentlich besser als dem Osmanischen Reich (Vertrag von Sèvres vom 10. August 1920), Ungarn (Vertrag von Trianon vom 6. Juni 1920) und Österreich (Vertrag von Saint-Germain vom 10. September 1919). Bulgarien erlebte in den folgenden Jahren eine Art Bürgerkrieg, die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs erkämpfte sich – in einem Verteidigungskrieg, nicht durch Aggression – deutlich bessere Friedensbedingungen (fest­ gehalten im Vertrag von Lausanne vom 24. Juni 1923). Österreich war mit der ­Eigenständigkeit überfordert. 1938 trat es bereitwillig dem Deutschen Reich bei, was es schon 1918 hatte tun wollen, nur dass es damals nicht Teil eines totalitären Systems, sondern einer parlamentarischen Demokratie geworden wäre. In Ungarn scheint das sorgsam gehegte Trauma von Trianon bis heute lebendig. In der Weimarer Republik wurde „Versailles“ zum erneuerbaren Brennstoff der Rechten und Rechtsextremen. Ohne die Demütigung im Sitz Ludwigs XIV. sind die Wahlerfolge Adolf Hitlers in der Tat schwer vorstellbar. In der Bundesrepublik Deutschland spielte 2018 die Erinnerung an die Pariser Friedenskonferenz keine politische Rolle. Gleichzeit existiert überall die – nebulöse – Erinnerung an „Versailles“ als Wendepunkt der Geschichte. In Polen wird sie 2019 wieder wach werden, wenn man sich mit dem hundertsten Jahrestag des Vertrags auseinandersetzen muss, der die Republik auf die europäische Landkarte zurückbrachte.

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Schluss Gewinner und Verlierer Große Veränderung – kleine Veränderungen Wie jeder Krieg brachte auch der Erste Weltkrieg vor allem Tod und Zerstörung. Allerdings lassen sich die Opfer und Schäden nur schwer präzise beziffern. Auch die Zahlen und insbesondere die Prozentzahlen der Statistiker sorgen nicht immer für Klarheit, zumal sie in den am stärksten von Krieg und Revolution betroffenen Ländern lückenhaft sind und auf immer bleiben. Nehmen wir den Fall Polen. In einem umfangreichen Band zu den wirtschaftlichen Folgen des Kriegs schätzten Józef Bankiewicz und Bohdan Domosławski die Kriegsschäden in den polnischen Gebieten auf mehr als zehn Prozent des Volksvermögens. In ihren Berechnungen berücksichtigten sie unter anderem auch die Ausfuhr polnischer Pferde nach Österreich und Deutschland, Kriegsrequisitionen, den Abtransport von Fabrikausstattungen nach Russland oder die Zerstörung der Bahninfrastruktur (63 Prozent der Bahnhöfe, 28 Prozent der Dampflokomotiven).1 Hipolit Gliwic bezifferte den Rückgang der Industrieproduktion allein bis 1916 für die Textilindustrie auf 77 Prozent, für die Bergbauindustrie auf 63 Prozent und für die holzverarbeitende Industrie auf 48 Prozent.2 Schon die Genauigkeit dieser Berechnungen muss ernste Zweifel wecken. Doch das ist nicht das einige Problem im Zusammenhang mit der Bestimmung der Kriegsschäden. Wie setzten sich diese Prozentzahlen in Wirklichkeit zusammen? Bankiewicz und Domosławski bemerkten etwa, dass die Schäden in der Landwirtschaft sehr ungleich verteilt waren. Gebiete in unmittelbarer Frontnähe wurden oft völlig verwüstet, während andere eher aufblühten. Gliwic erwähnt nebenbei, dass in der Zeit, in der im Königreich Polen die Industrie zusammenbrach, Oberschlesien eine dynamische Entwicklung durchlief und das Deutsche Reich mit Blick auf die erwarteten Nachkriegsannexionen auch bedeutende Summen in die Gruben und Hütten des Dombrowaer Kohlereviers oder in die großpolnische Landwirtschaft steckte. Nach 1918 profitierte nicht Deutschland von diesen Investitionen, sondern Po451

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len. Eine weitere grüne Insel im Meer des Kriegselends waren die Brennereien in den polnischen, litauischen, lettischen und weißrussischen Gebieten, die von den Besatzern mit geraubtem belgischen Gerät ausgebaut wurden.3 Emigrierte russische Forscher, die in den 1930er Jahren die Kriegsschäden in ihrem Land untersuchten, stießen auf verblüffende paradoxe Erscheinungen nicht nur im ökonomischen Bereich. Generell schrumpfte die männliche Bevölkerung in Russland infolge von Rekrutierungen und Kriegsverlusten, an manchen Orten waren allerdings auch Zuwächse zu verzeichnen. Ein besonders leuchtendes Beispiel dafür war die Hauptstadt Petrograd: Die den Forschern zugänglichen Daten zeigten für die Zeit bis Anfang 1916 sogar eine Veränderung der demografischen Verhältnisse zugunsten der Männer4. Auch in Russland waren Armut und Tod ungleich verteilt: Mit Blick auf das Dorf ist in […] vielen Fällen eine Verbesserung der Lebens­ bedingungen der während des Kriegs zu Hause gebliebenen Landbevölkerung erkennbar, die sich im Rückgang der Sterblichkeit niederschlägt. Dass sich die wirtschaftliche Situation in der russischen Provinz in den ersten anderthalb bis zwei Kriegsjahren besserte, ist allgemein bekannt. Ursache waren die Sozialleistungen für die Familien der mobilisierten Männer.5 Tatsächlich verbesserten sich die Lebensbedingungen auf dem Land also so sehr, dass der Rückgang der Sterblichkeit die keineswegs geringen Verluste an der Front kompensierte. Im Vergleich mit dem Elend der russischen Landbevölkerung vor 1914 relativierte sich somit das Bild des Krieges als Katastrophe für alle. Und nicht nur das. Der amerikanische Historiker Robert Blobaum gelangt in einem Vergleich der Verluste innerhalb der Warschauer Einwohnerschaft während der Jahre 1914–18 und 1939–45 zu überraschenden (wenngleich uneinheitlichen und nicht immer auf ausreichend valide Daten gestützten) Schlussfolgerungen. Für die Demografie der Hauptstadt erwies sich die vergleichsweise sanfte und eher auf freiwillige Arbeitsmigration ins Reich abzielende deutsche Besatzungspolitik als ebenso ruinös wie die nationalsozialistische. Und auch hier waren die Lasten und das Leid keineswegs gleichmäßig verteilt. Während des Ersten Weltkriegs litten unabhängig von ihrer Herkunft vor allem die Angehörigen der unteren sozialen Schichten unter Armut und Hunger, die NS-Besatzung traf vor allem die jüdische Bevölkerung – der materielle Status spielte dabei eine vergleichsweise kleine Rolle.6 Über das komplexe Muster der Auswirkungen des Kriegs in den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas legten sich in der postimperialen Zeit weitere Schich452

Gewinner und Verlierer

ten. In einigen östlichen Teilen der Republik Polen kämpfte man während der gesamten Zwischenkriegszeit vergeblich gegen das immer wieder neu ausbrechende Fleckfieber. Mit anderen Worten: Man schaffte es in zwanzig Jahren nicht, das Zivilisationsniveau wesentlich über den Stand hinaus anzuheben, auf den es während des Kriegs abgesackt war. Anderen Städten und Regionen wiederum eröffnete das Schicksal ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten. Einer dieser Ort war Anfang der 1920er Jahre die Hauptstadt Estlands.

Das estnische Eldorado Glaubt man der zeitgenössischen patriotischen Propaganda, so tobte in den Jahren 1918–20 in Ostmitteleuropa ein wahrer Krieg der Welten. Die teuflischen Kräfte des Bolschewismus überrollten als rote Welle die Bollwerke der polnischen, ukrainischen, litauischen, lettischen und estnischen Verteidiger. Der Sieg in diesem heroischen Kampf bedeutete nicht nur die Unabhängigkeit, sondern war auch Teil des westlichen Kreuzzugs gegen die marxistische Häresie. So weit die Propaganda. In Wirklichkeit unterschieden sich die Kriege gegen die Bolschewiki nicht allzu sehr von den anderen Konflikten in der Region. Wie diese hatten auch die vermeintlichen Kreuzzüge ein Ende, nach dem man sich irgendwie mit Russland, sei es nun weiß oder rot, arrangieren musste. Das erste ostmitteleuropäische Land, das dies tat, war Estland. Für die Esten bedeutete der im Februar 1920 in Tartu geschlossene Friedensvertrag das Ende des Krieges; Petrograd kämpfte weiterhin an verschiedenen inneren und äußeren Fronten. Auch das von der Entente gegen Russland verhängte Handelsembargo war noch in Kraft. Dadurch wurde der einstige Feind unerwartet zum nächsten Kooperationspartner der Bolschewiki. Zwar hatte man schon zuvor versucht, das Embargo zu umgehen, doch die Normalisierung der Beziehungen zu Estland eröffnete völlig neue Möglichkeiten des Austauschs, insbesondere im lukrativsten Segment: dem Handel mit Gold und Preziosen sowie mit Waffen. Für London und Paris war der Export von russischem Gold vor allem aus zwei Gründen absolut inakzeptabel. Erstens war es kein Geheimnis, das die Bolschewiki von dem so erwirtschafteten Geld Waffen kauften, die sie gegen die Konterrevolution und die Interventionen von außen einsetzten. Zweitens verweigerte Sowjetrussland die Rückzahlung der Kredite, die seine Vorgänger – das Zarenreich und die Provisorische Regierung – im Westen aufgenommen hatten. Die Gläubiger dachten, die Handelsblockade könne ihnen helfen, we453

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nigstens einen Teil ihres Geldes zurückzubekommen. Und selbst wenn sie nicht so naiv waren, konnten sie sich nicht einfach von einem aufsässigen Schuldner auf der Nase herumtanzen lassen. Gleichwohl gab es genug Firmen, die bereitwillig Verluste in Kauf nahmen (insbesondere fremde), wenn sie nur die seit je überaus einträglichen Geschäfte mit Russland wieder aufnehmen konnten. 1920 führte der Hafen in der estnischen Hauptstadt Tallinn alle Parteien zusammen. Die Bolschewiki erhielten ein Fenster zur Welt und die westlichen Unternehmer eine Möglichkeit zum Handel mit Russland. Selbst eingefleischte Antikommunisten mussten ihre Prinzipien nicht beugen, denn das Unterfangen war illegal, existierte formal also überhaupt nicht. Ein Kenner der baltischen Hafenstädte schreibt: Nicht ohne Grund nannte man die estnische Hauptstadt Anfang der 1920er Jahre eine internationale Kloake: Hier trafen sich Geschäftsleute, Abenteurer und Hochstapler und ihre Geschäfte waren ebenso groß wie suspekt. Weil der internationale Handel mit russischem Gold illegal war, muss man es entsprechend „waschen“. Das übernahm eine schon am 18. Februar 1920 in Tallinn eingetroffene sowjetische Delegation unter Leitung des ehemaligen Finanzkommissars Isidor Gukowski. Ihre Aufgabe bestand darin, bei ausländischen Mittelsmännern Waren (von Sensen, Heringen und Schuhen bis hin zu Gewehren, Minenwerfern und Lokomotiven) für russische Institutionen einzukaufen, zu bezahlen und den Versand der realisierten Lieferungen zu beaufsichtigen.7 Der Umfang der Transporte nach Tallinn, vor allem aber aus Tallinn nach Russ­ land, war so groß, dass die Bahnstrecke zwischen Narva und Petrograd ausgebaut werden musste.8 Nach der Ankunft vor Ort wurde meist im Schatten der Nacht das russische Gold aus den Waggons auf Schiffe verladen. Die meisten von ihnen fuhren nach Stockholm, wo man das Gold an der Börse verkaufte. Es wurde zu Barren umgeschmolzen und gelangte als „Gold aus Schweden“ auf die europäischen und amerikanischen Märkte. Die geheime und illegale Operation generierte enorme, wiewohl höchst ungleich verteilte Einnahmen. Den größten Profit machten die Mittelsmänner in Stockholm und Tallinn. Die Politik- und Finanzeliten der jungen Republik betei­ ligten sich in großem Maßstab an diesem lukrativen Geschäft. Der langjährige Ministerpräsident Konstantin Päts und auch der Kriegsheld und Gründer der estnischen Armee Johan Laidoner investierten in russisches Gold. Sogar die 454

Gewinner und Verlierer

estnische Staatsbank strich Gewinne ein. Schlechter kamen die Verkäufer weg, denen die schwierigen Umstände keine andere Wahl ließen. Es lässt sich nicht einmal genau sagen, wie groß der Schaden für Russland in den ersten Monaten dieses Handels war. Man schätzt aber, dass im August 1920, als Georgij Solomon die Finanzen der sowjetischen Handelsmission in Tallinn ordnete und eine elementare Buchführung etablierte, die russischen Preziosen rund 20 Prozent unter Wert verkauft wurden.9 Vorher waren die relativen Verluste vermutlich noch höher. Verblüffend an dieser ungewöhnlichen Geschichte sind sowohl der Ort des Geschehens – die Provinz eines einstigen Imperiums – als auch der enorme Umfang der dort abgewickelten Transaktionen. Noch verblüffender ist aber vielleicht, welche Person am meisten vom Handel mit russischem Gold profitierte. Es war nämlich weder ein sowjetischer Apparatschik noch ein estnischer Politiker noch ein schwedischer Kaufmann, sondern ein Deutscher – genauer gesagt ein Deutsch-Balte, das heißt ein Angehöriger der Volksgruppe, die während des Ersten Weltkriegs die vergleichsweise größten wirtschaftlichen und politischen Einbußen hinnehmen musste und im unabhängigen Estland Hauptleidtragende der Bodenreform war. Klaus Scheel war Erbe einer der ältesten Banken des Landes, doch der Wert seiner Aktiva lag 1919 bei null.10 Dafür verfügte der knapp 30-jährige Scheel, wie der deutsche Historiker David Feest schreibt, über ein weites Netz von Kontakten, die er bei seinem Aufstieg zur zentralen Figur im Tallinner Handel mit russischem Gold geschickt zu nutzen wusste. Bei Bedarf konnte er seine Bekanntschaften mit schwedischen und britischen Geschäftsleuten auffrischen, die deutsche Abstammung schadete der engen und einträglichen Zusammenarbeit mit den Eliten des neuen estnischen Vaterlandes nicht und auf dem russischen Markt war die Bank der Scheels seit je aktiv. All dies begünstigte den Erfolg des Bankiers. Auch später blieb ihm das Glück hold und seine Bank wurde rasch zum größten privaten Finanzinstitut des Landes.11 Sowohl die Geschichte des russischen Goldes als auch die Figur Klaus Scheel sind in der Grauzone zwischen der Geschichte der Imperien und jener der neuen Nationalstaaten verortet. Beide zeigen, wie komplex die Situation sein konnte, die spätere Historiker nur noch schematisch betrachteten. In Wirklichkeit konnten die erklärten Feinde der Unabhängigkeit, die verhassten Bolschewiki, über Nacht zu Partnern in einem Handel werden, aus dem – wie Laidoner – auch Helden des Kampfs gegen die Roten ihren Profit zogen. Und ein Nachkomme der baltischen „Barone“ konnte zu einem der reichsten Bür455

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ger eines Staates werden, der sich den Kampf gegen die alten Privilegien der deutschen Aristokratie auf die Fahnen geschrieben hatte.

Historiker und Ökonomen sind angesichts der Komplexität eines Phänomens wie des Ersten Weltkriegs, zumal in einer so komplizierten Region wie Ostmitteleuropa, nicht in der Lage, die Verluste und Gewinne exakt zu bestimmen. Das kann man ihnen kaum zum Vorwurf machen. Zum einen wurden viele Dinge in dieser stürmischen Zeit überhaupt nicht statistisch erfasst und zum anderen stammen noch bis 1918 die meisten Daten von den Imperien. Die personelle, methodologische und territoriale Kontinuität wurde unterbrochen, infolgedessen fehlt in allen Bereichen die solide Basis, die für glaubwürdige Berechnungen nötig wäre. Doch selbst, wenn die fragmentarischen und unsicheren Daten keine exakten Aussagen erlauben, so dokumentieren sie doch bestimmte Prozesse, deren Zusammenwirken eine große Veränderung verursachten, eine Umwälzung der sozialen Hierarchien, des Wertesystems und der kulturellen Normen. Man muss nur einen Blick auf die Landkarte werfen, um sich das Ausmaß des Wandels bewusst zu machen. Fast jede Änderung der Vorkriegsgrenzen zog die Einführung neuer Rechtsnormen, Zollgrenzen, Produktions- und Handelsweisen, Bildungssysteme und so weiter nach sich. Selbst bei einem Musterschüler der Transformation wie der Tschechoslowakei führte die schiere Masse der Veränderungen zu offensichtlichen wirtschaftlichen Problemen und sozialen Spannungen. Robert Seton-Watson, der das Land gleichsam wie sein eigenes Kind behandelte, beschrieb die ersten zwölf Jahre der Tschechoslowakisierung der Slowakei natürlich vor allem als Aneinanderreihung von Erfolgen: Eine neue Sozialgesetzgebung mit Versicherungen und Hilfen für Arbeitslose, die Verbesserung der Arbeitsaufsicht und der Unfallprävention; die Ausdeh­ nung der Sozialfürsorge staatlicher Organisationen und des Roten Kreuzes auf immer neue Dörfer; der Ausbau bestehender und die Errichtung neuer Krankenhäuser und Kinderheime; die Schulbildung für Mädchen und die Krankenpflege; die Bodenreform, die bei allen Unzulänglichkeiten den Status der Bauernschaft radikal veränderte, indem sie ihren Lebensstandard anhob und das Problem der Emigration und des Mangels an günstigen Krediten für die Bauern entschärfte; die Melioration, die Gewinnung von Ackerland, die Regulierung von Flüssen und die Trockenlegung von Sümpfen; der Bau neuer Bahnstrecken, Straßen sowie Brücken und vor allem der Wohnungsbau, der schon jetzt das Antlitz nicht nur von Städten wie Bratislava, Košice, Žilina 456

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oder Nové Zámky, sondern auch der Hälfte der slowakischen Dörfer verändert hat – das alles bestätigt meine Ansicht, dass die Transformation der Slowakei eines der gelungensten Beispiele für die Kulturarbeit im Europa der Nachkriegszeit darstellt.12 Doch auch Seton-Watson sah zahlreiche Hürden auf dem Weg zu einer vollständigen Integration der tschechischen Gebiete und der Slowakei. Die slowakische Industrie, die vor 1918 noch in den Kinderschuhen steckte, brach völlig zusammen; die Lebenshaltungskosten waren nach der Vereinigung in der Slowakei höher als in Tschechien und der Bahntransport funktionierte nur mangelhaft. All diese Faktoren trieben die Arbeitslosigkeit in die Höhe. Zudem stiegen Anfang der 1920er Jahre die Steuern über das alte ungarische Niveau. Mit ihnen wuchsen die Unzufriedenheit der Slowaken und die Unterstützung für politische Parteien, die den Prager Zentralismus kritisierten.13 Viele dieser Missstände waren ein Erbe der früheren magyarischen Dominanz oder aber durch Faktoren bedingt, die sich – wie die allgemeine Wirtschaftskrise – dem Einfluss der Prager Regierung entzogen. Freilich sind unzufriedene und enttäuschte Menschen meist wenig geneigt, die tieferen Ursachen ihrer aktuellen Probleme zu analysieren. Die unterschiedlichen Sichtweisen der Prager Beamten und der liberalen westeuropäischen Öffentlichkeit einerseits und – andererseits – der sogenannten einfachen Leute in der Provinz, die bis vor Kurzem noch Bürger eines ganz anderen Staates waren, war allerdings nicht nur auf die konkrete materielle Situation zurückzuführen, sondern hatte auch eine emotionale Dimension. Die Einstellung zur neuen Wirklichkeit hing sehr stark von der Haltung zur früheren ab. Für manche Bürger der Tschechoslowakei – etwa die deutsch- und ungarischstämmigen – bedeutete der neue Staat den Untergang der ihnen vertrauten Welt. Aus Prager Sicht handelte es sich um einen Anfang, eine Geburt, die naturgemäß Freude und Hoffnungen weckte: Die Staatsgründung war von der ideell überhöhten demokratischen Staats­ form nicht zu trennen, denn die demokratische Verfasstheit der jungen Republik bildete die legitimatorische Grundlage für die territoriale Neuord­ nung. Der Bürger als Träger des demokratischen Staates trat in den juristischen Texten als eine abstrakte Figur auf. Die staatsrechtliche Sprache kannte ihn nur als unablösbaren Teil eines ideellen Staatsvolkes. Die Juristen koppelten dabei universelle (staats)bürgerliche Ideen an etwas spezifisch Tsche­ chisches. Dieses Tschechische begründete die Abkehr vom Österreichischen. Es war der Spross der neuen Zeit, kam doch die Revolution in der Grün­dungs­ 457

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rhetorik einer Geburt des Staates gleich. Der Begriff der Geburt metaphorisierte den Prozess der Trennung in einem produktiven und emotionalen Bild.14 Selbst dort, wo der Systemwandel weniger feierlich vollzogen wurde, wie in der Tschechoslowakei kehrte das Leben nach dem Krieg nicht in die gewohnten Bahnen zurück. Vielerorts galt die Monarchie von einem Tag auf den anderen als überholt; man musste nur auf die Straße gehen, um zu sehen, wie sie in der Vergangenheit verschwand. Schon während des Weltkriegs hatte es erste öffentliche Akte der Zerschlagung der alten Ordnung gegeben. Unter der deutschen und österreichisch-ungarischen Besatzung waren Denkmäler russischer Zaren und Generäle gestürzt worden. In der Tschechoslowakei fielen 1918 und 1919 die bronzenen Monumente der Monarchie, darunter das Prager Radetzky-Denkmal und Statuen der Kaiser und Kaiserinnen (sowie auch einige sakrale Denkmäler). In der Slowakei, aber auch in Siebenbürgen, im Banat, in der Batschka und in anderen früheren ungarischen Provinzen, wurden Dutzende ungarischer Denkmäler entfernt. Manche von ihnen, zumal die prunkvolleren, waren noch recht jung. Anlässlich der Jahrtausendfeier der „Einnahme des Vaterlandes“ durch die Magyaren stellte die Budapester Regierung 1896 eine große Summe für den Bau von sieben imposanten Denkmälern bereit, die auf ewige Zeiten (oder, wie es in der Gründungsurkunde hieß, „solange, wie das Vaterland lebt“) vom Ruhm der Staatsgründer künden sollten. Fünf von ihnen standen in Gebieten, die Ungarn kraft des Vertrags von Trianon verlor. Bis in unsere Zeit erhalten blieb nur der Jahrtausendturm in Zemun, bis 1918 eine Stadt im autonomen Kroatien und heute ein Stadtteil von Belgrad. Die übrigen wurden von den neuen Landesherren sofort nach der Änderung des Grenzverlaufs gesprengt, das Denkmal im siebenbürgischen Brașov sogar schon früher. Es war schon vor Kriegsbeginn mehrfach von unbekannten Tätern, mutmaßlich rumänischen Nationalisten, beschädigt worden. Die rumänische Armee vollendete 1916 während der kurzen Besatzung Siebenbürgens das Zerstörungswerk.15 Die Zerstörung von Denkmälern diente der symbolischen Bestätigung des Machtwechsels im öffentlichen Raum. Als Eingriff in das vertraute Landschaftsbild und Vorzeichen tiefgreifender Veränderungen wirkte sie aber auch in den privaten Raum hinein. Die Umgestaltung der wichtigsten Straßen und Plätze fiel am ehesten ins Auge, doch bedeutsamer war der politische Umbruch. Die Erweiterung des Wahlrechts wurde für viele Menschen rasch zur Selbstverständlichkeit. Obwohl am heftigsten über die „Bürgerwerdung“ der Frauen gestritten wurde, drückten in 458

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der Zwischenkriegszeit andere Nutznießer der Demokratisierung der großen ­Politik ihren Stempel auf. Die Bauern wurden plötzlich zu einer zentralen politischen Kraft. Die angesprochene relative Verbesserung der materiellen Lage der Landbevölkerung trug sicher zum sozialen Aufstieg dieser Gruppe bei. Charisma­ tische Bauernführer griffen nach den höchsten Staatsämtern. Wincenty Witos (Polen), Antonín Švehla (Tschechoslowakei) und Aleksandar Stambolijski (Bulgarien) wurden Ministerpräsident, in Jugoslawien war Stjepan Radić, der in der Zwischenkriegszeit keine Aussicht auf eine solche Position hatte, bis zu seinem Tod der populärste und einflussreichste kroatische Politiker. Mit der großen politischen Umwälzung gingen Dutzende, wenn nicht Hunderte kleine Veränderungen im Alltagsleben einher. Der Anblick arbeitender Frauen oder die allgemeine Verbreitung von Ersatzstoffen, die sich auch unter Nachkriegsbedingungen als nützlich erwiesen, waren Neuerungen, die auch

Die gestürzte ­Mariensäule in Prag, 1918.

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Menschen auffielen, die keine Zeitungen lasen. Andere Veränderungen waren weniger offensichtlich. Schon im Oktober 1915 bemerkte die Deutsche Warschauer Zeitung, dass infolge der Verarmung der Warschauer Mittelschicht die Haushälterinnen verschwanden, die bis dahin auch von Familien mit beschei­ denem Einkommen beschäftigt worden waren. Die polnischen Haushalte näherten sich den europäischen an, sie entsprachen zunehmend den „einfachen westlichen Mustern“.16 Die deutsche Zeitung spottete über die Warschauer ­Sitten, über den Snobismus der Kleinbürger und letztlich über die vormoderne soziale Hierarchie mit ihren spezifischen Lohn- und Beschäftigungsstrukturen, doch dabei ging es keineswegs nur um die germanische Mission Civilatrice. Die ­Radomer Intelligenzlerin Maria Walewska beobachtete ganz ähnliche Phänomene: Die Ehefrauen der österreichischen Besatzungsbeamten importierten neue, in ­Radom zuvor unbekannte Sitten. Sie buken selbst Kuchen. Sie fuhren ihre Kinder selbst im Kinderwagen spazieren. Die oberen und mittleren Schichten des Königreichs Polen hatten beides bislang von Bediensteten erledigen lassen, die die Kinder einfach trugen. Die von den Österreicherinnen eingeführte Mode etablierte sich und trug zur Herausbildung des Lebensstils der Nachkriegs­zeit bei.17 Die unzähligen winzigen Veränderungen im öffentlichen und privaten Leben, in Wirtschaft und Kultur formten ein erstaunlich vielschichtiges Bild der Nachkriegswirklichkeit, das sich nicht in einer gewöhnlichen Verlustbilanz erfassen ließ. Im Meer des Elends und des Unglücks zeigte sich eine Menge neuer, frischer und bisher ungekannter Erscheinungen. Insofern verwundert es nicht, dass längst nicht alle Bewohner dieser neuen Welt ihrem alten Leben nachtrauerten.

Politik für eine neue Zeit? Eine der Neuerungen, die – wenngleich nur kurz – auf ein besseres Morgen hoffen ließen, war ein neuer Politikstil. Pawel Miljukow, einstiger Führer der russischen Liberalen und nach 1918 politischer Emigrant in Paris, entwarf in seiner Analyse der „slawischen Politik“ in The Slawonic Review ein überaus positives Bild der Zukunft. Er glaubte, die Kabinettspolitik der Zyniker und Verfechter überkommener undemokratischer Ideen gehöre nun endgültig der Vergangenheit an. Karel Kramář und vor allem Nikola Pašić – die Nachkriegsministerpräsidenten der Tschechoslowakei und des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen sowie die Hauptvertreter jener alten Schule – wichen einer internationalen Schar von Anhängern und Schülern des Präsidenten und Philosophen Tomáš Masaryk. Diese Gruppe, zu der auch die Politiker und Aktivisten des Jugoslawischen Komitees zählten, lehnte Doppelzüngigkeit und Nationalismus ab und propagierte das 460

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Schlagwort der „unpolitischen Politik“. Milukow schrieb mit unverhohlener Sympathie: Es war die Generation, die in den Jahren 1904–05 die Aussöhnung von Serben und Kroaten herbeiführte […] und auch den Versuch einer Aussöhnung zwischen Serben und Bulgaren unternahm, der freilich weniger erfolgreich war, obwohl 1912 mit dem Balkanbund ein vorübergehendes Bündnis erreicht werden konnte. Zu Beginn des Weltkriegs waren die Männer dieser Generation erst im mittleren Alter; einige von ihnen wurden einflussreiche Politiker. Aus diesem Milieu stammten die Gegner der Habsburgermonarchie, die unmittelbar vor oder mit Kriegsbeginn über Grenzen und Trennlinien hinweg den Kampf für die volle Unabhängigkeit der slawischen Völker aufnahmen und von der Schweiz, Frankreich, Italien und England aus den bewaffneten Widerstand gegen Österreich-Ungarn organisierten. Aufgrund ihrer humanitäreren und europäischeren Ansichten kamen Leute dieses Schlags, angeführt von ihrem alten Lehrer Masaryk, bei der gebildeten Öffentlichkeit in Europa und Amerika besser an als die ältere, auf Russland fixierte Generation slawischer Politiker.18 Die Gruppe der Politiker, über die Milukow schrieb, bestand aus liberalen Intellektuellen und Idealisten, das heißt Menschen eines Typs, der in der Realpolitik oft in Phasen des Umbruchs auftaucht, um eher früher als später von gewiefteren und zynischeren Politprofis verdrängt zu werden. Nicht anders war es auch in fast ganz Ostmitteleuropa und auf dem Balkan. Als symbolisches Ende des idealistischen Intermezzos können einige Tage Ende November 1918 gelten, als die „Masaryk-Schüler“ an der Spitze des neu errichteten Staats der Slowenen, Kroaten und Serben unter dem Druck innerer und äußerer Bedrohungen den Zusammenschluss mit Serbien beschlossen. Der Staat befand sich zu diesem Zeitpunkt am Rand des Abgrunds. In Kärnten kämpfte man gegen deutsch-österreichische Kampftruppen, im Norden Kroatiens gegen die Ungarn, das slawonische und kroatische Landesinnere wurde von „Grünen Kadern“ heimgesucht.19 Das rasche Eingreifen der serbischen Armee ließ auf den Erhalt der staatlichen Einheit hoffen. Die bedingungslose Vereinigung bedeutete auch einen Triumph des Ministerpräsidenten Nikola Pašić über die kroatischen und slowenischen Demokraten. Es war nicht der einzige, denn zur selben Zeit führte er eine weitere ähnliche Operation durch. Während sich das Schicksal der einstigen südslawischen Randgebiete der Habsburgermonarchie entschied, beriet in Montenegro die sogenannte Große 461

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Nationalversammlung über den künftigen Status des kleinen serbischen Verbündeten. Die Delegierten waren von Belgrad ausgewählt worden, sodass die Ergebnisse der Versammlung niemanden überraschten: Am 13. November 1918 beschloss man in Podgorica per Akklamation die Absetzung von König Nikola und die bedingungslose Vereinigung mit Serbien. Damit hörte die montenegrinische Nation formell auf zu existieren, die örtliche Kirche wurde dem Belgrader Metropoliten unterstellt. Für den Fall, dass nicht alle Montenegriner die Begeisterung der Delegierten der Nationalversammlung teilen sollten, blieb ein serbisches Besatzungskorps in Montenegro zurück. Die Soldaten hatten alle Hände voll zu tun: An Weihnachten 1919 brach in der Umgebung von Cetinje ein bewaffneter Aufstand montenegrinischer Unabhängigkeitskämpfer aus. Unter der Führung von weltkriegserfahrenen Offizieren hielten sie die Provinz ein Jahrzehnt lang im Zustand des permanenten Bürgerkriegs. Die Aufständischen wurden „Komitee“ genannt, die gesamte Widerstandsbewegung gegen die serbische Vorherrschaft „die Grünen“ – ganz offensichtlich war die Erinnerung an die Balkankriege und den Weltkrieg noch wach. Sie manifestierte sich sowohl in den Methoden des bewaffneten Kampfs als auch in der dazugehörigen Begrifflichkeit.20 Die Anfänge der „Komitadschi“ in Makedonien lagen mehr als ein halbes Jahrhundert zurück, die Zeiten, in denen die „Grünen“ große Teile der alten Imperien unsicher machten, ein ganzes Jahrzehnt – doch blieben beide Erscheinungen lebendig und erfassten sogar Gebiete, in denen sie bislang nicht aufgetreten waren. Als Milukow 1927 seine allzu optimistische Analyse der „slawischen Politik“ veröffentlichte, deutete bereits einiges darauf hin, dass sich die Liberalen außer in der Tschechoslowakei auf dem Rückzug befanden. In Bulgarien stürzten die makedonischen Nationalisten der IMRO 1923 die Regierung des Volkstribuns und entschiedenen Antimilitaristen Aleksandar Stambolijski. Der Ministerpräsident wurde ermordet, seine Leiche verstümmelt – die rechten Patrioten schnitten ihr nicht nur den Kopf ab, sondern auch die Hand, die einige Monate zuvor den Vertrag über die Normalisierung der Beziehungen zu Serbien unterzeichnet hatte. In Polen kam es 1926 zu einem bewaffneten Umsturz, der binnen Kurzem das demokratische Experiment beendete. In Jugoslawien verband sich die Hoffnung auf die Bewahrung des „neuen Geistes“ in der Politik der slawischen ­Staa­ten mit Stjepan Radić, dem Anführer der kroatischen Bauernpartei. Radić ­war ein konsequenter Gegner der Zentralisierung des Landes und – wie Stam­ bolijs­­ki – Antimilitarist. Im November 1918 versuchte er seine Politikerkollegen im Nationalrat des Staats der Slowenen, Kroaten und Serben zur Ablehnung einer Vereinigung mit Serbien zu bewegen: 462

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Ihr seid keine Demokraten, denn euch ist gleichgültig, was dieser schreckliche Krieg über uns und insbesondere unsere Bauern gebracht hat. Ihr ignoriert die Tatsache, dass unser Volk und insbesondere die kroatischen Bauern den Militarismus in einem Maß verabscheuen, das sich kaum in Worte fassen lässt. […] Ihr, meine Herren, kümmert euch nicht um unsere und insbesondere die kroatischen Bauern, die nichts mehr von Königen und Kaisern oder einem sich ihnen aufdrängenden Staat hören wollen. Unsere Bauern sind reif genug, um zu begreifen, worin das Ziel von Staat und Vaterland besteht: in Gerechtigkeit und Freiheit, Wohlstand und Bildung.21 Radić blieb ein einsamer Rufer in der Wüste – der Nationalrat beschloss die Vereinigung und die serbische Armee besetzte das Territorium des Staats der Slowenen, Kroaten und Serben. Die nachfolgenden Ereignisse ließen Radićs Popularität deutlich steigen. Die Bewohner der ehemaligen habsburgischen Gebiete wurden zum Wehrdienst verpflichtet, was bei Kroaten und Slowenen nicht gut ankam. Die Polizei meldete immer häufiger, dass kroatische Rekruten nach Ungarn flüchteten. Auch kleine kulturelle Differenzen zwischen den Balkanvölkern führten zu Spannungen. Das serbische Militär arbeitete mit Methoden, die den bisherigen k. u. k. Untertanen fremd waren. So wurden bei Manövern für Armeezwecke requirierte Pferde oder Ochsen den Besitzern anschließend zurückgegeben – allerdings mit Brandzeichen. Diese unbekannte Praxis war den kroatischen Bauern suspekt, sie sorgten sich, dass die serbischen Teufelskunststücke den Tieren schaden könnten. Radić wusste die Ängste und Vorbehalte der Bauern geschickt zu instrumentalisieren. Er drohte der Regierung mit einer Bauernrevolution, indem er auf die 100 000 Kroaten verwies, die als Kriegsgefangene den bolschewistischen Umsturz mit eigenen Augen gesehen hätten und gegebenenfalls zu Ähnlichem in der Lage seien. Nicht zu Unrecht verglich er die brutalen Praktiken der zentralistischen Pašić-Regierung mit den Exzessen der k. u. k. Armee während des Weltkriegs.22 Die Parole „Gestern Wien – heute Belgrad“ brachte die serbischen Nationalisten zur Weißglut – zumal sie bei den Wählern auf großen Anklang stieß. Bei den ersten Parlamentswahlen nach dem Krieg erzielte Radićs Bauernpartei 1923 landesweit mehr als 20 Prozent der Stimmen. Eine solche Kraft musste man ernst nehmen. Oder vernichten. Im Juni 1928 sprach Radić im Belgrader Parlament, er lieferte sich eine heftige und gänzlich unparlamentarische Auseinandersetzung mit einigen kroatischen Abgeordneten, als ein weiterer Redner (der Kriegsveteran und Pašić-Anhänger Puniša Račić) plötzlich eine Waffe zog und 463

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einige Schüsse auf die Parlamentarier abgab. Auch Radić wurde getroffen. Man leistete ihm sofort Hilfe, doch er starb einige Wochen später infolge postoperativer Komplikationen. Die jugoslawische Demokratie sollte nur unwesentlich länger leben. Nach dem Tod seines wichtigsten Rivalen proklamierte Alexander I. Anfang 1929 die Königsdiktatur. Keine zwei Jahre nach der Veröffentlichung von Milukows Artikel hatten die meisten seiner Prognosen jegliche Grundlage verloren. Statt einer neuen Ära der liberalen Demokratie westlichen Typs begann in Ostmittel- und Südosteuropa die dunkle Zeit der Diktaturen. Nicht nur aus Sicht des russischen Demokraten war darin schwerlich ein Fortschritt im Vergleich zur Situation vor 1917 zu erkennen. Unmittelbar nach dem Ende des Weltkriegs konnte man auf einen Zuwachs an Freiheit in Ostmitteleuropa und auf dem Balkan hoffen. Die zweite Hälfte der 1920er und der Beginn der 1930er Jahre ließen diesen Traum auf brutale Weise platzen. Den Menschen, die sich für eine grundlegende Veränderung eingesetzt hatten, fiel es nicht leicht, dies einzugestehen. Manche konnten sich nie dazu durchringen, der polnische Historiker Henryk Wereszycki, ein Teilnehmer des Polnisch-Ukrainischen Kriegs (1919) und des Polnisch-Sowjetischen Kriegs (1920), brauchte ein halbes Jahrhundert. Anfang der 1980er Jahre erzählte er: […] Ich erinnere mich an die Feier zum 75. Geburtstag Bolesław Limanowskis 1910. […] Mir ist nur ein Detail im Gedächtnis geblieben, das mich sehr beeindruckte. Der Vertreter der ukrainischen Sozialisten Mykola Hankytsch [Wereszyckis biologischer Vater] hielt eine Rede, die er mit den Worten beendete: „Genosse Limanowski, wir wünschen dir ein freies Warschau.“ Das berührte mich zutiefst. Mich überlief ein Schauer. […] Als wir 1968 zum 50. Jahrestag der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Freundeskreis eine kleine Feier veranstalteten und ich ein paar Worte sagen sollte, erinnerte ich an Limanowskis Geburtstag. Ich äußerte diesen Gedanken: Der Wunsch eines freien Warschau ging in Erfüllung, doch Limanowski konnte sich davon überzeugen, dass 1910 in Lemberg mehr Freiheit herrschte als 1930 in Warschau. Obwohl Lemberg als Hauptstadt eines Teilungsgebiets nicht unabhängig war, herrschte dort Freiheit in einem Sinn, in dem es sie 1930 nicht gab. Die Freiheit des Jahres 1910 waren die Bürgerrechte, die man sich in der österreichisch-ungarischen Monarchie, vor allem in Cisleithanien, also in Österreich (Ungarn war unfreier), erkämpft hatte.23

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Die so verstandene Freiheit wurde nicht nur im posthabsburgischen Galizien beschnitten. Fast der ganze uns interessierende Teil Europas befand sich diesbezüglich in einer keineswegs besseren Lage als vor dem Weltkrieg. Den von Milukow 1927 verwendeten Begriff der „unpolitischen Politik“ benutzt ein halbes Jahrhundert später auch Václav Havel mit Bezug auf Masaryk. Milukow bewegte sich etwas außerhalb seiner Zeit – der Epoche der autoritären Diktaturen. Havel wirkte in der Ära der posttotalitären Diktaturen ähnlich verloren. Wereszycki wiederum konnte unter den Bedingungen des real existierenden polnischen ­Sozialismus nicht schreiben, was er wirklich meinte: dass 1950 sehr viel weniger Freiheit als zwanzig Jahre zuvor herrschte (von 1910 ganz zu schweigen) und auch 1968 die Verhältnisse kaum besser waren. Anders als Milukow siegte Havel und wurde im Dezember 1989 erster Präsident der unabhängigen Tschecho­slowakei. Der um eine Generation ältere, von Krankheit geplagte Wereszycki erlebte immerhin noch, wie die Freiheit nach Krakau und Warschau zurückkehrte. Der Augenzeuge dreier Epochen und Teilnehmer zweier Weltkriege starb im Februar 1990.

Veteranen erster und zweiter Klasse In der Literatur denkt man im Kontext des Ersten Weltkriegs fast automatisch an Antikriegsromane. Erich Maria Remarque, Jaroslav Hašek, Henri Barbusse, Karl Kraus oder Józef Wittlin verdanken ihren Platz im literarischen Kanon Werken mit pazifistischer Botschaft. In der Zwischenkriegszeit, in der diese Autoren ihren Weg begannen, war die Situation eine völlig andere. Es dominierten Roma­ne voller Kampfgeist, die sich immer auf die richtige Seite stellten. In der Tschechoslowakei gehörten ehemalige Legionäre zu den beliebtesten Autoren, allen voran Rudolf Medek, nach 1918 General und langjähriger Direktor des Denkmals der nationalen Befreiung (Památnik národního osvobození), einer dem Gedenken an die Kämpfer für die Unabhängigkeit des Landes gewidmeten Museums- und Forschungseinrichtung.24 Eine ähnliche Funktion erfüllten in ­Jugoslawien die belletristisierten Erinnerungen von Freiwilligen der in Russland formierten (und 1916 während der gescheiterten Operation in der Dobrudscha ausgebluteten) Einheiten.25 In den Romanen von Autoren wie den Tschechen R ­ udolf Medek, ­Josef Kudela oder Jaroslav Kratochvíl oder den ehemaligen kroatischen Freiwilligen Dane Hranilović und Slavko Diklić erschien der Krieg als Charakterschmiede des neuen Menschen. Dieser neue Mensch hatte nichts mit den Soldaten der imperialen Armeen gemeinsam, die sich wie Vieh zum Schlachten hatten führen lassen. In den Romanen wird in zahlreichen, an die von uns besprochenen symbolischen Bilder der Schlachten bei Kostiuchnówka oder Z ­ borówo erinnernden 465

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Szenen der Bruch mit dem „Alten“ gestaltet. Dass diese staatlich geförderte Literatur die Erfahrung der allermeisten Kriegsteilnehmer, die nicht in „nationalen“ Einheiten gekämpft hatten, komplett ignorierte, war den Autoren meist überhaupt nicht bewusst. So schrieb der ehemalige polnische Legionär und Schriftsteller Karol Koźmiński im Vorwort eines in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre erschienenen Buchs: Steine für die Schanze erzählt die Lebensgeschichte von zwölf unserer auf dem Feld der Ehre gefallenen Soldaten sowohl aus der Ersten Brigade als auch aus anderen Legionsbrigaden, sowohl aus den Legionen als auch aus den östlichen Formationen oder der polnischen Armee in Frankreich. Man könnte fragen, warum ich die Sammlung auf die geringe Anzahl von zwölf beschränke, wo doch Tau s ende polnische Soldaten ihr Leben auf der Schanze des Vaterlandes opferten? Und man könnte weiter fragen, warum ich ausgerechnet diese und keine anderen Soldaten auswählte? Ich weiß, dass zwischen 1914 und 1920 tausendfach mehr solcher „Steine“ auf der polnischen Schanze zu liegen kamen, dass es ganze Bände bräuchte, um die Lebensläufe all derer zu sammeln, die durch ihren Tod die Auferstehung und das Leben des Vaterlandes erkauften. Meine Arbeit kann daher nur ein kleiner Teil eines großen Ganzen sein. Ich werde auch glücklich sein, wenn wenigstens einer meiner Leser mir zeigt, wer in dieser „Schanze“ fehlte, und ich werde stolz sein, wenn mein Buch einen anderen Autor zu einer vollständigeren und umfassenderen Arbeit anregte, die das Andenken all jener würdigte, die heute die Grenzhügel des neuen Polen sind.26 Der den Polnischen Legionen entstammende Autor schloss zwar die Kooptation weiterer Helden des Unabhängigkeitskampfes nicht aus, doch mussten es Soldaten polnischer Einheiten sein, die unter polnischer Flagge und polnischem Kommando kämpften. Die übrigen Kriegsteilnehmer eigneten sich nicht als „Grenzhügel des neuen Polen“. Dieser Blick auf den Krieg entwertete das Kriegsleid aller Bürger der Zweiten Republik, die in anderen Uniformen und unter anderen Flaggen kämpften und starben. Einen identischen Standpunkt vertraten die Autoren/Veteranen in der Tschechoslowakei und im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Vielleicht handelt es sich lediglich um eine bestimmte historische Variante eines zeitlosen Phänomens: Heldentum und Opferbereitschaft zählen nur dann, wenn ihr Zweck dem nach dem Kampf herrschenden Zeitgeist entspricht. Wonach dieser Zeitgeist verlangt, weiß man unglücklicherweise (für die Veteranen und für künftige Kriege) immer erst hinterher. 466

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Der rote Kommissar Švejk Jaroslav Hašek tat viel dafür, nicht alt zu werden. Selbst der größte Libertin hätte seinen Lebensstil nicht gesund nennen können. Er vermied jede feste Arbeit, trieb sich in der Welt herum und trank – ohne Maß und Ziel. Ein Freund erinnerte sich, dass Hašek hektisch trank, ohne Pause, ohne Sinn, oft ein Glas nach dem anderen, ganz als wolle er ein unangenehmes Gefühl ertränken, dass ihn in größerer Gesellschaft befiel.27 Er wurde nicht einmal vierzig Jahre alt. Er starb während der Arbeit an seinem größten Werk, den Kriegsabteuern des Soldaten Švejk. Die letzten Lebensmonate teilte er gerecht zwischen seinem Helden und dem Alkohol. Er trank und schrieb, fertige Abschnitte schickte er zum Druck und behielt nur die letzte Seite. Die Vorschüsse seines Verlegers vertrank er umgehend. Diese Arbeitsweise macht es Literaturhistorikern nicht leicht. Ein hastig heruntergeschriebener Roman, der keinem Plan folgt und dazu noch fast mitten im Satz abbricht, hat zwangsläufig kein Ende und damit auch keine Pointe. Als in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre klar wurde, dass Hašek ein Meisterwerk geschaffen hatte, setzte eine Diskussion ein: Wie wäre der Roman wohl weitergegangen? Und vor allem: Was war letztlich seine Botschaft? Schon in der Zwischenkriegszeit kristallisierten sich zwei konkurrierende Lesarten heraus. Die erste begriff Hašeks Roman als pazifistisches Manifest und Satire auf den Militarismus. Eine solche Interpretation vertrat unter anderen (der später als Klassiker des Antikommunismus bekannt gewordene) Arthur Koestler. Mitte der 1930er Jahre begann er im Auftrag der Deutschen Kommunistischen Partei ein Werk mit dem Titel Der gute Soldat Schweik geht wieder in den Krieg. Es ist nur in Fragmenten erhalten, weil Koestler nach dem Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs als Kriegsberichterstatter an die Front reiste und ein weiteres unvollendes Švejk-Porträt zurückließ. Dieses Mal dient der Titelheld nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch das Dritte Reich in der Wehrmacht als Dolmetscher eines KZ-Kommandanten. Dieser, ein Monarchist und Gegner des NS-Regimes, lässt erst für die Juden und dann für alle Häftlinge koschere Mahlzeiten kochen. Der Stürmer enthüllt den Skandal, der Kommandant und das Lagerpersonal werden an die Front geschickt. Unterwegs wird der Transport bombardiert. Der Offizier, der Švejk bis dahin gepiesackt hatte, glaubt, dies sei das Ende und sein Untergebener werde nach dem Krieg zu einer wichtigen Person. 467

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Koestler schreibt in seiner Autobiografie, die deutschen Kommunisten hätten schon den Beginn seines Werks für zu pazifistisch gehalten. Kein Wunder. Die Neufassung war schlicht zu absurd, als dass sie als Propagandamaterial hätte dienen können. Die zweite – tschechoslowakische – Lesart ging weiter und entgegen dem ersten Anschein in eine andere Richtung. Ihre besten Zeiten erlebte sie in den Jahren 1948–89, in denen Hašeks Werk kurz gesagt als erster proletarischer Roman der tschechischen Literatur angesehen wurde. Beide Lesarten stimmten darin überein, gegen wen sich Hašeks Ironie richtete: Švejk war eine Satire auf den österreichisch-ungarischen Militarismus und eine Parodie der tschecho­slowakischen Legionäre, deren Heldentum in der Zwischenkriegszeit im öffentlichen Raum der Tschechoslowakei bis zum Überdruss gefeiert wurde. Die Unterschiede zwischen den Lesarten betrafen die Frage nach dem weiteren Verlauf des Romans. Wie weit hatte Hašek in seinem Protest gegen imperialen Militarismus und tschechischen Nationalismus gehen wollen? Die marxistische Antwort auf diese Frage kristallisierte sich in den 1950er Jahren heraus. Sie gründete auf einem gegen alle literaturwissenschaftlichen Grundsätze verstoßenden Verfahren, das heißt auf der Gleichsetzung von literarischer Figur und der Person des Autors. Švejk diente im selben Regiment wie Hašek, während des Kriegs befanden sie sich im selben Frontabschnitt, warum sollte es also keine weiteren Parallelen geben? In Hašeks Fall bedeutete das: russische Kriegsgefangenschaft, Eintritt in die Tschechoslowakische Legion, anschließend Wechsel auf die Seite der Bolschewiki und Dienst als politischer Kommissar in der 5. Roten Armee in Sibirien und im mongolischen Grenzgebiet. Die russischen Erlebnisse des Schriftstellers wurden nirgends ausführlicher beschrieben, seine Sympathie für die Kommunisten war aber unbestritten. Der sowjetische Hašek-Forscher Siergej Nikolski zog daraus weitreichende Schlussfolgerungen: […] die verfügbaren Informationen erlauben schlüssige und sichere Rückschlüsse auf die allgemeinen Umrisse der Gesamtkonzeption der Abenteuer des guten Soldaten Švejk … Alle grundlegenden Komponenten benannte der Autor in eigenen Äußerungen, aus denen hervorgeht, dass er in den unvollendeten Teilen des Romans die Handlung nach Russland verlegen und Slowaken und Tschechen zunächst in der Gefangenschaft, dann in den tschechoslowakischen Freiwilligenlegionen und schließlich während des Bürgerkriegs in der Roten Armee zeigen wollte. Švejk und einige andere Figuren des Romans sollten in den Reihen der 5. Armee kämpfen, deren Weg 468

Gewinner und Verlierer

von der Wolga bis zum Baikal führte. Im Verlauf der Handlung wollte der Autor zeigen, wie sich die Stimmung der tschechoslowakischen soldatischen Massen änderte und sie von Sabotageakten (in der österreichischen Armee) zum bewaffneten Kampf gegen die österreichisch-ungarische Monarchie übergingen, um anschließend mit der Waffe in der Hand für die soziale Befreiung zu kämpfen. An diesen Prozess dachte Hašek höchstwahrscheinlich, als er sagte, er wolle in seinem Roman zeigen, „was unser [der tschechische] wahrer Charakter ist und wozu er fähig ist“.28 Diese nicht sonderlich raffinierte Interpretation wurde in den volksdemokratischen Ländern amtlich autorisiert, obwohl sie einen offensichtlichen Widerspruch enthielt. Die marxistischen Literaturwissenschaftler betonten gern, dass Hašeks Roman im Dritten Reich verboten war und während des Zweiten Weltkriegs wegen seiner vermeintlich demoralisierenden Wirkung auch aus den Militärbibliotheken der Alliierten verschwand. Zur selben Zeit erschien die russische Auflage in Massenauflagen und linke Künstler (darunter Bertolt Brecht) versuchten den braven Soldaten für den Kampf gegen den Faschismus einzuspannen. Doch letztlich entpuppte Švejk sich für den Kommunismus als nicht minder problematisch. Armee blieb Armee, unabhängig davon, ob sie auf ihren Mützen das habsburgische Messingröschen oder den roten Stern trug. Ein Antikriegsroman, erst recht ein solcher wie Die Abenteuer des guten Soldaten Švejk …, taugt schlicht nicht als Anschauungsmaterial für Soldaten, egal, welchem System sie dienen. Die Vorstellung von Švejk als Angehörigem der Roten Armee war ein Versuch, diesen Widerspruch zu lösen. Das Beispiel kam von ganz oben. Der Nestor der stalinistischen Geschichtsschreibung, Zdeněk Nejedlý, nach dem Krieg ein wichtiger Kulturfunktionär in der Tschechoslowakei, schrieb 1945 in der sowjetischen Tageszeitung Nowyj Mir: [E]s wäre überaus interessant, den Hašek zu beleuchten, der die österreichische Armee von innen heraus zersetzt, wie auch Hašek als aktiven Kämp­fer in den Reihen der sowjetischen Armee.29 Das war der springende Punkt: Benötigt wurde ein Kämpfer, kein „Tölpel bei der Kompanie“. Aus dieser Perspektive konnte das, was Hašek geschrieben hatte, weniger bedeutsam erscheinen als das, was er hätte schreiben können, wenn er sich die Schlagworte der sozialistischen Moral etwas mehr zu Herzen genommen hätte. 469

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Mitunter ist die Literatur tatsächlich ein Spiegel der Wirklichkeit. Die Kriegsdeutungen, die sich aus den Legionsromanen herauslesen ließen, stimmten perfekt mit der offiziellen Symbolpolitik des Staates und mit seiner Einstellung zu den Kriegsveteranen überein. Letztere bildeten eine zahlenmäßig starke Gruppe, die entschlossen um ihre Rechte kämpfte. In keinem Land Ostmitteleuropas taten sie dies freilich unter dem Dach einer gemeinsamen Organisation. In der Regel gab es zwei grundlegende Trennlinien. Unversehrte Veteranen und Invaliden waren in eigenen Verbänden organisiert, Letztere oft sogar zusätzlich noch nach der Art ihrer Verwundungen. Das zweite grundlegende Unterscheidungskriterium war natürlich die frühere Zugehörigkeit zu nationalen oder imperialen Armeen. Es gab auch nicht wenige Organisationen, die sich über die Nationalität ihrer Mitglieder definierten. Zu den größten zählten der Dachverband jüdischer Verbände für Kriegsinvaliden, -witwen und -waisen der Republik Polen sowie die deutschen Veteranenverbände in der Tschechoslowakei. Wie in der Literatur wurden auch im wirklichen Leben die Aufopferung und die Wunden der ehemaligen Angehörigen nationaler Einheiten sehr viel höher geschätzt. Gelegentlich nahm die Einteilung in bessere und schlechtere Veteranen offizielle und formelle Gestalt an. In Estland unterschied man zwischen den „eestiaegsed sõdurid“ („Soldaten aus der estnischen Zeit“) und den „veneaegsed sõdurid“ („Soldaten aus der russischen Zeit“), die ausschließlich in der russischen Armee gedient hatten. Die Invaliden aus der „estnischen“ Gruppe erhielten Anfang der 1920er Jahre mehr als zehnmal höhere Sozialleistungen als die Invaliden der anderen Gruppe; spätere Erhöhungen vergrößerten den Abstand noch, statt ihn zu verringern.30 Auf die Forderung einiger Veteranenverbände nach einer Angleichung der Renten reagierte der estnische Ministerpräsident aufrichtig empört: „Niemand hat das Recht, der estnischen Regierung derart unverschämte Forderungen zu stellen.“31 In Polen behandelte der Staat die Kriegsopfer etwas weniger dreist, dafür aber weitaus perfider. Formal erhielten alle Invaliden Renten, unabhängig davon, in welcher Uniform sie verwundet worden waren. Allerdings hatte das von Armut und Inflation geplagte Land Mühe, seinen Verpflichtungen nachzukommen, und war nicht in der Lage, die bislang von den Teilungsmächten ausgezahlten Leistungen in voller Höhe zu übernehmen. 1920 beschloss man, Renten in Höhe von 60 Prozent der von den Teilungsmächten festgesetzten Beträge zu zahlen. In der Praxis legte man den „imperialen“ Invaliden eine unüberwindliche Hürde in den Weg, indem man die Rentenzahlung von der Vorlage der Demobilisierungspapiere abhängig machte. Etwas Derartiges besaßen aber zumin470

Gewinner und Verlierer

dest die ehemals russischen und österreichisch-ungarischen Soldaten in den seltensten Fällen – beide Armeen waren auseinandergefallen, ohne eine geordnete Dokumentation zu hinterlassen.32 Für die Versorgung von Soldaten, die während des Weltkriegs in polnischen Einheiten gekämpft hatten (also hauptsächlich der Legionäre), und auch der Invaliden der nach 1918 vom polnischen Staat geführten Kriege stellte diese Hürde kein Problem dar. Diese Doppelmoral war Gegenstand heftiger Debatten in der Verfassunggebenden Nationalversamm­ lung, während derer der Abgeordnete Herman Lieberman mehr Rechte für die „Teilungsveteranen“ sowie für die Witwen und Waisen gefallener Soldaten der Teilungsarmeen forderte – auch diese hätten schließlich für das Vaterland gekämpft, das ihnen und ihren Familien eine Wiedergutmachung schulde.33 Mit dieser moralischen Argumentation stand Lieberman allerdings allein auf weiter Flur. In den Folgejahren wurde die Diskussion über die Invalidenrenten von prak­ tischen Erwägungen bestimmt. Während die Volksabstimmungen und Kämpfe um die Staatsgrenzen noch andauerten, verwiesen Parlamentarier darauf, dass die Invalidenrenten ein Argument in der Entscheidung für oder gegen Polen sein könnten. Unverändert hielt sich aber die Überzeugung, dass der Staat nur den Soldaten Hilfsleistungen schulde, die für die Unabhängigkeit kämpften. Die übri­ gen Veteranen und Invaliden sowie ihre Frauen und Kinder waren auf die Gnade der Regierung angewiesen.34 In der Tschechoslowakei dachte man ähnlich. Auch hier kollidierten die Interessen der Kriegsinvaliden immer wieder mit der Auffassung, dass sich der Staat vor allem den ehemaligen Legionären erkenntlich zeigen sollte. Zum Austragungsort dieses Konflikts wurden die Kinos und Trafiken, die gemäß einer alten österreichischen Tradition an Kriegsinvaliden verpachtet worden waren. Nach 1918 erschien aber eine andere Gruppe von Veteranen, die diese Kleinunternehmen für sich beanspruchte – die Legionäre. Ein Kompromiss hätte bedeutet, dass es auf jeder Seite Unzufriedene gegeben hätte. Um den Konflikt zwischen den Veteranen der beiden Gruppen zu entschärfen, bot man den Invaliden vermehrt Bürotätigkeiten an. Dazu entließ man die Personen – überwiegend Frauen –, die diese Tätigkeiten bisher ausgeübt hatten. Manche staatlichen Behörden verwiesen zwar auf die höheren Qualifikationen ihrer Sekretärinnen, die oft mindestens eine Fremdsprache beherrschten, doch letztlich ohne Erfolg. Die Arbeitgeber nutzten dabei eine in der Tradition der ansonsten so sehr kritisierten österreichischen Zeit stehende Rechtsvorschrift, nach der verheiratete Frauen entlassen werden konnten, weil man davon ausging, dass sie durch ihre Ehemänner versorgt seien.35 471

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Die in der Nachkriegszeit überall in Ostmitteleuropa herrschende Praxis, dass der Staat nur den Teilnehmern des nationalen Befreiungskampfs verpflichtet sei, stieß anfangs auf Widerstand. Zu Beginn der 1920er Jahre kam es zu Auseinandersetzungen von Veteranen (auch Invaliden) mit der Polizei, Demonstrationen verwandelten sich mitunter in Straßenkämpfe. Mit der Zeit wich der Protest aber der Resignation. An die Stelle von Forderungen traten Bitten und Appelle, die auf besonders vernachlässigte und vergessene Gruppen von Bedürftigen hinwiesen: Was für eine Freude am Leben hat eine Kriegswitwe? Du gehst nach draußen und begegnest einer abgehärmten, zahnlosen Frau mit den Spuren der Armut am ganzen Körper. Das ist eine Kriegswitwe. Du siehst sie den ganzen Tag irgendetwas zum Lebensunterhalt ihrer Kinder zusammentreiben, die ihr als einzige Erinnerung an den getöteten Ehemann bleiben. Du begegnest einer Frau mit einem Korb auf dem Rücken, in einer Hand eine Sichel, in der anderen ein Seil, an welchem sie Ziegen angebunden hat[,] und vor ihnen springen einige klapperdürre Kinder – und das ist unsere Kriegswitwe. Der Ernährer fiel im Weltkrieg und in der Hütte ist Öde und Elend; deshalb geht man in den Wald, der ihnen der Ernährer ist.36 In ähnlich klagendem Ton äußerten sich in der Zwischenkriegszeit die Anwälte verschiedener Opfergruppen wie etwa der tuberkulosekranken Kriegsinvaliden, die aus epidemiologischen Gründen in geschlossenen Anstalten untergebracht waren, wo sie nicht einmal mit ihren Familien verkehren durften. Diese Anstalten hatten nichts mit dem Sanatorium aus dem Zauberberg gemeinsam, die Insassen konnten kaum auf Entlassung hoffen. Viele von ihnen nahmen sich das Leben. Nur unwesentlich besser war die Lage der Blinden. Die Nachkriegserfahrungen der Veteranen der imperialen Armeen schlugen sich in ihren politischen Standpunkten nieder. Die radikale Rechte erwuchs bekanntlich in den 1920er Jahren aus den Milieus enttäuschter ehemaliger Soldaten, aus denen sie ihre soziale Basis rekrutierte (im folgenden Jahrzehnt kam die Jugend hinzu). Für Ostmittel- und Südosteuropa muss diese Gesetzmäßigkeit in gewisser Hinsicht modifiziert werden. In der Regel waren hier die Veteranen der nationalen Streitkräfte offen für Experimente mit dem Faschismus und seinen Derivaten, während die ehemaligen Soldaten der Imperien sich in der europawei­ ten pazifistischen Bewegung engagierten. In internationalen Veteranenverbänden mit ähnlicher Weltanschauung spielten sie eine vergleichsweise größere Rolle als in ihren Heimatländern, wo im öffentlichen Diskurs meist die militaris472

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tischeren Veteranen der nationalen Einheiten dominierten. Ausnahmen von dieser Regel zeigten sich später, als sich etwa in den 1930er Jahren manche ehemaligen k. u. k. Offiziere der Ustascha-Bewegung anschlossen. In den Sukzessionsstaaten, die anders als Polen oder die Tschechoslowakei die symbolische Verbindung zu der Zeit vor 1914 aufrechterhielten, war die Segregation der Veteranen weniger stark ausgeprägt. Das zeigte sich in Ungarn (obwohl die Soldaten der ungarischen Roten Armee natürlich keine Veteranenrechte erhielten) sowie in Österreich, wo man zwar auch Schwierigkeiten hatte, allen bedürftigen Veteranen und Invaliden eine angemessene Arbeit zu verschaffen, wo aber sowohl Sozialdemokraten als auch Christsoziale die Unterstützung der ehemaligen Soldaten der österreichisch-ungarischen Armee als Ehrensache betrachteten.37 Eine Sonderstellung nahmen Rumänien und das Königreich der Serben, Kroa­ten und Slowenen ein. Dort gehörten die Veteranen beiden oben genannten Gruppen an: der nationalen und der imperialen. Mehrheitlich handelte es sich um ehemalige Soldaten der rumänischen und der serbischen Armee, doch auch die österreichisch-ungarischen Veteranen aus den Gebieten, die den beiden Staa­ ten aufgrund der Beschlüsse der Pariser Friedenskonferenz zugefallen waren, forderten ihre Rechte ein. Erstere verwiesen auf ihre Verdienste für das jetzige Vaterland, die sie freilich anders als die polnischen oder tschechoslowakischen Legionäre nicht in paramilitärischen Einheiten, sondern als reguläre Soldaten der königlichen Armeen erworben hatten. Letztere hatten vor 1918 nicht nur anderen Armeen angehört, sondern nicht selten auf der anderen Seite der Front gestanden. Besonders tief war die Kluft zwischen serbischen und kroatischen Welt­kriegsveteranen. Unter den Serben dominierten nationalistische Veteranenverbände, die zwei politische Richtungen vertraten: die jugoslawische und die großserbische. Beide Lager verband die inbrünstig gepflegte Erinnerung an die serbischen Siege und die serbische Opferbereitschaft im Kampf gegen Österreich-Ungarn. Diese „Kultur des Sieges“ ließ sich nicht sinnvoll mit der „Kultur der Niederlage“38 der habsburgischen Veteranen zusammenführen. Mit der Zeit wuchs in den serbischen Verbänden die Bedeutung der „Jugendfraktion“, einer klei­nen Gruppe von Funktionären, die aus Altersgründen nicht am wirklichen Krieg teilgenommen hatten, dies aber durch umso größere Radikalität und Kampf­ lust in der Friedenszeit wettmachten. Dies war ein noch größeres Hindernis für eine Verständigung zwischen den beiden Gruppen jugoslawischer Veteranen. Die unterschiedlichen Fronterfahrungen schlugen sich unmittelbar in politischen Sympathien sowie im Sozial- und Wirtschaftsleben nieder. Die kroatischen 473

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und slowenischen Bauern, die oft in der österreichisch-ungarischen Armee gedient hatten, unterstützten überwiegend Stjepan Radićs Bauernpartei. Das kroatische Offizierskorps hingegen sympathisierte – abgesehen von Personen, die wie General Svetozar Boroević in Jugoslawien keinen Platz für sich sahen – überwiegend mit der Partei des Rechts und lehnte eine Vereinigung mit Serbien ab. Die serbischen Veteranen, die sich für die Zentralisierung des Staates einsetzten, erwarteten im Gegenzug eine Belohnung und erhielten sie nicht nur in Form von Geldleistungen und Einstellungsprivilegien. Im Zuge der jugoslawischen Bodenreform erhielten Veteranen – natürlich nur, wenn sie der serbischen Armee angehört hatten – große Landflächen in den neu gewonnenen Provinzen. Zwischen den organisierten Veteranen beider Seiten kam es zu Schlägereien und Rechtsstreitigkeiten. Die Obrigkeit stand auf der Seite der serbischen Veteranen und verweigerte den übrigen etwa die Errichtung von Denkmälern für „ihre“ Gefallenen.39 Die einzige Gruppe von Nichtserben, die im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit einen den polnischen oder tschechoslowakischen Legionären vergleichbaren Status erlangte, waren die ehemaligen Freiwilligen, die man während des Weltkriegs in Russland unter den österreichisch-ungarischen Kriegsgefangenen angeworben hatte. Sie allein konnten sich tatsächlich als jugoslawische Veteranen betrachten. Im Lauf der Zeit radikalisierten sich einige Veteranengruppen so sehr, dass sie für den Staat zu einem ernsten Problem wurden. Der von einem in die Politik gegangenen serbischen Kriegsveteranen verübte Anschlag auf Radić war nur der erste Schritt auf dem Weg ins Chaos. Im Oktober 1934 wurde König Alexander I. während eines Staatsbesuchs in Frankreich von einem IMRO-Mitglied erschossen. An der Vorbereitung des Attentats waren kroatische Ustascha-Mitglieder, ebenfalls Veteranen, beteiligt. Die schlechteste Position unter den Kriegsveteranen hatten in allen uns interessierenden Ländern die Invaliden der einstigen imperialen Armeen. Oft lebten sie in tiefster Armut; arm- oder beinlose Bettler in Uniformresten waren in den Straßen von Warschau oder Prag kein seltener Anblick. Wie überall in Europa versuchte man sie zu aktivieren, indem man Arbeitsplätze schuf, die ihren körperlichen Möglichkeiten entsprachen. Dazu dienten Handwerksschulen, in denen die Invaliden etwa zur Fertigung von Prothesen angelernt wurden. Derartige Einrichtungen hatten oft militärischen Charakter, was wiederholt zu Reibereien zwischen den verschiedenen Gruppen von Veteranen führte. Die schärfsten Konflikte gab es auch in diesem Fall im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, wo verdiente serbische Veteranen als Vorgesetzte von kroatischen und slowenischen Invaliden fungierten. Während der gesamten Zwischenkriegszeit 474

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wurden die Belgrader Behörden mit Klagen von Insassen der Invalidenanstalten überschüttet, die von ihren Pflegern als „schwäbische Huren“ beschimpft oder bestohlen wurden. Inspektionen bestätigten in der Regel die Aussagen der kroatischen und slowenischen Beschwerdeführer. So antwortete der Leiter einer Einrichtung in Moslavina, ein ehemaliger serbischer Offizier, auf alle Forderungen seiner kroatischen Schutzbefohlenen: „Hier habe ich das Kommando und, wenn euch das nicht passt, beschwert euch doch bei eurem Franz Joseph.“40 Abgesehen vom barschen Ton, ist diese Aussage mehr oder weniger repräsentativ für die in den Nachkriegsstaaten vorherrschende Einstellung gegenüber den Veteranen der imperialen Armeen. Die große Veränderung, die der Weltkrieg mit sich gebracht hatte, entpuppte sich für fast alle Betroffenen als Enttäuschung. Selbst diejenigen, die für die Verwirklichung ihrer nationalen Ideale gekämpft hatten, waren keineswegs rundum glücklich. Die Nachkriegsstaaten und -nationen entsprachen nicht dem idealisierten Bild der Einheit und Homogenität in den nationalen Streitkräften. Dieses Ideal lag noch immer in weiter Ferne, mit der Zeit wurde der Abstand sogar eher größer als kleiner. Umso mehr Grund zur Unzufriedenheit hatten all jene, die sich völlig unerwartet in einer neuen Ordnung wiederfanden. Nicht nur die nationalen Minderheiten, deren Anzahl nach 1918 deutlich anstieg, hatten Grund zur Klage. Auch Angehörige der herrschenden Nationen fühlten sich mitunter als Bürger zweiter Klasse, etwa die Kriegsinvaliden oder die Witwen und Waisen der Weltkriegsgefallenen. Doch nicht nur ihnen, sondern auch gesunden und keineswegs armen Menschen mit einem nüchternen Blick auf das Leben bereitete die neue Lebenswirklichkeit Sorge und Unbehagen. Der Schriftsteller Miroslav Krleža gehörte zu den Hunderttausenden kroatischen Weltkriegsveteranen. In seinen pazifistischen Erzählungen der frühen 1920er Jahre porträtierte er Landsleute, die man ihrer Scholle entrissen und zum Sterben ins ferne und kalte Galizien geschickt hatte.41 Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs wechselte er die Perspektive und betrachtete, was aus den Trümmern des Ersten Weltkriegs erwachsen war. Der Anblick war wenig erfreulich. Das von Krleža erfundene Blitwien, ein imaginärer und doch durch und durch wahrer Staat, kam nicht nur jugoslawischen Lesern erschreckend bekannt vor.

Blithuania Restituta Vier Jahre lang metzelten dreißig europäische Nationen sich gegenseitig nieder. Aus diesem Blutbad ging Blitwien hervor, ebenso wie die Blechrassel 475

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Blithuania Restituta für alle, die Oberst Barutanski als Patrioten kompromittieren wollte. Die unabhängige und souveräne Republik entstand im Jahr siebzehn aus dem Frieden im Blitwischen Sumpf, als Oberst Barutanskis Legionäre auf dem nach dem blitwischen Nationaldichter Andreas Waldemaras benannten Platz die Unabhängigkeit ausriefen und zum ersten Mal das Lied der Legionen „Es marschiert, marschiert die blitwische Brigade“ als Nationalhymne sangen. Am selben Tag wurde die alte blitwische Hymne „Hej, Blitwier, noch lebt der Väter Ruhm!“ zum Lied aller Oppositionellen und Unzufriedenen. Wegen dieser beiden Lieder wurde viel blitwisches Blut vergossen, ehe der Ministerpräsident und Vordenker der blitwischen Großgrundbesitzer Muschikowski als Kompromiss den alten romantischen Weckruf: „Noch ist Blitwien nicht verloren, solange wir am Leben sind …“ zur Nationalhymne erklärte. Der Frieden im Blitwischen Sumpf machte Blitwien zu einer unabhängigen Republik mit einer Million siebenhunderttausend Einwohnern, doch er löste nicht die blitwische Frage, denn eine Million dreihunderttausend Blitwier verblieben auf dem Territorium des neugegründeten Blatwien und achthunderttausend unter dem hunnischen Joch, von dem Blitwien sie nach dem Willen der Großen Botschafter am Grünen Tisch in Versailles nicht „befreien“ durfte. Diese blitwische Irredenta führte im Dezember des Jahres fünfundzwanzig zum zweiten Staatsstreich von Oberst Barutanski; sein sogenannter Weihnachtsputsch kostete dreitausend Menschenleben. Diese dreitausend Toten wiederum werden einen Putsch gegen Oberst Barutanski heraufbeschwören oder aber Oberst Barutanski ermordet weitere dreitausend Rebellen und erklärt Blatwien den „Krieg bis zum letzten Mann“, weil Blatwien sich Blitwien einverleiben will, woraufhin Blitwien einen Krieg beginnt, da es keinen anderen Ausweg sieht, als Blatwien im Krieg zu vernichten… Blitwien, das unter den Hunnen Blitwas-Holm hieß, erklärt dem blatwischen Vajda-Hunen den Krieg, und Vajda-Hunen brandschatzt und zerstört gemeinsam mit Hunnien, Kobylien und Ingermanland Blitwien. Daraufhin beginnt Blitwien einen neuen Krieg um die Befreiung „vom Feindesjoch“; dieser Unabhängigkeitskampf entfesselt eine neue Reihe von europäischen Kriegen, und so enden die blutigen nationalen Feuerwerke im Jahr 2048 mit einem neuen, in einem Eisenbahnwaggon in Blatwisch-Weiler unterzeichneten Waffenstillstand, während die Blitwier weiter ihr freiheitskämpferisches Lied „Es marschiert, marschiert die blitwische Brigade“ singen – die einzige Gewähr ihrer Befreiung im einundzwanzigsten Jahrhundert. Kraft des neunzehnhundertsiebzehn im Blitwischen Sumpf geschlossenen Friedens wurde 476

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das unglückliche tausendjährige Blitwien genau so zusammengestutzt wie es in hunderdreißig Jahren kraft eines eventuellen Waffenstillstands in Blatwisch-Weiler im Jahr 2048 zusammengestutzt werden wird, und diese schändliche Waffenruhe in Blatwisch-Weiler wird zur blitwischen Nationalschande, nicht anders als der Frieden im Blitwischen Sumpf von neunzehnhundertsiebzehn (von den Blitwiern ironisch „Sumpffrieden“ genannt), der die „tödlich verwundete und gedemütigte blitwische Nation“ in pathetische Trauer stürzte. Sofern es freilich Oberst Barutanski gelingt, ein internationales Bündnis mit Hunnien, Kobylien und Ingermanland zu schließen und in den Bündnispartern das Interesse an einer Auslöschung der Republik Blatwien zu wecken – dann bedeutet jener neue, perfekte Frieden die Wiederererweckung der blitwischen Ideale und „die finale Demütigung und den endgültigen Untergang des tödlich getroffenen, unglücklichen tausendjährigen Blatwiens“. Diese eventuelle Niederlage erzeugt eine blatwische Unabhängig­ keitsbewegung von enormem Ausmaß, und da Unabhängigkeitskämpfe und Kriege „um die Ehre und die Freiheit der Nationalflaggen“ bekanntlich von Generälen geführt werden, sich mit Generälen indes Machtkämpfe und Staats­ streiche verbinden, mit Staatsstreichen wiederum Blutvergießen – Barutanski erschießt Kavaljerski oder umgekehrt Kavaljerski Barutanski –, so verursacht jedes vergossene Blut weiteres Blutvergießen, und auf diese Weise verrecken im logischen Blutkreislauf von Kriegen und Friedensschlüssen, immer neuen Kriegen und Friedensschlüssen sowohl Blitwien und Blatwien, so wie in diesem kara-baltischen und skythischen Sumpf viele Blitwiens und Blatwiens vor ihnen, doch niemandem kommt es in den Sinn, sowohl sich selbst als auch die blitwischen und hunnischen, blatwischen und kobylanischen Mitbürger zu fragen: Nun, meine Herren? Sind wir denn wirklich nichts anderes als tollwütige Hunde? Wie lange noch werden wir uns gegenseitig beißen und warum?42

Krležas Ironie, die sich auch heutigen Lesern erschließt, führt uns in die Gegenwart. In Polen wurden 2017 zwei bislang unbekannte Landkarten veröffentlicht. Die erste zeichnete der Schriftsteller Ziemowit Szczerek, die zweite der Historiker Benjamin Conrad. Szczerek veranschaulicht ebenso schematisch wie ironisch die Gebietsansprüche heutiger radikaler Nationalisten von „Großlitauen“ über „Großmakedonien“ bis hin zu „Großgriechenland“. Conrad umreißt recht detailliert die territorialen Maximalforderungen Polens und seiner östlichen Nachbarn während der Pariser Friedenskonferenz 1919. 477

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Szczerek war bisher nicht als Kartograf bekannt. In seinen Büchern betreibt er etwas, was man als mental mapping bezeichnen könnte: Er schreibt über die extremen Emotionen und Haltungen im Osten Europas, über Aggression und Resignation, über die explosive Mischung aus Größenwahn und Minderwertigkeitskomplexen, über die Geografie als Determinante der Vorstellungen von den Nachbarn, der Welt und dem eigenen Ort in ihr. Seine gezeichnete Landkarte verweist auf verblüffende Kontinuitäten. Die Ähnlichkeit der beiden Landkarten ist frappierend. Zwar unterscheiden sich die „Gebietsforderungen der radikalen Nationalisten“ des 21. Jahrhunderts in Details von den Territorialansprüchen der Versailler Zeit. Die Großlitauer beanspruchen heute zusätzlich den östlichen Teil des Kaliningrader Gebiets, die Großtschechen Niederschlesien und auf dem Balkan lassen sich ähnliche Detailunterschiede beobachten. Die wichtigsten Veränderungen vollziehen sich bei Großpolen und Großserben: Ersteren geht es offensichtlich um die Wieder­ richtung der Grenzen der Zweiten Polnischen Republik (und nicht um die Verwirklichung der sehr viel weiter reichenden Träume von 1919), Letzteren um die Restitution des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen. Ein großer Teil der heutigen Wunschträume schließt mehr oder weniger an Konzeptionen aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts an. Es drängt sich geradezu auf, sie hinsichtlich der Minderheiten zu analysieren, die eine entsprechende Änderung der Grenzverläufe unweigerlich hervorbringen würde. Dieser Punkt – die Bevölkerungsverhältnisse – ist einer der wichtigsten Aspekte von Conrads Landkarte. Sie zeigt die Forderungen des Polnischen Nationalkomitees in Paris, des „weißen“ Russland, der Ukrainer, des weißrussischen Komitees und der litauischen Regierung. Sie wurden auf einer Karte eingezeichnet, die in etwa die Grenzen der Ersten Polnischen Republik umfasst und den prozentualen Anteil der polnischsprachigen Bevölkerung in den einzelnen Mikroregionen veranschaulicht. Er schrumpfte mit zunehmender Entfernung vom einstigen Königreich, doch verlief die Abnahme nicht gleichmäßig oder proportional zur Entfernung: Hunderte Kilometer östlich des Bugs konnte der Bevölkerungsanteil der Polen größer als in unmittelbar ans Königreich angrenzenden Gebieten sein. Roman Dmowski brachte dieses Dilemma auf den Punkt: Die polnische Kolonisation im Osten folgte keinem übergeordneten Plan, es entstanden weit entfernt polnisch bevölkerte Inseln, während es in der Nähe ethnografisch fremde Gebiete gibt.

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Man müsse also, so die Forderung des eigentlichen Chefs der polnischen Delegation in Paris, „diesem Polen eine Figur geben, […] lasst uns dieses Polen etwas kürzen, aber lasst es uns zu einem überlebensfähigen Ganzen machen.“43 Die Russen standen vor einem noch größeren Problem, weil sie – abgesehen vom Süden, das heißt von der Ost- und Zentralukraine – in keinem der geforderten Gebiete auch nur eine bedeutende Minderheit stellten; in den meisten Gebieten gab es gar keine russische Besiedlung. Die Weißrussen waren kaum als moderne Nation zu bezeichnen, die Litauer reklamierten große slawische Gebiete für sich und nur der ukrainische Katalog umfasste in geringerem Maß Territorien, auf denen die Ukrainer – was auch immer man 1919 unter dieser Bezeichnung verstand – nicht die Mehrheit bildeten. Alle Seiten beriefen sich auf strategische Interessen oder auf mehr oder weniger stichhaltige historische Argumente; das Selbstbestimmungsrecht der Völker spielte dabei keine Rolle. Die Folge war, so Conrad: „Jede Region wurde von mindestens drei Parteien beansprucht, Litauisch-Brest/Brest sogar von fünf Regierungen und Komitees.“44 Den für das Denken der Eliten zwischen Ostsee und Ägäis typischen polnischen Umgang mit Grenz- und Bevölkerungsfragen illustriert das Protokoll der Sitzung des Polnischen Nationalkomitees vom 2. März 1919, an der vor allem Nationaldemokraten und Sozialisten teilnahmen. Beginnen wir mit Brest, das die Polen ebenso wie ihre Konkurrenten für sich forderten. Graf Leon Łubieński, ein Großgrundbesitzer aus der Nähe von Witebsk räumte ein: „[…] in den Gebieten östlich von Brest gibt es so gut wie keine polnische Bevölkerung.“45 Dmowski erwiderte: […] der schwächste Punkt des polnischen Territoriums ist das von Graf Łubieński erwähnte Territorium östlich von Brest. Dieses Territorium und ebenso das Gouvernement Grodno sind Gegenden mit geschlossener nichtpolnischer Bevölkerung, aber leider lassen sie sich geografisch nicht einfach von Polen abschneiden. Wenn wir auf der einen Seite Wilna und auf der anderen Seite Ostgalizien wollen, dann können wir nicht zulassen, dass sich bis an den Bug fremdes Territorium dazwischenschiebt. Bei dieser Gelegenheit legte er nochmals sein Credo dar: […] zwischen den Deutschen als der stärksten Nation und den Russen als einer anarchistischsten Nation ist kein Raum für eine kleine Nation, also müssten wir bestrebt sein, eine größere Nation zu werden, als wir sind. […] man darf ein politisches Programm nie von seiner Umsetzbarkeit abhängig machen. 479

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Die sozialistischen Teilnehmer der Sitzung waren in vielen Punkten nicht einer Meinung mit dem Anführer der Rechten. Zwar sahen auch sie in Bezug auf Ostgalizien keine Möglichkeit für eine föderale Lösung, die sie aber hinsichtlich Wilnas (das von Weißrussland, Litauen, Polen und Russland beansprucht wurde) und der polnisch-litauischen Beziehungen propagierten. Dabei offenbarten sie ein ebensolches Großmachtdenken wie der ihnen verhasste Dmowski. Kazimierz Dłuski argumentierte, die polnische Überlegenheit erlaube die Bildung einer Föderation: […] wenn es eine Föderation in einer Form gäbe, die nur die Tendenzen Litauens befriedigen würde, und sei es eine halbfiktive, dann würde ich bei den gegebenen Kräfteverhältnissen eine solche Föderation absolut nicht fürchten. Er forderte die Gründung einer Föderation, „wie wir sie selbst diktieren“. Der ebenfalls der Linken angehörende Delegierte Antoni Sujkowski pflichtete ihm bei: „Wir werden so viel von Litauen bekommen, wie wir an uns reißen.“ Genau so ist Conrads Landkarte zu lesen: Weißrussen und Litauer, Polen, Russen und Ukrainer dachten nicht daran, die gleichwertigen Argumente ihrer Konkurrenten zu berücksichtigen. Ebenso wenig interessierte sie der Wille der Bevölkerung. Die Stärksten – Polen und das „weiße“ Russland – glaubten, gleich welcher politischen Tradition sie anhingen, an ihre historische Mission. Optimistisch stimmen mag hingegen ein Vergleich der beiden Landkarten: Was 1919 noch unhinterfragte parteiübergreifende Staatsräson war, prägt hundert Jahre später nur noch das Denken der extremen Rechten. Was freilich nicht bedeutet, dass es nicht einst wieder weitere Verbreitung finden könnte.

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Krieg der Nationen in Ostmitteleuropa

Vorrücken bolschewistischer Truppen im Westen (Juli 1919) Denikin-Offensive auf Moskau (November 1919) Maximales Vorrücken der Roten Armee nach Westen (August 1920) Budjonny-Offensive auf Lemberg und Zamosc ´ ´ (Juli/August 1920) Ukrainische Volksrepublik Ukrainisch-Denikinsche Frontlinie (Juli 1919) Sc Machno-Bewegung (1918–1921)

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Schlacht von Komarów (August 1920)

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Belgrad

Offensive der ungarischen Roten Armee gegen die Slowakei (Juni 1919) Rumänische Besatzung Ungarns 1919–1920 1914 zum Königreich Ungarn gehörend Rumänische Offensive (Juni 1919) Besetzung Bessarabiens durch Rumänien 1918

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Der ungarisch-rumänische Krieg

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(1923 von Litauen annektiert)

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(1918/20 unabh.)

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Polnisch-russische Grenze 1921–1939

(1919)

(1917–19)

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Bauernaufstand von Tambow 1918–1921

Woronesch

Ukrainische SSR.

UdSSR

Kaluga

Wjasma

Moskau

Estnische Offensive und Judenitsch-Offensive auf Petrograd (1918–1919) Niemen-Operation und Besetzung Wilnas (Nov./Dez. 1920) Vorrücken der bolschewistischen Truppen im Westen (Juli 1919) Maximales Vorrücken der Roten Armee im Westen (Aug. 1920) Schlacht bei Warschau l ga Wo Gegenoffensive vom Wieprz (August 1920) Denikin-Offensive auf Moskau (November 1919) Curzon-Linie 8. Dezember 1919

Smolensk

Weißrussische SSR.

Minsk

Witebsk

Pleskau

LETTLAND

(1918/20 unabh.)

Petrograd

Peipussee

Narwa

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LITAUEN

Königsberg

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(Reval)

(1918/20 unabh.)

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Ostpreußen

Warschau

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Ostsee

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Stockholm

Helsinki

Krieg der Nationen im östlichen Nordeuropa

Saratow

Zarizyn (ab 1925 Stali

Anhang

Verzeichnis der Exkurse „Der weiße Löwe hat seine Krallen gezeigt“  60 Die Eidkrise   65 Das Todesbataillon, die wilde Marusja und die Frauenlegion  149 Die Huzulenrepublik  194 Die Spanische Grippe  244 Die Zukunft der Nation  253 Brest-Litowsk  264 Die Bucht von Kotor  269 Der Abstieg aus dem Himmel  358 Die Leidenschaften des Jan Zamorski  385 Buche, Ehre, Vaterland  399 Lasst uns Kolonien fordern!  408 Eine geheimnisumwitterte Landkarte  415 Megali Idea oder Die Große Idee  423 Herr Aszkenazy in Paris  443 Das estnische Eldorado  453 Der rote Kommissar Švejk  467 Blithuania Restituta  475

Abbildungsnachweis Die Abbildungen auf den Seiten 8, 36, 38, 54, 55, 56, 61, 83, 102, 143, 169, 171, 172, 205, 209, 214, 216, 222, 248, 255, 258, 259, 266, 293, 344 und 459 stammen aus: „Stettiner Illustrierte Kriegs-Zeitung“, Ausgaben 1917 und 1918; die Abbildungen auf den Seiten 29, 51, 69, 70, 73, 228 und 265 stammen von Hermann Rex, Der Weltkrieg in seiner rauhen Wirklichkeit, Oberammergau, 1926; die Abbildungen auf den Seiten 41, 44, 50, 110 und 235 stammen aus Adrian-Silvan Ionescu, The Great War Photography from the Romanian front 1916-1919, bereitgestellt vom Nationalen Militärmuseum Bukarest; die Abbildungen auf den Seiten 42, 52, 53, 225 und 234 stammen aus Adrian-Silvan Ionescu, The Great War Photography from the Romanian front 1916-1919, bereitgestellt vom Nationalmuseum der Geschichte Rumäniens in Bukarest; die Abbildungen auf den Seiten 153, 178 und 220 stammen aus dem Nationalen Digital Archiv (Narodowe Archiwum Cyfrowe); die Abbildung auf Seite 388 aus der Universitätsbibliothek Warschau (Biblioteki Uniwersytieckiej w Warszawie, materialy Stanislawa Stempowskiego); die Abbildung auf Seite 173 stammt aus der Zeitschrift „Szczutek“ 12/1918, hg. Von Zbigniew Wierciak; das Kartenstück von Jakob Spetta auf Seite 417 stammt aus Walter Geisler; Die Sprachen und Nationalitätsver­ hältnisse an den Deutschen Ostgrenzen und Ihre Darstellung, Breslau 1933. Die übrigen Abbildungen stammen aus der Sammlung von Professor Piotr Szlanta. Alle Karten wurden von Peter Palm, Berlin, gezeichnet: S. 482, 483, 484.

485

Anmerkungen Einleitung

1 Siehe dazu u. a.: Piotr Szlanta, Wilhelm II: ostatni z Hohenzollernów, Warszawa 2015, S. 255– 259. 2 Борис Колоницкий, «Трагическая эротика». Образы императорской семьи в годы

Первой мировой войны, Mocквa 2010.

3 Igor Newerly, Zostało z uczty bogów, Paris 1986, S. 47. 4 Ibidem, S. 51. 5 Ibidem, S. 53. 6 John Paul Newman, Yugoslavia in the Shadow of War: Veterans and the Limits of State Building, 1903–1945, Cambridge 2015, S. 28–30. 7 Gordana Ilić Marković (Hg.), Beлики paт – Der Grosse Krieg. Der Erste Weltkrieg im Spiegel der serbischen Literatur und Presse, Wien 2014, S. 246. 8 Friedrich Adler vor dem Ausnahmegericht. Die Verhandlungen vor dem §-14-Gericht am 18. und 19. Mai 1917 nach dem stenographischen Protokoll, Berlin 1919, S. 21, 194 f., 14. 9 Zitiert nach: Dwa bratanki. Dokumenty i materiały do stosunków polsko-węgierskich 1918–1920, hg. v. Endre László Varga, Warszawa 2016, Dok. 24, S. 47. 10 T[ibor] Hajdu, „Socialist Revolution in Central Europe, 1917–21“, in: Revolution in History, hg. v. Roy Porter, Mikuláš Teich, Cambridge 1986, S. 101–120. 11 Ernst Hartwig Kantorowicz, The King’s Two Bodies: A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957 (dt.: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittel­alters, aus dem Amerikanischen von Walter Theimer, München 1990). Kantorowicz war in ­seiner Jugend deutscher Nationalist, er kämpfte auch gegen die Polen. Als Jude im Sinn der Nürnberger Rassengesetze emigrierte er in die USA. Aufgrund seiner Erfahrungen in Deutschland verweigerte er die Abgabe der von Senator Joseph McCarthy geforderten Loyalitätser­klärung.

Erster Teil: Giganten und Pygmäen Kapitel 1: Gemeinsam und getrennt – die Ethnisierung der Armeen 1 Zitiert nach: Aнтивoeнныe выcтyплeния нa pyccкoм фpoнте в 1917 гoдy глaзaми

coвpeмeнникoв (вocпoминaния, дoкyмeнты, кoммeнтapии), hg. v. Сергей Николаевич Бaзaнoв, Mocквa 2010, S. 10.

2 Ibidem, S. 12. 3 Paul Simmons, „Combatting Desertion and Voluntary Surrender in the Russian Army During the First World War“, in: Other Fronts, Other Wars? First World War Studies on the Eve of the Centennial, hg. v. Joachim Bürgschwentner, Matthias Egger, Gunda Barth-Scalmani, Leiden/ Boston 2014, S. 41–60, hier S. 59. 4 Zitiert nach: A. M. Nikolaieff, „The February Revolution and the Russian Army“, in: The Russian Review 6 (1946), 1, S. 17–25, hier S. 22. 5 Zitiert nach: ibidem, S. 24.

486

Anmerkungen

6 Alexander Watson, Enduring the Great War: Combat, Morale and Collapse in the German and British Armies, 1914–1918, Cambridge 2008, S. 183. 7 Grzegorz Skrukwa, Formacje wojskowe ukraińskiej „rewolucji narodowej“ 1914–1921, Toruń 2008, S. 52. 8 Ibidem, S. 55. 9 Ibidem, S. 78. 10 Max Schönowsky-Schönwies, August Angenetter, Luck. Der russische Durchbruch im Juni 1916, Wien/Leipzig 1919, S. VII–VIII. 11 Ibidem, S.  70. 12 Das Verhalten der Tschechen im Weltkrieg. Die Anfrage der Abg. Dr. Schürff, Goll, Hartl, Knirsch, Dr. von Langenhahn und K. H. Wolf im österreichischen Abgeordnetenhause, Wien 1918. 13 František Černý, Moje záznamy ze světové války 1914–1918, Praha 2014, S. 107. 14 Przemysław Waingertner, Kostiuchnówka 1916. Największa polska bitwa I wojny światowej, Łódź 2011; Stanisław Czerep, Kostiuchnówka 1916, Warszawa 1994. 15 Siehe dazu Jan Snopko, Finał epopei Legionów Polskich 1916–1918, Białystok 2008, S. 21; Michał Klimecki, „Legiony Polskie na Wołyniu 1915–1916“, in: Niepodległość i Pamięć 15/1 (27), S. 107–123, hier S. 115. 16 Tadeusz Alf-Tarczyński, Wspomnienia oficera Pierwszej Brygady, Londyn 1979, S. 48. 17 Wacław Lipiński, Walka zbrojna o niepodległość Polski 1905–1918, Warszawa 1931, S. 88. 18 Ibidem, S.  451 f. 19 Ibidem, S.  85. 20 Ibidem, S.  93. 21 Marjan Dąbrowski, Z cyklu: Żołnierze 1 Brygady. Kampanja na Wołyniu (2 IX 1915–8 X 1916 r.), Warszawa 1919, S. 109. 22 Waingertner, op. cit., S. 94 f. 23 Ferdynand Pawłowski, Wspomnienia legionowe, Kraków 1994, S. 81. 24 Zitiert nach: Stanisław Czerep, II Brygada Legionów Polskich, Warszawa 1991, S. 170. 25 Jacek Szczepański, Niemiecka piechota zapasowa w Generalnym Gubernatorstwie Warszawskim 1915–1918, Warszawa 2008, S. 74. 26 Zitiert nach: Jan Snopko, op. cit., S. 103. 27 Glenn Torrey, „Indifference and Mistrust: Russian-Romanian Collaboration in the Campaign of 1916“, in: The Journal of Military History 57 (1993), 2, S. 279–300, hier S. 280. 28 Ibidem, S.  282–285. 29 Zitiert nach: Ibidem, S. 300. 30 Zitiert nach: ibidem, S. 285. 31 Zitiert nach: Constantin Fătu, Mihaela Moscu, „Betrayals in the Nation Union War“, in: ­International Journal of Communication Research 6 (2016), 1, S. 73–76. 3 2 Milada Paulová, Jugoslavenski Odbor (povijest jugoslavenske emigracije ze svetskog rata od 1914– 1918), Zagreb 1924, S. 253. 33 Alexander Watson, „Fighting for Another Fatherland: The Polish Minority in the German Army, 1914–1918“, in: English Historical Review CXXVI (2011), 522, S. 1137–1166. 34 Norman Stone, Europe Transformed 1878–1919, Cambridge, MA, 1984, S. 354. 3 5 David Longley, „The February Revolution in the Baltic Fleet at Helsingsfors: Vosstanie or Bunt?“, in Canadian Slavonic Papers 20 (1977), 1, S. 1–22.

487

Anhang

3 6 Aнтивoeнныe выcтyплeния нa pyccкoм фpoнте …, op. cit., S. 80 f. 37 Ibidem, S.  48 f. 38 Пpaвдa, 22. April (5. Mai) 1917, zitiert nach: ibidem, S. 61. 39 Aнтивoeнныe выcтyплeния нa pyccкoм фpoнте …, op. cit., S. 65. 40 František Stanislav Petr, Pod rakouskou orlicí a českým lvem, Praha 2015, S. 129. 41 Ibidem, S.  130. 42 Józef Iwicki, Z myślą o Niepodległej… Listy Polaka, żołnierza armii niemieckiej, z okopów I wojny światowej (1914–1918), oprac. Adolf Juzwenko, Wrocław 1978, S. 190. 43 Mark L. von Hagen, „The Emergence of Kyiv as Capital of Revolutionary Ukraine, March– July 1917, with a Focus on the War and Soldiers“, in: Imperienvergleich. Beispiele und Ansätze aus osteuropäischer Perspektive. Festschrift für Andreas Kappeler, hg. v. Guido Hausmann, Angela ­Reitemeyer, Wiesbaden 2009, S. 317–402, hier S. 389–392. 44 Zitiert nach: Corinne Gaudin, „Rural Echoes of World War I: War Talk in the Russian ­Village“, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008), 3, S. 391–414, hier S. 407. 45 Ibidem. 46 Péter Hanák, The Garden and the Workshop: Essays on the Cultural History of Vienna and ­Budapest, Princeton 1988, S. 182. 47 Aнтивoeнныe выcтyплeния нa pyccкoм фpoнте …, op. cit., S. 135. 48 Ibidem (aus Mannerheims Erinnerungen), S. 160. 49 Ibidem, S.  175. 50 Jan Dąbrowski, Wielka wojna 1914–1918 na podstawie najnowszych źródeł, Bd. 2, Warszawa 1937, S. 740 f. 5 1 Mark L. von Hagen, The Emergence …, op. cit., S. 383–396. 5 2 Zitiert nach: Glenn E. Torrey, The Romanian Battlefront in World War I, Lawrence 2011, S. 195 f. 53 Zitiert nach: ibidem, S. 224. 54 Zitiert nach: ibidem, S. 228. 55 Zitiert nach: ibidem, S. 236. 56 Keith Hitchins, „The Russian Revolution and the Rumanian Socialist Movement, 1917– 1918“, in: Slavic Review 27 (1968), 2, S. 268–289, hier S. 271. 57 Glenn E.  Torrey, The Romanian Battlefront …, op. cit., S. 279. 58 M. C. Фpeнкин, Peвoлюциoннoe движeниe нa pyмынcкoм фpoнтe 1917 г.–мapт 1918 г. Coлдaты 8-й apми Pyмынcкoгo фpoнтa в бopбe зa миp и влacть Coвeтoв, Moskau 1965, S. 296. 59 Glenn  E. Torrey, The Romanian Battlefront …, op. cit., S. 276. 60 Bohumír Klípa, „Mezinárodní ohlas Zborova a jeho vliv na legionářské hnutí v Itálii“, in: Zborov 1917–1997, hg. v. Jiřina Švarcová, Jaroslav Roušar, Prag 1997, S. 29–37, hier S. 31. 61 Venkov, 6. Juli 1917, zitiert nach: Ivan Šedivý, „Zborov a rakousko-uherská monarchie“, in: Zborov 1917–1997, op. cit., S. 38–49, hier S. 41. 62 Od Zborova k Bachmači. Památníko budování československého vojska pod vedením T. G. ­Masaryka, hg. v. J. Kopta, František Langer, R. Medek, Prag 1938. 63 Dalibor Vácha, „Život v legiích. Českoslovenští dobrovolci na Rusi 1914–1918“, Dissertation, Universität České Budějovice 2011, S. 170–177.

488

Anmerkungen

64 Edvard Beneš, Odkaz Zborova, w: Zborov 1917–1937. Památník k dvacátému výročí bitvy u Zbo­ rova 2. července 1917, Praha 1937, S. 13 f. 65 Karel Voženílek, [o. T.], in: Zborov 1917–1937 …, op. cit., S. 36–39, hier S. 37. 66 Jaroslav Papoušek, „Zborov – ústřední bod naší revoluce“, in: Zborov 1917–1937 …, op. cit., S. 65–73, hier S. 67. 67 Jerzy Bandrowski, Biały lew, Kijów 1917, S. 12. 68 Ibidem, S.  257. 69 Zitiert nach: Hannes Leidinger, Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Be­ deutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteu­ ropa 1917–1920, Wien 2003, S. 416. 70 Henryk Bagiński, Wojsko polskie na wschodzie 1914–1920, Warszawa 1921, S. 82 f. 71 Zitiert nach: Arthur Hausner, Die Polenpolitik der Mittelmächte und die österreichisch-ungari­ sche Militärverwaltung in Polen während des Ersten Weltkriegs, Wien 1935, S. 106. 72 Zitiert nach: Polski wir I wojny, oprac. Agnieszka Dębska, Warszawa 2014, S. 229. 73 Kazimierz Kierkowski, Nieco dokumentów do sprawy przysięgi i rozbicia Leg jonów. Z austja­ ckiego więzienia do pruskiego obozu internowanych (urywki z pamiętnika), Warszawa 1928, S. 31. 74 Ibidem, S.  32 f. 75 Piotr Górecki, „POW w niewoli niemieckiej (Cytadela, Szczypiorno, Havelberg, Modlin)“, in: Za kratami więzień i drutami obozów (Wspomnienia i notatki więźniów ideowych z lat 1914–1921), Bd. 1, hg v. Wacław Lipiński, Roman Śliwa, Bolesław Kusiński, Julian Stachiewicz, Warszawa 1931, S. 34–47, hier S. 38. 76 Alexander von Tobien, Die livländische Ritterschaft in ihrem Verhältnis zum Zarismus und ­russischen Nationalismus, Bd. 2, Berlin 1930, S. 224 (online zugänglich unter: http://archiv.riga-digitalis.eu/monographien/He_12_2/#248/z, Zugriff: 6. 5. 2018). 77 Andrew Ezergailis, The Latvian Impact on the Bolshevik Revolution. The First Phase: September 1917 to April 1918, New York 1983, S. 353. 78 Zitiert nach: ibidem, S. 354 f. 79 Józef Panaś, My II Brygada, Katowice 1929, S. 196, zitiert nach: Stanisław Czerep, II Brygada Legionów Polskich, op. cit., S. 197. 80 Marjan Kantor-Mirski, Od Rarańczy do Kaniowa. Wspomnienia legionowe z r. 1918, Sosnowiec 1934, S. 29–31. Kapitel 2: Kriege (1917–1923) 1 Agilolf Keßelring, Des Kaisers „finnische Legion“. Die finnische Jägerbewegung im Ersten Welt­ krieg im Kontext der deutschen Finnlandpolitik, Berlin 2005; Marta Laskowska, „27. Królewsko-­ Pruski Batalion Jegrów – zarys historii (1914–1918)“, Jahresarbeit am Historischen Institut der Universität Warschau 2017. Anders Ahlbäck („Masculinities and the Ideal Warrior: Images of the Jäger Movement“) konzentriert sich wie die übrigen Autoren des Sammelbands The ­Finnish Civil War 1918; History, Memory, Legacy (hg. v. Tuomas Tepora, Aapo Roselius, Leiden/Boston 2014, hier S. 254–293) auf die mythen- und kulturbildende Rolle der sogenannten Jäger nach 1918. 2 Zitiert nach: Marta Laskowska, Wizje niepodległej Finlandii w dyskusjach na forum parlamentu (listopad 1917–styczeń 1918), Magisterarbeit am Historischen Institut der Universität Warschau 2017, S. 24.

489

Anhang

3 Ibidem. 4 Ibidem, S. 36. 5 In The Finnish Civil War 1918 (op. cit.) formulieren einige Autoren Hypothesen zu den Gründen für die Brutalität beider Konfliktparteien. 6 Jyrki Loima, „Genocide or Ethnic Cleansing? The Fate of Russian ‚Aliens and Enemies‘ in the Finnish Civil War in 1918“, in: The Historian, 69 (Juni 2007), S. 254–274. Anhand der Untersuchung der genannten sowie einiger ähnlicher Massaker gelangt Loima zu dem Schluss, dass die Weißen eine regelrechte ethnische Säuberung durchführten. 7 Zitiert nach: Tiina Liutunen, „Women at War“, in: The Finnish Civil War 1918 …, op. cit., S. 201–229, hier S. 222. 8 Marko Tikka, „Warfare and Terror in 1918“, in: The Finnish Civil War 1918 …, S. 90–118, hier S. 100–111. 9 Maciej Górny, Wielka Wojna profesorów. Nauki o człowieku (1912–1923), Warszawa 2014, S. 188 f. 10 Einen guten Überblick über die Geschichte der baltischen Staaten liefert: Andres Kasekamp, A History of the Baltic States, Basingstoke 2010. 11 Erinnerungen von Marta Sillaots, zitiert nach: Karsten Brüggemann, Ralph Tuchtenhagen, Tallinn, Kleine Geschichte der Stadt, Wien 2011, S. 219 f. 12 Karl-Heinz Janssen, „Die baltische Okkupationspolitik des Deutschen Reiches“, in: Von den baltischen Provinzen zu den baltischen Staaten. Beiträge zur Entstehungsgeschichte der Republik ­Estland und Lettland 1917–1918, hg. v. Jürgen von Hehn, Hans von Rimscha, Hellmuth Weiss, Marburg an der Lahn 1971, S. 217–253, hier S. 240. 13 Arved Baron von Taube, „Nationale Demokratie, sozialistische Arbeiterkommune oder gesamtbaltischer Ständestaat? Das Reifen des Gedankens der estnischen Eigenstaatlichkeit im politischen Kräftespiel der Jahre 1914–1918“, in: Baltische Hefte 6 (1959–1960), S. 2–48. 14 Zitiert nach: Marju Mertelsmann, Olaf Mertelsmann, Landreform in Estland 1919. Die Reak­ tion von Esten und Deutschbalten, Hamburg 2012, S. 12. 15 Karsten Brüggemann, „National and Social Revolution in the Empire’s West: Estonian ­Independence and the Russian Civil War, 1917–1920“, in: Russia’s Home Front in War and Revolu­ tion, 1914–1922, Bd. 1: Russia’s Revolution in Regional Perspective, hg. v. Sarah Badcock, Ludmila G. Novikova, Aaron B. Retish, Bloomington, 2015, S. 143–174, hier S. 156. 16 Aapo Roselius, „Holy War: Finnish Irredentist Campaigns in the Aftermath of the Civil War“, in: The Finnish Civil War 1918 …, op. cit., S. 119–155, hier S. 140. 17 Ibidem. 18 Karsten Brüggemann, Die Gründung der Republik Estland und das Ende des „Einen und unteil­ baren Russland“. Die Petrograder Front des Russischen Bürgerkriegs 1918–1920, Wiesbaden 2002, S. 195. 19 In Polen hatte dieser Paragraf 15 Jahre später ein Nachspiel. In der regierungstreuen Gazeta Polska warf im November 1933 unter anderen Aleksander Kawałkowski der nationaldemo­ kratischen Opposition und insbesondere Roman Dmowski mit Blick auf den Jahrestag des 11. November vor, sie neigten zur „Rationalität einer Politik, die sich in der ersten Phase des Weltkriegs auf das Programm einer Übereinkunft mit Russland stützte und sich in der zweiten auf Gedeih und Verderb der Entente auslieferte“. Konkret warf die Gazeta Polska Dmowski

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Anmerkungen

unter Verweis auf Abschnitte zum Artikel 12 des Waffenstillstands von Compiègne in dessen 1925 erschienenen Erinnerungen vor, der Anführer der Nationaldemokratie habe „Polen mit der Aufrechterhaltung der deutschen Besatzung beglücken“ wollen, weil er im November 1918 nicht an einen Wiederaufbau des polnischen Staates durch die Polen geglaubt habe – natürlich im Gegensatz zu Piłsudski, dem Tatmenschen. Die Gazeta Polska schloss: „Manche Dokumen­te und Bekenntnisse aus der Zeit des Kampfes um Polen haben eine tragische Aussage. So tragisch, dass man nicht glauben möchte, dass sie wahr sind. Wenn man sie liest, dann wird klar, dass jede Erinnerung an den Tag des 11. November von der Nationaldemokratie als Ohrfeige empfunden werden muss. Und nur mit diesem demütigenden Gefühl lassen sich all die stumpfsinnigen Lügen erklären, die an großen nationalen Gedenktagen von der nationaldemokratischen Presse verbreitet werden müssen.“ Wir zitieren die Artikel „Kompromitują swego mistrza …“ (Gazeta Polska 1933, Nr. 313, S. 2) sowie „W perspektywie piętnastolecia“ (Gazeta Polska 1933, Nr. 312, S. 4) nach der von Patryk Kudlak 2017 am Historischen Institut der Universität Warschau verteidigten Magisterarbeit. 20 Zitiert nach: PDD 1919/I, Dok. 252, S. 580 f.; Dok. 300, S. 681 f. 21 Uusi Suometar, 14. April 1918, S. 1 („Saksa ja Suomi/Deutschland und Finnland“, online zugänglich unter: https://digi.kansalliskirjasto.fi/sanomalehti/binding/1199657?page=1 [Zugriff 19. 5. 2018]). Ähnlich auch: Hufvudsdagsbladet, 13. April 1918; Helsingin Sanomat, 17. April 1918, S. 1 (ganzseitiger Artikel „Unseren deutschen Helfern gewidmet“). 22 Carl Gustaf Emil Mannerheim, Kirjeitä seitsemän vuosikymmenen ajalta [Briefe aus sieben Jahrzehnten], hg. v. Stig Jägerskiöld, Helsinki 1983, S. 175, 187 (Briefe vom 11. März und 1. November 1918) [A. d. Ü.: hier übersetzt nach der im Ausgangstext angeführten polnischen Übersetzung von Marta Laskowska]. 23 Klaus Theweleit, Männerphantasien, Frankfurt/Main 1977. 24 Er veröffentlichte mehrere Aufsätze zu diesem Thema. Wir beziehen uns hier auf die Daten in: Tomas Balkelis, „Demobilisierung, Remobilisierung. Paramilitärische Verbände in Litauen, 1918–1920“, Osteuropa, 64 (2014), 2–4, S. 197–220. 25 Oszkár Jászi, Magyar Kálvária, magyar feltámadás, München 1969, S. 109. 26 Aus der umfangreichen Literatur zu Tisza schöpft: Zoltan Maruzsa, „István Tisza 1917–1918. Weder Regierung noch Opposition“, in: Der Erste Weltkrieg und der Vielvölkerstaat, Wien 2012, S. 179–213. 27 Ibidem, S.  186. 28 Ibidem. 29 Abteilungsbericht der VI. Abteilung des Generalstabs der Polnischen Armee vom 1. Februar 1919, zitiert nach: Dwa bratanki. Dokumenty i materiały do stosunków polsko-węgierskich 1918– 1920, hg. v. Endre László Varga, Warszawa 2016, Dok. 78, S. 106, 108. 30 Árpád von Klimó, Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860–1948), München 2003, S. 208–210. 31 Revolutions and Interventions in Hungary and its Neighbor States, 1918–1919, hg. v. Peter Pastor, New York 1988, S. 372. 3 2 Ibidem, S.  86. 33 Zitiert nach: Attila Pók, „Zur Genese des Antikommunismus in Ungarn“, in: Der Antikom­ munismus in seiner Epoche. Weltanschauung und Politik in Deutschland, Europa und den USA, hg. v. Norbert Frei, Dominik Rigoll, Göttingen 2017, S. 75–91, hier S. 80.

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3 4 Ibidem, S.  84. 3 5 Ausführlich mit diesen Formationen befasst sich Béla Bodó, unter anderem in dem Aufsatz „Ivan Héjjas: The Life of a Counterrevolutionary“, East Central Europe 37 (2010), S. 247– 279. 36 Dwa bratanki …, op. cit., Dok. 161, S. 202–205, hier S. 202. Der Bericht stammt aus der zweiten Oktoberhälfte. 37 Jan Pisuliński, Nie tylko Petljura. Kwestia ukraińska w polskiej polityce zagranicznej w latach 1918–1923, Wrocław 2004, S. 235. Detaillierte Daten: Janusz Szczepański, Społeczeństwo Polski w walce z najazdem bolszewickim 1920 roku, Warszawa-Pułtusk 2000, S. 112. 38 Zitiert nach: Norman Davies, Orzeł Biały, Czerwona Gwiazda, übersetzt von Andrzej Pawelec, Kraków 1997, S. 109 f. (engl. Originalausgabe: White Eagle, Red Star: The Polish-Soviet War, 1919–1920, London 1972). 39 Charles de Gaulle, „Bitwa o Wisłę. Dziennik działań wojennych oficera francuskiego“, in: Zeszyty Historyczne 19/1971, S. 3–18, hier S. 11 f. 40 Dziennik Juliusza Zdanowskiego, Bd. 3: 4 VIII 1919–28 III 1921, Szczecin 2014, S. 118. 41 Jerzy Konrad, Maciejewski, Zawadiaka, Dzienniki frontowe 1914–1920, Warszawa 2015, S. 191, 197–199. 42 Bauernaufstand gegen den polnischen Adel 1768. 43 Dziennik Zdanowskiego, S. 119 f. 44 Maciejewski, Zawadiaka, S. 226. 45 Davies, Orzeł Biały, S. 108.; De Gaulle, „Bitwa …“, S. 12. 46 Zitiert nach: Szczepański, Społeczeństwo Polski, S. 91 f. Das folgende Zitat ibidem, S. 111. 47 In der hier zitierten französischen Ausgabe von 1980 stehen an dieser Stelle – infolge ­einer offensichtlichen Zensurmaßnahme des Verlags – an dieser Stelle Auslassungspunkte. 48 Charles de Gaulle, Lettres, notes et carnets 1919 – juin 1940, Paris 1980, S. 27 f. 49 Józef Piłsudski (Pisma zbiorowe, Bd. VII: Rok 1920, Warszawa 1937) lässt einen gewissen ­Respekt für den besiegten Feind erkennen. Zugleich erweckt er den Eindruck, als wisse er fast alles früher und besser. Die Ähnlichkeit zu Dmowskis Erinnerungen ist frappierend. 50 Sprawozdania stenograficzne Sejmu Ustawodawczego, 144. Sitzung, Spalten 4 und 6. Mickiewiczs Prophezeiung (aus dem Epilog zum Nationalepos Pan Tadeusz) wurde auch bei ganz anderen Gelegenheiten gern zitiert, etwa ein Vierteljahrhundert später anlässlich des 535. Jahrestags der Schlacht bei Tannenberg (polnisch Grunwald) im Kontext des „neuen Grunwald“, das heißt des Siegs über die Deutschen 1945, und der Übernahme der sogenannten wiedergewonnenen Gebiete. Damit verband sich die Überzeugung, „dass wir im Osten einen Verbündeten haben, den wir von den Deutschen schützen[!] und auf dessen Hilfe wir in der Not zählen können“ (so der ehemalige Nationaldemokrat Zygmunt Wojciechowski in einer Rede, zitiert nach: Edmund Dmitrów, Niemcy i okupacja hitlerowska w oczach Polaków. Poglądy i opinie z lat 1945–1948, Warszawa 1987, S. 291). 5 1 Sprawozdania stenograficzne Sejmu Ustawodawczego, 148. Sitzung, Spalte 24 f. 5 2 Die Ereignisse vom 18. Mai rekonstruierte Szczepański, Społeczeństwo Polski, S. 101. Zitate nach: Maciej Rataj, Pamiętniki 1918–1927, Warszawa 1965, S. 86 f. 53 Zur Antikriegsstimmung vor dem Zusammenbruch der polnischen Offensive siehe ­Szcze­pański, Społeczeństwo Polski, S. 84 f., 98 f., 104. 54 Zitiert nach: Szczepański, Społeczeństwo Polski, S. 92.

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Anmerkungen

5 5 Charles de Gaulle, „Bitwa o Wisłę. Dziennik działań wojennych oficera francuskiego“, in: Zeszyty Historyczne 19/1971, S. 3–18, hier S. 7, 10, 14. 56 Clara Zetkin, Erinnerungen an Lenin. Mit einem Anhang aus dem Briefwechsel Clara ­Zetkins mit W. I. Lenin und N. K. Krupskaja, Berlin 1975, S. 25. 57 Die Bauern wollten sich mehrheitlich nicht an einer aus Moskau importierten Agrarrevolution beteiligen. Julian Marchlewski schildert verbittert ein Gespräch mit einem Bauern aus der Nähe von Łomża: „Als ich ihm sagte, die Kommunisten seien bereit, umsonst einen Teil [Hervorhebung der Autoren; hier log der Dogmatiker Marchlewski nicht; es ging nur um einen nicht näher bestimmten Teil, nicht um das Ganze, für das er andere Pläne hatte] des Gutsbesitzes zu verteilen, erklärte er kategorisch, die Bauern würden nichts geschenkt nehmen, und begründete es so: ‚Heute gebt ihr und morgen verteilt ihr es wieder neu und nehmt mir meins weg.’ Er schloss hart: ‚Ich will kein fremdes Land und von meinem lasst die Finger!’“ (zitiert nach: Szczepański, Społeczeństwo Polski, S. 374). 58 „Der Anblick dieses erhabenen Kreises von Abgeordneten dieser unserer lieben Landleute und Redermacher, erfreut das polnische Auge […]“ (Sprawozdania stenograficzne Sejmu Us­ta­wod­ awczego, 3. Sitzung, Spalte 12). Eine Anspielung an den legendären Stammvater der ­Piastischen Dynastie, Piast der Rademacher. 59 De Gaulle, Bitwa o Wisłę, S. 4, 5, 9. 60 „Hätte Karl Martell nicht in der Schlacht bei Tours [bekannt als Schlacht bei Poitiers, 732] den sarazenischen Eroberungszug aufgehalten, dann würde heute in Oxford sicher der Koran gelehrt und die Studenten würden versuchen, dem Volk die Heiligkeit und Wahrheit der Offenbarung Mohammeds zu beweisen. […] Wäre es Piłsudski und Weygand in der Schlacht bei Warschau nicht gelungen, den triumphalen Vormarsch der Sowjetarmee zu stoppen, so hätte nicht nur das Christentum eine Niederlage erlitten, sondern die gesamte westliche Zivilisation wäre in Gefahr gewesen. Die Schlacht bei Tours bewahrte unsere britischen Vorfahren und ihre gallischen Nachbarn vor dem Joch des Korans. Die Schlacht bei Warschau indes […] errettete Mitteleuropa und teils auch Westeuropa aus der Gefahr eines noch gefährlicheren Umsturzes, das heißt vor der fanatischen Tyrannei der Sowjets. In vielen Momenten der Geschichte war Polen Europas Bollwerk gegen asiatische Angriffe. […] Die moderne Zivilisationsgeschichte kennt wenige Ereignisse von größerer Bedeutung als die Schlacht bei Warschau 1920. Doch sie kennt keines, das weniger gewürdigt würde. […] Ein Sieg der Bolschewiki in der Schlacht bei Warschau hätte für Europa einen Wendepunkt bedeutet, denn mit dem Fall von Warschau hätte Mitteleuropa für die kommunistische Propaganda und eine sowjetische Invasion offen gestanden.“ Zitiert nach: Davies, White Eagle. 61 Tagebuch D’Abernons, zitiert nach: Davies, White Eagle. 62 Wincenty Witos, Moje wspomnienia, Bd. 2, Paris 1964, S. 274 f. 63 Piłsudski bezog sich hier auf eine Aussage, die er zwei Wochen zuvor im selben Kreis ge­ tätigt hatte: „Ein krankes Volk bringt eine kranke Armee hervor, ohne ausreichende Widerstandskraft. Diese Krankheit wächst, denn was früher leicht gelang, gelingt nun nicht. Die Divisio­nen – die Zierde unserer Armee – weichen zurück. Mein allgemeiner Eindruck: Der Mangel an Moral im Land bewirkt einen Mangel an Moral in der Armee. Meine Aufgabe: Nur eine Verbesserung der Moral im Land führt zu einer Verbesserung an der Front, ansonsten betrachte ich die Situation als hoffnungslos.“ Diese und die folgenden Zitate nach: Roman Wapiński, Ro­ man Dmowski, Lublin 1988, S. 294 f. 64 Dziennik Zdanowskiego, S. 196.

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5 Grzegorz Nowik, Zanim złamano „Enigmę“. Polski radiowywiad podczas wojny z bolszewicką 6 Rosją 1918–1920, Bd. 1, Warszawa 2004. 66 Siehe dazu ausführlicher: Sławomir Dębski (Hg.), Zapomniany pokój. Traktat ryski. Inter­ pretacje i kontrowersje 90 lat później, Warszawa 2013. Kapitel 3: Kriege der Nationen 1 Isaak Babel, Tagebuch 1920, aus dem Russischen von Peter Urban, Berlin 1990, S. 147. 2 Joshua Sanborn, The Genesis of Russian Warlordism: Violence and Governance during the First World War and the Civil War, „Contemporary European History“ 19 (2010), 3, S. 195–213. 3 Marceli Handelsman, W piątym pułku Leg jonów. Dwa miesiące ofensywy litewsko-białoruskiej, Zamość 1921, S. 22. 4 Stanisław Kawczak, Milknące echa. Wspomnienia z wojny 1914–1920, Warszawa 1991, S. 327. 5 5 czerwca 1920, Komunikat informacyjny (sprawy polityczne) nr 31 (98) z OG Warszawa, Łódź, Kielce, Grodno, Poznań, Pomorze, in: O niepodległą i granice, Bd. 2: Raporty i komunikaty naczel­ nych władz wojskowych o sytuacji wewnętrznej Polski 1919–1920, hg. v. Marek Jabłonowski, Piotr Stawecki, Tadeusz Wawrzyński, Warszawa–Pułtusk 1999–2000, S. 450–453, hier S. 453. 6 Komunikat informacyjny (sprawy polityczne) nr 53 (120) o sytuacji społecznej, politycznej, ­aprowizacji, działalności KPRP oraz sprawach zagranicznych, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 562–572, hier S. 566. 7 Marceli Handelsman, W piątym pułku Legionów …, op. cit., S. 52. 8 Ibidem, S. 29. 9 Stanisław Burnagel, Wspomnienia wojenne intendenta dywizji, Warszawa 1934, S. 43. 10 Komunikat informacyjny (sprawy polityczne) nr 53 (120) …, op. cit., S. 561. 11 Pismo ks. Ludwika Rysia do abp. Józefa Bilczewskiego z relacją o sytuacji w Rawie Ruskiej podczas wojny ukraińsko-polskiej 1918–1919 [Rawa Ruska, wiosna 1919 r.], in: Kościół rzymskokatolicki i ­Polacy w Małopolsce Wschodniej podczas wojny ukraińsko-polskiej 1918–1919. Źródła, hg. v. Józef Wołczański, Bd. 1, Lwów–Kraków 2012, S. 149–151, hier S. 151. 12 24 sierpnia 1920, Białystok. Raport Straży Kresowej, in: O niepodległą i granice, Bd. 7: Raporty Straży Kresowej 1919–1920. Ziem Północno-Wschodnich opisanie, hg. v. Joanna Gierowska-Kałłaur, Warszawa–Pułtusk 2011, S. 159–161, hier S. 159. 13 22 lipca 1920, Sokółka. Protokół kierownika powiatu sokólskiego Straży Kresowej S. ­Truszkowskiej, in: O niepodległą i granice, t. 7, op. cit., S. 438–439. 14 Isaak Babel, Tagebuch 1920, op. cit., S. 129. 15 AAN, Biuro Sejmu RP 1919–1939, Sign. 57, Działalność Komisji dla Badania Zbrodni Ukraińskich. Zbrodnie popełnione w Husiatyniu i okolicy. Zeznania świadków, Bl. 92. 16 22 lipca 1920, Sokółka …, op. cit., S. 438 f. 17 Grzegorz Skrukwa, Formacje wojskowe ukraińskiej „rewolucji narodowej“ 1914–1921, Toruń 2008, S. 276–278. 18 Ibidem, S.  412. 19 Zitiert nach: Jürgen von Hehn, „Der baltische Freiheitskrieg – Umrisse und Probleme 1918– 1920“, in: Von den baltischen Provinzen zu den baltischen Staaten. Beiträge zur Entstehungsgeschich­ te der Republiken Estland und Lettland 1918–1920, hg. v. Jürgen von Hahn, Hans von R ­ imscha, Weiss Helmuth, Marburg 1977, S. 1–42, hier S. 13.

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Anmerkungen

2 0 Jan Fudakowski, Ułańskie wspomnienia z roku 1920, hg. v. Bohdan Królikowski, Lublin 2005, S. 25. 21 Marceli Handelsman, W piątym pułku Legionów …, op. cit., S. 30. 22 Jan Fudakowski, Ułańskie wspomnienia …, op. cit., S. 36 f. 23 Igory Newerly, Zostało z uczty bogów, Paris 1986, S. 53. 24 Zitiert nach: Grzegorz Skrukwa, Formacje wojskowe …, op. cit., S. 456. 25 O niepodległą i granice. Komunikaty Oddziału III Naczelnego Dowództwa Wojska Polskiego 1919–1921, hg. v. Marek Jabłonowski, Adam Koseski, Warszawa–Pułtusk 1999, S. 131 und p ­ assim. 26 Wincenty Witos, Moje wspomnienia, Bd. 2, Paris 1964, S. 305. 27 29 stycznia 1920 r., Komunikat informacyjny nr 6 (73) z okręgów warszawskiego, łódzkiego, ­kieleckiego, lubelskiego, krakowskiego, poznańskiego oraz terenów plebiscytowych w cieszyńskim i na Mazurach, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 316–324. 28 3 września 1920, Komunikat informacyjny (sprawy wojskowe) nr 50 (117) o nastrojach społec­ zeństwa i żołnierzy oraz sytuacji z okręgów warszawskiego, krakowskiego, łódzkiego, poznańskiego, kieleckiego i pomorskiego, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 545–549, hier S. 545. 29 Komunikat z 19 marca 1919 r., in: O niepodległą i granice. Komunikaty …, op. cit., S. 114. 30 František Stanislav Petr, Pod rakouskou orlicí a českým lvem, Praha 2015, S. 199. 31 20 lipca 1920, Komunikat informacyjny (sprawy polityczne) nr 40 (107), in: O niepodległą i ­granice, Bd. 2, op. cit., S. 495–498, hier S. 495 f. 3 2 19 marca 1919 r., Raport polityczno-informacyjny Sztabu Generalnego WP o sytuacji w okręgach krakowskim, łódzkim i kieleckim, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 129–131. 33 22 marca 1919 r., Raport polityczno-informacyjny Sztabu Generalnego WP o sytuacji w okręgach krakowskim, łódzkim i kieleckim, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 137–139. 34 11 kwietnia 1920 r., Komunikat informacyjny nr 18 (85) z okręgów warszawskiego, łódzkiego, ­kieleckiego, lubelskiego, lwowskiego, krakowskiego, poznańskiego, pomorskiego, in: O niepodległą i gra­ nice, Bd. 2, op. cit. Ibidem, S. 388–392. 3 5 Peter  A. Toma, The Slovak Soviet Republic of 1919, „The American Slavic and East European Review“ 17 (1958), 2, S. 203–215, 210–211. 36 Andrej Mitrović, Serbia’s Great War 1914–1918, London 2007, S. 254–256; Petar Opačić, S ­ rbija, solunski front i ujedinjenje 1918, Beograd 1990, S. 51. 37 Wacław Figurski, W służbie rewolucji, in: Odgłosy Rewolucji Październikowej na Mazowszu i Podlasiu. Praca zbiorowa, Warszawa 1970, S. 259–270, hier S. 260. 38 Isaak Babel, Tagebuch 1920, op. cit., S. 114 f. 39 Felix Schnell, Räume des Schreckens. Gewalt und Gruppenmilitanz in der Ukraine 1905–1933, Hamburg 2012, S. 194–195. 40 2 lipca 1920, Komunikat informacyjny (sprawy wojskowe) nr 37 (104), z okręgów warszawskiego, krakowskiego, łódzkiego, kieleckiego, pomorskiego, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 481– 484, hier S. 482. 41 10 października 1920, Komunikat informacyjny (sprawy wojskowe) nr 60 (127), z okręgów warszawskiego, lubelskiego, lwowskiego, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 607–613. 42 Zitiert nach: Norman Davies, Orzeł biały, czerwona gwiazda. Wojna polsko-bolszewicka 1919– 1920, Übersetzung Andrzej Pawelec, Kraków 1998, S. 192–193. 43 Petar Opačić, Srbija …, op. cit., S. 52–55. 44 Гeopги Гeopгиeв, Eдин oт Пъpвa Дивизия. Cпoмeнинa yчacтник, Coфия 1935, S. 226,

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Anhang

zitiert nach: Snezhana Dimitrova, Der Mensch im Krieg. Krisen der modernen Identität im Ange­ sicht des Todes, Bulgarien 1915–1918, Übersetzung Daniela Detscheva, in: Schreiben im Krieg, Schreiben vom Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, Hg. v. Veit Didczuneit, Jens Robert, Thomas Jauder, Essen 2011, S. 163–174, hier S. 163–164. 45 Mile Bjelajac, The Other Side of the War: Treatment of Wounded and Captured Enemies by the Serbian Army, in: The Salonica Theatre of Operations and the Outcome of the Great War: Proceedings of the International Conference Organized by the Institute for Balkan Studies and the National Rese­ arch Foundation „Eleftherios K. Venizelos“, Thessaloniki, 16–18 April, 2002, Thessaloniki 2005, S. 195–210, hier S. 208. 46 Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, Berlin 1926, S. 576–577. 47 Petar Opačić, Srbija …, op. cit., S. 299. 48 Pismo ks. Jana Szlęzaka do Kurii Metropolitalnej obrządku łacińskiego we Lwowie o sytuacji w parafii Gliniany pod inwazją ukraińską 1918–1919, Gliniany, 25 września 1919 r., in: Kościół ­rzymskokatolicki i Polacy …, op. cit., S. 430–433, hier S. 432. 49 Grzegorz Skrukwa, Formacje wojskowe …, op. cit., S. 534. 50 Adolf Cieński, Stosunki w wschodniej Galicji w obecnej chwili (marzec 1919). Z najwiarygodnie­ jszego źródła [Quelle war der ehemalige k. u. k. Rittmeister Baron Capri], in: Ukraine and Poland in Documents, 1918–1922, hg. v. Taras Hunczak, New York/Paris/Sydney/Toronto 1983, S. 98– 101, hier S. 100. 5 1 Maria Kasprowiczowa, zitiert nach: Polski wir I wojny, hg. v. Agnieszka Dębska, Warszawa 2014, S. 310–311. 5 2 Grzegorz Skrukwa, Formacje wojskowe …, op. cit., S. 514. 53 Christoph Mick, Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt: Lemberg 1914–1947, Wiesbaden 2010, S. 223. 54 Teraz będzie Polska. Wybór z pamiętników z okresu I wojny światowej, oprac. Andrzej Rosner, Warszawa 1988, S. 77–83, hier S. 82. 55 Stanisław Kawczak, Milknące echa. Wspomnienia z wojny 1914–1920, Warszawa 1991, S. 331– 333. 56 AAN, Biuro Sejmu RP 1919–1939, Sign. 57, Działalność Komisji dla Badania Zbrodni ­Ukraińskich. Zbrodnie popełnione w Husiatyniu i okolicy. Zeznania świadków, op. cit., Bl. 8. 57 František Stanislav Petr, Pod rakouskou orlicí a českým lvem, op. cit., S. 211. 58 Daniel Marc Segesser, „Kriegsverbrechen? Die österreichisch-ungarischen Operationen des August 1914 in Serbien in Wahrnehmung und Vergleich“, in: Frontwechsel. Österreich-­Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich, hg. v. Wolfram Dornik, Julia Walleczek-Fritz, Stefan W ­ edrac, Wien 2014, S. 213–233. 59 Zitiert nach: Peter Lieb, Aufstandsbekämpfung im strategischen Dilemma. Die deutsche Be­ satzung in der Ukraine 1918, in: Die Besatzung der Ukraine 1918. Historischer Kontext – Forschungs­ stand – wirtschaftliche und soziale Folgen, red. Wolfram Dornik, Stefan Karner, Graz/Wien/­ Klagenfurt 2008, S. 111–139, hier S. 119. 60 Reinhard Nachtigal, Krasnyj Desant: Das Gefecht an der Mius-Bucht. Ein unbeachtetes Kapitel der deutschen Besatzung Südrußlands 1918, „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas“ 53 (2005), 2, S. 221–246. 61 Andrej Mitrović, Serbia’s Great War 1914–1918, op. cit., S. 260–261. 62 Zitiert nach: ibidem, S. 259.

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Anmerkungen

3 Robert  B. Asprey, War in the Shadows: The Guerilla in History, New York 1975, S. 297–303. 6 64 Jonathan Gumz, The Resurrection and Collapse of Empire in Habsburg Serbia, 1914–1918, Cambridge 2009, S. 212–214. 65 Dietrich Beyrau, The Long Shadow of the Revolution: Violence in War and Peace in the Soviet Union, in: Legacies of Violence. Eastern Europe’s First World War, red. Jochen Böhler, Włodzimierz Borodziej, Joachim von Puttkamer, München 2014, S. 285–217, hier S. 288. 66 Leo Trotzki, Mein Leben. Versuch einer Autobiographie, aus dem Russischen von Alexandra Ramm, Berlin 1930. 67 Peter Leib, Aufstandsbekämpfung im strategischen Dilemma. Die deutsche Besatzung in der ­Ukraine 1918, in: Die Besatzung der Ukraine 1918. Historischer Kontext – Forschungsstand – wirt­ schaftliche und soziale Folgen, hg. v. Wolfram Dornik, Stefan Karner, Graz/Wien/Klagenfurt 2008, S. 111–139, hier S. 116. 68 Jędrzej Moraczewski, Przewrót w Polsce, hg. v. Tomasz Nałęcz, Warszawa 2015, S. 59. 69 Erinnerung von Eduard Stoß, zitiert nach: Hannes Leidinger, Verena Moritz, Gefangen­ schaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917–1920, Wien 2003, S. 468. 70 Zitiert nach: F. L. Carsten, Revolution in Central Europe 1918–1919, London 1972, S. 23. 71 Hannes Leidinger, Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr …, op. cit., S. 595. 72 Pavla Horáková, Jiří Kamen, Příšel befel od císaře pana. Polní pošta – příběhy Čechů za první světové války, Praha 2015, S. 268–270. 73 Reinhard Nachtigal, Krasnyj Desant: Das Gefecht an der Mius-Bucht. Ein unbeachtetes Kapitel der deutschen Besatzung Südrußlands 1918, „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas“ 53 (2005), 2, S. 240–243. 74 9 stycznia 1919 roku, in: O niepodległą i granice. Komunikaty …, op. cit., S. 16–17. 75 Ibidem, 1 lutego 1919, S. 44. 76 Stanisław Burnagel, Wspomnienia wojenne …, op. cit., S. 26. 77 Jan Fudakowski, Ułańskie wspomnienia …, op. cit., S. 90. 78 Ibidem, S.  91. 79 Ibidem, S.  92. 80 Benjamin D. Rhodes, “The Anglo-American Railroad War at Archangel, 1918–1919”, ­Railroad History, 1984, 151, S. 70–83. 81 František Stanislav Petr, Pod rakouskou orlicí a českým lvem, op. cit., S. 214. 82 Zitiert nach: Válka Československé republiky s Maďarskou republikou rad (1919), http://world atwar.eu/index.php?esid=197928614b8e6eeffdfa121 cb30b3a37&lang=12&refcode=0&loca tion=article&articleid=377&categoryid=4&showcomms=1 (25. April 2016). 83 Jürgen von Hehn, Der baltische Freiheitskrieg …, op. cit., S. 17–18. 84 O niepodległą i granice. Komunikaty …, op. cit., S. 47 (7. Februar 1919). 8 5 Ibidem, S. 383 (27. November 1919). 86 Ibidem, S. 170 (22. April 1919). 87 Zitiert nach: Grzegorz Skrukwa, Formacje wojskowe …, op. cit., S. 313. 88 2 lipca 1920 roku, Komunikat informacyjny (sprawy wojskowe) nr 37 (104) z okręgów warszaws­ kiego, krakowskiego, łódzkiego, kieleckiego, pomorskiego, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 481–484, hier S. 482. 89 11 marca 1920, Komunikat informacyjny nr 18 (85) z okręgów warszawskiego, kieleckiego, lubel­

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skiego, lwowskiego, krakowskiego, poznańskiego, pomorskiego, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 388–392, Zitat S. 390–391. 90 AAN, zespół 3 Kancelaria Cywilna Naczelnika Państwa, Sign. 180: Sprawy mniejszości ­[narodowych w Polsce] 1919–1920, Bl. 22. 91 Ibidem, 15. März 1920, Abschrift der Aussage von Mindla Ehrlich, wohnhaft in Tomaszów Mazowiecki, Warszawska-Straße 56, Bl. 27. 92 8 kwietnia 1920, Komunikat informacyjny nr 21 (88) z okręgów warszawskiego, łódzkiego, lwow­ skiego, poznańskiego, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 398–418, Zitat S. 401. 93 [19] września 1920, Białystok, Raport kierownika powiatu białostockiego Aleksandra Marcinki­ ewicza za okres od 1 do 19 września 1920, in: O niepodległą i granice, Bd. 7, op. cit., S. 164–168, Zitat S. 166 94 Cwi Pryłucki, Wspomnienia (1905–1939), hg. v. Joanna Nalewajko-Kulikov, Warszawa 2015, S. 111–112. 95 Przemysław Różański, Stany Zjednoczone wobec kwestii żydowskiej w Polsce 1918–1921, Gdańsk 2007, S. 154. 96 Ibidem, S.  265–266. 97 Janusz Szczepański, Wojna 1920 roku na Mazowszu i Podlasiu, Warszawa–Pułtusk 1995, S. 352. 98 Isaak Babel, Tagebuch 1920, op. cit., S. 136 f. 99 Ibidem, S.  47. 100 Piotr  J. Wróbel, Foreshadowing the Holocaust: The Wars of 1914–1921 and Anti-Jewish ­Violence in Central and Eastern Europe, in: Legacies of Violence, op. cit., S. 169–207, hier S. 199. 101 Kazimierz Nowina-Konopka, Wspomnienia wojenne 1915–1920, Kraków 2011, S. 541. 102 Isaak Babel, Budjonnys Reiterarmee und anderes. Das erzählende Werk, aus dem Russischen von Dimitrij Umanskij u. Heddy Pross-Weerth, Olten/Freiburg i. Br. 1960, S. 93 f. 103 AAN, Kancelaria Cywilna Naczelnika Państwa, Sign. 179: Sprawy mniejszości, Memoriał Tymczasowej Żydowskiej Rady Narodowej w sprawie kontrybucji, nałożonej na gminę żydowską w Ostrowiu, 13. Januar 1919, Bl. 15. 104 Janusz Szczepański, Wojna 1920 roku …, op. cit., S. 352. 105 Grzegorz Gołębiewski, Obrona Płocka przed wojskami bolszewickimi 18–19 sierpnia 1920 r., Płock 2015, S. 157. 106 AAN, Kancelaria Cywilna Naczelnika Państwa, Sign. 179, Sprawy mniejszości, Pismo ­Żydowskiego Komitetu Ratunkowego we Lwowie, 26. Januar 1919, Bl. 187. 107 Jakub Beneš, „Zelené kádry“ jako radikální alternativa pro venkov na západním Slovensku a ve středovýchodní Evropě 1917–1920, „Forum Historiae“ 2 (2015), S. 20–34. 108 Zit. nach: ibidem, S. 24. 109 Židov vom 1. Dezember 1918, zitiert nach: Ivo Banac, ‚Emperor Karl Has Become a ­Comitadji’: The Croatian Disturbances of Autumn 1918, „The Slavonic and East European ­Review“ 70 (1992), 2, S. 284–305, hier S. 290. 110 Zitiert nach: Jakub Beneš, „Zelené kádry“, op. cit., S. 26–27. 111 Ivo Banac, ‚Emperor Karl Has Become a Comitadji’ …, op. cit., S. 303. 112 Raport polityczno-informacyjny Sztabu Generalnego Wojska Polskiego o sytuacji w okręgach: warsz­awskim, krakowskim, łódzkim i kieleckim, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 76–80, Zitat S. 79.

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Anmerkungen

113 Henryk Bagiński, Wojsko polskie na wschodzie 1914–1920, Warszawa 1921, S. 361–391. 114 Jaroslav Durych, Duše Podkarpatské Rusi, Praha 1993, S. 5 f. 115 Ibidem, S.  17. 116 Zur Geschichte der Huzulenrepublik vgl. Michał Jarnecki: Republika Huculska, „Przegląd Wschodni“ XII (2013), 3, S. 621–632. 117 O niepodległą i granice. Komunikaty …, op.cit., S. 158 (14. April 1919). 118 7 lipca 1919, Święciany. Raport instruktora Straży Kresowej powiatu święciańskiego Władysława Kowalenki, in: O niepodległą i granice, Bd. 7, op.cit., S. 757–759, Zitat S. 758. 119 Eine interessante Arbeit zum Einfluss der Nachkriegszeit auf die Brutalisierung der Bevölkerung liefert: Dirk Schumann, Europa, der Erste Weltkrieg und die Nachkriegszeit: eine Kontinui­ tät der Gewalt?, „Journal of Modern European History“ 1 (2003), 1, S. 24–43. 120 Do MSZ, Wydział Polityczny w Warszawie, Odessa, 21 lutego 1919, in: Ukraine and Poland in Documents …, op. cit., S. 79–81, Zitat S. 80 f.

Zweiter Teil: Kaleidoskop Kapitel 1: Soziale Konflikte 1 Isaac Bashevis Singer, Verloren in der Amerika. Vom Schtetl in die Neue Welt, Deutsch von ­Ellen Otten, München 1985, S. 42. 2 Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914–1918, Göttingen 1978 (2. Aufl.), S. 33–40. 3 Rudolf Kučera, Rationed Life. Science, Everyday Life, and Working-Class Politics in the ­Bohemian Lands, 1914–1918, New York/Oxford 2016, S. 5 f. 4 Ibidem. 5 Zitiert nach: Claire Morelon, A Threat to National Unity? The Urban-Rural Antagonism in Pra­ gue during the First World War in a Comparative Perspective, in: Frontwechsel. Österreich-­Ungarns „Großer Krieg“ im Vergleich, hg. v. Wolfram Dornik, Julia Walleczek-Fritz, Stefan ­Wedrac, Wien 2014, S. 325–343, hier S. 327. 6 Klemens Bąkowski zitiert nach: Katarzyna Sierakowska, Śmierć – wygnanie – głód w dokumen­ tach osobistych. Ziemie polskie w latach Wielkiej Wojny 1914–1918, Warszawa 2015, S. 187. 7 „Zdrowie“, 11 (1915), S. 466, zitiert nach: ibidem, S. 229. 8 Kimitaka Matsuzato, The Role of Zemstva in the Creation and Collapse of Tsarism’s War Efforts During World War One, in: „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas“, NF 46 (1998), 3, S. 321–337. 9 Siehe dazu ausführlicher die Teile 1 und 3 des ersten Bandes. 10 Piotr Szlanta, „Najgorsze bestie to są Honwedy“. Ewolucja stosunku polskich mieszkańców G ­ alicji do monarchii habsburskiej podczas I wojny światowej, in: Galicyjskie Spotkania 2011, hg. v. Urszula Jakubowska, Zabrze 2011, S. 171. 11 Vgl. Kuryer Lwowski, 15.–25. Oktober 1916; Zitate aus den Nummern vom 20. und 25. Oktober 1916. Ab 1918 verzichtete die Zensur offensichtlich auf Eingriffe in derartige Meldungen; von Jahresbeginn an erscheinen in der Presse regelmäßig Berichte über die Ausfuhr von Lebensmitteln als Grund für Mangel und Hunger. 12 Ernst Langthaler, Food and Nutrition (Austria-Hungary), in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, hg. v. Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, Bill Nasson, http://dx.doi.org/10.15463/ie1418.10796.

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13 Reinhard Sieder, Behind the Lines: Working Class Family Life in Wartime Vienna, in: The ­ pheaval of War: Family, Work and Welfare in Europe, 1914–1918, hg. v. Richard Wall, Jay Winter, U Cambridge 1988, S. 109–138, hier S. 126. 14 Arnold Penther, Bericht über die 1916 im Auftrage und auf Kosten der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien ausgeführte zoologische Forschungsreise in Serbien und Montenegro, Wien 1916, S. 3. 15 David Hamlin, „Dummes Geld“: Money, Grain, and the Occupation of Romania in WWI, „Central European History“ 42 (2009), 3, S. 451–471. 16 Theodore  R. Weeks, Vilnius Between Nations 1795–2000, DeKalb 2015, S. 105. 17 Zitiert nach: Danuta Płygawko, Polonia devastata. Polonia i Amerykanie z pomocą dla Polski (1914–1918), Poznań 2003, S. 109. 18 Mary Elisabeth Cox, Hunger Games: Or How the Allied Blockade in the First World War ­Deprived German Children of Nutrition, and Allied Food Aid Subsequently Saved Them, „The E ­ conomic History Review“ 68 (2015), 2, S. 600–631. 19 Ibidem, S.  624. 20 Bartosz Ogórek, The Unobvious Impact of the First World War on the Height of Pupils in Cracow Schools in 1919–33, Acta Poloniae Historica, 113 (2016), S. 171–194. 21 Robert Blobaum, Warsaw’s Forgotten War, in: Remembrance and Solidarity. Studies in 20th Century European History, issue 2, March 2014, S. 185–207, hier S. 205. 22 J. Wojewódzki [Ludwik Krzywicki], Kartki z dziejów spekulacji, Warszawa 1918, S. 11–13. 23 Ibidem, S.  16. 24 Zitiert nach: Kamil Ruszała, Wielka Wojna w małym mieście. Gorlice w latach 1914–1918, ­Kraków 2015, S. 114. 25 Katarzyna Sierakowska, Śmierć – wygnanie – głód …, op. cit., S. 225, Zitat aus dem unveröffentlichten Tagebuch von Władysław Zahorski. 26 Zitiert nach: Ignác Romsics, The Peasantry and the Age of Revolutions: Hungary, 1918–1919, in: Acta Historica Academiae Hungaricae, 35 (1989), 1–4, S. 113–133, hier S. 120. 27 Alois Rašín, Financial Policy of Czechoslovakia During the First Year of Its History, Oxford 1923, S. 15. 28 Rudolf Kučera, Život na příděl. Válečná každodennost a politiky dělnické třídy v českých zemích 1914–1918, Praha 2014, S. 36–37. 29 Zitiert nach: ibidem, S. 37. 30 27 października 1919, Wilejka, Raport sytuacyjny Hanny Zahorskiej z powiatu wilejskiego i ws­ chodniej części powiatu święciańskiego, in: O niepodległą i granice, Bd. 7: Raporty Straży Kresowej 1919–1920. Ziem Północno-Wschodnich opisanie, hg. v. Joanna Gierowska-Kałłaur, Warszawa/ Pułtusk 2011, S. 847–850. 31 6 grudnia 1919, Troki, Raport z powiatu trockiego, in: ibidem, S. 822–824. 3 2 23 stycznia 1920, Komunikat informacyjny nr 5 (72) z okręgu warszawskiego, łódzkiego, krakows­ kiego, lubelskiego, lwowskiego, poznańskiego, pomorskiego oraz terenów plebiscytowych Górnego Śląs­ ka, in: O niepodległą i granice, Bd. 2: Raporty i komunikaty naczelnych władz wojskowych o sytuacji wewnętrznej Polski 1919–1920, hg. v. Marek Jabłonowski, Piotr Stawecki, Tadeusz Wawrzyński, Warszawa–Pułtusk 1999–2000, S. 308–316, Zitat S. 310. 33 13 września 1920, Komunikat informacyjny (sprawy polityczne) nr 53 (120) o sytuacji społecznej, politycznej, aprowizacji, działalności KPRP oraz sprawach zagranicznych, in: ibidem, S. 562–572, Zitat S. 566.

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Anmerkungen

34 Gazeta Łódzka vom 13. März 1917, zitiert nach: Katarzyna Sierakowska, Śmierć – wygnanie – głód …, op. cit., S. 203. 3 5 David Hamlin, „Dummes Geld“ …, op. cit., S. 466. 36 Výživa a práce, „Kovodělník“ z 23 maja 1918, zitiert nach: Rudolf Kučera, Život na příděl …, S. 40. 37 Katarzyna Sierakowska, Śmierć – wygnanie – głód …, op. cit., S. 202. 38 Erich Ludendorff, Meine Kriegserinnerungen 1914–1918, 9. Aufl., Berlin 1926, S. 275. 39 Kamil Ruszała, Wielka Wojna w małym mieście …, op. cit., S. 112. 40 Tara Zahra, „Each Nation Only Cares for Its Own“: Empire, Nation, and Child Welfare Activism in the Bohemian Lands, 1900–1918, „The American Historical Review“ 111 (2006), S. 1378–1402, hier S. 1381. 41 Ibidem, S.  1392. 42 Konrad Zieliński, Żydzi Lubelszczyzny 1914–1918, Lublin 1999, S. 96. 43 Ibidem, S.  99. 44 Peter Gatrell, Refugees and Refugedom in the Era of the First World War, Referat im Rahmen der Konferenz „Ungewisse Wege. Flucht, Vertreibung, Genozid zur Zeit des Ersten Weltkriegs“, Amstetten, 4.–6. Juni 2016. 45 Ljubow Zschwanko, Bischenzi Perwoj switowoj wijni: ukrainskij wymir, Charkiw 2012, S. 43. 46 Tara Zahra, „Each Nation Only Cares for Its Own“ …, S. 1399. 47 L. Grabski, Joseph Stojanowski, Léon Warężak, Marie Tworkowska, Elise Ostrowska, [ohne Titel], in: La Pologne. Sa vie économique et sociale pendant la guerre, red. Marcel Handelsman, Bd. 2, Paris/Warszawa o. J., S. 337–636, hier S. 393. 48 Wincenty Witos, Moje wspomnienia, Bd. 2, S. 399, 378. 49 Zofia Nowosielska, W huraganie wojny. Pamiętnik kobiety żołnierza, Warszawa 1929, zitiert nach: Katarzyna Sierakowska, Śmierć – wygnanie – głód …, op. cit., S. 167. 50 Maria Walewska, Rok 1918. Wspomnienia, oprac. Elżbieta Słodkowska, Warszawa 1998, S. 25. 5 1 Adam Szczupak, Greckokatolicka diecezja przemyska w latach I wojny światowej, Kraków 2015, S. 187. 5 2 Ibidem, S.  199. 53 Irena z Tańskich Zaborowska, Pamiętnik z wojny 1914 r., hg. v. S. Maj, Kielce 2001, S. 26, ­zitiert nach: Katarzyna Sierakowska, Śmierć – wygnanie – głód …, op. cit., S. 147. 54 Stanisław Dzierzbicki, Pamiętnik z lat wojny 1915–1918, hg. v. Janusz Pajewski, Danuta Płygawko, Warszawa 1983, S. 84. 55 Peter Gatrell, A Whole Empire Walking: Refugees in Russia during World War I, Bloomington 2005, S. 200. 56 Julia Świtalska-Fularska, Wspomnienia lekarki legionowej, Lwów–Warszawa 1937, S. 13, zitiert nach: Katarzyna Sierakowska, Śmierć – wygnanie – głód …, op. cit., S. 157. 57 Zitiert nach: ibidem, S. 175. 58 Alon Rachamimov, POWs and the Great War: Captivity on the Eastern Front, Oxford/New York 2002, S. 225. 59 Die auf einem Bericht des cisleithanischen Innenministeriums basierenden Daten zu den Flüchtlingen wurden unter anderem im Kurjer Lwowski vom 21. Dezember 1915 veröffentlicht. Die Zitate stammen aus einem im Ilustrowany Kuryer Codzienny vom 7. Oktober

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Anhang

1917 erschienenen Artikel mit dem bezeichnenden Titel „Płonący ogień nienawiści“ (Das ­lo­dernde Feuer des Hasses). 60 Milena Lenderová, Martina Halířová, Tomáš Jiránek, Vše pro dítě! Válečné dětství 1914–1918, Praha/Litomyšl 2015, S. 175. 61 Ibidem, S.  183. 62 Hella Pöch-Schürer, Beiträge zur Anthropologie der ukrainischen Wolhynier, „Mitteilungen der Anthropologischen Gesellschaft in Wien“, 56 (1926), S. 35, zitiert nach: Brigitte Fuchs, ­„Rasse“, „Volk“, Geschlecht. Anthropologische Diskurse in Österreich 1850–1960, Frankfurt am Main 2003, S. 255. 63 Kurjer Lwowski, 25. April bis 8. Mai 1915. 64 Kurjer Lwowski, 26. Juli 1915. 65 Kurjer Lwowski, 26. Oktober 1916. 66 Ilustrowany Kuryer Codzienny, 21. März 1915. 67 Die Zeit, 15. Januar 1917. 68 Siehe Katarzyna Sierakowska, Śmierć – wygnanie – głód …, op. cit., S. 184–185. 69 Iвaн Чeпигa, Ha чyжинї, in: Biдeнcький iлюcтpoвaний кaлeндap yкpaїнcькиx eмiгpaнтiв нa пpecтyпний piк 1916, Wien 1916, S. 20. 70 Marsha  L. Rozenblit, Reconstructing a National Identity: The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford 2001, S. 78. 71 Milena Lenderová, Martina Halířová, Tomáš Jiránek, Vše pro dítě! …, op. cit., S. 177. 72 David Killingray, A New ‚Imperial Disease‘: The Influenza Pandemic of 1918–9 and its Impact on the British Empire, „Carribbean Quaterly“, 49 (2003), 4, S. 30–49. 73 Łukasz Mieszkowski, A Foreign Lady: The Polish Episode in the Influenza Pandemic of 1918, „ActaPoloniae Historica“, 113 (2016), S. 195–230, Zitat S. 212. 74 Zitiert nach: David Killingray, A New ‚Imperial Disease‘ …, op. cit., S. 32. 75 Łukasz Mieszkowski, A Foreign Lady …, op. cit., S. 213. 76 Ibidem, S.  215. 77 David Killingray, A New ‚Imperial Disease‘ …, op. cit., S. 36–38. 78 Szymon Słomczyński, Kostusi widocznie znudziła się praca na frontach bojowych. Epidemia grypy hiszpanki w Polsce i na świecie jako zapomniane doświadczenie ostatnich miesięcy Wielkiej ­Wojny, in: Wielka Wojna poza linią frontu, hg. v. Daniel Grinberg, Jan Snopko, Grzegorz ­Zackiewicz, Białystok2013, S. 101–105. 79 Stanislav Balík, Lukáš Fasora, Jiří Hanuš, Marek Vlha, Český antiklerikalismus. Zdroje, téma­ ta a podoba českého antiklerikalismu v letech 1848–1938, Praha 2015, S. 144. 80 Tomas Balkelis, Nation-Building and World War I Refugees in Lithuania, 1918–1924, „Journal of Baltic Studies“, 34 (2003), 4, S. 432–456. 81 Juozas Švaistas-Balčiūnas, Dangus debesyse. Autoriaus išgyvenimai 1918–1919, London 1967, zitiert nach: ibidem, S. 442. 82 Konrad Zieliński, Population Displacement and Citizenship in Poland, 1918–1924, in: Home­ lands: War, Population and Statehood in Eastern Europe and Russia, 1918–1924, London 2004, S. 98–118, hier S. 111. 83 Zitiert nach: Tomas Balkelis, Nation-Building …, op. cit., S. 447. 84 Darbininkas, 30. Juli 1921, zitiert nach: ibidem.

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Anmerkungen

8 5 Aneta Prymaka-Oniszk, Bieżeńcy 1915. Zapomniani uchodźcy, Warszawa 2016, S. 227–229, 246–252. 86 Zitiert nach: Danuta Płygawko, Polonia devastata …, op. cit., S. 38. 87 Marsha  L. Rozenblit, Reconstructing a National Identity: The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford 2001, S. 72. 88 Amelia Peabody Tileston, Amelia Peabody Tileston and Her Canteens for the Serbs, Boston 1920, S. 78. 89 Zitiert nach: Dangiras Mačiulis, Darius Staliūnas, Lithuanian Nationalism and the Vilnius Question, 1883–1940, S. 58–59. 90 Ibidem, S.  45. 91 Aija Priedite, Latvian Refugees and the Latvian Nation State during and after World War One, in: Homelands …, op. cit., S. 35–52, hier S. 51. 92 Konrad Zieliński, Żydzi Lubelszczyzny 1914–1918, op. cit., S. 147. 93 Zitiert nach: Milena Lenderová, Martina Halířová, Tomáš Jiránek, Vše pro dítě! …, op. cit., S. 60. 94 Ibidem, S.  142. 95 J. Wojewódzki [Ludwik Krzywicki], Kartki …, op. cit., S. 21. 96 Zitiert nach: Tara Zahra, „Each Nation Only Cares for Its Own“ …, op. cit., S. 1391. 97 Zitiert nach: Milena Lenderová, Martina Halířová, Tomáš Jiránek, Vše pro dítě! …, op. cit., S. 136. 98 Tara Zahra, „Each Nation Only Cares for Its Own“ …, op. cit., S. 1381. 99 Milena Lenderová, Martina Halířová, Tomáš Jiránek, Vše pro dítě! …, op. cit., S. 141. 100 Tara Zahra, „Each Nation Only Cares for Its Own“ …, op. cit., S. 1379. 101 Jürgen Kocka, Klassengesellschaft im Krieg …, op. cit., S. 34. 102 Péter Hanák, The Garden and the Workshop: Essays on the Cultural History of Vienna and ­Budapest, Princeton 1988, S. 211. 103 Rudolf Kučera, Rationed life …, op. cit., S. 137–150. 104 Gabriella Hauch, Sisters and Comrades. Women’s Movements and the „Austrian Revolution“: Gender in Insurrection, the Räte Movement, Parties and Parliament, in: Aftermaths of War: Women’s and Female Activists, 1918–1923, hg. v. Ingrid Sharp, Matthew Stibbe, Leiden/Boston 2011, S. 221– 243, hier S. 223. 105 Zitiert nach: Wolfgang Schumann, Oberschlesien 1918/19. Vom gemeinsamen Kampf deut­ scher und polnischer Arbeiter, Berlin 1961, S. 49. 106 Milena Lenderová, Martina Halířová, Tomáš Jiránek, Vše pro dítě! …, op. cit., S. 34. 107 Zitiert nach: Pavla Horáková, Jiří Kamen, Přišel befel od císaře pána: Polní pošta – příběhy Čechů za první světové války, Praha 2015, S. 188. 108 Reinhard Sieder, Behind the Lines …, op. cit., S. 125. 109 Zitiert nach: Rudolf Neck, Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg 1914–1918 (A. ­Quellen), Bd. 1: Der Staat (2. Vom Juni 1917 bis zum Ende der Donaumonarchie im November 1918), Wien 1968, S. 306. 110 Bericht des Mil. Kdos. Pozsony an das KM. über die Streikbewegung im Gebiet von Preßburg, in: ibidem, S. 305. 111 Sammelakt des Mdl. über die Streikbewegung unter den Eisenbahnern, in: ibidem, S. 249–250.

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Anhang

112 Ibidem, S.  251. 113 Ibidem, S.  252. 114 Ibidem, S.  306. 115 Karl Otmar Freiherr von Aretin, Tausch, Teilung und Länderschacher als Folgen des Gleich­ gewichtssystems der europäischen Großmächte. Die Polnischen Teilungen als europäisches Schicksal, in: Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871, hg. v. Klaus Zernack, Berlin 1981, S. 53–68. 116 Daran änderte offenbar auch die Zeit nichts. John W. Wheeler-Bennett gab seiner 1939 ­erschienenen – und ersten seriösen – Monografie über die schon damals vergessenen Brester Verhandlungen den Titel The Forgotten Peace. Brest-Litovsk, March 1918 (New York 1939). Borislav Chernev betitelte die Einleitung zu seinem Buch Twilight of the Empire: Brest Litovsk and the Remaking of East Central Europe, 1917–1918 (Toronto 2017), der neuesten Publikation zum Thema, „A Forgotten Peace“. Dabei dachte er nicht nur an seine kanadischen Leser. 117 Karl Marten Barfuss, „Gastarbeiter“ in Nordwestdeutschland 1884–1918, Bremen 1986, S. 103. 118 Karol Rose, Wspomnienia berlińskie, Warszawa 1932, S. 110–111. 119 Zbigniew Gołasz, Produktywizacja jeńców wojennych na terenie Zabrza w latach pierwszej ­wojny światowej, in: Wielka Wojna, mały region. Pierwsza wojna światowa w perspektywie górno­ śląskiej. Szkice i studia, hg. v. Bernard Linek, Sebastian Rosenbaum, Joanna Tofilska, K ­ atowice/ Gliwice/Opole 2014, S. 116–128. 120 Bericht des Kreuzerflottillenkommandos in Cattaro an das KM. über die bewaffnete Meuterei in der Kriegsmarine, in: Rudolf Neck, Arbeiterschaft und Staat …, op. cit., S. 352–375, Zitat S. 354. 121 Ibidem, S.  365. 122 Hannes Leidinger, Verena Moritz, Gefangenschaft, Revolution, Heimkehr. Die Bedeutung der Kriegsgefangenenproblematik für die Geschichte des Kommunismus in Mittel- und Osteuropa 1917– 1920, Wien 2003, S. 480. 123 József Galantai, Hungary in the First World War, hg. Éva Grusz, Judit Pokoly, Budapest 1989, S. 294. 124 Irena Kostrowicka, Zbigniew Landau, Jerzy Tomaszewski, Historia gospodarcza Polski XIX i XX wieku, 4. Aufl., Warszawa 1984, S. 248. 125 Nachrichtenabteilung des k. u. k. MGG Polen nr 1582/res/17. Politischer Bericht vom 23. April 1917, in: Społeczeństwo polskie w świetle raportów politycznych austro-węgierskiego Generalnego ­Gubernatorstwa Wojskowego w Polsce 1915–1918. Wybór źródeł, hg. v. Jerzy Gaul, Alicja Nowak, Warszawa 2014, S. 135–142, Zitat S. 141–142. 126 K. u. k. MGG in Polen, Nachrichtenabteilung nr 356/res./1918. Politischer Bericht vom 3. ­Februar 1918, in: ibidem, S. 246–255, Zitat S. 252–253. 127 K. u. k. Kreiskommando Lublin zu Adj. Res. Nr 205. Monatsbericht des ZLK, 1918.02, Beilage 1, in: ibidem, S. 257–259, Zitat S. 258. 128 Kardynał Aleksander Kakowski, Z niewoli do niepodległości. Pamiętniki, hg. v. Tadeusz ­Krawczak, Ryszard Świętek, Kraków 2000, S. 551. 129 Mieczysław Ryba, Środowiska i ugrupowania polityczne na Lubelszczyźnie 1914–1918, Lublin 2007, S. 330.

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Anmerkungen

130 A. Siklós, Ungarn im Oktober 1918, „Acta Historica Academiae Scientarum Hungaricae“, 23 (1977), S. 1–41, hier S. 30–34. 131 Ludwik Hass, Robotniczy Pruszków w latach 1918–1920, in: Odgłosy Rewolucji Październiko­ wej na Mazowszu i Podlasiu. Praca zbiorowa, Warszawa 1970, S. 155–181, hier S. 172. 132 21 marca 1919, Raport polityczno-informacyjny Sztabu Generalnego WP o sytuacji w okręgach warszawskim i łódzkim, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 134–137, Zitat S. 135. 133 15 marca 1919, Raport polityczno-informacyjny Sztabu Generalnego WP o sytuacji w okręgach łódzkim, krakowskim i lubelskim, in: ibidem, S. 119–120. 134 15 października 1920, Komunikat informacyjny (sprawy polityczne) nr 61 (128), in: ibidem, S. 613–620. 135 Benon Dymek, Rady delegatów robotniczych na Mazowszu w latach 1918–1919, in: Odgłosy Rewolucji Październikowej …, op. cit., S. 63–131, hier S. 104. 136 Jan Jarzyna, 1918–1923 w wolnej Polsce. Przeżycia, Warszawa 1927, S. 47. 137 H.  Gordon Skilling, The Formation of a Communist Party in Czechoslovakia, „The American Slavic and East European Review“, 14 (1955), 3, S. 346–358. 138 Wolfgang Schumann, Oberschlesien 1918/19 …, op. cit., S. 50–51. 139 Ivan Olbracht, Der Räuber Nikola Schuhaj, aus dem Tschechischen von Erhard Bittner, Reinbek bei Hamburg 1989, S. 38. 140 Ibidem, S.  41. 141 30 grudnia 1918, Raport polityczno-informacyjny Sztabu Generalnego WP o sytuacji w okręgach warszawskim, kieleckim, krakowskim, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 17–19, Zitat S. 17. 142 Milena Lenderová, Martina Halířová, Tomáš Tiránek, Vše pro dítě! …, op. cit., S. 143. 143 Václav Šmidrkal, Fyzické násili, státní autorita a trestní parvo v českých zemích 1918–1923, „Český časopis historický“, 114 (2016), 1, S. 83–109, hier S. 89. 144 Przemysław Różański, Stany Zjednoczone wobec kwestii żydowskiej w Polsce 1918–1921, Gdańsk 2007, S. 293. 145 Václav Šmidrkal, Fyzické násili …, S. 90. 146 Ibidem, S.  92. 147 William  W. Hagen, Murder in the East: German-Jewish Liberal Reactions to Anti-Jewish Violen­ ce in Poland and Other East European Lands, 1918–1920, „Central European History“, 34 (2001), 1, S. 1–30, hier S. 10–12. 148 2 maja 1919, Raport polityczno-informacyjny MSWojsk, o sytuacji w kraju, in: O niepodległą i granice, Bd. 2, op. cit., S. 180–182, Zitat S. 180. 149 3 maja 1919, Raport polityczno-informacyjny MSWojsk, o sytuacji w kraju, in: ibidem, S. 182. 150 4 maja 1919, Raport polityczno-informacyjny MSWojsk, o sytuacji w kraju, in: ibidem, S. 182– 183. 151 7 maja 1919, Raport polityczno-informacyjny MSWojsk, o sytuacji w kraju, in: ibidem, S. 186– 187. 152 Bremer Zeitung, 23. März 1923, zitiert nach: Karl Marten Barfuss, „Gastarbeiter“ …, op. cit., S. 20. 153 Péter Hanák, The Garden and the Workshop …, op. cit., S. 211–212.

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Kapitel 2: Transformation 1 Florian Kührer-Wielach, Sarah Lemmen, Transformation in East Central Europe: 1918 and 1989. A Comparative Approach, „European Review of History“, 23 (2016), 4, S. 573–579. 2 29 września 1920 r., Raport Stanisława Wędkiewicza z Bukaresztu, in: O niepodległą i granice, Bd. 3: Raporty i informacje Biura Propagandy Zagranicznej Prezydium Rady Ministrów 1920–1921, hg. v. Marek Jabłonowski, Włodzimierz Janowski, Adam Koseski, Warszawa/Pułtusk 2002, S. 95–98, Zitat S. 96. 3 5 listopada 1920 r., Raport Stanisława Wędkiewicza z Bukaresztu, in: ibidem, S. 163. 4 25 listopada 1920 r., Raport Stanisława Wędkiewicza z Bukaresztu, in: ibidem, S. 183–186, Zitat S. 184. 5 29 listopada 1920 r., Raport Stanisława Wędkiewicza z Bukaresztu, in: ibidem, S. 209–211, ­Zitat S. 211. 6 AAN Zespół 463 Ambasada RP w Paryżu, Sign. 84 ZSRR, Ukraina, 1922, Bl. 133. 7 David Mitrany, The Effect of the War in Southeastern Europe, New Haven 1936, S. 179. 8 Economic Development in Southeastern Europe including Poland, Czechoslovakia, Austria, Hun­ gary, Roumania, Yugoslavia, Bulgaria and Greece, London 1945, S. 70. 9 21 sierpnia 1920 r., Raport R. Ordyńskiego z Berna, in: O niepodległą i granice. Raporty i ­informacje Biura Propagandy Zagranicznej …, op. cit., S. 31–33, Zitat S. 32. 10 Dziennik Juliusza Zdanowskiego, Bd. 2: 15 X 1918–23 VI 1919, hg. v. Janusz Faryś, Tomasz Sikorski, Henryka Walczak, Adam Wątor, Szczecin 2014, S. 92. 11 Eduard Dana Durand, Currency Inflation in Eastern Europe with Special Reference to Poland, „The American Economic Review“, 13 (1923), 4, S. 593–608, Zitat S. 594–595. 12 George Clenton Logio, Bulgaria: Problems & Politics, London 1919, S. 221–222. 13 Wojciech Morawski, Inflacje podczas pierwszej wojny światowej – próba systematyzacji, in: 100.rocznica wybuchu pierwszej wojny światowej. Materiały pokonferencyjne, Nidzica 2014, hg. v. ­ Ewelina Solarek, Hubert Domański, Hubert Wajs, Warszawa 2015, S. 25–44, hier S. 29–30. 14 Zitiert nach: Jana Čechurová, Alois Rašín – temperamentní revolucionář ve službách ­continuity, in: Muži října 1918. Osudy aktéru vzniku Republiky československé, hg. Rudolf Kučera, Praha 2011, S. 9–15, hier S. 11. 15 L. Rostas, Capital Levies in Central Europe, „The Review of Economic Studies“, 8 (1940), 1, S. 20–32. 16 Alois Rašín, Financial Policy of Czechoslovakia During the First Year of Its History, Oxford 1923, S. 87. 17 Eduard Dana Durand, Currency Inflation …, op. cit., S. 601. 18 L. Rostas, Capital Levies …, op. cit., S. 25–26. 19 Arthur Salter, The Reconstruction of Hungary, „Foreign Affairs“, 5 (1926), 1, S. 91–102, Zitat S. 92. 20 L. Rostas, Capital Levies …, op. cit., S. 29. 21 Eduard Dana Durand, Currency Inflation …, op. cit., S. 593–594. 22 Dziennik Juliusza Zdanowskiego, op. cit., S. 157. 23 Marian Marek Drozdowski, Życie gospodarcze Polski w latach 1918–1939, in: Z dziejów Drugiej Rzeczypospolitej, hg. v. Andrzej Garlicki, Warszawa 1986, S. 146–175, hier S. 148–150. 24 Zitiert nach: Niall Ferguson, Keynes and the German Inflation, „The English Historical

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Anmerkungen

­Review“, 110 (1995), 436, S. 368–391, hier S. 389. Übersetzung nach: John Maynard Keynes, Krieg und Frieden. Die wirtschaftlichen Folgen des Vertrags von Versailles, aus dem Englischen von Joachim Kalka, Berlin 2006. 25 György Ránki, The Great Powers and the Economic Reorganization of the Danube Valley after World War I, „Acta Historica Academiae Scientiarum Hungaricae“, 27 (1981), 1–2, S. 63–97. 26 Ibidem, S.  94. 27 Włodzimierz Mędrzecki, Materialne uwarunkowania życia społecznego, w: Metamorfozy społeczne, Bd. 10: Społeczeństwo międzywojenne: nowe spojrzenie, hg. Włodzimierz Mędrzecki, Janusz Żarnowski, Warszawa 2015, S. 113–135, hier S. 131. 28 Józef Obrębski, Polesie, hg. v. Anna Engelking, Warszawa 2007, S. 310. 29 Nicos Mouzelis, Greek and Bulgarian Peasants: Aspects of Their Sociopolitical Situation During the Interwar Period, „Comparative Studies in Society and History“, 18 (1976), 1, S. 85–105, hier S. 96. 30 Ignác Romsics, The Peasantry and the Age of Revolutions: Hungary, 1918–1919, in: Acta ­Historica Academiae Hungaricae, 35 (1989), 1–4, S. 113–133, hier S. 115. 31 Ibidem, S.  122. 3 2 Rps BUW, materiały Stanisława Stempowskiego, k. 15–16. 33 Zitiert nach: Ştefan Pascu, The Making of the Romanian Unitary National State 1918, Bucureşti 1988, S. 157. 34 Sarahelen Thompson, Agrarian Reform in Eastern Europe Following World War I: Motives and Outcomes, „American Journal of Agricultural Economics“, 75 (1993), 3, S. 840–844, hier S. 841. 3 5 Wim van Meurs, Land Reform in Romania – A Never-Ending Story, „South-East Europe ­Review“, 99, 2, S. 109–122, hier S. 111–114. 36 Wojciech Roszkowski, Large Eatates and Small Farms in the Polish Agrarian Economy between the Wars (1918–1938), „Journal of European Economic History“, 16 (1987), S. 75–88. 37 Serhii Plokhy, Unmaking Imperial Russia: Mykhailo Hrushevsky and the Writing of Ukrainian History, Toronto 2005, S. 79. 38 The Fourth Universal of the Ukrainian Central Rada, in: Towards an Intellectual History of ­Ukraine: An Anthology of Ukrainian Thought from 1710 to 1995, hg. v. Ralph Lindheim, George S. N. Luckyj, Toronto 1996, S. 243–247, Zitat S. 245. 39 Protokoły posiedzeń Konferencji Posłów Misji Dyplomatycznych URL zwołanej przez MSZ URL, które odbyły się w Karlsbadzie w dniach 6 do 14 sierpnia 1919 roku, in: Ukraine and Poland in Docu­ ments, 1918–1922, Bd. 1, hg. v. Taras Hunczak, New York 1983, S. 245–320, hier S. 265. 40 Ibidem, S.  270. 41 Konrad Zieliński, O Polską Republikę Rad. Działalność polskich komunistów w Rosji Radzieckiej 1918–1922, Lublin 2013, S. 156. 42 Keith Hitchins, The Russian Revolution and the Rumanian Socialist Movement, 1917–1918, „Slavic Review“, 27 (1968), 2, S. 268–289, hier S. 285. 43 „Az Ember“, 25. März 1919, zitiert nach: János M. Bak, Die Diskussion um die Räterepublik in Ungarn 1919, „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas“, NF 14 (1966), 4, S. 551–578, hier S. 568– 569. 44 Zitiert nach: F. L. Carsten, Revolution in Central Europe 1918–1919, London 1972, S. 242–243. 45 Zitiert nach: Ignác Romsics, The Peasantry …, op. cit., S. 128.

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6 Andrew  C. Janos, The Agrarian Opposition at the National Congress of Councils, in: Revolution 4 in Perspective: Essays on the Hungarian Soviet Republic of 1919, hg. v. Andrew C. Janos, William B. Slottman, Berkeley 1971, S. 85–108, hier S. 96. 47 Zitiert nach: ibidem, S. 94. 48 Zitiert nach: ibidem, S. 96–97. 49 Zitiert nach: ibidem, S. 98. 50 Ignác Romsics, The Peasantry …, op. cit., S. 132–133. 51 Zitiert nach: Wolfgang Wachtsmuth, Das politische Gesicht der deutschen Volksgruppe in­ ­Lettland in der parlamentarischen Periode 1918–1934, Köln 1953, S. 64–65. 5 2 Zitiert nach: ibidem, S. 72. 53 Werner Conze, Die Strukturkrise des östlichen Mitteleuropas vor und nach 1919, „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“, 1 (1953), 4, S. 319–338, hier S. 330. 54 Marju Mertelsmann, Olaf Mertelsmann, Landreform in Estland 1919 …, op. cit., S. 48. 55 Werner Conze, Die Strukturkrise des östlichen Mitteleuropas …, op. cit., S. 330. 56 Pranas Pauliukonis, Mykolas Krupavičius and Lithuanian Land Reform, „Lituanus“ 16 (1970), 4, S. 31–46. 57 Zitiert nach: Marju Mertelsmann, Olaf Mertelsmann, Landreform in Estland 1919. Die ­Reaktion von Esten und Deutschbalten, Hamburg 2012, S. 71. 58 Włodzimierz Mich, Związek Ziemian w Warszawie (1916–1926). Organizacja i wpływy, Lublin 2007. 59 Dziennik Juliusza Zdanowskiego, op. cit., S. 115. 60 Gustav Fochler-Haule, Deutscher Volksboden und deutsches Volkstum in der Tschechoslowakei. Eine geographisch-geopolitische Zusammenschau, Heidelberg 1937, S. 207, zitiert nach: Jaromír Balcar, Instrument im Volkstumskampf? Die Anfänge der Bodenreform in der Tschechoslowakei 1919/20, „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“, 46 (1998), 3, S. 391–428, hier S. 392. 61 Jaromír Balcar, op. cit., S. 403–404. 62 Zitiert nach: Petr Pithart, Kavalír Josef Pekař. (Konzervativní kritika jedné konzervativní ­reformy), in: Pekařovské studie, hg. v. Eva Kantůrková, Praha 1995, S. 123–145, hier S. 129. 63 Jaromír Balcar, Instrument im Volkstumskampf? …, op. cit., S. 427–428. 64 Joachim von Puttkamer, Die tschechoslowakische Bodenreform von 1919: soziale Umgestaltung als Fundament der Republik, „Bohemia“, 46 (2005), S. 315–342, hier S. 340. 65 Zitiert nach: Jaromír Balcar, op. cit., S. 134. 66 Ute Frevert, „Mann und Weib, und Weib und Mann“. Geschlechterdifferenzen in der Moderne, München 1995, S. 124. 67 Karsten Brüggemann, Erinnerungen von Frauen an Krieg und Revolution: Autobiographische Darstellungen von Umbruch in und Aufbruch aus Estland (1914–1920), „Nordost-Archiv“, 23 (2014), S. 168–191, Zitat S. 187. 68 Siehe: ibidem, S. 180–181. 69 Dziennik Juliusza Zdanowskiego, op. cit., S. 170. 70 Ibidem, S.  146. 71 Natali Stegmann, Die Töchter der geschlagenen Helden. „Frauenfrage“, Feminismus und Frauen­ bewegung in Polen 1863–1919, Wiesbaden 2000, S. 228–229. 72 Ibidem, S.  232–234. 73 Zitiert nach: Tina Bahovec, Love for the Nation in Times of War: Strategies and Discourses of the

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Anmerkungen

National and Political Mobilization of Slovene Women in Carinthia from 1917 to 1920, in: Gender and the First World War, hg. v. Christa Hämmerle, Oswald Überegger, Birgitta Bader Zaar, Houndmills, Basingstoke 2014, S. 231–250, hier S. 236–237. 74 Alison S. Fell, Ingrid Sharp, Introduction: The Women’s Movement and the First World War, in: The Women’s Movement in Wartime. International Perspectives, 1914–19, hg. Alison S. Fell, Ingrid Sharp, Houndmills, Basingstoke 2007, S. 1–17. 75 Judit Acsády, In a Different Voice: Responses of Hungarian Feminism to the First World War, in: ibidem, S. 105–123. 76 Tomasz Nałęcz, Kobiety w walce o niepodległość w czasie pierwszej wojny światowej, in: Kobieta i świat polityki. Polska na tle porównawczym w XIX i w początkach XX wieku, hg. Anna Ż ­ arnowska, Andrzej Szwarc, Warszawa 1994, S. 73–79, hier S. 78 77 Ibidem. 78 Ruth Crawford Mitchell, Alice Garrigue Masaryk 1879–1966. Her Life as Recorded in Her Own Words and by Her Friends, Pittsburgh 1980, S. 73. 79 Ibidem, S.  80. 80 Zitiert nach: Maria Walewska, Rok 1918. Wspomnienia, hg. v. Elżbieta Słodkowska, ­Warszawa 1998, S. 86. 81 Sylwia Kuźma-Markowska, Soldiers, Members of Parliament, Social Activists: The Polish ­Women’s Movement after World War I, in: Aftermaths of War. Women’s Movements and Female ­Activists, 1918–1923, hg. v. Ingrid Sharp, Matthew Stibbe, Leiden/Boston 2011, S. 265–285. 82 Heidrun Zettelbauer, „Die Liebe sei Euer Heldentum“. Geschlecht und Nation in völkischen ­Vereinen der Habsburgermonarchie, Frankfurt am Main 2005, S. 401–403. 83 Virginija Jurėnienė, Political and Public Aspects of the Activity of the Lithuanian Women’s ­Movement, 1918–1923, in: Aftermaths of War …, op. cit., S. 287–306, hier S. 292. 84 Natali Stegmann, Die Töchter der geschlagenen Helden …, op. cit., S. 236. 85 Katarzyna Sierakowska, Kobieta i mężczyzna, in: Metamorfozy społeczne …, op. cit., S. 167–188. 86 Fr. Sýkora, Slovenská žena a jej pôsobenie vo verejnom živote, „Slovenská żena“, 1 (1920), 1, S. 6, zitiert nach: Gabriela Dudeková, Vplyv Veľkej vojny a rozpadu Habsburskej monarchie na právne a spoločenské postavenie žien, in: 1918. Model komplexního transformačního procesu?, hg. v. Ludie Kostrbová, Jana Malínská, Praha 2010, S. 169–191, hier S. 174–175. 87 Gabriela Dudeková, Vplyv Veľkej vojny …, op. cit., S. 181–187. 88 Michał Gałędek, Anna Klimaszewska, „Crippled Equality“: The Act of 1 July 1921 on Civil Rights for Women in Poland, „Acta Poloniae Historica“, 113 (2016), S. 231–260. 89 Joanna Dufrat, W służbie obozu marsz. Józefa Piłsudskiego. Związek Pracy Obywatelskiej Kobiet (1928–1939), Kraków 2013, S. 109. 90 Christa Hämmerle, „Mentally broken, physically a wreck …“ Violence in War Accounts of Nurses in Austro-Hungarian Service, in: Gender and the First World War, op. cit., S. 89–107, hier S. 89. 91 Maria Walewska, Rok 1918 …, op. cit., S. 105. 92 Zitiert nach: Marie Bahenská, Postavení českých učitelek a jeho proměna po 28. říjnu 1918. „Jest to prace nejnevděčnější a nejbídněji placená“, in: Muži Řijna 1918 …, S. 159–168. 93 Zitiert nach: ibidem, S. 166. 94 Maria Walewska, Rok 1918 …, op. cit., S. 114. 95 Zitiert nach: Ruth Crawford Mitchell, Alice Garrigue Masaryk 1879–1966 …, op. cit., S. 106. 96 Zitiert nach: Judith Szapor, Who Represents Hungarian Women? The Demise of the Liberal Bour­

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Anhang

geois Women’s Rights Movement and the Rise of the Right-Wing Women’s Movement in the Aftermath of World War I, in: Aftermaths of War …, op. cit., S. 245–264, hier S. 257–258. 97 Gabriela Dudeková, Vplyv Veľkej vojny …, op. cit., S. 178. 98 Ľudmila Škultéty, My a politika, „Živena“, 25 (1935), S. 243–244, zitiert nach: ibidem, S. 179. 99 Eine Beobachtung von Judith Szapor, Who Represents Hungarian Women? …, op. cit. 100 Zitiert nach: Jana Burešová, Rozdílné pohledy na novou společenskou realitu po roce 1918 na příkladu katolických a pokrokově orientovaných ženských spolků, in: 1918. Model komplexního ­transformačního procesu?, op. cit., S. 193–201, hier S. 195. 101 Włodzimierz Mędrzecki, Narodowości, in: Metamorfozy społeczne, op. cit., S. 225–249, hier S. 230–231. 102 Zitiert nach: Mark R. Hatlie, Voices from Riga: Ethnic Perspectives on a Wartime City, 1914– 1919, „Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung“, 56 (2007), 3, S. 318–346, hier S. 339–340. 103 Zitiert nach: Joanna Nalewajko-Kulikov, Mówić we własnym języku. Prasa jydyszowa a twor­ zenie żydowskiej tożsamości narodowej (do 1918 roku), Warszawa 2016, S. 282. 104 Ibidem, S.  301. 105 Konrad Zieliński, O Polską Republikę Rad …, op. cit., S. 90. 106 Zitiert nach: Natali Stegmann, Minderheiten transnational. Die Teilhabe des „Bundes der Kriegsverletzten, Witwen und Waisen in der Tschechoslowakei“ an der „Conférence Internationale des Associations de Mutilés et Anciens Combattants“, in: Politische Strategien nationaler Minder­heiten in der Zwischenkriegszeit, hg. v. Mathias Beer, Stefan Dyroff, München 2013, S. 241–267, hier S. 251. 107 Václav Petrbok, Jan Randák, „Z krvácejících rakví teče naše vůle“. Sudetští Němci take jako muži října?, in: Muži října …, S. 169–181. 108 Zitiert nach: ibidem, S. 173. 109 Christoph Boyer, Nationale Kontrahenten oder Partner? Studien zu den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Wirtschaft der ČSR (1918–1938), München 1999, S. 287. 110 Károly Kós, Erdély. Kultúrtörténeti vázlat, Kolozsvár 1929, S. 88, zitiert nach: Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe (1770–1945): Texts and Commentaries, Bd. III/2: Modernism: Representations of National Culture, hg. v. Ahmet Ersoy, Maciej Górny, Vangelis ­­Kechriotis, übersetzt v. Dávid Oláh, Budapest/New York 2010, S. 371. 111 1. Dezember 1918, Prag, Brief von Kramář an Außenminister Beneš, zitiert nach: Českos­ lovensko na pařížské mírové konferencji 1918–1920, Bd. 1 (listopad 1918 – červen 1919), hg. v. Jindřich Dejmek, František Kolář, Martin Nechvázal, Helena Nováčková, Ivan Šťoviček, Praha 2001, S. 96–98. 112 Zitiert nach: Robert Traba, Kriegssyndrom in Ostpreußen. Ein Beitrag zum kollektiven Bewußt­ sein der Weimarer Zeit, in: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, hg. v. Thomas F. Schneider, Osnabrück 1999, S. 399– 412, hier S. 405. 113 Zu den Mechanismen der Herausbildung der ostpreußischen Identität siehe: Robert Traba, Ostpreußen, die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität, Osnabrück 2010. 114 N.  M. Gelber, The Problem of the Rumanian Jews at the Bucharest Peace Conference, 1918, ­„Jewish Social Studies“, 12 (1950), 3, S. 223–246. 115 Carole Fink, The League of Nations and the Minorities Question, „World Affairs“, 157 (1995), 4, S. 197–205.

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Anmerkungen

1 16 Theodore  S. Woolsey, The Rights of Minorities under the Treaty with Poland, „The American Journal of International Law“, 14 (1920), 3, S. 392–396, Zitat S. 396. 117 Włodzimierz Borodziej, Versailles und Jalta und Potsdam. Wie Deutsch-Polnisches zur Weltge­ schichte wurde, in: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, hg. v. Robert Traba, Hans Henning Hahn, Maciej Górny, Kornelia Kończal, Bd. 3: Parallelen, Paderborn 2012, S. 360–380, hier S. 369. 118 S. Poliakov (1919), zitiert nach: Mark Levene, Nationalism and Its Alternatives in the Interna­ tional Arena: The Jewish Question at Paris 1919, „Journal of Contemporary History“, 28 (1993), 3, S. 511–531, hier S. 516. 119 Torsten Lorenz, Changing Social Roles in a Polish-German Border Town: The Case of Międzychód/Birnbaum, „Acta Poloniae Historica“, 109 (2014), S. 157–171. 120 Ibidem, S.  169–171. 121 Gábor Egry, Navigating the Straits. Changing Borders, Changing Rules and Practices of ­Ethnicity and Loyalty in Romania after 1918, „The Hungarian Historical Review“, 2 (2013), 3, S. 449–476. 122 Theodora Dragostinova, Speaking National: Nationalizing the Greeks of Bulgaria, 1900–1939, „Slavic Review“, 67 (2008), 1, S. 154–181.

Dritter Teil: Mafias Kapitel 1: Nationalbewegungen 1 Rein Taagepera, Estonia: Return to Independence, Boulder 1993, S. 44. 2 Marianne Bienhold, Die Entstehung des litauischen Staates in den Jahren 1918–1919 im Spiegel deutscher Akten, Bochum 1976, S. 58–64. 3 Zitiert nach: ibidem, S. 99. 4 Zitiert nach: In Commemoration of Latvia’s Independence Day – November 18, 1918, Washington 1952, S. 3. 5 František Soukup, 28. Říjen. Předpoklady a vývoj našeho odboje domácího v československé revo­ luci za statní samostatnost národa, Praha 1928, S. 11 u. 14. 6 Ibidem, S. 657. 7 Ibidem, S. 784. 8 Tomáš Garrigue Masaryk, Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914–1918, Berlin 1925, S. 406. 9 Dušan Kováč, 30. Október 1918 a jeho muži, in: Muži Deklarácie, Bratislava 2000, S. 7–21, hier S. 13–14. 10 Natali Stegmann, „Geburt“ und „Wiedererrichtung“ der Tschechoslowakei. Das Legionäspara­ digma am Ende des Ersten und des Zweiten Weltkrieges, in: Die Weltkriege als symbolische Bezugs­ punkte. Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, hg. v. Natali Stegmann, Praha 2009, S. 71–90, hier S. 76. 11 Aufzeichnung vom 12. November 1915, zitiert nach: Weg von Österreich! Das Weltkriegsexil von Masaryk und Beneš im Spiegel ihrer Briefe und Aufzeichnungen aus den Jahren 1914 bis 1918. Eine Quellensammlung, hg. v. Frank Hadler, Berlin 1995, S. 30. 12 Ján Mlynárik, Cesta ke hvězdám a svobodě, Praha 1989, S. 193. 13 Ferdinand Peroutka, op. cit., S. 946.

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Anhang

14 Peter Macho, Milan Rastislav Štefánik v hlavách a srdciach. Fenomén národného hrdinu v ­ istorickej pamäti, Bratislava 2011, S. 149. h 15 Ibidem. 16 Józef Chlebowczyk, Między dyktatem, realiami a prawem do samostanowienia. Prawo do ­samookreślenia i problem granic we wschodniej Europie Środkowej w pierwszej wojnie światowej oraz po jej zakończeniu, Warszawa 1988, S. 206. 17 Milada Paulová, op. cit., S. 579–580. 18 Zitiert nach Janusz Sibora, Dyplomacja polska w I wojnie światowej, Warszawa 2013, S. 31 f. 19 August Zaleski, Wspomnienia. hg. Krzysztof Kania, Krzysztof Kloc, Przemysław Marcin Żukowski, Warszawa 2017, S. 50 f. 20 Das Polnische Nationalkomitee versuchte Zaleskis Berufung zum Botschafter der Republik Polen in Kopenhagen zu verhindern. Eine ausführliche Dokumentation dazu findet sich in: ­Polskie Dokumenty Dyplomatyczne 1919 styczeń-maj, hg. v. Sławomir Dębski, Warszawa 2016, Zitat S. 746. 21 Norman Davies, God’s Playground. A History of Poland, Bd. 2: 1795 to the Present, New York 2005, S. 289–290. 22 Brief an Vojta Beneš, Juli 1916, zitiert nach: Weg von Österreich!, S. 334. 23 Michał Pułaski, Z dziejów genezy „Europy wersalskiej“. Współpraca Słowian Zachodnich i Połud­ niowych w ostatnim etapie I wojny światowej, Wrocław 1974, S. 93. 24 W.  R. Callcott, The Last War Aim: British Opinion and the Decision for Czechoslovak Indepen­ dence, 1914–1919, „The Historical Journal“ 27 (1984), 4, S. 979–989, hier S. 984. 25 Henryk Batowski, Rozpad Austro-Węgier 1914–1918 (Sprawy narodowościowe i działania ­dyplomatyczne), Kraków 1982, S. 162–163. 26 Zitiert nach: Feliks J. Bister, „Majestät, es ist zu spät!“ Die Slowenen und der Zerfall der Monar­ chie, in: Staatsgründungen 1918, hg. v. Wilhelm Branneder, Norbert Leser, Frankfurt am Main 1999, S. 95–112, hier S. 107. 27 Zitiert nach: ibidem. 28 František Soukup, op. cit., S. 643. 29 Tomáš Garrigue Masaryk, Světová revoluce. Za války a ve válce 1914–1918, Praha 1925; dt. Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914–1918, ins Deutsche übertragen von Camill Hoffmann, Berlin 1925. 30 Karel Čapek, Hovory s T. G. Masarykem, Bd. I–III, Praha 1928–1935; dt. Gespräche mit ­Masaryk, aus dem Tschechischen von Camill Hoffmann und Eckhard Thiele, Stuttgart/München 2001. 31 František Soukup, op. cit., S. 304. 3 2 Richard Georg Plaschka, Nationalismus, Staatsgewalt, Widerstand. Aspekte nationaler und so­ zialer Entwicklung in Ostmittel- und Südosteuropa, hg. v. Horst Haselsteiner, Walter Lukan, Karlheinz Mack, Arnold Suppan, München 1985, S. 313. 33 František Soukup, op. cit., S. 984. 34 Ferdinand Peroutka, op. cit., S. 65. 3 5 Richard Georg Plaschka, op. cit., S. 364. 36 Jan Lewandowski, Królestwo Polskie pod okupacją austriacką 1914–1918, Warszawa 1980, S. 141.

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Anmerkungen

Kapitel 2: Der „Krieg der Geister“ im Osten 1 Vgl. Martin Schramm, Das Deutschlandbild in der britischen Presse 1912–1919, Berlin 2007, S. 378–380, 419. 2 Cynthia Wachtell, Encountering the Enemy. Representations of German Soldiers in American World War I Literature, in: „Hunns“ vs. „Corned Beef “. Representations of the Other in American and German Literature and Film on World War I, Göttingen 2007, S. 65–74. 3 J. H. Morgan, German Atrocities: An Official Investigation, London 1917, S. 100. 4 Ibidem, S. 201. 5 Ibidem, S. 176. 6 Henri Bergson, The Meaning of the War. Life & Matter in Conflict, London 1915, S. 19. 7 Camille Flammarion, La mentalité allemande dans l’histoire, Paris 1915, S. 4–8; vgl.: Gerhard Ahlbrecht, Preußenbäume und Bagdadbahn. Deutschland im Blick der französischen Geo-Diszipli­ nen (1821–2004), Passau 2006, S. 116–120. 8 André Suarès, Nous et eux, Paris 1915, S. 61. 9 Émile Boutroux, Germany & the War, übers. v. Fred Rothwell, London 1915, S. 5–6. 10 Émile Durkheim, „L’Allemagne au-dessous de tout“. La mentalité allemande et la guerre, Paris 1916, S. 44 [dt. „Deutschland über alles“: Die deutsche Gesinnung und der Krieg. Deutsch von ­Jacques Hatt. Payot, Lausanne 1915]. 11 Zitiert nach: Cordula Tollmien, Der „Krieg der Geister“ in der Provinz – das Beispiel der Univer­ sität Göttingen 1914–1919, „Göttinger Jahrbuch“, 41 (1993), S. 137–210, hier S. 173. 12 Ibidem, S.  144. 13 Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München 1915. 14 Aufruf an die evangelischen Christen im Auslande, „Allgemeine Evangelisch-Lutherische ­Kirchenzeitung“, 4. September 1914, S. 843; vgl.: Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie (1870– 1918), München 1971, S. 203; Graf Monts, Politische Aufsätze, Berlin 1916, S. 17. 15 Gerhard Tolzien, Die Tragik in des Kaisers Leben. Eine deutsche Zeit- und Kriegsbetrachtung, Berlin 1915, zitiert nach: Karl Hammer, Deutsche Kriegstheologie …, op. cit., S. 211. 16 Else Hasse, Der große Krieg und die deutsche Seele. Bilder aus dem Innenleben unseres Volkes, München 1917, S. 189. 17 Wie es kam. Gründe und Vorwände zum Kriege. Von einem Deutschen, Berlin, o. J., S. 19–20. 18 Ibidem, S.  21. 19 Ernest Barker, Inspiratorzy wojny Nietzsche i Treitschke (część siły w Niemczech współczesnych), übers. v. W. Kierst, Warszawa 1915. Die Originalausgabe war 1914 unter dem Titel Nietzsche and Treitschke: The Worship of Power in Modern Germany in Oxford erschienen. 20 Antoni Żuk, Prasa i publicystyka broszurowa, in: „Myśl Polska“, 1 (1915), 1, S. 148. 21 Diesen Befund bestätigt Robert Traba anhand der ostpreußischen Kriegsliteratur in: ­Wschodniopruskość. Tożsamość regionalna i narodowa w kulturze politycznej Niemiec, Poznań 2006, S. 252–256 [dt. Ostpreußen, die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur ­regionalen und nationalen Identität, Osnabrück 2010. 22 Bruno Keyser, Das russische Volk, Berlin 1918, S. 3. 23 Wilhelm Feldman, Deutschland, Polen und die russische Gefahr, Berlin 1915, S. 26. 24 Tadeusz Stanisław Grabowski, Rosya jako „opiekunka“ Słowian. Dwa odczyty wypowiedziane w Piotrkowie dn. 16. i 17. maja 1916 r., Kraków 1916, S. 6. 25 Max Riwkeß, Kann Russland den Krieg gewinnen?, Berlin 1917, S. 19.

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Anhang

26 Stanisław Przybyszewski, Von Polens Seele. Ein Versuch, in: ders., Kritische und essayistische Schriften, hg. v. Jörg Marx, Paderborn 1992, S. 251–306, Zitat S. 264. 27 Dmytro Donzow, Die ukrainische Staatsidee und der Krieg gegen Rußland, Berlin 1915, S. 63. 28 Vgl.: Maciej Górny, „Pięć wielkich armii naprzeciw wrogom naszym“. Przyczynek do historii ­rasizmu, in: „Kwartalnik Historyczny“, 118 (2011), 4, S. 681–706. 29 Feliks Koneczny, Dzieje Rosyi, Bd. 1, Warszawa 1917, S. 1. 30 Ibidem, S.  4. 31 Jan Karol Kochanowski, Polska w świetle psychiki własnej i obcej. Rozważania, 2. Aufl., Częstochowa 1925, S. 202. Die erste Auflage erschien 1920. 3 2 Ibidem, S.  208. 33 Ibidem, S.  210. 34 Jan Zamorski, O okrucieństwach hajdamackich. Mowa posła tarnopolskiego, prezesa Związku L.-N. w Małopolsce … na posiedzeniu 66. Sejmu dnia 9 lipca 1919, S. 5. 3 5 Christoph Mick, Kriegserfahrungen in einer multiethnischen Stadt: Lemberg 1914–1947, Wiesbaden 2010, S. 223–226. 36 Aleksander Czołowski in: Teraz będzie Polska. Wybór z pamiętników z okresu I wojny ś­ wiatowej, hg. v. Andrzej Rosner, Warszawa 1988, S. 77–83, hier S. 82. 37 Grzegorz Skrukwa, Formacje wojskowe ukraińskiej „rewolucji narodowej“ 1914–1921, Toruń 2008, S. 534. 38 Stanisław Kawczak, Milknące echa. Wspomnienia z wojny 1914–1920, Warszawa 1991, S. 332. 39 Krvavá kniha, Bd. 1: Dokumenty k polské okupaci v ukrajinském území haličském. Rok 1918 až do prosince 1919, Praha 1920, S. 12. 40 Vladimir Temnitsky, Joseph Burachinsky, Polish Atrocities in Ukrainian Galicia. A Telegraphic Note to M. Georges Clemenceau, President of the Peace Conference, New York 1919, S. 13–14. 41 Maciej Górny, Identity under Scrutiny: First World War in Local Communities, in: Imaginations and Configurations of Polish Society. From the Middle Ages through the Twentieth Century, hg. v. Yvonne Kleinmann, Jürgen Heyde, Dietlind Hüchtker, Dobrochna Kałwa, Joanna Nalewajko-Kulikov, Katrin Steffen, Tomasz Wiślicz, Göttingen 2017. 42 Michael Hruschewskyj, Geschichte der Ukraine, Bd. 1, Lemberg 1916, S. 33 n.; Льoнгiн

Цeгeльcьки, Pycь-Укpaїнa a Mocкoвщинa-Pocciя. Icтoичнo-пoлїтичнa poзвiдкa, 2. Aufl., Цapгopoд 1916, S. 30.

43 Stefan Rudnyćkyj, Ukraina und die Ukrainer, Wien 1914, S. 12–13. 4 Cтeпaн Pyдницкий, Чoмy ми xoчeмo caмocтiйнoїУкpaїни, 2. Aufl., Львiв 1994, S. 47. 4 45 Ibidem, S.  300–307. 46 Christian Promitzer, Die Kette des Seins und die Konstruktion Jugoslawiens, in: Habsburg post­ colonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, hg. v. Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csáky, Innsbruck 2003, S. 294–295. 47 Andrzej Rondomański [Andrius Rondomanskis], Litewska krew, Wilno 1921, S. 14. 48 Alois  v. Paikert, Der turanische Gedanke, „Turán“,1 (1917), 4–5, S. 6–7, 183–190, 291–297, hier S. 185. 49 Ibidem, S.  297. 50 Lajos Sarsi Nagy, A turánizmus, mint nemzeti, faji és világeszme. A győzelem, a jó béke és a szebb jövő alapja, Budapest 1918, S. 5, 10.

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Anmerkungen

5 1 Jan Czekanowski, Beiträge zur Anthropologie von Polen, „Archiv für Anthropologie“, X NF (1911), 2–3, S. 187–193. 5 2 Ders., Anthropologische Beiträge zum Problem der slawisch-finnischen Beziehungen, Helsingfors 1925, S. 12–13. 53 Y[rjö]  K. Suominen, Physical Anthropology in Suomi (Finland), „Journal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland“, 59 (1929), S. 207–230, hier S. 209. 54 Vladimir Dvorniković, Karakterologija Jugoslovena, Beograd 1939, Reprint: Beograd 2000. 55 Stefan Rudnyćkyj, Ukraina und die Ukrainer, op. cit.; eine Bibliografie seiner Schriften der Kriegszeit findet sich in: Пaвлo Штoйкo, Cтeпaн Pyдницкий 1877–1937. Життeпиcнo – бiблioгpaфiчний нapиc, Львiв 1993, S. 159–163. 56 Longin Cehelskyj, Die großen politischen Aufgaben des Krieges im Osten und die ukrainische Frage, Berlin 1915. 57 Die Ukraine und der Krieg. Denkschrift des Bundes zur Befreiung der Ukraine, München 1915. 58 Vgl.: Hugo Hassinger, Zur Landeskunde Osteuropas. Rudnyćkyjs Werk über die Ukraina, „Zeitschrift der Gesellschaft für Erdkunde zu Berlin“ 1918, S. 246–251; Max Friederichsen, Rez. zu: Stepan Rudnyćkyj, Ukraina. Land und Volk, „Dr. A. Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes’ Geographischer Anstalt“, 63 (1917), 10, S. 314–315. 59 Ukraina, hg. v. Heinrich Lenz, Berlin 1918, S. 22. 60 Stanislaus v. Smolka, Die reussische Welt. Historisch-politische Studien. Vergangenheit und ­Gegenwart, Wien 1916, Anm. auf S. 192. 61 Stephan Rudnyćkyj, Ukraina. Land und Volk. Eine gemeinfassliche Landeskunde, Wien 1916, S. 5. 62 Ibidem, S. 94, 108. 63 Vgl.: Guido Hausmann, Das Territorium der Ukraine: Stepan Rudnyckyjs Beitrag zur Geschichte räumlich-territorialen Denkens über die Ukraine, in: Die Ukraine. Prozesse der Nationsbildung, hg. v. Andreas Kappeler, Köln/Weimar/Wien 2011, S. 145–158, hier S. 150. 64 Stephan Rudnyćkyj, Ukraina. Land und Volk. Eine gemeinfassliche Landeskunde, op. cit., S. 10. 65 Guido Hausmann, Das Territorium der Ukraine …, op. cit., S. 149. 66 Eugeniusz Romer, Poland: The Land and the State, „Geographical Review“, 4 (1917), 1, S. 6–25. 67 Stanisław Marian Brzozowski, Eugeniusz Mikołaj Romer, PSB XXXI, S. 635–645, hier S. 639. 68 Max Friederichsen, rez.: Eugenius v. Romer, Geographisch-statistischer Atlas von Polen, „Geographische Zeitschrift“, 24 (1918), 5–6, S. 190–191. 69 Hugo Hassinger, Neue Methoden der Darstellung der Volksdichte auf Karten, „Kartographische und schulgeographische Zeitschrift“, VI (1917), 3–4, S. 62–64. 70 Guntram Henrik Herb, Under the Map of Germany: Nationalism and Propaganda 1918–1945, London/New York 1997, S. 21. 71 Eugène de Romer, Atlas de la Pologne (geographie et statistique), Léopol/Varsovie 1921. 72 Eugeniusz Romer, Stanisław Zakrzewski, Stanisław Pawłowski, W obronie Galicji Wschod­ niej, Lwów 1919, S. 11. 73 Simion Mehedinţi, Die geopolitische Lage Rumäniens, Bukarest 1941, S. 13. 74 Karel Domin, Odlišnost květeny, in: Viktor Dvorský, Území českého národa, Praha 1918, S. 19– 24, hier S. 19. 75 Ljubinka Trgovčević, Nauka o granicama: Jovan Cvijić na konferenciji mira u Parizu 1919– 1920, in: Zbornik Janka Pleterskega, hg. Oto Luther, Jurij Perovšek, Ljubljana 2003, S. 314.

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Anhang

6 Antonia Bernard, Le Monde Slave, première revue française consacrée aux pays slaves, „Revue 7 des Études slaves“, LXXIV (2002–2003), 2–3, S. 397–409. 77 Jovan Cvijić, Remarks on the Ethnography of the Macedonian Slavs, London 1906, S. 3. 78 Ibidem, S. 187. Kapitel 3: Die Konferenz von Paris und der Vertrag von Versailles 1 Dieses Kapitel verdankt sich wesentlich Margaret MacMillans meisterlicher Monografie Die Friedensmacher. Wie der Versailler Vertrag die Welt veränderte, aus dem Amerikanischen von Klaus-Dieter Schmidt, Berlin 2015. 2 Władysław Konopczyński, Dziennik 1918–1921, Bd. 1, hg. v. Piotr Biliński, Paweł Plichta, Warszawa/Kraków 2016, S. 306. 3 Marek Arpad Kowalski, Dyskurs kolonialny w Drugiej Rzeczypospolitej, Warszawa 2010. 4 Stanisław Pawłowski, Domagajmy się kolonii zamorskich dla Polski, Warszawa 1936, S. 9–10. 5 Zitiert nach: Marek Arpad Kowalski, Dyskurs kolonialny …, op. cit., S. 76. 6 Zitiert nach: Charles Seymour, Letters from the Paris Peace Conference, hg. v. Harold B. ­Whiteman Jr., New Haven/London 1965, S. 25. 7 Ibidem, S. 29 f., 176, 227, 156. 8 Brief von Johnson an Davis vom 13. Oktober 1919, zitiert nach: Nicolas Ginsburger, „La guerre, la plus terrible des érosions“. Cultures de guerre et géographes universitaires Allemagne–France–Etats-Unis (1914–1921), Dissertation, Université Paris Ouest Nanterre-La Défense, 2010, S. 844. 9 Zitiert nach: Polskie Dokumenty Dyplomatyczne 1919 styczeń–maj, hg. v. Sławomir Dębski, Warszawa 2016, Dok. 166, S. 377. 10 Eugeniusz Romer, Pamiętnik paryski (1918–1919), hg. v. Andrzej Garlicki, Ryszard Świętek, Wrocław 1989, S. 107. 11 Zitiert nach: Gilles Palsky, Emmanuel de Martonne and the Ethnographical Cartography of Central Europe (1917–1920), in: „Imago Mundi“, 54 (2002), S. 111–119, hier S. 113. 12 Jagiellonen-Bibliothek, Handschriften, Eugeniusz Romer, Sign. k. 24, Brief an Romer vom 30. April 1919. 13 Jan Czekanowski, Wschodnie zagadnienia graniczne Polski i stosunki etniczno-społeczne, Lwów 1921, S. 104. 14 Amy Ng, A Portrait of Sir Lewis Namier as a Young Socialist, in: „Journal of Contemporary History“, 40 (2005), 4, S. 621–636, hier S. 634. 15 Romer, Pamiętnik paryski …, op. cit., S. 227. 16 Józef Wąsowicz, Niemiecka analiza mapy Spetta, in: „Polski Przegląd Kartograficzny“, VI (1933–1934), 44, S. 108–121. 17 Ulrike Jureit, Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhun­ dert, Hamburg 2012, S. 202. 18 Benjamin Conrad, Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Staats­ grenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918–1923, Stuttgart 2014, S. 133. 19 AGS, Directors’ Files, Isaiah Bowman, Sign. AGSNY_B185_F008_002.05, Brief vom 1. Juni 1934. 20 AGS, Directors’ Files, Isaiah Bowman, Sign. AGSNY_B185_F008_002.06, Brief vom 11. Juni 1934.

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Anmerkungen

2 1 Peter Haslinger, Nation und Territorium im tschechischen politischen Diskurs 1880–1938, ­München 2010. Der Band enthält Reproduktionen von Landkarten, die das tschechische Territorialprogramm illustrieren. 22 Bálint, Varga, The Monumental Nation. Magyar Nationalism and Symbolic Politics in Fin-desiėcle Hungary, New York/Oxford 2016, S. 96–99. 23 Stanislav Holubec, „We Bring Order, Discipline, Western European Democracy, and Culture to This Land of Former Oriental Chaos and Disorder.“ Czech Perceptions of Sub-Carpathian Rus and Its Modernization in the 1920s, in: Mastery and Lost Illusions. Space and Time in the Modernization of Eastern and Central Europe, hg. v. Włodzimierz Borodziej, Jochen Böhler, Joachim von Puttkamer, München 2014, S. 223–250. 24 Maciej Górny, Kreślarze ojczyzn. Geografowie i granice międzywojennej Europy, Warszawa 2017, S. 114–206. 25 Romer, Pamiętnik paryski …, op. cit., S. 216. 26 Balázs Trencsényi, Maciej Janowski, Mónika Baár, Maria Falina, Michal Kopeček, A History of Modern Political Thought in East Central Europe, Bd. 1: Negotiating Modernity in the ‚Long ­Nineteenth Century‘, Oxford 2016, S. 509–510. 27 Richard  C. Hall, War in the Balkans, in: 1914–1918-online. International Encyclopedia of the First World War, hg. v. Ute Daniel, Peter Gatrell, Oliver Janz, Heather Jones, Jennifer Keene, Alan Kramer, Bill Nasson, Freie Universität Berlin, Berlin 2014, DOI: 10.15463/ie1418.10163 (Zugriff: 29. Mai 2017). 28 Eleftherios Wenizelos, The Program of His Foreign Policy, bearb. v. Vangelis Kechriotis, übers. v. Mary Kitroeff, in: Modernism: The Creation of Nation-States, hg. v. Ahmet Ersoy, Maciej Górny, Vangelis Kechriotis, Budapest/New York 2010, S. 258–266, hier S. 266. 29 Jeffrey Eugenides, Middlesex, aus dem Amerikanischen von Eike Schönfeld, Reinbek bei Hamburg 2003, S. 55. 30 Siehe: Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im modernen Europa, Göttingen 2011, S. 96–106. 31 Charles Seymour, Letters …, op. cit., S. 220. 3 2 Polskie Dokumenty Dyplomatyczne …, op. cit., Dok. 271, S. 625. 33 Vgl. dazu den noch immer lesenswerten Band: Revolutions and Interventions in Hungary and its Neighbor States, 1918–1919, hg. v. Peter Pastor, New York 1988, hier S. 277–293, 321–356, dieses und die folgenden Zitate: S. 284–287, 345, 324, 326 f. 34 Zitiert nach: Pavla Horáková, Jiří Kamen, Přišel befel od císaře pána: Polní pošta – příběhy Čechů za první světové války, Praha 2015, S. 243. 3 5 Margaret MacMillan, Die Friedensmacher, Berlin 2015, S. 324. 36 Polskie Dokumenty Dyplomatyczne …, op. cit., Dok. 271, S. 625. 37 Zitiert nach: Jan Kuklík, Československá delegace na pařřížské mírové konferenci ve světle ­me­moárů profesora Jana Krčmáře, in: Zrod nové Evropy. Versailles, St.-Germanin, Trianon a d ­ ot­­váření poválečného mírového systému, hg. v. Jindřich Dejmek, Praha 2011, S. 125–137, hier S. 131. 38 Margaret MacMillan, Die Friedensmacher, hier: S. 235. MacMillan beschreibt in ihrem Buch zahlreiche ähnliche Situationen. 39 Zitiert nach: Seymour, Letters …, op. cit., S. 268. 40 Christian Axboe Nielsen, Making Yugoslavs. Identity in King Aleksandar’s Yugoslavia, Toronto 2014, S. 24–25.

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Anhang

1 „Die klangliche Ähnlichkeit der Namen M. S. Wewnętrznych [Ministerium für Innere Ange4 legenheiten] und M. S. Zewnętrznych [Ministerium für Äußere Angelegenheiten] führt zu zahlreichen Verwechslungen, zumal im telefonischen Kontakt, die nicht nur die Telefonisten Zeit kosten, sondern auch die Beamten der betroffenen Ministerien von der Arbeit ablenken. Auch in den Referaten kommt es zu Irrtümern im Diktat.“ Uzasadnienie uchwały Rady Ministrów z 27. 01. 1919, in: Polskie Dokumenty Dyplomatyczne …, op. cit., Annex, S. 901. 42 Roman Dmowski, Polityka polska i odbudowanie państwa, Bd. 2, hg. v. Tomasz Wituch, Warszawa 1988, S. 132. 43 20 września 1920 roku, Raport Szymona Askenazego z Paryża, in: Raporty i informacje Biura Propagandy Zagranicznej Prezydium Rady Ministrów 1920–1921, hg. v. Marek Jabłonowski, ­Włodzimierz Janowski, Adam Koseski, Warszawa/Pułtusk 2002, S. 77–82, Zitat S. 80. 44 Ibidem, S.  80–81. 45 K[azimierz] Sm[ogorzewski], Pan Aszkenazy w Paryżu, Gazeta Warszawska, 3. September 1920. 46 Roman Dmowski, Polityka polska …, op. cit., S. 132. 47 Ibidem, S.  125. 48 Ibidem, S.  127. 49 Ibidem, S.  129. 50 Konstanty Ildefons Gałczyński, Zielona Gęś. Najmniejszy teatr świata, Warszawa 2015. 5 1 Roman Dmowski, Polityka polska …, op. cit., S. 152. Schluss: Gewinner und Verlierer 1 Joseph Bankiewicz, Bohdan Domosławski, Zniszczenia i szkody wojenne, Warszawa 1936; siehe auch: dies., Dévastations, in: La Pologne, Sa vie économique et socjale pendant le guerre. ­Histoire économique et sociale de la guerre mondiale (serie polonaise), hg. v. Marceli Handelsman, Paris/ Warszawa 1933, S. 125–180. 2 Hippolyte Gliwic, Industrie et commerce, in: La Pologne …, op. cit., S. 181–376. 3 Ibidem, S. 352–353. 4 Stanislav Kohn, The Cost of the War to Russia. The Vital Statistics of European Russia during the World War 1914–1917, New Haven 1932, S. 95. 5 Ibidem, S. 118. 6 Robert Blobaum, A Minor Apocalypse. Warsaw during the First World War, Ithaca/London 2017. 7 Jerzy Kochanowski, Sporne porty, in: „Polityka“, 38 (2875), 19. September 2012, S. 62–65. 8 Jaan Valge, Breaking away from Russia: Economic Stabilization in Estonia 1918–1924, Stockholm 2006, S. 103. 9 Ibidem, S. 105–106. 10 Vesa Vasara, Die deutschbaltische Minderheit in Estland in der Zwischenkriegszeit: Wirtschaft und Finanzen, in: „Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung“, 44 (1995), 4, S. 578–589, hier S. 581. 11 David Feest, Spaces of ‘National Indifference’ in Biographical Research on Citizens of the Baltic Republics 1918–1940, „Journal of Baltic Studies“, 48 (2017), 1, S. 55–66. 12 Robert  W. Seton-Watson, Introduction. Czechoslovakia and the Slovak Problem, in: Slovakia Then and Now. A Political Survey, hg. v. Robert W. Seton-Watson, London 1930, S. 5–63, hier S. 63.

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Anmerkungen

1 3 Ibidem. 14 Natali Stegmann, Kriegsdeutungen, Staatsgründungen, Sozialpolitik. Der Helden- und Opfer­ diskurs in der Tschechoslowakei 1918–1948, München 2010, S. 47. 15 Bálint Varga, The Monumental Nation. Magyar Nationalism and Symbolic Politics in Fin-desiècle Hungary, New York/Oxford 2016, S. 220–240. 16 Deutsche Warschauer Zeitung, 9. Oktober 1915. 17 Maria Walewska, Rok 1918. Wspomnienia, hg. v. Elżbieta Słodkowska, Warszawa 1998, S. 76– 85. 18 P[jotr] Milyukov, The World War and Slavonic Policy, in: „The Slavonic Review“, 6 (1927), 17, S. 268–290, hier S. 273. 19 Dragovan Šepić, The Question of Yugoslav Union in 1918, in: „Journal of Contemporary ­History“, 3 (1968), 4, S. 29–43. 20 Srdja Pavlović, The Podgorica Assembly in 1918: Notes on the Yugoslav Historiography (1919– 1970) about the Unification of Montenegro and Serbia, in: „Canadian Slavonic Papers“, XLI (1999), 2, S. 157–176. 21 Stjepan Radić, Speech at the Night Assembly of the National Council on 24 November, 1918, hg. v. Stevo Djurašković, in: Discourses of Collective Identity, Bd. 3/1, S. 151–160, Zitat S. 156. 22 John Paul Newman, Yugoslavia in the Shadow of War. Veterans and the Limits of State Building, 1903–1945, Cambridge 2015, S. 138–143. 23 Henryk Wereszycki, „Życzymy ci, towarzyszu Limanowski, wolnej Warszawy“, in: ders., Niewy­ gasła przeszłość. Refleksje i polemiki, hg. v. Wacław Felczak, Kraków 1987, S. 234–246, Zitat S. 234– 235. 24 Marcin Filipowicz, Jakiego wyboru dokonać? Projekty czeskich wzorców męskości w literaturze wojennej po 1918 roku, in: Procesy autoidentyfikacji na obszarze kultur środkowoeuropejskich po ­roku 1918, hg. v. Joanna Goszczyńska, Warszawa 2008, S. 93–115. 25 John Paul Newman, Yugoslavia in the Shadow of War …, op. cit., S. 203–204. 26 Karol Koźmiński, Kamienie na szaniec, Warszawa 1937, S. 5, zitiert nach: Anna Maria Krajewska, Trzy legendy. Walka o niepodległość i granice w polskiej międzywojennej literaturze młodzieżowej, Warszawa 2009, S. 74. 27 Emil A. Longen (1928), zitiert nach: Radko Pytlík, Kniha o Švejkovi, Praha 1983, S. 25. 28 Siergiej Nikolski, O czym nie zdążył napisać Hašek, in: „Pamiętnik Słowiański“, 33 (1983), S. 201. 29 Zitiert nach: Radko Pytlík, Kniha o Švejkovi, op. cit., S. 315. 30 Liisi Esse, „The Forgotten Soldiers? The Fate of Estonian WWI Veterans during the Interwar Period“, Besprechung der Dissertation „Eesti sõdurid Esimeses maailmasõjas: sõjakogemus ja selle sõjajärgne tähendus“, Tartu 2016, vorgetragen auf der 8. Jahrestagung des Estnischen ­Militärmuseums, Tallinn/Tartu, 25–26. April 2017. 31 Ibidem. 3 2 Julia Eichenberg, Kämpfen für Frieden und Fürsorge. Polnische Veteranen des Ersten Weltkriegs und ihre internationalen Kontakte, 1918–1939, München 2011, S. 141–146. 33 Ibidem, S.  134. 34 Eadem, Söldner der Besatzer oder Helden des Unabhängigkeitskampfes? Die Debatte um die ­polnischen Veteranen des Ersten Weltkrieges, in: Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte. Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, hg. v. Natali Stegmann, Praha 2009, S. 147–168.

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Anhang

3 5 Natali Stegmann, Kriegsdeutungen …, op. cit., S. 141–145. 3 6 Nový život, 10 (1926), 37, S. 1, zitiert nach: ibidem, S. 123. 37 Verena Pawlowsky, Harald Wendelin, Kriegsopfer und Sozialstaat. Österreich nach dem ­Ersten Weltkrieg, in: Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte …, op. cit., S. 127–146. 38 Für Ostmitteleuropa existiert noch keine mit Wolfgang Schivelbuschs Monografie Die ­Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918 (Frankfurt am Main 2003) vergleichbare Darstellung der mythen- und kulturstiftenden Rolle der „Kultur der Niederlage“. 39 John Paul Newman, Yugoslavia in the Shadow of War …, op. cit., S. 145–165. 40 Ibidem, S.  192. 41 Maciej Czerwiński, Chorwacki bóg Mars i serbska Golgota, in: „Herito“, 3 (2014), S. 58–67. 42 Miroslav Krleža, Bankiet w Blitwie, übers. v. Maria Krukowska, Bd. 1–2, Warszawa 1968, S. 7–10. A.d.Ü.: In der deutschsprachigen Ausgabe des Buches (Bankett in Blitwien, aus dem Serbokroatischen von Božena Begović und Reinhard Federmann, Graz 1963) fehlt der Prolog, aus dem die hier zitierte Passage stammt. 43 Polskie Dokumenty Dyplomatyczne 1919 styczeń–maj, red. Sławomir Dębski, Warszawa 2016, Dok. 166, S. 396. 44 Benjamin Conrad, Roman Dmowski a kwestia granic Polski w 1919 roku, in: „Polski Przegląd Dyplomatyczny“, 1 (68), 2017, S. 126–134, Zitat S. 133. Szczereks Landkarte erschien in: Ziemowit Szczerek, Międzymorze. Podróże przez prawdziwą i wyobrażoną Europę Środkową, Warszawa 2017. 45 Dieses und die folgenden Zitate nach: Polskie Dokumenty Dyplomatyczne …, op. cit., S. 375, 384 f., 380 f., 390, 393 f.

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Verzeichnis der benutzten Literatur Zitierte Publikationen Presse und Periodika „Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung“, ausgewählte Nummern ,,Deutsche Warschauer Zeitung“, ausgewählte Nummern „Die Zeit“, ausgewählte Nummern „Gazeta Polska“, ausgewählte Nummern „Gazeta Warszawska“, ausgewählte Nummern „Helsingin Sanomat“, ausgewählte Nummern „Hufvudstadsbladet“,ausgewählte Nummern ,,Ilustrowany Kuryer Codzienny“ „Kurjer Lwowski“, ausgewählte Nummern Sprawozdania Stenograficzne Sejmu Ustawodawczego „Uusi Suometar“, ausgewählte Nummern Archivquellen Archiwum Akt Nowych Biuro Sejmu RP 1919–1939 Kancelaria Cywilna Naczelnika Państwa Zespół 3 Kancelaria Cywilna Naczelnika Państwa Zespół 463 Ambasada RP w Paryżu American Geographical Society of New York Records Directors’ Files, Isaiah Bowman Biblioteka Jagiellońska, rękopisy Eugeniusz Romer Biblioteka Uniwersytecka w Warszawie, Dział Rękopisów Materiały Stanisława Stempowskiego Tagebücher, Erinnerungen, Reportagen, Publizistik, Quellenausgaben Friedrich Adler vor dem Ausnahmegericht: die Verhandlungen vor dem §-14-Gericht am 18. und 19. Mai 1917 nach dem stenographischen Protokoll, Berlin 1919 Tadeusz Alf-Tarczyński, Wspomnienia oficera Pierwszej Brygady, Londyn 1979 Antywojennyje wystuplenija na russkom frontje w 1917 godu glazami sowrje- miennikow (wospominanija, dokumenty, kommentarii), hg. v. S. N. Bazanow, Moskwa 2010 Isaak Babel, Tagebuch 1920, aus dem Russischen von Peter Urban, Berlin 1990 Isaak Babel, Budjonnys Reiterarmee und anderes. Das erzählende Werk, aus dem Russischen von Dimitrij Umanskij u. Heddy Pross-Weerth, Olten/Freiburg i. Br. 1960 Jerzy Bandrowski, Biały lew, Kijów 1917 Ernest Barker, Nietzsche and Treitschke: The Worship of Power in Modern Germany in Oxford 1914 Edvard Beneš, Odkaz Zborova, in: Zborov 1917–1937. Památník k dvacátému výročí bitvy u Zborova 2. Července 1917, Praha 1937, S. 13–14

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Anhang

Henri Bergson, The Meaning of the War. Life & Matter in Conflict, London 1915 Émile Boutroux, Germany & the War, übers. v. Fred Rothwell, London 1915 Stanisław Burnagel, Wspomnienia wojenne intendenta dywizji, Warszawa 1934 Karel Čapek, Hovory s T.G. Masarykem, Bd. I–III, Praha 1928–1935, dt. Gespräche mit Masaryk, aus dem Tschechischen von Camill Hoffmann und Eckhard Thiele, Stuttgart/Munchen 2001 Lonhin Cehelskyj, Rus-Ukrajina a Moskowschtschyna-Rossija. Istoritschno-politytschna rozwidka, 2. Aufl., Carhorod 1916 Longin Cehelskyj, Die großen politischen Aufgaben des Krieges im Osten und die ukrainische Frage, Berlin 1915 František Černý, Moje záznamy ze světové války 1914–1918, Praha 2014 Československo na pařížské mírové konferenci 1918–1920, Bd. 1: (listopad 1918–červen 1919), hg. v. Jindřich Dejmek, František Kolář, Martin Nechvázal, Helena Nováčková, Ivan Šťoviček, Praha 2001 Jovan Cvijić, Remarks on the Ethnography of the Macedonian Slavs, London 1906 Jan Czekanowski, Anthropologische Beiträge zum Problem der slawisch-finni- schen Beziehungen, Helsingfors 1925 Jan Czekanowski, Beiträge zur Anthropologie von Polen, „Archiv für Anthropologie“, X Nf (1911), 2–3, S. 187–193 Jan Czekanowski, Wschodnie zagadnienia graniczne Polski i stosunki etnicz- no-społeczne, Lwów 1921 Jan Dąbrowski, Wielka wojna 1914–1918 na podstawie najnowszych źródeł, Bd. 2, Warszawa 1937 Marjan Dąbrowski, Z cyklu: Żołnierze 1 Brygady. Kampanja na Wołyniu (2 IX 1915–8 X 1916 r.), Warszawa 1919 Roman Dmowski, Polityka polska i odbudowanie państwa, Bd. 2, hg. v. Tomasz Wituch, Warszawa 1988 Karel Domin, Odlišnost květeny, in: Viktor Dvorský, Území českého národa, Praha 1918, S. 19–24 Dmytro Donzow, Die ukrainische Staatsidee und der Krieg gegen Rußland, Berlin 1915 Émile Durkheim, «L’Allemagne au-dessous de tout». La mentalité allemande et la guerre, Paris 1916, dt. „Deutschland über alles“: Die deutsche Gesinnung und der Krieg. Deutsch von Jacques Hatt. Lausanne 1915 Vladimir Dvorniković, Karakterologija Jugoslovena, Beograd 1939, reprint: Beograd 2000 Dwa bratanki. Dokumenty i materiały do stosunków polsko-węgierskich 1918–1920, wybór i hg. v. Endre László Varga, Warszawa 2016 Dziennik Juliusza Zdanowskiego, Bd. 2: 15 X 1918–23 VI 1919, hg. v. Janusz Faryś, Tomasz Sikorski, Henryka Walczak, Adam Wątor, Szczecin 2014 Stanisław Dzierzbicki, Pamiętnik z lat wojny 1915–1918, hg. v. Janusz Pajew- ski, Danuta Płygawko, Warszawa 1983 Jeffrey Eugenides, Middlesex, Reinbek bei Hamburg 2003 Wilhelm Feldman, Deutschland, Polen und die russische Gefahr, Berlin 1915 Camille Flammarion, La mentalité allemande dans l’histoire, Paris 1915 Max Friederichsen, rec. z: Eugenius v. Romer, Geographisch-statistischer Atlas von Polen, „Geographische Zeitschrift“, 24 (1918), 5–6, S. 190–191 Max Friederichsen, rec. z: Stepan Rudnyćkyj, Ukraina. Land und Volk, „Dr. A Petermanns Mitteilungen aus Justus Perthes’Geographischer Anstalt“, 63 (1917), 10, S. 314–315 Jan Fudakowski, Ułańskie wspomnienia z roku 1920, hg. v. Bohdan Króli- kowski, Lublin 2005

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Verzeichnis der benutzten Literatur

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Anhang

Jerzy Konrad Maciejewski, Zawadiaka. Dzienniki frontowe 1914–1920, Warszawa 2015 Carl Gustaf Emil Mannerheim, Kirjeitä seitsemän vuosikymmenen ajalta, wyb. Stig Jägerskiöld, Helsinki 1983 Tomáš Garrigue Masaryk, Světová revoluce. Za války a ve válce 1914–1918, Praha 1925 Tomáš Garrigue Masaryk, Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 1914–1918, Berlin 1925 Simion Mehedinţi, Die geopolitische Lage Rumäniens, Bukarest 1941 P[awieł] Milyukov, The World War and Slavonic Policy, „The Slavonic Re- view“, 6 (1927), 17, S. 268–290 Graf Monts, Politische Aufsätze, Berlin 1916 Jędrzej Moraczewski, Przewrót w Polsce, hg. v. Tomasz Nałęcz, Warszawa 2015 J.H. Morgan, German Atrocities: An Official Investigation, London 1917 Rudolf Neck, Arbeiterschaft und Staat im Ersten Weltkrieg 1914–1918 (A. Quellen), Bd. 1: Der Staat (2. vom Juni 1917 bis zum Ende der Donaumonarchie im November 1918), Wien 1968 Igor Newerly, Zostało z uczty Bogów, Paryż 1986 Kazimierz Nowina-Konopka, Wspomnienia wojenne 1925–1920, Kraków 2011 O niepodległą i granice, Bd. 1: Komunikaty Oddziału III Naczelnego Dowództwa Wojska Polskiego 1919–1921, hg. v. Marek Jabłonowski, Adam Koseski; Bd. 2:Raporty i komunikaty naczelnych władz wojskowych o sytuacji wewnętrznej Polski 1919–1921, hg. v. Marek Jabłonowski, Piotr Stawecki, Tadeusz Wawrzyński; Bd. 3:Raporty i informacje Biura Propagandy Zagranicznej Prezydium Rady Ministrów 1920–1921, opac. Marek Jabłonowski, Włodzimierz Janowski, Adam Koseski; Bd. 7:Raporty Straży Kresowej 1919–1920. Ziem Północno-Wschodnich opisanie, hg. v. Joanna Gierowska-Kałłaur, Warszawa–Pułtusk 1999–2011 Józef Obrębski, Polesie, hg. v. Anna Engelking, Warszawa 2007 Od Zborovak Bachmači. Památníko budování československého vojska pod vedením T.G. Masaryka, hg. v. Josef Kopta, František Langer, Rudolf Medek, Praha 1938 Ivan Olbracht, Mikoła Szuhaj, zbójnik, Warszawa 1949, dt. Der Räuber Nikola Schuhaj, aus dem Tschechischen von Erhard Bittner, Reinbek bei Hamburg 1989 Alois v. Paikert, Der turanische Gedanke, „Turán“, I (1917), 4–5, S. 183–190; 6–7, S. 291–297 Jaroslav Papoušek, Zborov – ústřední bod naší revoluce, in: Zborov 1917–1937. Památník k dvacátému výročí bitvy u Zborova 2. Července 1917, Praha 1937, S. 65–73 Milada Paulová, Jugoslavenski Odbor (povijest jugoslavenske emigracije ze svetskog rata od 1914.– 1918.), Zagreb 1924 Ferdynand Pawłowski, Wspomnienia legionowe, Kraków 1994 Stanisław Pawłowski, Domagajmy się kolonii zamorskich dla Polski, Warszawa 1936 Amelia Peabody Tileston, Amelia Peabody Tileston and Her Canteens for the Serbs, Boston 1920 Arnold Penther, Bericht über die 1916 im Auftrage und auf Kosten der Kaiserl. Akademie der Wissenschaften in Wien ausgeführte zoologische Forschungsreise in Serbien und Montenegro, Wien 1916 František Stanislav Petr, Pod rakouskou orlicí a českým lvem, Praha 2015 Józef Piłsudski, Pisma zbiorowe, Bd. 7: Rok 1920, Warszawa 1937 Polski wir I wojny, hg. v. Agnieszka Dębska, Warszawa 2014 Polskie Dokumenty Dyplomatyczne 1919 styczeń–maj, hg. v. Sławomir Dębski, Warszawa 2016 Christian Promitzer, Die Kette des Seins und die Konstruktion Jugoslawiens, in: Habsburg postcolonial. Machtstrukturen und kollektives Gedächtnis, hg. v. Johannes Feichtinger, Ursula Prutsch, Moritz Csáky, Innsbruck 2003, S. 294-295

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Verzeichnis der benutzten Literatur

Cwi Pryłucki, Wspomnienia (1905–1939), hg. v. Joanna Nalewajko-Kulikov, Warszawa 2015 Stanisław Przybyszewski, Szlakiem duszy polskiej,wyd. 2, Poznań 1920 Alois Rašín, Financial Policy of Czechoslovakia During the First Year of Its History, Oxford 1923 Maciej Rataj, Pamiętniki 1918–1927, Warszawa 1965 Max Riwkeß, Kann Russland den Krieg gewinnen?, Berlin 1917 Eugène de Romer, Atlas de la Pologne (geographie et statistique), Léopol–Varsovie 1921 Eugeniusz Romer, Pamiętnik paryski (1918–1919), hg. v. Andrzej Garlicki, Ryszard Świętek, Wrocław 1989 Eugeniusz Romer, Poland: The Land and the State, „Geographical Review“, 4 (1917), 1, S. 6–25 Eugeniusz Romer, Stanisław Zakrzewski, Stanisław Pawłowski, W obronie Galicji Wschodniej, Lwów 1919 Andrzej Rondomański [Andrius Rondomanskis], Litewska krew, Wilno 1921 Karol Rose, Wspomnienia berlińskie, Warszawa 1932 Stepan Rudnyc’kyj, Tschomu my chotschemo samostijnoji Ukrainy, wyd. 2, Lwiw 1994 Stephan Rudnyćkyj, Ukraina. Land und Volk. Eine gemeinfassliche Landeskunde, Wien 1916 Stefan Rudnyćkyj, Ukraina und die Ukrainer, Wien 1914 Lajos Sarsi Nagy, A turánizmus, mint nemzeti, faji és világeszme. A győzelem, a jó béke és a szebb jövő alapja, Budapest 1918 Max Schönowsky-Schönwies, August Angenetter, Luck. Der russische Durchbruch im Juni 1916, Wien–Leipzg 1919 Robert W. Seton-Watson, Introduction. Czechoslovakia and the Slovak Problem, in: Slovakia Then and Now. A Political Survey, hg. v. Robert W. Seton-Watson, London 1930, S. 5–63 Charles Seymour, Letters from the Paris Peace Conference, hg. v. Harold B. Whiteman Jr., New Haven–London 1965 Isaac Bashevis Singer, Miłość i wygnanie. Wczesne lata – wspomnienia, Wrocław 1991 Stanislaus v. Smolka, Die reussische Welt. Historisch-politische Studien. Vergangenheit und Gegenwart, Wien 1916 Werner Sombart, Händler und Helden. Patriotische Besinnungen, München 1915 František Soukup, 28. Říjen. Předpoklady a vývoj našeho odboje domácího v československé resoluci za statní samostatnost národa, Praha 1928 Społeczeństwo polskie w świetle raportów politycznych austro-węgierskiego Generalnego Gubernatorstwa Wojskowego w Polsce 1915–1918. Wybórźródeł, hg. v. Jerzy Gaul, Alicja Nowak, Warszawa 2014 André Suarès, Nous et eux, Paris 1915 Y[rjö] K. Suominen, Physical Anthropology in Suomi (Finland), „Jornal of the Royal Anthropological Institute of Great Britain and Ireland“, 59 (1929), S. 207–230 Pawło Sztojko, Stepan ’Rudnyc’kyj 1877–1937. Żyttepysno – bibłiohraficznyj narys, Lwiw 1993 Vladimir Temnitsky, Joseph Burachinsky, Polish Atrocities in Ukrainian Ga- licia. A Telegraphic Note to M. Georges Clemenceau, President of the Peace Conference, New York 1919 Teraz będzie Polska. Wybór z pamiętników z okresu I wojny światowej, hg. v. Andrzej Rosner, Warszawa 1988 Alexander von Tobien, Die livländische Ritterschaft in ihrem Verhältnis zum Zarismus und russischen Nationalismus, Bd.2, Berlin 1930 Towards an Intellectual History of Ukraine: An Anthology of Ukrainian Tho- ught from 1710 to 1995, hg. v. Ralph Lindheim, George S.N. Luckyj, Toronto 1996

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Anhang

Lew Trocki, Moje życie. Próba autobiografji, übers. v. Jan Barski, Stanisław Łukomski, Warszawa 1930 Ukraina, hg. v. Heinrich Lenz, Berlin 1918 Ukraine and Poland in Documents, 1918–1922, Bd.1, hg. v. Taras Hunczak, New York–Paris–Sydney–Toronto 1983 Die Ukraine und der Krieg. Denkschrift des Bundes zur Befreiung der Ukraine, München 1915 Das Verhalten der Tschechen im Weltkrieg. Die Anfrage der Abg. Dr. Schürff, Goll, Hartl, Knirsch, Dr. von Langenhahn und K.H. Wolf im österreichischen Abgeordnetenhause, Wien 1918 Karel Voženílek, bez tytułu, in: Zborov 1917–1937. Památník k dvacátému výročí bitvy u Zborova 2. Července 1917, Praha 1937, S. 36–39 Maria Walewska, Rok 1918. Wspomnienia, hg. v. Elżbieta Słodkowska, Warszawa 1998 Weg von Österreich! Das Weltkriegsexil von Masaryk und Beneš im Spiegel ihrer Briefe und Aufzeichnungen aus den Jahren 1914 bis 1918. Eine Quellensammlung, hg. v. Frank Hadler, Berlin 1995 Henryk Wereszycki, Niewygasła przeszłość. Refleksje i polemiki, hg. v. Wacław Felczak, Kraków 1987 Widens’kyj ilustrowanyj kałendar ukrajins’kych emihrantiw na prestupnyj rik 1916, Wien 1916 Wie es kam. Gründe und Vorwände zum Kriege. Von einem Deutschen, Berlin (o.J.) Wincenty Witos, Moje wspomnienia, Bd.2, Paryż 1964 J. Wojewódzki [Ludwik Krzywicki], Kartki z dziejów spekulacji, Warszawa 1918 August Zaleski, Wspomnienia, hg. v., wstępem i przypisami opatrzyli Krzysztof Kania, Krzysztof Kloc, Przemysław Marcin Żukowski, Warszawa 2017 Jan Zamorski, O okrucieństwach hajdamackich. Mowa posła tarnopolskiego, prezesa Związku L.-N. w Małopolsce… na posiedzeniu 66.Sejmu dnia 9 lipca 1919 Antoni Żuk, Prasa i publicystyka broszurowa, „Myśl Polska“, I (1915), 1 Forschungsliteratur Judit Acsády, In a Different Voice: Responses of Hungarian Feminism to the First World War, in: The Women’s Movement in Wartime. International Perspectives, 1914–19, hg. v. Alison S. Fell, Ingrid Sharp, Houndmills, Basingstoke 2007, S. 105–123 Anders Ahlbäck, Masculinities and the Ideal Warrior: Images of the Jäger Movement, in: The Finnish Civil War 1918: History, Memory, Legacy, hg. v. Tuomas Tepora, Aapo Roselius, Leiden–Boston 2014, S. 254–293 Gerhard Ahlbrecht, Preußenbäume und Bagdadbahn. Deutschland im Blick der französischen Geo-Disziplinen (1821–2004), Passau 2006 Karl Otmar Freiherr von Aretin, Tausch, Teilung und Länderschacher als Folgen des Gleichgewichtssystems der europäischen Großmächte. Die Polnischen Teilungen als europäisches Schicksal, Polen und die polnische Frage in der Geschichte der Hohenzollernmonarchie 1701–1871, hg. v. Klaus Zernack, Berlin 1981 Robert B. Asprey, War in the Shadows: The Guerilla in History, New York 1975 Henryk Bagiński, Wojsko polskie na wschodzie 1914–1920, Warszawa 1921 Marie Bahenská, Postavení českých učitelek a jeho proměna po 28. říjnu 1918. „Jest to prace nejnevděčnější a nejbídněji placená“, in: Muži října 1918. Osudy aktéru vzniku Republiky československé, hg. v. Rudolf Kučera, Praha 2011, S. 159–168. Tina Bahovec, Love for the Nation in Times of War: Strategies and Discourses of the National and Political Mobilization of Slovene Women in Carinthia from 1917 to 1920, in: Gender and the

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Verzeichnis der benutzten Literatur

First World War, hg. v. Christa Hämmerle, Oswald Überegger, Birgitta Bader Zaar, Houndmills, Basingstoke 2014, S. 231–250 János M. Bak, Die Diskussion um die Räterepublik in Ungarn 1919, „Jahrbücher für Geschichte Osteuropas“, NF 14 (1966), 4, S. 551–578 Jaromír Balcar, Instrument im Volkstumskampf? Die Anfänge der Bodenreform in der Tschechoslowakei 1919/20, „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“, 46 (1998), 3, S. 391–428 Stanislav Balík, Lukáš Fasora, Jiří Hanuš, Marek Vlha, Český antiklerikali- smus. Zdroje, témata a podoba českého antiklerikalismu v letech 1848–1938, Praha 2015 Tomas Balkelis, Demobilisierung, Remobilisierung. Paramilitätische Verbände in Litauen, 1918– 1920, „Osteuropa“, 64 (2014), 2–4, S. 197–220 Tomas Balkelis, Nation-Building and World War I Refugees in Lithuania, 1918–1924, „Journal of Baltic Studies“, 34 (2003), 4, S. 432–456 Ivo Banac, ‘Emperor Karl Has Become a Comitadji’: The Croatian Disturbances of Autumn 1918, „The Slavonic and East European Review“, 70 (1992), 2, S. 284–305 Joseph Bankiewicz, Bohdan Domosławski, Dévastations, in: La Pologne, Sa vie économique et sociale pendant le guerre. Histoire économique et sociale de la guerre mondiale (serie polonaise), hg. v. Marceli Handelsman, Paris–Warsza- wa 1933, S. 125–180 Joseph Bankiewicz, Bohdan Domosławski, Zniszczenia i szkody wojenne, Warszawa 1936 Karl Marten Barfuss, „Gastarbeiter“ in Nordwestdeutschland 1884–1918, Bremen 1986 Henryk Batowski, Rozpad Austro-Węgier 1914–1918 (Sprawy narodowościo- we i działania dyplomatyczne), Kraków 1982 Jakub Beneš, „Zelené kádry“ jako radikální alternativa pro venkov na západním Slovensku a ve středovýchodní Evropě 1917–1920, „Forum Historiae“, 2 (2015), S. 20–34 Antonia Bernard, Le Monde Slave, première revue française consacrée aux pays slaves, „Revue des Études slaves“, LXXIV (2002–2003), 2–3, S. 397–409 Dietrich Beyrau, The Long Shadow of the Revolution: Violence in War and Peace in the Soviet Union, in: Legacies of Violence.Eastern Europe’s First World War, hg. v. Jochen Böhler, Włodzimierz Borodziej, Joachim von Puttkamer, München 2014, S. 285–316 Marianne Bienhold, Die Entstehung des litauischen Staates in den Jahren 1918–1919 im Spiegel deutscher Akten, Bochum 1976 Feliks J. Bister, „Majestät, es ist zu spät!“ Die Slowenen und der Zerfall der Monarchie, in: Staatsgründungen 1918, hg. v. Wilhelm Branneder, Norbert Leser, Frankfurt am Main 1999, S. 95– 112 Mile Bjelajac, The Other Side of the War: Treatment of Wounded and Captured Enemies by the Serbian Army, in: The Salonica Theatre of Operations and the Outcome of the Great War: Proceedings of the International Conference Orga- nized by the Institute for Balkan Studies and the National Research Foundation „Eleftherios K. Venizelos“, Thessaloniki, 16–18 April, 2002, Thessaloniki 2005, S. 195–210 Robert Blobaum, A Minor Apocalypse. Warsaw During the First World War, Ithaca–London 2017 Robert Blobaum, Warsaw’s Forgotten War, in: Remembrance and Solidarity. Studies in 20th Century European History, wyd. 2, marzec 2014, S. 185–207 Béla Bodó,Ivan Héjjas: The Life of a Counterrevolutionary, „East Central Europe“, 37 (2010), S. 247–279 Włodzimierz Borodziej, Versailles und Jalta und Potsdam. Wie Deutsch-Polnisches zur Weltgeschichte wurde, in: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, hg. v. Robert Traba, Hans Henning Hahn, Maciej Gorny, Kornelia Kończal, Bd. 3: Parallelen, Paderborn 2012 S. 360–380

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Włodzimierz Borodziej, Maciej Górny, Nasza wojna, Bd. 1: Imperia 1912–1916, Warszawa 2014 Christoph Boyer, Nationale Kontrahenten oder Partner? Studien zu den Beziehungen zwischen Tschechen und Deutschen in der Wirtschaft der ČSR (1918–1938), München 1999 Karsten Brüggemann, Erinnerungen von Frauen an Krieg und Revolution: Autobiographische Darstellungen von Umbruch in und Aufbruch aus Estland (1914–1920), „Nordost-Archiv“, 23 (2014), S. 168–191 Karsten Brüggemann, Die Gründung der Republik Estland und das Ende des „Einen und unteilbaren Rußland“. Die Petrograder Front des Russischen Bürgerkriegs 1918–1920, Wiesbaden 2002 Karsten Brüggemann, National and Social Revolution in the Empire’s West: Estonian Independence and the Russian Civil War, 1917–1920, in: Russia’s Home Front in War and Revolution, 1914–1922, Bd. 1: Russia’s Revolution in Regional Perspective, hg. v. Sarah Badcock, Ludmila G. Novikova, Aaron B. Retish, Bloomington, IN 2015, S. 143–174 Karsten Brüggemann, Ralph Tuchtenhagen, Tallinn, Kleine Geschichte der Stadt, Wien 2011 Jana Burešová, Rozdílné pohledy na novou společenskou realitu po roce 1918 na příkladu katolických a pokrokově orientovaných ženských spolků, in: 1918. Model komplexního transformačního procesu?, hg. v. Ludie Kostrbová, Jana Malínská, Praha 2010, S. 193–201 W.R. Callcott, The Last War Aim: British Opinion and the Decision for Czechoslovak Independence, 1914–1919, „The Historical Journal“, 27 (1984), 4, S. 979–989 F.L. Carsten, Revolution in Central Europe 1918–1919, London 1972 Jana Čechurová, Alois Rašín – temperamentní revolucionář ve službách continuity, in: Muži října 1918. Osudy aktéru vzniku Republiky československé, hg. v. Rudolf Kučera, Praha 2011, S. 9–15 Borislav Chernev, Twilight of the Empire: Brest Litovsk and the Remaking of East Central Europe, 1917–1918, Toronto 2017 Józef Chlebowczyk, Między dyktatem, realiami a prawem do samostanowie- nia. Prawo do samookreślenia i problem granic we wschodniej Europie Środkowej w pierwszej wojnie światowej oraz po jej zakończeniu, Warszawa 1988 Benjamin Conrad, Roman Dmowski a kwestia granic Polski w 1919 roku, „Polski Przegląd Dyplomatyczny“, 1 (2017), 68, S. 126–134 Benjamin Conrad, Umkämpfte Grenzen, umkämpfte Bevölkerung. Die Entstehung der Staatsgrenzen der Zweiten Polnischen Republik 1918–1923, Stuttgart 2014 Werner Conze, Die Strukturkrise des östlichen Mitteleuropas vor und nach 1919, „Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte“, 1 (1953), 4, S. 319–338 Mary Elisabeth Cox, Hunger Games: Or How the Allied Blockade in the First World War Deprived German Children of Nutrition, and Allied Food Aid Subsequently Saved Them, „The Economic History Review“, 68 (2015), 2, S. 600-631 Ruth Crawford Mitchell, Alice Garrigue Masaryk 1879–1966. Her Life as Recorded in Her Own Words and by Her Friends, Pittsburgh 1980 Stanisław Czerep, II Brygada Legionów Polskich, Warszawa 1991 Stanisław Czerep, Kostiuchnówka 1916, Warszawa 1994 Maciej Czerwiński, Chorwacki bóg Mars i serbska Golgota, „Herito“, 3 (2014), S. 58–67. Norman Davies, God’s Playground. A History of Poland, Bd. 2: 1795 to the Present, New York 2005 Norman Davies, Orzeł biały, czerwona gwiazda. Wojna polsko-bolszewicka 1919–1920, Kraków 1998, engl. Originalausgabe: White Eagle, Red Star: The Polish-Soviet War, 1919–1920, London 1972 Snezhana Dimitrova, Der Mensch im Krieg. Krisen der modernen Identität im Angesicht des Todes, Bulgarien 1915–1918, übersetzt v. Daniela Detscheva, in: Schreiben im Krieg, Schreiben vom

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Verzeichnis der benutzten Literatur

Krieg. Feldpost im Zeitalter der Weltkriege, hg. v. Veit Didczuneit, Jens Ebert, Thomas Jander, Essen 2011, S. 163–174 Discourses of Collective Identity in Central and Southeast Europe (1770–1945): Texts and Commentaries, Bd. 3, cz. 2: Modernism: Representations of National Culture, hg. v. Ahmet Ersoy, Maciej Górny, Vangelis Kechriotis, übers. v. Dávid Oláh, Budapest–New York 2010 Edmund Dmitrów, Niemcy i okupacja hitlerowska w oczach Polaków. Poglądy i opinie z lat 1945– 1948, Warszawa 1987 Theodora Dragostinova, Speaking National: Nationalizing the Greeks of Bulgaria, 1900–1939, „Slavic Review“, 67 (2008), 1, S. 154–181 Marian Marek Drozdowski, Życie gospodarcze Polski w latach 1918–1939, in: Z dziejów Drugiej Rzeczypospolitej, hg. v. Andrzej Garlicki, Warszawa 1986, S. 146–175 Gabriela Dudeková, Vplyv Veľkej vojny a rozpadu Habsburskej monarchie na právne a spoločenské postavenie žien, in: 1918. Model komplexního transforma- čního procesu?, hg. v. Ludie Kostrbová, Jana Malínská, Praha 2010, S. 169–191 Joanna Dufrat, W służbie obozu marsz. Józefa Piłsudskiego. Związek Pracy Obywatelskiej Kobiet (1928–1939), Kraków 2013 Eduard Dana Durand, Currency Inflation in Eastern Europe with Special Reference to Poland, „The American Economic Review“, 13 (1923), 4, S. 593–608 Jaroslav Durych, Duše Podkarpatské Rusi, Praha 1993 Benon Dymek, Rady delegatów robotniczych na Mazowszu w latach 1918–1919, in: Odgłosy Rewolucji Październikowej na Mazowszu i Podlasiu. Praca zbiorowa, Warszawa 1970, S. 63–131 Economic Development in Southeastern Europe including Poland, Czechoslovakia, Austria, Hungary, Roumania, Yugoslavia, Bulgaria and Greece, London 1945 Gábor Egry, Navigating the Straits. Changing Borders, Changing Rules and Practices of Ethnicity and Loyalty in Romania after 1918, „The Hungarian Hi- storical Review“, 2 (2013), 3, S. 449– 476 Julia Eichenberg, Kämpfen für Frieden und Fürsorge. Polnische Veteranen des Ersten Weltkriegs und ihre internationalen Kontakte, 1918–1939, München 2011 Julia Eichenberg, Söldner der Besatzer oder Helden des Unabhängigkeitskampfes? Die Debatte um die polnischen Veteranen des Ersten Weltkrieges, in: Die Weltkriege als symbolische Bezugspunkte. Polen, die Tschechoslowakei und Deutschland nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, hg. v. Natali Stegmann, Praha 2009, S. 147–168. Liisi Esse, The Forgotten Soldiers? The Fate of Estonian WWI Veterans During the Interwar Period, omówienie pracy doktorskiej Eesti sõdurid Esimeses ma- ailmasõjas: sõjakogemus ja selle sõjajärgne tähendus, Tartu 2016, wygłoszone na 8. dorocznej konferencji Estońskiego Muzeum Wojska, Tallinn–Tartu, 25–26 kwietnia 2017 Andrew Ezergailis, The Latvian Impact on the Bolshevik Revolution. The First Phase: September 1917 to April 1918, New York 1983 Constantin Fătu, Mihaela Moscu, Betrayals in the Nation Union War, „International Journal of Communication Research“, 6 (2016), 1, S. 73–76 David Feest, Spaces of ‘National Indifference’ in Biographical Research on Citizens of the Baltic Republics 1918–1940, „Journal of Baltic Studies“, 48 (2017), 1, S. 55–66 Alison S. Fell, Ingrid Sharp, Introduction:The Women’s Movement and the First World War, in: The Women’s Movement in Wartime. International Perspectives, 1914–19, hg. v. Alison S. Fell, Ingrid Sharp, Houndmills, Basingstoke 2007, S. 1–17

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Anhang

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Verzeichnis der benutzten Literatur

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Anhang

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Verzeichnis der benutzten Literatur

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Verzeichnis der benutzten Literatur

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Anhang

War I, in: Aftermaths of War. Women’s and Female Activists, 1918–1923, hg. v. Ingrid Sharp, Matthew Stibbe, Leiden– Boston 2011, S. 245–264 Jacek Szczepański, Niemiecka piechota zapasowa w Generalnym Gubernatorstwie Warszawskim 1915–1918, Warszawa 2008 Janusz Szczepański, Społeczeństwo Polski w walce z najazdem bolszewickim 1920 roku, Warszawa– Pułtusk 2000 Janusz Szczepański, Wojna 1920 roku na Mazowszu i Podlasiu, Warszawa– Pułtusk 1995 Ziemowit Szczerek, Międzymorze. Podróże przez prawdziwą i wyobrażoną Europę Środkową, Warszawa 2017 Adam Szczupak, Greckokatolicka diecezja przemyska w latach I wojny światowej, Kraków 2015 Piotr Szlanta, „Najgorsze bestie to są Honwedy“. Ewolucja stosunku polskich mieszkańców Galicji do monarchii habsburskiej podczas I wojny światowej, in: Galicyjskie Spotkania 2011, hg. v. Urszula Jakubowska, Zabrze 2011, S. 161–179 Piotr Szlanta, Wilhelm II. Ostatni z Hohenzollernów, Warszawa 2015 Rein Taagepera, Estonia: Return to Independence, Boulder 1993 Arved baron von Taube, Nationale Demokratie, sozialistische Arbeiterkom- mune oder gesamtbaltischerStändestaat? Das Reifen des Gedankens der estnischen Eigenstaatlichkeit im politischen Kräftespiel der Jahre 1914–1918, „Baltische Hefte“, 6 (1959–1960), S. 2–48. Philipp Ther, Die dunkle Seite der Nationalstaaten. Ethnische Säuberungen im modernen Europa, Gottingen 2011 Klaus Theweleit, Männerphantasien, Frankfurt/Main 1977 Sarahelen Thompson, Agrarian Reform in Eastern Europe Following World War I: Motives and Outcomes, „American Journal of Agricultural Economics“, 75 (1993), 3, S. 840–844 Marko Tikka, Warfare and Terror in 1918, in: The Finnish Civil War 1918: History, Memory, Legacy, hg. v. Tuomas Tepora, Aapo Roselius, Leiden–Boston 2014, S. 90–118 Cordula Tollmien, Der „Krieg der Geister“ in der Provinz – das Beispiel der Universität Göttingen 1914–1919, „Göttinger Jahrbuch“, 41 (1993), S. 137–210 Peter A. Toma, The Slovak Soviet Republic of 1919, „The American Slavic and East European Review“, 17 (1958), 2, S. 203–215 Glenn Torrey, Indifference and Mistrust: Russian-Romanian Collaboration in the Campaign of 1916, „The Journal of Military History“, 57 (1993), 2, S. 279–300 Glenn E. Torrey, The Romanian Battlefront in World War I, Lawrence 2011 Robert Traba, Kriegssyndrom in Ostpreußen. Ein Beitrag zum kollektiven Bewußtsein der Weimarer Zeit, in: Kriegserlebnis und Legendenbildung. Das Bild des „modernen“ Krieges in Literatur, Theater, Photographie und Film, hg. v. Thomas F. Schneider, Osnabrück 1999, S. 399–412 Robert Traba, Wschodniopruskość. Tożsamość regionalna i narodowa w kultu- rze politycznej Niemiec, Warszawa 2006, dt. Ostpreußen, die Konstruktion einer deutschen Provinz. Eine Studie zur regionalen und nationalen Identität, Osnabrück 2010 Balázs Trencsényi, Maciej Janowski, Mónika Baár, Maria Falina, Michal Kopeček, A History of Modern Political Thought in East Central Europe, Bd. 1: Ne- gotiating Modernity in the ‘Long Nineteenth Century’, Oxford 2016 Ljubinka Trgovčević, Nauka o granicama: Jovan Cvijić na konferenciji mira u Parizu 1919–1920, in: Zbornik Janka Pletenskega, hg. v. Oto Luther, Jurij Perovšek, Ljubljana 2003, S. 314 Dalibor Vácha, „Život v legiích. Českoslovenští dobrovolci na Rusi 1914–1918“, praca doktorska obroniona w 2011 r. na uniwersytetcie w Czeskich Budziejowicach

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Verzeichnis der benutzten Literatur

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Personenregister Adler, Friedrich  14, 18 Adler, Victor  15 Aleksandar I. Karadjordjević  14, 24 Alexander I.  464, 474 Alexander III.  96 Alexandra Fjodorowna (Alix von Hessen-­ Darmstadt) 9 Alexandrowitsch, Michail (Großfürst)  11 An-Ski, Salomon  184 Aretin, Karl Otmar Freiherr von  267 Askenazy, Szymon  363, 365, 443–446 Averescu, Alexandru  50, 308 Babel, Isaak  133, 140, 186, 188 Balcar, Jaromir  319 Balfour, Arthur  338, 411, 446 Balkelis, Tomas  98, 99 Bandrowski, Jerzy  60 Bankiewicz, Józef  451 Barbusse, Henri  465 Beck, Józef  410 Beneš, Edvard  59, 299, 342, 357, 360–362, 366, 367, 438–440 Beneš, Jakub  191 Berger, Vojtěch  217, 218 Bergson, Henri  376–379, 382, 389, 404 Bermondt, Paweł (Fürst Bermondt-Awałoff )  91, 95, 99, 336 Berthelot, Henri Mathias  34, 434 Bethlen, István  298 Beyrau, Dietrich  164 Bilczewski, Józef  247, 324 Błaszkiewicz [Major]  444 Blobaum, Robert  214, 452 Bonar Law, Andrew  411 Bonneau [Major]  176 Boroević, Svetozar  474 Boruta-Spiechowicz, Mieczysław  74 Boutroux, Émile  378 Bowman, Isaiah  413, 418 Brătianu, Ion  411, 439, 440 Brockdorff-Rantzau, Ulrich von  448, 449 Broşteanu, Ernest  56 Brussilow, Aleksei Aleksejewitsch  23–26, 38, 44, 123 Bujak, Franciszek  409 Burnagel, Stanisław  137, 172

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Čapek, Karl  370 Čederla, Géza  193 Černy, František  28 Chaloupková, Anna  371 Chomyszyn, Grzegorz  235 Clemenceau, Georges  405, 423, 436, 439, 448, 449, 450 Conrad, Benjamin  418, 477, 478, 479, 480 Cook, Joseph  411 Cox, Mary Elisabeth  212, 213 Cuza, Alexandru  345 Cvijić, Jovan  395, 401–404, 413 Czekanowski, Jan  394, 395, 414 Czołowski, Aleksander  158 D’Abernon, Edgar Vincent  128, 129 d’Annunzio, Gabriele  360, 362 Dąbrowski, Marian  30 Daszyński, Ignacy  126, 267, 291, 324, 446 Davies, Norman  116, 366 Davis, William M.  412 Denikin, Anton Iwanowicz  114, 151, 177 Denis, Ernest  367 Dewernicki, Ajzyk Meir  184 Diklić, Slavko  465 Dimitrijević, Dragutin (Apis)  14 Dłuski, Kazimierz  15, 479 Dmowski, Roman  15, 96, 129–131, 195, 363–365, 367, 371, 414, 421, 441–443, 445–450, 478, 479 Domin, Karel  400, 401 Domosławski, Bohdan  451 Doncow, Dmytro  383 Dowbor-Muśnicki, Jozef  64, 71 Dserschinski, Felix  15, 127, 310, 311 Duchiński, Franciszek  383 Dunikowski, Xawery  213, 214 Durand, Edward Dana  292, 293, 299 Durkheim, Émile  378 Durych, Jaroslav  194 Dybowski, Jan  408 Dzierzbicki, Stanisław  236 Egry, Gábor  348 Ehrlich, Mindla  182 Einstein, Albert  15 Esterházy, Péter  109 Eugenides, Jeffrey  426, 428

Personenregister Falkenhayn, Erich von  93 Feest, David  455 Feldman, Wilhelm  382 Ferančik, Jozef  191 Fico, Robert  362 Flammarion, Camille  377 Franchet d’Esperey, Louis  343 Franz Ferdinand  7, 14, 320, 450 Franz Joseph I  7, 10, 14, 18, 25, 37, 65, 110, 475 Frevert, Ute  322 Friederichsen, Max  398 Fudakowski, Jan  173, 174

Herben, Jan  260, 261 Hindenburg, Paul von  7, 8, 98, 268, 343 Hirsch, Akos  348, 349 Hitler, Adolf  362, 450 Hodža, Milan  355, 356 Honzáková, Albína  331 Hoover, Herbert  212, 213, 333 Horthy, Miklós  110, 111, 314 Hötzendorf, Franz Conrad von  16 House, Edward  405 Hranilović, Dane  465 Hrubý, Ján  362

Gabrys-Paršaitis, Juozas  384 Gałczyński, Konstanty Ildefons  447, 448 Galer, Husid Jitzka  186 Galica, Andrzej  32 Gatrell, Peter  229, 236 Gaudin, Corinne  45 Gaulle, Charles de  114, 116–119, 124, 125, 128, 131 Geisler, Walter  415, 418 Georges-Picot, François  425 Głąbiński, Stanisław  242 Gliwic, Hipolit  451 Gobineau, Joseph Arthur de  377 Goltz, Rüdiger von der  80, 90, 96, 97, 99 Górecki, Piotr  67 Gottwald, Klement  12 Grabar, Anton  269 Grabowski, Tadeusz Stanisław  382 Grabski, Władysław  127, 300 Gukowski, Isidor  454 Guzik [Rekrut]  385

Ickiel, Wacław  215 Illyés, Gyula  217 Iorga, Nicolae  54 Iwicki, Józef  42

Habrman, Gustav  247 Hajdu, Tibor  17, 19 Hajec, Jan  30 Haliřova, Martina  240 Haller, Józef  117, 181, 189, 274 Hanák, Péter  45, 306 Handelsman, Marceli  134, 136, 141, 143 Hankey, Robin  448 Hankiewicz, Mikołaj  464 Hansa, Alexander  269, 270 Hašek, Jaroslav  77, 465, 467–469 Hasse, Else  379 Hassinger, Hugo  398 Havel, Václav  465 Hegedűs, Lorant  297, 298 Héjjas, Iván  110 Hemingway, Ernest  428

Jackan, Szmuel  337, 338 Jadwin, Edgar  185, 186 Jakowlew, Jessaul  186 Janošik, Juraj (Janosik)  191, 195 Januszajtis, Marian  68 Jarka, Marianne  330 Jaruškova, Milada  371 Jászi, Oszkár  100, 101, 107 Jelínek, Jiři  176 Jiránek, Tomáš  240 Joffe, Adolf Abramowicz  265, 266 Joffre, Joseph  35 Johnson, Douglas Wilson  411 Jureit, Ulrike  418 Kalinowska, Franciszek  140 Kalinowska, Józefa  140 Kalinowska, Maria  140 Kallab, Jaroslav  438 Kantor-Mirski, Marian  74, 75 Kantorowicz, Ernst Hartwig  18 Karl I. (Kaiser)  7, 12, 57, 101, 255, 320 Károlyi, Mihály  102–104, 106–108, 270, 276, 311 Kautsky, Karl  165 Kawczak, Stanisław  135, 159, 387 Kemal Pascha, Mustafa (Mustafa Kemal Atatürk) 426 Kerr, Philip  448 Keynes, John Maynard  302, 448 Keyser, Bruno  381, 382 Kierkowski, Kazimierz  67 Klee, Friedrich  386 Kleeberg, Franciszek  68

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Anhang Kochanowski, Jan Karol  383 Kocka, Jürgen  202 Koestler, Arthur  467, 468 Kolettis, Ioannis  424 Kołłontaj, Aleksandra  150 Koltschak, Alexander  437 Koneczny, Feliks  383 Konopczyński, Władysław  409 Konstantin I. (König von Griechenland)  424, 428 Kornilow, Lawr  12 Kós, Károly  341 Kotíková, Rela  326 Kowalski, Marek Arpad  409 Kożdoń, Józef  343 Koźmiński, Karol  466 Kramař, Karel  340, 342, 343, 438, 439, 460 Kratochvil, Jaroslav  465 Kraus, Karl  465 Krčmař, Jan  438 Kreisky, Bruno  7 Kret, Dmytri  307 Krischker, Ferdinand  192 Krleža, Miroslav  475, 477 Krutschkow, Kusma  144 Krzywicki, Ludwik  215 Kučera, Rudolf  204, 258, 279 Kudela, Josef  465 Kührer-Wielach, Florian  287 Kun, Béla  105, 108, 109, 168, 196, 311, 313, 432 Kuusinen, Otto Ville  79 Laidoner, Johan  87, 97, 454, 455 Lammasch, Heinrich  372 Latacz, Ewald  343 Léger, Louis  367 Lemmen, Sarah  287 Lenderová, Milena  240 Lenin, Wladimir Iljitsch  15, 16, 55, 62, 86, 114, 126, 126, 263, 265, 277, 310, 311, 406 Lieberman, Herman  68, 471 Liebknecht, Karl  432 Limanowski, Bolesław  464 Lipiński, Wacław“  28, 29, 30 Lloyd George, David  405, 411, 423, 433, 442, 443, 446–449 Lobanow-Rostowski, Andriej  23, 24 Lord, Robert  412 Łubieński, Leon  479 Ludendorff, Erich  7f., 98, 155, 224, 267 Lunsky, Heikel  209 Luxemburg, Rosa  432

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Machno, Nestor  111, 151 Maciejewski, Jerzy Konrad  114, 116, 119 Mackensen, August von  25f. Majakowski, Wladimir  123 Makowska, Magdalena  215 Mann, Thomas  375, 379, 404 Mannerheim, Carl Gustaf Emil  47, 77, 78, 82, 95– 97 Manteuffel-Szoege, Hans  90 Mantoux, Paul  446 Marchlewski, Julian  127, 310, 311 Martonne, Emmanuel de  397 Masaryk, Tomaš Garrigue  61, 279, 326, 329, 354, 357f., 360–362, 367, 370, 373, 422, 438, 460f., 465 Masarykova, Alice  326f., 329, 332f. Mavrocordat, Leon  49 Medek, Rudolf  64, 465 Mędrzecki, Włodzimierz  305, 335 Mehedinţi, Simion  400, 404 Meyer-Heydenhagen, Maximilian W.  395 Michalski, Jerzy  300 Mickiewicz, Adam  120 Mieszkowski, Łukasz  245 Milukow, Pawieł Nikołajewicz  461f., 464f. Mitrany, David  290 Mittelhauser, Eugène  176 Moraczewski, Jędrzej  166 Morgenthau, Henry  185, 282 Moszczeńska, Izabela (Iza)  66, 68 Mroczkowska, Jadwiga  388f., 388 Müller, Anitta  251f. Nałęcz, Tomasz  326 Namier, Lewis  414, 443 Narbutt-Łuczyński, Aleksander  29–32, 184 Nejedly, Zdeněk  469 Nepenin, Adrian Iwanowicz  39f. Newerly, Igor  13, 14 Niedra, Andrievs  90 Nikiforowna, Marusia (Maria)  151 Nikolaus II.  8–10, 18, 96 Nikolski, Sjergej  468 Nowina-Konopka, Kazimierz  187 Nowosielska, Zofia  233 Nyisztor, György  313 Oberutschew, Konstantin  48, 49 Obrębski, Józef  305, 308, 314 Obrenović, Aleksandar  14 Ogórek, Bartosz  213 Olbracht, Ivan  280, 281

Personenregister Orlando, Vittorio Emanuele  410 Orlik-Łukowski, Kazimierz  74 Osmołowski, Jerzy  95 Pachucka, Romana  325 Paderewski, Ignacy  93f., 96, 127, 185, 364, 442f., 450 Paikert, Alajos  393 Palacký, František  320, 369 Palffy, Moritz  192 Pankhurst, Emmeline  149 Partsch, Joseph  418 Pašić, Nikola  35, 362, 401, 440f., 460f., 463 Päts, Konstantin  85, 352, 454 Pawlenko, Wasyl  49 Pawłowski, Stanisław  410 Pećanac, Kosta  164 Pekař, Josef  318–320 Pěkna, Stefania  254 Perlmutter, Abraham  339 Perna, František  435 Peroutka, Ferdinand  361 Peter I.  266, 383, 393 Petljura, Symon  111–116, 120, 145, 171, 187 Petr, František Stanislav  41, 147, 160, 175 Piłsudski, Józef  15, 17, 28, 65–68, 86, 94f., 111f., 114– 117, 119f., 127–132, 273, 324, 326, 348, 364f., 371, 410, 414, 422, 441f. Pisuliński, Jan  112 Plastiras, Nikolaos  428f. Pöch, Hella  241 Pöch, Rudolf  241 Potočnjak, Franko  37 Priedite, Aija  252 Princip, Gavrilo  7, 14f. Prónay, Pál  110 Pryłucki, Nojech  184 Przybyszewski, Stanisław  382f. Putnik, Radomir  14 Rachamimov, Alon  238 Račić, Puniša  463 Racięcki, Leon  144 Rácz, Károly  348 Radić, Stjepan  459, 462–464, 474 Radoslawow, Wassil  163 Radziwiłł, Ferdynand  339 Rákosi, Mátyás  311 Ránki, György  303 Rasch, Franz  270 Rašin, Alois  217, 295f, 299, 340 Rasputin, Grigori Jefimowitsch  9f.

Rataj, Maciej  122 Remarque, Erich Maria  124, 465 Rembek, Stanisław  123–125 Rennenkampf, Paul  163 Richard III.  379 Roja, Bolesław  121f. Romer, Eugeniusz  195, 239, 297–401, 403f., 409, 412f., 415, 417, 421 Rondomański, Andrzej (Andrius Rondomanskis) 392 Ronge, Max  189 Rose, Karol  268 Rotbard, Srul  181 Rydz-Śmigly, Edward  68 Ryś, Ludwik  138 Sarrail, Maurice  154 Sarsi Nagy, Lajos  393 Scheel, Klaus  455 Scheidemann, Philipp  449 Schönowsky-Schönwies, Maximilian  26 Schtscherbatschew, Dymitr Grigorjewicz  55 Sebestyén, Emil  168 Seidler, Ernst von  369 Serkowski, Stanisław  246 Seton-Watson, Robert W.  367, 456f. Sienkiewicz, Henryk  144, 210f., 364, 443 Sierakowska, Katarzyna  232 Sikorski, Władysław  130 Sillaots, Marta  83f. Singer, Isaac Bashevis  202 Skalbe, Kārlis  336 Skoropadskyj, Pawlo  293 Skorupka, Ignacy  131 Smal-Stockyj, Roman  310 Šmeral, Bohumir  278f. Smetona, Antanas  91, 97, 328 Šmidrkal, Václav  282 Smogorzewski, Kazimierz  445 Smolka, Stanisław  396 Solomon, Georgij  455 Sombart, Werner  378f., 382, 389, 404 Sosnkowski, Kazimierz  154, 364 Soukup, František  353f., 356, 368, 372 Spett, Jakob  415–419, 417 Stalin, Josef Wissarionowicz  15f., 126, 311, 469 Stambolijski, Aleksandyr  459, 462 Stanisavljević, Jovo (Čaruga)  191 Štefánik, Milan Rastislav  357–362, 367, 439 Stempowski, Stanisław  307 Stepanović, Stepa  14

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Anhang Stransky, Adolf  368 Sturdza, Alexandru D.  35 Stürgkh, Karl  14 Suarès, André  377 Sujkowski, Antoni  412, 480 Suominen, Yrjö Kaarlo  394 Supilo, Frano  362 Švehla, Antonín  459 Svinhufvud, Pehr Evind  78, 80 Svoboda, Ludvik  12 Svobodová, Růžena  254 Świeykowski, Bronisław  215 Świtalska-Fularska, Julia  237 Sychravová, Anna  334 Sykes, Mark  425 Szapor, Judith  333 Szczerek, Ziemowit  477 Széchenyi, István  291 Szekfű, Gyula  109f. Szembek, Jan  111 Szeptycki, Andrzej (Scheptyckyi, Andrej)  235 Szeptycki Stanisław  33 Szolc-Rogoziński, Stefan  409 Szumański, Teofil  415 Tarnawski, Apolinary  195 Taube, Arved von  85 Temnyzkyj, Wolodymyr  310 Theweleit, Klaus  97–99 Tisza, István  100–106 Tormay, Cécile  333f. Toynbee, Arnold J.  376 Trąmpczyński, Wojciech  120 Trotzki, Leo (Lew Dawidowitsch Bronstein)  16f., 62, 88, 165, 264, 266, 277 Trost, David  186 Trumbić, Ante  362, 367 Tschykalenko, Jewhen  317 Tuchatschewski, Michail Nikołajewicz  125, 126, 128, 131, 141, 154, 198, 308, 310 Tusar, Vlastimil  372 Ulmanis, Kārlis  90f., 97, 353, 437 Vācietis, Jukums  89 Velistinlis, Regis  423

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Verstovšek, Karel  368 Vidal de la Blache, Paul  401 Vilms, Jüri  352 Virkkunen, Paavo  79 Vix, Fernand  100, 107f. Voldemaras, Augustinas  98 Vondraček, Vladimír  204 Voženilek, Karel  59 Walewska, Maria  233f., 247, 332, 460 Wąsowicz, Józef  417 Watson, Alexander  24 Wędkiewicz, Stanisław  288f. Wereszycki, Henryk  464f. Wick, Eberhard  347f. Wickham-Steed, Henry  367 Wildmann, František  58 Wilhelm II.  7f., 18, 69, 85, 98, 142 Wilson, Henry Hughes  448 Wilson, Woodrow  17f., 266, 405, 407, 419, 423, 430, 433, 449 Witos, Wincenty  127, 129, 145, 231, 236, 459 Wittlin, Józef  465 Woolsey, Theodore S.  346 Wrangel, Piotr Nikołajewicz  134 Wysocki, Alfred  250 Zahorska, Hanna  218 Zahra, Tara  230, 256 Zajdhaft, Szaja  189 Zajontschkowski, Andrej  34f. Zaleski, August  365 Zamorski, Jan  385, 387–389, 388, 485 Zamoyski, Maurycy  445 Zapolska, Gabriela  195 Záruba, Antonín  170 Zdanowski, Juliusz  114f., 120, 128, 130, 292, 301, 317, 324 Żeromski, Stefan  127, 435 Zetkin, Clara  126 Zis, David  186 Żuk, Antoni  380f. Županić, Niko  392, 394, 404 Zschwanko, Liubov  229f. Zynger, Pinkas Mendel  202

Informationen zum Buch Wer kennt den Ort Przasnysz (zu deutsch: Praschnitz)? Bei dieser masowischen Provinzstadt am südlichen Rand Ostpreußens trafen im November/Dezember 1914 sowie im Februar und Juli 1915 in drei großen Schlachten Hunderttausende Russen und Deutsche aufeinander, die Gesamtzahl der Toten, Verwundeten und Vermissten dürfte bei weit über 100.000 liegen. Warum also kennt kaum jemand Przasnysz? Den ›vergessenen‹ Weltkrieg im Osten Europas zurück in das Bewusstsein zu holen, macht sich dieses großartig geschriebene Werk zur Aufgabe. Es widmet sich den grausamen Schlachten ebenso wie den sozialen und mentalitätshistorischen Verwerfungen in Osteuropa und zeigt, auf welchem Boden dort nach 1918 ganz neue Staaten entstanden.

Informationen zum Autor Wlodzimierz Borodziej, geb. 1956, ist einer der führenden Zeithistoriker Polens. Seit 1996 ist er Professor am Historischen Institut der Universität Warschau. Wlodzimierz Borodziej scheut sich nicht, brisante Themen zu behandeln wie die deutsche Vernichtungspolitik in Polen und die Vertreibung der Deutschen. Er ist Autor zahlreicher viel beachteter Sachbücher; zuletzt erschien von ihm »Geschichte Polens im 20. Jahrhundert« (2010). Maciej Górny, geb. 1976, war Fellow am Imre Kertész Kolleg Jena und ist heute außerordentlicher Professor am Historischen Institut der Polnischen Akademie der Wissenschaften Warschau und am DHI Warschau.