Der transzendentale Gedanke: Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes 9783787328413, 9783787304875

Der Band enthält die Referate und (in Ausschnitten) die Diskussion einer Tagung, zu der sich 45 Fichteforscher aus aller

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German Pages 620 [646] Year 1981

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Der transzendentale Gedanke: Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes
 9783787328413, 9783787304875

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DER TRANSZENDENT ALE GEDANKE Die gegenwärtige Darstellung·der Philosophie Fichtes

SCHRIFTEN ZUR TRANSZENDENTALPHILOSOPHIE Herausgegeben von Gerhard Funke, Klaus Hammacher, Reinhard Lauth

BAND 1

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

DER TRANSZENDENTALE GEDANKE Die gegenwärtige Darstellung der Philosophie Fichtes Herausgegeben von

KLAUS HAMMACHER

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG

Vorträge der internationalen Fichte-Tagung in Zwettl/Österreich vom 08.–13. August 1977

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN: 978-3-7873-0487-5 ISBN eBook: 978-3-7873-2841-3

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1981. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

--

-

Tafel 1: Fichtes Totenmaske (Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Nachlaß Schulz-Blochwitz)

Dem Andenken von

Martial Gueroult und Heinz Heimsoeth

INHALT

VORWORT des Herausgebers . . . . . . . . . . .

XIII

VERZEICHNIS DER TEILNEHMER . . . . . .

XV

Klaus Hammacher: Einleitung, zugleich Tagungsbericht . . . . . . . . . . . . Reinhard Lauth: Die grundlegende transzendentale Position Fichtes ... .

18

Charles E. Scott: Fichte Today? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

25

Klaus Hammacher: Eröffnungsansprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

32

I. WISSENSCHAFTSLEHRE Michael Brüggen: Die beiden Grundbegriffe der Wissenschaftslehre . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37 46

Wolfgang ]anke: Die Wörter ,Sein' und ,Ding'- Überlegungen zu Fichtes Philosophie der Sprache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

49 68

Chukei Kumamoto: Der Begriff der Erscheinung beim späten Fichte . . .

70

Günter Meckenstock: Fichtes Fragment "Neue Bearbeitung der Wissenschaftslehre" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

80

Alexis Philonenko: Die intellektuelle Anschauung bei Fichte

91

Wolfgang H. Schrader: Überlegungen zur sprachanalytischen und transzenden talphilosophischen Ich-Theorie . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

107 118

]örg Schreiter: Produktive Einbildungskraft und Außenwelt in der Philosophie J. G. Fichtes . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

120 126

Adolf Schurr: Der Begriff der Erscheinung des Absoluten in Fichtes "Wissenschaftslehre vom Jahre 1810-11" . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

128 141

]oachim Widmann: Das Problem der veränderten Vortragsformen von Fichtes Wissenschaftslehre- Am Beispiel der Texte von 1804 2 und 1805 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

143 153

VIII

Inhalt

Manfred Zahn: Fichtes Sprachproblem und die Darstellung der Wissenschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...... . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

155 168

II. PRAKTISCHE PHILOSOPHIE

Peter Baumanns: Von der Theorie der Sprechakte zu Fichtes Wissenschaftslehre . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

171 18 7

Pierre-Philippe Druet: Le Probleme du regime politique chez Fichte: Metaphysique et Empirie . . . . . . . ............ . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ...... .

190 202

Kar[ Hahn: Fichtes Politikbegriff. Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . .

204 212

Hans Hirsch: Fichtes Beitra~; zur Theorie der Planwirtschaft und dessen Verhältnis zu seiner praktischen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

215 2 31

]ose Manzana t: Erscheinung des Absoluten und praktische Philosophie im Spätwerk Fichtes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

234 249

Richard Schottky: Internationale Beziehungen als ethisches und juridisches Problem bei Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

250 276

Günter Schulte: "Übersinnliche" Erfahrung als transzendentalphilosophisches Problem. Zu Fichtes "Tagebuch über den animalischen Magnetismus" von 1813 . Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

278 288

Ludwig Siep: Methodische und systematische Probleme in Fichtes "Grundlage des Naturrechts" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

290 307

Eivind Storheim: Fichtes Widerlegung des Skeptizismus . . . . . . . . . . . . . . Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

309 315

Hansjürgen Verweyen: Zum Verhältnis von Wissenschaftslehre und Gesellschaftstheorie beim späten Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ,_ 316 Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 !li. PHILOSOPHIEGESCHICHTLICHE ZUSAMMENHÄNGE

Manfred Buhr: Die Philosophie J ohann Gottlieb Fichtesund der historische Prozeß der Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

331

]uan Cruz-Cruz: Historische Individualität. Die Einführung einer Kategorie Fichtes in die Badische Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345

Inhalt

IX

]an Garewicz: Fichte und die polnische "Philosophie der Tat"

363

Helmut Girndt: Zu J. G. Fichtesund G. H. Meads Theorie der Interpersonalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

373 385

Klaus Hammacher: Problemgeschichtliche und systematische Analyse von Fichtes Dialektik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .....

388

Errol E. Harris: Fichte and Spinozism .. Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

407 418

Erich Heintel: Das fundamentalphilosophische Problem von Transzendentalphilosophie und Naturphilosophie . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

4 21 435

john Lachs: Philosophy and the Constitution of Reality . . .

437

Kurt Müller- Vollmer: Fichte und die romantische Sprachtheorie Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

442 460

joseph ]. Naylor: Establishing Transeendental Philosophy in the AngloAmerican World . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

462

]. Douglas Rabb: Marxism, Existentialism and Fichte's Idealism . . . . . .

481

Tom Rockmore: Fichtean Epistemology and the Idea of Philosophy . . .

485

Ingeborg Schüßler: Logik und Ontologie. Fichtes transzendentale Begründung des Satzes der Identität . . . Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

498 506

johannes Schurr: Zur Konzeption einer transzendentalen Bildungstheorie nach Prinzipien der Fichteschen Wissenschaftslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

508 5 21

Marek ]. Siemek: Fichtes Wissenschaftslehre und die kantische Transzendentalphilosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

524

Xavier Tilliette: Erste Fichte-Rezeption. Mit besonderer Berücksichtigung der intellektuellen Anschauung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diskussion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

532 544

Walter E. Wright: Fichte's Latent Hermeneutics . . .

546

ANHANG

Reinhard Lauth: Übersicht über noch unbearbeitete Probleme der Fichteschen Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

565

Hans Hirsch: Brief an Reinhard Lauth: Über wirtschaftlichen Wert (im Anschluß an die Diskussion über Fichtes Wirtschaftslehre) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

580

X

Inhalt

BIO-BIBLIOGRAPHIE DER AUTOREN . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

589

PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

603

SACHREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

611

Bildtafeln befinden sich zwischen den Seiten IV /V, XII/XIII und 32/33. Allen beteiligten Stellen sei für die Abdruckgenehmigung gedankt.

VERZEICHNIS DER SIGEL UND DER VERWENDETEN LOGISCHEN SYMBOLE

GA

SW

=

NW = M BW =

NS

J. G. Fichte-Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Reinhard Lauth, Hans ] acob und Hans Gliwitzky, Stuttgart-Bad Cannstatt 1962ff. Johann Gottlieb Fichte's sämmtliche Werke. Hrsg. von lmmanuel Hermann Fichte. 8 Bde. Berlin 1845-1846. Johann Gottlieb Fichte's nachgelassene Werke. Hrsg. von Immanuel Hermann Fichte. 3 Bde. Bonn 1834-1835. = SW IX-XI. Johann Gottlieb Fichte. Werke. Auswahl in sechs Bänden. Hrsg. und eingel. von Fritz Medicus. Leipzig 1908-1911. Nachdruck Darmstadt 1962. f. G. Fichte. Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe. Gesammelt und herausgegeben von Hans Schulz. 2 Bde. 2. um einen Nachtrag vermehrte Auf!. Leipzig 1930. Reprograph. Nachdruck Hildesheim 196 7. Johann Gottlieb Fichte. Nachgelassene Schriften. Hrsg. von Hans Jacob. II. Bd. Berlin 1937.

Symbole der Syllogistik a

e o

affirmo universaliter (ich bejahe universell) affirmo partialiter (ich bejahe partiell) nego universaliter (ich verneine universell) nego partialiter (ich verneine partiell)

Logische Junktoren 1\

V

'i/ ~

Negator (übergeschriebener Querstrich, z. B. Ä,lies: "nicht A") Konjunktion (lies: "und") Disjunktion (lies: "oder", -nicht ausschließend) vollständige Disjunktion (lies: "entweder ... oder") Implikation (lies: "wenn ... so")

Logische Quantaren

V xf(x) Alloperator (lies: "für alle x gilt f von x") 3 xf(x) Existenzoperator (lies: "für wenigstens ein x gilt f von x") "Eigennamen" sind in Frakturbuchstaben gesetzt (z. B. !8 für "Bewußtsein") Regel- bzw. Kalkülsymbole Deduktion Folgerung Punkt

(hypothetische Implikation) (lies: "folgt ... aus") (syll. Konklusion) (lies: "folglich ist es erlaubt von ... überzugehen zu ... ") (gibt den Wirkungsbereich an)

Zur nebenstehenden Tafel II:

Urkunde der Ernennung]. G. Fichtes zum ordentlichen auswärtigen Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Deutsche Staatsbibliothek Berlin). Nach Auskunft der Bayerischen Akademie der Wissenschaften nahm der Präsident F. H. J acobi die (Ernennungs)Urkunden von J. G. Fichte, H. W. Gerstenberg,J. W. v. Goethe,J. H. Voß und Ch. M. Wieland persönlich zur Übersendung an sich (Wahlakt 1808, BI. 21).

Tafel II (Zu Seite XIII)

/

.

VORWORT

Die Fichte-Forschung hat in den letzten Jahrezehnten einen enormen Aufschwung genommen, so daß man sagen kann, Fichte steht heute nahezu im Mittelpunkt der Auseinandersetzung mit der Philosophie des Deutschen Idealismus. Diese Auseinandersetzung mit Fichte vollzieht sich in einer anderen Weise als sie das philosophiegeschichtliche Schema des Hegelianismus vorgab. Sie hatte mit Forschungen begonnen, deren Repräsentanten Martial Gueroult (t) in Frankreich, und Heinz Heimsoeth (t) in Deutschland waren. Beide wurden bei der Planung dieser Tagung, deren Referate hier vorgelegt werden, noch eingeladen und hatten ihre Zusage zur Teilnahme gegeben. Deshalb sei ihrem Andenken dieser Band gewidmet. Wie sehr ihr Fichte-Bild die Forschungen der letzten 50 Jahre geprägt hat, wird dem Leser dieses Bandes nicht entgehen. Eine neue Phase der Beschäftigung mit Fichte setzte - trotz vielfachen Mißbrauchs seines Namens zu anderen als eigentlich philosophischen Zwecken in der Zwischenzeit - nach dem Zweiten Weltkrieg ein und fand ihren Ausdruck in dem groß angelegten und sorgfältig vorbereiteten Unternehmen der Fichte-Gesamt-Ausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, die auf die Initiative von Reinhard Lauth zurückgeht und von ihm herausgegeben, von 1962 an zu erscheinen begann. Fichte war 1808 Mitglied dieser Akademie geworden, auf Vorschlag ihres Präsidenten, des Philosophen und Schriftstellers Friedrich Heinrich Jacobi (1 743-1819) 1 • Daß dieser der Philosophie Fichtes keineswegs positiv gegenüberstand, dennoch aber den "Mann von beispielloser Denkkraft" 2 in den repräsentativen Kreis der Gelehrten seiner Zeit aufnahm, hat gewissermaßen seine Nachwirkung in der Rolle der Akademie-Ausgabe, da sie - weit über ihre studienfördernde Wirkung hinaus - sich als ein Sammlungszentrum herausgebildet hat, zu dem nach und nach nahezu alle Forscher fanden, die von durchaus verschiedenen Fragen, Problemen und Schulen ausgehend infolge der transzendentalphilosophischen Frage auf Fichte stießen. Insofern war Reinhard Lauths Idee, nachdem 15 Bände der Akademie-Ausgabe vorlagen, ein Treffen der Fichte-Forscher zu arrangieren, nicht nur einem individuellen Wunsch entsprungen, sondern entsprach einer Wendung der Philosophie, der gemäß sie ihre Möglichkeiten unter den Bedingungen unserer Zeit aus den Bedingungen ihrer Möglichkeit selbst zu entnehmen versucht. Die Ausführung dieser Idee Reinhard Lauths erbrachte eine Koordinierung der Fichte-Forschung weit über unsere Erwartungen hinaus. Wenn die Ergebnisse dieser Tagung, und dazu gehören auch die wichtigsten Ausschnitte aus den Diskussionen, hiermit erscheinen können, so ist dies zunächst der großzügigen Förderung durch die FritzThyssen-Stiftung und ihren ehemaligen Vorstand Prof. Dr. Gerd Brand (t) zu verdan1. Die Bayerische Akademie der Wissenschaft bewahrt die von J acobi, Schlichtegroll und von Aretin unterschriebene Ernennungsurkunde Fichtes "zum ordentlichen auswärtigen Mitglied" auf. Sie ist ausgestellt auf den 30. März 1808. Vgl. dazu BW II, S. 512, Schreiben Schlichtegrolls an Fichte vom 6.Juli 1808. 2. Briefjacobis an Fichte vom 3.-21. März 1791- GA III, 3, S. 232.

XIV

Vorwort

ken, die es ermöglichten, einen größeren Kreis von Gelehrten zu versammeln und ihre Untersuchungen zu publizieren. Es ist weiterhin der aufopfernden Unterstützung durch meine Mitarbeiter, Fräulein Gabriele von Heesen und Herrn Gernot Geduldig zu verdanken, die von der Vorbereitung der Tagung bis zur Drucklegung des Tagungsban· des mir einsatzfreudig zur Seite standen, sowie Herrn Kurt Christ, der die schwierigen Transkriptionen der Diskussionen übernahm. Das Namen- und Begriffsregister fertigte Gregor Weber an. Reinhard Lauth, dem Initiator der Tagung, möchte ich meinen Dank dadurch ein wenig zum Ausdruck bringen, daß ich den Tagungsband zu seinem 60. Geburtstage zum Druck bringe. Aachen, den 11. 8.19 79

Klaus Harnmacher

VERZEICHNIS DER TEILNEHMER

Dr. Franz Bader. Arnikastraße 10, 8031 Gröbenzell Prof. Dr. Peter Baumanns. Fliederweg 21, 5205 St. Augustin Priv.-Doz. Dr. Michael Brüggen. Spessartstraße 28, 8000 München Prof. Dr. Manfred Buhr. Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR, Otto-Nuschke-Str. 10/11, DDR 108 Berlin Prof. Dr. Tsuneya Chinsei. Nakanoku Higashinakano 5-23-6-507, Tokyo 164,Japan Prof. Dr. Juan Cruz Cruz. Universidad de Navarra, Pamplona, Spanien Prof. Dr. P. Ph. Druet. Facultes Universitaires de Namur, Faculte de Medecine, Dept. de Psychologie, Rue de Bruxelles 61, B- 5000 Namur Dr. Erich Fuchs. Gärtnerstraße 8a, 8031 Gröbenzell Dr.Jan Garewicz. Al. Waszyngtona 45/51 m 120,04-008 Warszawa, Polen Prof. Dr. Helmut Girndt. Gesamthochschule Duisburg, FB 1 -Philosophie -,Koloniestraße 55, 4100 Duisburg 1 Dr. Hans Gliwitzky. Eschemiederstraße 48,8031 Gröbenzell Prof. Dr. Errol E. Harris. High Wray House, Ambleside 2107, Westmoreland LA 22 OJQ, Eng!. Prof. Dr. Kar! Hahn, Lammersdorfer-Straße 13, 5106 Roetgen-Rott Prof. Dr. Klaus Hammacher. Schillerstraße 63, 5100 Aachen Prof. Dr. Erich HeinteL I. Philosophisches Institut der Universität Wien, Universitätsstraße 7/II/11, A- 1010 Wien Dr. Kurt Hiller. Dachstraße 3, 8000 München 60 Prof. Dr. Hans Hirsch. Am Schaafweg 3, 5100 Aachen Prof. Dr. Wolfgangjanke. In der Follmühle 25,5068 Odenthai-Voiswinkel Dr. Holger Jergius. Pommer 8, 8551 Ingensdorf Prof. Dr. Chukei Kumamoto. Philosophisches Seminar der Universität Hiroshima, shi Higashisenda- cho 1, Hiroshima 730,japan Prof. Dr.John Lachs. Vanderbilt University, Nashville/Ten. 37235, USA Prof. Dr. Dr. Reinhard Lauth. Ferdinand-Maria-Straße 10,8000 München 19 Dr. Wilhelm Lütterfelds. Windhabergasse 10, A- 1190 Wien Prof. Dr. J ose Manzana Dr. Günter Meckenstock. Am Schützenplatz 5, 2308 Preetz Richard Meiner. F elix Meiner Verlag, Richardstr. 4 7, 2000 Harnburg 7 6 Prof. Dr. Kurt Müller-Vollmer. Stanford University, Dept. of German Studies, Stanford/Cal. 94305, USA Dr. Albert Mues. Friedrichstraße 33, 8000 München 40 Prof. Dr. Joseph G. Naylor. University of Prince Edward Island, Dept. of Philosophy, Charlottetown, CLA 4P3, Prince Edward Island, Canada Prof. Dr. Alexis Philonenko. 148 Rue de Wagram F -Paris 75.017 Prof. Dr. Douglas Rabb. Lakehead University, Dept. of Philosophy, Thunder Bay P7B 5E1/0ntario, Canada

t

XVI

Verzeichnis der Teilnehmer

Prof. Dr. Marcel Regnier. Les Fontaines, F- 60500 Chantilly Prof. Dr. Tom Rockmore. Yale University, Dept. of Philosophy, New Haven/Con. 06520, USA Erich Ruff. Burgmairstraße 54/111, 8000 München 21 Dr. Otto Salcher. Preindlgasse 26, A- 1130 Wien Dr. Richard Schottky. Am Heckendorn 103,5600 Wuppertal Dr. Wolfgang Schrader. Waldstraße 16, 8031 Stockdorf Dr. J örg Sehreiter. Zentralinstitut für Philosophie der Akademie der Wissenschaften der DDR, Otto-Nuschke-Straße 10/1, DDR 108 Berlin Wolfgang Schüler. Anne-Frank-Straße 20, 6200 Wiesbaden Priv.-Doz. Dr. Ingeborg Schüßler. BataverstraBe 14, 5000 Köln Prof. Dr. Günter Schulte. ErnmastraBe 13, 5000 Köln 41 Dr. Anna Maria Schurr-Larusso. Breiter Weg 8b, 8401 Pentling Prof. Dr. Adolf Schurr. Breiter Weg 8b, 8401 Pentling Prof. Dr. J ohannes Schurr. Herwarthstraße 21 , 5000 Köln 1 Prof. Dr. Charles Scott. Vanderbilt University, Dept. of Philosophy, Nashville/Ten. 37235, USA Prof. Dr. Marekj. Siemek. Grojecka 65a m 30, 02-04 Warszawa, Polen Prof. Dr. Ludwig Siep. Thienhausener Str. 51, 565 7 Haan Dr. Eivind Storheim. N- 3474 Aros, Norwegen Prof. Dr. Xavier Tilliette. Les Fontaines, F- 60500 Chantilly Gerd Umhauer. Orlandostraße 3, 8000 München 2 Prof. Dr. Hansjürgen Verweyen. Gesamthochschule Essen FBI, Postfach 6843, 4000 Essen 1 Dr. Joachim Widmann. Agnes-Bernauer-Straße 111, 8000 München 21 Prof. Dr. Walter E. Wright. 14 Hanilond St., Worcester/Mass. 01602, USA Prof. Dr. Manfred Zahn. Gärtnerstraße 49, 8031 Gröbenzell

Klaus Harnmacher EINLEITUNG, zugleich Tagungsbericht

Obwohl die Fichte-Tagung, deren Referate hiermit publiziert werden, die Forschungslage so durchsichtig und zusammenhängend zum Ausdruck brachte, daß sich ein eindeutiges Bild von der gegenwärtigen Bedeutung von Fichtes Philosophie ergibt, sei wegen des Umfanges des Bandes und der Vielfältigkeit der angesprochenen Themen eine zusammenfassende Skizzierung der Beiträge vorausgeschickt. In seiner die Tagung einleitenden Ansprache umreißt Reinhard Lauth die transzendentale Idee, indem er zeigt, wie sie sich aus der cartesianischen Methode der "Erkenntnisbegründung" der Metaphysik entwickelt hat und wie sie geschichtlich und systematisch seitdem die philosophische Aufgabe umspannt. Systematisch umspannen in diesem Sinne bedeutet aus einem Prinzip denken, das theoretische und praktische Vernunft umschließt. Fichtes Originalität erweist sich an der Lösung, diese Einheit aus dem Handeln zu denken, was bedeutet, daß sie sich in der Durchführung der Aufgabe findet, mittels der Einbildungskraft Entgegengesetzte dialektisch zu verbinden. Wurde mit Lauths Darstellung des transzendentalen Gedankens das zentrale problemgeschichtliche Thema angegeben, um das die Tagung kreiste, so wurde Charles E. Scotts Essay Fichte Today hinzugefügt, um zu erklären, wie ein solches Thema im gegenwärtigen Philosophieren wieder aufkommen konnte. Die transzendentale Frage, wie sie bei Fichte erscheint, als Frage aus einer Intuition, die überzeitlich Zeitlichkeit und Geschichte fassen will, obwohl ausgehend vom Bewußtsein der Endlichkeit, bezieht sich notwendig auf die obengenannte Einheit als Grund der Möglichkeit des Bewußtseins. Sie kann nach Scott allein aus der Einbildungskraft lebendig konstruiert werden, womit dem apriorischen Denken eine neue Dimension erschlossen wird. Diese steht im I. Teil des Bandes, dessen Beiträge sich hauptsächlich mit der Wissenschaftslehre selbst und ihren verschiedenen Fassungen beschäftigen, im Mittelpunkt. Michael Brüggens Untersuchungen zum Realismus und Idealismus in den Fassungen der Wissenschaftslehre ab 1801/02 revidieren die seit Gueroult vorherrschende Oberbetonung des realen Standpunktes der Wissenschaftslehre von 1804 zugunsten eines von Fichte auch in den späten Fassungen festgehaltenen Standpunktes im transzendentalen Idealismus. Der reale Standpunkt in diesen Wissenschaftslehren wird von Brüggen als praktischer Akt in der Selbstnegation des Wissens verstanden, durch den es sich als reines Sein, das in sich ruht, aufhebt. Es ist jener praktische Akt, der - nach meiner eigenen Darstellung - in der Dialektik dieser Wissenschaftslehren die Vereinigung Entgegengesetzter ermöglicht, indem dadurch die Entgegensetzung als Befangenheit des Wissens selbst überwunden wird. Günther Meckenstock stellt eine unvollständige Fassung der Wissenschaftslehre von 1800 vor, die ein interessantes Zwischenglied zwischen der Wissenschaftslehre nova methodo und der j~tzt von Reinhard Lauth vollständig edierten Wissenschaftslehre von 1801/02 darstellt 1 • Schon die in der Akademie-Ausgabe vorgelegten Vorlesungsnotizen zu dem ersten Neuansatz, den Fichte nach der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre vornahm 2 , zeigen starke Unterschiede zu der sehr verläßlichen Nachschrift dieser

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Klaus Harnmacher

Darstellungsweise der WL von 1798 3 . Wie stark Fichte auch noch in den folgenden Jahren mit der Bestimmung der einzelnen Bewußtseinselemente rang, läßt dieses Fragment einer Neufassung erkennen. Die Gefahr, die transzendentalen Bestimmungen aus psychologischen Assoziationen zu verstehen, vermeidet Meckenstock dadurch, daß er den methodischen Aufbau dieses Wissenschaftsiehre-Fragmentes nach Theoremen, Postulaten u. ä. betont. So werden Konstruktionen sichtbar, deren Schlüssigkeit sich jedoch erst im Mitdenken in der Anschauung ergibt. Um die zentrale Bedeutung der Anschauung als intellektuelle Anschauung, nicht nur für die Entwicklung von Fichtes Wissenschaftslehre, sondern auch für die nachfolgenden Systeme des Deutschen Idealismus, insbesondere Schellings, geht es in dem Beitrag von Alexis Philonenko. Er legt eine nicht nur originelle, sondern auch überzeugende Interpretation der intellektuellen Anschauung vor, die viele Schwierigkeiten beseitigt, die sich bei ihrem Verständnis in der Tradition Schellings und Hegels ergeben hatten. Im Anschluß an die Untersuchung von Thomas Hohler4 weist Philonenko nach, daß die intellektuelle Anschauung in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre erst gegen Ende vom Philosophen in schwierigen dialektischen Methodenschritten erreicht wird. In der neuen Darstellung der Wissenschaftslehre, wie sie Fichte in den J ahren 1796-1798 vortrug, rückt sie aber an den Anfang des Aufbaus des Systems. Es wird deutlich, daß sie über die produktive Einbildungskraft die dialektische Vereinigung der Gegensätze bewirkt, wobei sich das Ich in einer verzeitlichenden Reihe als in sich zurückgehende Tätigkeit faßt, und so schließlich als Selbst des praktischen Bewußtseins erscheint. Mittels dieser methodischen Verwendung der Einbildungskraft außerhalb des empirischen Erkennens soll die theoretische Aufgabe, das Bewußtsein zu erklären, mit Hilfe einer praktischen Fähigkeit durchgeführt werden. Gemäß meinem Beitrag zur Dialektik Fichtes könnte man von einer theoretischen Nutzung eines praktisch sittlichen Aktes sprechen. Xavier Tilliette akzeptiert in seinen Ausführungen zur ersten Fichte-Rezeption nicht die Priorität dieses fichteschen Gedankens der intellektuellen Anschauung, sondern weist auf die entscheidenden Einflüsse Schellings und die Umstrukturierung der fichtesehen Lehre gemäß den Reaktionen der Zeitgenossen. Aber genau genommen reduziert sich deren Einfluß darauf, daß sie Fichte die eigene Konzeption erst völlig bewußt, und ihm durch den Konkretisierungszwang die Funktion praktischer Kräfte in der intellektuellen Anschauung deutlich machen. Da Tilliettes Beitrag eine Antwort aufPhilonenkos These darstellen soll, wird er hier im Zusammenhang der Entwicklung der Wissenschaftslehre behandelt. Mit der Bedeutung der Einbildungskraft in der Philosophie Fichtes beschäftigt sich ausdrücklich der Beitrag vonjörg Schreiter. Er beschreibt dabei, zwar vom Standpunkt des dialektischen Materialismus aus, aber hinsichtlich der transzendentalen Lösung Fichtes angemessen, ein Kernproblem der neueren Philosophie, nämlich .,daß die Subjektivität des Erkenntnisprozesses die Objektivität seiner Resultate nicht nur nicht ausschließt, sondern daß sich Subjektivität und Objektivität in diesem Sinne wechselseitig bedingen". Er findet die fichtesc::he Lösung dieses Problems in der Funktion der produktiven Einbildungskraft, die aus der Tätigkeit des Subjektes erst in der Wechselwirkung mit dem Gegebenen über die Stufen der Realitätsbildung in Empfindung, Gefühl, Streben, die Entwicklungen in Natur und Geschichte dialektisch aus der Wesenskraft des Menschen begreiflich macht.

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In meinem eigenen Beitrag habe ich versucht, die Frage nach der Dialektik Fichtes einmal aus der Problemgeschichte zu stellen, d. h. das Thema nicht retrospektiv von der neueren Dialektik, wie sie Fichte begründete und Hege! und Marx ausgestalteten, sondern von den antiken Konzeptionen ausgehend zu behandeln. Die Analyse der formalen Struktur der drei Grundsätze der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre lassen den Zusammenhang mit der Tradition der antiken Dialektik noch erkennen und ermöglichen es uns, von daher Fichtes eigentliche methodische Fortentwicklung des dialektischen Gedankens zu erkennen als ein heuristisches Verfahren des Auffindens begrifflicher Bestimmungen, welches konträre Gegensätze der Bewußtseinserfahrung zu vereinigen ermöglicht. Daß dies jedoch nur über eine Denkpraxis erreicht wird, gemäß der das Wissen sich selbst nur über einen ethisch-sittlichen Freiheitsakt ergreifen kann, wird Fichte in der Spätphilosophie deutlich und hebt seine Dialektik von den heutigen rein operationalen Verfahren der Normbestimmung ab. Im Unterschied zur auf ihn folgenden Dialektik übersteigt aber die dialektische Erkenntnis des Wissens dieses in seiner Verwirklichung als Wissen nicht und steht insofern formal nicht im Gegensatz zur Logik. Um eine Fichte angemessene Formalisierung der Entwicklungsweise der Wissenschaftslehre hat sich seit Jahren erfolgreich Joachim Widmann bemüht. Er geht sie in seinem Beitrag zu diesem Band von dem Problem des Wechsels der Vortragsformen der Wissenschaftslehre aus an. Dies Problem dient Widman zugleich zum Einstieg in die Systematik der Wissenschaftslehre von 1805 (Erlanger Fassung). Diesen Zusammenhang versteht man am besten aus einer Ankündigung Fichtes von seiner Neufassung der WL aus dem Jahre 1800, die Meckenstock anführt, in der Fichte Wissenschaftslehre als "reine Mathesis" bestimmt. Widmann wendet die bereits durch seine Analyse der Wissenschaftslehre von 1804 bewährte Methode an 5 , über die formale Aufbaugesetzlichkeit der genetischen Schritte der WL auf die "innersten Fragen der Systematik" zu führen. Seine Frage lautet: "hängt die innere Ordnung der Argumentation eines Vortrags der Wissenschaftslehre allein vom gewählten Ausgangspunkt ab -oder gibt es darüber hinaus eine notwendige und unabänderliche Reihenfolge der die ,Wissenschaftslehre' konstituierenden Erkenntnisschritte?" Die Antwort darauf sieht er in einer Metaphorik der zahlenmäßig erfaßbaren Gliederung des Aufbaus, die einer Duplizität des Wissens entspricht. Sie besteht darin, daß auch eine streng deduktive Ordnung sich in verschiedenen Beweismethoden darstellen läßt, analog zum Finden verschiedener Beweismethoden für einen und denselben mathematischen Lehrsatz. Inhaltlich wird diese Darstellungsweise klar aus einer anderen unveröffentlichten Fassung der Wissenschaftslehre von 1810/11, die Adolf Schurr vorstellt. Sie weist einen Ansatz der Wissenschaftslehre auf, den Schurr schon nahe bei der "ontologischen Differenz" ansiedelt. Folgt man dieser Vorstellung, so überrascht die Weise, wie Fichte sie philosophisch aufhebt. Er leitet selbst noch den Anspruch auf An-sich-Gültigkeit im Begriff des Seins ab, indem er nach den von Schurr zitierten Passagen deutlich macht, wie der jedem Faktischen anhaftenden Möglichkeit, anders zu sein, ein "Sollen" entspricht, durch das die Freiheit im Bewußtsein "Erscheinung" des Seins werden kann. Erst durch dieses Werden wird das Sein als In-Sich-Bestehen verständlich. Hier ist eine Dialektik angesetzt, die- wie mehrfach erwähnt- in einem Freiheitsakt sich darstellt, zu dem man sich selbst initiieren muß. Scharfsinnig folgert Schurr, daß das ungelöste Problem Sartres, wie der Übergang vom Sein als An-sich (en-soi) zum Für-sich des Be-

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wußtseins (pour-soi) zu erklären sei, nach Fichtes Darlegungen als eine Verschiebung des Wissens erscheint, die das, was sich im freien Handeln vollzieht, in das Absolute selbst hinein verlegt. Die Vorstellung der verschiedenen Fassungen der Wissenschaftslehren in den Referaten erweist sich als grundlegend für die Fichte-Forschung der Gegenwart, da sie die äußerliche, an zeitgenössischen Denklichees orientierte Darstellung der späten Wissenschaftslehren durch Max Wundt ersetzt 6 • Iogeborg Schüßler versucht, in Übereinstimmung mit der so erkennbaren Bindung der logischen Denkformen an materiale Verifikation, den Satz der Identität aus seiner transzendentalen Begründung durch Fichte zu erfassen. Der Satz der Identität erweist sich in seiner spezifischen Gültigkeit als oberster Satz der Logik- nach Fichte getragen vom Bewußtseins des Ich -, das sich im Akt seiner produktiven Selbstvorstellung ergreift. Daß ein dabei zu Grunde gelegtes Seinsverständnis aus der Tradition abendländischen Denkens Fichte beherrscht, nach dem Seiendes als Identität der Vergegenwärtigung des Anwesenden in Anschluß an Kant gedacht wird, diese Konzeption Heideggers angewandt auf Fichte erscheint gedeckt durch I. Schüßlers Aufschlüsselung des so gedachten Seins als Einheit des Bewußtseins, mit der die Transzendentalphilosophie operiert, stellt sich aber gegenüber Fichtes oben erwähntem späten dynamischen Seinsbegriff zum mindesten als unangemessen dar. Dieser späte Seinsbegriff erweist sich nämlich ganz anderem Verständnis als dem der abendländischen Metaphysiktradition angemessen, wie der Beitrag von Chukei Kumamoto zeigt. Ausgehend vom Darstellungsproblem, wie es Widmann beschäftigt und wie es inhaltlich durch die doppelte Aufgabe des Aufstiegs zum Absoluten als Einheit und des Abstiegs zu seiner Entfaltung in der Mannigfaltigkeit der Welt, gekennzeichnet ist, erscheint die individuelle Entwicklung des Bewußtseins als sich nach einem Gesetz vollziehend, welches im Wissen selbst liegt. Kumamoto führt auf einen Begriff vom Selbstbewußtsein, der nicht mehr vom Individuum und etwa dessen vergegenständlichender Weltbemächtigung ausgeht, sondern im Sein der Welt seinen Halt hat. Daß dieser mit Fichtes spätem Seinsbegriff übereinstimmend verstanden werden kann, gelingt Kumamoto deutlich zu machen, indem er die Anweisung zum seligen Leben bei der Erklärung des Übergangs vom Absoluten zu seiner Erscheinung berücksichtigt. Dieser ist weder als Emanatio noch als creatio ex nihilo zu denken, sondern als "Vereinigung von Sich-selbst-bewußt-sein des Seins und unserem Bewußtsein vom Sein". Mag dieser Begriff von Selbstbewußtsein auch der fernöstlichen Philosophie entlehnt sein, wie Kumamoto in einer anderen Abhandlung genauer ausgeführt hat 7 , so wird doch aus diesem Beitrag der Abstand des fichteschen Seinsverständnisses von den Seinsprädikationen des griechischen Denkens und seiner Tradition einleuchtend. Das wird auch unterstrichen durch Wolfgang Jankes "Untersuchungen zu Fichtes Philosophie der Sprache", der insbesondere an den Wörtern "Sein" und "Ding" Fichtes Kritik am gegenständlichen Denken als Denken des Bleibenden im Gegensatz zum Handeln und damit die Täuschung der Sprache in diesen grundlegenden Begriffen der traditionellen Metaphysik sichtbar macht. Jankes Beitrag gehört in den ausgiebig behandelten Themenkreis von Sprache und Philosophie bei Fichte, der sich als einer der Schwerpunkte der Tagung herausstellte. Janke durchmißt die verschiedenen Stufen der sprachphilosophischen Äußerungen Fichtes von den frühen Abhandlungen und Erörterungen in der sog. Platner-Vorlesung über Logik und Metaphysik bis zu den späten Wis-

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senschaftslehren und den Reden an die deutsche Nation und versteht sie als durchaus nicht einheitliche Konzeption von Sprachphilosophie, aber als Ausdruck einer genetischen Entwicklung. Die Verwechselung der Denkkorrelate in der Objektwendung der Sprache zu durchdringen, führt zu ihrem Zeichencharakter (aiu.J.a) als auf die Bedeutung. hinweisend und anweisend, was wiederum interpersonal durch Freiheit ermöglicht ist, die ein Du dem Ich zeigt, und schließlich zur positiv begriffenen Metaphorik als Sinnbild lebendigen Durchdringens des notwendigen Scheins bloß symbolischen Sprechens. Hier wird eine Entwicklung deutlich, die nach Janke zu den sprachphilosophischen Erörterungen Hamanns und Jacobis zurücklenkt und die Sprache als einen deutbaren und aus dem Übersinnlichen deutungsfähigen Sinn des Menschen versteht. Dabei stellt Sprache nach Fichte, wie Janke anmerkt, nicht selbst ein Handeln dar, welches Thema besonders im Referat von Baumanns diskutiert wird. Peter Baumanns versucht eine Rekonstruktion der praktischen Philosophie aus der Wiessenschaftslehre nova methodo in einer von der fichteschen Begrifflichkeit weitgehend freien Terminologie, ausgehend von der gegenwärtigen Theorie der Sprechakte. Die Kritik an Austins und Searles Sprechakttheorie bildet den Ausgangspunkt, weil hier der positivistische Ansatz in der "konventionalistischen" Vorstellung von "Perlokution" und "Illokution" verhindert, den eigentlichen performativen Charakter der Sprechakte als verbindliche "Aufforderungszeichen" zu erfassen. Dieser systematische Mangel soll nun im Nachvollzug einiger Gedanken aus Fichtes zweiter Fassung der Wissenschaftslehre behoben werden, da Fichte dort durch den sinntragenden Zweckbegriff, dem der Sprachakt sich unterstellt, stets die praktische Selbstbindung der Intelligenz im leiblich-sinnlichen Umfeld mitberücksichtigt. Die Deutung des "Setzens" als Ausdruck der Selbstbindun~ der Intelligenz in ihrem Handeln, das sie zugleich anschaut, ist dabei besonders hervorzuheben, sowie die genauere Bestimmung der "Aufforderung". Sie bringt schließlich mit sich, daß der "performative" Sprechakt intersubjektiv zum "An-sich-halten" verbindet und so lückenlos in eine reale Handlung übergeht, welche die "Identität des Zeichens mit dem Bezeichneten" enthält. Daß diese performative Bindung sich auch in "Gesten" und "Gebärden" ausdrückt, welche allein die tradierten Verhaltensmuster erschließen, wird von Baumanns erkannt. Fichtes Vorstellungen in der Republik der Deutschen von einem rituellen Totenkult, der eine staatliche Gemeinschaft in der Performation rechtsbegründender Akte verbinden soll, habe ich in dem Eröffnungsvortrag aus diesem Gedanken interpretiert. Den ausdrücklich sprachphilosophischen Äußerungen Fichtes geht am genauesten das Referat von Manfred Zahn nach. In ihm wird die vorherrschend kritische Einstellung Fichtes zur Sprache deutlich. Verstehen findet zwar nur mittels der Sprache statt, aber nicht innerhalb der Sprache. Wo nur dieses vorkommt, tritt die Täuschung ein, daß etwas mit den Worten und ihren Beziehungen erfaßt würde, was in diesen eigentlich nicht darstellbar ist. Selbst wenn das in den Begriffen erfaßte Verhältnis verstanden wird, wird der eigentliche Gedanke nicht verstanden. Zahn zeigt, daß Fichte aus einem Denken argumentiert, in dem nur die eigene Konstruktion in der Anschauung zählt, es sei hinzugeftigt, daß er damit die Argumentationsweise methodischen Denkens, wie sie mit Descartes begonnen hat, fortführt. Die kategorische Strenge des Denkens liegt in der eigenen N achkonstruktion, zu welchen die Zeichen der Sprache nur mehr oder minder genaue Anweisung erteilen können.

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Aber es war nicht diese kritische Einstellung zur Sprache, welche die Wirkungsgeschichte Fichtes in diesem Sektor charakterisiert, sondern gerade die Gedanken, auf die er, von seiner Interpersonalitätslehre aus in seiner Spätphilosophie stieß, sind es, die in die große Entwicklung der. Sprachphilosophie eingehen, wie aus dem Beitrag von Kurt Müller-Vollmer über Fichte und die romantische Sprachtheorie deutlich wird. Müller-Vollmers kühne These, daß sich, rivalisierend mit der transzendentalen Analyse des Ich aus dem Selbstbewußtsein, ein transzendentales Sprachmodell als Basis der transzendentalen Erkenntnislehre fände, wird gerade gestützt durch Fichtes positive Einschätzung der Sprache, gleichsam wider Willen. Außer dem Interpersonalitätsbewußtsein sind es danach zwei weitere Motive von Fichtes Lehre, die sich in seiner Nachfolge in der Sprachphilosophie auswirken: das konstruktive genetische Denkmodell, sofern es auch Verstehensgrundsätze mit sich bringt, und Fichtes Theorie der Einbildungskraft. Fichtes Ansätze zu einer Theorie der Verständigung, die nur Erkenntnisvermittlung in eigener Konstruktion zuläßt mittels "Wortfügung" nach sich bildenden allgemeinen grammatischen Regeln, läßt sich in den sprachtheoretischen Arbeiten von Bernhardi und Wilhelm von Humboldt wiedererkennen, insbesondere die fichtesehe Konzeption von Sprachfähigkeit und interpersonaler Wechselwirkung im sprachlichen Vorgang statt der Vorstellung kausaler Einwirkung der Sprechenden aufeinander. Die Bedeutung der dichterischen Sprachschöpfung als höhere Potenz der Sprache überhaupt bei den Schlegels wird nur verständlich aus Fichtes - nicht Schellings - Annahme, daß wir uns selbst nur begreifen über einen Freiheitsakt. Dabei muß die Lehre von der produktiven und reproduktiven Einbildungskraft im Hintergrund gesehen werden, durch die allein Sprache als Äußerung eines intelligiblen Wesens in der Sinnenwelt verstanden wird, da sich Sprache durch die Tätigkeit als eigene Leistung der Intelligenz nur in der doppelten Funktion der Einbildungskraft als produktive und reproduktive begreift, d. h. nur die Nachkonstruktion in der Einbildungskraft holt über die Zeichen symbolisch das Geistige sprachlicher Äußerungen ein. Wichtig für die Wirkungsgeschichte Fichtes ist auch Müller-Vollmers Nachweis der direkten Einwirkung von Fichtes Philosophie auf die Poetik Coleridges, womit neue Dimensionen der transzendentalphilosophischen Rezeption in England sichtbar werden. Wolfgang H. Schraders Beitrag deckt eines der vielen Vorurteile auf, die sich besonders in der sprachanalytischen Schule gegenüber der Transzendentalphilosophie und Fichte gebildet haben. Er weist nach, daß die Frage der Selbstbezüglichkeit nicht mit Fichtes Frage nach dem Ich und insbesondere nicht mit der "Tathandlung" identisch ist. Fichte behandelt freilich auch diese Frage und ein Teil der Referate, die der "angewandten Philosophie" gewidmet sind, befaßt sich auch mit Fichtes dies betreffender Lösung. Aber die Frage nach dem Ich als Prinzip der Philosophie oder dem "absoluten Ich" kann nur in psychologischer Mißdeutung als Selbstbezüglichkeit interpretiert werden. Sie setzt eigentlich Kants Prinzip des "Ich denke" als Ausdruck wirklichen Wissensvollzugs voraus und denkt insofern das Prinzip der Möglichkeit von Erkenntnis fort. Fichte hat jedoch nicht dieses Prinzip als bloße, wenn auch oberste, Bedingung der Erkenntnis verstanden, oder, wie bei C. L. Reinhold, als Prinzip der Beziehung alles Denkbaren auf die Vorstellung bezogen. Er hat nach Sehrader mit der "Tathandlung" einen postulativen Satz aufgestellt, der nicht im Selbstbewußtsein liegt, jedoch zur Erklärung von dessen Möglichkeit erforderlich ist. Dadurch ist freilich die Selbstbezüglichkeit in der praktischen Philosophie an ihn anzuknüpfen. Aber hiermit

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stehen wir in einem Bezug auf das Ich als Person, der nur in der praktischen Philosophie zu klären ist. Die Beziehung zwischen absoluten, theoretischen und praktischen Ich versucht Walter E. Wright hermeneutisch zu erfassen. Dabei geht es ihm um den zunächst paradox klingenden Nachweis, daß in Fichtes Versuch, die Philosophie auf den autonomen reflexiven Akten des Ich zu begründen, das Ich schließlich geradezu entthront wird. Identität des Selbst ist nicht individuell wirklich, sondern muß gefunden werden im Kampf mit der Welt. Als hermeneutisch erschließt sich ein solcher Zusammenhang nur, wenn die Evidenz der Vernunft - etwa im Sinne der Deutung Jacobis als "Vernehmen" gedacht 8 - über Fichte hinausgehend gedeutet wird als ein Selbstverständnis unter dem stehend das Ich sich selbst nur als vernünftige Identität bilden kann. Dieser Gedanke würde sinnvoll die Spätphilosophie aufschließen können, wenn dieser Begriff des Selbst, der am besten von Kumamotos Referat her erläutert wird, in der Spannung zur transzendentalen Begründung einer vom Ich ausgehenden freien Tätigkeit gesehen würde, wie sie sich mit Weischedels scharfsinniger Studie zum Fichtejahr 1962 Der Zwiespalt im Denken Fichtes konstatieren ließe 9 • Wrights zweite These, die von der Geschichtlichkeit des Bewußtseins, soll sich auch als verborgene Hermeneutik aus dem zwiespältigen Verständnis der Geschichte aus apriorischer Konstruktion und sich vollziehender Wahrheit geschichtlicher Selbsteinschätzung ergeben. Ein Denken, das Geschichtlichkeit darin gründet, daß sich das Denken der eigenen Epoche nicht über die Geschichte stellt, kann ich bei Fichte nur in der Christologie seiner letzten Geschichtskonzeption finden 10 • Auch in der Sprachphilosophie sucht Wright das verborgene, hermeneutische Konzept. Er findet es darin, daß Fichte einmal feststellt, die Menschen würden mehr durch die Sprache geformt, als die Sprache durch die Menschen, und dementsprechend die Sprache durchsichtig wird auf das in ihr sich darstellende individuelle Leben im Rahmen des Lebens der Menschheit als Bild Gottes. Diese in ständiger Auseinandersetzung mit der Hermeneutik Heideggers und Gadamers vollzogene Interpretation läßt freilich viele Fragen offen. Bis in welche Bereiche verborgene Motive im Fichteschen Denken verfolgt und fruchtbar fortgedacht werden können, zeigt der Versuch von Günter Schulte, übersinnliche Erfahrung als transzendentalphilosophisches Problem aus dem Tagebuch über den animalischen Magnetismus zu bestimmen. Auf die den klassischen transzendentalphilosophischen Horizont überschreitende Bedeutung dieser Aufzeichnungen Fichtes hat wiederum schon Heinz Heimsoeth aufmerksam gemacht 11 • Das Verständnis des Übersinnlichen, seit Kant aus der Erfahrung des Sittengesetzes zu entnehmen, wird nach Schulte, hier von Fichte umgekehrt, weil Fichte damit zugleich das Problem der Mitteilung zu verstehen sucht. Denn hierbei wird eine Willenshaltung vorausgesetzt, die die .eigene Tätigkeit vernichtet. Die Evidenz, die sich in einer solchen Aufgabe des individuellen Willens konstituiert, mißleitet Fichte selbst, nach Schulte, zwar zu einer "Physifizierung des Idealismus", läßt aber einem um den immanent verstandenen transzendentalen Ansatz Fichtes unbekümmerten Fortdenken die Möglichkeit, diese Erweiterung der Erfahrung zu übersinnlicher Erfahrung, eine Welt als mitgeteilte durch kontrollierte Individualitätsvernichtung zu konstruieren. Hierbei werden von Schulte Momente der Entindividualisierung tiefenpsychologisch aufgegriffen, von denen auch in Wrights Gedanken der "Entthronung" des Ich und in meiner Analyse des späten dialektischen Denkens Fichtes die Rede war.

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Ähnlich fruchtbare Impulse für eine Neubelebung und Weiterführung des fichtesehen Denkens zeigt Ludwig Siep an der Grundlage des Naturrechts auf. Siep fül;trt die Annahme von Brüchen in der Systematik dieser Schrift darauf zurück, daß man die transzendentale Methode nicht richtig verstand, und er nimmt deshalb die Rekonstruktion einiger schwieriger Übergänge vor. Es sind "Erfahrungen des Bewußtseins", deren Gegensätze Fichte zur Vereinigung bringt, wie z. B. den Gegensatz zwischen Aufforderung und Rechtsgesetz, zwischen Sicherheitsstreben des Individuums und Zwangsrecht des Staats. Es ist also eine dialektische Methode im Sinne meines Referats, gemäß der aus einer ,Logik der Erfahrung' argumentiert wird, und die im Unterschied zu Hegels dialektischer Methode steht, gemäß der das Bewußtsein auf jeder seiner Stufen einen Widerspruch erzeugt, der als eine "notwendige Reflexionsstufe des Selbstbewußtseins" begriffen wird. Die ,Aufforderung' verbindet -in Übereinstimmung mit dem Verständnis der Haltung des individuellen Ichs dabei als "Stille-Halten" bei Wright und Schulte - nach Sieps Interpretation nur zum ,Anerkennen', das durch die Logik eines Experimentes sich ergibt, in welchem das Individuum selbst am Anderen die Erfahrung macht, daß es anerkannt wird. Da diese jedoch von ,Treu und Glauben' abhängt, ist der Zwang zur Aufrechterhaltung der rechtlichen Sicherheit gerechtfertigt. Das entscheidende Problem interpersonaler Beziehung besteht darin, daß sie nicht aus der Einsicht ihrer Voraussetzung in jedem zwischenmenschlichen Handeln verpflichtend für eine Rechtsgemeinschaft wird. Daß sie dies auch nicht durch die je "faktische" Anerkennung werden kann - wie Siep bemerkt -, gestattet auch nicht, statt dessen historische Erfahrungen des Selbstbewußtseins anzuführen und diese zu einer ,Logik der Geschichte' auszuweiten. Es ergibt sich eigentlich nur, daß das interpersonale Verhältnis im Recht nur einen Akt des Vertrauens zeitigt, der auf gestischem Verständnis (Treu und Glauben) gründet - wie in meiner Eröffnungsansprache angedeutet-, nicht aber in bereits vollzogener wechselseitiger Anerkennung oder gar "herrschaftsfreier Kommunikation". Helmut Girndt stellt diese Lehre von der Aufforderung in die Auseinandersetzung mit dem Interpersonalitätsproblem in der Sozialphilosophie der Gegenwart. Er weist Parallelen zwischen Fichtes Interpersonalitätsgedanken und den posthum erschienenen Schriften zur Sozialphilosophie von G. H. Mead auf 12 • Wie Siep geht Girndt davon aus, daß die Struktur der Aufforderung erst realisiert wird, indem sich der Aufgeforderte auf die Aufforderung einläßt. Die dabei mit der Handlung vollzogene innere Nachahmung, deren Struktur als "Erfahrung des Bewußtseins" Siep erkennbar machte, erlaubt einen Vergleich mit der genetischen Ableitung des interpersonalen Selbst- und Identitätsbewußtseins bei Mead. Fichte vermeidet jedoch den Zirkel Meads, die Erwartung der Anerkennung als Potentialität des Bewußtseins strukturell aus der Genese der Wahrnehmung bei organischen Lebewesen abzuleiten. Die Interaktionsbeziehungen in einer Gruppe - das muß jedoch ergänzt werden - haben deshalb nur eine auslösende Funktion für die Konstitution des Selbstbewußtseins bei Fichte, wie auch das individuelle Pflichtbewußtsein nicht als Identität in der Selbstbestätigung durch Kommunikationsfähigkeit in einer Gruppe gefaßt werden kann. Girndt weist aber mit Recht auf die Frage, die bei Fichte offenbleibt, wieweit die konkrete Fassung der Pflicht durch die interpersonale Gemeinschaft oder ,Gruppe' geformt wird. Eivind Storheim geht mit einigen Argumenten Fichtes aus der Bestimmung des Menschen den Skeptizismus an, nachdem er deosen fruchtbare Funktion, zu neuen Problemlösungen zu treiben, gerade auch für die Transzendental-Philosophie, erläutert

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hat. Wie Siep und Girndt zwischen Aufforderung und Anerkennung ein nicht nur systemimmanentes praktisches Phänomen ausmachen konnten, durch dessen differenzierte Bestimmung Fichte die interpersonale Beziehung philosophisch allgemeinverbindlich akzeptabel macht, stellt auch Storheim mit dem Begriff des "Ernstes" ein Argument Fichtes gegen den Skeptizismus heraus, das nicht theoretisch aufgebaut und deshalb auch nicht widerlegbar ist. Das heißt, Fichte packt den Skeptiker bei den praktischen Konsequenzen seines Zweifels, durch die er seine theoretischen Gründe als Handelnder widerlegt. Da "Interesse" und "Ernst" notwendig sind, um überhaupt handeln zu können, wird durch solche "Minimal-Ethik" die Vermittlung antiskeptischer Einsichten praktisch stringent. Die eigentliche Überraschung der Tagung brachten die an die Interpersonallehre anknüpfenden Referate über die Probleme der politischen Philosophie Fichtes, sowie über die Rechts- und Wirtschaftslehre. Ausgehend von Karl Hahns zunächst provokant klingenden Thesen, nach denen in Fichtes politischer Theorie die Vorstellung von einem zentralistisch-technischen Zwangsstaat vorherrschend ist, der gegenüber Theorieansätze aus seiner Interpersonalitäts- und Freiheitslehre zurücktreten, bestätigten die Referate von Druet, Schottky und Hirsch immer deutlicher diese kritische Interpretation von ganz anderen Problemen aus, was sich wiederum nur aus der Annahme eines "Zwiespalts im Denken Fichtes" verstehen läßt. Hahn greift den von Hannah Arendt aus der antiken Vorstellung vom Handeln in den öffentlichen Angelegenheiten entwickelten ,Praxis'-Begriff auf 13 • Fichtes politische Theorie stellt sich von ihm aus als defizient an der Frage der Erzwingbarkeit des Rechts heraus. Das bedeutet nach unseren bisher erwähnten Überlegungen, die interpersonale Bedingtheit des "Rechtsgesetzes", welche die Vertragstheorie transzendental begründet, da sie überhaupt erst ein Handeln ermöglicht, kann zwar einem jeden nachgewiesen werden, ist aber damit zugleich nicht verbindlich akzeptiert für die tatsächliche Anerkennung in Bezug auf Eigentum, Freiheit und Sicherheit im Staate. Nach Hahn erliegt Fichte der Verführung, eine Lösung für dieses Problem in der instrumentell verstandenen "Mittel-Zweck-Rationalität" zu finden, mittels der sie in der Machtdelegation an den "herrschaftsstaatlich" verstandenen Regenten durchführbar werden soll. Hahn gesteht Fichte zwar zu, in seiner Spätphilosophie das sich dabei auftuende Dilemma erkannt zu haben, und auch den Gedanken der öffentlichen Kontrolle in der Vorstellung von Ephoraten als das Betragen sittlich beobachtender Instanz angedeutet zu haben. Für das Verständnis der sich hier entwickelnden Diskussion sei an Sieps Nachweis erinnert, daß es sich bei diesen Phänomenen wie "Aufforderung" und "Anerkennen" um "Erfahrungen des Bewußtseins" handelt, denen die nicht erzwingbare Voraussetzung der Gültigkeit des Rechtsgesetzes entspricht. Die zu vollziehende Bewußtseinseinsicht, die den "Übergang" von ihrer faktischen zur rechtlichen Wirksamkeit herstellt, kann nur ein Handeln sein, denn Fichte stellt fest: "nur Handeln ist ein solches gemeingültiges Anerkennen" (SW III, S. 47; GA I, 3, S. 353). Wenn Fichte hier auch nicht wesentlich weiter vordringt bei der Frage, in was für einem Handeln sich solche Anerkennung voilzieht, weshalb dieses Handeln meist in der Literatur - so auch bei Hahn 14 als sittliches fälschlich ausgelegt wird, so gibt es doch einige lichtvolle Hinweise auf den eigentümlichen Charakter des hier nach Fichte waltenden "Gesetzes der Konsequenz". Sie wurden vielleicht in diesem und den folgenden Referaten zu wenig beachtet.

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Druet versteht den Gegensatz von technisch rationalem Herrschaftswissen und interpersonal begründeter Freiheitsforderung aus dem Konflikt zwischen Wissen und Leben in Fichtes Philosophie. Er findet so apriorische Forderungen der Vernunft aus einem von ihm rein deduktiv verstandenen Rechtsgesetz und einen Politikbegriff, der Anwendung dieser Forderungen auf eine nur aposteriori erkennbare wirkliche geschichtliche Situation fordert. Diese Einschätzung der Politik zeigt sich wiederum zweifach, einmal in der mechanischen Anwendung genau deduzierter technisch-praktischer Regeln, welche die Domäne politischen Handeins minimalisiert und in seiner Lehre überwiegt, weshalb es Druet - conform mit Hahn - nicht für erlaubt ansieht, von einem eigentlich politischen Denken bei Fichte zu reden, und zweitens in der überschätzten Möglichkeit der schöpferischen Darstellung der Ideen in der Wirklichkeit. In der Bestimmung, daß die politische Philosophie Fichtes in dieser Spannung von Wissen und Leben zur Kristallation kommt, deutet sichjedoch ein Begriffvon politischen Denken an, den ich- im Unterschied zu Druet und den anderen Referenten zu dieser Problematik- durchaus in Fortentwicklung von Kants Begriff des "Erlaubnisgesetzes" sehe 15 • Das in der "Anerkennung" sich vollziehende "Gesetz der Konsequenz" gestattet darüber hinaus, sich an die im Handeln heraustretenden reellenFolgen zu halten, und die "Vernunftkunst", welche in ihnen das Rechtsgesetz durchsetzen soll, an diese Folgen des Handeins zu binden. Freilich setzt sich diese Konzeption von politischem Gesetz nicht gegenüber der technokratischen Denkweise durch. Mit dieser Feststellung bin ich zu der ersten sowohl philosophisch gründlichen als auch fachkundig orientierten Studie über Fichtes Wirtschaftstheorie von Hans Hirsch übergegangen. Hirsch bestätigt im Grunde den von Druet und Hahn festgestellten Widerspruch zwischen ,,rationalen Prinzipien" und "sittlichem Ideal". Ohne hier die eigentliche Darstellung der wirtschaftstheoretischen Prinzipien, die Fichte leiteten, vorwegzunehmen, sei nur auf die Schwierigkeiten hingewiesen, welche sich symptomatisch aus Fichtes streng rationalem Aufbau eines planwirtschaftlichen Systems ergeben. Die organisatorische Rechtsregelung wirtschaftlicher Beziehungen macht um der Gleichheitwillen gerade die rechtliche Freiheit als Voraussetzung sittlicher Entfaltung nach Hirsch unmöglich. Die Übersteigerung der Vernunftanforderung, den Freiheitsraum zu garantieren, hinwiederum führt zu einer verhängnisvollen Verwechselung von Garantien für wirtschaftliche Tätigkeit und Erfolgsgarantien. Hirsch sieht darin eine Fichtes sittlicher Grundkonzeption vom Menschen widersprechende Denkweise, die auch die theoretischen Gewaltsamkeiten seiner wirtschaftlichen Ordnungsvorstellungen hervorbringt. Jedoch ist auch zu betonen, daß Fichte selbst meist die Gegeninstanzen entwickelt hat, selbst wenn nur in systematisch unzulänglicher Form. Der Begriff des "Erfolges" z. B. wird in der Anweisung zum seligen Leben als Maßstab zur Beurteilung eines Handeins untauglich erklärt, da hier das Mittel als Zweck dient, das sittliche Handeln als dieses Mittel aber nicht aus der objektiven Beschaffenheit der Ereignisse erkannt werden kann (vgl. SW V, S. 524). Auch die Konzeption von Eigentum als ,ausschließendes Recht auf bestimmte Tätigkeit' braucht nicht als Einengung auf berufsständische Wirksamkeit verstanden werden, was Hirsch mit Recht kritisiert, sondern läßt sich nach anderen Äußerungen auch als "Talent" verstehen, dessen Erfolg darin besteht, wie man etwas tut, nicht, was man tut (vgl. SW V, S. 527, VI, S. 417). Zugegeben, diese Gedanken sind nicht eigentlich entwickelt, aber sie zeigen Fichtes Fähigkeit zur Selbstkorrektur. Als solche ergibt sich etwa auch, daß beim erwirtschafteten Gewinn die "Muße" ihre eigentliche Funktion im Arbeitsprozeß

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selbst hat, nicht als durch die Arbeit geschaffene Freizeit, wie eine Bemerkung Fichtes, daß der Gebildete den Acker anders bebaut als der Ungebildete - in der Rechtslehre von 1812 - beleuchtet 16 • Aber das bleiben Nebengedanken, und mit Hirsch ist nur als die entscheidende positive Einsicht Fichtes festzuhalten, daß Fichte Rechtsordnung als Wirtschaftsordnung begreift. Schottky zeichnet sehr genau die Entfaltung von Fichtes Gedanken zum Völker· recht nach. Paradoxerweise wird die Stringenz des Fichteschen Denkens gerade an den "Aporien" deutlich, die Schottky schließlich zu der Vermutung bringen; daß hier "antinomische, möglicherweise tragische Strukturen der Sache selbst [ ... ] manifest werden". Die Schwierigkeiten, die in Fichtes politischer Philosophie auftauchen, lassen sich also nicht allein auf unangemessenes Methodenbewußtsein zurückführen. Die man· gelnde rechtliche Begründbarkeit des Vökerrechtsgedankens, mit der wir ja heute, ak· tueller denn je, konfrontiert sind, bringt Fichte zu verschiedenen Entwürfen einer Si· cherung des Völkerrechts durch Garantien. Eine Schlüsselstellung nimmt hierbei für Schottky der Machiavelli-Aufsatz ein, in dem die Bejahung der Machtpolitik aus dem Recht des Stärkeren durch eine ethisch bewertete, jedoch antisittliche Verantwortung des Regenten begründet wird, die dann in den Reden an die deutsche Nation im Be· griff der Nation als Bedingung der Erscheinung des Göttlichen ihre inhaltliche Recht· fertigung in den spezifischen Tugenden der einzelnen Nationalgeister erhalten soll. Es ist besonders hervorzuheben, daß Schottky mutig und zugleich nüchtern die Problema· tik der vitalistischen HypermoraJen ,jenseits von gut und böse' aufgreift, die seit ihrer nationalistischen Kolportage immer noch der gedanklichen Bewältigung harren. Schottky deutet die "geistige Natur" in solchen sittlich-religiös verstandenen Indivi· dualitäten als Anerkennung realpolitischer Zwänge, denen eine doch hier und da auch in Fichtes Überlegungen durchbrechende "List der Vernunft" zur Verwirklichung ver· hilft 17 • Reinhard Lauth hat eine andere Deutung der ,,geistigen Natur" gegeben, nach der sie ein supralogisches, aber logisch verbindliches geistiges Gesetz darstellt, das die Äußerungen materialer sittlicher Strukturen bestimmt 18 • Wir sehen, welche Probleme sich hier anschließen. Ich habe meinerseits den Begriff der Nation als Bedingung der Konkretisierung der Erscheinung geistig-sittlichen Lebens aus einer systematischen Unklarheit des Bedingungsbegriffs kritisiert 19 • Daß sich andere Möglichkeiten des Verständnisses solcher Ansätze Fichtes zu einer ,neuen Sittlichkeit' darstellen lassen, zeigen die Referate von Verweyen und Manzana. Von der zusammenfassenden Umrißvorlesung von 1810 ausgehend, versucht Verweyen deutlich zu machen, daß der phänomenologische Teil der späten Wissenschaftslehren nach Fichte die Erfüllung in einer Lebenspraxis finden sollte. Den theoretischen Um· riß dazu findet Verweyen in der Bildlehre, d. h. der Darstellung des Bildes Gottes in der Wirklichkeit. Sie wird von Verweyen vorsichtig ergänzt durch Skizzierung der An· sätze zu einer vertieften Interpersonalitätslehre. Sie ergibt sich aus dem oben erwähn· ten Begriff von ,Natur', demgemäß diese nicht mehr bloßes Material, Stoff für die sitt· liehe Bearbeitung ist, sondern Ursprünglichkeit, die sich gesetzmäßig in Individuen ent· faltet und in "einer allgemeinen Übereinstimmbarkeit" interpersonal das Verständnis der Individualitäten füreinander enthält. Über die hiermit verbundenen Möglichkeiten der Lösung ,,gesellschaftlicher Basisprobleme", sowie die damit verbundene Thematik einer "ethischen Teleologie" 20 wurde in den Diskussionen, nicht nur zu diesem Vortrag, manches ergänzt.

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Obwohl J ose Manzana von dem zentralen Gedanken der Spätphilosophie, d. h. dem Absoluten und seiner möglichen Konzeption im transzendentalphilosophischen Rahmen ausgeht, ist sein Beitrag auf die Darstellung der praktischen Philosophie Fichtes in dieser ihrer letzten Phase gerichtet. Unter diesem Aspekt steht deshalb systematisch gesehen der Begriff der "Synthesis der Geisterwelt" im Mittelpunkt. Manzana differenziert dabei zwischen Intersubjektivitätslehre als Lehre von der Voraussetzung anderer Iche in der Sphäre rechtlicher Verständigung und damit als Bedingungen des menschlichen Verstandes überhaupt und Interpersonalitätslehre als Lehre vom nicht objektivierbaren Zusammenhang aller Individuen in einer intelligiblen Welt. Manzana sieht diese Interpersonalitätslehre als "Synthesis der Geisterwelt" erst von Fichte vollzogen, nachdem dieser das Begreifen des Absoluten als unbegreiflich im Sich-Vernichten des Begriffs versteht. Damit eröffnet sich Fichte nach Manzana die Möglichkeit, die Darstellung des Göttlichen in der Erscheinung zu begreifen. Diese "höhere Intersubjektivitätslehre", die auch Verweyen nachzuzeichnen suchte, soll nun nach Manzana zu einer Neuorientierung der praktischen Philosophie führen, die er in 10 Thesen formulierte. Nach ihnen soll sich insbesondere eine freie Kommunikation einer Gemeinschaft von Einzelnen ergeben, die nach Devisen leben, wie "Sei du selbst!" oder "handle wie niemand!". Mit ihr wäre der "Imperialismus" des Individuums, wie er wohl die vom Herrschaftsgedanken konzipierten Gesellschaftslehren kennzeichnen soll, endgültig abgelöst. Doch führen auch diese "utopischen" Überlegungen schließlich wieder in die Nähe der mehrfach erwähnten konkreten Vorstellungen Fichtes von freimaurerisch symbolisch verbundenen Gemeinschaftsbildungen. Es bleibt eine Gruppe von Beiträgen zu betrachten, die den historischen Standort der Philosophie Fichtes zu bestimmen versuchen. Aber auch sie betrachten Fichtes Lehre nicht als historischen Forschungsgegenstand, sondern unter dem Gesichtspunkt ihrer Möglichkeiten für das gegenwärtige Philosophieren. Einige solcher problemgeschichtlicher Betrachtungen, z. B. in den Referaten von Girndt, Schüssler, Müller-Vollmer, Tilliette und meinem eigenen, wurden schon in Verbindung mit bereits besprochenen Themenbereichen berücksichtigt, obwohl sie im Tagungsband ihren Platz in der III. Abteilung haben. Das ergab sich für die noch nicht behandelten Referate nicht, weil ihre Thematik mehr auf Fragen bezogen ist, welche die Philosophie Fichtes nicht so nachdrücklich stellt, oder welche erst die Philosophie der Gegenwart entwickelt hat. Naylors Beitrag erörtert die Möglichkeiten für eine Verbreitung des transzendentalphilosophischen Denkens im anglo-amerikanischen Kulturbereich, ausgehend von der Tradition solchen Denkens im New England Transcendentalism und bei den St. Louis Hegelians. Den Ansatzpunkt findet er in dem von der Transzendentalphilosophie Fichtes entwickelten und der amerikanischen Denkhaltung angemessenen Wechselbezug von theoretischer und praktischer Philosophie, der aber in den genannten Traditionen nicht rezipiert wurde. Insbesondere aus der dynamisch-aktivistischen Interpretation des kantischen kategorischen Imperativs in der neueren amerikanischen Kantforschung könnte sich nach Naylor ein Übergang zu der aktiven Denkmethode Fichtes ergeben, die eine theoretisch-praktische Denkeinheit konsequent aus dem transzendentalen Gedanken entwickelt. Fichtes genetisches Begreifen, erläutert an seiner dialektischen Methode, die hier nicht formal verstanden, sondern als analytisch-synthetische Wechselbeziehung auch - ergänzend zu meinen eigenen Betrachtungen - in ihrer Anwendung auf die praktische Philosophie gedeutet wird, würde nach Naylor einen Denkstil ermög-

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liehen, der noch über Fichte hinaus Praxis wieder als umfassende Einheit eines Lebensvollzugs möglich machen könnte, und der nicht nur von der Einseitigkeit der TheoriePraxis-Trennung, sondern auch von der einer Praxis-Poeisis-Trennung seit der griechischen Philosophie frei wäre. Gegenüber allen pragmatischen und wissenschaftsneutralen Verengerungen könnte das zu einer Humanisierung der Praxis führen, die sich als einziger Ausweg aus dem Dilemma der westlichen Welt darstellt. Auch J. Douglas Rabb empfiehlt Fichtes Idealismus als gründlichere Anwort auf eine Reihe von Fragen, die das amerikanische Denken der Gegenwart bewegen. Insbesondere argumentiert er damit gegen den theoretischen und praktischen Materialismus, den Fichte deutlich unterschieden und mit unterschiedlichen Überlegungen widerlegt habe, und gegen die gedankliche Unverbindlichkeit des Pragmatismus, gegen den auch der Existentialismus nach Rabb angetreten ist, nur nicht mit so durchdringenden Argumenten. Bei aller Originalität seiner philosophiegeschichtlichen Deutung scheint Tom Rockmores Studie zu Fichtes Erkenntnislehre und der Idee der Philosophie von den klassischen amerikanischen Denktraditionen auszugehen. Anders läßt sich nicht erklären, wie er den Gedanken Fichtes in der Grundlage und der Begriffsschrift, daß ein erster Grundsatz selbst nicht begründet oder bewiesen werden kann, nur als Auflösung eines Konzeptes von Erkenntnisbegründung versteht, welches die abendländische Philosophie sonst fast ausschließlich beherrscht habe, wenn es auch nie seine Beweisfunktion erfüllt habe. Rockmore konfrontiert diese von ihm nur in ihrem negativen Teil verstandene Einsicht Fichtes mit den Problemlösungen, die er auf Descartes und Platon zurückführt und in den wichtigsten anderen philosophischen Positionen, wie etwa der Spinozas, Kants und Hegels glaubt nachweisen zu könne. Diese skeptische Bewertung erfüllt nur den Sinn, die Einzigartigkeit des fichteschen Wahrheitsbegriffs gegenüber den Möglichkeiten, Erkenntnis statt dessen mittels Rekurs auf ausgesprochene oder unausgesprochene Axiome zu begründen, deutlich zu machen. Die bereits bei den Zeitgenossen auftretende Divergenz der Beurteilung der Wissenschaftslehre Fichtes als Denken in der Nachfolge Kants oder als Bruch mit allem vorherigen Denken spiegelt sich auch noch in unserem Band wieder. So weist Marek J. Siemek die Kontinuität des transzendentalen Gedankens im Übergang von Kant zu Fichte gegenüber dem vorher erwähnten Beitrag nach. Ja, er stellt überhaupt erstmals vom systematischen Zusammenhang her das Aufgreifen des transzendentalen Denkens bei Fichte aus dem von Kanterstin seinem kritischen Werk nach und nach voll entfalteten transzendentalen Ansatz genau dar. Transzendentales Denken gelangt, indem es nach den Bedingungen möglicher Erfahrungen fragt, zur .,Relation zwischen Wissen und Sein" und damit zu einer .,Ontologie des Wissens", die den Grund des Wissens vor der Subjekt-Objekt-Spaltung sucht. Während die unmittelbare Kantrezeption aus dem Subjekt-Objekt-Schema Kant weitgehend mißversteht, ergreift erst Fichte den transzendentalen Gedanken Kants und führt ihn systematisch durch. Siemek schließt aus diesem transzendentalen Gedanken Fichtes Entwicklung bis zur Grundlage, die Selbstzeugnisse über seine Kant-Nachfolge und seine Begriffe wie .,Tathandlung", .,intellektuelle Anschauung" usw. überzeugend auf. Selbst das .,Ich" wird als vorbewußter und deshalb nicht prädikativ oder reflexiv greifbarer theoretisch-praktischer Grund verstanden, durch den die Erkenntnis erst sich und die Welt begreifen kann. Wenn irgendwo Reinhard Lauths Idee des Transzendentalen voll bestätigt wurde, so in dieser überzeugenden ,historischen' Nachkonstruktion des transzendentalen Gedankens.

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Johannes Schurr entwirft aus diesem Begriff ebenso konsequent die Aufgabe einer transzendentalen Bildungstheorie. Dabei gibt er zu, daß Fichte eine solche nicht selbst gegeben hat, trotz oder vielleicht gerade wegen seines unmittelbaren pädagogischen Engagements. Denn eine transzendentale Bildungstheorie hat die Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis von Bildung anzugeben, nicht Bildung selbst durch Erziehung zu vermitteln. Insofern findet Schurr am ehesten in der Wissenschaftslehre von 1804 Ansätze zu einem solchen Begriff von Bildung, die im rein theoretischen Aufstieg zu den Bedingungen der Verwirklichung der Bestimmung des Menschen vollzogen werden müßte. Die begriffliche Fassung dieser Aufgabe, die Schurr nach der Gliederung von Kants kritischem Hauptwerk vornimmt, zielt auf eine Erkenntnis, die sich nicht in den Dienst von Interessen stellen läßt. Sie ist auf den Menschen als denkend existierendes Wesen ausgerichtet, weswegen die Wahrheit seiner jeweiligen gesellschaftlichen Rolle nur aus dem Begreifen seiner geistigen Bestimmung entnommen werden kann. Hieraus ergibt sich eine Kritik im Sinne Kants als Voraussetzung begriindeter Bildungskonzeptionen, die auf Fichtes Interpersonaltheorie zurückweist. Aus dem systematisch verstandenen Problem des Aufbaus der Wirklichkeit in der Kant-Nachfolge greift John Lachs die idealistische Lösung der bei Siemek behandelten transzendentalen Frage nach dem Grund des Wissens auf. Er versteht die Nachkonstruktion der Wissenschaftslehre Fichtes, sofern sie die der Erkenntnis korrespondierende Welt betrifft aus einer Identifikation der Gedankenentwicklung des Philosophen mit der schöpferischen Tätigkeit eines überindividuellen Selbst. Die dabei auftauchende zentrale Bedeutung der Aktivität geht nach Lachs bereits auf Aristoteles zurück, der auch schon damit sein Modell der Genese der Wirklichkeit entwirft. Das neue bei Fichte aber ist das Verständnis der Welt als Produkt einer solchen Aktivität, die als Bewußtseinstätigkeit eines Subjektes erscheint. Der philosophiegeschichtlichen Erschließung der Bedeutung Fichtes dienen in besonderem Maße die Referate von Garewicz, Buhr undjuan Cruz.jan Garewicz macht uns dankenswerterweise mit einer Schule der polnischen Philosophie vertraut, die ihren Ausgang vom deutschen Idealismus nahm und dabei an Fichtes Gedanken anknüpfte oder auf seine Gedanken zurückgeführt wurde. Die von ihm vorgestellten Denker standen nämlich in der Nachfolge der hegelschen Schule und gelangen deshalb meist nicht zu einer angemessenen Kenntnis der originären Philosophie Fichtes, wie Garewicz an Trentowski deutlich macht. Trotzdem finden sich bei ihnen manche Gedanken, die in Wirklichkeit die fichtesehe Position aufnehmen. Das gilt zunächst schon für den zentralen Begriff der dieser Schule den Namen gegeben hat, den Begriff der Tat. Er wird von der Autonomie des Willens her konzipiert, wenn er auch bei ihnen - unterschiedlich zu Fichte - nicht als Ursprung, sondern als Ziel des philosophischen Systems fungiert. Aber, wie Verweyen gezeigt hat, bekommt er auch bei Fichte eine neue Bedeutung in der Philosophie der Gesellschaft und Geschichte 21 . Parallel ist ferner der von Garewicz treffend als chiliastisch charakterisierte Volks- und Nationsbegriff dieser Denker, wie auch die daran anschließende Vorstellung der Verflößung Gottes in die Welt. Sie wird bei Leibeltals künstlerische Verwirklichung des göttlichen Lebens in der Welt begriffen und erscheint so den Gedanken Fichtes in der Anweisung zum seligen Leben und in der späten Vorlesungsreihe über die Bestimmung des Gelehrten von 1811 nahe. Auch die Kritik an der von Hege! entwickelten Geschichtsphiloso-

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phie, welche die individuellen Leistungen des Menschen betont und auf ihnen die Entwicklung der Geschichte aufbaut, führt in fichtesehe Denkbahnen zurück. Mit einer ähnlichen indirekten Nachwirkung Fichtes, und zwar gerade seines Individualitätsgedankens, beschäftigt sich das Referat vonJuan Cruz. Er verfolgt die Weiterentwicklung des Individualitätsgedankens in der badischen Schule des Neukantianismus. Die systematische Kraft von Fichtes Philosophie bewährt sich gerade darin, daß sie im Fortdenken der kantischen Kategorien die Individualität als Ausdruck eigener logischer Ordnungszusammenhänge den Anschluß an Fichte wählt. Hatte Fichte bereits den Sinn des "Sollens" als "Andersseinkönnen" im Sinne einer positiven vernünftigen Bestimmung entdeckt, so baut - wie es Cruz klar umreißt - die badische Schule diesen Begriff zur Vorstellung einer Allgemeinheit aus, die nur Mittel, wohingegen ihre Darstellung in der Individualität Ziel ist. In der Geschichte kommt dem Individuum so Allgemeinheit nicht als Inhalt eines Begriffs, sondern als Wirklichkeit zu. Freilich ist mit dieser Fortentwicklung zugleich auch eine Verengerung des von Fichte Intendierten verbunden. Das zeigt Cruz' Charakterisierung der unterschiedlichen Art, wie der Neukantianismus und Fichte Notwendigkeit mit autonomer Freiheit zusammendenken. Die ethische Ansicht der Individualität bedeutet nicht Verherrlichung des Selbst, sondern Selbstbeherrschung. In ihr wird die sinnliche zufällige Individualität dem sittlichen Gesetz untergeordnet und ist dadurch vernünftig begründet. Dagegen ist ein Begreifen der großen Individualitäten als geschichtlicher Gestalten, wie es der Neukantianismus vollzieht, immer nur ästhetisch und faßt die geschichtliche Logik zu kurz. Das wird deutlich aus dem R:eferat von Manfred Buhr, der mit Recht auf das Problem von Freiheit und Notwendigkeit weist, und die Gesetzlichkeit, die dem Individuum durch die Praxis auferlegt ist, betont. Auch wenn man Buhrs marxistischer Interpretation der fichteschen Philosophie in Analogie zum gesellschaftlichen Prozeß der Zeit nicht folgen kann, so darf doch die bei Fichte ständig präsente Beziehung der Theorie auf die Praxis nicht vernachlässigt werden bei den Ableitungen in scheinbar nur theoretischen Zusammenhängen. Der von Buhr zitierte Brief Fichtes an Achelis bringt die Abwendung von der Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und die Hinwendung zur theoretischen Wirksamkeit nicht in einer Verzichthaltung zum Ausdruck, wie dies immer wieder angenommen wird, sondern bedeutet Selbstfindung aus einem religiösen Ergriffensein von der Pflicht. Wie wenig damit Verzicht auf Praxis gemeint ist, wird von Buhr betont. überhaupt, selbst die wenigen Referate, die den fichteschen Standpunkt nicht teilen, eröffnen durch eine streng systematische Gegenüberstellung produktive Möglichkeiten, das fichtesehe Denken zu entwickeln. So geht das Referat von Errol E. Harris unter Vernachlässigung der meisten ausdrücklichen Stellungnahmen Fichtes zu Spinoza streng der Frage nach, ob Fichtes Konzeption der Welt der Erfahrung aus der Analytizität des Bewußtseins durchführbar sei. Er prüft also gewissermaßen die von Lachs aufgestellte Deutung. Fichtes Einsicht geht nach Harris aber nur bis zum dialektischen Ansatz, daß keine Analyse ohne Synthese und keine Synthese ohne Analyse sei. Er entwickelt aus diesem Ansatz nicht das Bewußtsein der umgreifenden Einheit, die das Ganze ist, und versteht deshalb auch letztlich den Spinozismus nicht. Das Gegenbild, das Harris Fichtes unangemessenem Spinozaverständnis als sein eigenes, zugegeben unorthodoxes Verständnis von Spinoza entgegenstellt, enthält die Vorstellung von einem organischen Determinismus, der sich im menschlichen Bewußtsein als darauf

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vorbezogen, zur Freiheit in adäquater Erkenntnis entwickelt. In seiner Spätphilosophie soll Fichte mit der Vorstellung vom Sein Gottes, außer dem nur seine Erscheinung ist, diese Zusammenhänge beinahe annähernd erfaßt haben, vollkommen dagegen erfaßt habe sie erst Hegel. Man wird freilich dieser in der Nachfolge Hegels stehenden, aber doch genuin philosophischen Konzeption entgegenhalten müssen, daß Fichte gerade in der Spätphilosophie die Kritik an Spinoza aufrechterhalten hat, weil er nicht das Be· wußtsein im Sein untergehen lassen wollte, um mich mit Jacobi auszudrücken. Hier greifen die oben erörterten Gedanken der Wissenschaftslehre von 1810 ein, die in Adolf Schurrs Referat vorgestellt wurden. Erich Heintels Beitrag sucht von einem fundamentalphilosophischen Standpunkt aus die Grenzen der Transzendentalphilosophie abzustecken. Sie liegen für Heintel in der Frage nach der Natur als Organismus oder als Begriff, sofern dieser dem Subjekt als "daseiendem" Begriff zu Grunde liegt. Insofern steht diese Konzeption dem von Harris entwickelten dialektischen Modell, die Substanz als Subjekt aus dem Organismus zu verstehen, entgegen. Aber Heintel hält auch den Weg, vom transzendentalen Ansatz aus zu einem aus dem Bewußtsein als "Begriff' zu erkennenden Inneren der Natur als Bedingung des Ich, einen Weg, den Schelling zu gehen versucht, von Kant her für versperrt. Dieser Tatsache hat allein Fichte im Unterschied zu Schelling und Hegel Rechnung getragen, stellt Heintel im Anschluß an Lauth fest. Holger jergius machte jedoch in der Diskussion auf eine Erweiterung der transzendentalen Denkweise aufmerksam, die Fichte in Anschluß an Kant in der Grundlage des Naturrechts vornimmt. Nach ihr müßte, wie Heintel feststellt, das organische Modell sich transzendental rechtfertigen lassen - eine Rechtfertigung, möchte ich hinzufügen, die sich aus dem Handeln, sofern es Äußerung eines Organismus ist, durchaus vornehmen lassen müßte. In seiner Schlußrede entwarf Reinhard Lauth ein Bild von den Aufgaben einer künftigen Fichte-Forschung und erörterte einige neuere Arbeiten zu solchen weiter zu erforschenden Bereichen der Fichteschen Philosophie. Der Brief von Hans Hirsch an Reinhard Lauth wurde im Anhang beigegeben, weil er Fragen Lauths in der Diskussion, die spezifischen Aussagen Fichtes zur ökonomischen Theorie betreffend, vom wirtschaftswissenschaftlichen Standpunkt aus betrachtet und damit die philosophisch eingebundene Beurteilung in Hirschs Referat ergänzt.

Anmerkungen 1. Darstellung der Wissenschafts/ehre. Aus den fahren 1801/02. Herausgegeben sowie mit Einleitung und Anmerkungen versehen von Reinhard Lauth unter Mitwirkung von Peter K. Schneider Harnburg 1977 (Philosoph. Bibi. 302). 2. Vgl. GA li, 5- Nachgelassene Schriften 1796-1801. 3. Siehe NS li, S. 340 ff. 4. Thomas P. Hohler, lntellectual Intuition and the Beginning of Fichte's Philosophy, a new Interpretation, in: Tijdschrift voor Filosofie. Bd. 37 (1975), S. 52-73. 5. Vgl. dazu Joachim Widmann, Analyse der formalen Strukturen des transzendentalen Wissens in ]oh. Gott/. Fichtes 2. Darstellung der Wissenschaftslehre von 1804. (1.-D.) München 1961; und die erweiterte Darstellung desselben Themas.: Die Grundstruktur des transzendentalen Wissens nach ]oh. Gottl. Fichtes Wissenschaftslehre 1804 2 • Harnburg 1977, sowie die prägnante Kurzfassung des Themas in: La structure interne de Ia WL de 1804, in: Archives de Philosophie. Tome XIV, Cahier 111-IV (1962), S. 371-387.

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6. Vgl. Max Wundt, Fichte-Forschungen. Stuttgart 1926, Nachdruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1976. 7. Chukei Kumamoto, Der Systembegriff vom Licht beim späten Fichte, in: Philosophische Zeitschrift 1973, herausgegeben von der Universität Hiroshima,Japan (japanisch). 8. Diesen Hermeneutikbegriff bei J acobi hat Marco M. Oiivetti in: L 'esito teleologico della filosofiiJ dellinguaggio di]acobi. Padova 1970, herausgearbeitet. 9. Wilhelm Weischedel, Der Zwiespalt im Denken Fichtes. Berlin 1962. 10. Vgl. Klaus Hammacher, Comment Fichte accede l'histoire, in: Archives de Philosophie. Cahier III-IV (1962), vorzüglich die Paragraphen "L'avenement - l'historicite - dans lc dernier schema d'epoque" und "Le Christ comme point tournant de l'histoire", S. 430-440. 11. Vgl, Heinz Heimsoeth, Fichte. München 1923, S. 185, 223. 12. G. H. Mead, Mind, Sel[, and Society, 1934. Deutsch: Geist, Identität und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1968. - Ders., The Philosophy of The Present. 1932. Deutsch: Philosophie der Sozialität. Frankfurt/M. 1969. 13. Vgl. Hannah Arendt, Vita activa. Stuttgart/München 1960. 14. Vgl. Kar! Hahn, Staat, Erziehung und Wissenschaft bei]. G. Fichte. München 1969. 15. Vg1. dazu jetzt meinen Beitrag: Ober Erlaubnisgesetze und die Idee sozialer Gerechtigkeit im Anschluß an Kant, Fichte, ]acobi und einige Zeitgenossen, in: Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte. Reinhard Lauth zum 60. Geburtstag. Herausgegeben von Klaus Harnmacher und Albert Mues. Stuttgart-Bad Cannstatt 1979. S. 121-141. 16. Die Rechtslehre von I812 (kritische Ausgabe von H. Schulz, S. 47; SW X, 536. 17. Vgl. dazu meinen oben angegebenen Aufsatz: Comment Fichte accede l'histoire. S. 423ff. 18. J. G. Fichte, Reden an die deutsche Nation, (Phi!. Bibi. Bd. 204) Harnburg 1978, S. XX ff. und Reinhard Lauth. L'Action historique d'apres La philosophie transeendentale de Fichte, in: Bulletin de Ia Societe fran~ise de Philosophie. Tome LXXI ( 1976). S. 51 ff. 19. Vgl. Klaus Hammacher, Die Philosophie des deutschen Idealismus - Wilhelm von Humboldt und die preußische Reform. Ein Beitrag zum Problem von Theorie und Praxis, in: Universalismus und Wissenschaft in Werk und Wirken der Brüder Humboldt. Herausgegeben von Klaus Hammacher. FrankfurtfM. 1976. S. 120 f. 20. Dieser Begriff wurde von mir grundlegend in die Diskussion Fichtes eingeführt in meiner philosophischen Erstlingsarbeit: Die ethische Teleologie in Fichtes System als Grundlage seiner Geschichtsphilosophie. (1.-D.) Köln (Aachen) 1958. 21. Siehe Hans-Jürgen Verweyen, Recht und Sittlichkeit in ]. G. Fichtes Gesellschaftslehre. Freiburg/München 1975. Vornehmlich S. 184 ff.

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Es ist wohl vernünftig, an den Anfang dieser Tagung die Frage nach der grundlegenden Position zu stellen, die der Wissenschaftslehre nach ihrem Selbstverständnis zukommt. Damit verbindet sich für ein - nicht nur philosophiehistorisch, sondern - philosophisch orientiertes Denken die weitere Frage, was diese Position für das wissenschaftliche Philosophieren in seiner gegenwärtigen Entwicklung bedeutet. Es kann meines Erachtens nicht zweifelhaft sein, welches die Antwort auf die erste Frage sein muß: die alles andere tragende wesentliche Position der Wissenschaftslehre ist der Ansatz bei der transzendentalen Einheit. Unter dieser transzendentalen Position ist aber keineswegs bloß die Einsicht zu verstehen, die die Bedingtheit des vorgestellten Objekts vom Subjekt durchschaut, auch nicht bloß die Vermittlung des Realismus und Idealismus in einer höheren Einheit. "Ich nenne alle Erkenntnis transzendental", sagt Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft, "die sich nicht sowohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, sofern diese a priori möglich sein soll,[ ... ) beschäftigt". "Ein System solcher Begriffe würde Transzendental-Philosophie heißen". "Eine solche Wissenschaft [müßte) sowohl die analytische Erkenntnis, als die synthetische a priori vollständig enthalten" 1 • Kant wollte vorbereitend für eine solche Transzendentalphilosophie als Doktrin unser Erkenntnisvermögen kritisch sichten und dessen Leistungen zum Zustandekommen der Erkenntnis aufzeigen. Nur dadurch, war Kant fest überzeugt, könnte einem unwissenschaftlichen Dogmatismus vorgebeugt und auf einem neuen, haltbaren Wege Metaphysik als Wissenschaft erreicht werden. Damit ist ein Begriff von Philosophie bezeichnet, der auch derjenige der Wissenschaftslehre ist, die Position einer Einheit von Gnoseologie und Metaphysik, die unter keinen Umständen aufgelöst werden darf. Es soll nichts in Ansatz gebracht werden, wovon man nicht ausweisen kann, wie man weiß, daß es so ist, wie ausgesagt wird. Dieser transzendentale Gedanke ist es, der Fichtes Wissenschaftslehre von Schellings und Hegels Systemen trennt. Schelling hat es schon in den ersten Schriften, die er veröffentlichte, mehrfach gesagt, daß nach seiner Auffassung das Geschäft der erkenntnistheoretischen Fundierung durch seine Vorgänger geleistet sei; und Hege! preßt seine Grundidee der Identität der Identität und Nichtidentität, die er aus_ rein metaphysischen Untersuchungen der Religion gewonnen hat, in seiner Differenz-Schrift auf den gnoseologischen Grundansatz der Wissenschaftslehre auf2 • Nach Fichte hingegen kann die Bestimmung des das Nicht-Ich verarbeitenden Ich nur aus dem transzendentalen Wissen heraus erfolgen. Derselbe Gedanke, daß metaphysische Positionen nur aus einem geistigen Gange heraus zu gewinnen sind, der zuerst die Erkenntnismöglichkeit sichert, wurde von Descartes zur Basis der Philosophie der neuen Zeit gemacht. Dies läßt sich schon rein äußerlich daraus ersehen, daß er in seinem Hauptwerk 3 keine ontologische Metaphysik zur Darstellung bringt, sondern eine Erkenntnisbegründung vollzieht, aus der sich zugleich eine Metaphysik ergibt. Im Sinne dieser transzendentalen Position konnte Kant

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später schreiben, daß "die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung überhaupt [ ... ] zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung" sind4 . Es kann, verlangt die transzendentale Methode, immer nur von einem cogito, es darf niemals von einem bloßen esse ausgegangen werden. Jedes esse, das gelten sollte, müßte immer erst in einem cogito erkenntnistheoretisch gesichert werden. "Es kann nicht von einem Sein [ ... ], gesetzt auch, man nennte es Vernunft, sondern es muß von einem Sehen ausgegangen werden", schrieb Fichte in dem großen Brief von 180 I, in dem er seinen Gegensatz zur Identitätsphilosophie voll aufdeckte, an Schelling 5 • So konnte auch Descartes nur vom cogito und dem dieses fundierenden Deus est aus metaphysische Sätze begründen. Um vieles deutlicher wurde die Notwendigkeit eines solchen Vorgehens noch durch Kants detaillierten Nachweis der konstituierenden Leistungen der Erkenntnisvermögen, in welchen allein die scheinbar ontologisch unmittelbare Sache gegeben ist. Die Realität als eine An-sich-Wirklichkeit läßt sich im Vorstellen gar nicht von ihrem Gewußtsein trennen. "Alle Philosophie bis auf Kant hatte zu ihrem Gegenstande das Sein", schrieb Fichte 1804 an Appia. "Alle [vorhergehenden Philosophen] übersahen [... ], daß kein Sein, außer in einem Bewußtsein, und umgekehrt, kein Bewußtsein, außer in einem Sein, vorkomme; daß daher das eigentliche Ansieh, als Objekt der Philosophie, weder Sein, wie in aller vorkantischen Philosophie, noch Bewußtsein, wie freilich nicht einmal versucht worden, sondern (die] absolute Einheit beider, jenseits ihrer Geschiedenheit sein müsse. " 6 Ergeben sich Sein und Bewußtsein erst aus der Einheit des so verstandenen transzendentalen Wissens, so ist klar, daß alles auf die Erfassung dieses Wissens, dieses cogito ankommt. Man muß versuchen, "daß man jene ursprüngliche Einheit des Seins und Bewußtseins [... ], in dem, was sie an sich und unabhängig von ihrer Spaltung in Sein und Bewußtsein ist, durchdringe und darstelle. [ ... ] Wird man [ ... ] jene Einheit recht dargestellt haben, so wird man zugleich den Grund, warum sie in Sein und Bewußtsein sich spalte, einsehen, ( ... ] alles schlechthin a priori, ohne alle Beihülfe empirischer Wahrnehmung, aus jener Einsicht der Einheit; und also wahrhaftig das All in dem Einen, und das Eine im Allen begreifen, welches von jeher die Aufgabe der Philosophie gewesen. " 7 Dies ist der entscheidende Punkt, in dem sich speziell die Wissenschaftslehre aller anderen Philosophie, auch der Kantischen und Descartesschen, entgegenstellt. Schon Reinhold hatte Philosophie aus Einem Prinzip gefordert, weil nur so das Wissen in seiner Einheit erkannt werden könne 8 • In der Wissenschaftslehre legte Fichte eine solche Entfaltung aus Einem Prinzip vor. Sie behauptet die "deutliche intelligierende Einsicht in [dieses] Grundprinzip" 9 errungen zu haben und aus ihr das Wissen "in absoluter Einheit des Prinzips" zu entfalten. Philosophie als reine Wissenschaft, so lautet der methodologische Grundsatz der Transzendentalphilosophie nach Fichte, ist nur auf diese Weise möglich. Jeder andere Ansatz fußt auf nur faktisch Evidiertem, das eben darum, weil es nur faktisch erfaßt ist, wissenschaftlich nicht bestehen kann. "Die Wissenschaftslehre, die ja das Wissen vom Wissen ist, [ ... ] ist durchaus nur ein einziger, untheilbarer Blick." Nichts kann "durchaus klar [sein], solange nicht alle (Teilmomente] es sind, und solange nicht eben der Eine klare Blick, der das Mannigfaltige einet, und das Eine in ein Mannigfaltiges verströmt, hervorgebracht ist" 10 • "Wenn nur ein einziges Glied in der langen Kette, die

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[die Wissenschaftslehre] zu ziehen hat, an das folgende nicht streng anschließt, so will sie überhaupt nichts erwiesen haben." 11 Fichte steht damit in schärfstem Gegensatz zum Positivismus; er bestreitet dessen methodologisches Prinzip, daß anerkennend bei einzelnem Positiven angehoben werden könne. Man kann nicht von "durch Theorie oder Probieren gefundenen besonderen Prinzipien" "zu einer synthetischen Einheit" 12 , von der man findet, daß sie ihnen zugrundeliegen könnte, aufsteigen, denn diese Einheit ergibt sich aus ihnen nicht, und man kommt auf diese Weise höchstens nur zu einer Synthesis post factum, aus der natürlich die Prinzipien nicht hervorgehen können. Alle Versuche solcher Art gehen schon im Ansatz an der Aufgabe der Philosophie vorbei, das Ganze der Wirklichkeit aus Einem Grundprinzip wissenschaftlich zu erkennen. Hegels Wort in der Phänomenologie des Geistes: "Das Wahre ist das Ganze" 13 , drückt diesen Gedanken zutreffend aus. Soll nun tatsächlich die Einheit des Wissens in dem aufgeführten Sinne intelligiert werden, so daß von daher die besonderen Momente des Wissens "in absoluter Einheit des Prinzips" entfaltet werden können, so ist ein Akt des Erfassens gefordert, der von allem, was die Philosophie bis dahin in den Ansatz gebracht hatte, himmelweit verschieden sein muß_ Der Versuch der alten Metaphysik, alles Wissen auf das notwendige Beschlossensein und die Einsicht in dieses zurückzuführen, hatte sich als nicht realisierbar erwiesen. Crusius und Jacobi hatten gezeigt, daß sich Ursache und Wirkung nicht auf Grund und Folge reduzieren ließen. Eine Haupteinsicht der Kritik der reinen Vernunft ist, daß Anschauung und Verstand zwei nicht aufeinander zurückzuführende Quellen unserer Erkenntnis sind. DerselbeKanterwies auch zum ersten Male, daß die Gesetzgebung durch die praktische Vernunft nicht durch diejenige des Verstandes bestimmt ist, daß demnach das praktische Vernunftprinzip ein solches eigener Provenienz ist und Soll-Sätze nicht aus Ist-Sätzen gezogen werden können. Die Einheit, welche die Wissenschaftslehre intelligieren will, muß die gesamte Vernunft, als Grund der praktischen Gesetzgebung sowohl wie als theoretische Vernunft, und da als Verstand und Anschauung in Einheit erfassen. Die Schritte, die Fichte über die von Kant erreichte Position hinaus getan hat, sind bekannt. Die Empfindung ist, so erkannte er, keine bloß theoretische Gegebenheit; sie kommt nur dadurch zustande, daß Spontaneität gehemmt wird. Das Faktische ist nichts, das für sich allein bestehen könnte, sondern es kommt nur als Bestimmung des Geistes vor, der sich seinerseits als Reflexion auf sich einem solchen Einfluß allererst eröffnet. Das Faktische ist überhaupt nichts einfachhin Gegebenes, sondern es ist nur, wenn es vom Geist, dem sich sein Aufgegebensein stellt, in Lösung dieser Aufgabe gesetzt wird. Das Faktische setzt also zu seinem Sein die grundlegende Reflexion auf sich voraus, welche ihrerseits wiederum nur aus der Reflex-Einheit des Ichs, d. i. einer Einheit, die auf reine thetische Setzung rückbezogen ist, erfolgen kann. Das absolute Wissen kann sich nur als Relation zum Absoluten realisieren. Vor allem aber ist die Reflexund Reflexionseinheit des Ich Einheit des Handelns. "Das sich selbst darstellende Ich wird intellektuell angeschaut", schreibt Fichte in den Eignen Meditationen; das heiße: "eine Handlung wird angeschaut" 14 . "Nur die Freiheit ist der erste unmittelbare Gegenstand eines Wissens." 15 "Mein System", erklärt Fichte im Januar 1800 Jacobi durch Reinhold, "ist vom Anfange bis zu Ende nur eine Analyse des Begriffs der Freiheit"16. Die reine Handlung, die intellektuell angeschaut wird, ist jenes Handeln, das ineins Setzung des reinen Willens und der auf diesen bezogenen Freiheit ist. Die bloße

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Freiheit ihrerseits, die sich erst im Zurliekkommen des Ichs auf sich konstituiert, ist als Reflexion dem Anstoß eröffnet. Diese Einsichten haben unsere gesamte Welt verändert. War zuvor der Mensch ein infirnes Teilchen einer objektiven Natur, so wurde nun sichtbar, daß dieNaturnichts als eine Komponente unseres Bewußtseins, der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. Die Wis· senschaftslehre hat allein schon dadurch einen tieferen Eingriff in unsere Wirklichkeit getan, als selbst die Industrialisierung. Hemmung und Spontaneität, formale Freiheit und reiner Wille müssen im absoluten Wissen vermittelt sein. Der Geist bewältigt ständig "die Aufgabe, die Entgegenge· setzten zu vereinigen". Er vermag aber jeweils beide nicht als notwendig impliziert zu denken; wohl aber ist die eine Seite bedingt und die andere unbedingt. "Dennoch aber ist die Aufgabe da", fUhrt Fichte in der Grundlage der gesummten Wissenschaftslehre aus, "und es entsteht daher ein Streit zwischen dem Unvermögen und der Forderung. In diesem Streite[ ... ] schwebt [der Geist] zwischen beiden; schwebt zwischen der Forde· rung und der Unmöglichkeit, sie zu erftillen, und in diesem Zustande [ ... ] hält er beide, [seine Unendlichkeit als reine Spontaneität und seine Endlichkeit als gehemmte], zugleich fest, oder, was das gleiche heißt, macht sie zu solchen, die zugleich aufgefaßt und festgehalten werden können - gibt dadurch, daß er sie berührt und wieder von ihnen zurückgetrieben wird und wieder berührt, ihnen im Verhältnis auf sich einen gewissen Gehalt und eine gewisse Ausdehnung. [ ... ]Dieser Zustand heißt der Zustand des Anschauens. Das in ihm tätige Vermögen ist[ ... ] Einbildungskraft." 17 Fichte entdeckte, mit anderen Worten, das Schweben der Einbildungskraft, das Unterhandeln derselben, ihr dialektisches Tun, das, was die Wissenschaftslehre von 1801/02 "Verschmelzen" als Einheit des Verströmens und Vereinens heißt 18 , als das synthetische Prinzip. Wiederum muß darauf hingewiesen werden, wie dieser Durchbruch zu einem jenseits der Prinzipien der formalen Logik liegenden geistigen Verfahren bestimmend für die geistige Entwicklung der letzten 200 Jahre geworden ist. Das Selbstbewußtsein in seinem Zurückkommen auf sich und die Verarbeitung des Anstoßes, den es erfährt, lassen sich nur mit geistigen Mitteln einsehen, die der vorhergehenden Philosophie so gut wie verborgen geblieben waren. Die Diskussion der Bedeutung der Dialektik ist aus unserer philosophischen Forschung nicht mehr hinwegzudenken. In der Einheit des Wissens muß ineins mit dessen Entfaltung absolute Gewißheit gefunden und vermittelt werden. Die Urgewißheit äußert sich, indem sie sich in ihrem Prinzipiieren projiziert, "ganz und durchaus also, wie [sie] innerlich ist", sie wird "intelligierend und intuierend schlechthin in Einem Schlage [erfaßt], aber das letztere in der Tat und Wahrheit zufolge des ersten" 19 • Mit anderen Worten: Die Evidenz des absoluten Seins, selbst unmittelbar genetisch, ist die Quelle alier Erkenntnis, welche von ihr aus nur durch Vermittlung der ursprünglichen Gewißheit gewonnen wird. So erkennen wir den reinen sittlichen Willen und von ihm aus die Realität der Freiheit, die sich ihrerseits als reflexives und dialektisches Handeln verwirklicht. Das absolute Wissen ist Leben, das die Wissenschaftslehre erhellend durchdringt. Aber eben deshalb kann die Wissenschaftslehre nur vollzogen werden, wenn das Leben in seiner Lebendigkeit erfaßt wird. "Die Wissenschaftslehre ist Mathesis des Geistes", schreibt Fichte in der Ausarbeitung vom Oktober 1800. "In der eigentl[ichen] Mathematik sieht man nur auf die Produkte der Konstruktion; hier auf das Konstruieren sei-

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her. " 20 Der Transzendentalphilosoph muß das Leben im Werden erfassen, in seiner höchsten Spitze als überzeitlichen Akt: schaut er sein Objekt nicht so an, so hat er kein Objekt. Darum reichen die Erkenntnismittel der formalen Logik hier nicht aus. "(Der Satz,] Philosophie ist Vernunfterkenntnis aus Begriffen", schreibt Fichte ebenfalls in der WL 1800, "ist durchaus falsch. Der Begriff, ist überall[ ... ] nur Nachbild. Die Anschauung ist Urbild. Der Begriff( ... ] muß vor der Anschauung erst Rechenschaft geben, daß gerade das, was in ihm zusammengefaSt ist, in der Anschauung vorkomme und unzertrennlich beisammen sei. - Eine Begriffphilosophie kann nur klar machen und konsequent das schon fertige System, nimmer aber Grundirrtümer berichtigen." ,,Man bedenke aber wohl, daß hier nicht aus Begriffen und Sätzen argumentiert wird, (aus eine ]m' dogmatische( n ], etwas an sich bestimmenden Satz, wodurch die ganze Natur des Transzendentalismus zugrunde ginge, - sondern [wir erkennen:] so wird es in der Anschauung." "Dieses Erzeugen der Vorstellung wird stets vorausgesetzt, und nur in ihm erscheinen unsere Sätze als wahr." In "Definitionen" kann die Anschauung erst am Ende gefaßt werden. "Definitionen erklären Eins durchs andere, setzen daher schon Disjunktionen voraus, deren inneren organischen Zusammenhang sie angeben, gleichfalls angeschaut in innerer Evidenz. " 21 Aber da, wo wir noch gar keine Aufgliederungen haben, sondern diese allererst aufbrechen lassen, ist es unmöglich, mit Definitionen zu operieren. Diese Erkenntnisweise bestimmt die Methode und die Sprache der Wissenschaftslehre, die man nicht nur als eine offene Methode und Sprache, sondern als eine allererst sich eröffnende kennzeichnen muß. Die Methode selber wird, sie entfaltet sich in einen hinführenden Weg und in einen das absolute Wissen selbst vollziehenden und entfaltenden Weg. Die Sprache bildet sich erst als transzendentale in der erschaffenden Bewegung des Geistes. Fichte ist deshalb auch zu einem der größten Sprachbildner der Philosophie geworden. Daß das absolute Wissen lebendiges Sichbilden ist, besagt aber auch, daß es nicht in abgelöster Theorie, sondern immer nur in Akten des Lebens vollzogen wird. Fichtes Theorie steht nicht dem Leben abgetrennt gegenüber, sondern sie ist stets Lebensvollzug, von dem Punkte an, wo sich das Leben auf den Weg, der zum Wissenswissen führt, begibt, bis zu jenem anderen Punkte, wo die vollendete Vernunftwissenschaft als Vernunftkunst das Leben verwandelt. Die Vermittlung von Wissen und Leben, auf der Jacobi so insistierte, erscheint in der Wissenschaftslehre nicht nur als akzessorisches Desiderat, sondern ist ihr Sein selbst. Wenn das Handeln nur im Lichte der Erkenntnis mit sich einig werden kann, umgekehrt das Erkennen nicht zufällig, sondern wesentlich geistiges Handeln ist, dann bilden Leben und Wissen eine Einheit; dann ist es das Leben selbst, das in der Erkenntnis den Irrtum zerstört und die Unklarheit behebt, um sich so in der "Verklärung" mit sich einig zu machen. Man kann aber ebensogut umgekehrt formulieren, daß das erhellte Handeln das dunkle Handeln befreit. Es ist nur folgerichtig, daß Fichte immer wieder versucht und gewagt hat, von der errungenen Klarheit des Wissens aus in das Leben der Zeit einzugreifen. Dabei bewahrt gerade die Wissenschaftslehre vor der einseitigen Vergewaltigung des Lebens mit verengten rationalen Mitteln, da sie die praktische Seite der Vernunft und die translogische Vermittlung, welche die Einbildungskraft leistet, berücksichtigt.

Die grundlegende transzendentale Position Fichtes

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Was bedeutet nun, wollen wir uns am Ende fragen, dieser transzendentale Standpunkt für das wissenschaftliche Philosophieren in dieser Stunde unserer Geschichte? Wenn es richtig ist, daß die spezifische Aufgabe, die sich die Philosophie im Gegensatz zur Einzelwissenschaft stellt, nur in Einsicht Eines absoluten Prinzips und nur in dessen einheitlicher Entfaltung gelöst werden kann, dann bietet die Philosophie nicht allzuviele Lösungen dieses Typus an. Eigentlich bleiben dann nur die Fichtesche und die Hegeische Philosophie als diejenigen, welche die ungeheure gedankliche Leistung vollzogen zeigen, ein durchgeführtes System zu bieten. Allenfalls könnte man sich noch einige andere Systemansätze des gleichen Zeitraums, wie denjenigen J acobis, zum vollen System ausgebildet denken. Wenn, um mit Hege! zu reden, die anderen Philosophen, die "sich bestreben, eigene spekulative Systeme auf die Bahn zu bringen", "nur trübe~ und unreiner in das Princip [dieser systematischen Philosophie] fallen, und sich dessen nicht zu erwehren vermögen" 22 , so bleibt schlußendlich nichts anderes übrig, als sich auf ein System wie die Wissenschaftslehre einzulassen und zu versuchen, sein Prinzip zu durchdringen, wenn die philosophische Aufgabe zu einer wissenschaftlichen Lösung kommen soll. Man kann die Wissenschaftslehre, wie Fichte immer wieder gesagt hat, nur von ihrem eigenen Boden aus kritisieren und gegebenenfalls widerlegen. Die Transzendentalphilosophie verlangt aber nicht nur Durchführung in Einheit des Prinzips, sie verlangt noch ein übriges: Durchführung in Einheit der gnoseologischen Vergewisserung und der metaphysischen Entfaltung. Erst die Einheit beider Durchführungen macht ihr Wesen aus. Was Descartes zum erstenmal in Ansatz brachte, beansprucht sie geleistet zu haben. Und in diesem Anspruch und darin, daß sie allein eine entsprechende systematische Durchführung vorzuweisen vermag, steht sie völlig allein da. Das aber ist der Grund, warum wir uns im Falle der Fichteschen Wissenschaftslehre keineswegs nur um ein philosophiegeschichtliches interessantes Problem mühen, sondern um die Philosophie, ihre Möglichkeit und Realität selbst.

Anmerkungen 1. Kant, Immanuel, Critik der reinen Vernunft, Riga 2 1790, S. 25. 2. Vgl. Hege! an Schelling, Brief v. 2. Nov. 1800: "In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing ... " - Vergl. ferner: Hegels Systemfragment von 1800 (in Nohl: Hegels theologische Jugendschriften, Tübingen 1907, S. 345-348): "das Leben kann eben nicht als Vereinigung, Beziehung allein, sondern muß zugleich als Entgegensetzung betrachtet [werden); wenn ich sage, es ist die Verbindung der Entgegensetzung und Beziehung, so kann diese Verbindung selbst wieder isoliert und eingewendet werden, daß [sie] der Nichtverbindung entgegenstünde; ich müßte mich ausdrücken, das Leben sei die Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung, d. h. jeder Ausdruck ist Produkt der Reflexion, und sonach kann von jedem als einem Gesetzten aufgezeigt werden, daß damit, daß etwas gesetzt wird, zugleich ein Anderes nicht gesetzt, ausgeschlossen ist; diesem Fortgetriebenwerden ohne Ruhepunkt muß aber ein für allemal dadurch gesteuert werden, daß nicht vergessen wird, dasjenige zum Beispiel, was Verbindung der Synthesis und Antithesis genannt wurde, sei nicht ein Gesetztes, Verständiges, Reflektiertes, sondern sein für die Reflexion einziger Charakter sei, daß es ein Sein außer der Reflexion ist." -Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Philosophie, Jena 1801, S. 125: "So gut die Identität geltend gemacht wird, so gut muß die Trennung geltend gemacht werden; insofern die Identität und die Trennung einander entgegengesetzt werden, sind beyde ab-

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solut; und wenn die Identität dadurch festgehalten werden soll, daß die Entzweyung vernichtet wird, bleiben sie einander entgegengesetzt. Die Philosophie muß dem Trennen in Subjekt und Ob· jekt sein Recht wiedererfahren lassen, aber indem sie es gleich absolut setzt mit der der Trennung entgegengesetzten Identität, hat sie es nur bedingt gesetzt, so wie eine solche Identität,- die durch Vernichten der entgegengesetzten bedingt ist, - auch nur relativ ist. Das Absolute selbst aber ist darum die Identität der Identität und der Nichtidentität; Entgegensetzen und Einsseyn ist zugleich in ihm." - Man sieht, wie das in der Religionsphilosophie gewonnene Grundschema auf die Er· kenntnistheorie übertragen ist. 3. Meditationes de prima philosophia, Paris 1641. 4. Critik der reinen Vernunft, Riga 1781, S. 158. 5. Brief vom 31. Mai 1801. 6. Brief vom 23. Juni 1804. 7. Ebenda. 8. Vgl. Philosophie aus Einem Prinzip. Karl Leonhard Reinhold, hrsg. v. R. Lauth, Bonn 1974. 9. Vgl. Erste Wissenschaftslehre von 1804, hrsg. v. H. Gliwitzky, Stuttgart 1969, 21. Vortrag, s. 127. 10. Vgl. Darstellung der Wissenschafts/ehre. Aus den Jahren 1801/02, hrsg. v. R. Lauth, Harnburg 1977, S. 15 u. 17. 11. Vgl. Versuch einerneuen Darstellung der Wissenschaftslehre, 1 797 ,1. Einleitung, Abschn. 6. 12. Erste Wissenscl>.aftslehre von 1804, a.a.O. S. 128. 13. Phänomenologie des Geistes, hrsg. v.J. Hoffmeister, Harnburg 1952;- Vorrede, S. 21. 14. Eigne Meditationen über Elementar Philosophie, 1793/94, GA II, 3, S. 144. 15. Darstellung der WiJsenschaftslehre. Aus den fahren 1801/02, §. 15. 16. Brief vom 8. Januar 1800 an Reinhold. I 7. Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, Leipzig 1794, S. 192/93. 18. A.a.O., S. 17 u. 23. 19. Die Wissenschaftslehre. Zweiter Vortrag im fahre 1804, hrsg. v. R. Lauth undJ. Widmann, Harnburg 1975, XXßl. Vortrag, S. 234/35. 20. ,,Neue Bearbeitung der W.L." vom Okt. 1800, GA II, 5, S. 338. 21. Erste Wissenschaftslehre von 1804, a.a.O. S. 39. 22. Differenz ... , a.a.O, S. X.

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Why Fichte? I wondered, when the six-day Fichte Tagung was annouced for Zwettl, Austria. Regel and Kant and Hume had had their festivals. I expected that. But in spite of some party spirit for Fichte there is hardly a competitive passion on the part of Fichte people overagainst Kant and Hege! and Hume people that would prompt a world congress. There is no International Society for the study of Fichte. There is indeed intense interest in his work, witnessed in the new and carefully edited collection of his works, which is still in progress, the nummerous, excellent an recently published studies, and the number of excellent Fichte articles appearing in leading journals2. There is particular and growing interest in his revisions of his Wissenschaftslehre, in which his notion of intuition develops remarkably. His fully developed position does indeed offer a subtle and profound option to Hegel's interpretation of consciousness. His influence on I 9th-century figures in Iiterature as well as in philosophy is striking and important. Butthat has been so for a century and a half, and the same can be said of Schelling's later work and influence, which is much less studied. I believe that the turn to Fichte has at least part of its meaning in the nature of our cultural climate. Philosophcrs with whom I spoke at the meeting often noted the fragmentation of philosophical work in this century. Butthat impressed me as having limited importances for understanding the Fichte interest, in light of such systematic thinkers as Cassirer, Natorp, Whitehead, Quine, Dewey, Russell, Sartre, Husserl, and many others. Search for a system and development of coherent systems of concepts is not missing in the 20th Century West. Nor is interest in Idealism as such. It developed a bad reputation for a brief and arid time, but it has had a significant presence in the U. S. and on the Continent during the last 40 years. We are indeed returning to the Idealists, but the return is made with many people around whose interest in Idealism has been continuous. Undoubtedly the problems posed by Marx, Husserl, and perhaps to a lesser degree by Sartre, have caused many of us to rethink the classical, idealistic heritage. And undoubtedly the uncontestable importance of 19th-century Idealism in forming contemporary culture accounts for part of the interest. But why Fichte? Fichte began his mature work with a firm sense for the finiteness of human consciousness. An accord of thinking and experience was his guiding ideal, and he sought to bring tagether the form and content of consciousness into an expression that constituted an unreducible insight of self-awareness that is experienced as sufficient, as fulfillment of the fundamental desires of human being. Above all he was increasingly aware that consciousness develops and culminates in ways of seeing that are not the same as exact observation. And he saw that consciousness ernborlies its own demands which are fulfilled or violated by the way it relates to itself in relating to the things around itself. His Wissenschaftslehre marks his movement to an original understanding of immediate awareness in relation to conceptual awareness, as well as a growing sense for the social responsibility of philosophy, founded in practical reason. In this devel-

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opment he expresses many of the dilemmas that followed his time, as though he had not addressed them, and he forecasts ways of understanding these dilemmas which have not yet been adequately considered. We are at a time when such consideration can take place with intensity and depth, a time when the notion of the unity of consciousness reflects a growing experience that our activity of differentiating, clarifying, and distinguishing is apart of awareness, which when cut off from the intuitive, non-objective and non-conceptual basis for conceptualization, means profound self-forgetfulness and loss of a sense for major dimen· sions of reality. Fichte is interesting now because of his understanding of how consciousness occurs and his expectation that philosophy be the direct and indirect selfaware articulation of that occurrence. In him we recall with remarkable precision how the life of consciousness is to take place as philosophizing, as a free activity in the full deter~ination of nature. Finally, I note Fichte's concern for origins. He found Kant's practical philosophy inadequate in part because he, Kant, had not been able to determine the common origin of determination and freedom. Indeed, Fichte's work as a whole, spanning his entire career, was governed by the intention to know and say the origin of reality that occurs as we know it. On the one hand that, for him, was a transeendental undertaking, not in the sense of an analysis of types of concepts, but in the sense of grasping conceptually how the basis of knowing is. Basis and origin go together for him. In Fichte we confront a philosopher whose concern for beginnings, rootage, origin, and basis governs his philosophical vocation and makes his thinking always an effort to say in knowing how we are in common with all things. This classical effort is cast in the form that ist central for our time, riz. in the form of the questing, knowing self whose own being seems to mean the very commonality which one seeks to understand. Change and Unity. History is one of the problems fortranseendental philosophy. At one time the question was how to relate transeendental structures to the ebb and flow of events. Now the question is whether the ebb and flow of events constitutes human consciousness even in its deepest and highest recesses. Fichte was not particularly aware of the 'problern' of history as we think of it today. He was more concerned with understanding how human awareness, in its transcendence with all other reality, develops consciously with itself and the other and how the Absolute is immanent in this conditioned self· conscious activity. He was also concerned with the meaning of this transcendence, infested with Absoluteness, for day-to-day living and social structure. He was a peasant by birth, an anomaly in the aristocratic regions of advanced culture, and he was perhaps thereby privileged by his background with the knowledge that human destiny is measured by how one tends the soil as much as by how one composes for the flute. He knew that speech at its most common Ievel develops the character of a people, and he wanted the timeless immanence in human transcendence to be bespoken in the villages and fields as weil as in the universities. But he did not think of these issues in explicitly historical terms in the contemporary sense of historical. Rather, he thought basically in transcendental, developmental terms. He speculated about the course reason takes in coming into its own and the course autonomy takes in coming tobe. This speculation, which for Fichte is at once descriptive of the reflective occurrence of speculation, has the advantage now of claiming that immanent reality can be seen in dia-

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lectical movement without itself being dialectical. In that claim Fichte avoids some of the most troublesome aspects of Hegelianism and, in the absence of an adequately developed notion of history and culture, leaves the way open for rethinking history and time with an appreciation for immediate awareness that appears to be unavailable in the traditions molded by Hegel's theory of dialectic. The task will most probably take the form of reflection on experience in which self-awareness transcends the dialectical manner of its own development. I find it strange that this educated peasant who was so concretely interested in bis age wrote a series of extraordinarily abstract treatises - among the most difficult in the Western heritage - until I recall that philosophy for him, like music, follows the forms of non-discursive awareness and loses its abstractness as one enacts the former in specific, thinking presentations. His propositions, on his account, are notations that are not particularly significant in their objective literalness, but are momentaus as they give form to how we see and hear our world. Imagination creates out of itself the very structure of reality, and when our imagination is self-consciously attuned with its own way of being and is no Ionger roughly or dumbly ignorant of itself, it infuses the world with a timeless self-consciousness whose meaning is at once finite, timely, and serenely, timelessly absolute. Before Fichte died in 1814, indeed for at least the entirety of his life in the nineteenth century, he had no doubt that God was immanently and cosmically creative in the limited and self-opposed activity of human imagination. This central aspect of Fichte's thought is most attractive to a significant group of Fichte scholars. My impression is that they have found him to have provided an adequate or at least highly promising basis for modern theism and/or modern religious thought. His strength, in this context, is his certainty that the transeendental structures of consciousness are not subject to historical processes. Rather they provide the non-historical basis for historical development and change. Take away non-historical transcendence and you take away the foundations of man's most profound hopes and truths. Another group of Fichte scholars, however, find in him an important problern because of his view that human consciousness is not totally formed in historical developments. Fichte saw clearly that his own thinking was subject to development, although he did not systematize that experience to the extent that Hegel did. He also appreciated the experience of reflection within conscious development, although he did not make that experience fundamental for the generation of categories. Y et, as his thinking progressed, the creation of consciousness became more and more important for him. By 1804 he was clear that the aim of philosophy is the creation of sight, a process that culminates in non-discursive knowledge. This is not primarily an inferential process, but one in which the very quality of consciousness grows, and human consciousness becomes able to see with increasing ease its own luminosity and the pervasiveness of the power of light that is not of its own making. This organic growth, however, originates in an internal unfolding and not in a chronological or in a finitely determined way. There is Geschichte in the growth of consciousness, but there is no Historie. That is, one can teil the story of this development, but one can teil it truly only in words that mean deathless birth. And as one thinks this story, one finds 'his/her freedom from the traditions that otherwise mold one's mind. Many who read Fichte find in him a struggle both to appropriate and to avoid the time of his own thinking. They find him developing without adequate appreciation for

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his own development. They find him using the ideas of a priority and transcendence in ways that forecast the demise of his understanding these very ideas. They find him reflecting a future that he could not see fully. They find him speaking of unity and wholeness with the doubtful conviction that tobe one is tobe free of time. I have not found, however, that the philosophers, who form these two regards for Fichte, doubt the importance of the experience and notion of unity. The importance of oneness with diversity, of being with beings, of insight with and 'beyond' discursivity, of the immanence of non-objective awareness in all fonns of objectivity seems to give unity to Fichte's appeal. They appear to share Fichte's conviction that our present destiny and well-being depend on the quality and range of our sensitivity with the given way self-awarcness occurs. They seem to know that human awareness cannot flourish if it finds its primary expression in literallanguages andin atomistic interpretations of the world. One unifying persuasion among them is that knowledge is a way of seeing; it comes to expression in ways of being that reflect, at be$t, the occurrence of self-conscious unity. My impression is that how Fichte scholars relate with the past and future of their own thinking will have a great deal to do with the philosophical import of their work. On the one hand, there is need for the schalarship that is being clone. On the other hand, the philosophical meaning of Fichte appears now in a different age, with different questions and a history molded in part by him. That means that the pilosophical import of Fichte-work will depend on the profundity and intensity of criticism that is brought to him as well as on the accuracy of Observations about what he said. Like all philosophers of the past, Fichte has Jeft us to recognize ourselves in our age without the benefits of final truth or of solutions of our most pressing dilemmas and unanswered questions. lntellectuallntuition: The Basis of Our Being. Fichte made the transeendental imagination, not the understandig, his entree for consciousness. That menas, for him, that one must begin with the inconceivableness of consciousness, i. e., with its givenness which is assumed by any specific approach to it. By means of the activity of imagination one may approach the very occurrence of awareness with benefit of immediate sight, viz. intellectual intuition. This approach, which preserves for him the whole at the point of departure and thus separates him from most other deductive, transeendental interpretations, means that the life of consciousness and self-consciousness is an occurrence and not a substance with properties. Time and organic unity, for example, are immediate in the activity of consciousness and self-consciousness, and the name for this occurrence is transeendental imagination. Timeis only insofar as there is transeendental imagination. That claim on Fichte's part means that time is a given aspect in the activity of consciousness and self-consciousness. Time for him means at once finiteness and eternity, the transeendental conditions for history. Imagination happens as an alteration, at once in the organism of self-aware consciousness, of the Jimited and the unlimited, a differentiation that is endlessly unsatisfying in its Iack of full, existential resolution. Each - finiteness and infinity - comes to reflect the other in the activity of positing and presentation. And this continuous, self-conscious reflection of Iimit and unlimitedness is the human capacity to be and to see. That acitivity is the transeendental foundation for temporal sequence and development as weil as for self-relation.

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When we see that transeendental imagination, as an activity, is the form of the I and that this activity is immediately self-aware, we recognize that for Fichte immediate intuition is temporal, though not necessarily deathly, by nature. Time and difference are a priori factors in all awareness for Fichte, and as such they are basic for our understanding of the unity of human being. "Being whole", he said in 1794, "takes form under the eyes of philosophy". This finite-infinite activity, which is the human tauch with partiality and unlimitedness, is how immediate awareness happens. The philosopher is the disciplined and privileged beholder of this process in which he as agent also takes part. Later in his life Fichte found this process to be at once the philosopher's entree to worldly and divine knowledge as he found the occurrence of reflective consciousness makes manifest the immediate and developing self-conscious presence of divinity. But regardless of its ontological meaning, this reflective activity means that seeing is intrinsic with human being and that how human being occurs is how human seeing occurs. Or, the organic life of reflective self-consciousness marks the depth of awareness which may come to thematic understanding. This organic life posits, engenders, creates: it struggles and intends itself. How we see is to some degree the self-engendering product of the process, i.e., human insight is at best the very occurrencc of creation with thc full ambiguity and determinateness that characterizes life itself. This notion that to create and to be created is the essence of human awareness is surely one of the most powerful claims in modern times, and one that resonates both unity and diversity in Fichtc's account of it. By 1804 Fichte had developed more fully the notion that the Absolu tc is manifest as pure possibility which is never grasped directly, but is indirectly known in all actualizing activity. The absolute is fundamentally different from the activity of knowing and is yet immanent in this activity. The issue that comes to the fore in both his early and late claims about immanence and transcendence, however, concerns the Iimits of human autonomy in the presence of what cannot be said directly and yet cannot be ignored by the philosopher. The philosopher actualizes potential states of consciousness, and in this activity is non-voluntarily privy to the given nature of his own potentiality. The philosopher sees more than he can say even when he sees and says what is possible and necessary for his thinking. If he does not reflect the Iimits of the totality of his thought, and thereby reflect the given, enabling ground of his work, he has acted falsely - cowardly - in the presence of what negates any pretentions he might have to finality or sufficiency. Fichte's emphasis an the non-objectifiable immanence of creating presence opens him to stress on the one hand that philosophy can rcflect the situation of human being through strictly regulated propositional statements and on the other that the goal of such thinking is not discursive completeness, but insight with a wholly unspeakable occurrence that is unity without discursive circumscription. I suspect that the attraction found in his work at this point has to do with our own awareness that we are never what we think we are, even in our best and most profound designations, and with the difficulty we have presently in reflecting this awareness to each other in our philosophical writings, conversations, and meetings. Transcendental-Philosophy and the Still Point of Thinking. Two of the quite distinct persuasions present at the meeting agree that time plays a lesser roJe in Fichte's later work than in the 1794 Wissenschafts/ehre. The distinctness

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of preference has to do with how one judges this development. The finiteness of intuition has particular import, as I noted, in Fichte's early work, and in this emphasis he sees with a clarity not found in Kant (or in the early Schelling) that time is a structural element of the very happening of consciousness. Later, Fichte thinks increasingly in terms of the difference between the intuition of the I and the intuition of transeendental unity. The I is displaced in its tendency to centrality by the non-egological, transcendental, encompassing presence of unity. This unity is a timeless act that is aware. As such it is an occurrence of unlimited certainty, i.e., of timeless knowledge. This knowledge, in common with all intuition, is not a product of activity, but is activity itself. This activity happens in conscious construction and is a dimension of all con· scious occurrences. Concepts are images (Nachbilder) of timeless intuitive knowledge (Urbild), and ·a well-developed system makes clear "the already finished system" ( 1800). Fichte means by this claim that thinking may be in the image of timeless awareness and that this timeless awareness is immanent in other conscious activity. As a system develops that is self-critical and self-justifying, the organic wholeness of the system, as it is thought, refleets the "timeless knowing" of transeendental unity. One may regret or applaud this emphasis on timelessness as the basis of thinking, but in Fichte there is clearly the growing sense that transeendental includes in its meaning an utterly simple, i.e., non-conflicted, and totally non-finite, self-manifesting awareness. This claim, which is so outspoken in Fichte's later work, is not totally absent from transeendental philosophies in general. Although the transeendental philosopher need not say that transcendence is timeless, knowing unity, he/she will say in one way or another that the reliable basis of reality is found transeendentally. Historically transcendental philosophy has found necessity and continuity for or in reality when such manners of thinking as positivism or intuitionism tended to undereut any sense of unity or organic relatedness. A defining tendency of transeendental philosophy is to find unity and organism in the eonditions of experience, conditions which transeend what is experienced in its moment and particularity. When a transeendental philosopher hears opposition to a transeendental region of necessity, he/she hears opposition to the eontinuity and knowableness of the world. Within Fichte studies, the issues likely to be discussed with the perplexity that inevitably aecompanies them in transeendental philosophy, are interpersonal presence, space, and nature. Other areas in which I would expect particular interest include the relation of Fichte's thinking to social issues, dialeetical and non-dialectical awareness, questions concerning deduction, the relation of coneept to intuition, th'e notion of transeendental freedom, and historical questions. There will be a tendency to find a complete system and circumscribed continuity by some scholars. Others will see in his work seeds that grew into increased tolerance for uncertainty and less tolerance for rational systems. But the transeendental region will usually be assumed by those interested primarily in his work. The revived interest in Fichtehasthat in eommon with the other forms of transeendental philosophies: in one way or another 'transcendental' means a still point of necessities which make possible enduring knowledge. The Fichtean interest, particularly in light of the extraordinarily fine work that is being done within that interest presently, will intensify the issues surrounding this characteristic of transeendental thought because it raises within itself the central problern of tran·

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seendental time vis-a-vis transeendental necessity and the further issue of the religious meaning of transeendental unity. Particularly in the latter of these two areas, Fichte has bitten the buHet that many contemporary transeendental philosophers might prefer to leave untouched. Fichte's almost blissful transcendentalism also increases the intensity of questions about the transeendental standpoint. He had no doubts about that standpoint. It produced certainty. It made manifest the universe, and it made understandable law and science as well as Iove and worship. Commonality resides in transeendental activity. Some contemporary options to this claim, which have developed largely and in a vanity of ways out of Heidegger's account of being-in-the-world, find commonality in the nontranseendental event of world-relations: how things and people are together in places, traditions, and cultures mark our limitedly enduring commonalities. And how things and people happen at all is manifest, not transcendentally, but immanently in the worldly occurence. History is omnipresent, and how history as history occurs names a non-transeendental condition, in the present age, at least, for all 'necessities'. This turn to how people and things are in the world means also that how things and people come together - how social rights relate to social dass, how the statue is posed, how colors mean affections, where buildings are placed, how a language is formed, what passes quickly and slowly, etc. - constitute awareness that displace the ego and arenot the activity of any one person. The ways things and people occur in their daily existence name modes of immediate awareness which are the bases for conceptualization. When things happen with traditional regularity for the most part, for example, 'necessity' will be a finite, but quite present part of one's thinking and interest. When that regularity is deeply shaken, 'necessity' itself will be shaken, either out of the range of conviction or into an ideal of reminiscence and hope. Pervasive of these manners of being aware is presencing and non-presencing, illumination and darkness, which seem to appear nonobjectively with all objective appearances and which seem always to elude direct grasp, but to pervade all manners of life. This kind of thinking migth well be intensified by its negative and positive kinship with Fichte, and similar intensification might also be effected in phenomenological transeendental philosophy, which on the whole has not sought its ontological grounding with the interest and rigor found in Fichte. The leading questions, I believe, will continue for some time to be centered on how the still point of thinking occurs: absolutely and timelessly? historically and mortally? transcendentally? dialectically? non-transcendentally immanent in a non-transeendental world?

Notes I. The following discussion was written for Jdealistic Studies as a reflection coming out of the Fichte Tagung, 1977, in Zwett1. Because of the number and diversity of excellent papers presented at the conference, I cannot adequately report on the specific contents of some without doing in· justice to others. I shall discuss Fichte, drawing heavily from the conference, in a way that reflects some of the issues I found prominent. 2. A most he1pfu1 bibliography of editions of Fichte's works and commentaries on him has been provided by Professor HansJ. Verweyen in: New Perspectives on j. G. Fichte, in: Idealistic Studies VI/2, 1976.

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Klaus Harnmacher Eröffnungsansprache

Mein Dank gilt allen, die zum Gelingen dieses Treffens der Fichte-Forscher beigetragen haben, d. h. die mich bei der Aufgabe, ein solches Kolloquium zustande zu bringen, unterstützt haben. Das heißt, mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Professor Heintel und Herrn Kollegen Girndt, die es ermöglichten, daß ein Wunsch meines verehrten Freundes, Herrn Professor Lauths, nach zwanzig Jahren Fichte-Forschung und 15 Bänden Akademie-Ausgabe der Werke und Schriften Fichtes, Gestalt annehmen konnte, indem sie diesen für alle günstigen Tagungsort ausmachten und empfahlen, und indem sich Herr Heintel für das Zustandekommen an Ort und Stelle einsetzte. Mein Dank gilt ferner Abt und Prior des Stiftes, die bereitwillig ihre Räume zur Verfügung stellen und bereits im Frühjahr dieses Jahres mit viel Geduld mit mir Vorbereitungen getroffen haben, damit Ihnen, meinen Mitforschern und Mitstreitern für eine reine Philosophie, wie sie Fichte verwirklichte, freie geistige Entfaltung, unbeeinträchtigt von hemmenden äußeren Umständen, möglich werden konnte. Mein Dank gilt ferner der Thyssen-Stiftung, deren finanzielle Unterstützung die Tagung überhaupt erst ermöglichte. Mein vorzüglicher Dank gilt aber Ihnen allen, die Sie sich bereitgefunden haben, sich für ein philosophisches System einzusetzen, das entgegen aller wirkungsmächtigen Inanspruchnahme für politische und weltanschauliche Bekenntnisse eigentlich erst in den letzten Jahrzehnten in seiner philosophischen Stringenz erschlossen worden ist. Das System Fichtes, hinter dem sein menschlicher Charakter trotz großer Züge noch zurücktritt, ist von unvergleichlicher spekulativer Kühnheit. Wenn je nach Platons Spätdialogen philosophischer Argumentation in Begriffen eine ged~kliche Rechtfertigung gelang, welche in allgemein verständlichen Worten etwas darstell'te.,-d~s trotzdem nicht mit dem Wortsinn und den ihm anhängenden Assoziationen sich erschloß, sondern den Anspruch erhob, die Wahrheit als hinter den Worten liegend zu ergreifen, dann bei Fichte. Solche Texte, wie die Fichtes, sprechen für uns nicht von sich aus. Wir müssen sie erst zum Sprechen bringen, da sie nur in der eigenen Ausführung, Fichte würde sagen, in der eigenen "Nachkonstruktion", verstanden werden können. Um in eine solche Bewegung des Verstehens zu gelangen, gibt es viele Anstöße. Jeder der Teilnehmer hat einen solchen erfahren, denn es ist im Wesen der Philosophie Fichtes begründet, daß sie persönlich entdeckt werden muß und daß hierzu bestimmte persönliche Voraussetzungen gegeben sein müssen, was auch der Sinn jenes berühmten Ausspruches ist, was für eine Philosophie man habe, hänge davon ab, was für ein Mensch man ist, und daß ein philosophisches System kein toter Hausrat sei, also zur besseren individuellen Ausstattung gehöre 1 • Wir haben in den letzten Jahren immer wieder beobachten können, daß dagegen ein Zugang über die traditionelle Hermeneutik und Wirkungsgeschichte nie zu einem richtigen Verständnis Fichtes führt. Einen Zugang zu Fichte brauche ich hier also nicht zu eröffnen. Ich möchte nur einen kleinen Anstoß zu einer allgemeineren Überlegung geben und dazu an unsere un-

Tafel-Obersicht III-VIII

TAFEL-OBERSICHT

Tafel III

Fresken des Treppenhauses von Schloß Rosenau Detailwiedergaben a)-d) (Zur Textseite 33 und 35 Anm. 5)

Tafel IV

Detailgrundriß von Schloß Rosenau (Zur Textseite 33 und 35 Anm. 5)

Tafel V

Der Triumpfbogen (Gemälde, Charlottenburg) (Zur Textseite 33f. und 35 Anm. 9)

Tafel VI

Blick in den Hof des projektierten Schlosses Orianda (Zur Textseite 35 Anm. 9)

Tafel VII

Blick in den Garten von Schloß Orianda (Zur Textseite 35 Anm. 9)

Tafel VIII

Grundriß von Schloß Orianda

Tafel III (Zu den Seiten 33 und 35 Anm. 5)

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Tafel IV

sinkende Sonne

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Logeneingang

oder Innenhof

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"Salettl"

"Salettl"

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steigende Sonne

Detailgrundriß von Schloß Rosenau, Niederösterreich (Zeichnung und Interpretation nach Dr. E. Wagesreither, a.a.O., S. 2lf. und S. 6 des Abbildungsteils). Das Schloß wurde im 18. Jahrhundert als Freimaurerloge umgebaut, wobei man sich deutlich an der freimaurerischen Bausymbolik orientierte. Ein seltenes erhaltenes Beispiel architektonischer Verwirklichung freimaurerischer Ideen!

Tafel V (Zu den Seiten 33f. und 35 Anm. 9)

Der Jriumpfboge n . Gem älde (Ausschnitt) von K . F . Schinkel ( 181 7), Charlottenhof, Schloß Charlottenburg (Berlin, Schlösserverwaltung). Das Bild stellt eine imaginäre Prozession der Rückführung der Monumente preußischer Kultur (Quadriga von J . G. Schadow) und eine Ehrung ihrer Begründer, des Großen Kurfürsten und Friedrich II ., dar. Es kann durchaus mit Reminiszenzen an die Ehrenprozession in Fichtes "Republik der Deutschen" gemalt verstanden werden (vgl. SW VII, S. 543), die hier zum Ausdruck nationaler Größe stilisiert wird. Den nachhaltigen Einfluß Fichtesauf Schinkel belegte Frau Prof. Dr. M. Kühn, Hrsg. des Schinkel-Werkes, mit zahlreichen Dokumenten (Exzerpten aus Schriften Fichtes, Vorlesungsnachschriften) dem Herausgeber.

Tafel VII (Zu Seite 35 Anm. 9)

K. F. Schinkel: Blick in den Garten von Schloß Orümda (Deutsche Staatsbibliothek Berlin, Schinkel-N achlaß) Ob Schinkel bei dem Entwurf eines solchen nationalen Monumentes, als welches Schloß Orianda für Rußland nach Schinkels Äußerungen und Entwürfen eindeutig gedacht war (nach freundlicher Mitteilung von Frau Prof. Dr. M. Kühn), sich auch freimaurerischer Bausymbolik bediente, läßt sich nicht eindeutig klären . Ein Bezug auf Fichte findet sich vielleicht in der Anlage des "Gartens der Nation" (vgl. Tafel VI u . VII und Fichte SW VII, S. 539f.). Besonders aber weist nach der Interpretation von M. Kühn die an zentraler Stelle (beim Eingang zum "Großen Bassin") vorgesehene Themis·Statue auf die gesetzlich normierte, vernunftrechtliche Ordnung entsprechend der Deutung durch den zeitgenössischen Freimaurer C. A. Böttiger hin und damit zugleich auf einen möglichen Einfluß von Fichtes "Naturrecht" (M. Kühn: "K. F . Schinkel. Das Lebenswerk. Auslandsband." In Vorbereitung) . Im Grundriß von Schloß Orianda (Tafel VIII) sind die Statuen in den Nischen beidseitig der Themis als "Sonnenaufgang" und "Sonnenuntergang" bezeichnet und versinnbildlichen damit Morgenund Abendland (vgl. Tafel VI für die Sonnenuntergangs- und Themisstatue).

Tafel VIII

..... . . . . . . . . . ...... . ,•

. •.• ....

D.

K. F. Schinkel: Grundriß von Schloß Orianda (aus "Werke der höheren Baukunst"}

Eröffnungsansprache

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mittelbare Umgebung anknüpfen 2• Dabei kann ich den genius loci nicht beschwören, da er nicht von Fichte berührt war. Aber da der Geist weht, wo er will, kann mir der Ort doch manche Verständnishilfe geben, wie sich zeigen wird. Ich möchte einen Anstoß geben durch eine "Vberraschung", die man -- wie mir Weisehedei einmal schrieb- noch immer in der Auseinandersetzung mit Fichte erleben kann und die sich hier dadurch bei mir einstellte, daß ich eine erwartete philosophische Frage bei Fichte nicht fand. Daß eine Begründung des Rechts durch die Sittlichkeit unmöglich ist, war eine von Fichtes großen Erkenntnissen, durch die er die Aufklärungslehre vom Gewissen als Grund des Rechts 3 , so könnte man Koseliek entgegenhalten 4 , denn doch in der Zeit widerlegte. Das Recht gründet im mit dem intersubjektiven Denken bereits akzeptierten Rechtsgesetz. Kann so nicht Grund einer Rechtsgemeinschaft die Ethik sein, was übrigens zur Gesinnungsschnüffelei und jeder Art von Totalitarismus führt, so erhebt sich doch immer wieder von neuem die Frage nach einer eigentlichen Begründung des Rechts selbst. Zweifellos nahm ursprünglich die Religion die Funktion der Begründung des Rechts wahr. Die Frage stellt sich also, in welcher Funktion diese Begründung durch die Erkenntnis des Rechtsgrundes in den Denkgesetzen abgelöst ist. Man müßte also vielleicht genauer unterscheiden, in welcher Beziehung die Religion mit der Begründung des Rechts durch Einsicht ihre Funktion verloren hat und in welcher vielleicht nicht. In dem utopischen Fragment Die Republik der Deutschen stößt man nun auf eine eigentümliche Schilderung der Rolle von Religion in dem dort konzipierten Staat: Religion als Ausübung von Zeremonien und Kulthandlungen. Das heißt aber nach dem heutigen Verständnis: Religion als Handlung. Vielleicht kann in einer solchen Funktion eine noch verbleibende Begründung der Rechtsordnung entdeckt werden? Ich kann diese Frage jetzt nicht eigentlich beantworten; ich bin ihr in anderen Zusammenhängen nachgegangen. Ich möchte nur einige Gedanken anregen und anschauliche Hinweise geben, die sich aus unserer Umgebung hier anbieten. In den Wandgemälden des Stiftssaales findet sich eine Architektur-Malerei mit einigen, meist etwas versteckt, in der Zusammenstellung als ungewöhnlich auffallenden Bauformen und Monumenten. So zum Beispiel Obelisken und Säulen, die ein Gebälk tragen, sowie zwei abgebrochene Säulenstümpfe. Bei verschiedenen Bauwerken sprießen Pflanzen aus dem verfallenen Mauerwerk. Nun wäre das alles nicht in dieser Art Malerei so ungewöhnlich, wenn diese Zutaten nicht durch ihre Beiläufigkeit etwas Anspielungscharakter bekämen. So zum mindesten fallen sie einem auf, wenn man im Treppenaufgang eines kleinen Schlößchen aus der gleichen Zeit, etwa acht Kilometer von hier, die gleichen Steinsymbole und Beiwerke, nur in unvergleichlich größerer Häufung, findet, so daß sie einen direkten Hinweischarakter erhalten. Hinzu treten dort Totendenkmäler mit hintergründiger Symbolik, und es fällt auf, daß die Gemälde der einen Seite des Treppenhauses eine "offene", während die der anderen Seite eine "geschlossene" Stadt zeigen 5 • Diesen Hinweisen folgend, hat man nun in den Räumen eines Traktes des Schlosses in Richtung der "offenen" Seite unter dem Putz symbolische Ausmalungen von eindeutigem Charakter entdeckt und so die Ausstattung für eine Freimaurer-Loge feststellen können. Und damit zu Fichte zurück: Bereits Xavier Leon hatte in den von Fichte in der

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Klaus Harnmacher

Republik der Deutschen festgestellten Kulthandlungen eine Antwort auf den NeoKatholizismus der Romantiker gesehen, es handelt sich aber um Nachahmung freimaurerischer Riten 6 . Fichtes Verbindungen mit den Freimaurern sind bekannt und mehrfach 7 , so auch jüngstens wieder (wenn auch sehr unzulänglich), in der Literatur erörtert worden 8 . Herr Lauth und seine Mitarbeiter gehen diesem Thema zur Zeit genauestens nach. Uns soll jetzt nur beschäftigen, daß Fichte die Riten dieser Orden, ihre Einweihungssymbolik enthusiastisch bejahte und übernahm. Andererseits ist uns auch überliefert, daß er tief beeindruckt von Philipp Otto Runges symbolträchtigen "Tageszeiten" war und dem Plan, sie als Ausstattung für einen Raum zu verwenden, der alle Künste zu kultischer Feier vereinen sollte. Malerei und Musik, Architektur und Poesie sollten in solchen Dienst treten 9 • Ignaz Aurelius Feßler, der Reformator der Freimaurerorden in Berlin, berichtet in seinem Tagebuch über den Eindruck, den seine Mitteilung der Einweihungsriten für die höheren Grade auf Fichte machte: "Ich hätte nicht gedacht, daß dem kalten Philosophen diese schwärmerische Mysterie des Todes, die mich durch und durch ergreift, so oft ich sie feiere, so sehr gefallen würde" 10 . Die in seiner Republik der Deutschen geschilderten Riten beziehen sich nun fast ausschließlich auf die Totenehrung 11 • Wir brauchen sie also nicht durch den Nationalgedanken und seine Einprägung primär begründet sehen. Die dort mitschwingenden nationalen Vorstellungen sind uns fremd geworden und deren Verbindung mit Brauchtum hat sich als eine blasse, in ihrer Emotionalisierung aber verheerende Imitation unbewältigter archaischer Relikte menschlichen Verhaltens erwiesen. Dies tritt bei einem unvoreingenommenen Verständnis aber zurück hinter dem in diesen Berichten und Beschreibungen heraustretenden Bemühen Fichtes um eine Wandlung der Gesinnung mittels Ausführung von symbolischen Handlungen. Die moderne Sprachphilosophie hat uns darauf aufmerksam gemacht, daß es selbst in der Sprache Bedeutungen gibt, die sich nicht sprachlich, sondern in der sprachlichen Ausführung als Handlung erschließen12. So performativ gemeinte Sprachformeln finden sich im Grunde schon in dem erörterten utopischen Fragment Fichtes 13 • Die uns von Dorow überlieferte Schilderung von Fichtes Vorlesungseröffnung in Königsberg läßt die Vermutung aufkommen, daß Fichte tatsächlich, indem er symbolische Handlungsweisen in seine Lehrtätigkeit einbaute, von Mustern freimaurerischer Riten Gebrauch gemacht hat: Lichtreinigung und Entzünden des neuen Lichts 14 . Es geht hierbei also nicht um die Stiftung emotionaler Identifizierung, sondern um eine Verwandlung emotionaler Erfahrungen in ritualisiertem Handeln, wie sie uns die Tiefenpsychologie erschlossen hat; der Sinn liegt in der dabei vollzogenen Symbolisierung. Aber es bleibt etwas Unbefriedigendes in dieser Wiederholung abgestorbener freimaurerischer Symbolhandlungen, wie sie Fichte vorführt. Symbolhandlungen lassen sich nicht erfinden und wiederbeleben. Sie sind mit Recht durch ihre jeweilige Aufklärung überwunden. Die polare Spannung jedoch zwischen ratio und Mysterium, wie sie der neueste Biograph Feßlers, B. E. Barton, an der aufklärerischen Freimaurerei hervorhebt15 und die sich auch bei Fichte findet, weist auf eine Grundlage, derer der Mensch außer der Erkenntnis für sein Handeln bedarf. Jacobi lobte an Fichte bei aller Ablehnung seiner Position während des Atheismusstreites, daß er Gott nicht philosophisch beschreiben und in den Begriff auflösen wollte 16 _ Wenn aber nach Fichte jedes

Eröffnungsansprache

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weitere Wort über Gott als Absolutes von Übel ist, weil dabei erkennendes Verhalten sich widersprechend verwendet wird, kann jedoch auch nicht Religion der Tat als Handlung aus der Nachahmung mythischer Erfahrung erwachsen. Wohl aber können aus Religion als Handlung Grundlagen für das rechte Handeln erwachsen. Solche GrundlageP wirken im Recht, nicht legitimierend, was - wie Fichte erstmals gesehen hatnur die "praktische Gültigkeit des Syllogismus" vermag 17 • Sie wirken als Grundlagen des Verständnisses von Rechtsgewohnheiten und verweisen so auf die geschichtliche Ermöglichung gerechten Handeins durch die Religion. Um noch einmal J acobi zu zitieren, wie dies Fichte vornehmlich auch in der Grundlage des Naturrechts tut: "Alle Geschichte geht in Unterricht und Gesetze vorwärts aus, und alle Bildung der Menschen schreibt sich von ihnen her. Nicht von Vernunftgesetzen oder rührenden Ermahnungen; sondern von Anweisung, Darstellung, Vorbild Zucht, Hilfe Rath und That, Dienst und Befehl." So ist Religion Mittel, der "elenden Natur des Menschen aufzuhelfen"18.

Anmerkungen 1. Erste Einleitung in die Wissenschaftslehre SW I, 434. 2. Die Tagung fand in den Räumen des Zisterzienserklosters Zwettl, Niederösterreich statt. 3. Vgl. Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschafts/ehre, SW III, 10 f.; GA I, 3, S. 321 f. 4. Vgl. Reinhard Koselleck, Kritik und Krise, Freiburg 1959, 3 1973 (Taschenbuchausgabe), s. 121 ff., 130. 5. Vgl. dazu Edith und Wilhelm Wagesreither, Kleine Chronik von Schlof~ Rosenau. 3 1976, s. 21 ff. 6. Vgl. Xavier Leon, Fichte et son temps. ll, 2, Paris 1927, S. 91 und: Feßler, Fichte et Ia Loge Royal York ii Berlin, Revue de Metaphysique et deMorale XVI ( 1908) S. 813-843. 7. Fichtes Vorträge vor der Berliner Loge, die zeitgenössisch in den Eleusinien des 19. fahrhundert 1802/03 leicht umgearbeitet als "Briefe an Konstant" erschienen, wurden mehrfach neu herausgegeben, zunächst Albin Freiherr von Reitzenstein: Fichte Bücherei der Freimaurer 7/8. Maurerische Klassiker I, Berlin o. ]., dann von Wilhelm Flitner, Philosophie der Maurerei. Neu herausgegeben und eingeleitet, Leipzig 1923. 8. J ohann Gottlieb Fichte, Ausgewählte politische Schriften, herausgegeben von Zwi Batscha und Richard Saage, Frankfurt/M. 1977. 9. Philipp Otto Runge, Hinterlassene Schrzften, herausgegeben von dessen ältestem Bruder. Faksimiledruck der Ausgabe von 1840/41, Bd. II, S. 242, 200, 202. Eine bildhafte Veranschaulichung von Fichtes utopischem Fragment "Die Republik der Deutschen" kann man jedoch eher in Schinkels Gemälden etwa Der Triumpfbogen und Schloß Orianda finden. 10. Aus Feßlers Tagebuch, zitiert nach F. Barton, lgnaz Aurelius Feßler. Vom Barockkatholizismus zur Erweckungsbewegung. Wien, Köln, Graz, 1969, S. 295. Vgl. auch: Fichte in vertraulichen Briefen seiner Zeitgenossen, gesammelt und herausgegeben von Hans Schulz, Leipzig 1923, S. 138. 11. Vgl. SW VII, S. 539-545. 12. Hier ist anj. L. Austins Verständnis der Performanz gedacht. (How to do things with words, Oxford 1962), wobei der Begriff des Glückens oder Gelingens der Sprachhandlung von mir nicht so positivistisch und utilitaristisch verstanden wird, wie er in einigen Beiträgen dieses Bandes erscheint. Daß auch eine Verständnismöglichkeit in meinem Sinne angemessen ist, zeigt die Anwendung, die Lars Bejerholm und Gottfried Hornig, in: Wort und Handlung, Gütersloh 1966, der Performanztheorie auf das symbolisch-kultische religiöse Sprechen gegeben haben. 13. Vgl. SW VII, S. 543, 544, 45. 14. Fichte in vertraulichen Briefen, a.a.O., S. 221/22. 15. Barton,lgnatz Aurelius Feßler, a.a.O., S. 140.

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Klaus Harnmacher

16. Friedrich Heinrich ]acobi's Werke, Leipzig 1812-1825, Band 111, S. 51. 17. Grundlage des Naturrechts SW III, S. 50; GA I, 3, S. 356. Man vergleiche zu diesem Begriff meine Abhandlung Uber Erlaubnisgesetze und die Idee sozialer Gerechtigkeit im Anschluß an Kant, Fichte, facobi und einige Zeitgenossen in: Erneuerung der Transzendentalphilosophie im Anschluß an Kant und Fichte, Reinhard Lauth zum 60. Geburtstag, Stuttgart Bad Cannstatt 1979 S. 121141. 18.]acobi's Werke IV, 1, S. 241.

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I. WISSENSCHAFTSLEHRE

Michael Brüggen Die beiden Grundbegriffe der Wissenschaftslehre Daß ,ideal' und ,real' Grundbegriffe der Wissenschaftslehre sind, muß nicht ausführlicher begründet werden. Wir begegnen ihnen in allen Texten, und in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre, aber auch in den Vorträgen, die im Frühling 1804 gehalten worden sind, konkurrieren bekanntlich über weite Strecken ,idealistische' und ,realistische' Argumente miteinander. Schwieriger ist es, wenn man sich der Frage zuwendet, was denn die genauere Bedeutung und Funktion dieser Begriffe im System der Wissenschaftslehre ist. Hält man sich an die erwähnten Vorträge von 1804, so scheint zunächst kein Problem zu bestehen: der Gedankengang verläuft, wenigstens vom 11. bis zum 15. Vortrag,in der Weise, daß sich Idealismen und Realismen auf jeweils höherer Stufe ablösen und negieren, bis schließlich das eine Reale, das Sein, ausgesprochen in einem ,Grundsatz', zutage tritt. Fichte nennt das Ergebnis im 15. Vortrag eine Vernunft- und Wahrheitslehre, der nur noch eine Erscheinungs- und Scheinlehre folgen werde. Es scheint daher, in groben Umrissen, klar zu sein: Das Reale, das Sein, ist das üa auch von Schelling her bekannte) Absolutum und das Ideale - nun, ein Aspekt, der vielleicht etwas stört, aber im Hinblick auf das ,Absolute' fast außer acht gelassen werden kann. W. Janke hat seine Ausgabe der Vorträge von 1804 und seine Arbeit über die Wissenschaftslehre mit dem 15. Vortrag enden lassen 1 • Das erscheint konsequent und doch irgendwie unbefriedigend. Nun hatte schon M. Gueroult dem Realen einen gewissen Vorrang gegeben, und die Stellung des ,Grundsatzes' ist für den Interpreten der Wissenschaftslehre bis heute überhaupt selbstverständlich. Daß der genannte Text nicht fünfzehn, sondern achtundzwanzig Vorträge zählt, dafür gibt es ja Fichtes Unterscheidung zwischen einer Wahrheits- und einer Erscheinungslehre. Aber was heißt das eigentlich: Erscheinungslehre? Meines Erachtens kann die Antwort nur sein: Daß es mit dem Grundsatz im 15. Vortrag gerade nicht getan ist, daß er nur ein Moment darstellt, dem ein zweites korrespondiert. Um das zu zeigen, möchte ich zunächst kurz auf den Beginn des 16. Vortrages eingehen. Dort reflektiert Fichte darauf, daß das ,Sein' eingesehen und diese Einsicht erzeugt, daß das Sein konstruiert worden sei. Dadurch, so gibt Fichte zu, trete wieder eine Art idealistischer Ansicht ein. Es sei zwar das Sein selbst, das sich konstruiere, aber nur dann, wenn es konstruiert werde. Das Sein, das Reale des Grundsatzes, werde ,problematisch' oder mittelbar konstruiert, während es im Grundsatz als sich unmittelbar konstruierend hingestellt worden sei. Die problematische Konstruktion sei bloß bildlich und idealisch, wogegen die erste real gewesen sei. ,Real' sei sie aber nur im Gegensatz zur ,idealen' Konstruktion. Das Prädikat ,real' sei also relativ und nur durch seinen Gegensatz verständlich; es vernichte- man beachte das wohl- die Absolutheit der ersten Einsicht; gemeint ist fraglos das, was im Grundsatz ausgesagt worden war. Fichte macht deutlich, es gehe ihm weder um die ideale noch um die reale Selbst-

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Wissenschaftslehre. Michael Brüggen

konstruktion des Seins, sondern um das analytisch-synthetische Prinzip, das beiden zugrunde liege. - Zu Ende des gleichen Vortrags wird betont, das Sein des Grundsatzes sei immer objektiviert worden. Fichte hält sich hier an eine erneute Reflexion, die folgendermaßen vorgetragen wird: Solle es zu der Einsicht kommen, daß die ideale Selbstkonstruktion im absoluten Wesen selbst begründet sein müsse, so müsse eine solche Selbstkonstruktion faktisch gesetzt werden. Dies ,Soll', so wird gesagt, sei die ideale Selbstkonstruktion des Seins, die unmittelbar die Sache selbst gebe; alles andere -also auch das ,Sein' des Grundsatzes -seien nur Projektionenper hiatum. Das ,Soll' sei offenbar ein Prinzip, das Konstruktion und Sache, ideal und real sei. Dies sei das wahrhaft Erste 2 • Im 18. Vortrag räumt Fichte ein, er könne in einen neuen und höheren Idealismus geraten sein 3 . Im 21. Vortrag wird, ebenfalls im Gegensatz zur herkömmlichen Auffassung, nach wie vor von einem ,Aufsteigen' und einer Abstraktion von allem Relativen gesprochen, wodurch das Auge für das Absolute geöffnet werden solle. Fichte macht auch jetzt auf den idealen, idealistischen Charakter des Gedankengangs aufmerksam, indem er darauf.reflektiert, daß frei abstrahiert und reflektiert worden sei. Dem stellt er dann den realen Aspekt gegenüber und sucht wieder zu dem analytisch-synthetischen Prinzip beider zu gelangen. Fichte fragt zu diesem Zweck, wekhe der beiden Ansichten vorläufig als absolut zu erachten sei, um aus ihr die andere zu erklären. Bezeichnenderweise lautet seine Antwort, es sei die idealistische Seite, so daß die Wissenschaftslehre, die zwischen einem idealistischen und einem realistischen Prinzip stehe, idealistisch zu werden scheine. Es werde sich aber ein Prinzip finden, das beide Seiten . . 4 verem1ge . Im 23. Vortrag wird das Sein, das im Grundsatz zum Ausdruck gebracht worden war, mit ,Gewißheit' gleichgesetzt und anschließend wieder darauf reflektiert, daß diese Gewißheit beschrieben und nachkonstruiert worden sei - also auf den idealen Aspekt hingewiesen. Demgemäß wird konstatiert, daß die hingestellte, entäußerte und objektivierte Gewißheit der Form nach nicht absolut sei und das Absolute -man beachte dies wieder - noch aufzusuchen sei 5 • Oder der 26. Vortrag: Die Gewißheit sei wie oben das absolute Sein ein ln-sich-Geschlosscnsein. Nun setzten wir - das ist wieder die ideale Ansicht - einen ursprünglichen Begriff oder eine Beschreibung dieses Insich-Geschlossenseins voraus. Wie sei dieser Begriff, diese Beschreibung möglich? Fichte betont, das heiße zu einem Glied aufsteigen, das höher sei, als es alle bisherigen gewesen seien. Und nachdem er diesen Aufstieg vollzogen hat: Diejenige Einsicht, die am Schluß des ersten Teils so merkwürdig geworden sei, nämlich daß das Sein absolut in sich geschlossen sei, sei dort bloß faktisch vollzogen und hier in ihrer Genesis eingesehen worden 6 . Noch im vorletzten Vortrag ist die Situation nicht wesentlich anders. Wir hörten vorhin, daß der im 15. Vortrag aufgestellte Grundsatz als Vernunft- und Wahrheitslehre bezeichnet wird. Im 27. Vortrag ist nun erneut, oder soll ich sagen erst eigentlich, von Vernunft die Rede: Die hier vollzogene Einsicht sei die absolute Vernunfteinsicht; wir seien in dieser Einsicht die absolute Vernunft geworden. Und noch einmal: Hier zeige sich die Vernunft als absolute Vernunft. Dies sei die Vernunftlehre -Vernunftlehre als der erste und höchste Teil der Wissenschaftslehre 7 _Man erkennt, Fichtes Reflexionen kreisen nach wie vor um das, was der Grundsatz des 15. Vortrags geklärt und erledigt zu haben schien. Anschließend wird übrigens erneut auf den idealen Aspekt

Die beiden Grundbegriffe der Wissenschaftslehre

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reflektiert, die Synthese mit dem realen vollzogen und ebenso im letzten Vortrag. Wenn ich kurz zusammenfasse, so scheint es mit dem Grundsatz, wie er im 15. und 16. Vortrag aufgestellt wird, mit dem Sein, dem Realen, nicht sein Bewenden zu haben. Fichte sieht sich offenbar immer wieder veranlaßt, einem anderen Aspekt, einem idealen, Rechnung zu tragen. Nun könnte man einwenden- und dieser Einwand würde in gewisser Weise auch Fichte treffen -, daß der Grundsatz bereits das ideale Moment enthalte und dies Moment in den folgenden Ausführungen nur immer wieder geltend gemacht werde. Diesem Einwand würde ich durchaus zustimmen. Nur, wenn man so ,großzügig' interpretiert und diesen doppelten Aspekt im Grundsatz selbst enthalten glaubt, dann würde ich das gleiche Argument den Interpreten, die dem Grundsatz eine Vorrangstellung zugeschrieben haben, zurückgeben und fragen, ob man in dieser Weise nicht schon die früheren Vorträge derselben Fassung deuten müßte: etwa die eingehenden Analysen des 4. Vortrags. Aber ich sagte: so könnte man einwenden und den Grundsatz deuten. Ich bin gar nicht sicher, daß man dies tut -im Gegenteil. Damit aber wird die Frage, die ich aufgeworfen habe, virulenter. Bisher könnte man den Eindruck gehabt haben, es gehe hier um ein historisches Spezialproblem einer bestimmten Fassung der Wissenschaftslehre. Ich glaube, daß sich ein tieferes Problem dahinter verbirgt und daß daher die Frage, von der ich ausging: Was die Begriffe ,ideal' und ,real' im System der Wissenschaftslehre bedeuten, eine Frage von größerer Tragweite ist. Um das zu zeigen, muß ich auf die alte Frage eingehen, ob die Wissenschaftslehre Veränderungen oder Perioden durchgemacht hat, sich in bestimmten ,Momenten' zeitlich entwickelt hat. Gueroult ist bekanntlich dieser Ansicht gewesen: Fichte habe in der veröffentlichten Fassung von 1801 oder Anfang 1802 einen idealistischen Standpunkt eingenommen 8 und diesen in den Vorträgen vom Frühling 1804 zugunsten eines realistischen aufgegeben. Er bemerkt, in der ersten Fassung werde einseitig und negativ vom idealen und nicht vom realen Moment her konstruiert 9 • Dieser Auffassung hat sich auch W. ]anke angeschlossen: Die Position des Realen bestehe hier in einer Negation des Für-uns-Seins, und Fichte bleibe damals in einem einseitigen Idealismus verfangen; er interpretiere einseitig idealistisch vom Bewußtsein aus 10 . Wenn man die ablehnende Bewertung dieses Tatbestands außer acht läßt: an dem Tatbestand selbst, dem idealistischen Standpunkt, gibt es sicher keinen Zweifel. Fichte sagt dort, die Wissenschaftslehre leite das Sein aus dem absoluten Wissen als dessen Negation ab und sei eine ideale Ansicht. Es könne sein, daß sich, allerdings der Wissenschaftslehre untergeordnet, eine höchste reale Ansicht finden werde. Dies sei der reine Moralismus, der realistisch dasselbe sei was die Wissenschaftslehre formal und ideali· stisch 11 • Aber das ist ja bekannt: fast durchgehend nennt Fichte seine Lehre Idealismus, oder näher kritischen, transzendentalen ldealismus 12 • Sofern man, wie Gueroult und die meisten neueren Autoren, eine Art Dreischritt konstruiert, in dem sich die Wissenschaftslehre von ihrem Beginn I 794 über den Zeitraum 1801/02 zum Gipfel im Frühling 1804 hinbewegt habe, dann fragt sich unter anderem, wie darin die Vorträge einzuordnen sind, die Fichte zu Anfang des Jahres 1804 gehalten hat. Man müßte erwarten, daß diese Vorträge den gleichen Realismus offenbaren, wie er der Veranstaltung vom Frühling zugeschrieben wird, zumal sie ja nur wenige Wochen voneinander getrennt sind. Aber das. Gegenteil ist eher der Fall. Im 21. und 22. Vortrag wird die Wissenschaftslehre erneut mit dem idealen Standpunkt iden-

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Wissenschaftslehre. Michael Brüggen

tifiziert und von dem realen abgegrenzt 13• Auch jetzt wird sie rundheraus als Idealismus bezeichnet 14 . Auf den gleichen Titel wird auch im Frühling keineswegs verzichtet. Im ersten Vortrag berichtet Fichte, daß sich die Wissenschaftslehre für Idealismus ausgebe, und widerspricht nur einem Schluß, den man daraus gezogen hatte 15 . Daß im 21. Vortrag ausdrücklich der idealistische Aspekt zugrunde gelegt wird, um zum Prinzip zu gelangen, sagte ich schon. - In der Erlanger Vorlesung, die Fichte im Sommer 1805 gehalten hat, wird in der 23. Stunde unumwunden erklärt, die Sätze würden nun immer idealistischer, und in der 25. Stunde der eigene Standpunkt als absoluter Idealismus bezeichnet 16 . Aber ähnliches ist ja in fast allen späteren Schriften enthalten 17 _ Es ist also höchst zweifelhaft, ob man zwischen einem idealistischen Standpunkt 1801/02 und einem realistischen im Frühling 1804 unterscheiden darf. Wie hat Fichte in der Vorrede der Anweisung zum seeligenLeben festgestellt: Die philosophische Ansicht, die ihm schon vor dreizehn Jahren zuteil geworden sei, habe- obwohl sie manches an ihm geändert haben werde - sich selbst seit dieser Zeit in keinem Stück geändert18. Und das war doch diejenige Ansicht gewesen, die Fichte 1795 gegenüber Jacobi so charakterisiert hatte: transzendentaler Idealismus, härter, als der Kants gewesen sei 19 • Ist die Wissenschaftslehre nicht also erheblich mißverstanden worden, zugunsten einer Seinslehre, die Fichte als Dogmatismus bezeichnet hätte? Daß dieser Verdacht nicht ganz unbegründet ist, zeigt sich auch daran, daß die Kritik, die an der Fassung von 1801/02 geübt wurde, auffallend mit derjenigen Kritik übereinstimmt, die schon Schelling geäußert hatte. Fichte hatte bekanntlich betont, daß nicht von einem Sein, sondern von einem Sehen oder Wissen ausgegangen werden müsse 20 . Schelling bemängelt aber genau umgekehrt, daß das absolute Sein nur die letzte Synthesis und nicht auch das Erste sei, von dem ausgegangen werden könne- daß es bloß ,Resultat' sei; daß Fichtes ,Verstandesreflexion' von unten aufsteige, während nach ihm, ScheiIing, die Vernunft mit einemmal die absolute Identität als das Erste setze und fasse und von dem Ewigen ausgehe 21 . Das ist nun auch der Einwand Gueroults: Das letzte Resultat werde nicht in einen realen Anfang umgewandeit 22 . Ähnlich schreibt W. Janke, in der Darstellung von 1801 werde das realistische Seinsverständnis nicht ernstgenommen, das gezeigt habe, daß das Bewußtsein und seine Relationen angesichts des ,Anfangs' und des ursprünglichen Seins inadäquat seien 23 . Man sieht, welche Forderungen die Kritiker damit an die Vorträge des Frühlings 1804 stellen und dort erfüllt sehen. Aber hat Fichte diese Forderungen wirklich erfüllt und konnte er sie als Transzendentalphilosoph überhaupt erfüllen? Das ist letztlich wieder die zu Anfang gestellte Frage, welche Bedeutung und Funktion die Begriffe des Idealen und des Realen im System der Wissenschaftslehre haben. Ich muß mich daher genauer mit dieser Frage beschäftigen. Zunächst kehre ich zu jener Stelle in der Fassung von 1801/02 zurück, um zu ermitteln, warum Fichte dort die Wissenschaftslehre als idealistisch kennzeichnet. Nun, kurz zuvor bemerkt er, das Wissen finde in und durch sich sein absolutes Ende, seine absolute Begrenzung. Fichte betont, im Wissen durch das Wissen selbst geschehe dies; das Wissen fasse die Begrenzung als solche. Es werde daher einerseits kein Wissen oder keine Freiheit mehr gefaßt, und doch sei andererseits ein Wissen. Fichte mißt diesem Gedanken große Bedeutung bei: Dies sei eben das große Geheimnis, das keiner habe erblicken können, weil es zu offen daliege und wir allein in ihm erblickten. Wenn das

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Wissen ebendarin bestehe, daß es seinem Ursprung zusehe, oder wenn Wissen soviel wie Fürsich, Innerlichkeit des Ursprungs heiße, so sei seine Grenze sein Nichtsein, und zwar ebenfalls innerlich, ftir sich, von dem Fürsichsein aus. Fichte fährt fort, darin bestehe eben das Wissen laut allen Erörterungen. Das In-sich-Beweglichsein, die Durchdringlichkeit und Durchsichtigkeit, der Lichtcharakter, der dem Wissen zukommen solle, sei ebendiese Innerlichkeit des Ursprungs. Dies sei das absolute ,Sein'. Es sei der im Wissen ergriffene absolute Ursprung, das im Wissen ergriffene Nichtsein des Wissens. Es sei ein Sein, eben weil es im Wissen sei, und sei doch das Nichtsein des Wissens. Ferner sei es absolut, weil das Wissen absolut sei. Oder: Das reine Sein sei das reine Wissen, ,gedacht' als Ursprung für sich, als Nichtsein. Es folgt dann die oben zitierte Äußerung, diese Ableitung des Seins aus dem Wissen als dessen Negation sei die ideale, idealistische Ansicht und die Ansicht der Wissenschaftslehre 24 . Lassen Sie mich es mit anderen Worten wiedergeben: Die Position, das Sein, das Reale, ergibt sich allein daraus, daß das Wissen, das ideale Moment, sich selbst negiert und gerade in dieser Negation ist, gesetzt und setzend ist. Das Ideale ist der Ausgangspunkt und zugleich der Punkt der Rückkehr - insofern nämlich, als jede Fixierung - etwa des Seins eben als eines Seins -bereits wieder idealen Charakters, Gegenstand des Wissens, Setzung ist. Wendet man sich den Vorträgen vom Frühling 1804 zu, so ist schon zu erwarten, daß dieser Gedanke, den Fichte für so zentral ansieht, auch dort vorgetragen wird. Überraschend ist höchstens, wie unermüdlich, wie reich variiert und wie detailliert dies geschieht. Ich erwähnte zu Anfang den 21. Vortrag, in dem Fichte feststellt, diejenige der beiden möglichen Ansichten, die als absolut erachtet werden solle, um aus ihr die andere zu erklären, sei die idealistische Seite. Diese Synthese oder Analyse des Prinzips wird nun ähnlich wie früher folgendermaßen beschrieben: Es werde die Genesis des Wissens vorausgesetzt, wie es in dem Satz des absoluten Idealismus gefordert werde, und dieser Genesis wiederum ein Prinzip voraus,gesetzt'. Das aber heiße, das Wissen sei innerlich und materialher Nicht-Genesis. Ungeachtet dieses ,Nicht' sei es aber nicht nicht, sondern wirklich und in der Tat; es sei daher positive Nicht-Genesis. Es sei nichts außer der Genesis negiert, und diese sei positiv negiert. Nun sei die positive Negation der Genesis ein bestehendes ,Sein'. Daraus erhelle genetisch das, was oben - gemeint ist wahrscheinlich der Grundsatz im 15. Vortrag- faktisch erschienen sei, nämlich das absolut objektive und vorausgesetzte Sein des Wissens. Es erhelle daraus, daß der Genesis des Wissens im Wissen ein Prinzip ,gesetzt', das heiße die Genesis für nicht absolut erklärt werde; daß sie mithin positiv im Wissen vernichtet, und das heiße wiederum ein absolutes Sein des Wissens "gesetzt werde: alles dies, wie nochmals gesagt wird, im Wissen25. Oder lassen Sie mich eine Stelle aus dem 25. Vortrag anführen. Fichte hat zuvor erneut auf das ideale Moment reflektiert: auf die ,Nachkonstruktion', die als Nachkonstruktion willkürlich erscheine. Die Lösung, die Synthese mit dem Realen, liegt wieder in dem Gedanken der positiven Negation und lautet hier folgendermaßen: ,Nachkonstruktion', ,Bild', deute auf ursprüngliche Konstruktion, auf Sache hin. In dem Begriff der Intuition müsse daher jenes Erste ,gesetzt' werden. Es müsse, heißt es näher, ein Gesetz vorausgesetzt werden, demzufolge Nachkonstruktion und Bild sei und das virtualiter im Bild, im Bild als seinem Effekt liege. Und wieder mit einem Blick auf den idealistischen Charakter der Wissenschaftslehre: Die Wissenschaftslehre stehe in dem

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Bild als Bild, und es sei das implizierte und virtuale Gesetz in uns, das sich idealiter konstruiere oder setze. Fichte betont noch einmal, der nervus probandi, der Beweisgrund, sei das Bild als Bild. Es ist selbstverständlich nicht das bloße Bild, das ideale Moment allein: Bild ohne Sache ist ohne Sinn. Genausowenig aber - und das scheint man in einer gewissen antiidealistischen Einstellung häufig übersehen zu haben -, genausowenig ist nach Fichte die Sache, die Realität, für sich allein, als nicht ideale Setzung zu haben: das ist vielmehr das Erbübel mangelnder Reflexion, des Dogmatismus. Der einzig gangbare Weg besteht wie gesagt darin, das Bild als Bild zu verstehen, das heißt vom idealen Moment her via negationis das reale andere seiner selbst zu erfassen. Fichte drückt dies so aus: Das Wissen stehe weder in der Nachkonstruktion als solcher oder in der ,Vorstellung' noch auch in dem Ursprünglichen, in dem Ding für sich, sondern auf einem Standpunkt zwischen beiden: es stehe im Bild, der Nachkonstruktion, als Bild, und in diesem Bild entstehe ihm durch ein inneres Gesetz das Setzen eines Gesetzes. ,Setzen eines Gesetzes', das ist als Genitivus subiectivus und obiectivus zu verstehen. Abschließend wird festgestellt, dies, daß das Wesen des Bildes durchdrungen werde, sei die ursprüngliche, absolute Einheit, die synthetische Periode 26 • Ich erwähnte bereits zu Anfang den 26. Vortrag: daß die Gewißheit wie das absolute St:in ein ln-sich-Geschlossensein sei; daß wir-- damit wird wieder auf das ideale Moment reflektiert -einen Begriff, eine Beschreibung dieses In-sich-Geschlossenseins voraussetzten und sich die Frage ergebe, wie dieser Begriff, diese Beschreibung möglich sei. Die Antwort darauf verweist einmal mehr auf die bekannte positive Selbstvernichtung: Die Beschreibung oder das Sehen vernichte sich selbst; da es aber dennoch in dieser Vernichtung seiner selbst sei, so ,intuiere' und ,projiziere' es ein Sein; da es ferner dies Sein vermöge seines eigenen Wesens projiziere und dies Wesen .ifußerung sei, so sei das Sein innerlich sich äußernd. Dieser Gedankengang wird noch einmal in seine einzelnen Schritte auseinandergelegt: Das Sehen entdecke sich als materiale und qualitative Äußerlichkeit und Emanenz und vernichte sich dadurch in sich selbst vor dem absolut immanenten Sein. Gerade indem das Sehen sich entdecke und vernichte, sei es, denn wir seien ja weiterhin Wissen, und es sei als .ifußerung. Das Sein, vor dem es sich vernichte, sei daher kein anderes als sein eigenes höheres Sein, und dies sein Sein trage sein ursprüngliches Gepräge, das Äußern; das aber heiße, es äußere sich. -Wie vollkommen diese vermittelte Selbstvermittlung ist, zeigt Fichtes Bemerkung, das Sehen werde - ich könnte hinzufügen: wiederum- wirkliches Sehen oder, wie es auch heißt, reines Licht. Sogar das ,Werden', Erst-Zustandekommen dieses Sehens oder Lichtes sucht Fichte zu vermeiden: Das reine Licht werde nicht, sondern sei; es werde nur in der Einsicht, eben dadurch, daß das Sehen sich selbst vor dem ,Sein' veri::lichte. - Gerade deshalb aber, weil das Sehen in dem Begriff ,Licht' unter einem neuen Namen wiederkehrt und vermittelt ist, stellt sich die Frage, was eigentlich negiert ist und was positiv gesetzt ist. Fichte fragt, inwieweit und aus welchem Grund das Sehen vernichtet werde. Die Antwort lautet: Weil es )fußerung eines ,anderen' und einem anderen gegenüber sei; dies andere liege nun, vermöge seiner Selbstvernichtung, in ihm selbst. Es sei die Intuition, die vernichtet werde. Es folgt dann die schon oben zitierte Stelle, daß die Einsicht, die am Schluß des ersten Teils gestanden habe, nämlich daß das Sein absolut in sich geschlossen sei, hier in ihrer Genesis eingesehen worden sei. Zusammenfassend wird noch einmal der idealistische, das heißt vom idealen Moment ausgehende Charakter des ganzen Gedankengangs hervorgehoben: Die gesuchte Beschreibung der Gewiß-

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heit als eines In-sich-Geschlossenseins sei lediglich daraus ,realisiert', daß das Sehen, die Idealität und die Anschauung als solche näher beschrieben worden sei. Um es mit anderen Worten zu sagen: Idealität ist nicht ohne Realität, aber- was transzendentalphilosophisch ebenso wichtig ist - Realität ist allein die sich vermittelt erfahrende Idealität, und das heißt Setzung, die solchen Begriff ,Realität' setzt. Realität ist nichts, was man noch anderswo und anderswie erhalten könnte 27 • Eine der ausführlichsten und unmißverständlichsten Aussagen findet sich in der Fassung, die Fichte 1812 vorgetragen hat. Dort heißt es, sowie auf etwas reflektiert werde, erscheine es als Wissen. Das Wissen aber kündige sich als bloßes Schema, als keineswegs Realität an. Alle Reflexion zerstöre die Realität. So viel sei gewissen Leuten, die die Wissenschaftslehre studiert hätten, klargeworden. Nun hätten sie die Realität nicht fahrenlassen wollen. Also, so erkläre man, dürfe man eben nicht reflektieren: das Reflektieren der Wissenschaftslehre sei der Grund ihres vermeintlichen Nihilismus. Auf diese Weisheit sei die Naturphilosophie aufgebaut. Es bezeugt noch einmal Fichtes transzendentalphilosophischen Standpunkt, daß er sich in der Prämisse mit seinen Gegnern einig glaubt, nämlich darin, daß Wissen und Reflexion total ist, das heißt nicht durch etwas ,anderes', von außen her, eingegrenzt werden kann. Erst in der Konklusion weiß er sich von ihnen getrennt. Er fragt, was denn das wahre Mittel sei, dem Verlust der Realität, dem Nihilismus zu entgehen. Die Antwort ist wieder die von dem idealen Moment, dem Wissen, ausgehende Selbstnegation - eine Selbstnegation, die eben dadurch sich, und nur sich, das Ideale, positiv gesetzt erfährt. Es heißt dort: Das Wissen erkenne sich als bloßes Schema und müsse darum auf reiner Realität fußen. Es müsse sich als absolutes Schema, absolute Erscheinung erkennen. Man müsse darum gerade bis zu Ende reflektieren. Diejenige Reflexion, die die Realität vernichte, trage in sich selbst ihr Heilmittel, nämlich den Beweis der Realität des Wissens selbst 28 • Das ganze Problem, diesen Gedanken zureichend zu erfassen, lag und liegt m.E. bis heute in der selbstverständlichen Annahme, ihn und damit das Reale allein theoretisch, intellektuell - und sei es in der auch von Schelling in Anspruch genommenen ,intellektuellen Anschauung' -bewältigen zu können. Statt dessen ist es nötig, sich in dem Akt solcher Theorie, solchen Intellekts zu finden, sich mit dieser Praxis zu identifizieren. Darauf deutet Fichte etwa im Frühling 1804 hin, wenn er im 4. Vortrag sagt, der Einheitspunkt des Wissens könne zwar unmittelbar ,realisiert' werden, und das, was wir als Wissenschaftslehre seien, sei gerade diese Realisation; aber der Einheitspunkt könne in seiner Unmittelbarkeit nicht ausgesprochen oder nachkonstruiert werden 29 • Oder im 6. Vortrag: Die wahre Einheit könne nicht gesehen und erblickt werden, denn das sei objektiv, sondern sie liege in dem, was wir selbst seien, trieben und lebten 30 . Ähnlich noch im 2 7 _ Vortrag: Es sei zur Genüge deu dich gemacht worden, daß man das Absolute nicht erfasse, wenn man es nicht lebe und treibe 31 • Demgemäß wird in den Vorträgen über die sog. Prinzipien der Gottes-, Sitten- und Rechtslehre, die Fichte Anfang 1805 gehalten hat, das Reale mit dem ,Praktischen' gleichgesetzt und von dem Sichtbaren und Objektiven unterschieden 32 • Oder in der Erlanger Vorlesung: Das eigentlich Reale ruhe darin, daß und wie gelebt werde. Es sei ein unsichtbares Tun: im Tun allein trete das göttliche Wesen unmittelbar mit der Form zusammen 33 • Daß und wie gelebt werde: Auch das Wie ist also von Bedeutung. Fichte hat dies Leben, wie auch das letzte Zitat nahelegt, häufig als religiös qualifiziert 34 • Zumeist wird es aber mit den Kanti-

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sehen Begriffen der praktischen Vernunft charakterisiert. So in dem System der Sittenlehre von I 798: Die einzige feste und letzte Grundlage aller meiner Erkenntnis sei meine Pflicht. Diese Pflicht sei das intelligible "An sich" 35 • Oder in der Bestimmung des Menschen: Es sei nichts wahrhaft Reelles, Dauerndes, Unvergängliches an mir als die Stimme meines Gewissens und mein freier Gehorsam 36 • Und in den Thatsachen des Bewußtseins von 1813: In der Philosophie, der Wissenschaftslehre, gehe dem Menschen das Licht auf über die einzige Realität im Leben, den sittlichen Willen 37 • Begriffe wie ,absolut' und ,das Absolute' sind also im Sinne der praktischen Vernunft und ihres Primats zu verstehen! Die zuletzt angeführte Stelle macht auch deutlich, daß idealistische Philosophie und lediglich sittliche Realität für Fichte eng zusammengehören. Ohne den vollendeten Aufweis, daß das ideale Moment keine äußeren Schranken mehr zuläßt, und seine Selbstnegation verliert sich das Reale in Surrogaten und zeigt sich nicht in seiner Wahrheit, im sittlichen Leben. Deshalb wird ja in der Bestimmung des Menschen die zunächst so verabscheute nihilistische Lehre des ,Geistes', die im zweiten Buch vorgetragen ist, an einer späteren Stelle des dritten überraschend rehabilitiert. Viele seien, so heißt es, durch ihren sittlichen Instinkt und praktisch transzendentale Idealisten gewesen. Andere aber bedürften des fortgeführten und bis zu Ende gebrachten Denkens, sonst würden sie immer wieder durch ihren Verstand herabgezogen. Der Repräsentant des Lesers kann daher fortfahren: "Gesegnet sei mir die Stunde, da ich zum Nachdenken über mich selbst und meine Bestimmung mich entschloß" 38 • Die Wissenschaftslehre, heißt es am Schluß der Darstellung von 1801/02, sei in sich theoretisch und praktisch zugleich. Theoretisch: für sich ein bloßes leeres, schematisiertes Wissen, ohne allen Gehalt, Trieb, Reiz, oder dergleichen; praktisch: sie sei eine immerfort allen Intelligenzen anzumutende Pflicht 39 • - Um es noch einmal in einem Satz zu sagen: Ein ,Realismus' etwa der Wissenschaftslehre von 1804 würde nicht nur ihrem transzendentalphilosophischen Anliegen, als transzendentaler Idealismus, sondern zugleich ihrer engen Beziehung zu der praktischen Vernunftkritik Kants zuwiderlaufen.

Anmerkungen 1. W. Janke, f. G. Fichte Wissenschaftslehre 1804 Wahrheits- und Vernunftlehre 1.-XV. Vortrag. Frankf,prt a. M. 1966.- Ders., Fichte. Sein und Reflexion, Berlin 1970 (zitiert:Janke). 2. fohann Gottlieb Fichte Die Wissenschaftslehre Zweiter Vortrag im fahre 1804, hrsg. von R. Lauth u.J. Widmann, Harnburg 1975 (zitiert: Lauth), S. 161-163 u. 166-169. 3. Ebenda, S. 183. 4. Ebenda, S. 210-211 u. 215-216. 5. Ebenda, S. 230-233. 6. Ebenda, S. 258 u. 261. 7. Ebenda, S. 268-269. 8. M. Guerou1t, L'evolution et la structure de la Doctrine de la Science chez Fichte, 2 Bde. Paris 1930 (zitiert: Guerou1t), Bd. II, S. 110, 118 u. 148. 9. Guerou1t, 11, S. 152-154 u. 158-159. 10.Janke, S. 219-220 u. 297-298. 11. fohann Gottlieb Fichte Darstellung der Wissenschafts/ehre. Aus den fahren 1801/02, hrsg. von R. Lauth, Harnburg 1977 (zitiert: Lauth 1 ), S. 79, Vgl. auch SW I, S. 499. NS II, S. 37, 43-44, 188 u. 194; ebenda, S. 365-366. Daß sich an dieser Lehre Fichtes von dem negativen Begriff des

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,Seins' auch später nichts geändert habe, betont W. Lautemann (Transzendentalphilosophie als Anthropologie und als Erscheinungs/ehre. Ein Panorama neuerer Fichte-Interpretationen, in: Philosophische Rundschau, 23 Jg. (1976), S. 200, 208 f., 259). 12. Vgl. etwa BW II, S. 342, 344, 351, 352 u. 354. 13. ]ohann Gottlieb Fichte. Erste Wissenschaftslehre von 1804, hrsg. von H. Gliwitzky, Stutt· gart- Berlin- Köln- Mainz 1969, S. 130-132 u. 138. 14. Ebenda, S. 82, 93, 105, 155 u. 161. 15. Lauth, S. 11. 16. Manuskript BI. 34v. u. 38r. 17. Vgl. t:. a. NW I, S. 131, 216 f., 256, 283, 309,364,391 u. 398; ebenda, S. 409,423,431, 436 usw. SW IV, S. 374. NW I, S. 38.f., 56,68 u. 100. BW II, S. 549. 18. SW V, S. 399. Vgl. auch SW VIII, S. 369. 19. BW I, S. 501. 20. BW 11, S. 324. Lauth', S. 19. 21. BW II, S. 334-336. 22. Gueroult, II, S. 154. 23.Janke, S. 297. Demgegenüber hat K. Giel in seiner Arbeit Fichte und Fröbel, Heidelberg 1959, den richtigen Gesichtspunkt, gerade auch in Abhebung von Schellings Lehre, unterstrichen; vgl. insbesondere S. 86. 24. Lauth 1 , S. 77-79. 25.Lauth,S. 215-·217. 26. Ebenda, S. 249-252. 27. Ebenda, S. 259-262. 28. NW Il, S. 324-326. 29. Lauth, S. 33. 30. Ebenda, S. 56-57. 31. Ebenda, S. 273. Vgl. auch SW VIII, S. 372. 32. Manuskript BI. 6a u. 18. Vgl. auch die Erlanger Vorlesung, Bl. 33r. 33. Ebenda, BI. 28r. 34. Vgl. Lauth, S. 82-83. 35. SW IV, S. 172. Vgl. auch SW V, S. 259 f. 36. SW II, S. 299. 37. NW I, S. 569-570. 38. SW II, S. 308-309. 39. Lauth 1 , S. 225.

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Diskussion Manzana: Wie verstehen Sie die Beziehung des Wissens auf das schlechthin Absolute? Sind Sie der Auffassung, daß das einzige Sein das Sein des Bildes ist, nicht das Sein, das absolute Sein. Wie steht es um das Sein des Absoluten? Geht so nicht der Realismus des absoluten Seins verloren? Brüggen: Die Selbstnegation legt eben dadurch, daß sie in sich Wissen bleibt, diese ihre Praxis aus. In dieser Selbstauslegung ergeben sich all' die Momente, die wir aus der Sittenlehre und der Religionslehre kennen: die Selbsterfassung als sittlicher Wille, der von einem Sittengesetz aufgefordert wird, dies sinnvoll zu erfüllen, usw. Manzana: Wie erscheint das Absolute im Wissen? Brüggen: Nach Maßgabe der Stellen, die ich zum Schluß angeführt habe, primär als ein sittlich erfüllter Wille; das ist der Ausgangspunkt: der jeweils einer gewissen Aufforderung entsprechende Wille. Wenn einmal ein absoluter göttlicher Verstand im Spätwerk Fichtes in Betracht gezogen wird, dann niemals in dem Sinne, wie es Schelling versuchte: in einer Trennung von negativer und positiver Philosophie; es bleibt vielmehr bei der ,gnoseologischen' Rückbeziehung auf den Akt des Wissens, das sich selbst auslegt. Widmann: Der Idealismus äußert sich prinzipiell auf keine andere Weise als in der Praxis, und zwar durch die Maxime dieser Praxis. Die entgegengesetzte Maxime ist die des Realismus; aber wenn ich argumentiere und wenn ich denke, kann ich nicht beide gleichzeitig praktizieren, sondern ich kann das Problem nur dadurch lösen, daß ich sie im Nacheinander durchschreite. Damit kommt das Problem der Vollständigkeit hinein; ich muß alle idealistischen und alle realistischen Synthesen, und zwar in ihrer eigentümlichen Reihenfolge vollziehen. Diese Reihenfolge darf ich nicht durcheinanderbringen. Im 25. Vortrag wird in meinen Augen das Disjunktionsprinzip sowohl des Idealismus als des Realismus aufgestellt. Es ist das Prinzip des "Bildes". Wenn ich eine Photographie eines Menschen habe, habe ich ja ein Bild; es ist nicht der Mensch, sondern es ist nur sein Bild. Gleichzeitig ist dieses Bild ihm gegenüber etwas völlig N eues und Eigenständiges. Und so liegt im Begriff des Bildes etwas, was zum Begriff des Seins, wenn ich den Begriff des Seins für das Absolute in Anspruch nehme, hinzutritt, etwas Neuesund völlig Eigenständiges ist. Ist das Absolute nur das Verborgene im Bild, oder ist das Bild tatsächlich etwas, was zusätzlich zum Absoluten gedacht werden muß, und zwar in seiner vollen Einheit: Bild mit Eigengrund und eigener Konsequenz? Manzana: Wie wird das Absolute ersichtlich im Bild? Brüggen: Ich habe versucht zu zeigen, wie der Begriff des Bildes, der Erscheinung oder des Schemas in das ihm zugrunde liegende Reale umschlägt; von dorther gesehen, ist der Begriff des Idealismus sicherlich einseitig. (... ) Wenn man sich jedoch daran hält, wie sich die Wissenschaftslehre am häufigsten charakterisiert, dann überwiegen die Begriffe des transzendentalen oder kritischen Idealismus. Ich kann mich nach Fichte - nachdem sich das ideale Moment negiert hat - nicht einfach dem Realism~s hingeben und aus dem absoluten Realen ,deduzieren'. ]ergius: Fichte sagt in der Erlangener Fassung: "Trotz des Schwebens der Einbildungskraft dominiere ich die eine Seite. Der Ausgangspunkt wird nicht mehr reversi-

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bei": Das ist für ihn einfach als Transzendentalphilosophen undenkbar; beide Momente sind unauflöslich aneinander gekettet, aber der Ausgangspunkt bleibt für den Transzendentalphilosophen das Wissen, also das Wissen zunächst als Reflexion und dann als Selbstimitation. Ich glaube, nur so kann man das Verhältnis von Realwissen zum Idealismus in der Selbstcharakterisierung darstellen. Ich möchte meine Argumente in drei Gesichtspunkte zusammenfassen, die alle drei zusammengehören und die die zentralen Punkte Ihres Vortrages, Herr Brüggen, berühren. Ich möchte das ausdrücklich auf die WL von 1804 beschränken: 1) Welches sind die Motive Fichtes für die Herausstellung des Idealismus als einseitig in diesem Werk, wobei gar nicht gezweifelt werden kann, daß Fichte daran liegt, das auszusprechen? 2) In welchem Sinne kann man von Realismus in der WL von 1804 sprechen, allerdings natürlich nicht in einem dogmatischen ontologischen Sinne? 3) Wie hängen Idealismus und Realismus tatsächlich nach Fichte in der WL von 1804 zusammen? In welchem Sinne kann also - und hier möchte ich Gueroult folgen - von einem Realismus in der WL von 1804 gesprochen werden, nicht im dogmatischen Sinne, aber in dem Sinne, daß z. B. in solchen Begriffen wie des Seins in sich und durch sich natürlich etwas zum Aufschein kommt durch das Wissen und durch seine Nachkonstruktion, was durch das Wissen selbst nicht verfügbar ist. In diesem Sinne kann man von Realismus sehr wohl sprechen. Das ist natürlich nicht ohne die Reflexion auf die Bedingungen, unter denen das ist. Fichte hat ja ständig die Disjunktion, die im Begriff und noch äußerlicher in der Sprache liegt, sozusagen zurücknehmen müssen, weil er den Einheitspunkt in der Disjunktion sehen will. Und ich stimme auch darin mit ihm überein, daß dieses, was da das Reale ist, als das Praktische bezeichnet werden muß, denn das Leben selbst wird als das Tätige, als das Lebende bezeichnet. In diesem Sinne kann man von einem Zusammenhang von Idealismus und Realismus sprechen, die sich selbst vollziehende N achkonstruktion, die sich auf ihre eigenen Bedingungen durchschaut, also Idealismus; sie kommt schließlich zu ihrer einzig realen Bedingung, die sie nur auf diesem Wege erreichen kann, und das ist der Realismus.

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Wolfgang ]anke Die Wörter ,Sein' und ,Ding' - Überlegungen zu Fichtes Philosophie der Sprache Jegliches dogmatische Philosophem über Ursprung und Wesen der Sprache bewegt sich in einer unaufgelösten Antinomie und- nach Herders Formel- in einem ewigen KreiseL Transzendentale Sprachkritik entwickelt dagegen ein Organ für das antinomische Bild der Spnicherscheinung_ Fichtes wohlletzte Bemerkung über die Sprache vom Sommer 1813 notiert solch einen Widerstreit. ,.Die Sprache ist verständiger, als wir: in ihr nach Herder, J acobi, Reinhold die Weisheit niedergelegt. -Ja, wenn sie überall niedergelegt, u11d die Sprache nicht zugleich auch schöpferisches Produkt wäre der Freiheit aus nichts heraus! Die freizubildende ist durchaus eine andere als die anerschaffene. Ein wichtiger Gedanke, welchen klarer zu machen wir wohl auch den Ort finden werden" 1 . Den Anstoß zu diesem Gedanken gaben wohljacobis Ansichten über das Vermögen der Sprache, "dieses zweyschneidigen Schwertes der Wahrheit und Lüge" 2 • Zumal die Streitschrift Ueber eine Weissagung Lichtenbergs (1801) faßt die Rede unter Menschen als Geschenk unmittelbarer Offenbarung und Auslegung auf - und nicht als Werk menschlicher Erfindungskraft. Die Hypothese einer frei geschaffenen Sprache aus nichts heraus verfällt dem Zirkel: Die Erfindung des Gedankens mit dem Wort und des Wortes mit dem Gedanken bewegt sich im Kreis. Und sie mutet dem Verstand Unverständliches zu: Wie könnte der Verstand allein Luft in eine Stimme verwandeln, die Sinn und Bedeutung hat? Der erklärende und nach-weisende Verstand führt im Menschen nicht das letzte Wort. Für sich gestellt, ist der selbstgewisse Geist des Menschen ein sinnloser Selbstlaut. Ohne die Mitlaute Natur und Gott kann er sein Dasein nicht aussprechen. Es ist überall in ihm kein erstes und letztes Wort, kein Alpha, kein Omega: Er wird angeredet. Das lebendig einfließende Wort wird ihm zum Zeichen für das unmittelbar Gespürte, nämlich das dem Verstande verborgene, göttliche Sein und Leben. "Selbst offenbaret es nicht; aber es beweiset Offenbarung, bevestiget sie, und hilft das Bevestigte verbreiten" 3 • Das ist die Würde des Wortes. Der Ausdruck der Sprache erscheint danach als Gabe. So ergänzt Jacobi die berühmte polemische Wendung der Schrift ,Von den Göttlichen Dingen und ihrer Offenbarung': Die Natur verbirgt Gott durch den Satz: Die Sprache offenbart Gottes Weisheit. Nun ist diese Absetzung des Verstandes und die Hypothesis der Sprache als Organ für das Verstehen der göttlichen Dinge Resultat einer Entwicklung und einer allmählichen Hamann-Rezeption 4 • Sie setzt mit der 1795 erschienenen Briefabhandlung Zufällige Ergießungen eines einsamen Denkers ein. In ihr heißt die natürliche und unwillkürliche Sprache, die sich in allen Sprachverwirrungen erhält, die Zunge Gottes. Eine göttliche Glotta macht "das Wort zum Worte, zum mächtigsten der Energien"; denn das Wort ist- wie die Wahrheit-- "der Odem Gottes, Gottes ausgesandter Geist" 5 • Komplementär dazu aber zeichnet sich kontinuierlich eine sprachfeindliche Tendenz ab. So wendet sich Jacobi im Brief an Schlosser vom 6. März 1792 dagegen, die Sprache zu einem ,,Menschen oder Vernunft erzeugenden Dinge" zu hypostasieren; "dann gehts gewaltig voran mit dem Thurm zu Babel " 6 • Der Geist des abstrahierenden und annihilierenden Verstandes macht die Sprache zum Gespenst. Ihre in sich toten

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Bezeichnungen töten die Kraft des Begriffs und verbreiten gefährliche Täuschungen und Mißverständnisse. So verhält sich die Sprache zur Vernunft wie der Buchstabe zum Geist; alle tiefer liegende Wahrheit hat das Wortgewebe wider sich. Um das Gespenst der Sprache zu bannen, fordern die Zufälligen Ergießungen eine Regierungskunst der Zeichen und Worte - die wichtigste der Künste; denn die Menschen hängen an einem Worte wie an ihrem Leben 7 . Schon in der neuen Ausgabe des Allwill (in der Zugabe an Erhard 0.} hatte Jacobi die Geschichte der Philosophie als ein Drama bezeichnet, "worin Vernunft und Sprache die Menächmen spielen" 8 ; und er hatte eine Kritik der Sprache als Metakritik der Vernunft erwogen, um dieser Geschichte der Irrungen ein Ende zu bereiten. Reinholds Grundlegung einer Synonymik für den allgemeinen Sprachgebrauch in den philosophischen Wissenschaften (Kiel 1812} nimmt dieses Thema ausdrücklich auf 9 • Reinholds späte Wendung zur Sprachphilosophie folgt der Absicht, die bewußtlose Herrschaft des gemeinen Sprachgebrauchs in der Logik und den daraus unvermeidlich resultierenden Widerstreit der besonderen Sprachgebräuche in der Metaphysik aufzulösen. Reinholds Synonymik will- injacobis Formel- den Instinkt des Buchstabens, die Vernunft unter sich zu bringen, brechen. Das Durcheinander von Sprechen und Denken, der Mißbrauch der Sprache aus Gewohnheit oder durch sophistische Künste können nur aufgeklärt werden, wenn die Grundwörter - Einheit, Sein, Wesen der Dinge -von Gleichnamigkeit und Sinnvermengung befreit werden. Kommt die wahre Bedeutung dieser logisch-metaphysischen Elementarwörter nicht zur Sprache, dann bleibt die Wahrheitssuche der Philosophie im Wechsel philosophischer Systeme ein bloßer Wort-Wechsel. Jacobi, Reinhold und quodammodo auch Herder - Herder glaubt sichtrotz seiner Parteinahme für eine von der menschlichen Seele durch sich selbst geschaffene und fortgeschaffene Sprache mit Hamann einig (vgl. an Nicolai, 2.Juli 1772, das Ende der Preisschrift A"lteste Urkunde des Menschengeschlechts) - begreifen nach Fichtes Bemerkung von 1813 Sprache als Niederlegung göttlicher Weisheit. Sie rühren damit an ein offenes Problem. Fichtes spätere Wissenschaftslehre denkt Sprache als notwendigen Ausbruch des göttlichen, verständigen Lebens und zugleich als Gebilde schöpferischmenschlicher Freiheit. Der Ort für eine Aufklärung dieser Antinomie wäre eine Kritik des reinen Sprachvermögens gewesen. Das Leben hat Fichte dafür keine Zeit mehr eingeräumt. Aber vielleicht ist es möglich, im Durchdenken der von Fichte zu Zeiten vorgelegten Gelegenheitsarbeiten über die Sprache deren Wahrheit und Schein zu scheiden. Zum Leitfaden für solche Wiederholung bietet sich Fichtes Sprachkritik an. Sie geht - tiefer noch als J acobi und Reinhold - auf die Illusion der Sprache und den unvermeidlichen Schein ein, der in den Grundwörtern ,Sein' und ,Ding' wurzelt. In Fichtes frühester geschlossener Abhandlung Von der Sprachfähigkeit und dem Ursprung der Sprache im 1. Band von Niethammers Philosophischem Journal (1 795} findet sich eine merkwürdige Reflexion über die Auszeichnung der Wörter Sein und Ding. Das Wort Sein bezeichne im anfänglichen, vorphilosophischen Gebrauch ein Dauerndes und Bleibendes in der Zeit, ein sinnliches Substrat. "Keine Handlung unsers Geistes wäre ohne ein solches Substrat, und ohne eine Bezeichnung für dasselbe keine Sprache möglich" 10 . Diese These des Journal-Aufsatzes mißt den Wörtern Sein und Ding ein sprachkonstituierendes Gewicht zu. Ohne sie fehlte der Sprache nicht irgendein Wort, ohne das Wort Sein wäre Sprache nicht möglich. Der Abschnitt ,Über den Ursprung der Sprache' in Fichtes erstmals 1938 anband

Überlegungen zu Fichtes Philosophie der Sprache

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der Nachschrift von Kar! Christian Krause veröffentlichten Vorlesungen über Logik und Metaphysik ( 1 797) - nach Ernst Platners Philosophische Aphorismen von 1 793 stellt das Scheinwesen der Sprache und den Täuschungscharakter des Wortes Sein heraus. "Durch die Sprache entstand der Aberglaube" 11 . Der Glaube an Mythologie und Dogmatismus hält die Macht des sinnlichen Seins für wahr. Er hängt an der sinnlichen Bildhaftigkeit der Sprache. Dogmatischer Aberglaube folgt der Hinleitung des Wortzeichens ,Sein' zur Annahme eines sinnlichen Substrats und zum Setzen auf eine ausschließend reelle Bedeutung des Seins von Dingen als des Bestehenden und Dauernden außer dem Denken. Fichtes Platner-Vorlesung weist dem Namen Sein eine die Vernunft beirrende Rolle zu. Sie nimmt darin die sprachkritische Doppelthese des Journal-Aufsatzes auf, Sprache sei Ursache einer Täuschung, und diese Täuschung sei unvermeidlich12. Das Sein der Sprache ist demnach ein unvermeidlicher Schein, d. h. eine Illusion. Sie verleitet die Vernunft zu Irrtümern über den Bestand der Dinge. Fichtes späteste bekannte "Betrachtung über das Wesen der Sprache" 13 in der 4. und 5. Rede an die deutsche Nation- dem im Winter 1807-1808 in Berlin gehaltenen Universitätsvortrag-gibt Hinweise auf die abgründige Fügung von schöpferischer Sprache und absolutem Sein. Der Denker habe im Denken seiner tiefsten Gedanken Dichter zu sein; "und falls er dies nicht ist, wird ihm schon beim ersten Gedanken die Sprache, und beim Versuche des zweiten das Denken selber ausgehen" 14. Fichtes spätere Lebenslehre konzediert der Sprache eine immense hermeneutische Funktion. Ist der Gedanke aller Spekulation das Sich-selber-Denken des Ich und der zweite das Andenken des die Ichheit belebenden, absoluten Lebens und Seins jenseits des Ich-denke, dann besagt die These von der freigebildeten Sprache: Ohne Sprache wäre kein Denken des Seins. Ohne das schöpferische Wort ginge dem Andenken von wahrem Sein und Leben das Denken aus. Dieser Thesenaufriß scheint die Bezüge der Sprache zu Wort und Sache des Seins völlig zu verwirren. Die Wörter Sein und Ding konstituieren Sprache, ihre leitenden Bedeutungen (aiu.1ara) aber verbreiten einen natürlichen Schein, eine Illusion, über die Sache des Seins. Diese semantische Illusion bannt die Seinserfahrung des Menschen in einen verborgenen ewigen Kreisel von sprachlicher Auslegung und Begriff. Ohne das Wort Sein ist keine Sprache. Mit der Sprache legt sich ein täuschender Schein über die Dinge. Ohne Sprache wiederum entzieht sich das wahre Sein dem Denken. Fichtes Philosophie der Sprache ist wesentlich Kritik der semantischen Illusion. Sie hat eine Sequenz von Grundfragen neu gestellt: 1) Was ist Sprache? 2) Welches ist der rechte Ursprung von Sprache? 3) Wie entspringt ihr natürlicher Schein in den Grundwörtern Ding und Sein? 4) Wie löst transzendentale Sprachkritik diesen Schein auf? 5) Was vermag die Spracheangesichts der sich verbergenden Wahrheit des Seins?

I. Die Vorbestimmung der Sprache: Zeichen der Gedanken und Mitteilung von Freiheit Was ist Sprache? "Sprache, im weitesten Sinne des Worts ist der Ausdruck unserer Gedanken durch willkürliche Zeichen" 15 • Diese Vorgabedesjournal-Aufsatzes ist ein Topos. So legt Salomon Maimons Philosophisches Wörterbuch (1791) gleichlautend fest:

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Wissenschaftslehre. Wolfgang J anke

"Sprache in der allgemeinsten Bedeutung ist Ausdruck der Gedanken durch Zeichen überhaupt" 16 . Kants Anthropologie lehrt: "Alle Sprache ist Bezeichnung der Gedanken und umgekehrt die vorzüglichste Art der Gedankenbezeichnung ist die durch Sprache"17. Und noch Hegels philosophische Propädeutik von 1808 faßt Sprache auf als Ausdruck eines Allgemeinen durch Zeichen. Diese vorläufige Umgrenzung der Sprache scheint problemlos. Sie konzipiert Sprache als Relation von Zeichen und Bezeichnetem. Dabei ist das Zeichen willkürlich, mithin nicht natürlich (wie der Pulsschlag Zeichen ftir Gesundheit oder Krankheit ist) und nicht von der Art der Wunderzeichen (wie Kometen Zeichen sein mögen für Krieg oder Pest). Die Vorbestimmung der Sprache als willkürliches Zeichen optiert so nicht etwa für einen Konventionalismus. Fichte hält die semantische Doktrin, die Bedeutung der Wörter komme durch willkürliche Verabredung und Übereinkunft (avv~17K71) zustande, vielmehr für einen sehr groben Zirkel. (Er vertritt die naturalistische Gegenthese, die Bedeutung der Wörter beruhe auf Nachahmung von Naturtönen bzw. deren analogischer Übertragung). Die definitorische Wendung ,willkürliche Zeichen' grenzt ab. Die Zeichen menschlicher Sprache gehören nicht zu unwillkürlichen Zeichen, wie etwa unwillkürliches Erröten oder instinktive Schreie. Sie fallen in den Bereich bedachter, willkürlicher Mitteilung. Und die Sprache in allgemeinster Bedeutung (als Gebärden-, Schrift- oder Lautsprache, als Natur- oder Vernunftsprache) braucht jegliches willkürliche Zeichen: die ,sprechende' Gebärde, die Schrift, sei sie alphabetisch oder hieroglyphisch, den Naturlaut, den Ruf, das Wort. Nur im engeren Sinne ist Sprache Ausdruck der Gedanken durch artikulierte Töne. Insbesondere in Rücksicht auf das Wortzeichen wird menschliches Sprachvermögen - wiederum in fortlaufender Tradition von Kant bis Hege!- auf eine Spielart der Einbildungskraft zurückgeführt. Kant bestimmt die facultas signatrix in Abhebung von der Phantasie als Vermögen der ,Gegenbildung.t 8 , und Hege! erklärt die Sprache zum ausgedehntesten Werk der Einbildungskraft und zum Produkt eines ,produktiven Gedächtnisses' 19 . Solche Zurechnung des Zeichenvermögens zur Einbildungskraft hat eine bedenkliche Konsequenz: Das Zeichen der Sprache wurzelt in der Sinnlichkeit. Seiner Herkunft nach ist das Wort ein bildhaftes Ding. Nun ist jegliches Zeichen (etwa ein Seezeichen) verneinte Unmittelbarkeit. Das hebt Fichte hervor: Als unmittelbar vorhandenes Ding ist es kein Zeichen. Das eigentliche Zeichensein besteht in einem hinleitenden Bedeuten. Eine Boje leitet die Aufmerksamkeit in eine Richtung (die des Wasserweges) und ist erst als Seezeichen präsent, wenn sie in ihrer Bedeutung verstanden ist. Deshalb sind Sprache und Wort Zeichen erst durch ihr Bedeuten. Sprache ist wesentlich aijJW, der Gemeinname ist 1/)Wvil U1]J.IUV7Uine Bedingung der Wirklichkeit, nämlich die leib-kausal kontrollierte Empfindung, außer Kraft gesetzt würde. Wir müßten dann die Bedingungen der Möglichkeit solch "übersinnlicher" Erfahrung und Wirksamkeit in jenem Zustand suchen, in den das Subjekt solcher Erfahrung versetzt scheint. Wir sind allerdings dann auf die Beobachtung anderer verwiesen, auch uns selbst werden wir als einen anderen betrachten müssen, weil wir als Erleuchtete und Somnambule nicht die Bedingungen des rationalen Diskurses erfüllen, uns nämlich nicht in kontrollierbarer Empfindung auf Allgemeingültiges berufen können. In uns selbst als diese Teilnehmer eines rationalen Diskurses fänden wir notwendig wieder nur das bekannte transzendentale Ich, das alle unsere Vorstellungen begleiten können muß, wie denn derjenige- und hier gebrauche ich das treffende Bild Widmanns 8 -,der in den Spiegel schaut, nichts anderes sehen kann als jemanden, der in den Spiegel schaut. Entweder ich verzichte auf die Evidenzkriterien mitteilbarer Erfahrung im Diskurs, d. h. auf die transzendentalen Austauschbarkeitsformen allgemeingültiger Vorstellungen, oder ich berufe mich für die intersubjektive Allgemeinheit meiner Erfahrung in der Mitteilung auf ebendieselben Erfahrungsweisen wie jene, über die ich mich rnitteilen will. Und eben das geschieht konsequenterweise in den geschlossenen Gesellschaften der Swedenborgianer und anderer esoterisch-geheimer Wissenschaftler. Aber sind die Fichteaner denn ebenso konsequent? Geschieht ihre kommunikative Evidenzmitteilung über dieselbe Erfahrungsform wie jene, von der sie reden? - Ich frage hier nach der Evidenzmitteilung im rationalen Diskurs, frage, ob Evidenzmitteilung überhaupt im Medium rational kontrollierter Erfahrung geschieht, ob nicht gar alle Mitteilung, wie jede interpersonelle Wahrnehmung und lebendige Interaktion, von einer Dimension magisch-emotionalen Erlebens getragen wird. Hinter solcher Frage steht der Verdacht, daß wir die magisch-übersinnliche Welt nur insoweit verlassen, als wir uns einer bestimmten, anscheinend pragmatischen Vergesellschaftung unseres Bewußtseins unterziehen, indem wir über die im kommunikativen Handeln kontrollierten Empfindungen mitteilbare und damit zugleich für uns selbst in reflexiver Verinnerlichung verständliche Vorstellungsverbindungen erzeugen. Die Welt rationaler Potentialitäten9 finden wir ja nur mit der Vernunft, sofern sie unsere experimentell kontrollierte und prinzipiell austauschbare Empfindung begleitet. - Aber wenn wir uns nun tat-

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sächlich der "Kategorie" des Magischen, welche nach Sartre die zwischenmenschliche Beziehung bestimmt 10 , bedienen, muß uns dann dieser Bereich der Kommunikation nicht ebenso unverständlich bleiben, wie es die Genese der Vernunft für die Vernunft sein muß? Immerhin scheint das Problem magisch-übersinnlicher Erfahrung schon im Problem der Mitteilung zu stecken, da, wo es sich um Mitteilung einer Evidenz und Überzeugung oder schlichtweg um Sympathie oder Asympathie handelt. Vielleicht kann sich aber auf diesem Felde die allgemeinere Frage nach einem faktischen Apriori der Vernunft vor der Vernunft gegen die reflexive Evidenz der Unsinnigkeit solcher Frage behaupten, weil es nämlich solche Evidenzerlebnisse über Mitteilung gibt bzw. intendiert werden: z. B. hier als Mitteilungsversucht Und damit bin ich bei Fichte und seinem Tagebuch von 1813. Hier findet sich nämlich die Idee, im Hinblick auf Hypnose (animalischen Magnetismus oder auch Mesmerismus, wie es damals genannt wurde) und der damit verbundenen magisch-übersinnlichen Erfahrung erst einmal die "Mittheilung einer Evidenz und Ueberzeugung" und das Phänomen der "Sympathie" zu thematisieren 11 • Dieser Idee bin ich mit meinen Ausführungen bis hierhin schon gefolgt. Jetzt versuche ich, Fichtes Text hierzu, welcher aus bloß angedeuteten und oft recht unsicheren Reflexionen besteht, zu interpretieren und in die bisher schon dargestellte Problemkonzeption einzubeziehen 12 • Bedenken wir, daß wir es dabei mit dem zu tun haben, was jetzt geschieht, sofern Evidenz sich mitteilt, bzw. was geschieht, wenn Fichtes Text gelesen und mitgeteilt wird. Wir haben es also durchaus mit unserer Selbsterfahrung zu tun -- auch auf die Gefahr hin, daß wir uns dabei nicht mehr als transzendentales Ich durchhalten können. Unser transzendentalphilosophisches Problem ist das "eine Ich": einmal das der Sympathie und Überzeugungsmitteilung, zum anderen das in der Wissenschaftslehre Fichtes konzipierte "eine Ich" des göttlichen Lebens. Beide Male haben wir auszugehen von der faktischen Vielheit der Iche. Wie verhält sich das "eine Ich" der Moralität zum "einen Ich" der Evidenzübertragung? Zu dieser Frage bietet uns Fichtes Tagebuch über den animalischen Magnetismus Protokolle therapeutisch-hypnotischer Experimente des befreundeten Arztes Wolfart, an denen Fichte teilnahm, und Auszüge aus Schriften von Mesmer und anderen über hypnotische Heilbehandlungen und den in der Hypnose erreichten Bewußtseinszustand somnambuler Hellsichtigkeit (clairvoyance). Dazwischen finden wir Reflexionen Fichtes. Sie beziehen sich zunächst auf die für Fichte auffällige Analogie von hypnotischer Willensübertragung bzw. Depotenzierung des Willens und der Evidenzvermittlung bzw. hingebungsvollen Aufmerksamkeit. Vom Arzt scheint Lebenskraft auf den Patienten überzugehen oder mehr noch: durch die hypnotische Reduzierung der Freiheit und Selbstheit des Patienten scheint eine allgemeine Lebenskraft sich seiner zu bemächtigen und. ihn der Selbstheilung (und zwar oft über bellseherische Kenntnis der Leidensgründe und Heilmittel) zu befähigen. Das Individuum in seiner freien, willenhaftigen Selbstheit scheint partiell oder ganz ersetzbar durch die allgemeine Lebenskraft bzw. die des Arztes. Ähnliches kennt nämlich Fichte aus seinen Vorträgen. Die Mitteilung seiner philosophischen Einsichten scheint abhängig von seiner persönlichen Wirksamkeit aufs Publikum, und diese erscheint Fichte selbst als analog einer Hypnose. Ob es denn am Zeitalter lag, wie Fichte meinte, daß dem Publikum mit Druckschriften nicht mehr beizukommen möglich war? 13

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Fichte sieht demnach eine Analogie von geistiger und physischer Mitteilung, nämlich der von Lebenskraft. Dem Verhältnis Lehrer-Schüler entspricht also das Verhältnis Arzt-Hypnosepatient. Die Hellsichtigkeit, außer-sinnliche Erfahrung wie Prophetie und Geistersehen, bleiben dabei zunächst etwas bloß Beiherspielendes, dessen Erklärung sich aus der erklärten Depotenzierung bzw. Stellvertretung der individuellen Selbstheit des Patienten ergeben müßte. Anscheinend zur Verdeutlichung dieser Analogie lesen wir bei Fichte: "Durchaus Einer ist bekanntlich der äussere Sinn. Durchaus Eine ist auch die Wirksamkeit Aller: nur in Absicht des innern Sinnes, eigentlich nur der Betrachtung der Deliberation sind wir frei." 14 Nach einer Bemerkung über die Aufmerksamkeit bei seinen Hörern fährt Fichte fort: "Alles Wollen ist gemeingültig, imponirend, und Freiheit nehmend aller Welt. Kann ich es darum dahin bringen, die Freiheit eines Andern zu einem Theile der meinigen zu machen, so ist klar, daß sie dem Andern genommen ist. Wie verhält es sich nun in Absicht dieser Formel mit der Aufmerksamkeit?" 15 Gegenstand der Überlegung ist die geistige Mitteilung in Analogie zur hypnotischphysischen. Mitteilung bildet eine Einheit für eine Vielheit von Iehen und zwar hier die Einheit von Sinn bzw. Evidenz einer Bedeutung. Geistige Einheit bilden bei sprachlicher Kommunikation allgemeine Vorstellungen und Vorstellungsverbindungen. Solche Einheit ist a priori intendiert in der kategorialen Einheit von Bedeutungsfeldern propositionalen Gehaltes der Rede und in der pragmatischen Geltungsbasis der faktischen Rede in Hinblick auf ihr Gelingen in Sprechakten 16 : Mitteilung intendiert so die Einheit der Korrelate individueller Vorstellungsakte oder - mit Kant - reine, intersubjektiv-allgemeine Vernunft. Die Mitteilung setzt dabei faktisch die prinzipielle Gleichheit der Kommunikationspartner voraus, d. h.: reziproke Geltungsansprüche. Die einheitliche Sinnevidenz muß also in der Kommunikation über die vom einzelnen mehr oder weniger frei inszenierbaren Vorstellungen, d. h. gegen die freie Deliberation hergestellt werden. Sie bleibt faktisch immer problematisch und letztlich nur praktisch überprüfbar. Was ist es aber, das hierbei die "Bildungskraft" ausrichtet und bindet? 17 -Es muß etwas über die Freiheit individueller Imagination und Vorstellungsverbindung hinaus Allgemeines sein. Fichte sieht solche vorgegebene Allgemeinheit im äußeren Sinn und in der willentlichen Wirksamkeit. Davon spricht er in der zitierten Stelle: "Durchaus Einer ist der äussere Sinn. Durchaus Eine ist auch die Wirksamkeit Aller." Der äußere Sinn ist ein allgemeingültig-einer. In ihm sind meine Vorstellungen vom Gefühl der Notwendigkeit begleitet 18 - im Unterschied zu meiner Freiheit der Imagination und Deliberation. Er versetzt mich in eine intersubjektiv-objektive Welt. Auch die Wahrnehmungstäuschung kann nur durch Wahrnehmung korrigiert werden: Ich stehe "in der Gewalt der Natur bei äusserer Beobachtung" sagt Fichte hier 19 • Ich nehme also Allgemeingültiges wahr. Insofern ist der äußere Sinn durchaus einer. Die Objektivität des äußeren Sinnes hängt aber an meiner leibhaftigen Wirksamkeit, nämlich daran, daß mein Leib zugleich Objekt und Subjekt ist. Ich erfahre die objektive Welt nur über die Objektivität meines Leibes in ihr und diese durch die Subjektivität: nicht nur Empfundenes, sondern ebenso Empfindendes ist mein Leib. Ich bin als Willkürinstanz in ihm situiert. Nur indem ich vergleiche, was ich bzgl. der Vorstellungserscheinung und Vorstellungsveränderung willkürlich kann und was nicht, gewinne ich das Gefühl der Notwendigkeit jener Vorstellungsschicht, die das System der sinnlichen

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Erfahrung bildet. Durch reale Wirksamkeit habe ich also Erfahrung. Aber diese Wirk· samkeit muß auch durchaus eine sein, d. h. allgemeingültig. Nur dann ist meine Wirksamkeit die Weise, wie die eine Welt meine Welt ist. Also andere Freiheit bzw. Wirksamkeit muß gleichermaßen möglich sein. Allerdings ist die Wirksamkeit dann negativ-allgemein: Was ich frei erwirke, tue ich und kein anderer. Für Fichtes bzw. u~ser Problem der Evidenzmitteilung haben wir nun zweierlei einzusetzen: einmal aus der Bestimmung des äußeren Sinnes etwas der Naturgewalt der Wahrnehmung Entsprechendes und zum anderen aus der Bestimmung der Wirksamkeit eine Vorstellung von positiv-allgemeiner Freiheit. Beides ist zu verbinden. Wir haben dann ein der Natur entsprechendes geistiges Gesetz der Vorstellungsbindung und eine die Freiheit des Anderen aufnehmende und insofern partiell oder ganz vernichtende Wirksamkeit der individuierten Erscheinung dieses Gesetzes in der redenden Person. Fichte sagt dazu, daß sich der originär Denkende, also der Lehrer, zum Gesetz bzw. der Kraft, die ihn leitet, etwa so verhielte, wie der aufmerksame Schüler zum Lehrer20, allerdings mit dem Unterschied, daß sich der erfindende Lehrer eben nicht unmittelbar dieses allgemeinen Gesetzes so bewußt ist, wie dem aufmerksamen Schüler der Lehrer bewußt ist als Prinzip seiner Vorstellungsausrichtung 21 • Aber dennoch müssen beide sich hingeben in der Freiheit ihrer Deliberation an das "unsichtbare Geistige" 22 . "Die Evidenz ergiebt sich dann von selbst. Nicht zu erlassen ist das absolut Individuelle, die Aufmerksamkeit; diese aber ist reines Hingeben, reines Vernichten der eigenen Thätigkeit. Hier darum ist schon gänzlich, eben so wie im Physischen des Magnetismus, eine Wirksamkeit des Individuum nach Aussen, und der Grundpunkt aller Individualität gegeben; alles dies vorbildlich für das Hingeben und Sichvernichten vor Gott. " 23 In dieser Textpassage können wir den Übergang von der geistigen Mitteilung zur physischen bei der Heilhypnose erkennen. Beidemale muß ein Individuum sich einem Äußeren öffnen und hingeben. Dies ist nach Fichte der Grundpunkt aller Individualität, daß eine allgemeine Kraft zu einer individuellen wird. Also kann man auch umgekehrt sagen, daß dies Allgemeine sich hingibt ans Individuelle bzw. - wie Fichte sich ausdrückt - zur Freiheit durchbricht 24 . Auf den überindividuellen Fortgang der Geschichte bezogen ist dies die Erscheinung Gottes. Das a priori Allgemeine gerät also unter Gesetze der Freiheit. Nun haben wir einmal die allgemein geistige Kraft, und zum anderen die physische Kraft: "Genialität" und "Naturkraft" 25 • In der Hypnose steigt die "Herrschaft über die Natur", sagt Fichte 26 , "dies kann nichts Anderes heißen, als: dasselbe, was unter Naturgesetzen stand, tritt unter die Gesetze der Freiheit, die Natur selbst in ihrer Entwicklung wird frei: geleitet durch ein höheres, ihr eingefügtes Princip." Ich glaube, man kann diese Gedanken Fichtes, sofern ich ihren Sinn einigermaßen erfaßt habe, nicht treffender kennzeichnen und kritisieren, als es Fichte bzgl. seiner späteren Aufzeichnungen bei der Lektüre des Mesmersehen Werkes gelungen ist, indem er schreibt: "Ich komme da auf eine Physicirung des Idealismus" und dann weiter: "Welches Gesetz ist der Mensch in seiner Wirksamkeit? Dies ist die Frage. Ich kann auf diesem Wege kaum durch, überhaupt umgiebt mich Dunkel." 27 Problematisch scheint Fichtes Weg der Physizierung des Idealismus. Auf diesem Wege nämlich konnte er die Analogie von geistiger und physischer Mitteilung erklären: und zwar durch die Naturalisierung eines gewissen ,Außen' der Individualität, in wel-

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ches hinein sich die Individualität aufzugeben hat. Dieser Weg ist problematisch, er bedeutet die Schellingsche naturphilosophische Erweiterung des Idealismus. - Fichtes Wissenschaftslehre bestimmte als das die Individualität umgreifende "Außen" das göttliche Leben, daß sein soll, nämlich sein soll durch die inter-individuelle Freiheitsentwicklung aller. Dieses überfaktisch Allgemeine entspricht keiner Natursphäre. Vielmehr erscheint Faktisches als allgemeine Natur erst in der Perspektive des individuellen Ich, sofern sich dieses als ein Freiheitsvermögen unter anderen versteht. Das "eine Ich", in das hinein das individuelle Ich aufzugehen hat, ist also kein faktisches jenseits. Der dementsprechende Idealismus Fichtes kann deshalb auch nicht durch die sog. "experimentelle Metaphysik" der Parapsychologie eine Bestätigung finden. Fichte scheint hier aber solches zu vermuten. Er glaubt, seinen Idealismus dadurch naturphilosophisch halten zu können, daß er der Natur ein geistiges Prinzip unterstellt, sie also von einer "Rege1" 28 ausgehen läßt, statt vom "gediegenen Sein" 29 • Jm Individuum synthetisiert sich dies Gesetz mit der Freiheit31l. Im überindividuellen "einen Ich" kommt die Natur dann über die Zeit 31 gleichsam zu sich. Der Verlust oder eben die hypnotische Depontenzierung der Individualität innerhalb dieser zeitbestimmten Natursphäre versetzte das Ich dann allsogleich in eine dem "einen Ich" entsprechende Natursphäre. Fichte schreibt: "das Eine Ich, und die Individualität gründen sich nur auf verschiedene Kraftsphären, die auch wohl in verschiedenen Natursphären abgebildet sein dürften. " 32 Das "eine Ich" in einer Natursphäre abbilden, eben das ist Physizierung des Idealismus- wie ich meine: eine dem Sinn der Wissenschaftslehre zuwiderlaufende! Vorbildlich für die Hingabe an das göttliche Leben der reinen praktischen Vernunft kann nicht die physische Entindividualisierung sein. Oder anders: Die Abbildung des überfaktischen Absoluten auf Faktisches, auf Natursphäre, kann nur eine Entgegensetzung sein von Konstruierbarem und schlechthin nichtkonstruierbarer qualitativer Bedingung. Warum aber sieht Fichte dennoch in der Physizierung des Idealismus den theoretischen Weg ins Jenseits und in der hypnotischen Entindividualisierung einen praktischen? Weil das, was gesollt ist, ja in seiner Apodiktizität auch schon ist! Die Evidenz des Soll bzw. des Gesetzes durch die Wissenschaftslehre und insbesondere dann durch ihre Mitteilung macht von diesem "Ist" des "Soll" Gebrauch, beruft sich auf dies, ja, ist für Fichte nur von dieser Faktizität des Absoluten her verständlich. Dann wäre aber der Weg durch die Geschichtszeit, die individuelle Lebenszeit wie die Zeit aller Menschen, eigentlich nur ein Umweg: der durch die Ichform des Individuums, in der wir vernünftig bei Sinnen sind, erzwungene Umweg. Anderseits wäre aber dann auch jede faktisch mitgeteilte Evidenz und Überzeugung wahr, ebenso wie die Sympathie. Allgemeine Evidenz, Überzeugung und Sympathie beziehen sich explizit oder implizit auf etwas allen Individuen Gemeinsames, welches dann auch der Grund für die Moralverpflichtung sein müßte. Für Fichte ist mitteilbar evident, daß Individualität eigentlich nicht sein soll. Ist dann das "Eigentliche" eben das, was die Mitteilung dieser Evidenz stiftet? Ist also die Individualität auch eigentlich nicht? Fichtes Konstruktion, die nun hier mitgeteilte Evidenz erheischt, ist also diese: Wie könnte die Evidenz mitteilbar und also allgemein sein, daß Individualität nicht sein soll, wenn nicht tatsächlich in der Mitteilung von Evidenz, wenn also nicht an der Basis

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menschlicher Kommunikation überhaupt die Individualität aufgehoben wäre? Diese (rhetorische) Frage impliziert die "Physicirung" des Idealismus. Diese läuft dann dem Sinn der Wissenschaftslehre zuwider, wenn sie als theoretische Konzeption sich nicht mehr in sittlicher Praxis zu bewahrheiten braucht. Dies scheint der Fall. Ich sehe nicht, wie man gegen "übersinnliche" Erfahrungen die unbedingte Ich-Anstrengung der Wi.l·senschaftslehre rechtfertigen könnte. Aber dieser Konflikt ergibt sich nur gegenüber dem immanenten Sinn der Wissenschaftslehre! In ihn kann man sich hineinbegeben oder nicht. Für Fichteaner hat man sich diesem Sinn notwendig zu stellen, wenn man sich überhaupt zu einem Selbstbewußtsein versammelt hat, also gleichsam in den Spiegel blickt. Dann ist die Wissenschaftslehre die Falle des sich selbst nachdenkenden Ich. Als mehr oder weniger professionelle "Philosophen" haben wir gelernt, diese Falle zu umschleichen. Wir haben es nicht von Fichte gelernt -versteht sich! Aber dennoch hilft Fichte uns, und zwar hier in diesem Tagebuchtext, diese Distanz oder gar Skepsis gegenüber der Wissenschaftslehre zu rechtfertigen. Wir finden ja hier im Tagebuch über den animalischen Magnetismus das Phänomen des individuellen Ichverlustes, welches für Fichte sonst nur der Effekt der sittlichen Überwindung des Sinnlichen ist, ohne diese Anstrengung, vielmehr als Eintauchen des Ich ins Sinnliche selbst. So scheint es denn, daß für Fichte die sittliche Anstrengung den Sinn solch ichauflösenden Einheitserlebnissen hatte: Er wird ja nicht müde, die augenblickliche Präsenz der sittlich-übersinnlichen Ewigkeit zu betonen 33 • Die augenblickliche Ewigkeit versichert ihn, selbst die Quelle seines Lebens zu sein 34 • Aber dabei heißt für Fichte an die Existenz der Seele glauben: an Gespenster glauben 35 , denn es kommt auf die Individualität nicht an. So muß das sittliche Ich Fichtes den Tod auf sich nehmen, ja, das eine göttliche Leben durch Ertötung des Sinnlichen erreichen. Eine zukünftige Ewigkeit gibt es so wenig, wie es die sinnliche Existenz in der Zeit geben sollte 36 • So bleibt für Fichte angesichts des sinnlich-emotionalen Effektes der Selbst-Negation des Ich in sittlicher Willensbestimmung immer doch die Versuchung, das sittlich-übersinnliche, ewige Leben der augenblicklichen Willensanstrengung in eine Natursphäre abzubilden. Dieser Versuchung ist er hier in unserem Text durch die Physizierung des Idealismus erlegen. Also ist es eigentlich eine sinnliche Ewigkeit, welche sich magisch-übersinnlich erschließt. Wenn wir nun angesichts der Wissenschaftslehre Fichtes die religiöse Begeisterung für die Idee der "Gattung" 37 , welche Fichte für sich selbst damit verbindet, auf Fichtes Problem der Evidenzmitteilung beziehen, so können wir die Wissenschaftslehre auf den Standpunkt eines solchen Ich relativieren, das unter dem Anspruch der Kontrolle des unkontrollierbaren erlebten Augenblicks die Flucht nach vorn antritt: in die kontrollierte Individualitätsvernichtung des Einen Ich. Fichteseigenes Mitteilungsproblem, das er in unserem Text hier thematisiert, verweist uns dann auf die Dimension, der wir uns stellen sollten, statt sie zu fliehen: Eine Einheit der Individuen, die wir nicht erst durch reflexive Ichanstrengung bzw. rein vernünftige Willensbestimmung herstellen müssen, sondern die wir "natürlicherweise" beanspruchen im Mitsein mit anderen und in der Natur selbst. So scheinen wir, wie es das Phänomen der Evidenzmitteilung und Sympathie auch Fichte nahelegt, in einer "Natursphäre" der Gattung situiert, welche also nicht mit einer kontrollierten Gesellschaftsordnung identisch sein kann. Ihrer magisch-übersinnlichen Evidenz verdanken wir es, wenn wir gegen die objektive Evidenz

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des Todes und trotz der reflexiv-übersinnlichen Evidenz der Wissenschaftslehre Fichtes, wonach das ewige Leben allein an unserem Willen liegt, weiterleben-nur so.

Zusammenfassung An Mesmers Heilhypnose, dem sog. animalischen Magnetismus, reizt Fichte die Analogie zur Mitteilung einer Evidenz und Überzeugung, insbesondere der Evidenz seiner Wissenschaftslehre. Mit der Wissenschaftslehre scheint aber die hypnotisch-willenlose Hingabe an eine intersubjektive Allgemeinheit nur vereinbar, wenn eine solche Allgemeinheit gleichsam die "Natursphäre" des einen Ich bildet, welches durch sittliche Praxis entsteht. Neben diesem Weg durch die reine praktische Vernunft gäbe es dann so etwas wie einen natürlichen Weg zum "göttlichen Leben". Diese "Physicirung des Idealismus", die Fichte in seinem Tagebuch über den animalischen Magnetismus sich überlegt, relativiert die Wissenschaftslehre dann auf ein Produkt der Kommunikation, auf die intersubjektiv vermittelte, allgemeingültige Begriffssphäre, und zwar eben deshalb, weil zur Evidenzmitteilung eben dieser Wissenschaftslehre jener natürlich-übersinnliche, mit der Hypnose vergleichbare Zugang zu einem Präreflexiv-Allgemeinen vorausgesetzt wird. Die Relativierung der Wissenschaftslehre auf das begriffsfähige Ich bedeutet aber positiv, daß die Wissenschaftslehre selbst als Ausdruck des "letzten Willens" verstanden werden kann, von dem E. Bloch sagte: "Der letzte Wille ist der, wahrhaft gegenwärtig zu sein. So daß der gelebte Augenblick uns und wir ihm gehören und ,verweile doch' zu ihm gesagt werden könnte. Der Mensch will endlich als er selber in das Jetzt und Hier, will ohne Aufschub und Ferne in sein volles Leben."

Anmerkungen I. Kant, Träume eines Geistersehers erläutert durch Träume der Metaphysik, Königsberg 1766, 117. 2. Ebenda, S. 116. 3. Ebenda, S. 128 (Beschluß der Abhandlung). 4. Ebenda, S. 72. 5. Ebenda, S. 45 (Anmerkung). 6. Fichte, Tagebuch über den animalischen Magnetismus (Im Jahre 1813 geschrieben), SW XI, s. 324. 7. Vgl. J. P. Sartre, Entwurf einer Theorie der Emotionen, in: Die Transzendent des Ego. Drei Essays, Reinbek bei Harnburg 1964, S. 151-195. 8. J. Widmann, Buchbesprechung Fichte, Gesamtausgabe, in: Philosophisches fahrbuch 78, s. 204. 9. Vgl. Sartre, a.a.O., S. 174. 10. Ebenda, S. 189. 11. SW XI, S. 300. 12. In dieser Problemkonzeption wird das Magische mit Sartre als "Kategorie" interpersoneller Wahrnehmung angesehen, so daß es eher Bedingung der Möglichkeit "geistiger" Mitteilung bildet als bloß - wie bei Fichte -eine Analogie dazu. 13. BW ll, S. 383. 14. SW XI, S. 301. 15. SW XI, S. 301. 16. Vgl. J. Habermas, Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kom-

s.

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petenz, in: J. Habermas / N. Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder So::ialtechnologie - Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt/M. 1971, S. 101-141. 17. SW XI, S. 302. 18. Vgl. SW I, S. 423 =GA I, 4, S. 186 f. 19. SW XI, S. 302, vgl. S. 323: .,Der sinnliche Mensch ist nach mir im Somnambulismus." 20. SW XI, S. 301 f. 21. SW XI, S. 302. 22. SW XI, S. 301. 23. SW XI, S. 302. 24. SW XI, S. 302. 25. SW XI, S. 304. 26. SW XI, S. 304. 27. SW XI, S. 331 f. 28. SW XI, S. 328. 29. SW XI, S. 333. 30. SW XI, S. 328. 31. SW XI, S. 339. 32. SW XI, S. 338. 33. Vgl. z. B. SW II, S. 289: .,Die übersinnliche Welt ist keine zukünftige Welt, sie ist gegenwärtig; sie kann in keinem Punkte des endlichen Daseins gegenwärtiger sein, als in diesem Augenblicke." 34. SW II, S. 289. 35. Vgl. Wissenschaftslehre 1804, SW X, S. 158 (Neunter Vortrag). 36. Vgl. SW II, S. 289. 37. Vgl. Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, SW VII, S. 25 (Zweite Vorlesung).

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Diskussion Mues: Woher kommt der Begriff: "Physicirung" des Idealismus? Schulte: Ich kann ihn dem Sinn nach der SeheHingsehen Naturphilosophie zuordnen, d. h. in diesem Falle, daß es dem einen Ich, dem einen göttlichen Leben, der Allheit der lche etwas Entsprechendes in der Natur gibt. Lauth: Daß die Intentionalität des einen, des Hypnotiseurs, zugleich die Intentionalität des anderen ist, bzw. zu ihr wird, das wäre auch ein Aspekt, dem man nachgehen könnte. ( ... ) Ähnliche Vorstöße finden sich nämlich schon in früheren lnterpersonalausführungen Fichtes, in Ausführungen über den Nexus zwischen Personen. ( ... ) Nehmen wir z. B. Betrug als Anmutung, da partizipiere ich ja an dem Inhalt, den mir der Betrüger anmutet, zumindest an der Intention des Betrügers, ohne dabei selbst notwendig zum Betrüger zu werden. Da kommen zwei Seiten ins Spiel: Es könnte einerseits rein transzendental erfaßt werden, daß es überhaupt eine solche Kommunikation der Intentionen gibt, es könnte aber auch spezifiziert werden, daß es hier nicht bloß eine Gemeinschaft an einer gemeinsamen Intention gebe, sondern hier eine Determination in zweiter Potenz vorliege. Ich glaube, daß Fichte eben diese zweite Determination meint. Dann hätte ich noch eine Frage, die die Äußerungen Fichtes über die Unsterblichkeit betrifft: Sie haben sie ganz in dem Sinne der nicht persönlichen Unsterblichkeit berücksichtigt; es gibt aber auch ganz andere Äußerungen aus anderen Epochen. Die negative Einstellung zur Individualität bloß als solche ist bei Fichte in der ersten Phase eindeutig. Nun ist aber ein Umschlag 1805/06 in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters festzustellen, wo Fichte behauptet, es gebe nicht nur eine empirische Individualität, sondern auch eine ideale Individualität. Schulte: Wie sehen Sie dann meine These, daß die Wissenschaftslehre relativiert wird auf ein Kommunikationsprodukt? Lauth: Fichte würde hier antworten: Das nicht begriffsfähige Ich ist ja nicht anders thematisch als im begriffsfähigen Ich. Infolgedessen gehört das mit zum begriffsfähigen Ich. Wenn ich z. B. sage, ich wache auf und habe das und das geträumt, dann ist es nach Fichte ja nicht so, daß ich während des Traumes jenes Bewußtsein hatte; sondern erst mit dem ersten Erwachcnsmoment habe ich ein Bewußtsein von dem, was ich im Traum im Bewußtsein gehabt habe. Also der Verfechter des Unbewußtcn zäumt das Pferd von hinten auf. Das Unbewußte ist die Interpretation des Bewußtseins von sich selbst in gewissen Gegebenheiten. Mues: Verfährt Fichte denn so, als leugne er innerhalb eines Tieres eine Erscheinungsform von Bewußtsein, das nicht gleich Selbstbewußtsein ist? Lauth: In dem Aufsatz Uber das Wesen der Tiere schreibt Fichte: Ich könnte mir noch vorstellen, daß es in der tierischen Organisation, im tierischen Mechanismus bis zum Bild kommt ·- Bild gemeint als physisches Bild, physisches Abbild, das durch das Auge gespiegelt wird,- aber zum Bewußtsein nie. Schulte: Kann man noch sagen, daß sich bei Tieren eine unmittelbare Evidenz an deren Bewußtsein zeigt? Lauth: Es gibt eine Stelle in einem Brief an Reinhold vom August 1795, in dem Fichte auf Kant zu sprechen kommt: Wenn ich mein Pferd besteige, dann weiß ich, daß es keine Person ist, sonst würde ich mich ja hüten, es zu besteigen. Aber wie weiß

"Übersinnliche" Erfahrung als transzendentalphilosophisches Problem

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ich das? Fichte würde das so weiterführen: Wenn ich vernünftig veranlaßt werde zu sagen, das, was ich am Pferd wahrnehme, ist eine vernünftige Intention, das ist nicht nur eine freie, sondern eine auf Freiheit eingehende Handlung, dann müßte ich ein solches Wesen als Person betrachten; er schließt dadurch aus, daß nur der homo sapiens im anthropologischen Sinne Person sein könne. Schulte: Offenbar stößt Fichte hier in diesem Tagebuch über sein Problem der Evidenzvermittlung seiner Lehre anderen Personen gegenüber auf diese nötige Voraussetzung einer naturhaft unmittelbaren Allgemeinheit, wo wir uns der Intentionalität der anderen unmittelbar versichern können. Lauth: Was mir inkonsequent erscheint, wenn ich das richtig verstanden habe, ist, daß wir diese Intentionalität immer nur als momentane perzipieren. Ich könnte mir vorstellen, daß man eine Intentionalität als eine geschichtliche Intentionalität perzipiert, d. h. also in der momentanen Intentionalität ihre Rückbezogenheil auf eine Reihe anderer Intentionalitäten und eine Grundintentionalität perzipiert. Schulte: Das erinnert mich an C. G. Jung, der meint, das diese unmittelbare Intersubjektivität möglich wird durch ein kollektives Unbewußtes bzw. durch ein kollektives Wissen. Lauth: Nur würde sich bei Fichte dann wieder die These finden, daß das Überindividuelle wieder unpersönlich sei, das scheine ihm unbegründet zu sein.

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Ludwig Siep Methodische und systematische Probleme in Fichtes "Grundlage des Naturrechts" Fichtes Grundlage des Naturrechts aus den Jahren 1796/97 ist neben den Reden an die deutsche Nation zweifellos die einflußreichste seiner Schriften auf dem Gebiet der Sozial- und Staatsphilosophie geblieben. Hege! hat seine Rechtsphilosophie in der Auseinandersetzung mit diesem Werk konzipiert - zuerst in schroffer Abstoßung, später in kaum merklicher Wiederannäherung 1 • Auch die neueren Untersuchungen zur Rechtsund Staatsphilosophie des Deutschen Idealismus widmen der Naturrechtsschrift in aller Regel mehr Aufmerksamkeit als den späteren rechtsphilosophischen Arbeiten Fichtes. Dabei nimmt jedoch die Tendenz zu, sie für ein zwiespältiges, wenn nicht gar mißglücktes Werk zu halten. Auf Brüche in der Systematik und auf Divergenzen zwischen verschiedenen Teilen der Schrift haben in letzter Zeit Richard Schottky, Peter Baumanns und Hans-Jürgen Verweyen hingewiesen 2 • Verweyen hat zu zeigen versucht, daß Fichtes spätere Schriften die Grundlage des Naturrechts in zentralen Punkten kritisieren und korrigieren. Die folgenden Ausführungen beanspruchen nicht, über Gelingen oder Scheitern der Naturrechtsschrift ein endgültiges Urteil zu fällen. Sie wollen aber die Diskussion um die Probleme dieses frühen Werkes aufnehmen und zu zeigen versuchen, daß sich bei bestimmten Annahmen über die Methode Fichteseinige der immer wieder bemerkten Schwierigkeiten lösen lassen. Meine These ist, daß sich bereits in Fichtes Naturrechtsschrift Ansätze zu einer Darstellung von Erfahrungen des Bewußtseins finden. Diese Methode hat Hege! in seiner Jenaer Zeit weiterentwickelt, später aber wieder aufgegeben. Ich halte die Ausarbeitung einer solchen Methode über Hege! und Fichte hinaus für ein Desiderat der gegenwärtigen praktischen Philosophie. Im ersten Teil meines Referates werde ich kurz zu skizzieren versuchen, in welcher Weise und aus welchen Gründen Fichte die Methode der transzendentalen Deduktion so verändert hat, daß man ihr einen Begriff der Erfahrung des Bewußtseins entnehmen kann. Der zweite und dritte Teil erörtern dann zwei schwierige Übergänge in der Naturrechtsschrift, den von § 3 zu § 4, d. h. von der Aufforderung zur Anerkennung, und den von der Deduktion zur systematischen Anwendung des Rechtsbegriffs in den §§ 8 ff., in denen Fichte unvermittelt zum Standpunkt Hobbes' zurückzukehren scheint. Ich versuche zu zeigen, daß man diese Übergänge nur dann in einer mit der systematischen Einheit des Werkes verträglichen Weise interpretieren kann, wenn man von dem im ersten Teil meiner Ausführungen erläuterten Verständnis der Methode Fichtes ausgeht.

I.

Die Methode des Fichteschen Naturrechts scheint zunächst einfach die der Wissenschaftslehre zu sein - schließlich folgt die Darstellung der Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschafts/ehre. Es ist die Methode der transzendentalen Deduktion, wie Fichte sie auffaßt; der Philosoph hat darzustellen, welche Denk- oder

Methodische und systematische Probleme in "Grundlage des Naturrechts"

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Willenshandlungen als notwendige Bedingungen des Selbstbewußtseins angenommen werden müssen. Der praktische Teil der WL hat dabei die Bedingungen für das Bewußtsein der freien Wirksamkeit bzw. des Vermögens, etwas vom Ich Unterschiedenes zu bestimmen, anzugeben. Als Anwendung der Prinzipien der Wissenschaftslehre 3 geht das Naturrecht freilich weiter als die Grundlage der gesamten Wissenschafts/ehre: es erörtert nicht nur die notwendigen Handlungsweisen, die angenommen werden müssen, wenn ein einheitliches Selbst- und Gegenstandsbewußtsein auf der Basis absoluter Spontaneität erklärbar sein soll, sondern auch, wie diese transzendentale Einheit des Selbst in einem "vernünftigen Wesen" zum Bewußtsein kommen kann. Dazu bedarf es eines Bewußtseinsaktes - und zwar im Sinne des Bewußtseins, nicht des transzendental vorauszusetzenden, aber möglicherweise unbewußten Handeins -,in dem das vernünftige Wesen sich als theoretisch und praktisch zugleich, als wirksam auf ein Objekt und bestimmt durch ein Objekt 4 , erfahren kann. Die Charakteristika dieses Aktes, die Fichte in den ersten Paragraphen des Naturrechts bestimmt, erfüllt bekanntlich die Aufforderung. In der Aufforderung aber erfährt sich das vernünftige Wesen als Individuum. Zur transzendentalen Deduktion der notwendigen Bedingungen des Selbstbewußtseins gehört also die Genese des Bewußtseins der Individualität bzw. der Aufweis der Bedingungen dafür, daß ein "vernünftiges Individuum, oder eine Person, sich selbst frei finde" (SW Ill, S. 9 =GA I, 3, S. 319) 5 • Mit dieser Fragestellung und mit der Einführung des Bewußtseins der Individualität in die transzendentale Deduktion hat Fichte deren Charakter gegenüber ihren Kantischen Ursprüngen zweifellos wesentlich verändert. Es sei hier nur auf zwei Punkte dieser Veränderung hingewiesen. Zum einen muß die Frage nach den Bedingungen des Bewußtwerdens von Strukturen des Selbstbewußtseins im individuellen Bewußtsein eine Differenz zwischen dem philosophischen und dem von ihm thematisierten Bewußtsein in die Methode bringen. Es muß jetzt nicht nur gefragt werden, wie verschiedene Bewußtseinsakte für uns zusammenhängen und zu vereinen bzw. zu ordnen sind, sondern auch, wie und in welcher Ordnung sie für das Bewußtsein, das sich als freies Individuum erfährt, bewußt werden. Der Philosoph muß zeigen, was durch eine bestimmte Handlungsweise "für die Reflexion entsteht" (SW III, S. 8 =GA I. 3, S. 319) -und zwar nicht für seine eigene, sondern für die des analysierten Bewußtseins (vgl. SW III, S. 33 = GA I, 3, S. 342 f.). Und er muß nachweisen, daß dieses reflektierende Bewußtsein an eine Handlung notwendig eine bestimmte folgende Handlung anknüpft. Was das für die Deduktion des Rechtsbegriffes bedeutet, werden wir im folgenden Abschnitt sehen. Der zweite Punkt ist, daß durch die Erweiterung der transzendentalen Deduktion auf die Bedingungen des Bewußtseins der Individualität raum-zeitliche Ereignisse in den Bereich des Transzendentalen rücken. Die Aufforderung, die die Bedingungen des Bewußtwerdens des vernünftigen Wesens als eines solchen enthält, ist ein Wechselverhältnis von in der "Sinnenwelt", das heißt in Raum und Zeit handelnden Wesen. Ohne äußere Handlungen, ohne "Wirksamkeit in der Sinnenwelt", kommt dieses Wechselverhältnis nicht zustande. Das bedeutet nun nicht, daß die transzendentale Deduktion von einer empirischen Erfahrung abhängig würde. Es geht nicht etwa um das historische Faktum einer bestimmten Begegnung zweier bestimmter Vernunftwesen an einer bestimmten Stelle in Raum und Zeit. Es geht vielmehr nach wie vor um die Bedingungen der Möglichkeit und die allgemeinen Strukturen einer "vernünftigen" Begegnung ver-

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nünftiger Wesen in der Sinnenwelt. Andererseits: wenn es zum Bewußtwerden der Vernunft in einem individuellen Bewußtsein kommen soll, dann muß die "Einwirkung" eines Bewußtseins auf ein anderes in der Sinnenwelt als "notwendiges Faktum" angesetzt werden (SW 111, S. 35 =GA I, 3, S. 344). Der Sinn des Begriffes "Faktum", wie er hier verwendet wird, weicht offenbar von anderen Verwendungen bei Kant und Fichte selber deutlich ab. Bekanntlich hat schon Kant in der Kritik der praktischen Vernunft vom "Faktum" des Sittengesetzes bzw. der reinen praktischen Vernunft gesprochen. Faktum bedeutet ftir Kant eine nicht mehr zu hinterfragende, nicht mehr durch Gründe zu erklärende Gegebenheit. Die sittliche Forderung, das Gefühl der Pflicht ist ein solches Faktum 6 . Es kann nur noch aufgeklärt, als in sich widerspruchslos und mit den übrigen Vermögen und Gesetzen endlicher Vernunft vereinbar erwiesen, aber nicht mehr erklärt werden. Das heißt aber nicht, daß die sittliche Forderung ein Ereignis in Raum und Zeit darstellte oder voraussetzte. Als Faktum der reinen Vernunft sind Raum und Zeit für sie bedeutungslos. Ähnlich wie Kant benutzt Fichte den Begriff des "Faktums", wenn er in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (I 794) vom "Faktum" der transzendentalen Einbildungskraft spricht. Auch dieses Faktum ist zwar eine unerklärliche Gegebenheit, aber keine Begebenheit in Raum und Zeit. Durch das unbegreifliche Schweben der Einbildungskraft zwischen Setzen und Entgegensetzen, Unendlichkeit und Grenze, wird ja erst Zeit und Raum 7 für das Bewußtsein gebildet. In diesem Sinne eines unhinterfragbaren Gegebenseins der "Wurzel" alles Bewußtseins spricht auch der spätere Fichte noch von "Faktum", etwa vom Faktum des Sehens in der Wissenschaftslehre von 1804. Von diesem Sinn von "Faktum" unterscheidet sich aber das Faktum der Aufforderung in der Naturrechtsschrift. Hier handelt es sich nicht um die unbegreifliche Selbstgegebenheit der Vernunft, sondern um das notwendige - nämlich für das Entstehen vernünftigen Selbstbewußtseins - und doch zugleich auf ein Ereignis in Raum und Zeit angewiesene Faktum der vernünftigen Begegnung und Wechselwirkung vernünftiger Wesen. Obgleich alle empirischen Umstände einer solchen Begegnung aus dem Spiel bleiben - nämlich wer wen wann auf welche Weise zu was auffordert -, bleibt die grundsätzliche Angewiesenheit dieser Begegnung auf ein wechselseitiges Handeln in der Sinnenwelt bestehen 7 a. Da nun ein solches Ereignis in seiner prinzipiellen Bedeutung und Konsequenz für das handelnde und reflektierende Bewußtsein, das Gegenstand der philosophischen Darstellung ist, betrachtet wird, 8 kann man sagen, daß Fichte damit in die transzendentale Methode ein Element von "Erfahrung des Bewußtseins" einführt. Eine solche Erfahrung hat nichts mit Empirie im gewöhnlichen Sinne, nichts mit bestimmten Ereignissen oder gar Sinnesdaten zu tun, sondern damit, zu was für einer Reflexion Ereignisse von einer ganz allgemein bestimmbaren Struktur bei einem ebenfalls hypothetisch konstruierbaren Bewußtsein führen. Wenn - so müßte man genauer sagen- eine Stufe von "Bewußtsein seiner selbst" mit einer bestimmten Art von Ereignissen konfrontiert wird und sie sich auf eine bestimmte Art aneignet, so folgt daraus eine Reflexion bzw. das Erreichen einer neuen Bewußtseinsstufe, auf der in einer wiederum prinzipiell angehbaren Art gehandelt wird - "gehandelt" im Sinne des Denkens, Wollens und Wirkens. Wir wollen im folgenden zeigen, daß sich einige "kritische" Übergänge in der Grundlage des Naturrechts - der von § 3 zu § 4 und der von den ersten beiden zum dritten

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Hauptstück - als widerspruchsfrei und bruchlos verstehen lassen, wenn man Fichtes Methode in dem hier erläuterten Sinn begreift. Das heißt nicht, daß alle Deduktionsschritte Fichtes solche Erfahrungen sind. Im zweiten Hauptstück etwa handelt es sich weitgehend um Analysen von unbewußten Setzungen, die im Anerkennen enthalten sind bzw. dafür vorausgesetzt werden müssen. Die Ableitungen der grundlegenden interpersonalen Beziehungen und Institutionen Recht, Zwangsgesetz, Staat etc. zeigen aber alle das .,Erfahrungsmoment" der Methode.

1/.

Das Resultat unserer bisherigen Überlegungen lautet so: Dadurch daß Fichte nach den Bedingungen des Bewußtseins der Individualität fragt, verändert er den Charakter der transzendentalen Methode. Bedingung für das Zusiehkommen des Bewußtseins als eines individuellen sind Ereignisse in Raum und Zeit - Ereignisse, die man gleichwohl in ihrer allgemeinen, für jede .,Individualisierung" vorauszusetzenden Struktur angeben kann. Die Frage ist nun, auf welche Weise solche Ereignisse Bedingungen für ein Bewußtsein der Individualität sind? Diese Frage soll geklärt werden durch eine Interpretation des umstrittenen Übergangs von § 3 zu § 4 der Naturrechtsschrift 9 • Die Stringenz dieses Überganges ist oft bezweifelt worden. Sie läßt sich aber meines Erachtens verteidigen, wenn man die Methode Fichtes in dem hier vorgeschlagenen Sinne versteht: als eine solche, die eine bestimmte Konzeption von .,Erfahrung des Bewußtseins" impliziert 10 • Fichte zeigt im § 3 unserer Schrift bekanntlich, daß das Bewußtsein seiner selbst als eines vernünftigen Wesens nur möglich wird durch die Selbstbestimmung zu einer Handlung, als Wirksamkeit in der Sinnenwelt, die von den Handlungen anderer unabhängig ist -- in Fichtes Worten: in einer von Handlungen anderer freigelassenen Sphäre stattfindet. Zu einer solchen Handlung kann es aber nur dann kommen, wenn die Möglichkeit dazu dem Bewußtsein .,objektiv" wird, gleichsam als Objekt gegenübertritt durch die Aufforderung eines Anderen. Bedingung für eine solche Aufforderung ist, daß der Andere seine Möglichkeiten des Handeins einschränkt, und zwar so, daß er dem Ersten Möglichkeiten unabhängigen Handeins einräumt und zuweist. Der Übergang vom dritten zum vierten Paragraphen besteht nun darin, daß dieses einseitige Respektieren der freien Handlungssphäre zu einem wechselseitigen wird. Die einseitige Aufforderung wird zur wechselseitigen Anerkennung, die den vernünftigen Begriff des Rechts enthüllt, sobald sie von der Gebundenheit an eine .,Begegnung" gelöst und auf jede zukünftige Begegnung mit jedem Vernunftwesen ausgedehnt wird. Worin liegt nun die Notwendigkeit dieses Übergangs von der Aufforderung zur Anerkennung? Es gibt, wie mir scheint, zwei grundsätzliche Möglichkeiten, diese Notwendigkeit zu verstehen. Die erste besagt, daß ein Aufforderungsverhältnis überhaupt nicht ohne ein Anerkennungsverhältnis denkbar ist bzw. daß es ohne wechselseitigen Respekt niemals zu so etwas wie .,Aufforderung" kommen könnte 11 • Die zweite bedeutet dagegen, daß aus dem Ereignis der Aufforderung bestimmte Konsequenzen gezogen werden müssen, die zum Anerkennungsverhältnis führen. Diese Deutung steht der gewöhnlichen Auffassung entgegen, daß der jeweils nächste Schritt der Deduktion die Bedingungen des vorherigen anzugeben habe, in diesem also bereits

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vorausgesetzt sei. Ich möchte aber zeigen, daß nur diese letztere, einen Reflexionsfortschritt des untersuchten Bewußtseins annehmende Deutung den Übergangvon der Aufforderung zur Anerkennung plausibel machen kann. Das Problem des Oberganges besteht zunächst einmal darin, zu erklären, woran der Aufgeforderte den vernünftigen Charakter des Auffordernden erkennt und wie er zu dem Bewußtsein kommt, daß die vernünftige Behandlung eines vernünftigen Wesens darin besteht, die eigenen Handlungsmöglichkeiten zugunsten derjenigen des Anderen einzuschränken. Die erste Deutung, die hier abgewiesen werden muß, ist die, daß das Offenlassen meiner Handlungssphäre, der Verzicht auf Zwang, für mich ein hinreichendes Kriterium für die Vernünftigkeit des Anderen sei. Die Tatsache, daß der Andere alle meine Freiheit einschränkenden Handlungen unterläßt, könnte auch ein Zeichen von Desinteresse, List oder gerade des FehJens jeder Gemeinsamkeit mit mir sein - so wie etwa Tiere, Bäume etc. meine Freiheit durchaus nicht zu beschränken brauchen. Es hilft auch nichts anzunehmen, die Selbstbeschränkung sei ein den natürlichen Handlungsweisen des Anderen gerade entgegengesetzter Akt und darin bestünde sein "Signalcharakter". Denn zum einen bedeutete dies, das natürliche Verhältnis der Menschen sei permanenter wechselseitiger Zwang - eine Annahme, die nicht einmal bei Hobbes zu finden ist -, zum anderen könnte auch dann noch im momentanen Verzicht auf Zwang die List des in einer bestimmten Situation Schwächeren bestehen. Woran der Schluß auf die Vernünftigkeit des Anderen mit Sicherheit angeknüpft werden kann, sagt Fichte selber: der Akt der Selbstbeschränkung muß die Erzeugung einer Erkenntnis beim Anderen zum Zweck haben. Der Auffordernde muß mir zu verstehen geben, daß er mich zur Realisierung und zugleich zur Erkenntnis meiner Vernünftigkeit durch einen Akt der Selbstbestimmung auffordert. Insofern muß die Aufforderung ein Erziehungsakt sein und mir auch als solcher verständlich gemacht werden. Die Aufforderung ist also keineswegs schon durch die Wirkung eines rechtlichen Verhaltens, d. h. des Respektierens einer Freiheitssphäre, auf ein noch nicht zum Bewußtsein seiner selbst gekommenes Individuum zu erklären. Ein "analytisches" Verhältnis von Aufforderung und Anerkennung könnte aber auch auf umgekehrte Art gedacht werden: so, daß jede Erziehung ein Rechtsverhältnis voraussetzt bzw. daß Erziehung nur möglich ist, wenn beide, Erzieher und "Zögling", sich bereits wechselseitig anerkennen. In der Tat sagt Fichte später (§ 6), daß das Erzogenwerden schon eine Art Selbstbeschränkung, ein "stille halten" (SW 111, S. 64 = GA I, 3, S.367) vonseitendes Zöglings voraussetzt. Aber diese Selbstbeschränkung betrifft erst die Möglichkeit, die Aufforderung des Anderen wahrzunehmen und zu verstehen 12 • Sie liegt auf einer anderen Ebene als die in der Anerkennung der äußeren Sphären freien Handeins geforderte. Einen solchen Respekt braucht man offenbar für die Erziehung nicht vorauszusetzen: ihr Ziel muß durchaus noch nicht im Verhalten des "Zöglings" gegenüber dem Erzieher realisiert sein. Es lassen sich sogar Teilerfolge der Aufforderung denken, in denen sich der Aufgeforderte auch dann als alleiniger Urheber einer Wirksamkeit in der Sinnenwelt erfahren kann, wenn er die Aufforderung zur Selbsttätigkeit nicht mit Respekt gegenüber dem Erzieher, sondern mit einem Angriff auf ihn beantwortet. Nimmt man die bis hier angestellten Überlegungen zusammen, so folgt, daß der Gedanke der Aufforderung denjenigen der Anerkennung weder einschließt noch voraussetzt. Man kann nicht sagen, daß bereits das Angebot eines Anerkennungs- bzw. Rechts-

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verhältnisses, insoweit es sich aus einer Selbstbeschränkung und einer Aufforderung zur Wahl von Handlungsmöglichkeiten ergibt, selber Erziehung wäre. Zum Erziehungsakt gehört vielmehr die Erkennbarkeit seines Zweckes hinzu. Wer mich in Ruhe läßt oder auf bestimmte Handlungsmöglichkeiten hinweist, erweist sich noch keineswegs als Vernunftwesen. Ebensowenig aber läßt sich sagen, daß ein verstehbarer Erziehungsakt nur auf dem Grunde eines bereits etablierten Anerkennungsverhältnisses möglich ist. Beide Aspekte der oben erwähnten ersten Möglichkeit, den Übergang vom 3. zum 4. Paragraphen als eine Analyse des in der Aufforderung schon Enthaltenen zu verstehen, haben sich somit als unzureichend erwiesen. Übrig bleibt nur die zweite Möglichkeit, den Übergang als eine "Reflexion" des aufgeforderten Bewußtseins, als eine Konsequenz, die es aus der Aufforderung zieht - das heißt eben als eine durch dieses Ereignis ausgelöste Erfahrung - zu verstehen. Bevor ich diese Erfahrung erläutere, sei noch einmal daran erinnert, daß nach meiner Intetpretation der Methode im ersten Abschnitt die Notwendigkeit dieses Überganges nicht nur für die philosophische Reflexion, sondern auch für das untersuchte Bewußtsein selber bestehen muß. Der Philosoph soll ja eine Reihe von Handlungen und von ihnen ausgelöste Reflexionen aufzeigen, die nicht nur in einer formal-begrifflichen Weise verbunden sind, sondern auch durch die Konsequenz eines zunehmenden Bewußtwerdungsprozesses. Daß Fichte diese Ebene der Reflexion im Blick hat, zeigen die Erörterungen des § 3 über die Möglichkeit, von der Wirkung eines anderen Wesens auf mich auf seinen Vernunftcharakter zurückzuschließen, ebenso wie die des § 4, einen Anderen zunächst nur hypothetisch als ein Vernunftwesen anzusetzen und diese Hypothese durch seine Antwort verifizieren zu lassen. Solche Überlegungen haben allein aus der Perspektive der philosophischen, gleichsam beide Partner durchschauenden Reflexion keinen Sinn, wohl aber, wenn die Frage gestellt wird, wie weit der Prozeß der Bewußtwerdung des untersuchten Bewußtseins gediehen ist. Um den Übergang auf dieser Ebene zu erklären, genügt es aber nicht, von der erwiesenen Mehrzahl von Vernunftwesen auszugehen und nun, wie Fichte dies in den ersten Abschnitten des§ 4 tut, zu fragen, durch welche notwendigen Bewußtseinshandlungen diese Vernunftwesen sich voneinander unterscheiden und so den Begriff der Individualität hervorbringen. Es muß vielmehr zusätzlich gefragt werden, wieso es für ein aufgefordertes Bewußtsein konsequent ist, sein Gegenüber zumindest hypothetisch als Vernunftwesen zu behandeln, indem es seine eigene Handlungssphäre dem Anderen gegenüber einschränkt. Der Übergang vom Verstehen der Aufforderung zur Selbstbeschränkung gegenüber dem anderen vermuteten Vernunftwesen muß als der konsequente nächste Schritt auf dem Wege zu einem vollen Bewußtsein seiner selbst verstehbar sein. Dieser Schritt kann aber, so meine ich, nur folgendermaßen erklärt werden: mit dem Verstehen der Aufforderung als einem Erziehungsakt und mit seiner Beantwortung durch eine frei gewählte Handlung weiß ich 1) was ein Vernunftwesen ist, nämlich Selbstbestimmung zur Handlung; 2) daß derjenige, der durch sein Handeln meine Erkenntnis von mir selbst als einem Vernunftwesen bezweckte, selber ein Vernunftwesen sein muß und 3) daß die Art seines Handeins mir gegenüber, nämlich die Selbstbeschränkung seiner Handlungssphäre, für das Erreichen seiner Absicht notwendig war. Weil er mich für ein Vernunftwesen hielt, mich als solches behandelte und durch dieses Handeln mir zum Bewußtsein meiner als Vernunftwesen verhelfen wollte, beschränkte er sich selbst. Da diese Handlung mithin nicht erst für den Philosophen, sondern bereits

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für das aufgeforderte Bewußtsein notwendig mit seinem Begriffvon Vernunft verknüpft ist, ist es folgerichtig, wenn dieses Bewußtsein nun sein Gegenüber zumindest hypothetisch - d. h. bis zum Beweis des Gegenteils - ebenfalls "vernünftig", durch Selbstbeschränkung, behandelt. Wären nicht alle angegebenen drei Momente in der Erfahrung des aufgeforderten Bewußtseins enthalten, dann wäre nicht einzusehen, wieso die Beantwortung der Selbstbeschränkung des Auffordernden durch diejenige des Aufgeforderten ein konsequenter nächster Schritt im Prozeß des Zusichkommens des individuellen Bewußtseins wäre. Würde ich z. B. nicht schon wissen, daß Selbstbeschränkung notwendig zur Vernunft gehört, dann könnte ich den Test, ob der mich Auffordernde wirklich ein Vernunftwesen ist, auch so durchführen, daß ich seine Aufforderung durch einen Angriff beantworte. Seine Eigenschaft, ein frei wählendes, sich selbst zum Handeln bestimmtendes Wesen zu sein, könnte er ja auch dadurch beweisen, daß er meinen Angriff erduldete, statt wie ein "normales" Naturwesen zu fliehen oder den Angriff zu erwidern. Ein sehr geeigneter "Test" für das spezifisch Vernünftige, wie es scheint. Nur wenn wirklich alle drei genannten Momente dem Aufgeforderten zum Bewußtsein kommen, kann man sagen, daß der Gedanke der Selbstbeschränkung als Kennzeichen für das äußere Handeln von Vernunftwesen wirklich aus einem für das Bewußtsein notwendigen Akt abzuleiten ist. Nur so wird weder auf ein immer schon vorausgesetztes Rechtsverhältnis zurückgegriffen, noch eine heimliche Anleihe bei einem moralischen oder anthropologischen Dualismus von Naturtrieb und vernünftiger Selbstbeschränkung gemacht. Das bedeutet freilich auch, daß in diesem ersten Teil der Rechtsphilosophie Fichtes keineswegs schon eine Übereinstimmung mit Hobbes angenommen werden muß. Sollte das - wie vielfach angenommen wird- für die späteren Teile gelten, dann wäre es um die systematische Einheit des Werkes in der. Tat geschehen. Bevor wir uns im dritten Teil mit dieser Problematik beschäftigen, sei n9ch einmal zusammengefaßt, worin wir die Struktur des soeben erläuterten Erfahrungsschrittes sehen. Das Bewußtsein wird durch ein Ereignis, eine in Raum und Zeit stattfindende Handlung eines Anderen zu einer Reflexion veranlaßt 13 • Das dadurch erreichte Freiheits- und Vernunftbewußtsein stellt eine neue Bewußtseinsstufe dar, die ihrerseits das Handeln bestimmt. Erst dadurch wird eine Kommunikation zwischen Vernunftwesen, die eine völlige Wechselseitigkeit des Handeins und Verstehens voraussetzt, möglich. Dies ist das Anerkennungsverhältnis, in dem die miteinander kommunizierenden Vernunftwesen sich sowohl als "Gemeinschaft" verstehen, in der das Bewußtsein des einen von dem "Zusammenhang" mit dem anderen abhängt, wie auch als freie Individuen, die sich "durch Gegensatz unterscheiden" (SW III, S. 41 =GA I, 3, S. 349). Gehen nämlich beide sowohl von ihrer eigenen Vernünftigkeit wie von der des anderen zumindest hypothetisch aus, dann wird der Akt der individualisierenden Selbstwahl und der sich beschränkenden Anerkennung der "Sphäre" des Anderen identisch. Erst auf diest!s Bewußtsein läßt sich der Rechtsbegriff gründen, dessen "Verbindlichkeit" auf dem Bewußtsein der wechselseitigen "Gebundenheit" an Bewußtsein und Handeln des Anderen beruht 14 - aber so, daß diese Gebundenheit bzw. Gemeinschaft nur durch die wechselseitige Abgrenzung und Respektierung hervorgebracht bzw. erhalten werden kann. Daß in ihr Einheit auf Unterscheidung und Unterscheidung auf Einheit beruht, hat Hege! bekanntlich veranlaßt, in der Anerkennung die dialektische Grundstruktur des Geistes zu sehen. Für Fichtes Entwicklung des Anerkennungs- aus dem

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Aufforderungsverhältnis wäre es aber falsch, wollte man - wie Hege! -bereits für den Anfang des Zusichkommens der Individualität ein vollständiges, wechselseitiges Anerkennen, dessen erste Stufe für Hege! die Liebe ist, voraussetzen. Gerade wenn man das vermeiden will, muß man aber den Übergang vom Auffordern zum Anerkennen als einen Erfahrungsschritt des Bewußtseins deuten.

1/1.

Wir kommen zum dritten Teil unserer Untersuchung. Die Frage lautet jetzt: ist Fichtes Naturrechtsschrift eine systematische Einheit? Bleibt der Autor seinen anfänglichen Voraussetzungen und Ableitung!"n treu oder schiebt sich im Verlauf der Darstellung ein anderer Ansatz über den ursprünglichen? Nach der Deduktion des Rl"chtsbegriffcs im ersten und derjenigen der Anwendbarkeit des Rechtsbegriffes im zweiten Hauptstück verhalten sich vernünftige Wesen konsequent zueinander, wenn sie einander einen Freiheitsspielraum einräumen. Diese Konsequenz gilt solange, wie der andere die Vermutung seiner Vernünftigkeit nicht durch unvernünftige Handlungen widerlegt. Da Fichte im zweiten Hauptstück ausdrücklich darlegt, daß die Annahme der Vernünftigkeit des Anderen sich bereits auf seine äußere Erscheinung gründet, gibt offenbar jeder dem anderen zunächst einen Vertrauensvorschuß. Daß man sich solange an die Verbindlichkeit wechselseitiger Achtung hält, wie der andere sie nicht in Frage stellt, möchte Fichte zwar auf die bloß logische Konsequenz eines Schlusses zurückführen aber zum einen setzt die intersubjektive Verbindlichkeit der Denkgesetze selber bereits eine Gemeinschaft des Bewußtseins voraus (vgl. Anm. 14), zum anderen ist auch das Handeln nach einer solchen logischen Konsequenz nur dann plausibel, wenn man nicht von Anfang an starke Motive gegen die freiwillige Selbstbeschränkung annimmt. Da Fichte nicht die Frage Kants stellt, wie sich eine Gemeinschaft freier Wesen als solcher überhaupt denken lasse, sondern wie sich das Entstehen des Bewußtseins einer solchen Gemeinschaft und der für sie notwendigen Selbstbeschränkung als Bedingung des Selbstbewußtseins aufweisen lasse, muß er die ursprüngliche Bereitschaft, die wechselseitige Achtung von einem Fall auf alle analogen zu übertragen, zumindest für möglich halten. Ob es ein Interesse an der "Gemeinschaft zwischen freien Wesen" (SW III, S. 87 = GA I, 3, S. 385) immer gibt oder geben sollte, vermag das Naturrecht nicht zu entscheiden, aber eine ursprüngliche Bereitschaft, der gegenseitigen Vernünftigkeit bis zum Beweis des Gegenteils zu vertrauen, muß es schon für die Ableitung des Rechtsbegriffes annehmen. Wie paßt zu diesen Annahmen nun Fichtes These im zweiten und dritten Kapitel des dritten Hauptstückes, die Anwendung des Rechtsbegriffes gehe von der Voraussetzung eines "allgemeinen Egoismus" aus? Jedem Individuum gehe es nur um seine eigene Sicherheit, keinem aber darum, "daß der andere vor ihm sicher sei" (SW III, S. 150 =GA I, 3, S. 433). Und wie ist es mit der Annahme, daß "bei jedem Individuum [ ... ]keine Moralität, sondern nur Eigenliebe stattfindet" (ebd.)? Bekennt sich Fichte nicht im Gegensatz zu der Annahme eines ursprünglich möglichen Vertrauensverhältnisses ausdrücklich zu Hobbes, wenn er im § 16 den Naturzustand als "Krieg aller gegen alle" (SW 111, S. 154 = GA I, 3, S. 435) bezeichnet? Und wie paßt es zu der freien wechselseitigen Selbstbeschränkung der Anerkennung, wenn das "Zwangsgesetz" nun

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als eine "mit mechanischer Notwendigkeit wirkende Veranstaltung" (SW III, S. 142 = GA I, 3, S. 427) eingeführt wird, "um jemanden dahin zu bringen, daß er Willen habe, wo er ihn haben soll"? Es hat zunächst den Anschein, als ob Fichte diesen allgemeinen Egoismus unmittelbar aus dem Begriff des Willens ableiten wolle. Zu Beginn der Deduktion des "gemeinen Wesens" in § 16 heißt es: "der Wille hat sich selbst (in der Zukunft) zum Objekte. Der letzte Zweck jedes Wollenden ist die Erhaltung seiner selbst" (SW III, S. 151 = GA I, 3, S. 433). Als transzendentalphilosophische Deduktion der "Eigenliebe" ist diese These aber keineswegs überzeugend. Die Grundlage der Wissenschaftslehre hat ein absolutes sich selbst Wollen zwar für den reinen, sittlichen Willen, aber nicht für den "Privatwillen" (ebd.) demonstriert. Ziel des Triebes hingegen ist die Harmonie, nicht die zeitliche Erstreckung in die Zukunft. Und nach den ersten Paragraphen des Naturrechts ist zwar die Existenz der Person in der Sinnenwelt notwendige Bedingung des Selbstbewußtseins, aber daraus folgt nicht, daß sie "letzter Zweck" jedes Wollenden ist. Schließlich ist auch die vernünftige Gemeinschaft als notwendige Bedingung des Selbstbewußtseins erwiesen. Daß der Wille zur Selbsterhaltung demjenigen zur Selbstbeschränkung entgegensteht, daß keiner die Sicherheit des Anderen will und daher ohne Zwangsgesetz der Kriegszustand herrscht, ist weder analytisch aus dem Begriff des Willens noch unmittelbar als Bedingung des Selbstbewußtseins abzuleiten. Ist der a-soziale Egoismus dann eine anthropologische These, die zum Zwecke der "technischen" Anwendung des Rechtsbegriffes angenommen werden muß - zumal wenn eine von der Sittenlehre unabhängige Rechtslehre keinerlei altruistische "Moralität" (vgl. SW III, S. 150 =GA I, 3, S. 432) voraussetzen darf? 15 Auch diese Interpretation vermag nicht zu überzeugen. Die "systematische Anwendung" des Rechtsbegriffs in Fichtes Naturrecht ist ja keine diesem Begriff äußerliche Operation, ihn an die empirische Beschaffenheit der menschlichen Natur anzupassen. Vielmehr ist der Rechtsbegriff ohne die Deduktion des Zwangsgesetzes und des gemeinen Wesens "leer" (SW III, S. 137 =GA I, 3, S. 423). Fichtes "Urrecht" istjanichtnurwie Kants vorstaatliche Rechte "provisorisch", sondern sogar "bloße Fiktion" (SW III, S. 112 =GA I, 3, S. 404). Erst durch den Nachweis, daß der Staat der eigentliche "Naturstand des Menschen" (SW III, S. 149 = GA I, 3, S. 432) ist, wird Fichtes Rechtsphilosophie eine "reelle" (SW III, S. 11 =GA I, 3, S. 322), unterscheidet sie sich von der "leeren Formular-Philosophie" (SW III, S. 6 = GA I, 3, S. 31 7) des alten Naturrechts. Wenn die "systematische Anwendung" des Rechtsbegriffs aber von so zentraler Bedeutung ist, dann kann sie sich nicht auf irgendwelche Annahmen über die Natur des Menschen stützen, für die es - anders als bei Hobbes - für Fichte keine anthropologische oder naturphilosophische Basis gibt 16 • "Ob der Mensch im Stande der Natur fromm wie ein Lamm oder boshaft wie ein Tyger ist? mag der Anthropolog ausmachen. Den Naturrechtslehrer geht dieses gar nichts an." Diese These Salomon Maimons gilt erst recht für Fichtes Naturrecht 17 • Es bleibt noch als scheinbar letztes Argument, daß man gerade mangels moralphilosophischer oder anthropologischer Voraussetzungen gleichsam mit dem Schlimmsten, nämlich mit Kants "Volk von Teufeln" 18 rechnen müsse. Nimmt man aber im Ernst einen allgemeinen "bösen Willen" an, dann entschwindet die Basis der fichteschen Deduktion des Rechtsbegriffs selber ins Utopische. Denn diese Deduktion setzt voraus, daß die Einschränkung des Egoismus als Bedingung der Aufforderung und diese als

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"Anstoß" zur Anerkennung erfahrbar sein muß. Der "Zweck" des Rechtsverhältnisses, so sagt Fichte noch im dritten Hauptstück, nämlich der, "mit einer Person in Gemeinschaft der Freiheit zu stehen", ist "nur unter der Bedingung erreichbar, daß diese Person selbst sich das Gesetz gegeben habe, die Freiheit des anderen [ ... ] zu respektieren" (SW III, S. 94 f. =GA I, 3, S. 391). Es ist zwar denkbar, daß die allgemeinen Bedingungen dieses "Gesetzes für die Freiheit" gegen Störungen auch mit Gewalt auf· rechterhalten werden müssen - aber nicht, daß ein ganzes Volk von Teufeln wider seinen Willen zur Ausführung von rechtmäßigen Handlungen gezwungen wird. Selbst wenn sich die egoistischen Willen aus wohlkalkuliertem Eigeninteresse einem "mechanisch" wirkenden Strafgesetz unterwerfen, ist nicht einzusehen, wie es in einer solchen Gemeinschaft jemals zu der für die Erfahrung der Aufforderung notwendigen Bereitschaft zur freiwilligen Selbstbeschränkung des einen um willen der freien Seihsttätigkeit des Anderen kommen könnte. Eine radikal-egoistische Gemeinschaft durch ein allgemeines Zwangsgesetz zur Vernunft zu bringen, ist zwar im Rahmen der Kantischen, nicht aber der Fichteschen Rechtsphilosophie ein sinnvoller Gedanke. Dennoch lassen sich FichtesAusführungen über den allgemeinen Egoismus und das Sicherheitsstreben unter bestimmten Voraussetzungen und mit einigen Einschränkungen verteidigen. Nämlich dann, wenn die Annahme eines egoistischen Sicherheitsstrebens nicht auf einer These über die Natur des Menschen beruht, sondern auf der Erfahrung eines Vertrauensverlustes. Auch diese These ist sicher nicht unabhängig von Hobbes, für den der natürliche Kriegszustand ja ebenfalls auf die Kombination des Rechts auf Selbstverteidigung mit dem begründeten und berechtigten allgemeinen Mißtrauen zurückgeht: aus beidem folgt das Recht auf uneingeschränkte prophylaktische Aggressivität. Fichte rekonstruiert aber im § 8 das Mißtrauens-Argument mit den Mitteln seiner eigenen bewußtseinsgenetischen Methode. Die Überlegungen dieses Paragraphen schließen bruchlos an diejenigen des § 4 an: nach § 4 ist es konsequent, den Anderen so lange als Vernunftwesen zu behandeln, wie dieser durch sein Handeln meine Hypothese nicht falsifiziert. Der unvernünftigen Reaktion des Anderen darf ich meinerseits mit Gewalt antworten. Im § 8 analysiert Fichte nun die Erfahrung, daß auf eine Menge vernünftiger Reaktionen eine unvernünftige folgt. Die Frage ist nun nicht bloß, ob ich diese Reaktion mit Zwang beantworten darf, sondern was ich künftig von meinem Gegenüber zu denken habe. Sein Verhalten beweist, daß er das Rechtsverhältnis nicht als "unverbrüchliches Gesetz" betrachtet (SW III, S. 97 =GA I, 3, S. 393). Ich muß mithin annehmen, daß er sich auch bisher nicht um der Erhaltung einer Gemeinschaft der Freienwillen zurückgehalten hat, sondern aus anderen, taktischen Gründen. Damit ist aber für mich auch für alle Zukunft die Basis der wechselseitigen Sicherheit zerstört. Die Erfahrung, daß ein bisher für vernünftig gehaltenes Wesen meine Freiheit verletzt, führt also, wie Fichte später formuliert, zum Verlust von "Treu und Glauben" (SW III, S. 139 =GA I, 3, S. 424 f.). Daß ich in einem solchen Zustand des Mißtrauens noch meine Sicherheit zugunsten der Möglichkeit freier Gemeinschaft gefährden sollte, wäre in der Tat eine Forderung, die nur noch die Moral an mich richten könnte. Für die transzendentalphilosophische Rechtslehre ist dagegen die körperliche Existenz des Individuums in der Sinnenwelt eine ebenso notwendige Bedingung des Selbstbewußtseins wie die Gemeinschaft freier Wesen. Insofern sie aber erörtert, zu was für einer Reflexion im handelnden Bewußtsein die mögliche Störung freier Gemeinschaft durch ein "vermeintliches" Vernunftwesen führt, ist sie konsequent, ein generel-

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les Mißtrauen und ein Primat des selbstbezogenen Sicherheitsstrebens anzunehmen. Die Konsequenz, die vernünftige, selbstbewußte Wesen aus einer solchen Erfahrung ziehen, ist die Einsicht, daß die wechselseitige Freigabe mit einer wechselseitigen Sicherheitsgarantie verbunden sein muß und daß dies nur möglich ist durch gemeinsame freiwillige Unterwerfung unter einen Dritten, der zugleich die Herrschaft des Gesetzes wie das Monopol physischer Gewalt, die "Übermacht" repräsentiert. Insofern erst diese Etablierung des Gesetzesstaates das Recht von einer "bloßen Fiktion" zu einem "reellen" Begriff macht, muß auch diese Erfahrung noch zu den Bedingungen eines vernünftigen Selbstbewußtseins gezählt werden. Auch der zweite "Bruch" in der Systematik von Fichtes Grundlage des Naturrechts läßt sich mithin durch die Annahme schließen, daß Fichtes Methode die Darstellung von Erfahrungen des Bewußtseins einschließt. Nur wenn man einen "Reflexionsfortschritt" des untersuchten Bewußtseins voraussetzt, kommt man um die Annahme herum, daß Fichte bei der Anwendung des Rechtsbegriffs wieder zur Methode des vortranszendentalen Naturrechts zurückkehrt, nicht mehr nach den Bedingungen des Bewußtwerdens von Vernunft fragt und nicht mehr den Standpunkt des handelnden Bewußtseins einnimmt, sondern aus Thesen über die Natur des Menschen Folgerungen zieht. Man kann aber den Zusammenhang zwischen freier Selbstbeschränkung, allgemeinem "Egoismus" und staatlich garantiertem Zwangsgesetz auch ohne die Annahme eines solchen methodischen Bruchs verstehen. Heißt das, daß die Konstruktion eines Zwangsgesetzes, das alle Äußerungen eines ungesetzlichen Willens mit mechanischer Notwendigkeit in ihr Gegenteil verkehrt, akzeptabel ist? Kann ein Staat freiheitlich sein, der auf der Basis eines universalen Mißtrauens gegründet ist? Fichtes "Fehler" liegt m. E. darin, daß er das legitime Sicherheitsstreben mit einem Gesetzesbegriff verbunden hat, der am Naturgesetzbegriff seiner Zeit orientiert ist: da "Sicherheit lediglich auf ein Gesetz sich gründen kann" (SW III, S. 9 7 = GA I, 3, S. 393), ein Gesetz aber - egal, ob es sich um ein "mechanisches Naturgesetz" oder um ein "Gesetz für die Freiheit" handelt (SW Ill, S. 91 =GA I, 3, S. 388) -nur dann Gesetz ist, wenn es "unmöglich" ist, "daß davon eine Ausnahme geschehe" (SW Ill, S. 93 =GA I, 3, S. 390), so muß das Zwangsgesetz und der es garantierende Staat Gesetzesübertretungen egal welchen Ausmaßes nicht nur bestrafen, sondern von vornherein unmöglich machen 19 • In diesem Ansatz des Gesetzesbegriffes liegt nicht nur die Aufgabe einer vollständigen Kontrolle der Individuen - ob Fichte sie nun in der Naturrechtsschrift ganz durchgeführt hat oder nicht -, sondern auch die Notwendigkeit, ein konstantes, berechenbares Motiv aller Willenshandlungen vorauszusetzen. Das führt dazu, daß Fichte die These des allgemeinen Egoismus dann doch in der Weise einer generellen anthropologischen Theorie benutzt. Wäre er dagegen bei der Erfahrung von Mißtrauen geblieben, hätte er die Aufgabe des Staates auf die Wiederherstellung des Vertrauens beschränken können 20 • Dazu aber ist nicht unbedingt ein lückenloses Sicherheitssystem erforderlich. In unserem Zusammenhang genügt es, die Frage des Inhaltes der Fichteschen Staatsphilosophie nur zu streifen. Denn hier geht es primär um die Frage, ob Fichtes Werk eine systematische Einheit bildet und seine Methode, mag sie auch den Aufgaben der verschiedenen Teile gemäß abgewandelt werden, einem einheitlichen Programm folgt. Beides hätte verneint werden müssen, wenn Fichte im dritten Hauptstück "dogmatisch" von einem generellen Primat des "privaten" Sicherheitsstrebens und eines Egoismus

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ausginge, der die Schädigung des Anderen bewußt in Kauf nimmt. Die systematische Einheit des Fichteschen Naturrechts bleibt aber gewahrt, wenn man die Erfahrung der gestörten Beziehung zwischen Vernunftwesen als eine notwendige Reflexionsstufe des Selbstbewußtseins begreift. Solange jede solche Störung die Vernünftigkeit des Gegenüber dementiert, ist die Erfahrung von Aufforderung und Anerkennung ihrerseits in Zweifel gezogen. Ohne sie aber kann niemand seiner als frei handelnder Individualität bewußt sein. Hege! hat Fichtes Naturrechtsschrift den Vorwurf gemacht, die Annahme eines Verlustes von "Treu und Glauben" sei nur der "populärere" Ausdruck für die unüberwindbare Trennung von allgemeiner und individueller Freiheit, der wiederum der Gegensatz zwischen reinem Selbstbewußtsein und individuellem bzw. "reellem Bewußtsein" zugrunde liege 21 • Wenige Jahre nach dieser Kritik im Naturrechtsaufsatz hat er selber den Kampf und seine Aufhebung ins Rechtsverhältnis und die Etablierung des "gewalthabenden Gesetzes" als notwendige Stufen des Bewußtwerdens im Prozeß der Interaktion vernünftiger Wesen dargestellt. Daß Fichte eine solche Darstellung in der Naturrechtsschrift schon vorgezeichnet hatte, hat Hege! - möglicherweise - nicht gesehen, weil er selber die Methode Fichtes nicht verstand, sondern als ein im schlechten Sinne teleologisches Argument 22 karikiert hat. Das heißt nicht, daß die Stufen dieses Prozesses bei Fichte und Hege! sich genau entsprächen - im "Kampf um Anerkennung" etwa unterzieht Hege! den Hobbes'schen Naturzustand einer ganz anderen Neuinterpretation als Fichte das mit seiner Deduktion des Mißtrauens getan hatte 23 • Hegels Methode einer Erfahrung des Bewußtseins hat aber mit derjenigen Fichtes Wichtiges gemeinsam. Er hat diese Methode nach kurzer Zeit selber aufgegeben. Für die Gegenwart ist Fichtes und Hegels Idee einer Erfahrungsgeschichte des Bewußtseins aber interessant - interessanter als Hegels spätere Geschichtsphilosophie 24 •

IV. Wir haben die schwierigen Übergänge in Fichtes Naturrechtsschrift mit Hilfe eines Begriffes von "Erfahrung des Bewußtseins" interpretiert, der weder mit dem gewöhnlichen Begriff von Erfahrung noch mit Hegels in den Jenaer Schriften entwickelter Methode der Erfahrung des Bewußtseins identisch ist. Nicht mit dem gewöhnlichen -von Fichte in den Corollaria zu § 4 ja ausdrücklich abgelehnten - Begriff von Erfahrung, weil die Darstellung der Genese des Rechts- und Staats-Bewußtseins keine Erzählung historischer Ereigrlisse oder des Erlemens von Rechtsbegriffen ist. Von "Unterricht" und "willkürlichen Anordnungen" der Menschen (SW III, S. 53 = GA I, S. 358) ist nicht die Rede. Die Methode ist aber auch nicht diejenige Hegels, für den das Bewußtsein auf jeder seiner Stufen einen Widerspruch erzeugt, der sein Wissen von sich als bloße Meinung erweist. Dieser Widerspruch löst nach Hege! eine "Reflexion" des Bewußtseins aus, in der es eine neue "Wahrheit" und damit eine neue Bewußtseinsstufe erreicht. Als solche Reflexionen lassen sich für Hege! auch geschichtliche Prozesse verstehen, insoweit es in ihnen um grundsätzliche Umwälzungen von theoretischen oder praktischen Weltanschauungen, Institutionensystemen oder religiösen Vorstellungswelten geht. Das heißt nicht, daß die Philosophie aufs nachträgliche Verstehen von Geschichte beschränkt wird, vielmehr hat der Bildungsprozeß des Bewußtseins seine eigene Gesetz-

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mäßigkeit, die erst angibt, was das Wesentliche, die begreifbare "Organisation" der Geschichte ist. Hege I hat aber seit Ende der Jenaer Zeit diese Gesetzmäßigkeit des Bewußtseins mit Kategorien der reinen spekulativen Logik formuliert. Damit wird auch der geschichtliche Bildungsprozeß des Bewußtseins in seiner Gesamtheit in kategorialen, denknotwendigen Strukturen darstellbar. Die Probleme, die sich aus diesem Verhältnis von spekulativer Logik bzw. "Metaphysik" und Geschichte vor allem für die praktische Philosophie ergeben, können hier nicht erörtert werden 25 • Es muß auch offen bleiben, ob Fichtes spätere Geschichtsphilosophie in ihrer "Zukunftsoffenheit" möglicherweise Hege) überlegen ist 26 • Der frühe Fichte, mit dem wir uns hier beschäftigt haben, versucht zweifellos, die Geschichte aus der Genese des Bewußtseins herauszuhalten. Der Rechtsbegriff muß nach ihm notwendig "wirken ... wo nur Menschen beieinander leben und sich äußern und eine Benennung in ihrer Sprache haben" (ebd). Mit diesem Begriff der Notwendigkeit bzw. des "a priori" (ebenda) ist der Begriff der Erfahrung des Bewußtseins, wie er hier verwandt wurde, durchaus vereinbar. Denn er besagt nur, daß bestimmte Reflexionen des Bewußtseins durch raum-zeitliche Ereignisse, nämlich Interaktionen von Individuen in der Sinnenwelt, ausgelöst werden müssen. Er besagt aber nicht, daß das Eintreten dieser Ereignisse zufällig im Sinne der Abhängigkeit von bestimmten geschichtlichen, kulturellen, biographischen oder natürlichen Umständen sei. Es ist indes eine andere Frage, ob Fichtes Auffassung, eine vernünftige Begegnung zwischen Vernunftwesen habe "notwendig eintreten" (ebd.) müssen, überzeugen kann. Meines Erachtens läßt sich nur sagen, daß wir zu unserem Begriff von Vernunft nicht hätten kommen können, wenn solche Ereignisse nicht eingetreten wären. Damit sind sie aber noch nicht denknotwendig. Denkbar ist auch, daß es immer und überall ein Verhältnis von Zwang und persönlicher Herrschaft gegeben hätte. Menschen, die miteinander sprechen, müssen nicht die Erfahrung wechselseitiger Anerkennung oder gar die Idee herrschaftsfreier Kommunikation besitzen - Sprache ist ebensogut als Instrument und Medium von Herrschaft denkbar 27 . Daß auch das Ausbleiben der von Fichte für denknotwendig gehaltenen Ereignisse denk-möglich ist, gilt sicher ebenso für die Erfahrung des Vertrauensverlustes. Solche Denkmöglichkeiten besagen aber nicht, daß der einmal erreichte Begriff von Recht und Vernunft nur beliebig und daher gegen Alternativen nicht zu verteidigen wäre. Wenn die Denknotwendigkeit von Bewußtseinserfahrungen im Sinne Fichtes nicht überzeugt, dann bleibt noch der Weg offen, grundlegende Begriffe und Institutionen unseres gesellschaftlichen Lebens als Bedingungen und Resultate eines unumkehrbaren, in seiner Konsequenz nachkonstruierbaren Bildungsprozesses des Bewußtseins darzustellen. Zum Bewußtsein der Selbständigkeit des Ich gehört, so läßt sich heute zeigen, das Bewußtsein, Subjekt gleicher Rechte, nicht nur gleicher Schutz-, sondern auch gleicher Mitwirkungsrechte 28 zu sein. Deduktionen, die vermeintlich ganz im Bereich des "a priori" bleiben, verfangen sich, wie Kants Begriff der "sibisufficientia" des Staatsbürgers zeigt 29 , allzuleicht im historisch Bedingten. Prinzipielle Nachkonstruktionen historischer Erfahrungen als Bedingungen vernünftigen Selbstbewußtseins könnten dem entgehen, ohne in Historismus oder Geschichtsmetaphysik zu verfallen.

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Anmerkungen 1. Auf diese Wiederannäherung hat besonders eindringlich M. Riede) hingewiesen (Hegels Kritik des Naturrechts, zuletzt in: Studien zu Hegels Rechtsphilosophie, Frankfurt 1969, S. 55 f., 59 ff.). Einige Vorbehalte gegen Riedeis These von der Rückkehr Hegels "zur Naturrechtsposition von Rousseau, Kant und Fichte" (ebd. S. 64) in seinen Ietztenjenaer Jahren habe ich in meinem Aufsatz Praktische Philosophie und Geschichte beim ]eaner Heget zu formulieren versucht (in: Der Idealismus und seine Gegenwart. Festschrift für Werner Marx, hrsg. v. U. Guzzoni, B. Rang, L. Sicp, Harnburg 1976, S. 402 ff.). Dennoch ist sicher sowohl für die Theorie der Anerkennung wie für die Methode der Erfahrung des Bewußtseins der Einfluß Fichtes von Bedeutung. 2. Nach R. Schottky kehrt Fichte nach der Deduktion des Rechtsbegriffs zum Naturrecht Hobbes' zurück (Untersuchungen zur Geschichte der staatsphilosophischen Vertragstheorie im 17. und 18. Jahrhundert, Diss. München 1962, S. 142). P. Baumanns sieht nicht nur Mängel in der "logischen Stringenz" der Deduktion des Rechtsbegriffs (Fichtes ursprüngliches System. Sein Standort zwischen Kant und Hege/, Stuttgart 1972, S. 183), sondern auch eine unüberbrückbare Divergenz zwischen Teilen des Naturrechts und zwischen Naturrecht und Wissenschaftslehre (ebd. 197). Dieses "zwiespältige Aussehen" (Baumanns) seiner Rechtsphilosophie hat Fichte nach H. Verweyen selber wahrgenommen und daher später- endgültig seit 1807- eine "völlige Abkehr" von ihr vollzogen (Recht und Sittlichkeit in]. G. Fichtes Gesellschaftslehre, Freiburg/München 197 5, S. 198). 3. Obwohl in der Grundlage des Naturrechts die Prinzipien der Wissenschaftslehre angewandt werden, gehört sie nicht zur "angewandten Philosophie" im Sinne des späteren Fichte, sondern zur Wissenschaftslehre selbst. Darauf hat R. Lauth nachdrücklich hingewiesen U- G. Fichtes Gesamtidee der Philosophie, zuletzt in: Zur Idee der Transzendentalphilosophie, München/Salzburg 1965, s. 97. 102). 4. Dieses Sich-wissen als bestimmt durch ein Nicht-ich kann natürlich für Fichte - in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre - aus den Setzungen des reinen Ich selber erklärt werden. 5. Fichtes Grundlage des Naturrechts wird hier - der größeren Verbreitung halber - nach der Ausgabe von F. Medicus, aber mit der Seitenzählung von I. H. Fichte zitiert (Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschafts/ehre. Neudruck auf der Grundlage der zweiten von Fritz Medicus hrsg. Auf!. von 1922, hrsg. v. M. Zahn, Harnburg 1960). Die Paginierung I. H. Fichtes wird auch wiedergegeben in der Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Bd. I, 3 und I, 4 hrsg. v. R. Lauthund H. Gliwitzky, unter Mitwirkung von R. Schottky, Stuttgart 1966 u. 1970). 6. Zur Faktizität des Sittlichen bei Kant vgl. D. Henrich, Der Begnff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken .• Festschrzft für H. G. Gadamer, hrsg. v. D. Henrich, W. Schulz, K. H. Volkmann-Schluck, Tübingcn 1960, S. 77-115, sowie L. W. Beck, Das Faktum der Vernunft: Zur Rechtfertigungsproblematik in der Ethik, in: Kantstudien 52 (1960/61), S. 271-282. 7. In der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1794 leitet Fichte bekanntlich zunächst die zeitliche Ausgedehntheil eines Momentes aus dem Schweben der Einbildungskraft ab. Die Ausführung dieser Ableitung zu einer transzendentalen Deduktion von Raum und Zeit findet sich im § 4 des Grundriß des Eigentümlichen der Wissenschaftslehre mit Rücksicht auf das theoretische Vermögen von 1795. 7a. Dies gilt auch noch für die Wissenschaftslehre nova methodo von 1798. Fichte bemüht sich in dieser Schrift zwar bereits um einen "intelligiblen" Begriff der Individualität als einer lndividuierung des Vernunftreiches - ein Begriff, der später zur "Synthesis des Geisterreichs" und zur Auffassung des "Wir" als einer Erscheinung des Absoluten führt, das sich in dieser Erscheinung in eine Mannigfaltigkeit individueller "Bilder" spaltet. In der Wissenschaftslehre nova methodo ist die Deduktion der Individualität aber noch mit der an ein "empirisches Wollen" gerichteten Aufforderung verbunden. Da diese Aufforderung der "Anfang des Bewußtseyns" ist, käme es ohne einen solchen von "außen" veranlaSten empirischen Willensakt auch nicht zum "Herausgreifen meiner selbst aus der Masse des Vemunftreichs" (vgl. GA IV, 2, S. 174, 177). 8. Vgl. SW III, S. 35 GA I, 3, S. 344: "das Subjekt muß vielleicht zu Folge der gesezten Einwirkung auf sich noch manches andere setzen: wie geschieht dies, oder was setzt es, nach den Gesetzen seines Wesen zu Folge seines ersten Setzens?"

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9. Das Thema "Interpersonalität", das in diesen Paragraphen behandelt wird, ist seit den rich· tungsweisenden Arbeiten von H. Heimsoeth: ]. G. FichtesAufschließung der gesellschaftlich-ge· schichtliehen Welt, Torino 1962 und R. Lauth, Le Probleme de l'Interpersonnalite chez ]. G. Fichte, in: Archives de Philosophie XXV (1962), S. 3 25-344 in einer Reihe von Einzeluntersuchungen behandelt worden. Die meisten begnügen sich allerdings mit einer Nachkonstruktion der Argumente Fichtes in seinen verschiedenen Schriften, ohne deren Stichhaltigkeit ernsthaft zu prüfen. Vgl. vor allem C. K. Hunter, Der Interpersonalitätsbeweis in Fichtes früher angewandt er praktischer Philosophie, Meisenheim 1973; E. Heller, Die Theorie der Interpersonalität im Spätwerk ]. G. Fichtes, Diss. München l974;J. Leopoldsberger, Das Du-Problem bei Fichte, Diss. Wien 1965 und H. Kopp, Vernünftige Interpersonalität als Erscheinung des Absoluten, Diss. München 1972. Wichtige (auch kritische) Überlegungen zur "Deduktion der lntersubjektivität" enthalten auch die Fichte-Bücher von P. Baumanns (vgl. o. Anm. 2) und A. Philonenko: La Liberte humaine dans Ia Philosophie de Fichte, Paris 1966, und Theorie et Praxisdans Ia pensee morale et politique de Fichte, Paris 1968. 10. Eine andere als die hier diskutierte Problematik veranlaßt H. Verweyen (a.a.O., S. 91) zur Kritik an diesem Übergang: wie es von dem positiven Wollen der Freiheit des Anderen in der Auf· forderung zum wechselseitigen Abgrenzen "quantitativer" Freiheitssphären im Rechtsbegriff kom· me. I I. Daß das Aufforderungsverhältnis die wechselseitige Anerkennung bereits "impliziert", "in· volviert" bzw. voraussetzt, ist offenbar die Auffassung von P. Baumanns, a.a.O., S. 181, und E. Heller, a.a.O., S. 59. Auch H. Verweyen erwartet - und vermißt - in § 4 eine "logisch einwandfreie Analyse" der "Interpersonalbeziehung" des§ 3 (a.a.O., S. 92). 12. Für Fichte setzt in der Tat schon das Wahrnehmen des Anderen und das Verstehen seiner Sprache eine komplizierte Wechselwirkung der beiden mittels ihrer "höheren" und "niederen" Or· gane voraus (vgl. SW 111, S. 64 ff. = GA I, 3, S. 367 ff.). Dabei muß auch schon wechselseitige Selbstbeschränkung stattfinden (es kann z. B. nicht Sprache vernommen werden, wenn gleichzeitig selber gesprochen wird, aber auch nicht, wenn die gehörten Laute nicht "innerlich nachgebildet" werden). Dies hat aber noch nichts mit der Beschränkung des eigenen äußeren Handeins zugunsten der Handlungsmöglichkeit des Anderen zu tun. 13. Um ein solches Ereignis handelt es sich auch dann, wenn schon der Anblick eines Individuums zur Anerkennung führt. Fichte hat ja im zweiten Hauptstück (§ 6) deduziert, daß ein solcher Anblick der leiblichen Gestalt eines Individuums schon notwendig zu seiner Erkenntnis als Vernunftwesen führt - allerdings nur für denjenigen, der schon durch eine Aufforderung zum Selbstbewußtsein gekommen ist ("dem anderen", "der Person außer mir", d. h. der Person des Auf· fordernden, vgl. SW III, S. 76 f. =GA I, 3, S. 376 ff.). 14. Die Erfahrung, daß "wir"- die Anerkennenden- "beide durch unsere Existenz aneinander gebunden und einander verbunden" sind, führt nach Fichte zur Forderung nach einem "von uns gemeinschaftlich notwendig anzuerkennenden Gesetz [... ) nach welchem wir gegenseitig über die Folgerungen halten" (SW 111, S. 48 = GA I, 3, S. 354). Um dieses Gesetz zu erkennen, müssen wir uns an den "Charakter" erinnc:rn, "nach welchem wir eben jene Gemeinschaft eingegangen" sind: "Dies aber ist der Charakter der Vernünftigkeit; und ihr Gesez über die Folgerung heißt Einstimmigkeit mit sich selbst, oder Consequenz, und wird wissenschaftlich aufgestellt in der gemeinen Logik" (ebd.). Aus diesen Überlegungen Fichtes folgt offenbar nicht nur eine "praktische Gültig· keit des Syllogismus" (SW 111, S. 50= GA I, 3, S. 356), sondern auch eine Abhängigkeit der intersubjektiven Verbindlichkeit logischer Gesetze von einem - durch Handlungen etablierten - gemeinsamen "vernünftigen" Bewußtsein. 15. Diese Interpretation vertritt u. a. R. Schottky in seinem Aufsatz: La ,Grundlage des Naturrechts' de Fichte et La Philosophie Politique de l'Aufklaerung, in: Archives de Philosophie XXV· (1962), S. 441-483. Dagegen versuche ich im folgenden zu zeigen, daß Fichte den "Egoismus" ur· sprunglieh aus der Erfahrung des Verlustes von "Treu und Glauben" ableitet. Diese Ableitung setzt keinen prinzipiellen Dualismus zwischen moralischem Altruismus und natürlichem Egoismus vor· aus - den die "Neutralität" der Rechtsphilosophie gegenüber der Ethik eigentlich verbietet. Daß Fichte später im Text des Naturrechts tatsächlich einen solchen Dualismus anzunehmen scheint, versuche ich (u. S. 300 auf seinen Gesetzesbegriff zurückzuführen. 16. Fichtes eigene Skizze einer genetischen "Anthropologie" im § 6 der Grundlage des Naturrechts hat einen anderen Sinn als die Aufstellung von Thesen über das natürliche Verhalten des Menschen. Sie will vielmehr nachweisen, daß es unmöglich ist, "den menschlichen Leib als ein Gan-

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zes zu denken", ohne ihn als Träger eines vernünftigen Selbstbewußtseins zu verstehen (SW III, S. 77 =GA I, 3, S. 378). Das bedeutet aber auch, daß der Mensch im Gegensatz zum Tier ,.ursprüng· lieh gar nichts" ist, sondern alles ,.durch sich selbst werden" soll (SW III, S. 80 =GA I, 3, S. 379). Daraus läßt sich jedenfalls keine Theorie der natürlichen Selbsterhaltung - als ,.letzter Zweck" des Menschen ableiten. 17. Die Formulierung stammt aus Maimons Aufsatz Ober die ersten Gründe des Naturrechts, den er 1795 in Niethammers Philosophischem Journal veröffentlichte (Nachdr. Hildesheim 1969, S. 170) und den Fichte in der Einleitung der Grundlage des Naturrechts zustimmend zitiert (SW III, S. 12 =GA I, 3, S. 323). 18. Vgl. Kants berühmte Wendung im ersten Zusatz der Schrift "Zum ewigen Frieden" (Werke, hrsg. v. W. Weisschedel, Bd. VI, Darmstadt 1964, S. 224 ): ,.Das Problem der Staatseinrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar". Die Lösung besteht darin, die selbstsüchtigen Neigungen und Kräfte ,.so gegen einander zu richten, daß eine die andern in ihrer zerstörenden Wirkung aufhält, oder diese aufhebt: sodaß der Erfolg für die Vernunft so ausfällt, als wenn beide gar nicht da wären". Auf diese Weise ist es möglich, daß auch der radikal böse Mensch ,.ein guter Bürger zu sein gezwungen wird". (ebd.) 19. Die Gefahr, daß ein auf universales Mißtrauen gegründeter und auf vorbeugende Verhinderung jeder rechtswidrigen Tat berechneter Staat die Kontrolle der Bürger unendlich perfektionieren müßte, hat Hegel richtig gesehen. Prinzipiell gibt es unter solchen Voraussetzungen "schlechterdings keine Handlung, von der nicht der konsequente Verstand dieses Staats einen möglichen Schaden für andere berechnen könnte, und mit dieser Möglichkeit hat es der vorbeugende Verstand und seine Gewalt, die Pflicht der Policey zu tun. Und es gibt in diesem Ideal von Staate kein Thun und Regen, das nicht nothwendig einem Gesetz unterworfen, unter unmittelbare Aufsicht genommen und von der Policey und den Regierem beachtet werden müßte" (Differenz des Fichte'schen und Schelling'schen Systems der Philosophie, Gesammelte Werke Bd. IV, Jenaer kritische Schriften, hrsg. v. H. Buchnerund 0. Pöggeler, Harnburg 1968, S. 56). 20. Daß Fichte dies nicht für möglich hält, ist ein rationalistisches Vorurteil. Vgl. SW III, S. 139 = GA I, 3, S. 425: ,.Treu und Glaube können, sowie sie einmal verloren gegangen sind, nicht wieder hergestellt werden" - sie müssen daher für Fichte durch ,.mechanische" Sicherheit ersetzt werden. 21. Vgl. G. W. F. Hegel, Ober die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, a.a.O.,

s. 443.

22. Fichtes Methode, den Anderen, die Sinnenwelt, den Leib etc. als Bedingungen des Selbstbewußtseins zu deduzieren, entspricht nach Hege! im Prinzip der älteren Teleologie und ,.Physikotheologie", die Natur auf Zwecke außerhalb ihrer selbst zu beziehen - nur daß das Außl'rhalb nichts Absolutes, Göttliches, sondern das ,.leere Denken" des endlichen Selbst sei. Es sei die ,.Mangelhaftigkeit" dieses leeren Denkensund Wollens, die dazu zwinge, die vorher abstrahierte ,.empirische Sinnenwelt" als seine Bedingung wieder abzuleiten. (Vgl. Glauben und Wissen, a.a.O., S. 401, 404 f. sowie Differenzschrift, ebenda, S. 54). 23. Vgl. dazu meinen Aufsatz Der Kampf um Anerkennung. Zur Auseinandersetzung Hegels mit Hobbes in den Jenaer Schriften, in: Hegel-Studien 9 (1974), S. 155-207. 24. Auf diese Frage gehe ich näher ein in Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg 1979. 25. Vgl. zur gesamten Problematik K. H. Volkmann-Schluck: Metaphysik und Geschichte, Berlin 1963. Einen Ausschnitt des Problems praktische Philosophie und Geschichte bei Hege) behandelt mein o. Anm. I genannter Aufsatz. 26. Bekanntlich hat Fichte eine eigene Geschichtsphilosophie erst in den Grundzügen des gegenwärtigen Zeitalters von 1806 entwickelt. Vgl. dazu K. Hammacher, Comment Fichte accede l'histoire, in: Archives de Philosophie XXV (1962), S. 388-440, sowie neuerdings H. Verweyen, a.a.O., s. 184 ff., 292 ff. 27. Auf Fichtes Auffassung der Sprache kann hier nicht näher eingegangen werden. Nach den Ausführungen in § 6 der Grundlage des Naturrechts ist Sprache aber in der Tat ein wesentliches Indiz - wenn auch nicht der Grund- dafür, daß Menschen vernünftigerweise nicht direkt körperlich aufeinander einwirken, sondern dem Anderen die Weise seiner Reaktion - durch Selbstbeschränkung - freigeben. Auch für Fichte hat die Sprarhe daher Modellcharakter für die vernünftige Kommunikation, wenngleich er sie nur als Bedingung für die höhere, bewußtere Kommunikation des Rechtsverhältnisses deduziert. Grundsätzlich findet sich damit bei Fichte der gleiche rationalisti-

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Praktische Philosophie. Ludwig Siep

sehe Sprachoptimismus wie etwa heute bei Jürgen Habermas: beide orientieren sich an der Sprach· form des aufrichtigen Dialogs, nicht etwa des Befehls, der Suggestion, der Überredung etc. Dagegen hat mit Recht R. Bubner an Gründzüge der antiken Sprachskepsis erinnert: Was heißt kritische Theorie?, jetzt in: Hermeneutik und Ideologiekritik, Frankfurt 1973, S. 190 f., 208.- Anders als für Fichte ist freilich für Habermas alles bisherige vernünftige Reden unter Menschen noch keines· wegs dem Ideal der "Mündigkeit" entsprechend - wenngleich es dieses immer "unterstellen" muß. 28. Daß schon die Grundrechte im gegenwärtigen (westlichen) Verfassungsverständnis nicht nur Abwehr· sondern auch Mitwirkungsrechte sind, hat K. Hesse hervorgehoben: Grundzüge des Ver· fassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1967, S. 115. 29. Zur Kritik an Kants Beschränkung des aktiven Staatsbürgerrechts auf die - im "alteuropäi· sehen" Sinne- Selbständigen, d. h. ökonomisch Unabhängigen vgl. M. Riede!, Die Aporie von Herr· schaft und Vertrag in Kants Idee des Sozilllvertrags, in: Kant. Zur Deutung seiner Theorie vom Er· kennen und Handeln, hrsg. v. G. Prauss, Köln 1973, S. 337-349.

Methodische und systematische Probleme in "Grundlage des Naturrechts"

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Diskussion Verweyen: Der zweite Punkt Ihres Vortrages stellt die Frage nach dem Übergang von Paragraph drei zu Paragraph vier des Naturrechts speziell in den beiden Aspekten, ob der Übergang ein bloß analytischer sei, ob die Anerkennung notwendig in der Aufforderung impliziert sei, oder ob man Anerkennung als einen Akt der Konsequenz auf die Aufforderung auffassen müsse. f- Schurr: Wie kann ein freies Vernunftwesen im Akte der Selbstbestimmung frei und zugleich bestimmt sein? Fichte sieht nur einen einzigen Ausweg: Dies ist nur dann möglich, wenn es aufgefordert wird, letztendlich, wenn es sich selbst auffordert_ Was die Frage des Ansatzes der Erziehung anbelangt, so könnte man sie zunächst so auffassen: Erziehung ist hier gemeint als Erziehung zu Rechtsverhältnissen. Wenn Freiheit als die Möglichkeit, sich auffordern zu lassen, bereits vorausgesetzt ist, wie soll dann eine solche Art von Erziehung als Aufforderung zur Selbstbestimmung überhaupt möglich sein? Wie kann man aus diesem Dilemma herauskommen: Aufforderung setzt einerseits Freiheit voraus, und andererseits führt sie zur Unfreiheit? Siep: Was Fichte an der Stelle braucht, ist, daß der Erziehungsakt dem aufgeforderten Bewußtsein ein Bewußtsein seiner Fähigkeit, allein der Ursprung äußerer Handlungen zu sein, vermitteiL Baumanns: Eine Aufforderung ist einerseits gar nicht möglich, wenn sie nicht verstanden wird. Durch die Aufforderung andererseits aber soll sich ein solches Wesen allererst finden; es geht ja um die Erstmaligkeit des Selbstbewußtseins und das Zusiehkommen. Also: Damit ein endliches intelligentes Wesen werden kann, muß es schon als zu sich gekommenes Wesen, als intelligentes Wesen da sein. Die zweite Schwierigkeit, die Fichte sich selbst macht: In der Aufforderung wird das intelligente Wesen zu einem bestimmten Wollen aufgefordert_ Fichtes Lösung ist die, daß so etwas von ihm gedacht wird wie eine Aufforderung "von Ewigkeit her". Dieser Ausdruck findet sich im System der Sittenlehre. Siep: In dieser Deduktion geht es nun darum, wie intelligente Wesen im äußeren Handeln ihrer Vernünftigkeit - als Fähigkeit der Selbstbestimmung in solchem Handeln - bewußt werden können. Es geht nicht um die Entstehung eines philosophischen Vernunftbegriffs- und auch nicht um sittliche Selbstbestimmung. Hirsch: Bei der Aufforderung muß man doch wohl unterscheiden zwischen potentieller und aktueller Freiheit; das Potentielle muß ja durch einen Akt "aktualisiert" werden. Die Aufforderung könnte dann, statt (inhaltlich bestimmter) Erziehungsvorgang, auch nur eine Kontaktnahme, ein Anstoß sein, der die potentielle Freiheit aktuell werden läßt_ Girndt: Ich muß die Aufforderung intern nachvollziehen, so als hätte ich sie gemacht; und dieses Vollziehen bzw. Nachvollziehen der Aufforderung, auf die ich mich als vorausgesetzt einlasse, ist die Bedingung meines Verstehens. Das bedeutet konkret, ich muß mich auf die Position des anderen, der mich auffordert, einspielen, so als wäre ich der andere; und nur über diesen Umweg, durch das Mich-Versetzen in die Position des anderen, gewinne ich meine eigene Position, werde ich meiner selbst bewußt_ Der Weg zum Selbstbewußtsein geht über das Sich-Versetzen in das Bewußtsein des anderen. Damit habe ich implizit und intern den anderen schon anerkannt_ Ob ich dieser Implikation dann in meinem äußeren Handeln Ausdruck gebe, wäre eine Frage der

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Praktische Philosophie. Ludwig Siep

Konsequenz. Es liegt an mir und meiner Freiheit, das in meinem Handeln konsequent zum Ausdruck zu bringen. Siep: Bei Hegel beginnt die Anerkennung so, daß ich eigentlich nicht zu dem anderen hinübergehen muß, sondern schon da bin. Das scheint mir jedoch Fichte nicht zu wollen. Er setzt voraus, daß ich zunächst einmal anfange bei mir selber und daß ich dann durch Reflexion auf die Einwirkung des anderen zurückschließen und zu ihm "hinübergehe". Richtig ist, daß das Verstehen der Aufforderung schon ein An-sich-halten voraussetzt und auch ein inneres Nachbilden. Aber ich glaubte, das unterscheiden zu sollen von dem wirklichen Anerkennen als Beschränkung der Handlung zu Gunsten der freien äußeren Handlungssphäre des anderen. Baumanns: Meine Bemerkung betrifft Ihre Deutung des Übergangs von der Aufforderung zur Anerkennung. Die "Aufforderung" steht im Rahmen einer Erweckungstheorie des Bewußtseins, einer bloßen Transzendentaltheorie der Genese des Selbstbewußtseins. Sie aber nehmen an, daß man aus dieser Funktion der Aufforderung auf die Notwendigkeit von Anerkennung folgern kann. Girndt: Dann wird die Anerkennung des anderen ein Problem der Selbstidentität. Die Fichtesche Entwicklung reicht dazu nicht aus. Siep: Nur solange der andere meine Vermutung, er sei ein vernünftiges Wesen, rechtfertigt, muß ich ihn respektieren; in dem Augenblick aber, wo er dies nicht mehr tut, kann ich ihn wieder mit Zwang behandeln, solange noch kein staatliches Zwangsgesetz besteht. Ich kann Urheber einer freien Wirksamkeit nur sein im Zusammenspiel mit einem anderen, dessen Sphäre ich akzeptiere. Mit der Moral zu argumentieren, ist ganz gegen das, was Fichte will; er will Moral und Recht ganz scharf trennen. Mit der Identität ist das schon eine andere Sache: An der Stelle, wo er über die praktische Deutung des Syllogismus spricht, bringt er das Argument der Einstimmigkeit, aber er will es eben nicht als moralische Einstimmigkeit mit sich selbst, sondern als bloße Konsequenz erklären, wobei ich allerdings meine, daß diese Konsequenz und Einstimmigkeit schon eine intersubjektive ist. Welches kann die gemeinsame Regel sein, fragt Fichte, und antwortet, diejenige, nach der ich in dieses Verhältnis eingetreten bin, nämlich die Vernünftigkeit; und die Vernünftigkeit in ihrer puren Form ist rein die Konsequenz, deren formales Gesetz in der Logik liegt. Schottky: Während Fichte im § 4A von der logischen Konsequenz spricht, wird das ja ausdrücklich geleugnet im § 7. Da steht ja ausdrücklich: "Es läßt kein absoluter Grund sich angeben, warum das vernünftige Wesen konsequent sein und zufolge desselben das aufgezeigte Gesetz sich geben sollte".( ... ) "Daß aber, nachdem das Selbstbewußtsein gesetzt ist, immerfort vernünftige Wesen auf das Subjekt desselben vernünftigerweise einwirken müssen, ist dadurch nicht gesetzt, und läßt sich daraus nicht ableiten, ohne die Konsequenz, die erwiesen werden soll, selbst als Erweisgrund zu brauchen." (SW III, S. 86 f.) Siep: Man muß die für die Verbindlichkeit des Rechtsgesetzes vorauszusetzende logische Konsequenz von den Motiven und Gründen unterscheiden, sich an dieses Gesetz tatsächlich zu halten. Hahn: Nun ist aber die Frage, ob auch die Sicherung der Gegenseitigkeit noch eine Bedingung des Selbstbewußtseins ist.

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Eivind Starheim Fichtes Widerlegung des Skeptizismus

Die Argumente der Skeptiker haben in der Geschichte der Philosophie eine doppelte Funktion gehabt. Erstens haben sie, ihrer ausgesprochenen Intention zufolge, zerstörerisch gewirkt. Philosophische Lehrgebäude sind durch ihre Angriffe in Schutt und Asche gelegt. Zweitens aber haben sie konstruktiv gewirkt. An der Stelle vom alten Bauwerk haben sie neue errichtet, auf festeren Fundamenten und von mehr dauerhaften Materialien gebaut. Man braucht kein Psychoanalytiker zu sein, um anzunehmen, daß dies gerade die geheime Absicht des Skeptikers ist: Er ist ein enttäuschter Dogmatiker oder Gläubiger, der den philosophischen Gegner provoziert, mit dem geheimen Wunsch, selbst widerlegt zu werden. Es genügt, auf Augustinus und Descartes hinzuweisen, um den günstigen Einfluß des Skeptizismus zu sehen. Spätere Denker, wie Kant und Fichte (die selbst dem Skeptizismus fern stehen), haben ihn nicht nur als günstig, sondern sogar als notwendig für die Entwicklung der Philosophie gehalten. So sieht Kant den Skeptizismus als eine notwendige Stufe im Übergang vom Dogmatismus zum Kritizismus an. Er schreibt in der Methodenlehre der Kritik der reinen Vernunft: "Der erste Schritt in Sachen der reinen Vernunft, der das Kindesalter derselben auszeichnet, ist dogmatisch. Der zweite Schritt ist skeptisch und zeugt von Vorsichtigkeit der durch Erfahrung gewitzten Urteilskraft. Nun ist aber noch ein dritter Schritt nötig, der nur der gereiften und männlichen Urteilskraft zukommt[ ... ) nämlich [ ... ) die Vernunft selbst[ ... ) der Schätzung zu unterwerfen." (A 761 = B 789). Fichte setzt den Wert des Skeptizismus für die Fortschritte der Philosophie noch höher als Kant. Er schreibt am Anfang der Aenesidemus-Rezension: ,,Wenn es unläugbar ist, dass die philosophirende Vernunft jeden menschlichen Fortschritt, den sie von jeher gemacht, den Bemerkungen des Skepticismus über die Unsicherheit ihres jedesmaligen Ruhepunctes verdankt[ ... ) so war nichts wünschenswürdiger, als dass der Skepticismus sein Werk krönen, und die forschende Vernunft bis an ihr erhabenes Ziel vortreiben möchte." (SW I, S. 3.) Zwar hat Fichte Aenesidemus-Schulze kaum als ein Vollender des Skeptizismus angesehen, aber es steht fest, daß die Begegnung mit Aenesidemus Fichte einen entscheidenden Anstoß zum eigenen Denken gegeben hat. Aenesidemus' skeptische Einwürfe gegen Reinhold und Kant haben bekanntlich nicht Fichtes Überzeugung von der Haltbarkeit des kritischen Idealismus in Zweifel verwandelt, aber sie haben ihn dazu bewegt, ein anderes Fundament dafür aufzusuchen und eine andere Begründung ihrer Hauptsätze zu geben. Unter die wichtigsten Thesen der Skeptiker, und auch des Aenesidemus, gehört der Zweifel an die Wirklichkeit der Gegenstände der äußeren Welt. Wir werden uns in diesem Referat auf diesen Teil des Skeptizismus beschränken und auf ein Argument hinweisen, mit welchem Fichte ihn widerlegt. Wir werden daher nicht dieses Thema, das eine Hauptrolle im Denken Fichtes spielt, in seiner Gesamtheit zu überschauen versuchen, sondern dasjenige Argument verfolgen, das Fichte in seiner Schrift Die Bestim-

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mung des Menschen gegeben hat. Die Darstellung in dieser Schrift ist übersichtlicher als in seinen übrigen Schriften, und sein Argument hat eine dramatische Zuspitzung erhalten, die er ihm nirgends sonst gegeben hat. Dazu kommt, daß er hier seinem Argument eine Form gibt, die es systemunabhängig macht. Der große Vorteil dieser Form ist natürlich, daß es auch von denjenigen Personen annehmbar sein kann, die Fichtes Voraussetzungen nicht teilen. Freilich besteht noch die Aufgabe, das Argument an seine übrige Philosophie anzuknüpfen (ich denke hier vor allem an die WL von 1804). Dieses Anknüpfungsproblem aber werden wir in diesem Referat nicht behandeln. Kant versuchte das Problem der Realität der Gegenstände dadurch zu lösen, daß er die Mannigfaltigkeit der gegebenen Empfindungen durch die Anschauungsformen Zeit und Raum und durch die Verstandeskategorien, vor allem Substanz und Kausalität, zu intersubjektiven Gegenständen konstituierte. Obwohl das "Ich denke" immer als die oberste Bedingung aller formenden Tätigkeit des Geistes dabei ist, will Kant die objektive Gegenständlichkeit dadurch retten, daß er zeigt, wie man zwischen den subjektiven Gebilden des Stroms des Bewußtseins und den objektiven Zusammenhängen der Gegenstände in der uns gemeinsamen Erscheinungswelt zu unterscheiden vermag. Diese Lösung ist aber eine Verschiebung des Objektivitätsproblems, oder besser, es ist seine Umwandlung in das Intersubjektivitätsproblem. Mag Kant behaupten, daß diese Umwandlung des Problems der Wissenschaft alles gibt, was sie für ihre Objektivitätsansprüche benötigt, - sicher ist es, daß "der gemeine Verstand" nicht seine Ansprüche auf Objektivität eingelöst findet. Kant war sich darüber wohl auch klar. Die Aufgabe, das natürliche Verlangen nach Dingen, die sind was sie sind unabhängig von einem Subjekt überhaupt, zu erfüllen, blieb dem Dinge an sich überlassen. Fichte muß früh - angeregt durch Schulze undjacobi- zu der Auffassung gelangt sein, daß Kants Lösungsversuch nicht befriedigend war. In der Aenesidemus-Rezension gibt er Schulze darin Recht, daß Kants Argument in dem Abschnitt "Widerlegung des Idealismus" nicht gegen Berkeley schlüssig ist (behauptet aber gleichzeitig, daß es nicht gegen Berkeley, sondern gegen Descartes gerichtet sei). In Kants Beweisführung spielt die Erscheinungsweise der Gegenstände im Raume eine Hauptrolle. Für Kant hatte der Raum, wie die Zeit, eine quasi-selbständige Rolle dadurch, daß er Sinnlichkeit und Verstand als "die zwei Stämme unseres Gemüts" so scharf unterschied. Für Fichte, der Raum und Zeit ausgesprochen aus dem Ich ableitete, wurde die Subjektivität der Gegenstände desto deutlicher. Die Radikalisierung des Kantischen Denkens, die Fichte unternimmt, hat seinem durchdringenden Blick nicht verhehlt, daß das Nicht-Ich, das vom absoluten Ich zusammen mit dem begrenzten Ich gesetzt wird, auch eine ideelle Größe ist. Dasselbe gilt für das Ding an sich, das ja auch von dem Ich gedacht wird und das außer diesem Denken kein Sein hat und folglich ein widersprechender Begriff ist. Wenn Sein als "für ein Bewußtsein sein" bestimmt wird, scheint das Problem einer unabhängigen Existenz eines Nicht-Ichs Ähnlichkeit mit der Quadratur des Zirkels zu haben. Fichtes gewaltiges Ringen in den Synthesen des Paragraphen 4 in der WL von 94, fasse ich so auf, daß er zeigen will, daß bei allen möglichen Synthesen der theoretischen Vernunft oder Betrachtungsweisen das Ich nie über sich selbst hinauszugehen vermag. Alles was wir über das Nicht-Ich - die äußere Welt oder die Gegenstände - wissen können, ist, daß es vom Ich gesetzt ist und außer diesem Setzen keine Realität hat. Das ist keine Schwäche oder ein Mangel der reflektierenden Vernunft, sondern ihre eigentümliche und wesen-

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hafte Funktion. Kants Fehler bestand darin, daß er meinte, die Objektivität der Dinge theoretisch begründen zu können. Fichtes Einsicht geht darauf hin, daß eine theoretische Begründung unmöglich ist. Für Fichte war der Konflikt des reflektierenden Bewußtseins mit dem gesunden (oder nicht-philosophischen) Menschenverstand immer lebendig. Ein erstes Zeugnis davon haben wir in den Aphorismen über Religion und Deismus, wo er den Widerspruch zwischen den kühlen Abstraktionen des philosophischen Gottesbegriffes und einer natürlichen Frömmigkeit, die sich an einen sorgenden Gott wendet, deutlich darstellt. Die Einsichten der theoretischen Reflektion haben bei Fichte, wie vor ihm bei David Hume, zu einem Widerspruch mit der natürlichen Einstellung, wonach das Ich von einer Welt Ich-unabhängiger Gegenstände umgeben ist, geführt. Hume schreibt in seinem Treatise of Human Nature: "The intense view of these manifold contradictions and imperfections in human reason has so wrought upon me, and heated my brain, that I am ready to reject allbelief and reasoning, and can Iook upon no opinion even as more probably or likely than another. Where aml, or what? ( ... ] What beings surround me? and on whom have I any influence, or who have any influence on me? I am confounded with all these questions, and begin to fancy myself in the most deplorable condition imaginable, environed with the deepest darkness ( ... )". Tr. of Hum. Nat., I, IV, 7 (Selby-Bigge Ausg., S. 268 f.) Bei Fichte ist die Stimmung nicht weniger dramatisch, und ich erlaube mir die oft zitierte Stelle hier anzuführen: "Es giebt überall kein Dauerndes, weder ausser mir, noch in mir, sondern nur einen unaufhörlichen Wechsel. Ich weiss überall von keinem Seyn, und auch nicht von meinem eigenen. Es ist kein Seyn. -Ich selbst weiss überhaupt nicht, und bin nicht. Bilder sind: sie sind das Einzige, was da ist, und sie wissen von sich, nach Weise der Bilder: - Bilder, die vorüberschweben, ohne dass etwas sey, dem sie vorüberschweben; die durch Bilder von den Bildern zusammenhängen, Bilder, ohne etwas in ihnen Abgebildetes, ohne Bedeutung und Zweck. Ich selbst bin eins dieser Bilder; ja, ich bin selbst dies nicht, sondern nur ein verworrenes Bild von den Bildern. - Alle Realität verwandelt sich in einen wunderbaren Traum, ohne ein Leben, von welchem geträumt wird, und ohne einen Geist, dem da träumt; in einen Traum, der in einem Traume von sich selbst zusammenhängt. Das Anschauen ist der Traum; das Denken, - die Quelle alles Seyns und allq Realität, die ich mir einbilde, meines Seyns, meiner Kraft, meiner Zwecke,ist der Traum vonjenem Traume." (SW II, S. 245.) Die Sicherheit und Evidenz, die Fichte durch die Grundsätze seiner Lehre vom Selbstbewußtsein erreicht hatte (die, in Paranthese gesagt, nach seiner Meinung die allgemeine These der Skeptiker vom menschlichen Nicht-Wissen, genau wie vor ihm Descartes durch sein Cogito, widerlegt hatten), - diese Grundsätze scheint Fichte auf Kosten einer Überzeugung von der selbständigen Existenz einer äußeren Welt erkauft zu haben. Nun hätte man sich denken können, daß Fichte bereit wäre, diesen Preis zu bezahlen, - daß er also die natürliche Einstellung aufgeben wollte. Dazu ist er aber nicht bereit. Er schreibt ein paar Seiten weiter: "Ich verlange etwas ausser der blossen Vorstellung Liegendes, das da ist, und war, und seyn wird, wenn auch die Vorstellung nicht wäre; und welchem die Vorstellung lediglich zusieht, ohne es hervorzubringen, oder daran das Geringste zu ändern[ ... ] meine Vorstellungen sollen etwas bedeuten. ( ... ) -Es ist überall nichts ausser meiner Vor-

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stellung ist dem natürlichen Sinne ein lächerlicher thörichter Gedanke, den kein Mensch in vollem Ernste äussern könne[ ... ]". (SW li, S. 248). Für Fichte, wie für Hume, ist es Sache des Glaubens, den Raum einzunehmen, den das Wissen offengelassen hatte. Die Begründung dieses Glaubens aber ist verschieden bei den zwei Denkern. Fichtes Begründung bewegt sich auf drei Stufen: Die erste ist wohlbekannt. Der Mensch hat eine Vernunftbestimmung, die ihn zu einem moralisch handelnden Wesen macht. Diese Vernunftbestimmung als der innere Wesenskern der Persönlichkeit ist wohl identisch mit dem Kantischen Moralgesetz. Nun gebietet das Moralgesetz uns, Handlungen auszuführen. Handlungen aber setzen Zwecke voraus, die verwirklicht werden sollen. Aber eine Verwirklichung der Zwecke ist nicht möglich, ohne die Existenz von Gegenständen anzunehmen. Also muß an ihre Wirklichkeit geglaubt werden. Wäre der Mensch nur ein theoretisches Wesen, ein Wesen das nur denkt und reflektiert und das nie zu Handlungen verpflichtet wäre, dann könnte die theoretische Reflexion sich ins Unendliche ausdehnen und man könnte sich mit Bildern von Bildern begnügen. In einem unverpflichtenden Dasein könnte man, falls man in einem unreflektierten Augenblick die Existenz äußerer Gegenstände annähme, diese sofort durch Reflexion in subjektive Bilder auflösen. Die Philosophie wäre dann ein unverpflichtendes Spiel. Falls Fichte sich nur auf dieser Argumentationsstufe bewegt hätte, wäre er kaum im Stande gewesen, einen Skeptiker von der Existenz äußerer Gegenstände zu überzeugen. Er hätte ihn dann erst von den Grundsätzen seines Systems überzeugen müssen, von welchen das Sittengesetz immer von Skeptikern am leichtesten zu bezweifeln gewesen ist. Daher gibt er ein anderes Argument, das nicht das Sittengesetz voraussetzt. Dieses Argument benutzt die ethische Kategorie des Ernstes. Fichte behauptet, daß ein Mensch, der äußere Gegenstände bezweifelt, nicht mehr mit Ernst zu handeln vermag. Er schreibt: "Aller Ernst und alles Interesse ist dann rein aus meinem Leben vertilgt, und dasselbe verwandelt sich, eben so wie mein Denken, in ein blasses Spiel, das von nichts ausgeht und aufnichts hinausläuft." (SW II, S. 253.) Dieses Argument ist insofern systemunabhängig, da manche Skeptiker, die die Existenz eines Sittengesetzes (oder das Wissen von einem Sittengesetz) leugnen, sich dennoch moralisch beteiligen. Fichtes Argument will zeigen, daß eine solche Beteiligung nie ernsthaft durchzuführen ist. Ein moralisches Spiel (oder Show) ist natürlich möglich, aber der spezifisch moralische Ernst geht verloren. Soweit ich weiß, ist Fichte der erste in der Geschichte der Philosophie, der dieses Argument benutzt hat. Nach meiner Ansicht ist es schlüssig. Falls ein Skeptiker es dadurch zu vermeiden versucht, indem er behauptet, daß er den sittlichen Ernst nicht aufzugeben braucht, obwohl er keine äußere Gegenstände zuläßt, weil ihm am Herzen liege, unangenehme Bilder oder Bildserien von seinen Mitmenschen abzuwenden und durch mehr angenehme zu ersetzen, so hat er diese Bilder, und auch die unangenehmen Empfindungen seines Nächsten in Realitäten hypostasiert. Dazu kommt, daß die Handlungen, die diese Bilder hervorbringen sollten, unmöglich nur als Bilder angesehen werden können. Dem Skeptiker scheint aber noch eine Möglichkeit zur Verfügung zu stehen. Er kann den sittlichen Ernst aufgeben. Es ist eine hohe Bedingung, aber es scheint, als ob es möglich ist, sie zu erfüllen. Fichtes Äußerungen hierüber sind nicht ganz eindeutig.

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Seine Überlegungen sind an den Begriff des Interesses gebunden. Er fragt, warum man unsere Vorstellungen für mehr als bloße Bilder hält, und schreibt: .,Haben wir alle das Vermögen und den Trieb, über unsere erste natürliche Ansicht hinauszugehen, warum gehen denn so wenige darüber hinaus, und wehren sich sogar mit einer Art von Erbitterung, wenn man sie dazu zu veranlassen sucht? Was hält sie doch in jener ersten natürlichen Ansicht befangen? Vernunftgründe sind es nicht, denn es giebt keine dieser Art; das Interesse für eine Realität ists, die sie hervorbringen wollen; -der Gute, schlechthin um sie hervorzubringen, der Gemeine und Sinnliche, um sie zu geniessen. Von diesem Interesse kann keiner scheiden, der da lebt; und ebensowenig von dem Glauben, den dasselbe mit sich führt." (SW II, S. 255.) Der Mensch hat in sich ein Interesse für eine Realität schlechthin. Die Art der Rea· Iität aber ist Gegenstand der Wahl. Die sittliche Bestimmung des Mensche'l ist es, dem moralischen Interesse Folge zu leisten, aber es scheint, daß Fichte meint, es sei möglich, diesem Interesse nicht Folge zu leisten. Diese Möglichkeit ist wohl nur eine faktische Möglichkeit für einen Menschen, dem seine Vernunftbestimmung nicht klar ist, also nur für denjenigen, der über sein eigenes Wesen nicht aufgeklärt ist. Aber solche Menschen gibt es genug. Sie können es wählen, sich von dem sittlichen Ziel abzuwenden. Das heißt, daß man Pflichten gegen andere nicht anerkennt. Und dann geht der sittliche Ernst verloren. Dann wird das Dasein unverpflichtend, und die theoretische Reflexion scheint alleine zu gebieten. Der Skeptiker wäre dann nicht widerlegt. Hier führt Fichte seine dritte Argumentationsstufe ins l'eld. Weil der Mensch ein interessiertes Wesen ist, das sich mit Notwendigkeit Zwecke setzt, sie mögen so gemein und egoistisch sein wie sie wollen, kommt er nicht umhin, :~.n die Realität der Außenwelt glauben zu müssen. Und aus der Zielsetzung des egoistischen Genießers erwächst das, was man eine Minimal-Ethik nennen könnte. Nämlich eine Forderung an andere, ihn in seinen Genüssen nicht zu stören. Er schreibt: "er [fordert] doch wenigstens diesen Genuss, als ein Recht, in dessen Besitze andere ihn ungestört lassen müssen [... ]". (SW 11, S. 262.) Auch an dieser primitivsten sittlichen Stufe, wo es sich nur um seine eigenen Genüsse dreht, findet man notwendigerweise einen Ernst. Fichte drückt es so aus: "[ . . . ] und an diese Ansprüche wenigstens knüpft sich in seiner Seele Ernsthaftigkeit und Verläugnung des Zweifels, und Glauben an eine Realität, wenn sie sich nicht an die Anerkennung eines sittlichen Gesetzes in seinem Innern anknüpft." (SW, II. S. 262) Nur ein interesseloses Wesen, das sich weder an der Förderung sittlicher Zwecke noch an der Erreichung eigener sinnlicher Ziele beteiligt, würde allein die Realität der Außenwelt verleugnen können. Weil der Mensch aber ein zielsetzendes, interessiertes Wesen ist, ist die Leugnung der Außenwelt unmöglich. Falls jemand seine totale Uninteressiertheil behaupten sollte, um dadurch Fichtes Argumenten zu entgehen, so läßt sich diese Uninteressiertheil wohl aussagen, aber im Leben nicht durchführen. Fichte schreibt mit einer dramatischen Zuspitzung seines Arguments, wobei er die Kategorie des Lebens einführt: "Greife nur den, der seine eigen sittliche Bestimmung, und deine Existenz, und die Existenz einer Körperwelt anders, als zum blassen Versuche, was die Speculation vermöge, abläugnet --greife ihn nur thätlich an; führe nur seine Grundsätze ins Leben ein, und handle, als ob er entweder gar nicht vorhanden, oder ein Stück rohe Masse sey,er wird bald des Scherzes vergessen, und ernsthaft unwillig über dich werden; es dir

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ernsthaft verweisen, dass du ihn so behandelst; behaupten, dass du dies gegen ihn nicht sollest, noch dürfest: dir sonach durch die That zugestehen, dass du allerdings auf ihn zu handeln vermögest, dass er sey, und das du seyst, und ein Medium deiner Einwir· kung auf ihn sey, und dass du wenigstens Pflichten gegen ihn habest." (SW, li, S. 262 f.) Es ist Fichtes Verdienst, gezeigt zu haben, daß der Skeptizismus nicht dadurch erwiesen sei, daß man alles unter theoretischen Zweifel stellt, sondern daß es auch möglich sein muß, nach skeptischen Grundsätzen zu leben. Weil ein solches Leben unmöglich ist, weil die Taten des Lebens die abstrakten Gedanken widerlegen, ist es gezeigt, daß der Skeptizismus unhaltbar ist. Man kann sich leicht denken, daß gegen Fichte eingewendet werde, er habe zu viel bewiesen: Er habe durch sein Argument einen philosophischen Realismus gegründet, besser als je zuvor. Dagegen muß man nur zweierlei sagen. Erstens, daß der transzendentale Idealismus der theoretischen Wissenschaftslehre in uneingeschränkter Kraft bleibt: Für die Reflexion ist und bleibt die Außenwelt Bild von Bildern. Zweitens, daß es das Schicksal des menschlichen Geistes ist, zwischen Wissen und Glauben zu schweben. Beide sind notwendige Lebensformen des Geistes.

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Diskussion Hammacher: Ich glaube, es ist ein ganz neuer Gesichtspunkt, auf den Begriff Ernst einmal als eine der praktischen Folgerungen, di~ in Fichtes Theoriebegriff enthalten sind, hinzuweisen. Ich halte es auch für ein nützliches Element. Ich hätte gern eine kleine Erläuterung oder Korrektur angebracht: Sie sprachen zum Schluß von der Notwendigkeit, die sich hierbei zeige, daß im Grunde genommen besonders mit dem:~. Argument Fichte auch eine Art Minimalethik erwiesen habe. Was Sie dort vorgeführt haben, ist als Argument eigentlich nichts anderes als einfach die Funktion des Rechtsgesetzes. Es ist noch keine Ethik, sondern es ist einfach die Anerkennung der Vernunft im anderen, es ist notwendiger Akt der Existenz oder der Selbstbehauptung der Vernunft selbst. Dazu brauche ich nur nach dem Grundsatz zu verfahren: Wa~ du nicht willst, daß man dir tu, das füg' auch keinem andern zu. Storheim: Ich möchte fragen, ob nicht auch der umgekehrte Weg möglich ist, eben nicht vom Sittengesetz auszugehen. Girndt: Vielleicht kann man den Weg verkürzen: Ernst ist ja schon in der skeptischen Position impliziert, so daß ich nicht ins praktische Leben hinauszugehen brauche. Denn ein Skeptiker, der sich nicht ernstnimmt, wäre ja gar kein Skeptiker. Starheim: Ist ein Skeptiker, wenn er seine Position ernsthaft sieht, wirklich noch ein Skeptiker? Hammacher: Ich glaube, daß man in den Fichteschen Bemühungen, den interpersonalen Kontakt und seine Funktion für das Wissen zu begründen, auf solche Zwischenformen stoßen wird, die er nie konsequent geschieden hat von dem einen wirklich massiv ethischen Moment, das er in seine Lehre später einbaut. Ich glaube, Sie haben richtig gesehen, daß darüber keine völlige Klarheit bei ihm selber herrscht. Hirsch: Der Ausdruck "Minimalethik" scheint mir für Fichte nicht angemessen; er vertritt ja im Gegenteil eine ausgesprochene "Maxirnalethik". Daß Fichte dann auch noch eine Minimalethik hätte entwickeln können, ist mir nicht plausibel. Nimmt nicht - wie Herr Harnmacher schon andeutete - seine Rechtslehre die Stelle ein, an der man eine Minimalethik suchen könnte? Storheim: Das habe ich gemeint. Das steht im Zusammenhang mit and.eren Annahmen, woraus man sozusagen eine Maximalethik entwickeln könnte. Girndt: Der Skeptiker lebt vom Ernst. Ein spielerischer Skeptiker ist eine Erfindung, das ist eine Karikatur. Bri.iggen: Kann nicht der Skeptiker sich über sich selbst im unklaren sein, von Voraussetzungen leben, die er nicht durchschaut; so daß er die spielerische Haltung nur theoretisch vertritt? Schulte: Ein Kriterium des Ernstes ist der Tod. Der ernste Skeptiker würde sich umbringen. Girndt: Das Spiel kann nur in etwas fundiert sein, was Nicht-Spiel ist. Sofern wir am Leben hängen, ist das Ernst. Die Frage ist: Wie weit reicht das skeptische Element in meine vitale Existenz?

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Hansjürgen Verweyen Zum Verhältnis von Wissenschaftslehre und Gesellschaftstheorie beim späten Fichte Die Wissenschafts/ehre, in ihrem allgemeinen Umrisse von 1810 (im folgenden: WL 181 0) ist - außer der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von 1794 - die einzige von Fichte selbst publizierte wissenschaftliche Darstellung se.iner "ersten Philosophie"_ D. h. - wenn man den erklärten Willen eines Autors darüber, woran man sich in der öffentlichen Diskussion zu halten habe, achtet -diese knappe Skizze einer die frühere .,Grundlage" verbessernden Darstellung der WL muß im Zentrum der Verständigung über Fichtes philosophisches System bleiben 1 • Sie gehört darüber hinaus zu dem Klarsten, was Fichte in puncto einer ,.prima philosophia" gesagt hat. Mit seinen eigenen Worten: ,.Sollte [diese, zunächst für seine Zuhörer bestimmte Abhandlung] noch in Anderer Hände fallen,[ ... ] so könnte diesen bei einiger Erwägung hier ein Licht aufgehen, welch einen verkehrten Begriff sie sich bisher von der Wissenschaftslehre gemacht, und durch welche ungeheuere Irrthümer sie selbst dem philosophirenden Verstande auf den rechten Weg haben helfen wollen" 2 • Abgesehen davon, daß Fichte, was die Realisierung solcher Erkenntnismöglichkeit betrifft, nicht gerade optimistisch und seine Vorrede ans Publikum nicht besonders geeignet ist, sperrige Türen in ihren Angeln zu bewegen, bleibt aber auch in diesem Text noch vieles, das sich einem sachgerechten Verständnis entgegenstellt. Um eine möglichst weitgehende Beseitigung solcher Hindernisse muß es dem Fichteinterpreten zunächst gehen. Schwerer wiegt, daß es Fichte in dieser Skizze nicht gelingt, den Anspruch, den ermit Recht und, wie mir scheint, deutlicher als alle anderen Philosophen- an eine ,.erste Philosophie" stellt, voll einzulösen. Auf die Gefahr hin mißverstanden zu werden, will ich den entscheidenden Punkt kurz vorab nennen: Es handelt sich im Prinzip noch immer um den Vorwurf eines "unendlichen Progresses", den Hege! gegen Kant und den frühen Fichte erhoben hatte. Nun glaube ich allerdings nicht, daß man zur Beseitigung dieses von Fichte weder 1810 noch, soweit ich übersehe, in einer anderen Darstellung seiner WL völlig überwundenen Mangels auf Hilfsmittel außerhalb des Fichteschen Philosophierens rekurrieren müßte. Mir scheint, daß seine späteren Erörterungen im Umkreis der praktischen, und näherhin in der Sozialphilosophie Hinweise genug auf eine Lösungsmöglichkeit bieten, die sich nahtlos in seine WL eintragen ließe. Hält diese Vermutung einer über die spätere Sozialphilosophie Fichtes lösbaren Aporie der WL kritischer Argumentation stand, so wäre nicht nur ein wichtiger Schritt im Hinblick auf die Arbeit an einer "prima philosophia" geleistet. Es böte sich darüber hinaus die Möglichkeit, einer ohne ausreichendes wissenschaftstheoretisches Fundament sich in endlos neuen (oder wieder aufgewärmten) hermeneutischen Ansätzen dahintastenden Gesellschaftsphilosophie festen Boden unter die Füße zu geben. Hiermit ist schon der Weg unserer Erörterung angedeutet. Wir werden (I) in einer knappen Interpretation der WL 1810 ihren entscheidenden Mangel aufzuweisen suchen und (II) auf einige wichtige Elemente im Spätwerk Fichtes hinweisen, die zu einer Be-

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hebung dieses Mangels, gerade auch im Hinblick auf die "erste Philosophie" als Fundament der Gesellschaftstheorie, geeignet sind.

I.

Im ersten Satz des § 1 der WL 1810 gibt Fichte Ausgangspunkt und Ziel der WL an: "das Wissen schlechtweg, in seiner Einheit" oder "als Eins gedacht" (vgl. § 2), d. h. nach Abstraktion von allem besonderen und bestimmten Wissen, ist daraufhin zu befragen, wie es "zu seyn vermöge und was es darum in seinem inneren und einfachen Wesen sey". Damit ist die Aufgabe der WL überhaupt, nicht nur in ihrer speziellen Gestalt von 1810, beschrieben. Das Wissen selbst- nicht etwa nur besondere, sich aufgrund eines bestimmten Lebensinteresses in den Vordergrund drängende Wissensgehalte -wird sich zum Problem erst an einem bestimmten Punkt, der dann in§ 10 näher gekennzeichnet ist: da nämlich, wo es, vom Anschauen zum reinen Denken und Intelligieren gekommen, sich "als Eins" erblickt. Es handelt sich also um das alte Problem der Metaphysik hinsichtlich des Zusammenbestehens des Einen und des Vielen, nun aber in transzendentaler Fassung, nicht mehr als Verhältnis von Seienden gegeneinander gedacht, sonden1 als der innere Zwist des schlechthin einen Wissens mit sich selber als Mannigfaltigem. Wer diesen Punkt nicht erreicht hat, dem werden die Problematik und erst recht die Durchführung der WL unverständlich bleiben 3 . über den frühen Ansatz zur WL hinaus geht aber die Bemerkungüber das Wissen, das (der WL) "als seyend erscheint". Die Möglichkeit, daß das ganze System des Wissens selbst in seiner Einheit, nicht nur bestimmte vorgestellte Gegenstände, sich als bloßer Schein erweisen könnte, war damals noch nicht thematisch geworden, sondern (was die Publikationen Fichtes angeht) erst seit 1800, wo es in der "Bestimmung des Menschen" heißt: "Das Anschauen ist der Traum; das Denken, - die Quelle alles Seyns und aller Realität, die ich mir einbilde, meines Seyns, meiner Kraft, meiner Zwecke, ist der Traum von jenem Traume4 . [ • . . ) ein System des Wissens ist nothwendig ein System blosser Bilder, ohne alle Realität, Bedeutung und Zweck." 5 Hiermit ist Fichte der alten Problematik einer "ersten Philosophie" noch näher gerückt. Es gilt fortan nicht nur, den Zwiespalt zwischen Einheit und Vielheit des Wissens zu klären (und zwar natürlich unter dem absoluten Vorrang der Eins, wenn Einheit überhaupt in den Blick getreten sein soll), sondern ebenso und entscheidend, das möglicherweise in bloßen Schein zurückfallende ganze System des Wissens überhaupt erst einmal im Sein zu gründen (und zwar natürlich innerhalb der transzendentalen Einsicht, daß alles vorgestellte Sein nur in Vermittlung durch dieses Wissen ist). Das "absolute Ich" -höchster Punkt der frühen WL - hat sich als eine unzureichende Formel für höchste Ursprungseinheit erwiesen. Es ist zwar eine allem faktischen Wissen vorausliegende Einheit, deren Differenz zum schlechthin absoluten Grund aber erst noch erkannt und überwunden werden muß. Wie sehr wir über die frühe Darstellung der WL hinaus sind, zeigt sogleich der zweite Satz, demzufolge es si~h der WL nicht verbergen könne, daß "nur Eines [ ... ) schlechthin durch sich selbst (ist): Gott". Der zunächst unvermittelt erscheinende Rekurs von philosophisch-reflexiver auf die religiöse Sprache wird sofort durch eine philosophische Klärung dessen, was unter "Gott" gedacht ist, wettgemacht, und zwar, indem Fichte

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zugleich genau die Aufgabe einer jeden Philosophie, die den Begriff eines "absoluten Seins" nicht nur oberflächlich denkt, umreißt: In und außer dem absoluten einen Sein kann kein anderes Sein bestehen oder entstehen. Wie kann das sich als seiend erscheinende Wissen dann sich selbst (und alles, was ihm in diesem Wissen als seiend erscheint) begreifen? Die Antwort greift die klassische Metaphysik in ihrem Besten auf: Ein Sein außer dem absoluten Sein kann nur als eine Äußerung begriffen werden, in der das absolute Sein ganz bleibt, wie es ist, d. h. als Bild des absoluten Seins. Werfen wir einen Blick auf die (von Fichte nicht veröffentlichte) wichtige Darstellung der WL von 18046 , so sehen wir, daß in§ 1 der WL 1810 äußerst knapp die Problematik angerissen wird, die dort das Thema des 16. und 17. Vortrags bildete. D. h., Fichte setzt in der Skizze von 1810 den gesamten Gang der "reinen Wahrheits- und Vernunftlehre" als ersten Teil der WL 7 als bekannt oder selbstevident voraus und greift lediglich soweit darauf zurück, wie er es zur Einführung in das eigentliche Thema der WL 1810, die "Phänomenologie oder Erscheinungslehre" 8 für unumgänglich hält. Da nach Fichte die Wahrheitslehre die unaufgebbare Grundlage für das Verstehen der Phänomenologie ist (nicht etwa, wie 1807 für Hege!, die Phänomenologie eine in sich schlüssige Leiter zum Erklimmen des Wahrheitsstandpunktes), sieht sich der Leser der WL 1810 vor einer äußerst schwierigen Verständnisaufgabe. Zwei Wege bieten sich ihm in dieser Lage an. Einmal der Rückgriff auf Darstellungen der WL, wie besonders der von 1804, über den klarwerden könnte, warum sich der WL das in der Skizze von 1810, § I, Absatz 2-5 Ausgeführte "nicht verbergen kann" (was nichtsdestoweniger der WL Fichtes bis 1801 faktisch verborgen blieb 9 ). Das bedeutete, keine Rücksicht zu nehmen auf potentielle Leser, denen ein solcher Rückgriff nicht möglich ist oder war - wie z. B. Hege!. Der andere Weg bestünde in der Anmutung, selbständig für sich die Affirmation, daß der Gedanke von der Existenz Gottes auch und gerade unter den Voraussetzungen transzendentalen Denkens philosophisch notwendig ist, zur Evidenz zu bringen. Auch ohne daß wir hier einen dieser Wege beschreiten könnten, stellt die Interpretation der Fichteschen Phänomenologie in sich allein jedoch eine sinnvolle Aufgabe dar, nämlich unter der folgenden Frage: Gesetzt, Gott sei und alles andere ließe sich in Konsequenz des Begriffs eines absoluten Seins nur als Bild Gottes begreifen - läßt sich wirklich die gesamte Welt der Erscheinungen als ein solches Bild bzw. als notwendige Bedingung der Möglichkeit für das Zustandekommen dieses Bildes verstehen? Diese Frage fällt bei genauerem Hinsehen mit der Grundfrage alles existentialistischen Denkens - von Iwan Karamasoff bis Albert Camus - zusammen, dem ja nicht das Sein Gottes an sich Problem ist, aber die Welt so erscheint, daß es "besser für Gott wäre nicht zu sein". Gerade der Existentialist ist bei dieser Vorordnung der Sinnfrage vor die (zunächst in der Schwebe bleibende) Affirmation absoluten Seins nicht in der Versuchung, (etwa mit Hege!) die Priorität der praktischen Vernunft zugunsten des versuchten theoretisch-spekulativen Nachweises aufzugeben, daß alle Realität (einschließlich der vom Existentialisten abgelehnten) vernünftig ist. Wohl aber steht und fällt für ihn die Affirmation absoluten Seins mit der Möglichkeit, einen Begriff von Lebenspraxis innerhalb der Bedingungen dieser erscheinenden Welt zu denken, der mit jener absoluten Setzung vereinbar ist. Wenn alles Sein außer Gott- und dieses allein interessiert uns in der Phänomenologie - als Bild Gottes zu begreifen ist, dann darf es nichts Fertiges und Totes, sondern

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muß selbst ein absolut freies Leben und reines Vermögen sein, das nur durch die notwendigen Bedingungen der Möglichkeit determiniert ist, gerade dieses Bild zu sein (§ 3). Wirkliches Bild kann etwas nur im Sehen sein. Wenn alles Sein außer Gott nur als sein Bild bestehen kann, dann muß es daher in einem Sehen bestehen, und zwar einem solchen, das sich selbst als dieses Bild-Sein weiß. "Dinge-an-sich", d. h. irgendetwas, das nicht notwendige Bedingung wäre für dieses Bildwerden Gottes im Wissen, darf es dann nicht geben(§ 4). Wohl aber ist aus ehendiesem Grunde die unmittelbare Ansicht notwendig, daß es - auch abgesehen von dem Sein Gottes und dem Wissen - tatsächlich Dinge an sich gebe. Denn das Wissen ist immer nur als Bild von Sein. Daß dieses Sein aber nichts außer Gott sei, darf nicht die stehende und fertige Ansicht des Wissens sein- wenn dieses selbst doch als Bild absoluten Lebens freies Vermögen sein soll-, sondern muß als das Produkt eines Wissens entstehen, das sich zu diesem Zweck von einer fertigen und bestehenden Ansicht der Welt erst erhebt. Die unmittelbare Existenzweise des Wissens, von der es sich als freies Prinzip eines nicht fertig gegebenen Bildes abheben muß, nennt Fichte Anschauung(§§ 5-8). In einem ungeheuer dichten Paragraphen (§ 9) deduziert Fichte dann die wesentlichen Momente der Anschauung aus ihren beiden Grundbedingungen - der zwar noch bloßen Unmittelbarkeit des Vermögens, aber zugleich seiner Bestimmung zu einem freien Sehen, das sich selbst zum Bild Gottes machen soll -: Raum und Materie als das Hingeschaute des freien Vermögens, dieses selbst aber als unendliche Möglichkeit der Selbstbestimmung, d. h. als Trieb mit der ihm korrespondierenden Qualität der Körperwelt, in die es als Sinn und Organ verspannt ist, dergegenüber seine eigene unendliche Möglichkeit aber als Zeit erscheint, welche es von sich her dann auch der Welt zumißt. Der Schritt zur eigentlichen Bestimmung des freien Vermögens würde nun in einem Sich-Losreißen vom Selbstverständnis als bloßem unendlichen Trieb mit seinem Gehaltensein in der Welt der Anschauung bestehen, und zwar zu einem Wissen, das all dieses als bloße Vorbedingung des wirklichen Seins begreift, zu dem es nun selbst finden muß. Dieses sich selbst im Gegensatz zur bloßen Anschauung als Eines Erfassen des Wissens - der Ausgangspunkt der WL - nennt Fichte das reine Denken oder Intelligieren ( § 10). An diesem Übergangspunkte von der Anschauung zum Denken muß nun aber noch eine wichtige Deduktion geleistet werden: die der Interpersonalität (§ 11). Während auf der Grundlage der frühen WL Fichte Interpersonalität als Möglichkeitsbedingung dafür ableitete, daß ein Individuum seiner selbst als eines freien Ichs bewußt werde 10 , erfolgt diese Deduktion nun aus dem höheren Gesichtspunkte der eigentlichen Bestimmung der Freiheit, Bild Gottes zu werden. Auf der Stufe unmittelbarer Anschauung ist sich jedes Individuum nur unmittelbar selbst Zentrum und Ausgangspunkt freier Entfaltung. Die anderen Individuen werden nur als eine Mannigfaltigkeit von den eigenen Freiheitstrieb begrenzenden Faktoren erfahren, nicht aber als ebenfalls selbständige Iche begriffen. Dies kann erst beim Sich-Losreißen des Individuums aus der Welt von mannigfaltigem Seienden zur Einheit des Wissens oder zu dem "Einen Ich" geschehen. Indem das Ich seine frühere Ansicht über sich selbst nicht als sein eigentliches Dasein, sondern als bloße Einzelheit gegenüber der Einheit eigentlichen Wissens erfährt, wird

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es ihm möglich, die anderen Individuen als ebenfalls freie, zur Hervorbringung des einen Bildes Gottes bestimmte Iche anzuerkennen und sich von ihrer wirklichen Freiheit durch einen Schluß aus ihrer Wirkungsweise auf die Sinnenwelt zu überzeugen. So notwendig diese Betrachtungsweise von Interpersonalität aus einem höheren Gesichtspunkt ist, so fällt doch auf, daß weitere wichtige Bestimmungen der Interpersonalität, wie Fichte sie in seiner früheren Philosophie getroffen hatte, hier ausgelassen werden_ Bleibt etwa zur Beantwortung der Frage, wodurch das Sich-Losreißen eines Individuums aus der Sphäre bloßer Anschauung zum "Einen Ich" möglich werde, nicht doch die frühere Deduktion des Selbstbewußtseins durch die Aufforderung eines bereits freien Ichs unumgänglich? Ging zweitens die in § 6 der Grundlage des Naturrechts abgeleitete Möglichkeit der Erkenntnis eines anderen freien Individuums bereits aus seinem bloßen leiblichen Dasein nicht wesentlich über die Erkenntnismöglichkeit erst aus bestimmten Freiheitsäußerungen des anderen hinaus? Und wie steht es schließlich mit der Notwendigkeit anderer freier Iche gerade im Hinblick auf meine je persönliche Selbstverwirklichung zum Bild Gottes? Daß gerade das einander-gegenüber-Sein der Iche wesentliche Voraussetzung ihrer Selbstverwirklichung ist- wie etwa schon in der zweiten Vorlesung über die Bestimmung des Gelehrten von 1794 angedeutet 11 -,geht nicht aus der WL 1810 hervor_ Eindrücklich arbeitet Fichte im seihen Paragraphen allerdings den spezifischen Seinscharakter der Sinnenwelt heraus_ Diese ist nicht nur - als Implikat der Anschauung qua inauthentischer Seinsweise endlicher Freiheit -notwendiges Startbrett für authentisches Dasein, so daß sie nach der Selbsterhebung des Ichs hierzu in eine Sphäre von Nichtigkeit zurückfiele, sondern sie bleibt notwendiges Medium des Bildwerdens Gottes im Ich in interpersonaler Anerkennung_ Indem sie für die zur Eigentlichkeit erwachten Iche die Sphäre gegenseitiger Identifikation oder "allgemeiner übereinstimmbarkeit" darstellt, erhält sie den Charakter einer wahren Sinnenwelt. Den Inhalt der noch folgenden Paragraphen (§§ 12-14) können wir zunächst in einem kurzen Blick zusammenfassen. Es ist, wie gesagt, mit dem Sich-Erheben zur Einheit des Wissens der Anfangspunkt der WL erreicht. Diese sieht (in ihrem ersten, in der WL 1810 nur kurz angedeuteten, nicht ausgeführten Teil, der Wahrheitslehre) ein, daß das Wissen nur als Bild Gottes sein kann. Erkennt das Wissen auf diese Weise sein wahres Sein, dann folgt daraus unmittelbar die Einsicht, daß es unbedingt sich zum Bilde Gottes machen soll. Von dieser Einsicht bleibt im Zusammenhang unserer, um die Auslegung der Wahrheitslehre verkürzten Interpretation der bloßen Phänomenologie allerdings nur das hypothetische Sollen: "Gesetzt, Gott sei, dann muß das Wissen zu seinem Bild werden". Diese theoretische Einsicht in das Sollen kann nur dadurch in die Praxis umgesetzt werden, daß die Kraft, die sich ursprünglich als Trieb äußerte, nun allein durch das Sollen dazu bewegt wird, in der Sphäre der Sinnenwelt darzustellen, daß nichts sei als Gott und sein Bild. Diese Bewegung kommt nach Fichte zur Vollendung in dem gänzlich unabänderlichen Willen, wirklich nur zu diesem Zwecke dazusein, d. h. weder in sich auch nur den Rest eines Widerstandes durch einen unmittelbar unbestimmten Trieb zu lassen, noch sich selbst als ein selbständiges Prinzip der Darstellung zu verstehen, ein Prinzip, das etwas anderes wäre als das reine Durch des Bildscins Gottes. Damit ist zugleich der Ort der WL innerhalb der Phänomenologie bestimmt. Nach Fichte bildet nicht die zur Vollendung gekommene Wahrheit des erscheinenden Wissens

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wie etwa bei Hege! - den Endpunkt der Phänomenologie als Ausgangspunkt der jetzt erst eigentlich anhebenden Wissenschaft, sondern die gesamte Wissenschaft bildet lediglich ein unentbehrliches Mittel, "das ist[ ... ] den Rath, nach der in ihr erlangten Erkenntnis, durch welche ein sich selbst klarer und auf sich selbst ohne Verwirrung und Wanken ruhender Wille allein möglich ist, sich wieder hinzugeben dem wirklichen Leben; nicht dem in seiner Nichtigkeit dargestellten Leben des blinden und unverständigen Triebes, sondern dem an uns sichtbar werden sollenden göttlichen Leben" (§ 14). Hat Fichte damit nun wirklich die notwendigen Bedingungen für das Sein des Bildes Gottes bzw. das Erscheinen absoluten Seins hinreichend bestimmt? Fernab von allem Stoizismus oder reiner Gesinnungsethik hält er in § 13 fest: "Durch diese [nun allein durch das reine Sollen bewegte] Kraft soll ich [ ... ] darstellen in der Sphäre dieser Kraft, der Sinnenwelt, und in ihr anschaubar machen, was ich als mein wahres Wesen anschaue in der übersinnlichen Welt." Ganz im Sinne Kants und seiner eigenen, frühen Philosophie fügt Fichte sogleich hinzu, daß damit das, was "in der Einen Welt des Gedankens schlechthin Eins ist, das was ich soll,[ ... ] in der Welt der Anschauung für meine Kraft eine unendliche Aufgabe [wird], an der ich zu lösen habe in alle Ewigkeit" 12 • Den sich hier erhebenden Einwand faßt Fichte nun allerdings ausdrücklich ins Auge, indem er zugibt, daß eine solche Unendlichkeit "eigentlich eine Unbestimmtheit" ist. Er glaubt, die Einrede aber mit dem Argument entkräften zu können, daß diese Unbestimmtheit nur in der Anschauung stattfinde, nicht aber im Willen selbst, insofern er in sich allen Widerstand des sinnlichen Triebs ertötet hat. "Lasst diese Kraft nun ablaufen ins Unendliche, wie sie muss; der Wandel ist nur in ihren Producten, keinesweges in ihr selbst, sie ist einfach, und ihre Richtung ist Eine, und diese ist mit einemmale vollendet. " 13 Damit ist gewiß die Seite am "unendlichen Progreß", die bei Kant zu dem merkwürdigen Postulat der Unsterblichkeit der Seele führte, begreiflich überwunden, nämlich die bleibende Indifferenz des eigenen stehenden Willens gegen den ewigen Willen, aus der -- nach geschehener Verzichtleistung auf den sinnlichen Willen - "die Quelle eines kategorischen Imperativs im Gemüthe" wird 14 und damit der nicht endenwollende Kampf des moralischen Wollens mit den sinnlichen Trieben. Nicht aber ist geklärt, wie jene andere Seite des absoluten Sollens realisiert werden kann, nämlich in der Sinnenwelt "anschaubar zu machen, was ich als mein wahres Wesen anschaue in der übersinnlichen Welt". Solange nämlich der Wandel und die Unbestimmtheit "in den Produkten" bleibt, darf diese Aufgabe doch nicht als erfüllt angesehen werden, ist also auch noch nicht das Bild Gottes voll anschaubar geworden. Versteht Fichte diese bleibende Unbestimmtheit der Sinnenwelt prinzipiell, dann ist der Vorwurf einer "schlechten Unendlichkeit" noch immer nicht aus dem Wege geräumt.

1/.

Bevor wir uns nun im Spätwerk Fichtes nach Hinweisen dafür umsehen, wie dem eben skizzierten Mangel in der WL abzuhelfen wäre, sollten wir no~h etwas schärfer die hier offengebliebene philosophische Aufgabe zu umreißen suchen. Es geht nicht um den Begriff einer Sinnenwelt, deren bloße Kontemplation das Bild Gottes ergäbe. Ein so)-

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chcs "fertiges, stehendes" Bild wäre nach allem Gesagten das gerade Gegenteil des Gesuchten. Wohl aber steht noch die Bestimmung dessen aus, wodurch für den unbedingt zum absolut Gesollten entschiedenen Willen das Bild Gottes in der Sinnenwelt dokumentiert wäre. Denn handelte er nicht nach einem solchen Begriff der vollendeten Erscheinung des Absoluten, so würde er sich dem Vorwurf aussetzen, bei allem guten Willen zur Durchsetzung der besten Sache im Grunde blindlings ohne ein klares Ziel draufloszuwirken. Den prinzipiellen Rahmen für den noch zu leistenden Begriff hatte Fichte bereits innerhalb der WL 1810 angedeutet, ihn dann am Ende aber doch wieder aus dem Auge verloren: es gilt, die "wahre Sinnenwelt" als Sphäre der allgemeinen übereinstimmbarkeit der EinzeHehe aus dem Modus bloßer, direkter Anschauung, d. h. der schließlich fallenzulassenden Leiter des sich zum Guten erhebenden Willens, zur wirklichen Anschaubarkeit des Bildes Gottes zu erheben. D. h., die Sinnenwelt müßte zum Medium dafür werden, daß in der wechselseitigen Anerkennung der Einzeliche allseitig nichts als die Erscheinung des Absoluten hervortritt. Wie weit Fichte zunächst noch - trotz so mancher Vorstöße in dieser Richtung in seiner frühen Philosophie - von der Klärung des hier mangelnden Begriffes entfernt ist, zeigen etwa seine ausführlichen Erörterungen zum "Endzweck" in den Thatsachen des Bewusstseyns, vorgetragen im Winterhalbjahr 1810-11. Er denkt sich das, "was durch Sittlichkeit hervorgebracht werden soll", zunächst "vertheilt an die Summe der Individuen. Wie man nun über jene allgemeine Welt in Absicht ihrer Unendlichkeit oder Nichtunendlichkeit denken möge, so ist doch dies unmittelbar klar, dass die sittliche Aufgabe in derselben, als beschreibend einen engeren Kreis, ein Endliches sey, das da realisirt werden könne, und das irgend einmal in der wirklichen Zeit, - durch die Summe aller Individuen, versteht sich, denn nur an Individuen ist das Ganze vertheilt, und nur in der Summe dieser spricht es sich aus,- realisirt seyn werde. " 15 Nach Vollendung dieser Aufgabe und damit dem Fortfall des Existenzgrundes für diese Sinnenwelt gebe es dann aber eine unendliche Reihe aufeinanderfolgender Welten, worin sich am Leben der Endzweck sichtbar machen ließe 16 • "Sinnenwelt" scheint hier nach dem Modell eines im Grunde beliebigen Materials zur Dokumentation des reinen Willens aufgefaßt, und das Handeln der Individuen als sinnvoll konzipiert nicht im notwendigen Bezug der EinzeHehe aufeinander, sondern lediglich durch die Summierung der vollbrachten Einzelaufgaben. Was hier fehlt, ist die enge Verbindung zwischen WL und Gesellschaftstheorie, wie sie für das Frühwerk Fichtes bestimmend war. Einerseits fällt es schwer, aufgrundder zu diesem Zeitpunkt vorgelegten WL eine überzeugende Theorie gesellschaftlicher Praxis abzuleiten - die Reden an die deutsche Nation scheinen es zu beweisen. Anderseits dürften Mängel in der Darstellung der WL selbst Indiz dafür sein, wie wenig Fichte zu dieser Zeit eine befriedigende Durchdringung gesellschaftstheoretischer Fragen gelungen ist. Ich habe andernorts 17 zu zeigen versucht, daß Fichte gerade in der Spätphase von 1812-1813 wichtige neue Akzente in der Gesellschaftsphilosophie gesetzt hat. Hier gilt es kurz aufzuweisen, wie sich aufgrunddieser Elemente der in der WL 1810 bemerkte Mangel beheben ließe. Hatte es nach den knappen Ausführungen der WL 1810 - aber auch nach manchen

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anderen Erörterungen aus der Zeit bis 1811 - den Anschein, als ob bei der Vollbringung der sittlichen Aufgabe das einzelne Ich, das sich zum "absolut einfachen Wiilcn" durchgerungen hat, im wesentlichen auf sich selbst gestellt sei und die Sinnenwelt ihm für die nie zu Ende kommende Dokumentation dieses Willens im Grunde nur beliebiges Material darreiche, so ergibt sich spätestens seit der Sittenlehre von 1812 ein ganz anderes Bild. Hier sagt Fichte unmißverständlich, daß es in diesem Leben zwar zu einer sittlichen Gesinnung, nicht aber zur eigentlichen Aufgabe der Sittlichkeit kommen kann. Warum nicht? Weil die sittliche Aufgabe sich nicht in einem Gesamtbewußtsein ausspricht - ein solches gibt es nicht -, sondern nur jeweils in einem individuellen Einzclbewußtsein. Damit es zu einer adäquaten Einsicht in die dem Menschen aufgetragene Weltordnung kommen kann, müssen darum zunächst die vielen Einzelsichten zu einem gemeinsamen Bild verschmelzen. Dies kann aber nur über den freien Diskurs aller mit allen geschehen; "es wird darum zu allererst Aufgabe an jeden Einzelnen, seine Ansicht mitzuthcilcn an Alle, und sich anzueignen die Ansichten Anderer; sich zu bilden zur Uebcrcinstimmung mit dem Gemeingültigen in Anderen, und diese zu bilden zur Ucbereinstimmung mit dem Gemeingültigen in ihm. In dieser Lage hat Jeder seinen besonderen geistigen Charakter, die Aufgabe aber ist, daß alle diesen Charakter in Einen verschmelzen; die ganze Gemeinde dastehe mit Einem Sinne. Irgend einmal muß dieses Ziel erreicht sein. Denn es ist selbst nur ein Mittelglied zur eigentlichen Sichdarstellung der Erscheinung. Bis es erreicht worden ist, wird durch die Erscheinung nicht dargestellt die aufgegebene Weltordnung, sondern es wird nur gearbeitet an der Hervorbringung ihres Bildes, welches selbst nicht vollendet sein kann, ohne daß die ganze Gemeinde vollendet ist." 18 Die Argumentation ist klar: Hier ist zur Bedingung dafür, daß der "absolut einfache Wille" das Bild Gottes nicht nur in der Sinnenwelt darstellen, sondern selbst erst ersehen kann, die Bewältigung aller gesellschaftstheoretischen Aufgaben vorausgesetzt, die im Rahmen der Sittenlehre ja nur im Hinblick auf ihre höchste Perspektive zur Sprache kommen. Wie ernst es Fichte mit dieser Aussage ist, wird besonders deutlich an dem von ihm angeführten Gegenbeispiel eines angeblich von einer messianischen Idee Erfaßten, der aber noch nicht begriffen hat, daß zur Durchführung des Bildes Gottes in der Welt vorab die volle intersubjektive Vermittlung dieses Bildes gehört. "Du sagst etwa, es sei dir geboten, was du thust. Wir können nicht theilen dein unmittelbares Selbstbewußtsein und die Offenbarungen, die du da erhältst: wir können aber zufolgc der allgemeinen Gesetzmäßigkeit der Erscheinung dir die Sphäre angeben, innerhalb welcher deine Offenbarungen sich halten müssen. Wenn duz. B. sagtest, es sei dir durch dein Gewissen geboten, Völker zur Strafe für ihre Sünde auszurotten, oder sie mit Feuer und Schwert zu einem gewissen Bekenntnisse, oder in eine gewisse Verfassung u. dergl. hincinzuzwingen; so können wir dir mit Zuversicht sagen, daß du dich täuschest: denn dergleichen kann nie geboten werden der freien und sittlichen Kraft." 19 "Inwiefern nun der besondere Inhalt des Willens = x ein Zustand der menschlichen Gesellschaft ist; so will der Sittliche ihn durch die Sittlichkeit der Gesellschaft und schlechthin nicht auf eine andere Weise. Die Andern sollen es selbst begreifen, daß es so sein müsse, und ihr Wille soll so weit sich reinigen, daß sie es wollen. Diese ihre Aufklärung und Bildung für x ist sein erstes Geschäft, und auf andere Weise soll nach seinem Willen x nicht eingeführt werden. Der auf dem beschriebenen Standpunkte aber

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will x durch jedes Mittel, weil es ihm eben das Absolute ist, und setzt es auch durchjedwedes, das er nur in seine Gewalt bekommen kann, durch. Er ehrt nicht die Freiheit, d. h. das klare, besonnene Leben des Begriffs, weil er selbst keine hat, und so auch die Bestimmung des Geschlechts zur Freiheit ihm verborgen bleibt." 20 Bei dieser Sicht der sittlichen Aufgabe kann auch erst eigentlich das wahre Wesen der Sinnenwelt als "allgemeine Übereinstimmbarkeit", nicht bloß als zu überwindender Ausgangspunkt und dann als das verbleibende beliebige Material des sittlichen Willens in den Blick treten. In diesem Zusammenhang ist einmal höchst interessant, wie Fichte 1813 in Überlegungen zur Eigentumslehre (die nicht mehr Eingang in eine systematische Abhandlung der Rechtslehre gefunden haben) seinen früheren Begriff vom Urrecht auf Eigentum als einer klarumrissenen Sphäre für die eigene, freie Tätigkeit wesentlich im Sinne der gesellschaftlichen Vermittlung dieser Einzelsphären modifiziert. In einer beißenden Kritik am früheren, (auch eigenen) Eigentumsbegriff heißt es nun: ,Jeder hat sein Eigenthum abgesondert in vier Pfähle eingeschlossen,- wo dann doch die Raupen des Andern mir meine Saat verwüsten können." "Jeder hat Recht nicht nur auf freie Thätigkeit überhaupt, sondern auf die kräftigste und erfolgreichste Thätigkeit in der Gesellschaft, die der Gebildetste sich denken kann, in der ihn der Andere auch bloss durch Unterlassung zu stören vermag.[ ... ] Nicht stören hcisst aber nicht bloss durch positive That in seine Thätigkeit eingreifen, sondern auch durch Nachbleiben und Unterlassen in dem allgemeinen Culturgange die höchstmögliche Herrschaft über die Eine gemeinschaftliche Natur hindern. (Die bisherigen falschen Angaben über das Eigenthum liegen eben darin, dass jeder eine verschlossene abgesonderte Natur zu haben begehrt. Eine solche giebt es aber nicht: die äussere Freiheit ist daher insofern bedingt durch die Thätigkeit Anderer an ihrer eigenen Stelle.)" 21

Hier meldet sich - über den verschärften Hinblick auf die Sinnenwelt als Medium allgemeiner Kommunikation -bereits ein Begriff von "Natur", der über die "cartesischen Engpässe" im modernen Naturverständnis und -verhalten wesentlich hinausführt, obschon auch diese neue Betrachtung noch durchaus in der Perspektive bestmöglicher kultureller Beherrschung von Natur verbleibt. Einen wichtigen Schritt noch darüber hinaus tut Fichte innerhalb seiner späten Geschichtsspekulationen. Hier sind wiederum die von I. H. Fichte unter dem Titel Politische Fragmente veröffentlichten Skizzen aus dem Jahre 1813 von besonderer Bedeutung. Der Zusammenhang, um den es in diesen geschichtsphilosophischen Erörterungen geht, ist äußerst komplex. Wir können ihn hier nicht nachzeichnen 22 . Wichtig ist vor allem Fichtes Selbstkritik -mit der er sich Schelling wieder zu nähern glaubt. "Die Welt ist die Sichtbarkeit der Freiheit: dies muss die Natur in der That und nach allen Bedingungen seyn, nicht bloss jenes absolut Gleichgiiltige und Leere, wie ich mich bisher begnügt habe, sie aufzufassen. " 23 "Welches ist denn das Gesetz der Wcltfacten, d. i. desjenigen, was der Freiheit ihre Aufgaben liefert? Diese Frage liegt sehr tief: bisher habe ich durch lgnoriren und Absprechen mir geholfen! Ich dürfte da allerdings einen tieferen, eigentlich absoluten Verstand bekommen, an der unendlichen Modificabilität der Freiheit, und dieser den inneren Halt gebend. Was ich daher als absolut factisch gesetzt habe, möchte doch durch einen Verstand gesetzt seyn. (Hierdurch würde ich mich Schellingen wieder mehr nähern.)"24

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Die neue Sicht, an die sich Fichte herantastet, bricht auf an der Frage, worin denn eigentlich die konkrete Stofflichkeit des sittlichen Handeins (über alle gemeingültigen gesellschaftstheoretischen Bestimmungen hinaus) bestehe. Damit ist nach etwas gesucht, "was weder aus der Natur hervorgeht- diese bleibt an ihren Wechsel gebunden- noch aus der Freiheit oder dem (endlichen) Verstande- diese können eigentlich nichts Neues setzen, in ihnen ist kein eigentlich erfinderisches Princip - sondern nur aus dem stammen kann, was zwischen Natur und Freiheit fällt, geistige Natur oder Ursprünglichkeit ist. " 25 Die Frage nach der "geistigen Natur" kommt in diesem Kontext ebensowenig zu einer erschöpfenden Behandlung wie innerhalb der Reden an die deutsche Nation, wo sie zum erstenmal im Blick auf das Wesen des Nationalen thematisch wurde 26 • Unmittelbar zielt Fichte in diesem Zusammenhang nur auf eine neue Wertung jenes Individuell-Ursprünglichen ab, das in den großen Gestalten der Weltgeschichte je zum Durchbruch kommt. Unter der Annahme einer auf einen letzten Sinn hinzielenden Universalgeschichte kommt man aber nicht daran vorbei, hier aus der "bloßen Natur" etwas Positives in die Freiheit eingehen zu sehen, das prinzipiell nach einer anderen Betrachtung von Natur überhaupt verlangt, jenseits der Annahme ihrer leeren Materialität und stofflichen Beliebigkeit für das praktische Vermögen. Fundament seiner ganzen Lehre ist, so sagt Fichte: "die Sinnenwelt sey die Sichtbarkeit der sittlichen, und weiter nichts. Hier nun wird dieses Princip weiter bestimmt, indem der Begriff der Gesetzlosigkeit, dem die Natur nach meiner bisherigen Auffassung anheimgefallen ist, dadurch wesentlich eingeschränkt wird, und Manches in ihr selbst unter das sittliche Gesetz gebracht werden muss. Aber es fragt sich endlich, ob diese Bestimmung nicht durchgreife und die Gesetzlosigkeit der Natur ganz wegfallen müsse, indem sie durchaus bestimmt ist durch den absoluten Verstand, nicht bloss in jenen ausnahmsweisen Erscheinungen, die eben betrachtet worden sind?" 27 Fichte war es nicht mehr vergönnt, diese wichtigen Durchbrüche seines späten Philosophierens zu einer übergreifenden systematischen Zusammenschau zu bringen. Die Richtung seiner Gedanken indes scheint mir deutlich genug. Im Rahmen der an der WL I810 aufgezeigten Problematik: Es ließe sich aufgrundder angeführten Hinweise klarmachen, wie die "wahre Sinnenwelt" als "allgemeine Übereinstimmbarkeit" so begriffen werden kann, daß das Problem eines unendlichen Progresses des zum Guten unbedingt entschlossenen Willens prinzipiell behoben wird. Die Darstellung dieses absolut einfachen Willens in der Sinnenwelt setzt zunächst das durchgängige Gelingen des universalen freien Diskurses aller Individuen voraus. Alle Einzelbilder von Praxis sollen über die gegenseitige, freie und ungehinderte Mitteilung zu einem Gesamtbild verschmolzen werden. Das bedeutet auf der einen Seite, daß "das Bild Gottes" - als welches überhaupt nur eine Erscheinung außer dem absoluten Sein selbst bestehen kann - fernab von einer unmittelbaren Intuition des Einzelnen, der sich zur Sittlichkeit durchgerungen hat, erst über das mühsame intersubjektive Zusammensetzen gleichsam eines Puzzlespiels von Einzelsichten hervortreten kann, und d. h. vor allem: erst nach der hierfür vorausgesetzten Lösung der gesellschaftlichen Basisprobleme. Das bedeutet auf der anderen Seite: die vorgegebene Faktizität von Natur und Geschichte wird - sofern sie in die Konstitution der je individuellen Charaktere eingeht - zu einer grundsätzlich von der Freiheit anzuerkennenden Realität, fällt so-

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mit nicht auf die Ebene eines bloßen Materials für die Praxis zurück. Der Spielraum dieser freien Anerkennung vorgegebener Natur- und Geschichtswirklichkeit wird begrenzt lediglich durch die Regeln, die sich aus der notwendigen Übereinstimmung aller zu einem Gesamtbilde ergeben. Über diese Weise hinaus, wie Natur und Geschichte in die Individuation der Einzeliche ein- und aufgehen, bekommt die Sinnenwelt eine Bedeutung, in der sie ebenfalls eines Rückfalls in die Welt der Anschauung als bloßer Voraussetzung für die Erhebung zur Sittlichkeit und als beliebiger Stofflichkeit für die Selbstdokumentation des sittlichen Individuums grundsätzlich enthoben ist. Sie wird eben als Sphäre der Übereinstimmung unaufgebbarer Träger von Sinn, in dem sich die gegenseitige Anerkennung aller vermittelt. Was der frühe Fichte (unter Berufung auf Schelling) von den "Kunstprodukten" sagte - "Wo meine moralische Macht Widerstand findet, kann nicht Natur sein. Schaudernd stehe ich stille. Hier ist Menschheit! ruft es mir entgegen; ich darfnicht weiter" 28 - ist nun weiterzuführen über seine Einsicht, daß es eine verschlossene, abgesonderte Natur, die jeder für sich zu haben begehrt, nicht gibt 29 • Natur ist potentialiter immer schon Medium der Anerkennung, über das sich mir der je unersetzbare Wert der anderen Individuen nur erschließen kann, und als solche Sphäre prinzipiell zu achten und zu hüten. So unvollendbar die sich hiermit ergebende sittliche Aufgabe auch de facto erscheinen mag, prinzipiell ist doch ein Begriff von Praxis gewonnen, der dem Vorwurf einer "schlechten Unendlichkeit" entgeht. Das Bild Gottes kann vollendet hervortreten nicht etwa nur im "absolut einfachen Willen", sondern dargestellt in der Sinnenwelt -, wenn die Einzelbilder in gegenseitiger Anerkennung zur gemeinsamen Sicht dessen gefunden haben, was sein soll. Man kann sich sogar fragen, ob dann die eigentliche Erfüllung der "aufgegebenen Weltordnung" 30 noch aussteht oder ob damit das, was Fichte mit der christlich-abendländischen Tradition "das Reich" nennt, nicht bereits angebrochen ist. Ob die Erscheinung des Absoluten sich nicht gerade darin vollendet, daß alle bis auf den letzten, einen Grund der je verschiedenen Bilder des Absoluten dringen und im tätigen Vollzug dieses gegenseitigen Erkennens ihres je eigenen Wesens ihr Genüge finden.

Anmerkungen 1. Aus der neuesten Literatur hierzu vgl. bes. Einleitung und Kommentar von Güntcr Schulte in: Johann Gottlieb Fichte, Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umriß (1810), Frankfurt/ M. 1976; drs., Fichtes Gottesbegriff, in: Kant-Studien 66 (1975), S. 163-168. 2. SW II, S. 695. 3. Den Ausgangspunkt der WL gibt G. Schulte nicht richtig wieder, wenn er den entscheidenden Gedanken der Einheit des Wissens übergeht, und sagt: "Fichtes Begriff des ,Wissens schlechtweg' [geht) auf die intersubjektive Allgemeinheit von Vorstellungen überhaupt, also auf die allgemeine Möglichkeit, in besonderen Vorstellungen Objektives (Sein) zu vermeinen (zu schematisieren)", in: J. G. Fichte, Die Wissenschaftslehre in ihrem allgemeinen Umriß (1810), Frankfurt am Main

1976, s. 41. 4. SW II, S. 245. 5. SW II, S. 246. 6. Zweiter Vortrag, gereinigte Fassung. Hrsg. v. R. Lauth und J. Widmann, Harnburg (Philos. Bibi. Bd. 284) 1975. Diese Fassung wird im folgenden zitiert.

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7. Vgl. SW X, S. 213. 8. Vgl. SW X, S. 195. 9. Vgl. hierzu etwa W. Janke in: J. G. Fichte, Wissenschaftslehre 1804. Text und Kommentar. Hrsg. von W.Janke, Frankfurt am Main 1966, bes. S. 9. 10. Vgl. SW 111, S. 30-40; IV, S. 218-223. 11. Vgl. SW VI, S. 304. 12. SW II, S. 707. 13. SW II, S. 708. 14. Vgl. SW V, S. 518; XI, S. 62; bes. II, S. 673-675. 15. SW II, S. 676. 16. 'J gl. eben da. 17. Recht und Sittlichkeit in j. G. Fichtes Gesellschaftslehre, Freiburg/München 1975. Fünfter Abschnitt 1812-1813: Das Verhältnis von Sittlichkeit und Recht in Fichtes Spätphilosophie. 18. SW XI, S. 73. 19. Ebenda, S. 85. 20. SW XI, S. 78. 21. SW VII, S. 577 f. 22. Vgl. hierzu: Recht und Sittlichkeit .•. , a.a.O., § 34. 23. SW VII, S. 594. 24.Ebenda,S.586. 25. Ebenda, S. 595. 26. Vgl. SW VII, S. 380-382, und unsere Ausführungen dazu in: Recht und Sittlichkeit ... , a.a.O., § 24. 27. SW VII, S. 594. 28. SW IV, S. 225. 29. Vgl. SW VII, S. 578. 30. Vgl. SW XI, S. 73.

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Diskussion Schottky: Für die Vollendung des göttlichen Bildes ist erst einmal die Vermittlung aller individuellen, durch den geistigen Charakter der einzelnen Menschen geprägten Teilbilder und ein freier Diskurs aller Menschen notwendig. Für diesen freien Diskurs ist notwendige Voraussetzung die Lösung aller Basisprobleme der Gesellschaft, d. h. die Erstellung einer idealen, vollkommenen Wirtschafts- und Rechts- und Erziehungsgesellschaft. Schulte: Das Basisproblem wäre die Herstellung des einen Sinnes, also der Brüdergemeinde; nur dann wäre dieser Augenblick da. Wenn ich bloß individuell für mich diesen absoluten Willen habe, ist das ja nicht die reflexive Anschauung des göttlichen Lebens. Die habe ich erst, wenn ich mit meinem Willen im Konsens bin mit dem Willen einer Gemeinde. Hahn: Erst wenn die Basisprobleme befriedigend oder total gelöst sind, dann erst beginnt nach Fichte die eigentliche gesellschaftliche Praxis als sittliche Interaktion. Ich muß doch eine gesellschaftliche Praxis konzipieren, wo einerseits meine Aufgabe im Diskurs mit allen ermittelt wird, wo aber dieser Diskurs nicht nur harmonisch verläuft, sondern auch wesentlich, da es sich um einen Diskurs von Freiheitswesen handelt, konflikthaltig, zumindest potentiell-konflikthaltig. Diese Potentialität darf gerade nicht aufgehoben werden, durch keinen Staat, durch keinen Zwangsmechanismus; diese Potentialität des Nein-Sagens, der Verweigerung, die muß meines Erachtens in dieser gesellschaftlichen Praxis immer bewahrt bleiben. Verweyen: Das Bild Gottes kann erst hervortreten, wenn die gesellschaftliche Vermittlung der je individuellen Bilder erfolgt ist. Von daher ergibt sich als Grundfrage: Wie kann freier Diskurs, wie Interaktion und Kommunikation möglich werden innerhalb einer Welt von Individuen, die zunächst einmal aufeinander losgehen. Die notwendige Lösung der Basisprobleme ist anderer Art als der freie Diskurs. Ich würde schon unterscheiden zwischen der mühsamen Lösung der Basisprobleme und der erst daraufhin erfolgenden Ermöglichung von freiem Diskurs. Während Sie, Herr Hahn, das synchron sehen, sehe ich das diachron. Brüggen: Fichte würde doch wohl so argumentieren: Schon zu der Lösung der genannten Basisprobleme, zu einer Konzeption auch gesellschaftlicher Praxis, ist bereits eine sittliche Entscheidung vonnöten. Das ist noch nicht das Gesamtbild Gottes. Verweyen: Für denjenigen, dem eine Errichtung einer Rechtsordnung obliegt, ist gewiß vorausgesetzt, daß er um seine sittliche Aufgabe weiß; aber gerade in diesem Wissen um die sittliche Aufgabe weiß er auch um die Möglichkeit des Existierens von Individuen, die nicht sittlich handeln. Darum ist die Frage der Basisprobleme nicht, ob derjenige, der an einer Regierungsordnung arbeitet, sittlich denkt, sondern inwieweit man bei der Realisierung von Recht berücksichtigen muß, daß die meisten doch sehr ' egoistisch, und nicht sittlich handeln. Hahn: Die Lösung der Basisprobleme ist doch auch ein integraler Bestandteil des Bildes des Absoluten. Verweyen: Inwieweit diejenigen, die sich um die Lösung von Basisproblemen bemühen, sittlich gewillt sind, das ist das Grundproblem einer Demokratie. Es ist jederzeit sittliche Gesinnung möglich. Hier zeigt sich der Unterschied zwischen reinem Wo!-

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len und der materialen Ausfüllung dieses reinen Wollens. Das Ersehen der sittlichen Aufgabe ist aber erst möglich, wenn ein freier Diskurs stattgefunden hat. Siep: Ich möchte fragen, ob wirklich von der Spätphilosophie bestimmte Probleml· besser anzufassen sind als von der frühen Philosophie. Ist nicht die Individualität wesentlich bestimmt durch ihren Beitrag zum sittlichen Leben, d. h. durch ihren sittlichen Charakter, der gerade scharf unterschieden wird von der empirischen Individualität der Natur, d. h. den Beitrag der Natur für die Individualisierung? Das empirische Ich als solches ist überhaupt nicht. Erst wenn es zum sittlichen Charakter gebildet ist, dann wird es ein individueller Beitrag zum Bild des Absoluten. Herr Verweyen sagt, die Schwierigkeit der Frühphilosophie sei der Übergang von dem bloßen Nicht-Intervenieren in die Sphäre des anderen, zur positiven lnterpersonalbeziehung, und das gehe von der späten Lehre aus besser, weil da der Begriff der Individualität selber tiefer begründbar sei als eine bestimmte Erscheinungsweise des Absoluten. Ich frage mich, ob das nicht nur den sittlichen Charakter angeht, von dem aus der Schritt zum Individuum qua Rechtssubjekt nur schwer zu machen ist.

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III. PHILOSOPHIEGESCHICHTLICHE ZUSAMMENHÄNGE Manfred Buhr Die Philosophie J ohann Gottlieb Fichtesund der historische Prozeß der Zeit Mit unseren Bemerkungen zum Thema "Die Philosophie johann Gottlieb Fichtesund der historische Prozeß der Zeit" möchten wir die Aufmerksamkeit auf eine Seite der Philosophie und des Wirkens von Fichte lenken, die in der Literatur nur allzuoft unbeachtet geblieben ist, die aber bei der Interpretation der Fichteschen Philosophie nicht ungestraft vernachlässigt werden darf: auf die Beziehungen des Denkens Fichtes (und seines immerwährenden Dranges nach gesellschaftlichem Wirken-Wollen) zur gesellschaftlich-historisch-politischen Dynamik der Zeit 1 • Mit einem solchen Vorgehen erheben wir - und diese Einschränkung zu machen scheint uns im Hinblick auf eine bestimmte Literatur notwendig -nicht den Anspruch, den ganzen Fichte auszumessen. Zugleich möchten wir aber auch festhalten, daß wir damit keine unzulässige Einseitigkeit begehen. Denn es verbleibt immer als Aufgabe philosophiehistorischer und ~ystematischer philosophischer Forschung, die Philosophie Fichtes mit dem gesellschaftlich-historischen Prozeß der Zeit in Verbindung zu bringen, diese und diesen aufeinander zu beziehen, ja zu konfrontieren, um Fichtes Denken in seiner Größe, aber auch in seiner Ambivalenz erfassen und rekonstruieren zu können, damit es als "Einsicht" 2 , die zugleich GegeQwart ist, verpflichtend ins philosophische Denken eingebracht werden kann.

I.

Innerhalb der Entwicklungsgeschichte der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie scheint das Phänomen der bürgerlichen Revolution (der bürgerlichen Umgestaltung gegebener Gesellschaftszustände) am ausgeprägtesten im Werk Johann Gottlieb Fichtes auf. Dies - zumindest - durch zwei Vorgänge, die für die Herausbildung und Entfaltung der Fichteschen Philosophie von grundsätzlicher Bedeutung sind. Erstens: Durch die intensive Beschäftigung Fichtes mit der Philosophie Immanuel Kants. In dieser ist die zu ihr hinführende und in ihr enthaltene Tradition des progressiven bürgerlichen Denkens (von Descartes und Hobbes über Locke, Rousseau, die Aufklärung insgesamt) eingeschlossen. Und in diesem Zusammenhang sodann durch die Art und Weise, wie Fichte das Denken Kants in sein eigenes aufnimmt bzw. welchen Stellenwert er diesem einräumt, nämlich Revolution seiner ganzen Denkungsart zu sein 3 . Zweitens: Durch die nachhaltige Wirkung des historisch-politischen Ereignisses der Zeit, der Französischen Revolution und ihrer Folgen, auf den bewußten Einsatz des Fichteschen Denkens. Der Versuch, die durch die Französische Revolution aufgeworfenen gesellschaftlich-historischen Fragen theoretisch zu bewältigen bzw. philosophisch zu durchdringen, ist für das Denken Fichtes konstitutiv. Fichte hat die welthistorische

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Philosophiegeschichtliche Zusammenhänge. Manfred Buhr

Bedeutung der Französischen Revolution vom ersten Tage seines bewußten Denkens an begriffen. Das unterscheidet ihn von der Mehrzahl seiner deutschen philosophischen Zeitgenossen und verleiht seinem Denken Konsequenz. Diese beiden Vorgänge, die Aneignung der Philosophie Kants durch Fichte und die Wirkung der Französischen Revolution auf bzw. die Betrachtung dieser durch ihn, bestimmen die Richtung und die Art und Weise der Ausgestaltung seiner Philosophie. Beide Tatbestände wirken auf das Denken Fichtes nicht getrennt voneinander. Sie gehen im Verlauf seiner Entwicklung ineinander über und durchdringen sich wechselseitig. Dieser Feststellung steht nicht entgegen, daß beide Vorgänge, was den Beginn ihrer Wirkung auf Fichtes Denken angeht, nicht auf das Jahr genau übereinstimmen. Fichtes Briefwechsel -aus dem Jahre 1790 vor allem- belegt den Einfluß Kants auf die Herausbildung seiner Philosophie. Die beiden Revolutionsschriften des Jahres 1 7 9 3 und der Briefwechsel --vornehmlich der des Jahres 1795- unterstreichen die Wirkung der Französischen Revolution auf die Entfaltung der Fichteschen Philosophie. Bereits 1793 ist für Fichte die Französische Revolution "wichtig für die gesammte Menschheit" 4 • Eine Betrachtung der Philosophie Fichtes muß deshalb beide Vorgänge gleichermaßen in Rechnung stellen. Keiner von beiden darf im Hinblick auf Fichte vernachlässigt werden, auch wenn die Wirkung Kants und die der Französischen Revolution in den Jahren seiner anfänglichen (und auch späteren) Entwicklung unterschiedlich gewesen ist. Andererseits ist zu beachten, daß die Philosophie Kants und die Französische Revolution aus ein und demselben gesellschaftlich-historischen Prozeß gespeist sind und ein und denselben Anspruch artikulieren: aus dem Prozeß des Übergangs von der feudalen zur bürgerlichen Gesellschaft in den europäischen Hauptländern um dieWendevom 18. zum 19. Jahrhundert und die gegen die feudalen Gesellschaftszustände und gegen die feudale Ideologie gerichtete Forderung der progressiven Bourgeoisie auf rationale Naturbeherrschung und vor allem Gesellschaftsgestaltung durch den Menschen. In der Philosophie Kants erreichte das Denken der progressiven Bourgeoisie einen seiner Höhepunkte. Indem Fichte nach kurzem vorübergehendem Schwanken sich der Kautsehen Philosophie intensiv und leidenschaftlich zuwandte, nahm er die revolutionären Inhalte und die revolutionäre Dynamik der Ideologie der progressiven Bourgeoisie in sein Denken auf, und zwar von Anfang an und ganz bewußt. Die dem Fichtesehen Denken eigenen Merkmale der Abstraktheit, aber auch der Konsequenz resultieren aus diesem Tatbestand. Was das Bekanntwerden mit der Kautsehen Philosophie für Fichte bedeutete, das erhellt in erster Linie sein Briefwechsel. Im August/September 1 790 schreibt er an Weißhuhn: "Ich lebe in einer neuen Welt, seitdem ich die Kritik der praktischen Vernunft gelesen habe. Sätze, von denen ich glaubte, sie seyen unumstößlich, sind mir umgestoßen; Dinge, von denen ich glaubte, sie könnten mir nie bewiesen werden, z. B. der· Begriff einer absoluten Freiheit, der Pflicht u.s. w. sind mir bewiesen, und ich fühle mich darüber nur um so froher. Es ist unbegreiflich, welche Achtung für die Menschheit, welche Kraft uns dieses [das Kautsehe] System giebt!" 5 Kurze Zeit später kommt Fichte in einem weiteren Brief an Weißhuhn noch einmal auf die Kautsehe Philosophie zurück und hält zusammenfassend fest: "Ueber eine Revolution in meinem Geiste habe ich Ihnen schon geschrieben[ ... ]" 6 • Schließlich folgt im November 1790 der wichtige Brief Fichtes an Achelis. Dieser nimmt ein in dem eben

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angeführten Brief Fichtes an Weißhuhn anklingendes Motiv wieder auf. Dieses unterstreicht, daß es weniger die erkenntniskritischen Passagen als vielmehr die sozialkritischen Aspekte der Kantschen Philosophie waren, die Fichte in erster Linie, besser vielleicht: zunächst, durch sein eigenes Denken fruchtbar machen wollte. Es war um diese Zeit die Kantsche Freiheitslehre, der V ersuch Kants, die Freiheit des Willens theoretisch zu begründen, die Fichte mit Begeisterung erfüllte und ihn zu Kant gleichsam hintrieb. Fichte: "Ich warf mich in die Philosophie, und das zwar- wie es sich verstehtin die Kantische. Hier fand ich die Gegenmittel für die wahre Quelle meines Uebels, u. Freude genug obendrein. Der Einfluß, den diese Philosophie, besonders der moralische Theil derselben, der aber ohne Studium der Kritik der reinen Vernunft nicht verständlich ist, auf das ganze Denksystem eines Menschen hat, die Revolution, die durch sie besonders in meiner ganzen Denkungsart entstanden ist, ist unbegreiflich." Dieser Briefstelle laufen im gleichen Brief andere parallel, die ebenfalls darauf hinweisen, daß Fichte in der Kantschen Philosophie eine Chance sah, den sozialen Status quo in Frage zu stellen, diesen verändernd zu begreifen bzw. begreifend zu verändern. Mit Blick auf das eigene Denken vor dem Studium der Kantschen Philosophie bemerkt er: "Es ist mir [ . . . ] sehr einleuchtend, daß aus dem angenommenen Saze der Nothwendigkeit aller mensch Handlungen sehr schäd Folgen für die Gesellschaft fließen, daß das große Sittenverderben der sogenannten beßern Stände gröstentheils aus dieser Quelle entsteht; und daß es ganz andere Gründe hat, als die Unschädlichkeit, oder wohl gar Nüzlichkeit dieses Sazes, wenn jemand der ihn annimmt sich von diesem Verderben rein erhält." Und kurz vorher schreibt Fichte in diesem Brief den für seine philosophische Entwicklung wichtigen Satz nieder, den unseres Erachtens keine Interpretation seiner Philosophie umgehen darf: "Da ich das außer mir nicht ändern konnte, so beschloß ich das in mir zu ändern. " 7 Der Brief an Achdis - und nicht nur dieser -dokumentiert, daß Fichte der Überzeugung war, aus der Kantschen Philosophie, insbesondere aus ihrer Freiheitslehre, sozialkritische Schlußfolgerungen ableiten zu können. Zumindest glaubt das Fichte. Das in diesem Brief aufscheinende sozialkritische Motiv wird sein ferneres Denken immer wieder beschäftigen, ja über weite Strecken bestimmen. Die Philosophie Kants war der theoretische Boden, auf dem sich das Denken Fichtes bewegen sollte. Doch es wäre verfehlt, daraus zu schließen, daß Fichte fernerhin zum bloßen Interpreten oder zum mehr oder weniger glücklichen Ausgestalter der kritischen Philosophie geworden sei. Ein weiteres Ereignis kam hinzu, das Fichtes Denken erneut aufwühlen sollte und in dem er zugleich eine Bewährung für dieses sah: die Französische Revolution. Und in diesem Zusammenhang ist es wohl nicht übertrieben festzuhalten, daß die Französische Revolution deshalb einen so nachhaltigen und bleibenden Einfluß auf Fichte ausübte, weil ihre Auswirkungen und ihr Verlauf sich in einem Denken niederschlugen, das an der Kantschen Philosophie geschult, durch diese hindurchgegangen war und das diese mit den gegebenen gesellschaftlich-sozialen Zuständen konfrontierte. Das gilt allerdings auch - mutatis mutandis - in der Umkehrung. Die Französische Revolution, ihr Verlauf und ihre Folgen, von Fichte sofort als weltgeschichtliche Begebenheit festgehalten, bestimmt -mindestens seit 1793 -die fernere Kant-Rezeption und-interpretationdes Schöpfers der Wissenschaftslehre. Man kann sagen, daß Fichte seine Philosophie mit der Französischen Revolution identifizierte. Für ihn war mit dieser Revolution die Menschheit in ihre eigentliche

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Philosophiegeschichtliche Zusammenhänge. Manfred Buhr

Epoche eingetreten. Deshalb ist sie für ihn der Menschheit ureigenstes Anliegen. Und deshalb schrieb Fichte über diese Revolution als einem "reichen Gemälde über den großen Text: Menschenrecht und Menschenwerth" 8 • In seiner ersten, 1793 erschienenen Revolutionsschrift Zurückforderung der Denk· freiheitvon den Fürsten Europens, die sie bisher unterdrückten wirft Fichte den Gewal· ten der Zeit die folgenden bekennenden Sätze hin: "Die Zeiten der Barbarei sind vorbei, ihr Völker, wo man euch im Namen Gottes anzukündigen wagte, ihr seyet Heerden Vieh, die Gott deswegen auf die Erde gesetzt habe, um einen Dutzend Göttersöhnen zum Tragen ihrer Lasten, zu Knechten und Mägden ihrer Bequemlichkeit, und endlich zum Abschlachten zu dienen; daß Gott seinunbezweifeltes Eigenthumsrecht über euch an diese übertragen habe, und daß sie Kraft eines göttlichen Rechts, und als seine Stell· vertreter, euch für eure Sünden peinigten: ihr wißt es, oder könnt euch davon überzeugen, wenn ihr's noch nicht wißt, daß ihr selbst Gottes Eigenthum nicht seyd, sondern daß er euch sein göttliches Siegel, niemanden anzugehören, als euch selbst, mit der Freiheit tief in eure Brust eingeprägt hat. " 9 Und in der zweiten, ebenfalls 1793 erschienenen Revolutionsschrift Beitrag zur Be· richtigung der Urtheile des Publikums über die französische Revolution ist ihm die Revolution "eine scharfe Prüfung der Köpfe und der Herzen". Im Zusammenhang: "Der Wink der Zeiten ist im allgemeinen nicht unbemerkt geblieben. Dinge sind zum Ge· spräch des Tages geworden, an die man vorher nicht dachte. Unterhaltungen über Menschenrechte, über Freiheit und Gleichheit, über die Heiligkeit der Verträge, der Eidschwüre, über die Gründe und die Grenzen der Rechte eines Königs lösen zuweilen in glänzenden und glanzlosen Zirkeln die Gespräche von neuen Moden und alten Abentheuern ab. Man fängt an zu lernen. Aber das aufgestellte Gemälde dient nicht bloß zum Unterrichte; es wird zugleich zu einer scharfen Prüfung der Köpfe und der Herzen." 10 Soweit Fichte 1793. 1795, genau drei Jahre nach dem Erscheinen der Revolutionsschriften, bringt Fichte seine Philosophie direkt mit der Französischen Revolution in Zusammenhang. In einem Brief lesen wir: "Mein System ist das erste System der Freiheit; wie jene Nation [die französische) von den äußern Ketten den Menschen losreist, reist mein System ihn von den Fesseln der Dinge an sich, des äußern Einflußes los, die in allen bisherigen Systemen, selbst in dem Kantischen mehr oder weniger um ihn geschlagen sind, u. stellt ihn in seinem ersten Grundsatze als selbständiges Wesen hin. Es ist in den Jahren, da sie mit äußerer Kraft die politische Freiheit erkämpfte, durch innern Kampf mit mir selbst, mit allen eingewurzelten Vorurtheilen entstanden; nicht ohne ihr Zuthun; ihr valeur war, der mich noch höher stimmte, u. jene Energie in mir entwikelte, die dazu gehört, um dies zu faßen. Indem ich über ihre Revolution schrieb, kamen mir gleichsam zur Belohnung die ersten Winke u. Ahndungen dieses Systems." 11 In der Tat. Fichtes Verhältnis zur Französischen Revolution kann in seiner Bedeutung für die Entwicklung seiner Philosophie nicht hoch genug eingeschätzt werden. Hätte Fichte diesen Sachverhalt nicht selber zur Sprache gebracht, die Geschichtsschreibung müßte diesen nachzeichnen, um Fichte als einen der großartigsten und konsequentesten bürgerlichen Denker seiner Epoche darstellen zu können.

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Il.

Fichtes Philosophie ist oft als Hypostasierung des menschlichen Denkens bezeichnet worden. Zweifellos besteht diese Feststellung zu Recht und soll von uns nicht bestritten werden. Diese erweist sich vor allem dann als gerechtfertigt, wenn sie innerhalb des erkenntnistheoretischen Bereichs getroffen wird. Eine Philosophie, die in der Behauptung gipfelt, daß der Außenwelt kein wirkliches Sein zukommt, daß nur das Ich wirklich existiert, muß in der Tat als eine Übertreibung der Funktionen des menschlichen Denkens bezeichnet werden. Allein, mit einer solchen Feststellung ist die Philosophie Fichtes noch nicht ausgemessen. Zunächst ist das eben Gesagte zu ergänzen: Für Fichte existiert das Ich nicht als bloßes Ich schon wirklich, sondern nur, sofern es handelt. Fichtes Ich ist ein TatIch und sucht sein Kriterium im Handeln. Gerade deshalb aber ist es notwendig, Fichtes Philosophie nicht bloß und isoliert erkenntnistheoretisch zu beurteilen, sondern diese im Rahmen der gesellschaftlich-historischen Gesamtproblematik der Zeit zu sehen. In einem Vergleich von Fichte und Berkeley ist in der Literatur mit Recht hervorgehoben worden, daß "das Fichtesche ,Ich'[ ... ] nicht dem Klassenkompromiß zwischen Bourgeoisie und Feudaladel entsprang, wie bei Berkeley, sondern [ ... ] der übersteigerte [ ... ] Ausdruck der schwachen Klassenposition [war], in der sich die durch die feudalistische Zersplitterung Deutschlands selbst zersplitterte Bourgeoisie befand". Denn "Fichte hielt seine Philosophie mit ihrer idealistischen Verkehrung des Verhältnisses zwischen Theorie und Praxis für die einzige aus apriorischer Setzung abzuleitende Betätigungsweise ,praktischer Vernunft', die es ermöglichen sollte, den V ervollkommnungsprozeß der menschlichen Gesellschaft auf den Weg zu bringen und in Gang zu halten [ ... ] Sein Bestreben, die Praxisbezogenheit seiner Wissenschaftslehre sicherzustellen, war unermüdlich" 12 • Das Bestreben, Theorie und Praxis zu vermitteln, die Theorie praktisch und die Praxis theoretisch werden zu lassen, hatte bei Fichte eben die Tatsache zur Grundlage, daß dieser wie kaum ein anderer deutscher Denker der Zeit die Französische Revolution als Problem in seine philosophischen Reflexionen einbrachte. Fichte versuchte, die durch die Französische Revolution in Gang gebrachten historisch-politischen Fragen in philosophische Kategorien umzusetzen. Diese Einsicht ist für eine Einschätzung der Philosophie Fichtes grundlegend. Damit wird von uns weder die Bedeutung des vorgefundenen Gedankenmaterials (vor allem die Philosophie Kants) noch Fichtes Charakter für die Herausbildung und Entwicklung seiner Philosophie in Abrede gestellt. Wir unterstreichen damit lediglich den gesellschaftlich-historischen Grundtatbestand der Epoche, der allerdings für Fichtes Denken -durch eigene Aussagen durchaus untermauert -besonders bedeutungsvoll ist. Durch die Französische Revolution stellte sich vor allem ein Problem energisch der philosophischen Reflexion: Wie ist geschichtliche Entwicklung, wie ist die Ablösung einer historisch gewordenen Form der Gesellschaft durch eine andere überhaupt möglich, und wie kann diese philosophisch erklärt werden? Nach dem Vorgang von Kant stehen sich in diesem Zusammenhang zwei Erscheinungen schroff gegenüber, deren Vermittlung unmöglich zu sein scheint: auf der einen Seite die objektiven, vom menschlichen Bewußtsein und Willen unabhängigen Gesetze

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des Geschichtsprozesses -auf der anderen Seite die ihn durchbrechende Sphäre menschlichen Handelns, menschlicher Aktivität und Tätigkeit. In der philosophischen Sprache der Zeit formuliert: Die Erklärung (Aufhebung, Vermittlung) des GegensatzesvonNotwendigkeit (objektive Gesetze des Geschichtsprozesses) und Freiheit (menschliche Aktivität, Tätigkeit) wurde für Fichte im Anschluß an Kant, vor allem aber im Hinblick auf die Französische Revolution zum Problem seiner philosophischen Bemühungen. Kant hatte das Problem Freiheit und Notwendigkeit in seiner Philosophie dadurch zu lösen versucht, daß er zwei Seinssphären konstruierte, die Sphäre der (unerkennbaren) Dinge an sich und die Sphäre der (erkennbaren) Erscheinungen. Analog der Zweiteilung der objektiven Realität in der theoretischen Philosophie zerlegt Kant in der praktischen Philosophie auch den Menschen in zwei Wesen: Als empirisches oder Sinnenwesen unterliegt der Mensch der strengen Naturnotwendigkeit, als intelligibles oder geistiges Wesen ist tr der Freiheit teilhaftig. Dieses Ergebnis der Kantschen Philosophie war eine ihrer Hauptschwächen, die Fichte ziemlich früh erkannte und zu eliminieren versuchte. Er unternimmt es, den von Kant behaupteten Gegensatz zwischen dem empirischen und intelligiblen Charakter des Menschen aufzuheben, indem er die Notwendigkeit durch die Freiheit bestimmt, diese der Freiheit unterordnet. Dabei läßt er die bei Kant vorhandene durchgängige Orientierung an der mathematischen Naturwissenschaft fallen und orientiert sich an den Problemen der menschlichen Gesellschaft, die er vornehmlich als moralische Probleme, als solche der sittlichen Tat und Pflicht auffaßt. Nun wäre es eigentlich naheliegend, daß Fichte, weil er die objektive Realität aus dem Ich erzeugt sein läßt, zur Leugnung der natürlichen und gesellschaftlichen Gesetzmäßigkeiten kommt. Doch ist das nicht der Fall. Fichte erweist sich im Prozeß des Angehens der Problematik von Freiheit und Notwendigkeit als ein hervorragender dialektischer Denker. Der Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit wird von Fichte unter der Voraussetzung der Notwendigkeit zu lösen versucht. Erst durch die Anerkennung strenger Notwendigkeit (Gesetzmäßigkeit) in Natur und Gesellschaft (Geschichte) wird der Mensch frei, erst auf der Grundlage der Notwendigkeit gelangt er zur Freiheit, seinem höchsten Ziel und Zweck. In diesem Zusammenhang stellt Fichte fest: "In jedem Momente ihrer Dauer ist die Natur ein zusammenhängendes Ganze; in jedem Momente mussjeder einzelne Theil derselben so sein, wie er ist, weil alle übrigen sind, wie sie sind; und du könntest kein Sandkömehen von seiner Stelle verrücken, ohne dadurch, vielleicht unsichtbar für deine Augen, durch alle Theile des unermesslichen Ganzen hindurch etwas zu verändern. Aber jeder Moment dieser Dauer ist bestimmt durch alle abgelaufenen Momente, und wird bestimmen alle künftigen Momente; und du kannst in dem gegenwärtigen keines Sandkornes Lage anders denken, als sie ist, ohne dass du genöthigt würdest, die ganze Vergangenheit ins Unbestimmte herab dir anders zu denken." Und weiter und noch deutlicher erklärt Fichte: "Ich bin, der ich bin, weil in diesem Zusammenhange des Naturganzen nur ein solcher und schlechthin kein anderer möglich war; und ein Geist, der das Innere der Natur vollkommen übersähe, würde aus der Erkenntnis eines einzigen Menschen bestimmt angeben können, welche Menschen von jeher gewesen, und welche zu jeder Zeit seyn würden; in Einer Person würde er alle wirklichen Personen erkennen. Dieser mein Zusammenhang mit dem Naturganzen ist es denn, der da bestimmt, alles was ich war, was ich bin, und was ich sein werde: und

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derselbe Geist würde aus jedem möglichen Momente meines Daseyns unfehlbar folgern können, was ich vor demselben gewesen sey, und was ich nach demselben seyn werde. Alles, was ich je bin und werde, bin ich und werde ich schlechthin nothwendig, und es ist unmöglich, daß ich etwas anderes sey." 13 Die Anerkennung der Notwendigkeit in einem universalen Sinne ist so für Fichte Voraussetzung der Freiheit. Fichte kommt noch zu einem anderen Ergebnis, das man auf Grund seiner Lehre, daß das Ich das Nicht-Ich setzt, nicht erwartet. Dieses unterstreicht, wie ernst es Fichte mit der Feststellung zu tun ist, .,dass wir mit der Erfahrung unser Leben anfangen müssen", weil nur dieser Umstand "den einzig möglichen Uebergang zum geistigen Leben" garantiert 14 • Nach Fichte muß man sich nämlich vor allem von dem verhängnisvollen Irrtum, dem noch Kant unterlegen ist, frei machen, daß der Mensch als Individuum zur Freiheit kommen könne. Zu wirklicher Freiheit kommt der Mensch nur durch die Gesellschaft, durch die Gattung, wie Fichte sagt. Und innerhalb der Gesellschaft ist der Mensch vorrangig bestimmt, zu handeln. Deshalb gilt: "Wir handeln nicht, weil wir erkennen, sondern wir erkennen, weil wir zu handeln bestimmt sind; die praktische Vernunft ist die Wurzel aller Vernunft." 15 Und in diesem Sinne gilt dann weiter, "dass, wenn man die Sache nach der Wahrheit und wie sie an sich ist ansehe, das Individuum gar nicht existire, da es nichts gelten, sondern zu Grunde gehen solle; dagegen die Gattung allein existire, indem sie allein als existent betrachtet werden solle" 16 • Dergestalt ist für Fichte Freiheit die Anerkennung der natürlichen und gesellschaftlichen Notwendigkeit (Gesetzmäßigkeit) durch den Menschen. Diese Einsicht des Menschen in die natürliche und gesellschaftliche Notwendigkeit will Fichte nicht passiv genommen wissen, sondern aktiv, das heißt: auf gesellschaftliches Handeln oder auf Handeln innerhalb der Gesellschaft hin ausgerichtet. Es kann rückblickend gefragt werden, ob der von Fichte proklamierte subjektividealistische Ansatz in der bei ihm vorliegenden Form notwendig war- ob es notwendig war, die gesamte Außenwelt ins Bewußtsein zu verlegen, um den bei Kant ungelöst gebliebenen Gegensatz von Freiheit und Notwendigkeit zu überbrücken. Ideengeschichtlich hatte Fichte kaum eine andere Wahl. Indem er von Kant ausging, stand er auf der Höhe der Zeit. Ein Zurückgehen auf vorkantische Lösungen war nicht möglich, ein Stehenbleiben auf dem Standpunkt Kants ebensowenig. Wir unterstreichen die in der Literatur oft getroffene Feststellung: "Die Tendenz hinsichtlich der Fortentwicklung der Kantschen Philosophie mußte zwangsläufig auf eine Überwindung des sich bei Kant so schroff offenbarenden Gegensatzes zwischen der Erscheinungswelt [ ... ] und der Welt der Dinge an sich[ ... ] hinauslaufen. Allerdings war eine Anknüpfung an vorkantische Anschauungen nicht gut möglich [ ... ] Kant war es gewesen, der sehr tiefgründig in seiner ,Kritik der reinen Vernunft' die Schwächen dieser [der vorhergehenden] Systeme aufgedeckt hatte[ ... ]" 17 • So war Fichte in der Tat gezwungen, von Kant auszugehen, konnte aber unmöglich bei ihm stehenbleiben, und zwar um soweniger, als er seine Theorie im Hinblick auf die gesellschaftliche Dynamik der Zeit entwickelte. Das Verhältnis Kant--Fichte ist das von vorrevolutionärem und revolutionärem Stadium der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn Marx einmal die Philosophie Kants als "die deutsche Theorie der Französischen Revolution" bezeichnet hat 18 , so trifft das in einem viel weiteren Sinne auf Fichte zu. Fichte entwickelte direkt eine Theorie der

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bürgerlichen Revolution als System des geschlossenen Vernunftstaates, entwirft gleichsam einen Katalog der "natürlichen Rechte" des Menschen als Citoyen in der bürgerlichen Gesellschaft. Die Möglichkeit ihrer Verwirklichung konnte er nur dadurch versprechen, daß er das Ich des Citoyen absolut setzte. Daß Fichte damit den geschichtlichen Sollstand übersprang und überspringen mußte, liegt auf der Hand. Aber auch die Revolution selber hatte im Jakobinerstaat den geschichtlichen Sollstand übersprungen 19 • Sie wurde durch den Thermidor auf ihren Normalwert zurückgeführt. Die Zurückführung Fichtes auf den Normalwert unternahm Hege! als Denker des nachrevolutionären Stadiums. Mit anderen Worten: So wie die historische Entwicklung in Frankreich mit dem Thermidor auf den geschichtlichen Sollstand zurücksprang, führte Hege! die Theorie, die mit Fichte über diesen hinausgegangen war, wieder auf ihren Normalwert zurückfreilich unter Preisgabe ihrer revolutionären Inhalte: Der Katalog der "natürlichen Rechte", das System des geschlossenen Vernunftstaates Fichtes, wird von Hege! ersetzt durch die Analyse der Formen und Inhalte des ,,geistigen Tierreichs" (= der kapitalistischen Gesellschaftsordnung). Es ist nicht zufällig, daß an die Stelle der von Kant und noch mehr von Fichte geübten Rousseau-Interpretation bei Hege! historische und ökonomische Studien treten, obwohl auch er dem Genfer Citoyen verbunden bleibt. Die angedeutete Problematik muß im Zusammenhang mit Marx' Einschätzung der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie gesehen werden. "Der Hauptmangel", so stellt Marx in den Thesen über Feuerbach fest, "der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus - den Feuerbachsehen mit eingerechnet - ist, daß der Gegenstand, die Wirklichkeit, die Sinnlichkeit, nur unter der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als menschlich sinnliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv. Daher geschah es, daß die tätige Seite, im Gegensatz zum Materialismus, vom Idealismus entwickelt wurde - aber nur abstrakt, da der Idealismus natürlich die wirkliche, sinnliche Tätigkeit als solche nicht kennt." 20 Marx hebt die Entwicklung der "tätigen Seite" als bedeutungsvolles Moment der klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie hervor. Der große Denkprozeß der Herausbildung der "tätigen Seite" aber wird von Kant eingeleitet und von Fichte betont fortgesetzt, ein Grundanliegen der bürgerlichen Philosophie seit Galilei, Descartes und Hobbes aufnehmend und weiterbildend. Dieser ist ideologischer Ausdruck der ökonomischen - und jetzt auch politischen - Aktivität und Tätigkeit der Bourgeoisie als Klasse, des Sich-Freisetzens dieser Klasse während der unmittelbaren Vorbereitung ihrer großen Revolution und in dieser selber. Diese Problematik muß im Auge behalten werden, wenn Fichtes Obersteigerung des Subjekts nicht nur be- oder gar verurteilt, sondern auf ihren historischen Sinn hingeprüft werden soll. Stellt man die Frage nach dem historischen Sinn von Fichtes verstiegener Ich-Konzeption - und eine solche Fragestellung ist nur unter Berücksichtigung der gesellschaftlich-historischen Gesamtproblematik der Epoche möglich -, dann zeigt sich, daß sie die einzig mögliche Form philosophisch-reflektorischer Reaktion auf das Gesamtproblem der Zeit und unter den Bedingungen dieser Zeit, des akuten Stadiums der Revolution, vom Standpunkt jener gesellschaftlichen Kräfte in Deutschland darstellt, deren Anwalt Fichte war. Es muß gesehen werden, daß es Fichte mit seiner Philosophie immer wieder darum zu tun war, seine von Rousseau herkommenden und an der revolutionär-demokrati-

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sehen Phase der Französischen Revolution, dem J akobinerstaat, ausgerichteten bürgerlich-demokratischen Ideale in der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu realisieren. Insofern sollte Fichtes philosophisches System im engeren Sinne, die Wissenschaftslehre, nicht in erster Linie (oder mindestens: nicht nur) die Ausführung einerneuen Erkenntnistheorie oder Metaphysik sein, sondern die (oder: auch) theoretische Begründung seiner demokratischen wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Anschauungen. Daß Fichte -rückblickend betrachtet - diese Begründung nicht gelang, ist offenkundig. Es war die Tragik Fichtes, daß seiner richtigen Erkenntnis von der Notwendigkeit einer bürgerlichen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland keine breite bürgerlich-revolutionäre Bewegung korrespondierte, auf die er sich hätte stützen können. Was Fichte suchte und erhoffte, schlug sich so in einer Theorie nieder, der das gesellschaftlich-praktische Korrektiv fehlte und die so ihren Schöpfer zu idealistisch-verstiegenen Schlußfolgerungen verleitete.

III.

Das eben Behauptete läßt sich durch einen Vergleich der Positionen von Fichte und Hege! untermauern. Sowohl Fichte als auch Hege! kommen im Verlauf ihrer Entwicklung, und zwar jeder jeweils ziemlich früh (Fichte bestimmt I 793; Regel spätestens um I800), zu der Einsicht von der welthistorischen Notwendigkeit einer bürgerlichen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland. Diese Einsicht ist für die Entfaltung und Entwicklung des Denkens von Fichte und Hege! bestimmend. Inhaltlich werde beide Denker an dieser Einsicht -jeder auf seine Art - bis an ihr Lebensende festhalten. Als Beleg für unsere These zwei Textstellen: Fichte verlangt I 793 mit Blick auf die Französische Revolution die "politische Freiheit", nämlich das "Recht, kein Gesetz anzuerkennen, als welches man sich selbst gab". Und als erstes aller Rechte formuliert Fichte betont: ,Jeder Mensch muß leben: Das ist sein unveräußerliches Menschenrecht." 21 Regel schreibt unter dem 2. November I800 an Schelling: "In meiner wissenschaftlichen Bildung, die von untergeordneten Bedürfnissen der Menschen anfing, mußte ich zur Wissenschaft vorgetrieben werden, und das Ideal desjünglingsalters mußte sich zur Reflexionsform, in ein System zugleich verwandeln; ich frage mich jetzt, während ich noch damit beschäftigt bin, welche Rückkehr zum Eingreifen in das Leben der Menschen zu finden ist. " 22 Von diesem Bekenntnis Hegels führt ein gerader Weg zur Phänomenologie des Geistes und zur weiteren Ausgestaltung seiner Philosophie. Sieht man in Hegels Jugendentwicklung die Genesis der Phänomenologie, gleichsam ihren Schlüssel, dann erscheint sie als der großangelegte Versuch, die um 1800 gewonnene Erkenntnis von der welthistorischen Notwendigkeit einer bürgerlichen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse Deutschlands theoretisch-philosophisch zu begründen. Nur von diesem Aspekt her ist unseres Erachtens der tiefere Sinn jener Sätze Hegels aus der Selbstanzeige der Phänomenologie in der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung zu verstehen, daß das Werk den auf den "ersten Blick sich als Chaos darbietenden Reichtum der Erscheinungen des Geistes [ . . . ] in eine wissenschaftliche Ordnung gebracht [habe], welche

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sie nach ihrer Notwendigkeit darstellt, in der die unvollkommenen sich auflösen und in höhere übergehen, welche ihre nächste Wahrheit sind" 23 • Die Phänomenologie ist in der Tat die theoretisch-philosophische Fassung jener von der gesamten klassischen bürgerlichen deutschen Philosophie und Literatur vertretenen und durch die Französische Revolution praktisch bestätigten Th~:se von der kontinuierlichen Aufwärts- und Höher· entwicklung des Menschengeschlechts. Eine Aufwärts- und Höherentwicklung, die sich trotz aller individuellen Tragödien durchsetzt und in letzter Instanz nicht nur dem Menschengeschlecht insgesamt, sondern auch jedem Individuum eine mit Optimismus erfüllte Perspektive eröffnet. Innerhalb der gesamten klassischen bürgerlichen deut· sehen Philosophie und Literatur hat Hege! diese These in seiner Philosophie, vor allem in der Phänomenologie des Geistes, am tiefsten und konsequentesten ausgesprochen. Hege! war dazu vor allem in der Lage, weil er ,.in seiner Darstellung der organischen Weltentwicklung [... ] den Hauptpunkt nicht auf die Zukunft oder auf die Vergangenheit [legte], sondern auf die Gegenwart" 24 • Hege! hat den Ehrgeiz, das theoretische Gewissen seiner Zeit - allerdings auch wieder nur dieses -- zu sein. Durch diese Beschränkung auf das, ,.was ist", und durch das daraus resultierende Begreifen-Wollen kam er zwar zu tieferen Einsichten in den historischen Prozeß als Fichte, verfiel aber gleichzeitig einem Rechtfertigungsstreben, das sich in seinen reiferen Jahren vor allem in seinem gesellschaftspolitischen Denken auswirkte und ihm sehr bald den Vorwurf eines konservativen Denkers eintrug. Es war kein historischer Zufall, daß Hege! genau um die Jahrhundertwende zu der für seine weitere philosophische Entwicklung entscheidenden und folgenreichen Erkenntnis von der welthistorischen Notwendigkeit einer bürgerlichen Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland kam. Diese Erkenntnis wurde nahegelegt von der sich immer deutlicher abzeichnenden Verlagerung des Kräfteverhältnisses von Feudalismus und Kapitalismus in Europa zugunsten der kapitalistischen Entwicklung. Die Jahre um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert bedeuten so nicht nurfür Hegels Entwicklung einen Einschnitt, sondern stellen vor allem eine sichtbare Zäsur in politischer Hinsicht dar, auf deren Basis die Hegeische Fragesteliung erwächst 25 • Um die Jahrhundertwende, genau im Jahre 1800, erschien auch Der geschlossene Handelsstaat von Fichte. Der geschlossene Handelsstaat ist Fichtes vielleicht zwiespältigstes Werk. Auf der einen Seite stellt es ein System kleinbürgerlicher Diktatur zur Durchsetzung einer Gesellschaft kleiner Eigentümer mit maximaler Vermögensgleichheit dar 26 , trägt zugleich starken plebejischen Einschlag und zielt dergestalt in Richtung Babeuf27 . Trotzdem wird der bürgerliche Spiegel im Geschlossenen Handelsstaat an keiner Stelle gebrochen. Fichte verkehrt lediglich die wirklichen gesellschaftlichen Verhältnisse, indem er die ökonomische Basis in die dienende Rolle gegenüber einer erhofften Staatsform versetzt-- ganz gleich der Verkehrung der Beziehungen von Kapitalismus und Demokratie in der Wirtschafts- und Sozialpolitik desJakobinerstaates 28 • Auf der anderen Seite ist ein Zug zur Resignation dem Geschlossenen Handelsstaat unverkennbar eigen. Das von Rousseau herkommende Gleichheitsideal des progressiven Kleinbürgertums wird nicht mehr mit jener bürgerlich-antifeudalen Konsequenz vertreten wie in den Revolutionsschriften, im Naturrecht und in der Sittenlehre 29 • Erst im Zusammenhang mit dem Kampf gegen die Napoleonische Fremdherrschaft wird sich Fichte wieder zur Höhe kraftvoller, in den Lauf der Geschichte eingreifenwollender Aussagen aufschwingen. Und in dieser Zeit wird er auch wieder zu jener Er-

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kenntnis vorstoßen, daß es ein Zurückgehen hinter den durch die Französische Revolution erreichten Zustand der gesellschaftlichen Entwicklung, welthistorisch gesehen, nicht mehr geben kann. Dann allerdings wird Fichte viel schärfer und radikaler formulieren und ··-vor allem -- fordern als Hege!. Man kann Fichte einen realistischen Blick für historische Gegebenheiten nicht absprechen. Aber dieser realistische Blick, der seine Werke bis 1798 und nach 1806/07 auszeichnet, ist in der dazwischen liegenden Zeit getrübt. Der Grund hierfür sind weniger die persönlichen Enttäuschungen Fichtes im Zusammenhang mit dem "Atheismusstreit" als vielmehr sein Nichtverstehen der französischen Entwicklung nach dem Thermidor. Demgegenüber ist in den Arbeiten Hegels um 1800 und danach eigentümlich, daß sie den Veränderungen im europäischen Kräfteverhältnis von Feudalismus und Kapitalismus realistisch Rechnung tragen. Und nicht nur das. Hege! beginnt langsam, die nachthermidorianische Entwicklung 30 als historisch notwendiges Moment der :Französischen Revolution selbst zu begreifen 31 • Hege! war einer der wenigen und vielleicht der erste deutsche Denker, der zu dieser in Obereinstimmung mit dem tatsächlichen Geschichtsverlauf stehenden Einsicht kam und aus ihr die geschichtsphilosophischen Konsequenzen zog. In diesen Fragenkomplex gehört auch das in der Literatur viel strapazierte Thema des Verhältnisses von Hege! zu Napoleon. Weil Hege! die nachthermidorianische Entwicklung historisch angemessen einschätzte, konnte er - und das wieder in Ubereinstimmung mit den geschichtlichen Tatsachen - in Napoleon den Bewahrer des durch die Französische Revolution erreichten Gesellschaftszustandes sehen. Infolgedessen erhielt er den Glauben an die Sendung seines Helden viellänger aufrecht als die meisten seiner deutschen Zeitgenossen. In diesem Punkt verkannte Hege! allerdings die spezifische historische Problemlage in Deutschland, die Fichte nach 1806/07 weitaus adäquater erfaßte. Zum Unterschied von Hege! erkannte Fichte nach dem Krieg von 1806/ 07, daß das bürgerliche Frankreich infolge der Eroberungspolitik Napoleons seine bis dahin fortschrittliche Rolle den feudalen europäischen Staaten gegenüber zu spielen aufgehört hatte. Das führte dazu, daß Fichte der augenblicklichen Forderung des Tages in Deutschland viel entschiedener nachkam als Hege!, in der Erkenntnis des welthistorischen Prozesses, der sich vor seinen Augen vollzog, jedoch hinter Hege! zurückblieb. Fichte betrachtete die mit dem Thermidor beginnende Entwicklung und damit das Problem Napoleon weniger mit geschichtsphilosophischen als vielmehr mit moralischen Kategorien. Fichte sah in Napoleon den Exponenten des Verrats an den Prinzipien der Französischen Revolution, was für ihn immer - als Sprecher der kleinbürgerlichen Schichten - Verrat an dem von Rousseau herkommenden Gleichheitsideal, wie er es durch die Wirtschafts- und Sozialpolitik des Jakobinerstaates in Gang gesetzt gesehen hatte, bedeutete. Die Ge~chichte nahm jedoch mit dem Thermidor eine Korrektur ihres eigenen Verlaufs vor, der mit moralischen Kategorien, wie es Fichte versuchte, nicht beizukommen war. Hegels Denk-Einsatz, die geschichtliche Wirklichkeit der Zeit, das heißt: das, "was ist", war für eine adäquate Erfassung des mit dem Thermidor sich vollziehenden historischen Vorgangs weitaus besser geeignet. Und so kam es, daß sich Hege! und nicht Fichte im Laufe der Zeit eine mehr oder minder klare Vorstellung vom Inhalt der nach-

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thermidorianischen Entwicklung bildete, deren soziales Wesen Marx später mit folgenden Sätzen umschrieb: "Nach dem Sturz Robespierres beginnt die politische Aufklä· rung, die sich selbst hatte überbieten wollen, die überschwenglich gewesen war, erst sich prosaisch zu verwirklichen. Unter der Regierung des Direktoriums bricht die bür· gerliehe Gesellschaft - die Revolution selbst hatte sie von den feudalen Banden befreit und offiziell anerkannt, so sehr der Terrorismus sie einem antik-politischen Leben aufopfern wollte - in gewaltigen Lebensströmungen hervor. Sturm und Drang nach kommerziellen Unternehmungen, Bereicherungssucht, Taumel des bürgerlichen Lebens, dessen erster Selbstgenuß noch keck, leichtsinnig, frivol, berauschend ist[ ... ) Die bürgerliche Gesellschaft wird positiv repräsentiert durch die Bourgeoisie. Die Bour· geoisie beginnt also ihr Regiment. " 31 Daß mit dem Thermidor die bürgerliche Gesellschaft in die Periode ihrer ungehemmten Entfaltung eingetreten war, davon hatte Hege! eine Ahnung; sie verdichtete sich im Laufe der Zeit zur Erkenntnis, während Fichte die Bedeutung dieser Tatsache verschlossen blieb. Die Beziehungen des Denkens Fichtes zum gesellschaftlich-historischen Prozeß der Zeit, der in der Französischen Revolution seinen sichtbarsten Ausdruck fand, sind für dieses grundlegend und bei seiner Interpretation gebührend zu berücksichtigen. Die Französische Revolution wurde für Fichtes Denken auch deshalb bestimmend, weil dieses von der Philosophie Kants ausging. Dadurch nahm es die revolutionären Inhalte und die revolutionäre Dynamik der klassischen bürgerlichen Philosophie in sich auf. Durch diese Symbiose kam Fichte zu philosophischen Einsichten von eigenständigem Wert. Diese sind durch die fernere philosophische Entwicklung in Deutschland, durch die Philosophien Schellings und/oder Hegels, weder historisch noch systematisch aufgehoben oder eingeholt worden 32 • Dies auch deshalb, weil eine Philosophie, noch dazu eine vom Rang Fichtes, nicht bloßer Historizität anheimfällt, sondern auch für spätere Generationen und Epochen Gegenwart bleibt und deren Denken begleitet. Fichtes Philosophie fordert und verdient in ihrer Größe, aber auch noch in ihren Schwächen ein produktives Verhältnis zu ihr. Was Xavier Tilliette für Schellings Naturphilosophie festhielt, das gilt auch für Fichte: Fichtes Philosophie ist "das Vorbild eines kraftvollen Strebens nach der allgemeinen Erkenntnis des Weltalls und der Hinweis auf eine unumgängliche Aufgabe" 33 •

Anmerkungen l. Wir verlassen damit zunächst den Weg der Rekonstruktion von Fichtes Denken im engeren Sinne, wie er in vorbildlicher Weise von Reinhard Lauth in: Die Entstehung von Schellings Identitätsphilosophie in der Auseinandersetzung mit Fichtes Wissenschaftslehre (:FreiburgfMünchen 1975) oder von Alexis Philonenko in: Die intellektuelle Anschauung bei Fichte (vgl. diesen Band) gegangen worden ist, ohne diesen als nebensächlich zu betrachten oder gar geringzuschätzen. Im Gegenteil. Unser Herangehen an Fichte setzt solche synthetische Analyse, um es so zu bezeichnen und damit von allem "Hinterfragen" und aller bloßen Hermeneutik abzugrenzen, voraus bzw. wäre damit zu unterlegen. 2. Dieter Henrich hat von Fichtes ursprünglicher Einsicht (Frankfurt am Main 1967) gespro· eben. Und er fordert mit Recht die Aufhellung der ,,Motive", die diese ursprüngliche Einsicht "vor· angetrieben haben" (S. 8). Henrich verbleibt jedoch insofern im traditionellen Rahmen bisheriger

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Fichte-Forschung, als er die ursprungliehe Einsicht Fichtes, daß .,sich das ,Selbstbewußtsein', welches die Philosophie schon lange vor ihm als Erkenntnisgrund in Anspruch genommen hatte, nur unter Bedingungen denken läßt, die zuvor nicht beachtet worden waren" (S. 7), in erster Linie hermeneutisch im Zusammenhang mit dem vorangehenden und dem nachfolgenden philosophischen Denken sowie der Entfaltung des Fichteschen Denkens selber sieht. Eine Antwort auf die Frage, warum Fichte das .,Selbstbewußtsein" so und nicht anders gedacht hat, warum er der Tradition Descartes{Kant nur zum Teil folgte und über diese hinausging oder warum Hege! den durch Fichte erreichten Standpunkt zum Teil wieder verließ, vermag Henrich von seinem Ansatz aus nicht zu geben. Eine Antwort darauf zu geben, ist nur unter der Bedingung möglich, daß Fichte -wie vor ihm Descartes oder Kant und nach ihm Hege! - als Denker der bürgerlichen Gesellschaft auf einer bestimmten historischen Stufe ihrer Entwicklung (was nicht identisch mit dem "bewegten Ambiente der Zeit" ist [S. 9) begriffen wird. Dazu gewinnt man den Zugang von Fichte her gesehen allerdings nicht nur von der Wissenschaftslehre im engeren Sinne her. 3. GA III, I (Briefwechsel), S. 193. 4. GA I, 1 (Werke), S. 203. 5. GA III, 1 (Briefwechsel), S. 167. (Hervorh. v. Verf.). Im gleichen Sinne bekennt Fichte in einem Brief vom 5. September 1790 zu Johanna Rahn (GA III, 1, S. 170 f.): .,Ueberhaupt habe ich vor meinem projektvollen Geiste Ruhe gefunden, und ich danke der Vorsehung, die mich kurz vorher, ehe ich die Vereitlung aller meiner Hoffnungen erfahren sollte, in eine Lage versetzte, sie ruhig und mit Freudigkeit zu ertragen. Ich hatte mich nämlich durch eine Veranlassung, die ein bloßes Ohngefähr schien, ganz dem Studium der Kantischen Philosophie hingegeben; einer Philosophie, welche die Einbildungskraft, die bei mir immer sehr mächtig war, zähmt, dem Verstande das Uebergewicht, und dem ganzen Geiste eine unbegreifliche Erhebung über alle irdische Dinge giebt. Ich habe eine edlere Moral angenommen, und anstatt mich mit Dingen außer mir zu beschäftigen, mich mehr mit mir selbst beschäftigt. Dies hat mir eine Ruhe gegeben, die ich noch nie empfunden; ich habe bei einer schwankenden äußern Lage meine seligsten Tage verlebt." 6. GA III, 1 (Briefwechsel), S. 190. 7. Ebenda, S. 193 f. (Hervorh. v. Verf.). 8. GA I, 1 (Werke), S. 203. 9. Ebenda, S. 172. 10. Ebenda, S. 204 f. 11. GA III, 2 (Briefwechsel), S. 298. Wörtlich übereinstimmend schreibt Fichte im April/Mai 1795 an Baggesen (GA 111, 2, S. 300): "Mein System ist das erste System der Freiheit. Wie jene Nation die politischen Feßeln des Menschen zerbrochen hat, so reist das meinige in der Theorie den Menschen los von den Ketten der Dinge an sich, u. ihres Einflusses, die mehr oder weniger in allen bisherigen Systemen ihn banden, u. gibt ihm durch die erhabne Stimmung, die es mittheilt Kraft, sich auch in der Praxis loszureißen. Es ist in den Jahren des Kampfes der Nation um ihre Freiheit durch einen ,frühen' inneren Kampf mit ,alten' eingewurzelten Vorortheilen entstanden; der Anblick ihrer Kraft hat mir die Energie mitgetheilt, die ich dazu bedurfte, u. während (der) Untersuchung u. Verteidigung der Grundsätze, auf die die Französische Revolution aufgebaut ist, haben sich die ersten Grundsätze des Systems in mir zur Klarheit entwikelt." 12. G. Mende, Fichte in Jena, Jena 1962, S. 21 f. 13. SW II, S. 178, 182 f. 14. SW VIII, S. 288. 15. SW II, S. 263. 16. SW VII, S. 37 f. 17. E. Albrecht, Die Beziehungen zwischen Erkenntnistheorie und Sozialkritik im deutschen Idealismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Universität Rostock, l.Jg. (1952), Heft 1, S. 4. 18. Marx{Engels, Werke, Berlin 1958 ff., Bd. 1, S. 80. 19. Ebenda, S. 367. Vgl. W. Krauss: Studien und Aufsätze, Berlin 1959, S. 203. 20. Marx{Engels, Werke, Bd. 3, S. 5. 21. GA I, 1 (Werke), S. 315. 22. Briefe von und an Hege!, hrsg. vonJ. Hoffmeister, Berlin 1970, Bd. I, S. 59 f. 23. Intelligenzblatt der Jenaischen Allgemeinen Literatur-Zeitung vom 28. Oktober 1807. 24. A. Cornu, Karl Marx und Friedrich Engels, Leben und Werk, Berlin 1954, Bd. 1, S. 39. 25.J. Streisand, Deutschland von 1789 bis 1815, Berlin 1961.

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26. Im Fichte-Nachlaß der Deutschen Staatsbibliothek (Ms. VI, I, Varia 7) befinden sich Reflexionen "Ueber StaatsWirthschaft", die offenbar Vorarbeiten zum "geschlossenen Handelsstaat" darstellen. In diesen kommt Fichte immer wieder auf das Problem der maximalen Vermögensgleichheit zurück. Etwa: ,,Arbeiten für andere, Abgaben. Nur der St~t ~oll welche ziehen [... )." "Ein Eigenthum des Bodens im eigentlichen Sinne sey unmöglich; denn der Staat soll jeden Bearbeiter verbinden können, alles, was ihm von seinem eigenen proportionirten Unterhalte übrig ist, abzugeben. Daher auch kein Ankauf. Es ist dies eine Betrügerei [... )." "Da es einen Gesammtzweck der Nation giebt, so kann es dem einzelnen nicht frei gestellt werden, inwiefern er denselben befördern wolle, oder nicht (falls er nur etwa auf die V ortheile Verzicht thut), sondern er muß denselben aus allen seinen Kräften befördern, u. vom Staate dazu angehalten werden. - Wiederum muß ihm sein Theil der V ortheile zukommen. (Versorgung der Unvermögenden als Pflicht). Es ist daher die stete bleibende Aufgabe: den Wohlstand des Ganzen auszumitteln, u. den Theil, der davon auf jeden kommt( ... ).'' Der entzifferte Text wurde uns freundlicherweise von R. Lauth zur Verfügung gestellt. 27. W. Markov, Babeuf in Deut.fchland, in: Literaturgeschichte als geschichtlicher Auftrag, hrsg. von W. Bahner, Berlin 1961, S. 61 ff. 28. W. Markov, Grenzen des fakobinerstaates, in: Grundpositionen der französischen Aufklärung, Berlin 1955, S. 271. 29.). Streisand, Fichte und die Geschichte der deutschen Nation, in: Wissen und Gewissen. Beiträge zum 200. Geburtstag johann Gottlieb Fichtes, hrsg. von M. Buhr, Berlin 1962, S. 46. 30. In der Jeaner Realphilosophie sagt Hege! über den Sturz Robespierres: "Seine Kraft hat ihn verlassen, weil die Notwendigkeit ihn verlassen.'' (G.W .F. Hegel, Jenenser Realphilosophie, hrsg. vonJ. Hoffmeister, Leipzig 1930, Bd. 2, S. 248.) 3 I. Marx/Engels, Werke, Bd. 2, S. 130. 32. Hansjürgen Verweyen (Recht und Sittlichkeit in j. G. Fichtes Gesellschaftslehre, Freiburg/ München 1975) verweist auf Fichtes Entfaltung um und nach 1800 als eines Knotenpunktes nicht eingeholter philosophischer Entwicklung: "Das Wissen begreift in unbedingter Selbständigkeit seine absolute Einheit und damit zugleich die Prinzipien seines gesamten Systems, indem es sich als Erscheinung eines absoluten und in dieser Absolutheit begreifbaren, hinsichtlich seiner inneren Qualität aber theoretisch nicht mehr zu erfassenden, sondern nur in der (den Prinzipien wirklichen Wissens konsequenten) Praxis zu erfahrenden Seins versteht. Es ist damit die absolute Einheit des Wissens gewahrt wie seine ursprüngliche Differenz geklärt: Das gesamte Dasein oder die Erscheinung ist das eine Bild des absoluten Seins, aber ein Bild, das sich selbst als Bild weiß, ein "Ich". Außerhalb des "absoluten Ich" (des "Bildes des Bildes des Absoluten") gibt es keine wirkliche Erscheinung (kein Bild des Absoluten), aber "absolutes Ich" ist es eben nur als dieses Bild des Bildes, nicht etwa als für sich bestehendes Sein. Solange es sein unmittelbarstes Bild (das objektive Sein der Dinge)wie der Realismus -- oder sich selbst (das Bild dieses Bildes) -wie der Idealismus-· als in sich ruhendes Sein, nicht als Bedingungen der Möglichkeit der Erscheinung des Absoluten auffaßt, verharrt es im bloßen Schein.'' (S. 249 f.) 33. X. Tilliette, Schellings Wiederkehr?, in: Schelling. Einführung in seine Philosophie, hrsg. von H. M. Baumgartner, Freiburg/München 1975, S. 171.

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]uan Cruz-Cruz Historische Individualität. Die Einführung einer Kategorie Fichtes in die Badische Schule Einleitung Es ist bedauerlich, daß die aktuelle Bibliographie über die Badische Schule so spärlich ist. Noch bedauerlicher ist es aber, feststellen zu müssen, daß in dieser knappen Bibliographie ciie Wurzel der Denker nicht ernsthaft berücksichtigt wird, die sich, wie Rickert, öfters und sehr klar auf die Fichteschen Ausführungen beziehen. Um ein 3eispiel anzuführen, möchte ich das Buch von Hermann Seidel über Heinrich Rickert zitieren, in dem sich nur eine Zeile auf Fichte bezieht, wobei er nur ganz vage andeutet: "Dem praktischen Idealismus Fichtes und dessen Freiheitslehre stand Rickert innerlich nahe"1. Wenn man aber die Philosophie der Vertreter der Badischen Schule (Windelband, Bauch, Rickert, Lask unter anderen) gründlicher in Augenschein nimmt, dann kann man nicht von einem Kapitel absehen, das den Einfluß von Fichte genauer untersucht. Lask untersucht in seinem verdienstvollen Buch Fichtes Idealismus und die Geschichte die geschichtliche Ansicht der Individualität bei Fichte, wobei er ausdrücklich feststellt, daß Windelband und Rickert in ihm den Wunsch wachgerufen haben, "die Ansätze einer logischen Erfassung des Historischen auch in der früheren Philosophie zu verfolgen" 2 • Rickert riet sogar: um ein für allemal zu verstehen, daß sich das Bewertbare nicht nur in der Form des Generellen darstellt, müsse man Lasks Buch über Fichte berücksichtigen, wo mit Nachdruck hervorgehoben wird, daß die Geschichte immer von individuellen Sinngebilden spricht 3 • Schon 1905 zeigt Windelband treffend auf, daß der Kern der geschichtlichen Ansicht der Individualität in Fichte von Rickert und Lask klar erkannt worden war4 . Zwanzig Jahre später, 1925, bestätigt Bruno Bauch entschlossen, wobei er sich auf die Beziehung des Individuums mit der Gesellschaft bezieht: "Wirklich in seiner ganzen Tiefe und aus Fichtes tiefsten philosophischen Grundüberzeugungen heraus scheint mir das Problem doch erst Rickert in seiner in Logos erschienenen Abhandlung über Fichtes Sozialismus erfaßt zu haben. Er hat gezeigt, daß ( ... ] der ethische Sozialismus nicht zu denken ist ohne die Autonomie und freie Tat der Persönlichkeit, die sich immer nur darstellen kann in der besonderen Bestimmung der besonderen Individualität. " 5 Dieser vorzüglichen Bibliographie möchte ich mit diesem Referat eine Untersuchung über die von Fichte formulierte geschichtliche Kategorie der Individualität beisteuern. Und zwar, weil für die Badische Schule die begriffliche Seite des geschichtsphilosophischen Denkens mit der Logik des Wertens in der Fichteschen Geschichtsphilosophie gleichgesetzt ist. Im Kern dieser Logik des Wertens befindet sich die Kategorie der geschichtlichen Individualität, die in der Badischen Schule von systematischer Bedeutung ist, das heißt, sie wird auf eine Art ausgeführt, die der Fichtes sachlich gleichartig ist. Da die Badische Bewegung als eine Kantische Schule definiert ist, scheint es mir angebracht, das vorliegende Referat damit zu beginnen, die grundsätzlichen Gedanken

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Philosophiegeschichtliche Zusammenhänge. Juan Cruz-Cruz

über die Individualität festzustellen, die, von Kant ausgehend, von Fichte umgestaltet und von der Badischen Schule übernommen wurden. Allerdings möchte ich nicht beweisen, inwieweit Fichte die "Theorie der Geschichtlichen Individualität" der Badischen Schule beeinflußt, sondern vielmehr untersuchen, wie diese Schule im Konkreten die Fichteschen Theorien interpretiert, so daß die besagte Auslegung die Fortsetzung einer philosophischen Tradition sei.

I. Die philosophischen Grundhaltungen bei Kant und Fichte Nennen wir Philosophie die Deutung von allem, was es gibt, dann dürfte die Badische Schule zwei philosophische Modelle zeigen: ein Abtrennendes und ein Vereinigendes. Die abtrennende Betrachtung von allem, was es gibt, sondert mindestens zwei Elemente, ein oberes und ein unteres, ab, wobei hervorzuheben ist, daß das obere einen abstrakt-formalen, und das untere einen wirklich-inhaltlichen Charakter hat. Das obere, als abstrakt-formales, ist ein Bestimmendes, und wesentlich für die Betrachtung von allem, was es gibt. In diesem Falle ist das Besondere, das Einzelne, nur ein Exemplar des abstrakt-formalen Elementes. Das Allgemeine fungiert dann als das abstrakt-formale, sowohl im logischen, als auch im ethischen und ästhetischen Rahmen. Die vereinigende Betrachtung von allem, was es gibt, hebt hervor, daß das abstraktformale und das konkret-inhaltliche Element einer Ganzheit innerlich sind, in unserem Fall also dem Individuum, das kein Exemplar eines Allgemeinen ist, sondern eine ursprüngliche und wirkliche Ganzheit, in und durch welche die Form und der Inhalt ihren Sinn gewinnen. Durch die Ganzheit, d. h. durch die ganzheitliche Konkretion, wird das Gebiet des Geschichtlichen verständlich und folglich auch die Kategorie der geschichtlichen Ansicht der Individualität, die nun nicht als Exemplar oder einzelner Fall erscheint, sondern als Glied einer Totalität. 1. Die Badische Schule meint, Kant habe den Einzelnen nur als Träger gewisser abstrakt-formaler Allgemeinheiten betrachtet, nicht aber als unersetzliches Glied in einem einheitlichen Zusammenhang. Diese Allgemeinheiten wären für den Begriff des Individuums bestimmend gewesen. Es ist daher klar, daß die Individualität immer als ein Ganzes mit formalen Bestimmungen, nicht aber als eine nur unmittelbar nacherlebte Ganzheit charakterisiert ist. Von Kant wurde das im empirischen Material steckende apriorische Element oder der Vernunftgehalt derart betrachtet, daß er das Apriori als gleichbleibenden Faktor und das Aposteriori als ein wechselndes empirisches Material bezeichnete. "Das Empirische oder das Aposteriori ist die individuelle Gestaltung, die das Apriori in jedem einzelnen Falle annimmt; das Apriori also ein gemeinsames Merkmal am Aposteriori; ein Allgemeinbegriff, für den die Mannigfaltigkeit der Aposteriori den empirischen Umfang, die subsumierbaren Exemplare liefert. Da nun Kants Untersuchung ihrer ganzen Absicht nach sich nur auf den apriorischen Bestandteil richtet und in ihm den überempirischen Erkenntniswert erblickt, so verteilen sich notwendigerweise Wert und Nichtwert folgendermaßen auf die logischen Gegensätze des Allgemeinen und des Besonderen. " 6 Es gibt also bei Kant eine Tendenz, das Individuelle als das einfach Faktische oder einfach Empirische anzusehen, dem jeder Wert fehlt, sowohl vom erkenntnistheoreti-

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sehen als auch vom ethischen oder historischen Gesichtspunkt aus betrachtet. Nach der Badischen Schule kann man alle Untersuchungen von Kant "auf die Formel bringen, den irrationalen Rest der Wirklichkeit rational zu umgrenzen" 7 _ Vom erkenntnistheoretischen Gesichtspunkt aus begründete die Kritik der reinen Vernunft "die rationale Erkenntnis in der Beschränkung auf die Formen des Wissens, auf das Allgemeine, die Gesetze, die Prinzipien [- .. ]. Nur diese allgemeinen Formen erwiesen sich als streng rational, ihr Inhalt behielt die Irrationalität des bloßen Gegebenseins"8. "Kants Größe [sagt Bruno Bauch] bezeichnet die Aufdeckung der Grundlagen der Gegenständlichkeit in der Vernunft selber und als solcher [ ... ]in der Vernunft als Inbegriff und Gesetz aller Gesetzlichkeit. Zu dieser Einsicht kam Kant, indem .!r die Erkenntnislehre vor allen Dingen als Wissenschaftslehre von Mathematik und mathematischer Naturwissenschaft [ansah]. [ ... ] Nun machen Mathematik und Naturforschung nicht das Ganze der Wissenschaften aus. Zu diesem Ganzen wiirden ja doch auch alle historischen Wissenschaften zählen. Aus diesem Grund" kann, ja muß man in der Tat Kants wissenschaftstheoretische Orientierung als einseitg bezeichnen. " 9 Auf gleiche Weise ist Kants Ethik in diesem allgemeingültigen Sinne orientiert. Lask schreibt: "So wird in der Ethik zwar zugegeben, daß sich das Sittengesetz nicht anders als in den Handlungen einzelner Personen verwirklicht; aber gewertet wird nur das Formale; die Wiirde der Persönlichkeit und des sittlichen Tuns beruht ausschließlich auf der allgemeinen Bedingung der Pflichtmäßigkeit." 10 Und in ähnlichen Worten drückt sich Windelband aus: "Die einzige Würde, die für die Person in Anspruch genommen wird, gebührt ihr nur vermöge ihrer Autonomie, der Freiheit, womit sie sich selbst das Gesetz gibt - das Gesetz, das in gleicher Weise für alle gelten soll. So läuft aller Wert menschlichen Wollensund Handeins auf die Angemessenheil der Gesinnung zu Maximen, zu generellen Regeln hinaus, und in dieser Maximenhaftigkeit bleibt kein Raum für den Eigenwert des Individuellen. Das Einzelpersönliche ist auf dem ethischen Gebiet das Irrationale. " 11 Zum Schluß, von der Perspektive des ethischen Urteils aus gesehen, bleiben "die einzdnen Erscheinungen und die einzelnen Gesetze [ ... ] für unsere Erkenntnis in alle Wege zufällig, das heißt aus den formalen Bestimmungen des Intellekts nicht ableitbar; und darauf bemht das Recht, das logisch Zufällige der Erscheinungen durch die reflektierende Urteilskraft so zu betrachten, als ob ihr zweckmäßiger Zusammenhang in dem ganzen System der Erfahrung wie in den einzelnen Gebilden des organischen Daseins einem Schöpferischen Verstande nach seinem notwendigen Wesen angehöre." 12 Die abstrakt-absondernde Neigung der Kantischen Philosophie unterscheidet also drei formale Kriterien, die sich wie Allgemeinbegriffe entfalten. Die theoretischen und ethischen Allgemeinheiten bleiben von der Einzelheit getrennt, oder beziehen sich mindestens nicht innerlich auf sie. Nur die ästhetische Allgemeinheit verschmilzt innerlich mit der Eigentümlichkeit ihres jedesmaligen empirischen Korrelats, nur aber in der Modalität des Als-Ob. Jedoch in der generellen Ansicht von Kant hat die Vorherrschaft nicht diese vereinigende und ganzheitliche Tendenz, sondern die absondernde Betrachtung, die in der theoretischen und der praktischen Vernunft aufgeht. In der abtrennenden Betrachtung von allem, was es gibt, nehmen alle Gebilde die logische Form der Allgemeinheit an, d. h., sie repräsentieren "nach ihrer inhaltlichen Funktion als Werterscheinung ausschließlich die Struktur der Allgemeinheit" 13 • Durch das ästhetische Urteil bekam das empirisch Gegebene einen konkreten Wert, obwohl am Ende das Indi-

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viduum als eine Exemplifizierung einer Allgemeinheit angesehen wird. Das historische Einzelgebilde ist eine einfache Verschmelzung und Niederschlag vom Allgemeinen und der einzelnen Konkretion. 2. Die vereinigende Betrachtung sieht in der historischen Individualität stets mehr: der Einzelne wird in seiner unersetzlichen Einmaligkeit eingesehen. Das IndividuellWesentliche liegt nicht in dem identischen Vemunftfaktor, sondern in den individuellen Differenzen. Das ganze Objekt erhält seinen wesentlichen Wert nicht in dem Gemeinsamen, sondern in seiner besonderen Eigenart. Die vereinigende Betrachtung soll sich mit einem Schlage auf das Ganze, auf die Zusammengehörigkeit aller seiner Teile erstrecken. Das Einzelne ist nicht als Exemplar einer Gattung untergeordnet. "Da es in diesem Fall gar nicht als Exemplar einer Gattung, als Träger allgemeiner Werte auftreten kann; denn seine ganze Individualität hat es mit keinem andern Dinge gemein." 14 Das Einzelne ist als Bestandteil einem Ganzen, nicht dem Gedanken des Allgemeinen, eingegliedert. Oder, wie es Bruno Bauch ausdrückt: "Tätig sein und handeln auch im Dienste seiner ewigen Bestimmung kann ein Vernunftwesen immer nur, wenn es zeitlich eingegliedert ist in einen Zusammenhang mit anderen Vemunftwesen, in einen Zusammenhang, der sinnlich und vernünftig, zeitlicher und Sinnzusammenhang zugleich ist. Isoliert gedacht kann es nicht wirken und handeln, ja ist eine gänzlich leere Abstraktion. " 15 Bauch sagt an anderer Stelle: "Die Pflanzstätte des Ewigen in der Zeit, die Brücke zwischen Wert und Wirklichkeit also, ist, wie Fichte erkennt, das geschichtliche Leben. Zum ersten Male bricht hier mit strenger philosophischer Bestimmtheit die Einsicht in die Bedeutung der Geschichte durch. Mit vorher nie dagewesener Ausdrücklichkeit und Nachdrücklichkeit wird deutlich, daß allein im geschichtlichen Leben das Verhältnis von Persönlichkeit und Gemeinschaft konkrete Gestalt gewinnen, jeder Persönlichkeit allein hier ihre besondere Bestimmung und die Fülle ihrer besonderen Aufgaben erwachsen kann." 16

II. Ansätze einer Betrachtung der Individualität bei Fichte Auf welchem Wege kommt Fichte, nach Meinung der Badischen Schule, auf den Begriff der historischen Individualität? Lask meint, auf einem Zickzackwege voller Lükken. Abgewogener und stichhaltiger sind die Überlegungen von Bruno Bauch, Windelband und Rickert, die die allgemeinen Prinzipien der Fichteschen Lehre tiefgehend untersuchen, wobei sie die oft wenig nuancierten Aussprüche beiseite lassen, die man in der historischen Entwicklung ihrer Schriften finden kann. So sagt Lask: "Das Individuelle, im ersten Entwurf der Wissenschaftslehre gleich der nur quantitativen und mathematischen Individualität rationalistisch zersetzt und dem Absoluten emanatistisch preisgegeben, errang erst durch den Umschwung von 1797 eine bescheidene Selbständigkeit und zwar als Gegensatz zu den wertvollen rationalen Vemunftformen, als Schranke somit, aber eben nur als Schranke. Und erst in dem weitergehenden Antirationalismus der darauffolgenden Jahre tritt der irrationale Faktor als das Unmittelbare dem von aller metaphysischen Verlebendigung nunmehr gänzlich vereinigten Wissen entgegen. " 17 Lask glaubt, daß sich bei Fichte erst sehr spät, und nie definitiv, die Tendenz festsetzt, im Individuellen den empirischen und den überempirischen Faktor zu sondern: "Die alte Verschlingung von empirisch und individuell,

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von überempirisch und allgemein, wird nämlich durch den mühsam herausgearbeiteten Gedanken der überempirischen Individualität vollständig zerstört. Aller Wert ruhte nach der früheren Anschauung in der unindividualisierten allgemeinen Vernunft, deren konkrete Realisation im empirischen Ich ebenso wie die Spezifikation jedes Allgemeinbegriffes zwar als unerläßlich galt [ ... ]. Auch nach der späteren Ansicht soll zwar das Zufällige oder unwesentlich Individuelle an der Individualität einem über ihm stehenden Wert bis zu seiner eigenen Vernichtung sich aufopfern, aber diese höhere Bestimmung, der es dient, wird jetzt als ein wesentlich Individuelles in das Individuum selbst verlegt.'d 8 Sehr viel maßvoller und nuancierter als die Meinung Lasks ist die von Rickert. In seiner von Bruno Bauch gerühmten Abhandlung über die philosophischen Grundlagen von Fichtes Soziaiismus, erklärt Rickert: ,Jedoch finden sich bei ihm Ansätze zu einer Würdigung der individuellen Verschiedenheiten der Menschen im Sinnenleben schon früh, und darauf haben wir zu achten, um seinen Individualismus vollständig zu bestimmen."19 Und wirklich hat Fichte in seinem Jugendwerk über die Bestimmung des Gelehrten von 1794 gesagt: "Ich bin ein nothwendiges Glied der grossen Kette, die von Entwickelung des ersten Menschen zum vollen Bewusstseyn seiner Existenz bis in die Ewigkeit hinaus geht; [jeder darf sich sagen] alles, was jemals grossundweise und edel unter den Menschen war - diejenigen Wohlthäter des Menschengeschlechts, deren Namen ich in der Weltgeschichte aufgezeichnet lese, [... ] sie alle haben für mich gearbeitet; - ich bin in ihrer Ernte gekommen; ich betrete auf der Erde, die sie bewohnten, ihre Segen verbreitenden Fußstapfen. Ich kann da fortbauen, wo sie autbören mussten, ich kann den herrlichen Tempel, den sie unvollendet lassen mussten, seiner Vollendung näher bringen. " 20 Rickert interpretiert diese BehauptungenFichtesauf folgende Weise: "Die Aufgabe, die der Mensch sich stellen muß, kann er nur durch Ausbildung auch seiner sinnlichen Individualität in Angriff nehmen. Er hat im Entwicklungsgange der Menschheit das zu tun, was als besonderes Glied im Ganzen er besser zu tun vermag als andere, die anders sind als er. Ohne ein individuelles Glied zu sein, wäre er kein notwendiges Glied der großen Kette, denn so weit er seinen Mitmenschen gleicht, könnte er durchjeden beliebigen von ihnen ersetzt werden und bliebe daher zufällig." Und weiter schreibt Rickert: "Die systematische Durchführung dieses Gedankens bildet den philosophisch wichtigsten Teil meines Buches über die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. " 21 Später werden wir auf diese systematische Durchführung zurückkommen. Es gibt also für Fichte das durch Erfahrung gegebene Empirische, das Besondere und Einmalige, das nicht in seiner Notwendigkeit aus Verstandes-Prinzipien hergeleitet werden kann. Für die Erkenntnis weist es eine Notwendigkeit auf, die nicht vernunftlos sein darf; es handelt sich nicht um eine logische Notwendigkeit, weil in seiner Zufalligkeit theoretisch anders zu denken ist. "Freilich bestand seine Vernünftigkeit nicht in der logischen Ableitbarkeit aus dem Gesetz, aus dem Allgemeinen. Wenn es trotzdem vernünftig sein kann und soll, so ist es nur teleologisch, nur ethisch vernünftig durch eine Wertbestimmung." 22 Aber wieso muß auch das Besondere vernünftig sein, und was bedeutet es, daß seine Vernünftigkeit keine theoretische sei? Fichte legt den Schwerpunkt auf die Vernunft in der lebendigen Tathandlung, von der ausgehend das Sein erkannt werden mußte. Bruno Bauch schreibt: "Dadurch erst war im Gesetz der Vernunft selber nicht allein der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, sondern auch dem be-

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sonderen empirischen Material seine Objektivität gesichert [ ... ]. In Wahrheit ist es eines seiner Hauptanliegen, auch dem besonderen empirischen Materiale als solchem, nicht allein seiner allgemeinen Gesetzmäßigkeit, objektiven Geltungsanspruch zu sichern."23 Den Tatsachen immanent muß es eine objektive Vernunft geben, durch welche sich die Tatsachen vor dem Denken als Objekte darstellen. Daher also findet sich für Fichte die Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung nicht nur in der Form allgemeiner Gesetzmäßigkeit, sondern auch im besonderen Inhalt. Form und Inhalt müssen sich in der systematischen Einheit der Möglichkeitsbedingungen der Gegenständlichkeit geben. Allerdings, "diese systematische Einheit gegenständlicher Möglichkeitsbedingung kann nicht selbst erst ein möglicher oder ermöglichter Gegenstand sein, weil es immer schon dessen Voraussetzung ist" 24 • Fichte bezeichnet als Ich die systematische Einheitsbedingung aller Gegenständlichkeit; es ist nicht "bewußter Gegenstand" und auch nicht "einzelnes Subjekt", da ihm gegenüber alles Objekt und alles Bewußtsein sekundär ist, und deshalb kann man in diesem Punkt nicht von einem intelligenzlosen Willen oderUnbewußten sprechen. Die Bedeutung des Seins kann erfaßt werden, wenn die nicht bloß gegenständliche systematische Einheitsbedingung aller Gegenständlichkeit festgehalten ist. Das Sein "verliert nun alle Starrheit, in die dogmatische Vorstellungen es zu schlagen drohen. Es erhält in seinem ganzen Inhalt und Umfang die Lebendigkeit der Funktion. Die allgemeine Gesetzmäßigkeit ist vom Konkreten, und das Konkrete ist von der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, und beide, Konkretes und Gesetzmäßigkeit, sind vom Gesetze selber und als solchem zwar in der Reflexion notwendig zu unterscheiden. Aber Konkretes und Gesetzmäßigkeit sind in ihrem objektiven Geltungsbestande nicht voneinander und nicht vom Gesetze zu trennen. Von diesem erst empfangen beide ihren Geltungsbestand nur miteinander." 25 Obwohl Form und Inhalt verschieden sind, sind sie doch nicht getrennt; ihr Einigungspunkt ist das Gesetz der Vernunft, das sich sowohl vom konkreten Inhalt als auch von der allgemeinen Gesetzmäßigkeit unterscheidet. Auf diese Weise "brauchen wir nicht hinter der uns im lebendigen Leben gegebenen Wirklichkeit eine zweite Wirklichkeit zu suchen, von der jene nur ein subjektiver Widerschein wäre. Sie könnte ja dann gar nicht Gegenstand gegenständlicher Wissenschaft sein. Daß sie das sein kann und wirklich ist, das ist nur möglich, weil sie bis ins Einzelne und Konkrete, wenn sie auch nicht allgemein gesetzmäßig ist, so doch allgemeingesetzlich bedingt ist, von objektiver inhaltlicher Gesetzlichkeit, vom Ich getragen ist. " 26 Die Tathandlung der Vernunft ist Grundlage und Möglichkeit zeitlichen Tuns und Wirkens. Auch in der praktischen Philosophie muß alles auf die ursprüngliche Handlung ankommen; die theoretische Bestimmung von sich aus führt unmittelbar bis zu dem Punkte, "an dem die praktische ansetzt, und dieser sich gleichsam ganz von selbst als Unterbau darbietet" 27 • So ist teleologisch vernünftig jenes Einzelne oder Zufällige, das nicht logisch notwendig ist. Dieses Teleologische, nur ethisch Vernünftige, heißt Freiheit. "Dieser Begriff der Freiheit bedeutet also einerseits das nicht nach allgemeinem Gesetz Determinierte, andererseits das in seiner Selbstbestimmung für sich allein Wertvolle. " 28 Daraus folgt und das hat Lask nicht klar genug herausgestellt - daß Fichte, wenn er von Vernunft spricht, darunter nie etwas rein Theoretisches versteht, auch nicht das, was man Verstand nennt. Fichte war nie Rationalist. Der Schwerpunkt der Vernunft liegt nicht auf dem Theoretischen, sondern im Praktischen. Für ihn gibt es keine Möglichkeit, die theoretische Vernunft von der praktischen zu trennen, da die Vernunft über dieser

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Möglichkeit steht. "Die Vernunft [sagte Fichte schon 1794] könne selbst nicht theoretisch seyn, wenn sie nicht praktisch sey: es sey keine Intelligenz im Menschen möglich, wenn nicht ein praktisches Vermögen in ihm sey. " 29 Von dieser Warte aus galt und gilt es, "die Geschichte in ihrer empirischen Gegebenheit als die Verwirklichung von Vernunftwesen in einmalig zeitlichen Erscheinungen zu verstehen. Aber deren Besonderheit selbst, Menschen, Völker, Ereignisse, usw. ist niemals begrifflich ableitbar oder theoretisch konstruierbar: sie bleibt logisch zufällig." 30 Das, was den zeitlichen Verlauf "zu einem Vernunftwert macht" oder das, was in der Geschichte sich "durch Freiheit verwirklicht", ist "überhaupt nichts als das Ich, nichts als die Vernunft". "So kann also auch die Geschichte als zeitlicher Prozess nur Vernunft zum Inhalt und Sinn, nur Vernunft zum Anfang und zum Ende haben." 31 Von dieser Perspektive aus gesehen, ist es schon verständlich, wie das Historische vernünftig sein kann.

/li. DreiAnsichten der überempirischen Individualität

Außer der rein empirischen Dimension der Individualität kann man bei Fichte drei Ansichten der überempirischen Individualität unterscheiden: die ontologische, die sittliche und die kulturelle. In den Abhandlungen über Die philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus und Die Allgemeinen Grundlagen der Politik Fichtes hat Rickert sich vorgenommen, den Fichteschen Begriff der Individualität von neuem zu untersuchen, indem er ihn mit dem Kantschen Freiheitsbegriff in Verbindung bringt. "Wie es bei Kant Freiheit in doppeltem Sinne gibt, nämlich negativ und positiv, so kann man im' doppelten Sinne auch von Individualismus bei Fichte reden. Einmal ist der Mensch als Individuum negativ frei vom allgemeinen Zwange der Natur, und außerdem besitzt er positiv eine individuelle Freiheit, indem er nur sich selbst zu Handeln bestimmt. Doch genügt diese Unterscheidung noch nicht, um alle Begriffe, die für unser Problem bedeutsam werden, zu überschauen. Es kommt bei Fichte noch eine dritte, ihm eigentümliche Tendenz hinzu, die mit seinem Begriff der Kultur verknüpft ist, und die man, insofern alle Kultur durch das geschichtliche Leben verwirklicht wird, um ein kurzes Schlagwort zu haben, auch als geschichtlichen Individualismus bezeichnen mag. " 32 Aus der negativen Freiheit folgt die ontologische Ansicht der Individualität; die positive Freiheit ermöglicht die ethische Ansicht der Individualität; die kulturelle Freiheit begründet die historische Ansicht der Individualität: die drei Modalitäten sind überempirisch. Analysieren wir diese Punkte nun aber im Einzelnen:

1. Negative Freiheit und ontologische Ansicht der Individualität Der junge Fichte nahm an, daß das menschliche Subjekt im Rahmen der Objekte inbegriffen sei als von der ununterbrochenen Kette von Ursache und Wirkung abhängendes Glied. Daher konnte das Handeln nicht frei sein. Aber die Kantsche Philosophie lehrte ihn, daß das Ich nicht vollständig in der Welt der Gegenstände und der Naturkräfte eingeschlossen ist. Die Kritik der reinen Vernunft hatte gezeigt, daß es wenigstens eine Möglichkeit gab, den Menschen als freies Wesen zu betrachten. Der Zwang der Natur herrscht eigentlich in der Welt der Naturerscheinungen. Aber der Mensch ist nicht nur

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ein natürliches Wesen: "Die ganze Natur und ihre Erkenntnis wird nur begreiflich, wenn man den Menschen auch als das erkennende Subjekt beriicksichtigt, das der Natur gegenübersteht und insofern nicht in jeder Beziehung zu ihr hinzugehören kann. Man muß einsehen, daß die Natur und ihre Erkenntnis überhaupt erst zustande kommen können mit Hilfe eines solchen Subjektes. Es hat daher keinen Sinn, dieses Subjekt selbst in jeder Hinsicht in die von ihm erkannte Natur hineinzuverlegen und es infolgedessen als ebenso unfrei anzusehen wie die bloße Natur[ ... ]. Deswegen hat Fichte immer den größten Wert darauf gelegt, das Ich in seiner Selbständigkeit zu kennzeichnen und es von allem Nicht-Ich, d. h. von allen erkannten Objekten, aufs schärfste zu trennen." 33 Noch mehr, die Natur ist keinsubstantivesund absolutes Sein, sondern sie muß als ein vom Ich abhängiges Sein betrachtet werden. Die Natur wird zur Vorstellung, denn im Ich- das nicht nur ein empirisches sondern ein vernünftiges oder reines Subjekt ist - beruht ihre allgemeine Form oder ihre Gesetzlichkeit, wenn auch nicht ihr persönlicher Inhalt. Das Ich ist, da rein, der freie Beherrscher des natürlichen Geschehens. Diese Autonomie des Subjekts oder des Ich von der Kausalbeziehung gibt, laut Rickert, den Anhalt dafür, in der Fichteschen Philosophie einen Individualismus besonderer und eingeschränkter Art zu erspähen, "denn frei vom Zwange der Natur ist ja nicht das sinnliche Individuum, sondern das reine Ich, und man kann fragen: was bleibt an dem Individuum noch individuell, wenn man von allem absieht, wodurch der Mensch zu einem Gliede der Sinnenwelt wird?" 34 Welches auch immer die Lösung auf diese Frage sein mag, es gibt etwas, das sie erhellen wird, nämlich: "Die Freiheit muß, um Bedeutung für das Handeln in der Sinnenwelt zu erhalten, sich it·gendwie auch im sinnlichen Individuum äußern, ja gerade als individuelle Persönlichkeit darf der Mensch nicht restlos in der Natur aufgehen. Sonst hätte das Freisein vom Ursachenzwang für ihn als Person keinen Wert." 35 So haben wir, laut Rickert, die ontologische Ansicht der Individualität, die Individualität des wirklichen Seins des Subjektes: "Der Mensch als Subjekt [ist] auch in seinem individuellen Sein irgendwie selbständig. " 36 Diese Freiheit ist negativ, insofern sie nur Abwesenheit des kausalen Zwanges bedeutet. 2. Positive Freiheit und ethische Ansicht der Individualität Das was die Kritik der reinen Vernunft über die Freiheit lehrt, hat nur einen vorbereitenden oder negativen Sinn: die theoretische Vernunft kennt mit Sicherheit nur die natürlichen Phänomene, aber nicht das, was hinter diesen Phänomenen steht. Dagegen erklärt die Kritik der praktischen Vernunft, was wir im Wesen sind, und übernimmt so die Vorherrschaft über die theoretische Vernunft. Die Freiheit des reinen Ich bleibt nicht leer. Fichte hatte aufgezeigt, daß "wenn sie von einem Sollen reden, so sagen sie unmittelbar hierdurch auch ein Andersseynkönnen aus. Was so seyn muss, und schlechterdings nicht anders seyn kann, davon wird kein vernünftiger Mensch untersuchen, ob es so oder anders seyn solle. Sie gestehen also unmittelbar durch die Anwendung dieses Wortes manchen Dingen die Unabhängigkeit von der Naturnothwendigkeit zu." 37 Außer Vorstellungen haben wir ein unmittelbares Pflichtbewußtsein, welches uns unsere positive Determination zusichert. "Es sagt uns, was wir tun sollen, und es bringt damit das Denken, welches die Pflicht in ihrer sittlich vernünftigen Bedeutung erkannt hat, vollends zur Einheit mit unserer Tätigkeit. Die Stimme des Gewissens wird zum

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ruhenden Pol in der Erscheinungen Flucht. Die Welt muß im tiefsten Grunde als frei und sittlich vernünftig gelten." 38 Fichte unterstreicht mit Nachdruck, daß man, wenn man die Freiheit über allen anderen individuellen Neigungen akzeptiert, auch gleichlaufend ein überindividuelles Gesetz akzeptieren muß, denn die Freiheit ist keine Willkür: .,Frei ist der Mensch nach Fichte erst dann, wenn er nicht nur die Ungebundenheit, also die Freiheit von der zwingenden Ursache besitzt, sondern wenn er diese Freiheit zugleich auch dem Gesetz unterordnet, also ihr den Charakter der Notwendigkeit zu geben weiß." 39 Diese Notwendigkeit ist ein moralisches Sollen, nicht ein naturalistisches Müssen. Die Freiheit ist nur dann Freiheit, wenn sie vom Gesetz als Befehl und nicht als Naturgesetz geleitet wird. Das moralisch Sollen gilt für uns als Richtschnur, nach der wir handeln, ohne daß wir dazu gezwungen sind. Dieses Sollen existiert nicht außerhalb unseres Ichs in der Sinnenwelt, sondern befindet sich in unserem eigenen Willen. Der Mensch ist wirklich frei oder autonom, wenn der moralische Wille die Empfindungen beherrscht. Durch die ethische Freiheit, die nicht nur negativ (Fehlen des kausalen Zwanges) ist, sondern positiv, gelangt man zur ethischen Ansicht der Individualität: .,auch in ihr kommt es wieder auf die Freiheit des Individuums an" 40 • Moralisch frei ist der Mensch, der sich selbst das Gesetz gibt, in dem Sinne, daß er ausschließlich nach seinem moralischen Gewissen handelt . .,Wer also gegen die Heteronomie zugunsten der Autonomie eintritt, verlegt damit den Schwerpunkt auf das Individuum und ist insofern als Individualist zu bezeichnen [ ... ].Doch auch er ist bei Fichte nicht von der Art, daß er das Individuum mit dem sinnlichen Individuum gleichsetzt. Er darf daher nicht mit [der] Ansicht verwechselt werden, [ ... ] der Mensch solle seine Individualität ausbilden und sich dabei ausschließlich um sich selbst, nicht aber um die Individualität seiner Mitmenschen kümmern [ ... ]. Diesem Individualismus ist Fichtes autonomer Individualismus schroff entgegenzusetzen. Im individuellen Gewissen, das den Willen bestimmt, macht sich stets ein Moment geltend, welches das Individuum zugleich bindet [ ... ]. [Der Mensch] gibt sich damit ein Gesetz, das mehr ist als nur er selbst. " 41 Die ethische Ansicht der Individualität bedeutet nicht Selbstherrlichkeit, sondern nur Selbstbeherrschung, weil in ihr die sinnliche Individualität dem Gesetz untergeordnet wird. 3. Kulturelle Freiheit und Historische Ansicht der Individualität Bis jetzt kann man das sinnliche Individuum noch nicht als frei bezeichnen, weder im negativen noch im positiven Sinne: die moralische Autonomie überragt die Sinnlichkeit. Aber das ethische Gebot muß sich in der Sinnwelt realisieren . .,Dem Menschen [sagt Fichte] im wirklichen Leben [ ... ] kann das Pflichtgebot nie überhaupt, sondern immer nur in concreter Willensbestimmung erscheinen" 42 ; auf diese Weise ist die unableitbare Empfindsamkeit, die empirische Wirklichkeit, .,die bestimmte Stelle in der moralischen Ordnung der Dinge". Wenn man nun einen Teil dieserunableitbaren Wirklichkeit das Historische nennt, dann wird das Geschichtliche .,die fortwährende Deutung des Pflichtgebotes" . .,Hier scheint mir [sagt Rickert] der entscheidende Punkt für die Würdigung des Geschichtlichen getroffen, und von hier führt dann ein direkter Weg zu jener Anerkennung des Historischen als des Einmaligen, Irrationalen in seiner Bedeutung gegenüber dem Allgemeinen und Begrifflichen."43 Wenn man beachtet, daß

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für Fichte "die Welt [ ... ) das versinnlichte Material unserer Pflicht" ist, dann versteht man auch die enge Verbindung zwischen dem moralischen Gesetz und der Sinnlichkeit, die durch den Begriff ,Kultur' hergestellt wird; oder noch besser gesagt, durch die Kultur der Sinnlichkeit wird dem empfindenden Individuum eine moralische Bedeutung verliehen, die es ihrerseits als geschichtliches Individuum konstituiert. Was bedeutet nun Kultur für Fichte? Sie ist die "Übung aller unserer Kräfte auf den Zweck der völligen Freiheit, der Unabhängigkeit von allem, was nicht wir selbst ist" 44 • Die Kultur als Übung aller unserer Kräfte, um die völlige Freiheit zu erlangen, ist die Verbindung, die Fichte zwischen dem rein rationellen Ich und dem empirischen oder sinnlichen Menschen erstellt. Das moralische Gesetz bestimmt unseren wirklichen Endzweck45 • Da das, was uns zu sinnlichen Wesen macht, nicht ein Ziel an sich oder Selbstzweck, sondern nur ein Mittel ist, muß es in uns von der Vernunft bestimmt werden. Unter Sinnlichkeit versteht Fichte alles, was nicht selbst-autonomer Wille ist: "Wenn ich hier von Sinnlichkeit rede [sagt Fichte), so verstehe ich nicht etwa bloss das darunter, was man sonst wohl mit diesem Namen bezeichnete, die niederen Gemüthskräfte, oder wohl gar bloss die körperlichen Kräfte des Menschen. Im Gegensatze gegen das reine Ich gehört alles zu Sinnlichkeit, was nicht selbst dieses reine Ich ist, also alle unsere körperlichen und Gemüthskräfte, welche, und insofern sie durch etwas ausser uns bestimmt werden können. Alles was bildsam ist, was geübt und verstärkt werden kann, gehört dazu. Die reine Form unseres Selbst ist es, die keiner Bildung fähig ist: sie ist völlig unveränderlich."46 Mit der Sinnlichkeit in diesem weiten Sinne sollen also zwei Vorgänge geschehen: Unterwerfung und Ausbildung: "Sie soll erstlieh bezähmt und unterjocht werden; sie soll nicht mehr gebieten, sondern dienen; sie soll sich nicht mehr anmaassen, uns unsere Zwecke vorzuschreiben, oder sie zu bedingen. Dies ist die erste Handlung der Befreiung unseres Ich; dieBezähmungder Sinnlichkeit.- Aber damit ist noch lange nicht alles geschehen. Die Sinnlichkeit soll nicht nur nicht Gebieter, sie soll auch Diener, und zwar ein geschickter, tauglicher Diener seyn; sie soll zu brauchen seyn. Dazu gehört, dass man alle ihre Kräfte aufsuche, sie auf alle Art bilde, und ins unendliche erhöhe und verstärke. Das ist die zweite Handlung der Befreiung unseres Ich: die Cultur der Sinnlichkeit."47 In der Kultur der Sinnlichkeit fließen Natur und Freiheit zusammen. Diese Kultur ist "der einzig mögliche Endzweck des Menschen, insoweit er ein Teil der Sinnenwelt ist" 48 • Daß heißt also: 1. Die Kultur der Sinnlichkeit ist der einzige mögliche Endzweck des sinnenweltliehen Menschen, der nicht mit der passiven Sphäre des bloßen Genusses übereinstimmt, denn das, was dem bloßen sinnlichen Genuß dient, ist noch keine Kultur. Und 2. verlangt die Kultur eine intensive Übung unserer Kräfte, um den höheren Endzweck, die Freiheit (die vollkommene Übereinstimmung des Willens mit dem moralischen Gesetz) zu erreichen; daß sich somit die rein genüBliche Sinnlichkeit in einen nützlichen Diener des moralischen Willens verwandelt. Die Sinnlichkeit muß kultiviert und gestärkt werden, damit sie den Zwecken des autonomen Willens dienen kann; d. h. also, die Kultur ist nicht die Aufhebung, sondern die Stärkung der Sinnlichkeit, um den Zweck der autonomen Freiheit zu erzielen. Die Sinnlichkeit erhält so einen neuen Wert, nicht den einer passiven Abgeschlossenheil der Freiheit gegenüber, sondern inwieweit sie durch unsere Tätigkeit gebildet wird. Eine nur gegebene sinnliche Individualität kann als geschichtliche keinen Wert haben. "Im Kulturleben wird jeder mit seiner sinnlichen Individualität wichtig. Alle Menschen sind unter

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sich verschieden, und im Zusammenhang der Kultur, in welcher der Einzelne wirken will, vermag er mit Erfolg erst dann tätig zu sein, wenn er darin eine durch seine Individualität bedingte, d. h. eigenartige oder besondere Bestimmung erfüllt." 49 Diese Dimension der Individualität nun muß als Geschichtliches bezeichnet werden. Und wirklich muß sich jeder Mensch von seiner ganz speziellen Stellung aus dem einzigen zeitlichen Ablauf des Menschengeschlechts eingliedern, indem er an dem Fortschritt der Menschheit mitarbeitet. Daraus folgert die Unersetzlichkeit, die das Individuum für die geschichtliche Entwicklung besitzt. Jeder einzelne Mensch muß sich die Aufgabe stellen, am Werdegang der Menschheit mitzuarbeiten, und diese Aufgabe kann er in dem Maße erfüllen, in dem er seine Sinnlichkeit bildet. Er muß das tun, was er in seiner Bedingung als individuelles Glied tun soll, ohne daß ihn ein anderer in seiner Aufgabe ersetzen könnte. Aber ohne ein individuelles Glied zu sein, könnte er kein unersetzliches oder notwendiges Glied sein. Das Ich muß mit seiner eigenen Individualität handeln, um seine individuelle Bestimmung zu erfüllen. "Es muß demnach [kann Rickert folgern] im geschichtlichen Werdegange der Menschheit nicht nur verschiedene Stände, sondern innerhalb der Stände muß jeder Einzelne auch eine verschiedene Aufgabe haben. Deshalb hat jeder an der Ausbildung seiner individuellen Verschiedenheit von allen anderen Gliedern seines Standes zu arbeiten, soweit diese Verschiedenheit für das Ganze notwendig ist." 50 Die historische Individualität erfüllt demnach die ontologische und die ethische Ansicht der Individualität, denn sie folgert aus der Anwendung des Autonomieideals auf die Sinnlichkeit. Die geschichtliche Bestimmung ist innerlich mit der sinnlichen Individualität verbunden. Die sittliche Ansicht der Individualität setzt die ontologische voraus, und beide verwirklichen sich in der geschichtlichen. Aber das historische Individuum wird niemals als solches isoliert. "Der Einzelne wäre geschichtlich völlig bedeutungslos, wenn er nicht als Glied in einer Gesellschaft wirken könnte. Als vereinzeltes Individuum, das allein sich selbst will, würde er für den Fortschritt der Kultur nichts leisten [ ... ]. Der Mensch muß als geschichtliches Individuum individuell wirken; aber erst, wenn er sich mit seiner Individualität einem größeren geschichtlichen Ganzen einordnet, das individuell ist wie er selbst, bekommt er als Individuum zugleich überindividuelle Bedeutung. Als bloßes Individuum erfüllt er seine individuelle Bestimmung auch in der Geschichte noch nicht." 51 Oder, wie Fichte scharfsinnig feststellt: "Die geistige Natur vermochte das Wesen der Menschheit nur in höchst mannigfaltigen Abstufungen an Einzelnen, und an der Einzelheit im Großen und Ganzen, an Völkern, darzustellen. " 52 Die empirische und die geschichtliche Ansicht der Individualität wird auf folgende Weise von Fichte hervorgehoben: ,Jedes Individuum erhält nun eine doppelte Bedeutung. Es ist teils ein Empirisches, Darstellung der leeren Form eines Sehens. Insofern ist es allen übrigen schlechthin gleich [ ... ], teils ist es etwas an sich, ein Glied der Gemeinde[ ... ]. Soviel aber ist klar, daß, da diese Gemeinde ein aus solchen Individuen zusammengesetztes organisches Ganzes ist, jedes Individuum seinen Anteil an jenem Sein und Leben der Gemeinde haben werde, worin schlechthin kein anderes ihm gleich ist. " 53

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IV. Die Einführung der historischen Ansicht der Individualität in die Badische Schule Nachdem nun die Untersuchung abgeschlossen ist über das, was Fichte laut Badischer Schule unter geschichtlicher Ansicht der Individualität versteht, ist es nun angebracht, die Fichteschen Thesen, die systematisch von der besagten Schule angenommen worden sind, zusammenzustellen. Bevor wir uns aber mit diesem Thema befassen, möchte ich noch darauf hinweisen, daß diese Thesen vom Blickpunkt einer "Logik der historischen Wahrheit" her angenommen wurden, die wiederum der von Fichte aufgezeigten Linie folgt, das Geschichtliche durch die Geschichte selbst zu verstehen: "Ein besonderes Geschichtliche ist verständlich nur durch Geschichte überhaupt; diese wiederum nur verständlich durch ihren Gegensatz, das Gesetzliche, streng wissenschaftlich zu Erkennende. Solch eine Ableitung derselben aus dem Gesammten der Erkenntniss heraus flieht man gewöhnlich." 54 Man kann das historische Geschehen nur erklären, insofern "die Geschichte überhaupt verstanden würde, d. i. das Grundgesetz des gegebenen Seyns aufgestellt" 55 • Aus dieser Logik der historischen Wahrheit nun ergeben sich drei Hauptthesen: I. Die historische Ansicht der Individualität ist von der Allgemeinheit unableitbar. 2. Sie ist mit den Werten verbunden. 3. Sie ist der empirischen Individualität überlegen.

1. Allgemeinheit und historische Ansicht der Individualität Für die Badische Schule ist die Geschichte Wissenschaft vom Individuellen. Auch für Fichte lassen sich die geschichtlichen Wirklichkeiten, wie wirkliche Gestalten, "nur im wirklichen Bewusstseyn und so, dass man sich demselben beobachtend hingebe, - leben und erleben; keinesweges aber erdenken und apriori ableiten. Sie sind reine und absolute Erfahrung[ ... ]; und zwar ist der Stoff dieser Erfahrung an jedem Dinge dasabsolut ihm allein zukommende, und es individuell charakterisierende. " 56 Fichte versucht den abstrakten Universalismus von Kant zu überwinden, was nichts anderes ist als ein Platonismus des Wertens; dieser Versuch wird von der badischen Schule aufgenommen, die mit Fichte die Unableitbarkeit "der individuellen empirischen Wirklichkeit als weitester rein logischer Begriff des Historischen [akzeptiert]; so bei Rickert (Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, Kap. 111). Die Unableitbarkeit des Individuellen aus den allgemeinen Gesetzen als eigentliches Charakteristikum des Geschichtlichen ferner[ ... ] bei Windelband (Geschichte und Naturwissenschaft)." 57 Entsprechend stellt Windelband seine berühmte Unterscheidung zwischen Gesetzeswissenschaften und Ereigniswissenschaften oder zwischen nomothetischem und ideographischem Wissen auf. Gemeinsam ist der Naturforschung und der Historik "der Charakter der Erfahrungswissenschaft: d. h., beide haben zum Ausgangspunkte [ ... ] Erfahrungen, Tatsachen der Wahrnehmung" 58 • Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, daß "die eine Gesetze sucht, die andere Gestalten. In der einen treibt das Denken von der Feststellung des Besonderen zur Auffassung allgemeiner Beziehungen, in der andern wird es bei der liebevollen Ausprägung des Besonderen festgehalten. Für den Naturforscher hat das einzeln gegebene Objekt seiner Beobachtung niemals als solches wissenschaftlichen Wert; es dient ihm nur soweit, als er sich für berechtigt halten darf, es als Typus, als Spezialfall eines Gattungsbegriffs zu betrachten und diesen dar-

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aus zu entwickeln; er reflektiert darin nur auf diejenigen Merkmale, welche zur Einsicht in eine gesetzmäßige Allgemeinheit geeignet sind. Für den Historiker besteht die Aufgabe, irgend ein Gebilde der Vergangenheit in seiner ganzen individuellen Ausprägung zu ideeller Gegenwärtigkeil zu beleben." 59 Nun geschieht es, daß die einen allgemeine Gesetze, die anderen besondere geschichtliche Tatsachen suchen; so "ist das Ziel der einen das generelle, apodiktische Urteil, das der anderen der singulare, assertorische Satz" 60 • Die einen suchen das Allgemeine in der Form des Naturgesetzes; die anderen das Einzelne in der geschichtlich bestimmten Gestalt: "Sie betrachten zu einem Teil die immer sich gleichbleibende Form, zum anderen Teil den einmaligen, in sich bestimmten Inhalt des wirklichen Geschehens. " 61 Die Geschichtsschreibung krönt ihren Prozeß in der Hervorhebung des individuellen Merkmals des von ihr studierten menschlichen Lebens. Für den Menschen ist das Wissen über die individuellen Phänomene wertvoller als das Wissen über die Gesetze oder das universelle und unzeitliehe Wesen. "Der Mensch ist [wie Windelband sagt] das Tier, welches Geschichte hat. Sein Kulturleben ist ein von Generation sich verdichtender historischer Zusammenhang: wer in diesen zu lebendiger Mitwirkung eintreten will, muß das Verständnis seiner Entwicklung haben." 62 Windelband glaubt, daß die Philosophie nicht eine Einheit zwischen Gesetzlichkeit der Natur und Wertverwirklichung der Kultur aufzufinden vermag. "Die Gesamtheit des in der Zeit Gegebenen erscheint in unableitbarer Selbständigkeit neben der allgemeinen Gesetzmäßigkeit, nach der es sich doch vollzieht. Der Inhalt des Weltgeschehens ist nicht aus seiner Form zu begreifen." 63 Wenn das Besondere nicht aus dem Allgemeinen abzuleiten ist, dann "bleibt für uns in allem historisch und individuell Erfahrenen ein Rest von Unbegreiflichkeit - etwas Unaussagbares, Undefinierbares. So widersteht das letzte und innerste Wesen der Persönlichkeit der Zergliederung durch allgerneine Kategorien. " 64 In der Geschichtsschreibung wird doch der allgemeine Begriff benutzt, aber nur als Mittel zur Darstellung des Individuellen und Besonderen eingefügt. Selbstverständlich ist auch die Geschichte eine Wissenschaft, und, wie jede Wissenschaft, setzt sie sich immer aus Urteilen zusammen, die unabhängig von der Anschauung einen Sinn haben, d. h., verstanden werden müssen. Die Bestandteile dieser Urteile sind niemals individuelle, sondern allgemeine. "Die letzten Elemente, aus denen die Sätze einer historischen Untersuchung bestehen, sind immer allgemein", sagt Rickert 65 • Die Elemente aller wissenschaftlichen Begriffe sind allgemein: "Doch nur die Naturwissenschaft bildet aus ihnen Begriffe, die selbst einen allgemeinen Inhalt haben, während die Geschichte aus ihnen Begriffe mit individuellem Inhalt macht. " 66 "Für die Naturwissenschaft ist das Allgemeine der Zweck, für die Geschichte ist es dagegen das Mittel, und ihr Ziel wird die Darstellung des Individuellen sein [ ... ].Sie kann ebensogut die allgemeinen Elemente auch so aneinanderfügen, daß die dadurch entstehende Vorstellung einen individuellen Inhalt hat, d. h. einen Inhalt der sich nur an einem einmaligen und besonderen Objekt findet und gerade das wiedergibt, wodurch dieses Objekt sich von andern Objekten unterscheidet. " 67 2. Wert und Individualität Mit der Einsicht in die Unentbehrlichkeit des empirischen Faktors findet bei Fichte eine Übertragung der Gebundenheit des Allgemeinen an konkrete Verwirklichung von

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dem theoretischen ausdrücklich auf das sittliche Gebiet statt. "Die Notwendigkeit eines sittlichen Materials [sagt Lask) folgte zwar schon aus Kants Festlegung auch nur des formalen ethischen Wertes; aber nichtsdestoweniger gebührt erst Fichte das Verdienst, diese Folgerung in den Vordergrund geschoben und dadurch in eine ganz neue Beleuchtung gerückt zu haben. Denn die Unentbehrlichkeit konkreter Realisierung des Formalen wird jetzt nicht mehr nur als unvermeidliches intelligibles Faktum empfunden, sondern als lebendiger Zusammenhang endlicher Beschränktheit und übersinnlicher Werte freudig begrüßt. " 68 Diese Verbindung des Konkreten mit überempirischen Werten berechtigt das Verhalten der Geschichtsschreibung. Beispielsweise in den von Rickert unternommenen geschichtsphilosophischen Untersuchungen wird, nach Lask, "durch kritisch-methodologische Forschung das Ergebnis gewonnen, daß die historische Begriffsbildung in der Beziehungder durch ihre Einzigkeit bedeutsamen Individualität auf allgemeingültige Werte und in der gleichzeitigen Einordnung der einzelnen Wirklichkeit in konkretallgemeine Entwicklungs-Zusammenhänge besteht" 69 • Die verallgemeinernde Tendenz des menschlichen Verstandes führt dazu, den gemeinsamen Inhalt derart aufzufassen, daß er das Einzelne als solches hinter sich läßt und preisgibt. Dem gegenüber bezieht sich "alles Interesse und Beurteilen, alle Wertbestimmung des Menschen auf das Einzelne. In der Einmaligkeit, der Unvergleichlichkeit des Gegenstandes wurzeln alle unsere Wertgefühle." 70 "Er hat nur Wert, wenn er einmalig ist." 71 Da aber nicht alles, was einmal geschieht, historisch ist - sonst wäre ja alles eq1pirische geschichtlich liegt es auf der Hand, daß nur das historisch ist, was eine Wertbedeutung hat. Etwas als geschichtlich bedeutsam zu bezeichnen, bedeutet, es auf einen Wertmaßstab zu beziehen, d. h., auf ein System allgemeingültiger Werte, die wie Normen des kulturellen Lebens sind. Das heißt also, sie sind vorausgesetzt als etwas, das sein soll, das ein bestimmtes Verhalten fordert. Diese Werte ermöglichen auch das Verfahren der Historiker, die eines Kriteriums dafür bedürfen, "welche Zustände und Ereignisse in ihrer Individualität wesentlich sind" 72 • Das Prinzip der Auswahl des historisch Wichtigen kann nicht individuell, sondern muß allgemein sein. Diese allgemeine Bedeutung aber ist nicht selbst etwas Allgemeines. Doch ist für die Naturwissenschaften das Prinzip der Auswahl nur die Vergleichung der Objekte mit dem Übereinstimmenden: "Wenn ein Objekt betrachtet wird mit Rücksicht auf die Bildung eines naturwissenschaftlichen Systems allgemeiner Begriffe, wird das ihm mit anderen Gemeinsame immer auch das Wesentliche sein." 73 In der Geschichte aber kann die Bedeutung des Objektes "auf dem beruhen, was ihm eigentümlich ist, also nur an ihm vorkommt" 74 • Die Geschichte kann nicht alle Individuen, alle individuellen Ereignisse darstellen; sie beschränkt sich auf diejenigen, die eine Bedeutung besitzen, d. h., einen allgemeinen Wert ausdrücken: "Aber diese allgemeine Bedeutung beruht nicht auf dem, was die Vorgänge zu Exemplaren eines übergeordneten allgemeinen Begriffs macht, sondern gerade auf ihrer Eigenart und Individualität." 75 Die Beziehung auf den allgemeinen Wert "macht den Inhalt der Begriffe nicht allgemein, sondern die allgemeine Bedeutung der historischen Objekte haftet gerade an ihrer Individualität" 76 • Diese allgemeine Bedeutung ist, wie die allgemeinen Elemente, nicht "das Ziel nach dem die Geschichte strebt, sondern es ist ebenfalls nur ein Mittel zur Darstellung des lndividuellen" 77 •

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3. Empirische und historische Ansicht der Individualität Die Betrachtung des geschichtlichen Individuums als eine abgeschlossene und vereinzelte Gestaltung führt dazu, das Wesen der Geschichte zu verlieren. Die Geschichte als Wissenschaft kann nicht ihr Material in isolierte Gestalten auflösen, weil die Isolierung unhistorisch ist. "Ihre Arbeit ist vielmehr erst dann getan, wenn sie jedes Objekt, das sie behandelt, dem Zusammenhang eingeordnet hat, in dem es sich wirklich befindet. " 78 Schon Fichte machte zuerst damit Ernst, "die vom einheitlichen Menschengeschlecht übernommene Vernunftaufgabe als in ihrer Einmaligkeit wertvolle Entwicklung zu betrachten, das Einzelne deshalb vor allem in seiner einzigartigen Stellung innerhalb des Gesamtverlaufes zu würdigen" 79 • Die generalisierenden Wissenschaften betrachten die Individuen isoliert, weil sie mit der vereinzelnden Abstrakti(ln verfahren. Die Geschichtswissenschaft aber nimmt das Individuum in einem allgemeinen Zusammenhang an, der wiederum kein Begriff mit allgemeinem Inhalt, sondern selbst eine individuelle Wirklichkeit ist. "Und die Einordnung eines Individuums in das ,allgemeine' Ganze, zu dem es gehört, darf nicht mit seiner Unterordnung unter einen allgemeinen Gattungsbegriff verwechselt werden." 80 Doch kann dieser Zusammenhang - im Gegensatz zu den einzelnen Individuen - wieder Allgemeines genannt werden, aber die Individuen stehen zu ihm nicht in dem Verhältnis eines Exemplars zu seinem übergeordneten allgemeinen Begriff, sondern in dem Verhältnis eines Teiles zu seinem Ganzen, das streng genommen eine Individualität einer höheren Art ist. Denn Fichte selbst hat zum Beispiel das Staatsganze nicht als eine bloß eingebildete, sondern reelle Gestalt betrachtet, vermittels derer alle Individuen nicht in einem abstrakten Begriffe, sondern in Eins zusammenfließen. Fichte sagt: "Man hat bis jetzt den Begriff des Staatsganzen nur durch ideale Zusammenfassung der Einzelnen zustande gebracht, und dadurch die wahre Einsicht in die Natur dieses Verhältnisses sich verschlossen. Man kann auf diese Weise alles mögliche zu einem Ganzen vereinigen. Das Vereinigungsband ist dann lediglich unser Denken[ ... ]. Eine wahre Vereinigung begreift man nicht eher, bis man ein Vereinigungsband ausser dem Begriffe aufgezeigt hat." 81 Die Geschichte also bleibt noch als Wissenschaft vom Besonderen und Individuellen, weil sie ihre Objekte einem allgemeinen, nicht begriff-inhaltlichen Zusammenhang unterordnen soll, der ein Ganzes ist, das "aus den verschiedenen individuellen Teilen besteht, und bildet selbst eine individuelle Wirklichkeit, die nur größer, aber nicht allgemeiner als ihre Teile genannt werden kann" 82 • Das Verhältnis der Teile zum Ganzen ist ein anderes "als das der Exemplare zu dem ihnen übergeordneten allgemeinen Begriff" 83 • Der historische Zusammenhang ist ein umfassendes Ganzes. Auch das historische Ganze ist wie jeder seiner Teile etwas Individuelles und Besonderes: "Die italienische Rennaissance zum Beispiel ist ebenso ein historisches Individuum wie Macchiavelli, die romantische Schule ebenso wie Novalis." 84 Endlich hebt Bruno Bauch in demselben Sinn hervor, daß Fichte nicht einen physischen oder naturwissenschaftlichen, sondern einen geschichtlich-kulturellen Individualismus verteidigt. "In diesem Sinne bedeutet ihm das deutsche Volk als Urvolk die Vernunft-Ursprünglichkeit der besonderen natürlichen Anlage unseres Volkes zu kulturschöpferischem Leben, des besonderen Charakters den es nicht um des bloßen Lebenswillen, sondern um der Lebendigkeit wert- und zweckgestaltenden Leistenswillen zu wahren, zu fördern und zu erhöhen gilt. " 85

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Anmerkungen I. H. Seidel: Wert und Wirklichkeit in der Philosophie Heinrich Rickerts, Bonn 1968, S. 2. 2. Emil Lask, Fichtes Idealismus und die Geschichte, in: Gesammelte Schriften, Band I, Tübin· gen 1923, S. 3. 3. H. Rickert, Die Probleme der Geschichtsphilosophie, 1924, Kap. I, Abschnitt VI, in fine, (Spanische Uebersetzung, 1961, S. 76). 4. W. Windelband, Fichte und Comte, in: Congres International de Philosophie, 2me Session, Geneve, 1905,S.292. 5. Bruno Bauch, Fichte und der deutsche Staatsgedanke, in: Schriften zur politischen Bildung, Heft 24, 1925, S. 25. 6. Emil Lask, a.a.O., S. 13. 7. W. Windel band, Fichtes Geschichtsphilosophie, in: Praeludien l, Tübingen, 1924, S. 261-262. 8. Ebenda, S. 262. 9. Bruno Bauch, Fichte und unsere Zeit, in: Beiträge zur Philosophie des deutschen Idealismus, Beiheft 2, Erfurt, 1920, S. 7. 10. E. Lask, a.a.O., S. 14. 11. W. Windelband, Fichtes Geschichtsphilosophie, S. 263. 12. Ebenda, S. 262-263. 13. E. Lask, a.a.O., S. 196. 14. Ebenda, S. 17. 15. Bruno Bauch, Fichte und der deutsche Staatsgedanke, S. 17. 16. Bruno Bauch, Fichte und unsere Zeit, S. 16. 17. E. Lask, a.a.O., S. 193-194. 18. Ebenda, S. 210-211. 19. H. Rickert, Die philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus, in: Logos, Band XI (1922) Heft 2, S. 168. Wenige Zeilen vorher beobachtet Rickert vorsichtig: "Bei Fichte ist volle Klarheit über diesen Punkt freilich nicht immer und jedenfalls nicht von vornherein zu finden. Erst allmählich hat er den Sinn der historischen Besonderheit und Individualität des Lebens in ihrer Un· ersetzlichkeit und damit die Bedeutung der individuellen Eigentümlichkeit auch des sinnlichen Da· seins der Menschen in der Zeit zu würdigen vermocht. Am weitesten ist er in dieser Hinsicht wohl in seinen Reden an die deutsche Nation gekommen, obwohl sogar sie noch manchen Zug aufwei· sen, der einem geschichtlich durchgebildeten Bewusstsein als unhistarisch erscheinen wird. Zur vollen Konsequenz hat sich das geschichtliche Denken bei Fichte niemals entwickelt." 20. Einige Vorlesungen über die Bestimmung des Gelehrten (1794), SW VI, S. 322). 21. H. Rickert, Die philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus, S. 169. 22. W. Windelband, Fichtes Geschichtsphilosophie, S. 264. 23. B. Bauch, Fichte und unsere Zeit, S. 8. 24. Ebenda, S. 9. 25. Ebenda. 26. Ebenda, S. 11. 27. Ebenda, S. 12. 28. W. Windelband, a.a.O., S. 264. 29. Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794); SW I, S. 264. 30. W. Windelband, a.a.O., S. 265. 31. Ebenda, S. 266. 32. H. Rickert, Die philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus, S. 164. 33. H. Rickert, Die allgemeinen Grundlagen der Politik Fichtes, in: Zeitschrift für deutsche Kul· turphilosophie, neue Folge des Logos, Bd. IV, Heft 1, 1937, S. 10. 34. H. Rickert, Die philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus, S. 165. 35. Ebenda, S. 165. 36. Ebenda. 37. Beiträge zur Berichtigung der Urtheile über die französische Revolution (1793); SW VI, s. 55. 38. H. Rickert, Die philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus, S. 153.

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39. H. Rickert, Die allgemeinen Grundlagen der Politik Fichtes, S. 21-22. 40. H. Rickert, Die philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus, S. 166. 41. Ebenda, S. 157-166. 42. Rückerinnerungen (1799); SW V, 362. Seinem radikal evolutiven Vorbild folgend, glaubt Lask, daß Fichte - da er am Anfang dem für Kant typischen formellen und funktionalen Begriff der Sittlichkeit verbunden war - das principium individuationis "für den Freiheitswert ausschließ· lieh in der spezialisierenden Kraft seines sinnlichen Substrates, in der Natur oder in dem System der Triebe und Gefühle" suche. Später überlege Fichte dann, daß es ungenügend sei, die Besonder· heit der sittlichen Bestimmung allein auf Rechnung des Naturtriebes zu suchen, "und es regte sich das Bedürfnis, in der Freiheit selbst das principium individuationis begründet zu sehen. Da half sich nun Fichte mit der Vorstellung, daß es die prädeterminierende Tat des intelligiblen Charakters sei, die der sittlichen Betätigung durch einen nicht formalen, sondern Inhalt und individuelle Eigentüm· lichkeit erzeugenden Schöpfungsakt, die ihr notwendige Individualisation entgegen· oder vielmehr mitbringe." (Fichtes Idealismus und die Geschichte, S. 232). Nachher erst ergibt sich dann, nach Lask, "die Verlegung der Individualitätsschaffenden Kraft aus der intelligiblen Sphäre in die histo· rische Wirklichkeit" (S. 232). 43. H. Rickert, Fichtes Atheismusstreit und die Kantische Philosophie, in: Kant·Studien, IV, 1899, S. 165. In ähnlichen Worten drückt sich Windelband aus: "Kein Gedanke hier von Naturge· setzmäßigkeit des geschichtlichen Lebens, - obwohl auch Fichte typische Entwicklungsstadien da· von konstruiert hat. Für den Schüler Kant's bedeutet Naturnotwendigkeit nur die Form der Er· scheinung: das Wesen aber ist Freiheit, Wertbestimmte Zwecktätigkeit [... ]. Die wahre Wirklich· keit, der Sinn alles empirischen Lebens ist die frei, selbstbestimmte Individualität. Sie ist niemals aus generellen Formen abzuleiten, zu verstehen, zu konstruieren- sie ist nur zu erleben. Diese Ein· sieht ist der entscheidende Punkt in Fichte's eigener Entwicklung gewesen; hier wendete er sich von dem Bestreben ab, den Kant'schen Idealismus in einen neuen metaphysischen Rationalismus umzu· bilden; von hier aus schuf er, wie es neuerdings Rickert und Lask gezeigt haben, seinen historischen Empirismus, der sich in starker Opposition gegen die aprioristische Ausbildung des Idealismus bei SeheHing und Hege! entwickelte"; in: Fichte und Comte, S. 292. 44. H. Rickert, Die philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus, S. !55. 45. "Wird uns durch und in der Form unseres reinen Selbst, durch das Sittengesetz in uns, un· ser wahrer letzter Endzweck aufgestellt, so ist alles in uns, was nicht zu dieser reinen Form gehört, oder alles, was uns zu sinnlichen Wesen macht, nicht selbst Zweck, sondern bloss Mittel für unseren höheren geistigen Zweck. Es soll uns nemlich nie bestimmen, sondern soll durch das Höhere in uns, durch die Vernunft, immer bestimmt werden." In: Beiträge zur Berichtigung der Urtheile über die französische Revolution, SW VI, 8 7. 46. Ebenda, S. 88. 47. Ebenda, S. 87-88. 48. H. Rickert, Die philosophischen Grundlagen von Fichtes Sozialismus, S. !56. 49. Ebenda, S. 167. 50. Ebenda, S. I 70. 51. Ebenda. 52. Reden an die deutsche Nation (1808); SW VIII, S. 467. 53. Das System der Sittenlehre (1812); SW III, S. 65-66. 54. Die Staatslehre (1813), SW IV, S. 459. 55. Ebenda, S. 495. 56. Die Anweisung zum seligen Leben (1806); SW V, S. 459. 57. E. Lask, a.a.O., S. 29. 58. W. Windelband, Geschichte und Natunvissenschaft, in: Praeludien II, S. 148. 59. Ebenda, S. 149-150. 60. Ebenda, S. 144. 61. Ebenda, S. 145. 62. Ebenda, S. 152 f. 63. Ebenda, S. 160. 64. Ebenda, S. 159. 65. H. Rickert, Die Grundlagen der Natunvissenschaftlichen Begriffsbildung. Tübingen 5 1929, s. 740.

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66. Ebenda, S. 474. 67. Ebenda, S. 741. 68. Lask, a.a.O., S. 25. 69. Ebenda, S. 212. 70. W. Windelband, Geschichte und Naturwissenschaft, S. 155. 71. Ebenda, S. 156. 72. H. Rickert, Die Grenzen ... , S. 742. 73. Ebenda, S. 743. 74. Ebenda. 75. Ebenda, S. 749. 76. Ebenda, S. 474. 77. Ebenda, S. 744. 78. Ebenda, S. 359. 79. E. Lask, a.a.O., S. 23. 80. H. Rickert, Die Grenzen ... , S. 474. 81. Grundlage des Naturrechts (1796); SW III, S. 207-208. 82. H. Rickert, Die Grenzen ... , S. 749. 83. Ebenda, S. 360. 84. Ebenda, S. 361. Nach Rickert ist ebenfalls ein Individuum der ganzheitliche Zusammenhang, dem die Geschichte die einzelnen Individuen als Teile oder Glieder einzuordnen hat: "Es ist von ihm stets ein individueller Begriff zu bilden, dessen Elemente in einer absolut historischen Darstellung, auf die wir uns zunächst beschränken, aus den Begriffen bestehen, die man von seinen historischen bedeutsamen individuellen Gliedern gebildet hat, und die "Einheit" dieser verschieden Elemente schliessen sich mit Rücksicht auf die Bedeutung zusammen, die das individuelle Ganze durch seine Besonderheit für den leitenden Wert besitzt. Das Ganze ist freilich wiederum nicht ein vereinzeltes Individuum, sondern gehört einem noch grösseren Ganzen an" (Die Grenzen ... , S. 364). 85. Fichte und der deutsche Gedanke. Flugschriften der Fichte-Gesellschaft von 1914, Zweite Auf!., 1918, S. 9.

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]an Garewicz Fichte und die polnische "Philosophie der Tat"

Mit dem Begriff der polnischen Philosophie der Tat ist eine Richtung verstanden, die um 1835 auftauchte und bis 1848 in der polnischen Philosophie maßgebend war. Sie wird meistens durch fünf Namen bestimmt: August Cieszkowski, Bronisfaw Trentowski, Karo! Libelt, Henryk Kamienski und Edward Dembowski. Graf August Cieszkowski (1814-1894) studierte in Berlin seit 1832 und promovierte bei Kar! Ludwig Michelet, mit dem er sein Leben lang eng befreundet blieb, mit einer Abhandlung über die Ionier. 1838 veröffentlichte er sein berühmtestes Werk, Prolegomena zur Historiographie. Darauf kam er nach Paris und schrieb 1839 ein beachtenswertes ökonomisches Werk Du credit et de La circulation e1883). Danach kehrte er zur philosophischen Problematik zurück und schrieb eine Streitschrift Gott und Palingenesie (1842), in der er gegen Michelet den persönlichen Gott und die Unsterblichkeit der individuellen Seele aufrecht erhielt. Nun wandte er sich politischen Fragen zu. Das Buch De la pairie et de l'aristocratie moderne (1844) vertrat den Gedanken, eine erbliche Aristokratie (zu der er selber gehörte) müsse durch eine ,.Aristokratie des Verdienstes" ersetzt werden. In Paris schloß er sich zu jener Zeit Victor Considerant an und war in den Kreisen der französischen Fourieristen hoch geschätzt. 1848 erschien anonym, weil Cieszkowski einen Bruch mit der katholischen Kirche fürchtete, der einleitende Band seines Hauptwerks Ojcze-Nasz (Vater-Unser); die weiteren wurden erst posthum veröffentlicht; es gibt davon eine französische Übersetzung. In den späteren Jahren wirkte Cieszkowski, der unweit von Posen wohnte, auch am preußischen Landtag. Er war Mitbegründer der Berliner Philosophischen Gesellschaft. Bronistaw Ferdynand Trentowski (1808-1869) studierte an der Warschauer Universität. Am Aufstand 1830/31 beteiligt, ging er nach Deutschland und ließ sich nach kurzem Aufenthalt in Königsberg, wo er den Vorlesungen Herbarts beiwohnte, und einem längeren in Heidelberg, wo sich Daub seiner annahm, in Freiburg i.B. nieder, wo er promovierte, heiratete und den größten Teil seines Lebens verbrachte. Trentowskis Wirken war, besonders in seinen frühen Jahren, unglaublich fruchtbar. 1837 erschien seine Grundlage zur universellen Philosophie (Promotion), 1838 De vita hominis aeterna (Habilitation), 1840 die zweibändigen Vorstudien zur Wissenschaft der Natur oder Obergang von Gott zur Schöpfung. Von den Landsleuten wegen seines deutschen Schrifttums heftig angegriffen, schrieb er von nun an fast ausschließlich in polnischer Sprache. Es folgten: 1842 Chowanna (Pädagogik), 1843 Stosunek filozofii do cybernetyki czyli sztuka rz(!.dzenia narodem (Das Verhältnis der Philosophie zur Kybernetik oder die Herrscherkunst über das Volk), 1844 Demonomania, czyli hauka nadziemskiej mrJdrosci w najnowszey postaci (Dämononamie oder die Lehre von der außerweltlichen Weisheit in ihrer neuesten Gestalt - eine Streitschrift, gegen J. Kerning und den polnischen Messianisten Towiarlski gerichtet) und in demselben Jahr die umfangreiche MysUni (Logik). Eine noch umfangreichere Religionsphilosophie (Boiyca) ist als Handschrift verblieben und bis jetzt nur teilweise veröffentlicht worden. Posthum erschienen: 1873 Die Freimaurerei in ihrem Wesen und Umwesen (Trentowski war seit 1840 Freimaurer) und Panteon wiedzy ludzkiej (Das Pantheon des menschlichen Wissens, drei umfangreiche Bände, 1873-1881). Trentowski schuf eine sehr gekünstelte polnische Terminologie (sie erinnert an diejenige von K. Ch. F. Krause, der in Polen einen ziem-

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lieh breiten Widerhall fand); sie hat sich, mit wenigen Ausnahmen, nicht verbreitet und erschwert heutzutage wesentlich seine Lektüre. Karo I Libelt (1807-1875) studierte und promovierte bei Hege I persönlich. Sein Wirkungsfeld lag vorwiegend in Posen. Er bereitete hier einen Aufstand vor, wurde verhaftet und entkam knapp dem Tode. Zu langjähriger Gefängnisstrafe verurteilt, die er in der Festung. Moabit abbüßen sollte, wurde er durch die Märzrevolution in Berlin befreit. Nach dem Zusammenbruch des Völkerfrühlings zog er sich von der Politik zurück. 1845-50 erschien sein Hauptwerk: Filozofia i krytyka (Philosophie und Kritik). Der erste Band davon trug den Titel Die Lebensfrage der Philosophie. Uber die Alleinherrschaft der Vernunft; er warvorwiegend kritisch und setzte sich mit dem Panlogismus auseinander. Die drei darauffolgenden Bände waren im Prinzip der Ästhetik gewidmet. Henryk Kamienski (1813-1865), ein Autodidakt, war auch politisch tätig und gehörte zu den eifrigsten Verfechtern der Demokratie. Außer seinem Hauptwerk Filozofia ekonomii materialnej ludzkiego spol'eczenstwa (Philosophie der materiellen Ökonomie der menschlichen Gesellschaft) (1843-45) schrieb er auch einige wichtige, obwohl ziemlich kurze Aufsätze, vor allem: 1844 K ilka slow o filozofii historii (Ein paar Worte über die Philosophie der Geschichte) und 1845 Kilka slow o filozofii praktycznej, czyli filozofii czynu (Ein paar Worte über die praktische Philosophie oder die Philoso · phie der Tat). Kamieriski verbrachte einige Zeit im Gefängnis und dann in der Verbannung im Innern Rußlands. Zu seinen wichtigsten politischen Schriften gehören: 0 prawdach iywotnych narodu polskiego, 1844 (Uber die Lebensfragen des polnischen Volkes), 1845 Katechizm demokratyczny (Demokratischer Katechismus), 1857 Rosja i Europa. Polska (Rußland und Europa. Polen) und 1858 Demokracja w Polszcze . .. (Demokratie in Polen). Edward Dembowski (1822-1846), aristokratischer Herkunft und deshalb .,der rote Kastellansohn" genannt, war unter den Vertretern der polnischen Philosophie der Tat der jüngste und zugleich radikalste. Hochbegabt, schrieb er bis zu seinem vorzeitigen Tod Aufsätze, die insgesamt vier Bände ausfüllen. In philosophischer Hinsicht heißen die wichtigsten davon: Kilka mysli o eklektyzmie 1843, (Einige Gedanken über den Eklektizismus), 1844 0 post~pach w filozoficznym pojmowaniu dziejow (Uber Fortschritte in der philosophischen Auffassung der Geschichte) und 1845 Mysli o przysztosci filozofii (Gedanken über die Zukunft der Philosophie). Er verfaßte auch eine umfangreiche Übersicht über das deutsche Schrifttum jener Zeit. 1846 befehligte er den Aufstand in Krakau und fiel im Kampf gegen Österreichische Soldaten. Zu einem internationalen Ruf gelangte nur August Cieszkowski. Seine Prolegomena zur Historiosophie haben Hess, Bakunin und Herzen angeregt. Auguste Cornu 1 sah in ihm einen Bahnbrecher der Wende im Junghegeischen Denken, Nicolas Lobkowicz 2 wertet die Prolegomena als das wichtigste Werk zwischen Hege! und den Ökonomischphilosophischen Manuskripten von Marx. Auch Trentowskis deutsche Werke fanden Widerhall, obwohl ihr Einfluß viel geringer war. Interessant war jedoch die Richtung vor allem als ein Ganzes. Sie war ein Teil jener weitverbreiteten Geistesströmung, die aus dem Zerfall der Hegeischen Schule emporstieg und zu der ebensogut die deutsche Philosophie der Tat, wie auch Rußlands Denker der 40er und 50er Jahre gehörten. Die Verhältnisse, in welchen die polnische Richtung auftauchte, die besonderen Bedürfnisse, welche sie zum Ausdruck brachte, zu schildern, ist hier nicht der Ort. Ihre Stellung in der polnischen Geistesgeschichte gehört nicht zum Thema. Einige Hinweise darauf sind jedoch unvermeidlich, damit die Erörterungen über die Beziehungen der Richtung zu Fichte verständlich werden.

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Der Richtung lag eine Doppelkrise zugrunde: eine philosophische, nämlich die Krise der Hegeischen Schule, und eine politische, nämlich der unterdruckte polnische Aufstand 1830/31. Die erste war allgemeiner, die zweite partikulärer Natur_ Ihre Verflechtung brachte merkwürdige Folgen für die polnische Philosophie der TaL Drei ihrer Begründer haben in Deutschland studiert: Libell noch vor dem Tode Hegels, dessen Lieblingsschüler er angeblich gewesen ist, Cieszkowski und Trentowski in den dreißiger Jahren. übrigens haben zu jener Zeit mehrere Polen in Deutschland Philosophie studiert, meistens in Berlin und in Heidelberg. Dies betraf besonders Studenten, die nach dem Zusammenbruch des Aufstandes nicht ausgewandert sind: die Universitäten in Warschau und Wilno wurden nämlich geschlossen und nach Frankreich durfte man nicht hin. Die drei hier genannten schufen die Grundlagen ihres Gesamtwerks somit zu der Zeit, in der Hegel ziemlich allgemein als Gipfelpunkt c!er deutschen Philosophie und der Philosophie schlechthin angesehen wurde. Sie lehnten sich an ihn an und versuchten zugleich, über ihn hinauszugelangen. Er galt ihnen als das Höchste, was auf dem Wege, welchen der deutsche Idealismus seit Kant einschlug, erreichbar sei. Aber dies Höchste genügte ihnen nicht mehr. "Die Vernunft", schrieb Cieszkowski, "mag sich bei Hege) als die objektivste und absoluteste offenbaren, immer bleibt sie nur Vernunft -für die Philosophie ist sie das Höchste, aber nicht für den absoluten Geist als solchen." 3 Damit war der Panlogismus abgelehnt_ Wir wollen die dafür angeführten Gründe aufzählen: 1. Nach Hege) war nur die absolute Idee das wahrhaft Seiende. "Die absolute Idee allein ist Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit, und ist alle Wahrheit." 4 Die Hegeische Ontologie hatte sich mit der Natur nur als mit einem Anderssein der Idee zu befassen. Der Natur kam also auch keine selbständige Bedeutung zu. Voraussetzung dafür war jedoch, daß alle Tätigkeit in die Sphäre des Geistigen versetzt wurde. Beim lebenswichtigen Handeln muß man der Natur gerecht werden; wird das berücksichtigt, dann läßt sich auch die Natur nicht auf das Anderssein der Idee reduzieren. Man kehrte also zur Schellingschen Idee einer Identität von Geist und Natur zurück. Aber auch diese schien den Polen übermäßig spekulativ, eine Identität, die nicht angeschaut, sondern nur künstlich gedacht sei. 2. Auf erkenntnistheoretischer Ebene geschieht bei Hegel mit der Erfahrung dasselbe, was auf ontologischer mit der Natur geschieht. Auch sie wird vernachlässigt zugunsten der Reflexion. Auch sie muß "rehabilitiert" werden - die von den Saint-Simanisten gepredigte "Rehabilitation der Materie" war eine wichtige Komponente des damaligen polnischen Denkens 5 • 3. Der Hauptvorwurf traf aber die Hegeische Geschichtsphilosophie, also den wahren Kern des Systems. Nach der Auffassung der Polen gab Hegel vor, die Geschichte im Ganzen zu erklären und vermittels der historischen Dimension sämtliche philosophische Fragen zu lösen. In Wahrheit beschränkt sich jedoch seine Geschichtserklärung nur auf das V ergangene. Hege! gibt es selbst zu, indem er mit Nachdruck betont, "die Eule der Minerva beginnt erst mit einbrechender Dämmerung ihren Flug" 6 • Nun meint aber die polnische Philosophie der Tat, und insbesondere Cieszkowski, daß das philosophische Begreifen des Geschichtsverlaufs an der Schwelle der Gegenwart unmöglich abbrechen kann. Geschichte zu begreifen heißt auch, die Zukunft in die Erwägungen aufzunehmen. Sonst bleibt man immer im Zeitlichen befangen und gelangt niemals zum Absoluten.

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4. Mensch und Gott werden beide bei Hege) zum Abstractum. Gott ist ihm nur Geist, kein persönlicher Gott; Mensch ist ihm ebenfalls nur Geist, keine persönliche, leibliche Kreatur, keine Individualität. Gerade deswegen distanziert sich Hege) auch von jedem der Zukunft zugewandten Denken, denn Zukunft gibt es ausschließlich für Menschen von Fleisch und Blut, nicht aber für Schatten. 5. Da das Absolute falsch gefaßt wurde, bietet Hegels Lehre auch keine moralische Richtschnur dar. Der Mensch ist auf die List der Vernunft angewiesen. Nicht er selbst, sondern sie bürgt dafür, daß der bereits gewonnene Begriff der Freiheit ins Leben tritt. Damit ist er der Verantwortung für die praktischen Konsequenzen seines Tuns entho· ben. Der Philosoph insbesondere wird zum bloßen Zuschauer der Ereignisse, und es ist ihm verboten, in sie einzugreifen. Alles in allem: Hegel hat in den philosophischen Fragen, die er selbst als die wichtig· sten anerkannte, versagt. Es war zugleich das Versagen des gesamten deutschen Idealismus. Die Abgründe der Philosophie ließen sich auf die von ihm vorgeschlagene Weise nicht überbrücken. Nun sollte durch die Philosophie der Tat versucht werden, die Aufgabe zu lösen. Grundlegende Bedeutung kam dabei dem Begriff der Tat selbst zu. Und dabei kamen die polnischen Denker in Berührung mit Fichte. Wir werden gleich sehen, daß nur einer von ihnen seine Bedeutung einigermaßen richtig erkannte. Die meisten würdigten zwar seine Leistung, hielten diese jedoch für völlig überholt und schöpften aus ihm keine direkte Anregung. Fichte war ihnen der Philosoph der reinen Subjektivität. Das Ich wird zum noumenon. Indem es sich selbst setzt, setzt es zugleich die gesamte Natur und sogar Gott. Die Transzendenz wird dadurch völlig aufgehoben. Das Ich ist das Wirkende und das Bewirkte zugleich. Als Tathandlung ist es letzten Endes auf sich selbst begrenzt. Die Umwelt wird von ihm zwar als sein eigenes Werk erkannt, in Wirklichkeit setzt es aber nur den Begriff der Umwelt. Fichtes Philosophie betrifft also nur Denkgebilde und dringt nicht zur Wirklichkeit vor. Das merkwürdigste vielleicht an diesen Gedanken, die am klarsten von Trentowski in seiner Grundlage der universellen Philosophie dargelegt wurden, war die Betonung, daß Fichte zwar ein legitimer Nachfolger von Kant sei, ihm zugleich aber schroff gegenüberstehe. Für Kant nämlich wurde das Objekt zum wahren Problem, und in diesem Sinn kann man ihn einen Realisten nennen; für Fichte hingegen wurde es das Subjekt. Schelling schließlich machte den Versuch, die beiden Standpunkte zum Einklang zu bringen. Das Mißlingen dieses Versuches führte wieder zur einseitigen Philosophie des Natur und einer ebenso einseitigen Hegeischen Philosophie des Geistes, welche abermals einer Synthese bedürfen. In dieser Auffassung stellt Fichte nur ein bereits überholtes Stadium in der Entwicklung des deutschen Idealismus dar. Nur Cieszkowski war anderer Meinung. Die Bemerkung, die Vernunft sei zwar für die Philosophie, nicht aber für den absoluten Geist das Höchste, ergänzte er folgendermaßen: "Es soll jetzt der absolute Wille zu einer solchen Höhe der Spekulation erhoben werden, wie es bereits mit der Vernunft geschah, wozu sich schon sehr tiefe Andeutungen bei Fichte dem Älteren finden, welche jedoch, so gewichtig sie auch sind, doch immer nur Andeutungen bleiben." 7 Einen Hinweis, was Cieszkowski darunter meinte, findet man in seinem Brief an K. L. Michelet vom 18.3.183 7 8 • Es werden dort zwei Fichtesche Werke erwähnt, auf die er von Michelet aufmerksam gemacht wurde. Das eine ist genannt, es sind die

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Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters; das andere bleibt ungenannt, sicherlich ist es jedoch Die Bestimmung des Menschen. Wir wollen vor allem überprüfen, was bei Cieszkowski der Begriff der Tat bedeutet. Er ist ihm, wie auch den sonstigen polnischen Denkern jener Richtung, vorwiegend eine geschichtsphilosophische Kategorie. Die Tat ist ein Merkmal einer besonderen Geschichtsepoche, nämlich der Zukunft. Hege) habe die menschliche Geschichte der Vergangenheit gleichgesetzt. Indem er durch Einbeziehung geschichtlicher Dimension philosophische Fragen zu lösen und zum Absoluten vorzudringen glaubte, hatte er sich selbst unüberschreitbare Grenzen gesetzt, weil er in seinen Erwägungen nur das faktisch Geschehene berücksichtigte, das Bevorstehende dagegen prinzipiell außer Betracht ließ. Ein Schluß aus der stets bedingten und zeitlichen Faktizität auf das Unbedingte und Außerzeitliche muß daher nach Hege) notwendig fehlschlagen. Nach Cieszkowskis Auffassung kann man zum Absoluten nur dann gelangen, wenn nicht nur das bereits Gegebene sondern auch das Aufgegebene in Betracht gezogen wird. Das bedeutet aber die Erweiterung geschichtsphilosophischer Betrachtungen auf die Zukunft, da nur sie es ist, die als Aufgabe gefaßt werden kann. Nicht nur die Vergangenheit, auch die Zukunft gehört den Menschen an, nämlich als bevorstehende Tat. Hege) entdeckte nachträglich die Vernunft in der Geschichte. Die Aufgabe der Philosophie beschränkte er darauf, den bereits zurückgelegten Weg zum Bewußtsein zu bringen. Sollte jedoch die Vernunft in der Geschichte obwalten, so muß sie auch in der Zukunft entdeckt werden. Da diese nun lediglich als Aufgabe besteht, so ist eine solche Entdeckung nur insofern möglich, als die Vernunft in die Zukunft hineinprojiziert wird. Auf diese Weise ergibt sich eine für Cieszkowski grundlegende Unterscheidung zwischen Tatsachen und Taten. "Tatsachen (facta) nämlich", schrieb er, "nennen wir diejenigen passiven Begebenheiten, die wir gleichsam vorfinden, und zu welchen wir uns ganz gleichgültig verhalten, etwas Daseiendes ohne unsere Mitwirkung und unser Bewußtsein. Tat (actum) aber [ ... ) ist nicht mehr dieses unmittelbare Ereignis, welches wir bloß aufzunehmen und in uns zu reflektieren hätten, es ist schon reflektiert, schon vermittelt, schon gedacht, vorgesetzt und dann vollzogen, es ist eine aktive Begebenheit, die ganz die unsere ist - nicht mehr fremd, sondern schon bewußt, noch ehe sie verwirklicht wurde. Man kann also sagen, daß die Fakta natürliche Begebenheiten, die Taten aber künstliche sind ... Die Fakta bilden eine unbewußte, also vortheoretische, die Taten aber eine bewußte, also nachtheoretische Praxis." 9 Dem dritten Teil seiner Prolegominis, betitelt "Teleologie der Weltgeschichte" schickte Cieszkowski als Motto eine Paraphrase Faustens voraus: ,,Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat und schreibe getrost: am Ende wird die Tat." 10 Fichte wurde hier glattweg umgestülpt. Seine Tathandlung war das alpha, Cieszkowskis Tat ist das omegaallen Seins und Denkens zugleich. Das Gemeinsame besteht darin, daß beide den Willen hineinziehen, der wesentliche Unterschied darin, daß bei Fichte der freie Akt das absolut Erste, Unbedingte, jedem Wissen Vorausgehende ist, bei Cieszkowski dagegen ,,schon reflektiert, vermittelt, gedacht" ist. Nichtsdestoweniger ist er ein selbständiger Faktor, hängt von dem vermittelnden Elemente nicht ab. Er muß von selbst hinzukommen, damit das Vorgesetzte auch vollführt wird. Genügte also Hege! das bloße Denken, damit die Geschichte fortschreite, so gesellt sich ihm bei Cieszkowski - ohne die Vernunft zu verleugnen - das Wollen hinzu. Nur zusammen

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machen sie die menschliche Freiheit aus: man muß beide anwenden, um zum Absoluten zu gelangen. Fichtes Tathandlungsbegriff diente als Erklärungsgrund allen Wissens. Cieszkowskis Tatbegriff hat eine Doppelfunktion: einerseits erlaubt er den Sinn der Geschichte und damit auch allen Seins zu fassen; andererseits bestimmt er, als Postulat, die Richtlinie des pflichtgemäßen Handelns. Sein und Sollen werden dadurch in Einklang gebracht. Die Frage, ob sich aus dem Sein das Sollen oder aus dem Sollen das Sein ableiten läßt, beantwortet Cieszkowski, und mit ihm auch die sonstigen Vertreter der polnischen Philosophie der Tat folgendermaßen: sie bestimmen sich gegenseitig. Gedanklich zum Absoluten vorzudringen heißt bei Cieszkowski, die Notwendigkeit seiner Verwirklichung auf Erden zu erkennen. Ein chiliastischer Zug ist hier unverkennbar, es war jedoch ein höchst merkwürdiger, weil rationaler Chiliasmus. Cieszkowski lief damit Gefahr, mit dem katholischen Glauben in Fehde zu geraten. Er vermied es durch einen religionsphilosophischen Kunstgriff. Die durch Cieszkowski aufgeworfene Frage besteht darin, wie die Historiosophie, die im Begriff der Tat mündet, mit der heiligen Offenbarung zu vereinen sei. Cieszkowskis Antwort bestand in einer Umdeutung des Vater-Unser, der er sein Hauptwerk widmete. Das Gebet wurde bis jetzt nur als eine Aufzählung der an Gott gerichteten Fundamentalbitten ausgelegt; in Wahrheit war es weit mehr - eine Prophezeiung. Christus habe gelehrt, was getan werden soll, und nicht, worum gebeten werden soll. Bevor noch die Notwendigkeit der Tat erkannt werden konnte, wurde von Gott selbst nicht nur ihre Notwendigkeit, sondern auch ihr Inhalt bestimmt. Die Philosophie kommt also in ihrem Verlauf zu demselben Ergebnis, das in der christlichen Religion längst enthalten war. Es besteht aber nicht darin, den Inhalt der ewigen Wahrheit in klare Begriffe zu fassen, sondern in der Erkenntnis, daß der Kern des Christentums in dem Postulat enthalten sei, Gottes Reich auf Erden zu errichten. Die ewige Wahrheit soll nicht nur erkannt, sondern verwirklicht werden. Da aber diese Verwirklichung nur durch Vereinigung von Vernunft und Wille zustande kommt, in welcher der endliche Geist sich zum absoluten Geist emporhebt, bietet sich für die Philosophie eine bisher nicht wahrgenommene Aufgabe. Hier kehren wir zu dem oben angeführten Satz zurück, daß der Wille zu einer solchen Höhe der Spekulation erhoben werden muß, wie es bei Hege! bereits mit der Vernunft geschah und wozu Fichte Andeutungen gegeben habe. Cieszkowski strebt mit seiner philosophischen Auffassung eine Phänomenologie des Willens (nach dem Muster der Hegeischen Phänomenologie des Geistes) an. Sie soll die Stufen des subjektiven, des objektiven und des absoluten Willens durchschreiten und letzten Endes zur verwirklichten Gottesähnlichkeit gelangen. Der Ausführung dieser Aufgabe war Cieszkowskis Hauptwerk, Vater-Unser, gewidmet. Aber nur die Einleitung dazu erschien - und auch das anonym - zu seinen Lebzeiten, die folgenden drei Bände erschienen erst um die Jahrhundertwende, anläßlich einer Wiederbelebung der Grundgedanken der Philosophie der Tat in Polen, die jedoch nicht mehr zu unserem Thema gehört. Unabhängig von Cieszkowski wurden jedoch dieselben Gedanken von einem anderen polnischen Denker, nämlich Trentowski, aufgegriffen. Nach ihm bestand der proton pseudos der bisherigen Philosophie darin, daß sie sich eines falschen Begriffs der menschlichen Gottähnlichkeit bediente. Sie befolgte die Meinung, nach der Gott die

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allerhöchste Vernunft sei, erklärte also die Vernunft zum Absoluten und reduzierte die Gottähnlichkeit des Menschen auf das Begreifen des Weltalls. Nun sei aber Gott vor allem Weltschöpfer und der Mensch müßte es auch werden, um seine Gottähnlichkeit zur Geltung zu bringen. Sie liegt in ihm in potentia, tritt aber nur vermöge seines bewußten und selbstbewußten Willens in Erscheinung. Der Mensch erweist sich somit als gottähnlich nur in seiner Tat. Trentowski faßte diese Auffassung in die Formel, die Philosophie müsse vom An-sich vermittels des Für-sich zum Aus-sich gelangen. Der Weg vom An-sich zum Für-sich wurde durch den deutschen Idealismus zurückgelegt; nun heißt es den letzten Schritt zu machen und zum Aus-sich zu kommen. Zu diesem Zweck muß jedoch nicht nur die Vernunft, sondern auch der menschliche Wille entwickelt werden. Dies geschieht vermittels der Erziehung. Pädagogik und Herrscherkunst 11 spielen dementsprechend im weitausgebauten Systern Trentowskis eine beträchtliche Rolle. Vergleicht man sie mit Fichtes Lehre von der Bildung zur Freiheit und mit seiner Staatslehre, so fällt auf, daß Trentowski besonderen Wert auf die Persönlichkeit, also auf die Entwicklung der Individualität des Einzelmenschen legt. Demselben Zweck diente übrigens auch bei Cieszkowski die Betonung der Persönlichkeit Gottes und der individuellen Unsterblichkeit. Die polnischen Philosophen der Tat schlugen in dieser Hinsicht denselben Weg ein, den auch Feuerbach befolgte. Die verwirklichte Freiheit bestand für sie in der freien Ausbildung und Ausübung der individuellen Fähigkeiten und in der freien Befriedigung der individuellen Bedürfnisse. Die Erziehung zur Freiheit war somit eine Erziehung zur Tat. Das Ideal lautete: alle Menschen zu selbstbewußten Tätigen emporzuheben, jeden seine Individualität bewahren lassen. Jeder äußere Druck und Zwang, und darüber hinaus auch jede nur pflichtbewußte, den inneren Neigungen widersprechende Handlung wurde damit abgelehnt. Die polnischen, auf nationale Unabhängigkeit zielenden Bestrebungen wurden durch diese Auffassung der Gottähnlichkeit bekräftigt. Einerseits stand das Fehlen eines selbständigen Staates der freien Ausbildung der Persönlichkeit im Wege. Dem Willen des Einzelnen wurden dadurch Grenzen gesetzt, die er niemals als die sich selbst auferlegten anerkennen konnte. Andererseits verpflichtete das Ideal den Einzelmenschen dazu, stets darauf zu sinnen, auf welche Weise äußerer Zwang und Druck beseitigt werden könnten. Die Philosophie der Tat bildete die Grundlage für die Ideologie des Unabhängigkeitskampfes in Polen. Hier lag auch der Grund ihres Einflusses in Polen nach dem Zusammenbruch des Aufstandes von 1830/31. Aber auch allgemeingültige Züge kamen in der polnischen Lehre zum Vorschein. Meiner Meinung nach sind sie am deutlichsten in der V erknüpfung der Religions- und Geschichtsphilosophie ersichtlich. Das Geheimnis der Dreifaltigkeit verhalf der christlichen Religion zur Überbrückung der Kluft zwischen Schöpfung und Heil, bzw. zwischen Sein und Sollen; für die Philosophie blieb sie stets ein Problem. Die Polen, wohl unter dem Einfluß der französischen Sozialphilosophie, aber auch durch Fichtes Tathandlungsbegriff angeregt, wagten den kühnen Gedanken, auch im Diesseits lasse sich die Schöpfungsgeschichte mit der Heilsgeschichte vereinbaren. Dies war der Kern der Philosophie der Tat. Die Tat wird als Schöpfung und Erlösung zugleich begriffen. Mit anderen Worten bedeutete das: es gibt für den Menschen keine andere Erlösung, als die durch vernunftsgemäße Umgestaltung der eigenen Welt. Nur durch die Tat kann sich der Mensch aus seinem heutigen, höchst dürftigen Dasein, wo fremde Mächte ihn beherrschen, zur Freiheit emporarbeiten. Er ist zu ihr nur insofern bestimmt, als sie

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ihm als Aufgabe angeboren ist, eine Aufgabe, deren Verwirklichung nur von ihm selbst bewirkt werden kann. Bedingungen und Begrenzungen, welche die Geschichte den leiblichen Menschen auferlegt, dürfen also nur als ein Ansporn zu ihrer Änderung, und niemals als eine Entschuldigung für Untätigkeit dienen. Die Welt hinnehmen, wie sie eben ist, ohne zu versuchen, sie nach vernünftigem Willen zu gestalten, bedeutet einen Verrat am eigenen Menschsein. Jedes Scheitern verpflichtet nur dazu, dessen Gründe zu erspähen, um ihm in Zukunft zu entgehen. Die Verknüpfung der Geschichts- und Religionsphilosophie faßte Trentowski in die kühne Formel, die ihm die Feindschaft der Orthodoxen einbrachte: "Gott schafft und erhält den Menschen im Himmel und der Mensch schafft und erhält Gott auf Erden. " 12 Aber bei dieser Idee ist die polnische Philosophie der Tat nicht stehengeblieben. Es kam zu einer Spaltung. Einerseits betonte man (besonders tat es Libelt, wiewohl Ansätze dazu auch bei Trentowski zu finden sind) die im polnischen Volksleben verwurzelten nationalen Eigentümlichkeiten, dank derer die Polen zur Tat prädistiniert sein sollten. Dieser Weg erinnert an den, der über die Reden an die deutsche Nation zur politischen Romantik und über den Begriff der intellektuellen Anschauung zu dem von den Polen hochgeschätzten Schelling führte. Was vorher als Aufgabe, welche die höchste Anstrengung des Wo IIens und Denkens fordert, aufgefaßt wurde, wird jetzt auf irrationale Weise als eine Gabe betrachtet. Libelt verlegte den Schwerpunkt der Philosophie der Tat in der Ästhetik. Bei ihm ist es der Künstler, der die geheimnisvollen Regungen der Volksseele zum Ausdruck bringt, als Vorbild des Tatmenschen. Dadurch wird die Tat ins Gebiet des Geistigen verlegt. Irrationale, spontane Urkräfte kommen im künstlerischen Schaffen zur Geltung. Ihnen zur Äußerung zu verhelfen, sei die Aufgabe der Philosophie, die jedoch dazu vor allem die Alleinherrschaft der Vernunft ableugnen muß, was dadurch zustande kommt, daß der Einbildungskraft der Vorrang gegenüber der Reflexion eingeräumt wird. In völlig anderer Richtung verliefen andererseits die Gedanken der Vertreter des linken Flügels der polnischen Philosophie der Tat, Kamienski und Dembowski. Kamienski verzichtete gänzlich auf eine Religionsphilosophie und versetzte das Absolute endgültig ins Diesseits. Er lehnte vor allem Cieszkowskis Unterscheidung zwischen Tatsachen und Taten ab. Die Einteilung der menschlichen Handlungen in unvermittelte (unbewußte) und vermittelte (bewußte) sei ein Mißverständnis: es gibt nur Taten, nur bewußte menschliche Handlungen. Der Irrtum entstand dadurch, daß bei Cieszkowski nicht die gesamte Menschheit, sondern der Einzelmensch zum Subjekt der Tat erklärt wurde. Für ihn sind nämlich die Taten seiner Vorgänger und Mitmenschen lauter Fakta, gegebene Tatsachen; als Tat erscheint ihm nur die eigene, indem er den anderen, besonders den vergangenen, machtlos gegenübersteht. (In einem späteren Artikel versuchte Kamienski zu zeigen, daß die historischen Tatsachen vom Historiker abhängen.) Was aber auf den Einzelmenschen zutrifft, sei in Hinsicht auf die Menschheit im Ganzen falsch. Die Menschheit war, ist und wird stets ihr eigener Herr und Schöpfer sein. Außer ihr gibt es kein Absolutum. In Anbetracht der Allgegenwart der Tat, die allein das Ewige ist, müsse die Philosophie den bisherigen Grundsatz aufgeben und ihn durch einen neuen ersetzen. Jener lautete seit Descartes: "Ich denke, also bin ich"; der neue lautet: "Ich schaffe, also bin ich". "Mensch" und "Schöpfer" sind gleichbedeutende Begriffe. Es ist eine grobe In-

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konsequenz, ihn in dieser Eigenschaft in potentia zwar anzuerkennen, jedoch de facto zu verleugnen, indem man seine Aktualisierung als Schöpfer in die Zukunft verlegt. Diese Inkonsequenz ist dadurch zu erklären, daß das wichtigste Feld der menschlichen Betätigung, das der materiellen Arbeit, der Produktion, bisher gänzlich unbeachtet blieb. Um die Überwindung dieser Inkonsequenz zu verdeutlichen, benannte Kamieiiski sein Hauptwerk Die Philosophie der materiellen Okonomie der menschlichen Gesellschaft. Aber obwohl er die Aufgabe klar zu formulieren wußte, fehlten ihm philosophische Begriffe, dieselbe zu lösen. Höchst interessante Erwägungen, auf die wir hier nicht näher eingehen können, kamen in ökonomischer Sprache zu Wort, und da sie überdies nur in polnischer Sprache zugänglich waren, so übten sie im Gebiet der Philosophie keinen sichtbaren Einfluß aus. Eine nähere Analyse der tatsächlichen Anregungen, die Kamienski und Dembowski durch den westlichen Sozialismus erhielten, steht noch aus. Sicher ist aber, daß zumindest Dembowski den Aufsatz von Moses Hess Sozialismus und Kommunismus kannte, der in den Einundzwanzig Bogen aus der Schweiz erschien, ebenso wie auch das große Werk von Feuerbach. Das Neue bestand bei Dembowski vorwiegend darin, den Schwerpunkt der Philosophie der Tat in die Negation zu verlegen. Das Wesen der Tat besteht im Umsturz des Bestehenden, im Gegensatz zu Cieszkowskis Auffassung, der die Kontinuität der Geschichte und den evolutionären Charakter des Fortschritts stets betonte, und der Trentowskis, der ihn als eine Aufeinanderfolge der Synthesen faßte, welche die bereits zur Reife gekommenen und erkannten Gegensätze (in jeder Hinsicht) auf einen gemeinsamen Nenner bringen, beide Extreme in gleichem Maße berücksichtigend und keines davon aufhebend. Dembowski widersetzte sich sehr scharf einem solchen "Eklektizismus". Das Bestehende müsse zugrundegehen, damit das Neue auftauchen könne. Partei zu ergreifen, gehört somit zur Bedingung jeder Tat. Ein Entschluß, ein Willensakt ist notwendig, jedoch kein abstrakter, sondern ein konkreter, d. h. ein Willensakt, dem das Bewußtsein vorangeht, auf Widerstand zu stoßen und ihn brechen zu müssen. Mit dieser Auffassung sind wir der Idee des Klassenkampfes schon sehr nahe, und es ist höchstwahrscheinlich, daß Dembowski- wäre er nichtjung gefallen- in die unmittelbare Nähe von Marx zu stehen käme. In Bezug zu Fichte liegt in der Entwicklungslinie der Polnischen Philosophie der Tat ein merkwürdiges Paradoxon. Man könnte vielleicht sagen: je weiter die Vertreter derselben von ihm abstachen, desto mehr näherten sie sich ihm. Der mit Fichte gemeinsame Zug der ganzen Richtung bestand erstens: im unerschütterlichen Glauben an die Erkennbarkeil und Erreichbarkeil des Absoluten; zweitens: im Aktivismus, d. h. in der Auffassung des Subjekts als eines tätigen und nicht nur reflektierenden, und drittens: in der Forderung, diese Aktivität als seine Bestimmung und sein Wesen anzuerkennen. Darin waren sie mit Fichte einig. Was die nähere Bestimmung dieser Aktivität betrifft, so rückte die Polnische Philosophie der Tat von ihm immer mehr ab, indem sie das wahre Betätigungsfeld des Subjekts aus dem Bereich des Denkensund der Gesinnung in das· der Erfahrungswelt verlegte, und über Fichte hinausgehend, die Tätigkeit selbst als produktive Arbeit und sogar als sozial-politischen Kampf bestimmten. Zugleich verzichteten sie aber auch in steigendem Maße auf die ursprüngliche Betonung der Persönlichkeit. War ihnen anfangs das Ich ein Sinnlich- Individuelles, das sich zum Transzendentalen dadurch erhob, daß es sich als Manifestation des übersinnlich-individuellen, d. h. des persönlichen Gottes erkannte, so gaben sie später, indem sie auf das Jen-

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seits gänzlich verzichten, zugleich auch die Individualität auf. Das Subjekt der Tat wurde ihnen zum Sinnlich-Überindividuellen, nämlich zur Menschheit oder zum Volk. Die Verkündung des Gottesreiches auf Erden durch die Polnische Philosophie der Tat schlug ebenso fehl, wie andere zeitgenössische Bemühungen mit dem gleichen Ziel, mit denen sie verwandt war. Diese Verwandtschaften aufzudecken und zu zeigen, welchen Platz die polnische Richtung im damaligen europäischen Denken einnahm, wäre ein fesselndes Thema, auf das hier jedoch verzichtet werden muß.

Anmerkungen l. Auguste Cornu, Kar[ Marx und Friedrich Engels. Leben und Werk, Berlin 1954, Bd. I. Dazu auch: Reinhard Lauth, Einflüsse slawischer Denker auf die Genesis der Marxschen Weltanschauung, in: Orientalis Christiana Periodica, XXI, Rom 1955, und derselbe, Die .,verwirtschaftete" Humanität. Grundvoraussetzungen der philosophischen Weltanschauung von Karl Marx, in: Neue Deutsche Hefte, Beiträge zur europäischen Gegenwart, Jg. 2, 1955/56. Kritisch dazu: Horst Stuke, Philosophie der Tat. Studien zur .. Verwirklichung der Philosophie" bei den Junghegelianern und den Wahren Sozialisten, Stuttgart 1963. 2. Nicolas Lobkowicz, Theory and Practice. History of a Concept from Aristotle to Marx, Notre Dame- London 1967. 3. August Cieszkowski, Prolegomena zur Historiographie, Berlin 1838, S. 114. 4. Georg Wilhelm Friedrich Hege!, Wissenschaft der Logik, Frankfurt am Main 1969, Bd. II, s. 549. 5. Der Verdienst, diesen Zusammenhang besonders hervorgehoben zu haben und die ganze Philosophie der Tat dadurch neu zu beleuchten, gebührt Andrzej Walicki, dessen zahlreiche Stellungnahmen zum Thema hier mehrmals berücksichtigt werden. 6. Georg Wilhelm Friedrich Hege!, Grundlinien der Philosophie des Rechts, Harnburg 1967, s. 17. 7. August Cieszkowski, Prolegomena zur Historiographie, a.a.O. 8. Den Briefwechsel zwischen Cieszkowski und Michelet veröffentlichte Walter Kühne in seinem Werk: Graf August Cieszkowski, ein Schüler Hegels und des deutschen Geistes. Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Geisteseinflusses auf die Polen, Leipzig 1938. Übrigens ist die Abhandlung von Walter Kühne, Die Polen und die Philosophie Hegels, in: Heget bei den Slaven, herausgegeben von D. Cyzevskyj, Reichenberg 1934, für den deutschen Leser bis heute die einzige ausführliche, wenn auch etwas veraltete Informationsquelle über einige von den hier betrachteten polnischen Denkern. 9. August Cieszkowski: Prolegomena zur Historiographie, a.a.O., S. 18. 10. Ebenda, S. 76. 11. Wie bereits weiter oben in den biographischen Ausführungen erwähnt, bediente sich Trentowski des Namens "Kybernetik". Norbert Wiener gab zu, es sei ihm bekannt gewesen, daß das Wort bereits bei einem polnischen Denker auftauchte, allerdings in einer anderen als der heute geläufigen Bedeutung. 12. Bronistaw Ferdynand Trentowski, Vorstudien zur Wissenschaft der Natur oder Obergang von Gott zur Schöpfung, Leipzig 1840, Bd. I, S. 216.

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Helmut Girndt Zu J. G. Fichtesund G. H. Meads Theorie der Interpersonalität

Im folgenden geht es um den Versuch einer Würdigung der Beiträge Fichtesund Meads zu einer Theorie der Intersubjektivität oder Interpersonalität 1 • Ich nehme dabei als Voraussetzung an, daß eine umfassende transzendentale Theorie der Interpersonalität eine noch zu leistende Aufgabe philosophischen Bemühens darstellt, zu der u. a. Denker wie Leibniz, Hegel, Husserl und Sartre Entscheidendes geleistet haben. Das Ziel meiner Darlegungen ist, nicht nur zu zeigen, daß den Beiträgen Fichtesund Meads zu einer Theorie der Interpersonalität eine besondere Bedeutung zukommt, sondern auch, daß beide in den Zusammenhang eines einheitlichen und sich ergänzenden Gedankengangs gestellt werden können. Dieser Zusammenhang gründet in der beiden gemeinsamen Auffassung, daß ein philosophischer Zugang zur Interpersonalitätsproblematik nur vom gedanklichen Ausgangspunkt sozialer Interaktion her gefunden werden kann, nicht aber vom Ausgangspunkt eines in theoretischer Einstellung der Welt gegenüber stehenden reinen Erkenntnissubjekts. Methodisch bedeutet der Versuch, Fichte und Mead unter dem Gesichtspunkt einer umfassenden Theorie der Interpersonalität in einen gedanklichen Zusammenhang zu bringen, die Tatsache auszuklammern, daß Fichte und Mead von grundlegend verschiedenen philosophischen Orientierungen geleitet werden (zum einen von der Transzendentalphilosophie Kants, zum anderen vom Pragmatizismus Ch. S. Peirce'). Der vorliegende Versuch bedeutet ebenfalls, sich über philosophisch-historische Gesichtspunkte hinwegzusetzen. Dementsprechend werden Fragen nach dem etwaigen direkten oder indirekten Einfluß von Fichte auf Mead vernachlässigt und ausschließlich das gedanklich Zusammengehörige beider Philosophen herausgestellt 2 • - Das im Kontext einer Interpersonalitäts-Theorie Zusammengehörige erschließt sich allerdings erst auf der Grundlage einer leitenden Fragestellung. Die hier zu verfolgende Fragestellung ist von Kants Kritik der reinen Vernunft inspiriert. Analog zur Kantischen Erkenntnistheorie, welche die denknotwendigen Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung analysiert, unter der Kant jedoch einseitig nur die Erfahrung sinnenfälliger Gegenstände meint, werden meine Ausführungen die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung selbstbewußter Personen und ihrer Beziehungen zueinander verfolgen. Entsprechend der transzendentalen Wendung Kants werden sich dabei die denknotwendigen Bedingungen der Erfahrung von Personen zugleich als Bedingungen der Möglichkeit des (phänomenalen) Daseins von Personen als selbstbewußter Wesen erweisen. An die Stelle der kantischen Untersuchung über die apriorische Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, (resp. Objekt und Subjekt), tritt demnach hier eine (an Fichte und Mead orientierte) Untersuchung der apriori Beziehung zwischen Subjekt und Subjekt. Mit dem Hinweis auf Kant ist angezeigt, daß es im folgenden nicht um eine sozialpsychologische und damit empirische Theorie sozialer Aktion und Interaktion geht, sondern ausschließlich um eine philosophische. Der erste Teil meiner Ausführungen wird in der Darstellung des Fichteschen Gedankengangs in seiner Rechtslehre von 1796, § § 1 bis 6, bestehen 3 • Daranschließt sich

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Philosophiegeschichtliche Zusammenhänge. Helmut Girndt

die Darstellung des Meadschen Gedankengangs aus Mind, Self and Society von 19364 • Wie ich zeigen möchte, können Meads Thesen als Weiterführung des Fichteschen Gedankenganges angesehen werden, wenn man die genannten methodischen Voraussetzungen und Einschränkungen berücksichtigt. Der Zugang zu Fichtes grundlegender Idee interpersonaler Beziehungen erschließt sich am leichtesten über ihren historischen Hintergrund, d. h. über einen zentralen Gedanken in Kants praktischer Philosophie. Nach Kant habe ich kein Bewußtsein meiner selbst als eines vernünftigen Wesens bevor ich nicht kategorisch aufgefordert werde, meine vernünftigen praktischen Fähigkeiten zu realisieren. Man stelle sich einen Mann vor, der unter Androhung des Verlustes seines Lebens genötigt wird, falsches Zeugnis abzulegen und man frage ihn, ob er wohl der Versuchung, sein Leben zu retten, widerstehen könne. Zu dieser Frage äußert sich Kant: "Ob er es tun würde oder nicht, wird er vielleicht sich nicht getrauen zu versichern; daß es ihm aber möglich sei, muß er ohne Bedenken einräumen. Er urteilt also, daß er etwas kann, darum weil er sich bewußt ist, daß er es soll, und erkennt in sich die Freiheit, die ihm sonst ohne das moralische Gesetz unbekannt geblieben wäre." (KpV 54) Dieses Beispiel soll zeigen, daß man sich nach Kant seiner Freiheit nicht bewußt sein kann, ohne einen auf sie bezogenen kategorischen Imperativ. Unter Freiheit wird dabei verstanden, sich über individuelle Eigeninteressen erheben und entsprechend vernünftiger Einsicht, ggf. auch gegen diese Interessen, zum Handeln bestimmen zu können. In einer solchen Art der Selbstbestimmung besteht nun nach Kant das vernünftige Bewußtsein seiner Selbst. Vernünftiges Selbstbewußtsein ist also nicht ein theoretisch kontemplatives Wissen von sich als einer phänomenalen Gegebenheit, sondern ein Bewußtsein von sich als eines moralisch verantwortlich Handelnden. (Vgl. dazu KrV B 5 74; GMS 458) Fichte verlieh dieser Auffassung vom Selbstbewußtsein als Bewußtheit praktisch-vernünftiger Selbstbestimmung in dem Satz Ausdruck, das praktische Vermögen sei die innigste Wurzel des Ich (SW III, S. 21). Fichte hat den Kantischen Gedanken aufgenommen und die Idee, vernünftiges Selbstbewußtsein bestände in einem Bewußtsein moralischen Sichselbstbestimmens und sei als solches durch einen kategorischen Imperativ bedingt, dahingehend erweitert, die Aufforderung zur Selbstbestimmung sei die ausschließliche Quelle allen Selbstbewußtseins (als Bewußtsein eigenen Handelns) und nicht nur des moralischen Selbstbewußtseins wie bei Kant sein eine Aufforderung zur Selbstbestimmung. Die Fichtesche Erweiterung des Kantischen Gedankens gründet in der (übrigens auch von Kant geteilten) Auffassung, das Wesen selbstbewußten personalen Daseins sei identisch mit der Fähigkeit, sich selbst zu bestimmen, unangesehen, ob eine Selbstbestimmung moralisch sei oder nicht. Die Aufforderung zur Selbstbestimmung (und damit auch Selbstbewußtwerdung) im Sinne Fichtes ist also nur, was ihre Form anbetrifft, identisch mit dem kategorischen Imperativ Kants, hat aber eine spezifisch anderen Gehalt. Geht es bei Kant ausschließlich um die moralische Selbstbestimmung und Selbstbewußtwerdung, so bei Fichte um die Aneignung das eigenen Selbstes noch vor jeder moralischen oder nicht-moralischen (etwa nur ,legalen') Weise der Selbstbestimmung 5• Die Überlegungen Fichtes zur Interpersonalität werden im folgenden in fünf gedanklichen Schritten nachvollz.ogen. Dabei gilt (der gedanklichen Ordnung nach) Fichtes erster Schritt einer Überlegung über den formalen Zusammenhang von Selbst- und Gegenstandsbewußtsein:

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I. Selbstbewußtsein als ein begrenztes Bewußtsein von etwas ist nur möglich und erkennbar im Unterschied zu allem, was nicht Selbstbewußtsein ist. Das aus dem Begriff selbstbewußten Seins ausgeschlossene (selbst)bewußtlose Sein ist das des Sinnenhaften und Gegenständlichen. Selbstbewußtsein und sein Gegensatz: Gegenstandsbewußtsein stehen also in einem notwendigen gedanklichen Zusammenhang, insofern das eine nicht denkbar ist ohne das andere. Daraus ergibt sich, daß das Prinzip des Selbstbewußtseins notwendig immer auch Prinzip des Gegenstandsbewußtseins sein muß. Eine transzenden talphilosophische Erklärung selbstbewußten Seins hätte also von einem Prinzip auszugehen, welches die wesentlichen Aspekte beider Bewußtseinsarten in einer übergreifenden Synthese umfaßte, also beide Momente implizit enthielte; dieses beiden gemeinsame Prinzip ist nach Fichte die ,Aufforderung' 6 • 2. Damit gelangen wir zum zweiten Schritt der Fichteschen Überlegung, die in einer inhaltlichen Bestimmung des Prinzips selbstbewußten und nicht selbstbewußten Seins besteht. Dieses Prinzip ist die Aufforderung als eine Bestimmung zur Selbstbestimmung. Es enthält als Bestimmung zur Selbstbestimmung (im Moment der Bestimmung) den determinativen Aspekt des Gegenstandsbewußtseins und als Bestimmung zur Selbstbestimmung das Moment der Freiheitseröffnung praktischer Tätigkeit. Aus dieser allgemeinen Definition des Prinzips geht hervor, daß nicht nur Selbstbewußtsein, sondern auch das Gegenstandsbewußtsein eine praktische Dimension aufweist. Gegenstandsbewußtsein ist insofern ein praktisches Bewußtsein, als sich sinnenfällige Gegenstände gegenüber praktischer Tätigkeit als etwas Widerständiges erweisen. Dieser Sachverhalt läßt sich an dem trivialen Beispiel illustrieren, daß es unmöglich ist, durch eine Wand zu gehen; das gegenständliche (Realitäts-)Bewußtsein erweist sich als Grenze (selbstbewußter) Tätigkeit. Der in der Aufforderung erfahrene Aufruf zu eigener Freiheit geht also zusammen mit der Erfahrung der Grenze dieser Freiheit am gegenständlichen Sein. Auch und gerade unter diesem praktischen Aspekt wird also deutlich, daß Selbstbewußtsein nicht möglich ist ohne gleichzeitiges Gegenstandsbewußtsein, und die Aufforderung so das Prinzip beider Bewußtseinsarten ist. 3. In einem dritten Schritt seiner Überlegungen thematisiert Fichte den Umstand, daß sich Selbstbewußtsein nicht nur als Allgemeines von der Allgemeinheit eines Gegenstandsbewußtseins abhebt, sondern sich darüber hinaus immer als ein individuelles selbstbewußtes Da-sein gegenüber einem anderen individuellen selbstbewußten Da-sein darstellt. Diese über das bisherige hinausgehende Differenzierung zwischen individuellen Selbstbewußtseinen taucht auf im Rahmen seiner Frage nach dem Ursprung einer Aufforderung. Eine Aufforderung im Unterschied zur Gegebenheit naturhafter Dinge ist eine Zwecksetzung. Diese Zwecksetzung ist aber besonderer Art, denn sie bezweckt einen bewußten und freien Akt des Sichbestimmens. Eine solche auf bewußte Tätigkeit gerichtete Zwecksetzung, wie sie eine Aufforderung darstellt, kann nun, so schließt Fichte, keinen bewußtlosen Ursprung haben. Er argumentiert folgendermaßen: Zweck einer Aufforderung ist die freie Wirksamkeit eines vernünftigen Wesens. Dieses soll durch die Aufforderung keineswegs zum Handeln gezwungen werden, vielmehr soll es sich entsprechend der Aufforderung frei und von sich aus zum Handeln bestimmen. Dazu aber bedarf es eines weiteren Moments. Soll es sich selbst zum Handeln bestimmen, "so muss [das Vernunftwesen] die Aufforderung erst verstehen und begreifen,

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und es ist auf eine vorhergehende Erkenntniss desselben gerechnet." (SW III, S. 36). Erkenntnis ist also eine notwendige Bedingung dafür, daß es zu einer freien Selbstbestimmung und damit zum Selbstbewußtsein kommen kann, Erkenntnis folglich ein notwendiges Moment jeder Aufforderung. Nun ist es einsichtig, daß die Verständnis bezweckende Ursache der Aufforderung ihrerseits nicht unverständig sein kann. "Diese Ursache muss [also] nothwendig den Begriff von Vernunft und Freiheit haben; also selbst ein der Begriffe fähiges Wesen, eine Intelligenz, und, da eben [ ... ] dies nicht möglich ist ohne Freiheit, auch ein freies, also überhaupt ein vernünftiges Wesen seyn [ ... ]" (SW III, S. 36). Geschieht also eine Aufforderung an ein vernünftiges Wesen, und wird diese Aufforderung als eine solche verstanden, so kann der Aufgeforderte nicht anders, als ein vernünftiges (individuelles) Wesen außer sich als Ursprung der Einwirkung anzunehmen und sich zugleich als ein ihm gegenüber seinerseits individuelles Vernunftwesen setzen. Nur ein selbst der Erkenntnis und vernünftiger Selbstbestimmung fähiges Wesen könnte eine Erkenntnis eines anderen beabsichtigen. Fichte faßt diesen Erkenntnisschritt mit den Worten zusammen: "Das vernünftige Wesen kann sich nicht setzen als ein solches, es geschehe Qenn auf dasselbe eine Aufforderung zum freien Handeln [ ... ] Geschieht aber eine solche Aufforderung zum Handeln auf dasselbe, so muss es nothwendig ein vernünftiges Wesen ausser sich setzen als die Ursache derselben, also überhaupt ein vernünftiges Wesen außer sich setzen[ ... ]" (SW 111, S. 38/39).- Den Ausführungen Fichtes entnehmen wir folgende bedeutende Erkenntnis: Die Bewußtwerdung des eigenen Selbst als individueller Person zufolge einer Aufforderung zur Selbstbestimmung ist untrennbar von und gleichzeitig mit der Bewußtwerdung einer anderen individuellen Person als Ursache der Aufforderung. 4. Wir kommen damit zu einem vierten und vorerst letzten Schritt der Fichteschen Analyse des Interpersonalitätsverhältnisses. Er betrifft den Zweck oder das Ziel einer Aufforderung. Dieser Aspekt der Aufforderung stellt die Ergänzung zu dem dar, was unter Punkt 3 zum Ursprung der Aufforderung entwickelt wurde. Wie wir gesehen haben, ist Verstehen oder genauer, das Verstandenwerden, eine notwendige Implikation einer jeden Aufforderung, denn nur aufgrunddes Verständnisses eines Sachverhalts werden wir freigesetzt, uns ihm gegenüber selbst zu bestimmen, statt von ihm als einem Unerkannten passiv bestimmt zu werden. Nichtsdestoweniger ist Verständnis nicht der eigentliche Zweck einer Aufforderung. Sie zielt nämlich letztlich und wesentlich auf eine derartige Selbstbestimmung, die ihren Ausdruck in einer vernünftigen Artikulation findet. Nicht nur stellt eine Aufforderung selbst eine Äußerung und insofern eine (Sprach-)Handlung dar, sie bezweckt auch eine äußere und für andere wahrnehmbare Handlung. Ganz unabhängig davon also, was der spezielle Inhalt einer Aufforderung im einzelnen sein mag, eine Aufforderung ist immer auch und notwendig eine Aufforderung zu einer äußerlich wahrnehmbaren Handlung. Jede personale Anrede enthält die Antizipation einer wahrnehmbaren Entgegnung gegenüber dem Anredenden. Ohne eine äußere Entgegnung als Zeichen des Verstandenhabens könnte die auffordernde Person der Vernünftigkeit des Aufgeforderten nicht sicher sein; und diese Unsicherheit hätte notweadig Konsequenzen für das darauffolgende Handeln gegenüber dem Aufgeforderten. "[Es geht also im interpersonalen Kontext nicht darum], dass ich etwa nur den Begriffvon [ ... ]einem vernünftigen Wesen fasse, sondern, dass ich wirklich in der Sinnenwelt handle. Der Begriff bleibt im Innersten

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meines Bewusstseyns nur mir, nicht dem ausser mir, zugänglich. Nur Erfahrung gibt dem anderen Individuum [ ... ] etwas; und diese errege ich lediglich durch Handeln" (SW III, S. 45); "[denn) die Erkenntnis des Einen Individuums vom anderen ist bedingt dadurch, dass das andere es als ein freies behandele[ ... )". (SW III, S. 44) In der interpersonalen Beziehung gelten daher"[ ... ) Handlungen[ ... ] statt der Begriffe: und von Begriffen an sich, ohne Handlungen, ist nicht die Rede, weil von ihnen nicht die Rede seyn kann." (SW III, S. 48) Eine solche, an vernünftiges Handeln gebundene Erkenntnis nennt Fichte "An-erkennen". Die theoretisch-praktische Beziehung zwischen Personen ist also die (wechselseitigen) Anerkennens. Wir sind jetzt in der Lage, ein erstes vorläufiges Zwischenergebnis zu formulieren. Individuelles Selbstbewußtsein konstituiert sich zusammen mit dem Bewußtsein von einer anderen individuellen Person und als Ergebnis einer von dieser anderen Person ausgehenden Aufforderung zur Selbstbestimmung. Die Aufforderung ist eine Handlung, die von einem selbstbewußten Individuum ausgehend sich auf ein anderes bezieht und die eine reziproke Handlung als Gegenäußerung immer mitbezweckt, da nur aufgrund einer Gegenäußerung der vernünftige Charakter des Angesprochenen vergewissert werden kann. Bedingung einer solchen Gegenäußerung ist jedoch Erkenntnis; sowohl des eigenen Aufgefordertseins durch eine andere Person als auch Erkenntnis des eigenen Selbst als eines Aufgeforderten. Personen treten also miteinander in Erkenntnis- und Handlungsbeziehungen aufgrund eines Prozesses sozialer Interaktion, und darüber hinaus bilden sie sich als Selbstbewußtseine allererst in einem solchen Prozeß wechselseitigen Anerkennens. Die in Anlehnung an Kant formulierte Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit interpersonaler Beziehung ist damit vorläufig beantwortet: Möglichkeitsbedingung für die Erfahrung einer anderen individuellen Person wie auch der eigenen als eines individuellen Selbstes ist eine wechselseitige praktische Beziehung7. 5. Nachzutragen bleibt ein letzter bedeutender Punkt der Fichteschen Konzeption. Er besteht in einer rudimentären Theorie des Verstehens. Obgleich nur in wenigen Sätzen skizziert, wird er sich als geeigneter Beziehungspunkt erweisen, die Fichteschen Gedanken mit denen G. H. Meads zu verbinden. Wir hatten gesehen, daß eine Aufforderung als notwendige Bedingung der Fremdund Selbst-Erfahrung zugleich auch Bedingung für das Dasein eines eigenen individuellen Selbstes sowie des Bewußtseins von einer anderen Person ist. Als solche ist die Erfahrung einer Aufforderung grundsätzlich verschieden von der Erfahrung physischer Gegenstände. Während eine Aufforderung in der Eröffnung individueller Möglichkeiten der Selbstbestimmung besteht, stellen die als Hindernisse und Widerstände erlebten physischen Gegenstände gerade die Grenzen eigener Selbstbestimmung dar. Dementsprechend ist auch die Erfahrung des Aufgefordertseins im Gegensatz zum passiven Aufnehmen eines "von außen" kommenden fremdbestimmten Einflusses ausschließlich abhängig von der Autonomie des Aufgeforderten. So hängt es von der angesprochenen Person ab, ob sie sich einer Aufforderung aufschließt oder nicht, d. h. ob sie demjenigen, der sie anspricht, auch zuhören und ihn verstehen will. Ohne einen (prinzipiell unerzwingbaren) Verständniswillen bliebe die sinnhafte Dimension einer Aufforderung unvermittelbar, reduzierte sie sich zu bloßer Wahrnehmung sinnenfälliger Verlautungen. "Die Person bleibt [also) bei dieser Art der Einwirkung ganz und vollkommen frei. Das von einer Ursache ausser ihr in ihr Hervorgebrachte kann sie sogleich

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aufheben, und sie setzt ausdrücklich, dass sie es sogleich aufheben können, dass sonach die Existenz dieser Einwirkung lediglich von ihr abhänge." (SW III, S. 65) Der Wille, sich einem fremden Sinn gegenüber verständnismäßig aufzuschließen, ist jedoch erst notwendige, noch nicht hinreichende Bedingung aktuellen Verständnisses. Tatsächliches Verstehen bedeutet, die sinnhafte Artikulation eines anderen vernünfti· gen Wesens auf sich zu beziehen und zwar so, als sei die Artikulation eines Anderen eine eigene Hervorbringung. Man versteht nur, was man selbst hervorgebracht hat. So erschließt sich der Sinn einer fremden Sprache z. B. nur in dem Maße, wie man sie selbst zu sprechen in der Lage ist. Der Sinn einer Aufforderung wird also nicht verstanden, bevor der Aufgeforderte ihn in sich selbst als seinen eigenen Sinn hervorgebracht hat. "[ ... ]nichts kommt in der Wahrnehmung eines vernünftigen Wesens vor, was es nicht selbst hervorbringen zu können glaubt, oder dessen Hervorbringung es sich nicht zuschreiben kann; für alles Andere hat es keinen Sinn, und es liegt schlechterdings außerhalb seiner Sphäre." (SW III, S. 65) Aber eine solche verstehende Hervorbringung ist tatsächlich nur eine Re-produktion der ursprünglichen Produktion einer anderen Person und keine originale Schöpfung. Verstehen des Sinnes einer vernünftigen Artikulation ist demnach die nachvollziehende Wiedererschaffung dieses Sinnes. Das bedeutet konkreter und in den Worten Fichtes: "Es wird nicht gehört, wenn nicht innerlich die Töne nachgeahmt werden durch das· selbe Organ, durch welches im Sprechen dieselben Töne hervorgebracht werden." (SW III, S. 65) "Wer [aber] hört, der kann unmöglich zugleich sprechen, denn er muss durch das Sprachorgan die äusseren Töne, mitteist ihrer Construktion, nachahmen [ ... ]. (SW III, S. 71) 8 Mit dieser Einsicht in den Charakter des Verstehens ist der Schlußpunkt der Fichtesehen Analyse erreicht. Wir verlassen Fichte an dieser Stelle, um von nun an der Theorie G. H. Meads nachzugehen. 1m Verfolg seiner Ausführungen wird sich zeigen, daß diese nicht nur die Fichteschen Auffassungen bestätigen, sondern als unmittelbare Weiterführung des Fichteschen Ansatzes betrachtet werden können. Dabei bleibt es bei der eingangs gemachten methodischen Einschränkung, daß es sich hier nicht um eine philosophiehistorische Studie handelt. Vielmehr geht es unter Vernachlässigung sowohl historischer Einflüsse als auch grundlegender philosophischer Differenzen zwischen Fichte und Mead allein um den Versuch, einen einheitlichen gedanklichen Zusammenhang aus den Beiträgen beider Philosophen zur Interpersonalitätsproblematik herauszuarbeiten. Die Rechtfertigung als auch das Beurteilungskriterium eines solchen Versuches kann dementsprechend allein in der Konsequenz des entwickelten gedanklichen Zusammenhangs liegen. Um mit Mead zu beginnen, müssen wir zunächst eine neue Terminologie einführen. Für Mead ist eine auf ein vernünftiges Wesen gerichtete Aufforderung eine signifikante oder symbolische Geste. Eine Geste ist eine Handlung, die sich auf eine andere Hand· Jung bezieht. Die Beziehung einer Geste auf eine darauffolgende Handlung, und der Umstand, daß eine Geste selbst eine Handlung darstellt, erlaubt es, eine Geste als Teil eines umfassenden sozialen Aktes anzusehen. Eine Geste ist symbolisch oder signifikant, sofern sie Intelligenz und Selbstbewußt· sein einbeschließt; sie ist hingegen nicht symbolisch oder nicht signifikant, wenn sie Lebewesen ohne Intelligenz und Selbstbewußtsein miteinander in Beziehung setzt.

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Nicht signifikante Gesten haben keine Bedeutung (oder Sinn) für die in einem Interaktionsprozeß einbeschlossenen Lebewesen_ Der Unterschied zwischen signifikanten und nicht signifikanten Gesten läßt sich am besten durch ein Beispiel von Mead verdeutlichen: Das Brüllen eines Löwen veranlaßt · ein reflexartiges Fluchtverhalten anderer Tiere_ Dabei verläuft ein solches Verhalten ohne bewußte Vermittlung eines Sinnes für die beteiligten Lebewesen ab. Das Brüllen hat weder eine Bedeutung für die fliehenden Tiere noch auch für das Raubtier selbst; es ist beiderseits nichts anderes als ein Reflex auf gegebene Bedingungen, die auf das Raubtier wie respektiv auf die Beutetiere wirken. Der abschließend entwickelte Gedanke der Fichteschen Verstehenstheorie lautet, nunmehr in der Terminologie Meads ausgedrückt: wenn ich eine signifikante Geste als an mich adressiert verstehen soll, dann muß ich sie selbst nachvollziehen, sonst kann ich sie nicht als auf mich bezogene identifizieren. Verständnis einer signifikanten Geste beruht auf dem Nachvollzug angesonnenen Sinnes. Die Meadsche Verslehenstheorie entwickelt nun einen zu der Fichteschen Auffassung komplementären Gedankengang: Nicht nur der durch signifikante Gestik zum Handeln Aufgeforderte, auch der Auffordernde selbst muß die von ihm hervorgebrachte Geste auf sich beziehen können. Könnte er das nicht, hätte seine Aufforderung zwar Sinn und Bedeutung für den anderen, aber nicht für ihn selbst. Das Spezifische einer personalen Interaktion liegt aber darin, daß die ausgetauschten Gesten einen Sinn haben und zwar für alle an der Interaktion Beteiligten. Das heißt nichts anderes als: das, was ich dem anderen ansinne, muß ich auch auf mich selbst beziehen können, so, als sei es ein an mich gerichtetes Ansinnen. Konkret bedeutet das: indem ich zu einem anderen spreche, beeinflusse ich mich selbst ebenso wie denjenigen, den ich anrede. Indem ich spreche, höre ich mir selber zu, ebenso wir der andere, an den sich meine Rede wendet. Dementsprechend wird auch der Sinn, den ich dem Anderen übermittele, zugleich von mir verständnismäßig realisiert. Ich bestimme also mit meiner Rede nicht nur den anderen, sondern auch mich selbst zum Vernehmen des von mir artikulierten Sinnes. Vergleichen wir Meads und Fichtes Überlegungen, so ergibt sich: beide beantworten die grundlegende Frage, die sich so formulieren ließe: welches sind die Bedingungen der Möglichkeit des Verständnisses einer interpersonalen Beziehung? Die von ihnen jeweils gegebenen Antworten ergänzen einander. Während Fichte die Verständnisbedingungen auf seiten des Aufgeforderten analysiert, tut Mead dasselbe auf der Seite des Auffordernden. Mit der Erklärung der Verstehensbedingungen interpersonaler Beziehungen verbindet sich ein neues Problem: Eine signifikante Geste muß grundsätzlich in dem Sinn verstanden werden können, in dem sie gemeint war, wenn Kommunikation und Interaktion möglich sein soll. Wie ist ein solches gleiches Verstehen von Sinn möglich? Der Beantwortung dieser Frage vorausliegend ergibt sich vorerst eine weitere Frage: worin be~teht überhaupt der Sinn oder die Bedeutung einer Geste? In Übereinstimmung mit der grundlegend pragmatizistischen Orientierung Meads lautet dessen Antwort: der Sinn einer Geste besteht in dem, was sie hervorruft. Gesten, die denselben Effekt hervorrufen, haben die gleiche, während Gesten, auf die verschiedene Re-aktionen erfolgen, tatsächlich verschiedene Bedeutung haben. Der Sinn einer Geste kann daher

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grundsätzlich durch die Wirkung definiert werden, die sie hervorruft. Es bedeutet des· halb auch keinen Widerspruch anzunehmen, daß die gleiche Geste qua äußerer sinnen· fälliger Handlung verschiedene Re-aktionen bedingt, sie hätte in einem solchen Fall tatsächlich verschiedene Bedeutungen für die miteinander in Beziehung Stehenden. Aus dem, was Mead unter ,Bedeutung' oder ,Sinn' versteht, ergibt sich nun als Antwort darauf, wie es möglich sei, daß verschiedene Personen tatsächlich am selben Sinn teilhaben: Eine Geste hat für die miteinander Kommunizierenden denselben Sinn, wenn sie bei ihnen jeweils die gleiche Handlungstendenz 9 auslöst. Dabei erinnern wir, daß eine Geste ebenso denjenigen beeinflußt, der sie äußert, wie denjenigen, an den sie sich richtet. Indem ich spreche, beeinflusse ich mich wie den Anderen, und die Bedeutung des von mir Geäußerten ist für ihn und für mich dieselbe, wenn durch meine Rede in ihm die gleiche Tendenz zum Handeln freigesetzt wird wie bei mir. Aus diesem Resultat ergeben sich weitere Konsequenzen: Mit jemandem zu kommunizieren schließt ein, die Einstellung des Anderen, auf den man sich bezieht, auch in sich selbst zu mobilisieren. Das bedeutet auch, daß derjenige, der eine Geste hervorruft, in der Lage ist, das künftige und auf seine Geste sinnvollerweise zu erwartende Handeln seines Kommunikationspartners zu antizipieren. Diese Antizipation zu erwartenden Handeins auf eine signifikante Geste ist sogar Voraussetzung personaler Kommunikation. Gäbe es überhaupt keine Vorstellung davon, wie eine an Andere adressierte Geste aufgenommen würde, wären andere Personen gar nicht ansprechbar. Um dabei an Fichte zu erinnern: Eine Aufforderung an einen Anderen, sich selbst frei zum Handeln zu bestimmen, bedeutet implizit die Anerkennung des Anderen als Person. Eine solche, mit der Handlungsaufforderung gegebene Anerkennung enthält notwendigerweise die Erwartung eines reziproken Anerkennungshandelns, (wenn auch keinesfalls die tatsächliche Einlösung dieser Erwartung), und diese Antizipation ist Bedingung der Möglichkeit der ursprünglichen Aufforderungshandlung. Vergleichen wir jetzt Meads und Fichtes Theorie der Interaktion aus einem umfassenderen Gesichtspunkt! Um zunächst Mead zusammenzufassen: Mit dem Setzen einer Geste versetze ich mich in die Position eines Anderen, und dieses Sichversetzen in den Anderen ist Bedingung dafür, überhaupt kommunizieren zu können. Im Hervorbringen einer Geste bin ich mit meinem Bewußtsein also zuerst beim Bewußtsein des Anderen und nicht bei mir, insofern nämlich, als das antizipierende Verhalten des Anderen mir gegenüber bestimmt, wie ich mich ihm gegenüber äußere. Der Ausdruck meines Selbstes wird also aus der von mir antizipierten Sicht des Anderen her definiert; das heißt in der Konsequenz nichts weniger, als daß auch mein Selbstbewußtsein aus der von mir antizipierten Sicht des Anderen (von mir) hervorgeht. Die inhaltlich entsprechende Einsicht ergibt sich aus der Theorie Fichtes. Nach Fichte muß ich als notwendige Bedingung der Selbstaneignung zuerst den Aufforderungsakt einer anderen Person verstehen. Der Prozeß der Selbstbewußtwerdung ist also an das Nachvollziehen eines Aufforderungsaktes gebunden. Ein solcher Nachvollzug bedeutet dasselbe, wie sich in die Position des auffordernden Anderen hineinzuversetzen, und indem man seine Position einnimmt, findet man sich als ein zu reziproker Äußerung aufgefordertes Selbst. Ich gewinne also mein Selbstbewußtsein durch den Anderen, und, davon untrennbar, bin ich aufgefordert, diesem Selbstbewußtsein handelnd Ausdruck zu verleihen. Es ist offensichtlich, daß sowohl Meads als auch Fichtes theoretischer Ansatz zum seihen Ergebnis gelangen. Aber während bei Fichte das Nachvollziehen einer an mich

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gerichteten und mir vorausgegebenen Geste zum Selbstbewußtsein führt, ist es bei Mead das Vorvollziehen der Antwort des Anderen auf meine eigene Geste, durch die ich über die Sicht des Anderen von mir meiner selbst bewußt werde. Der Weg zum Bewußtsein des Selbstes führt also einerseits über das Nachvollziehen, andererseits über das Vorvollziehen der Sicht und Einstellung eines anderen Bewußtseins dem eigenen gegenüber. Dieses Nach- und Vorvollziehen ist ein Prozeß, der sich abspielt ,innerhalb' eines individuellen Bewußtseins, das so zu sich selbst kommt. Selbstbewußtsein beruht also, wenn man sich so ausdrücken darf, auf intrapersonalen Reflexionsakten, in denen (zugleich mit dem Selbstbewußtsein als einem ideellen Vorstellungsprodukt) die Vorstellung eines anderen Bewußtseins und der sozialen Beziehungen zwischen beiden Bewußtseinen hervorgebracht werden. Bisher wurde (mit Fichte) von der grundlegenden Voraussetzung ausgegangen, Selbstbewußtsein konstituiere sich aufgrund des (symbolisch vermittelten) Aufforderungsaktes. Der Aufforderungsakt als solcher und überhaupt muß jedoch unterschieden werden von dem kontingenten Vorgang einer einzelnen und historisch einmaligen Aufforderungshandlung. Dieser Differenz entspricht die zwischen (individuellem) Selbstbewußtsein im Allgemeinen einerseits und einem kontingenten und einmaligen selbstbewußten Akt andererseits. Diese möglicherweise nicht unmittelbar einleuchtende Unterscheidung wird sogleich deutlich, wenn man fragt, wie es möglich sei, daß ein (individuelles) Selbstbewußtsein sich durch die Mannigfaltigkeit interpersonaler Beziehungen und verschiedener Akte des Selbstbewußtseins hindurch als ein mit sich und für sich identisches Selbstbewußtsein bewahren könne. Mead hat das Problem der Einheit des Selbstbewußtseins oder personaler Identität durch Vergleich zwischen dem Selbstbewußtsein des Kindes gegenüber dem des Erwachsenen verdeutlicht und diesen Unterschied wiederum am Beispiel zwischen ,play' und ,game' exemplifiziert: Ein Kind kann zwar reziproke Verhaltensweisen einnehmen wie die von Vater und Mutter, Räuber und Gendarm, Arzt und Patient usw.,jedoch die einzelnen Positionen seines Spielverhaltens (play) nicht sinnvoll in die Einheit eines Selbstbewußtseins integrieren. Sie stehen vielmehr ohne kontinuierlichen Übergang zusammenhanglos nebeneinander. So fehlt dem Kind zwar nicht das Bewußtsein seiner selbst innerhalb einer jeden einzelnen sozialen Beziehung, jedoch das Bewußtsein einer sich durch eine Pluralität von Beziehungen hindurchhaltenden Identität eigenen selbstbewußten Seins. Der Unfähigkeit zu einer umfassenden Synthesis selbstbewußter Akte entspricht das generelle Verhalten des Kindes, es ist Ausdruck eines diskontinuierlichen und fragmentarischen Selbstbewußtseins. Das Kind ist unberechenbar und dementsprechend unzurechnungsfähig hinsichtlich seiner Handlungen. Der entscheidende Übergang zu einem sich durchhaltenden identischen Selbstbewußtseins erfolgt, wenn das Kind an organisierten Spielen (games) teilzunehmen in der Lage ist. In organisierten Spielen, etwa Fußball, muß es sein Spielverhalten nicht, (wie im play), nur auf eine einzige, sondern auf eine Mehrzahl reziproker Positionen abstimmen. Die besondere Position jedes Mitspielers wird dabei definiert durch eine auf Regeln beruhende Organisation. Erst auf der Grundlage einer solchen Organisation, die von jedem Mitspieler verstanden, d. h. virtuell (nach- resp. vor-) vollzogen werden muß, kann sich ein höherstufiges identisches Selbst bilden.

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Aus den von Mead entwickelten Beispielen ,play' und ,game' erhellt, daß die sich im Wechsel sozialer Beziehungen durchhaltende Identität eines Selbst erst aus einer Syn· these nicht nur geregelter, sondern auch einander zugeordneter sozialer Beziehungen hervorgehL Sich auf die Positionen mehrerer Selbstbewußtseine dem eigenen Selbst gegenüber einlassen zu können, ohne dabei das Bewußtsein einer sich durchhaltenden Identität zu verlieren, bedeutet, entsprechend der wesentlichen Reziprozität sozialer Beziehungen, die Positionen mehrerer Selbstbewußtseine der eigenen Person gegenüber einnehmen zu können. Die reziproken Positionen der Anderen bleiben dabei nicht zusammenhanglos nebeneinander bestehen, vielmehr beruht die Identität des eigenen Selbstes gerade darauf, diese verschiedenen Perspektiven in ein umfassendes Ganzes zu integrieren. Die Identität des Selbstbewußtseins ist also Produkt einer Organisation. - Gleichzeitig und untrennbar von einer Synthese reziproker sozialer Beziehungen, auf der personale Identität beruht, verläuft ein weiterer und paralleler Erkenntnisprozeß. Etwas zu einer Einheit verbinden, wie in diesem Fall verschiedene Perspektiven Anderer dem eigenen Selbst gegenüber, bedeutet gleichzeitig, die zugrundeliegende Identität der verbundenen Elemente zu erkennen. Nur wesentliches Gleiches läßt sich in eine Einheit zusammenfassen. Zu realisieren, was sich durch eine Pluralität selbstbewußter Perspektiven dem eigenen Selbst gegenüber als identisch durchhält, bedeutet dasselbe, wie das Allgemeine dieser Perspektiven zu erkennen. Von allen Differenzen zwischen den Perspektiven Anderer absehend, wird, wie Mead sich treffend ausdrückt, der Andere in seiner Allgemeinheit oder der ,verallgemeinerte Andere' (,generalized other') realisiert. Mit der Konstruktion eigener personaler Identität und Individualität auf der Grundlage einer Synthese voneinander unterschiedener Perspektiven Anderer wird also zugleich auch die kollektive Identität dieser Anderen bewußt. Der konkrete Andere begegnet als individueller und zugleich auch als allgemeiner Anderer, d. h. als Mitglied einer Gruppe. Mit der Sicht eines besonderen Anderen mir gegenüber, als Grundlage eigenen Selbstbewußtseins, nehme ich dementsprechend auch zugleich die Sicht eines allgemeinen Anderen mir gegenüber ein. Zufolge der grundlegenden Reziprozität aller interpersonalen Beziehungen ergibt sich aus diesem Sachverhalt: Indem ich mich aus der Sicht des Anderen erblicke, finde ich mich immer auch als einen Allgemeinen, d. h. als ein allgemeines Ich bezogen auf einen allgemeinen Anderen, d. h. finde ich mich als Mitglied einer Gruppe. Mit der Ausdifferenzierung einer besonderen Ich-Identität gegenüber Anderen besonderen Ich-Identitäten vollzieht sich damit zugleich auch die Bedingung für die Identifizierung mit diesen Anderen zur Gemeinsamkeit eines Wir. Als besondere personale Identität bin ich zugleich auch allgemeine, als Ich gegenüber einem Du, resp. Ihr, zugleich auch immer Ich eines gemeinsamen Wir. Rückblickend läßt sich feststellen: Der Aufforderungssinn einer einzigen interpersonalen Beziehung ist zwar grundsätzlich Ermöglichungsbedingung personalen Selbstbewußtseins, doch erst die organisierte Pluralität interpersonaler Beziehungen bildet die Bedingung ftir die Identität eines Selbstbewußtseins. So ist es nicht der einzelne Andere, seine individuelle Aufforderung zum Selbstbewußtsein und der einzelne individuelle Akt der Selbstaneignung, aufgrund deren sich die Identität personalen Selbstseins konstituiert, sondern die interpersonale Gemeinschaft und die ihr entsprechende Organisation einer Mehrzahl von Akten der Aufforderung, wie der Selbstaneignung in eine synthetische Einheit. Und indem sich ein mit sich und für sich identisches Ich gegen-

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über Du und Ihr konstituiert, realisiert es gleichzeitig die jeder interpersonalen Ausdif· ferenzierung zugrundeliegenden Einheit des Wir.

Anmerkungen I. Der Terminus ,Intersubjektivität' ist durch seinen Gebrauch in der Wissenschaftstheorie zwei· fellos besser eingeführt als der von ,Interpersonalität'. Dennoch habe ich gerade wegen so:ines theo· retischen Gebrauchs dem Ausdruck ,Interpersonalität' den Vorzug gegeben, da der begrenzte Kon· text erkenntnis· und wissenschaftstheoretischen Denkens gerade dem nicht gerecht werden würde, was durch den Begriff ,Interpersonalität' herausgehoben werden soll. Behauptet wird nämlich im folgenden, daß die Beziehung zwischen Subjekten gerade nicht theoretischer, sondern in erster Linie praktischer Art sei. Was ich mit dieser terminologischen Wahl allerdings nicht nahelegen möch· te, ist die Auffassung, der kognitive Aspekt zwischen Personen sei etwa irrelevant. Ganz im Gegen· teil spielt auch er eine wesentliche Rolle, wenn auch nur innerhalb einer umfassenden praktischen Beziehung. Vom erkenntnis· resp. wissenschafts-theoretischen Aspekt alleine auszugehen, wie es der Terminus ,Intersubjektivität' nahelegt, stellt gegenüber dem umfassenden Charakter der in Fra· ge stehenden Beziehung tatsächlich nur eine unter begrenzten methodischen Gesichtspunkten recht· fertigbare Abstraktion dar. 2. Der Versuch dieses Beitrags Philosophen sehr unterschiedlicher geistiger Herkunft über ein spezielles philosophisches Thema konstruktiv miteinander in Beziehung zu setzen, wird Bedenken wachrufen können. So möchte ich vorausschicken, daß es mir fern liegt, die Unvereinbarkeit zwischen dem transzendentalen und pragmatizistischen Denkansatz zu leugnen oder auch nur zu ver· kleinem. Unvereinbarkeiten in philosophischen Grundorientierungen, so wird man einräumen, be· sagen allerdings wenig über mögliche Übereinstimmung in philosophischen Detailproblemen, eben· so wie umgekehrt z. B. der transzendentale Idealismus Fichtes und der von Husserl in Einzelpro· blemen häufig wenig Gemeinsamkeiten aufweisen, wie sich gerade am hier zur Diskussion stehen· den Thema der Interpersonalität zeigen ließe. Diese allgemeine Überlegung ergänzt eine historische. Obgleich die besonderen Beziehungen zwischen der Fichteschen Transzendentalphilosophie und dem amerikanischen Pragmatismus im allgemeinen und auf G. H. Mead im besonderen wenig er· forscht sind, ist der bedeutende Einfluß der Kantischen und Nachkantischen Philosophie auf das amerikanische Denken unbestreitbar. Diese allgemeine Feststellung läßt darauf schließen, daß tran· szendentales und pragmatisches Denken durchaus über Gemeinsamkeiten verfügen dürften, die ge· rade bei Detailproblemen zum Tragen kommen. 3. Zitiert nach Joh. Gott[. Fichte, Werke. Auswahl in sechs Bänden, hrsg. v. Fritz Medicus, Bd. 2, oJ. (Meiner) Leipzig, jedoch nach der Originalpaginierung der SW. Auch die Angaben zu Kant beziehen sich auf die respektiven Originalpaginierungen. 4. Mind, Self, and SocietyfFrom the Standpoint of a Social Behaviourist. Ed. Charles W. Morris. UP Chicago, London, 1 1934. Die Zusammenfassung wesentlicher Ausführungen Meads zur Inter· personalität ist unvollständig, worauf ich ausdrücklich hinweisen möchte. So ist vor allem die für Mead wichtige Differenz von I und Me, d. h. spontan und kreativ handelndem ,prä-reflexivem' Selbst und reflektiertem ,gesehenem' Selbst, also die Differenz von dynamischem ,Ich' und stati· schem ,Mich' im vorliegenden Zusammenhang nicht entwickelt worden, da sie den vorgegebenen (quantitativen) Rahmen dieses Beitrags überschritten hätte. Dabei hätten sich interessante Bezie· hungen zu Fichtes ,Tathandlung' herstellen lassen. 5. Auf diese wichtige Differenzierung hat mich L. Siep aufmerksam gemacht. Fichte dürfte schon aus methodischen Gründen der Trennung von Ethik und Rechtsphilosophie das Rechtsver· hältnis nicht von der moralischen Achtung des Anderen als Zweck an sich selbst ableiten. Die Aufforderung zur Selbstbestimmung, aus der dann die wechselseitige Einschränkung der äußeren Freiheits-sphäre hervorgeht, ist daher noch kein Aufruf zu moralischem Handeln, sondern nur zur ,Selbstaneignung'. 6. Wenn irgendwo, dann wird an dieser Stelle deutlich, daß es sich bei dem transzendentalen Idealismus Fichtes nicht um einen emanatistischen Idealismus handelt, nach dem Gegenstandsbe· wußtsein oder gar die Gegenstände selbst aus einem ,absoluten Selbstbewußtsein' hervorgehen,

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sondern um eine ausschließliche gedankliche Begründung von Selbst- und Gegenstandsbewußtsein aus einem als denknotwendig konzipierten gemeinsamen Prinzip. Im Unterschied zu diesem rein philosophischen Ansatz geht es Mead um eine biologische, psychologische und soziale Tatsachen integrierende kausal genetische (und als solche grundsätzlich immer hypothetische) Deutung der Wirklichkeit, also letztlich um eine umfassende empirische Theorie, die ihrerseits in der Evolutionstheorie Darwins wurzelt. Dabei versäumt Mead leider eine methodologische Reflexion auf die theoretischen Positionen seines eigenen Denkansatzes im Rahmen seiner universalen Theorie. 7. Kommunikation und Interaktion werden damit keinesfalls gleichgesetzt, wie es den Anschein haben mag, sondern ihre prinzipielle Unterschiedenheit bestätigt. Gesagt wird von Fichte nur, daß auch die Kommunikation nur als Modus von Interaktion (in einem umfassenderen Sinn des Wortes) stattfinden können. Vom Begriff (sozialer) Interaktion im umfassenden Sinne wird also das in ihm enthaltene Moment der Kommunikation als auch der Interaktion im engeren Sinn des Wortes unterschieden. 8. Auffällig ist, daß der Fichteschen Verstehenstheorie das entscheidende Moment der Interpretation sinnhafter Äußerungen vonseitendes Vernehmenden völlig abgeht. Verstehen bedeutet nach Fichte ein "deckungsgleiches" Nachvollziehen eines ursprungliehen Vollzugs. Daß (Zeichen-)Verstehen aber grundsätzlich immer auch mehr oder weniger zutreffende Deutung gemeinten Sinnes ist, wird ihm nicht bewußt. Für Mead hingegen ist Interpretation vermittelten Sinnes ein grundlegender Aspekt interpersonaler Beziehungen, auf den hier allerdings nicht eigens eingegangen werden kann. Mit ihm hängt zusammen, daß jede Interpretation vernommenen Sinnes immer auch einen dynamischen Aspekt der Modifikation vermittelten Sinnes enthält. Der dynamische Aspekt des Verstehens hätte durchaus im Sinne auch des Fichteschen Grundansatzes gelegen, taucht aber nirgendwo in seinem Werk auf. 9. Wie wir erinnern, hat die symbolische Geste im Unterschied zur nicht-symbolischen keine determinierende Kraft, sie erzwingt kein auf sie folgendes Reflexverhalten, wie die nicht-symbolische. D. h. die signifikante Geste hat nur die Bedeutung einer nicht determinierenden ,Aufforderung zur Selbstbestimmung', wie Fichte sich ausdrückt, an die Stelle determinierten Reaktionsverhaltens tritt mit den Worten Meads die bloße ,Tendenz' oder ,Attitüde' zu Handeln. Selbstverständlich ist der für die Transzendentalphilosophie Fichtes und Kants wesentliche Begriff der (vernünftigen, d. h. autonomen) Selbstbestimmung nicht identisch mit der Meadschen Konzeption einer Tendenz zu Handeln. Wesentlich in diesem Zusammenhang ist nur, daß auch für Mead das Moment des Verstehens (signifikanter Gestik) den ansonsten bei ihm vorausgesetzten determinativen Zwangscharakter von Verhaltensabläufen unterbricht, selbst wenn dies in seinen Texten nicht deutlich zum Ausdruck kommt. Ohne diese Differenzierung zwischen determinierten Verhaltensabläufen und durch Verstehen vermittelten, nicht determinierenden bloßen Handlungstendenzen wäre Meads Unterscheidung nicht signifikanter gegenüber signifikanten Gesten und damit, (selbst)bewußtlosem gegenüber (selbst)bewußten Dasein völlig gegenstandslos. Mead bekennt sich gegenüber einem bloß mechanistisch-deterministischen Denkens allerdings grundsätzlich zu einem kreativen Evolutionismus, allerdings ohne das Moment der Kreativität nur an selbstbewußtes Dasein zu binden, wie das bei Fichte der Fall ist.

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Diskussion Schulte: Können Sie vielleicht auch eine Verbindung zum späten Wittgenstein herstellen? Stimmen Sprachspiel und Spiel als Lebensform überein? Girndt: Meiner Meinung nach stellt es bei Wittgenstein jeweils Verschiedenes dar. Ich habe bei Wittgenstein nichts gefunden, was auf das Problem der Identität verweist. Baumanns: Kann nicht etwa Anerkennung nur soviel bedeuten, wie Anerkennung als Faktum, nicht als Kommunikationsfaktum, sondern als Faktum in dem Sinne eines vernünftigen Dinges, mit dessen Eigenart man, wenn man andere Dinge bewerkstelligt, zu rechnen hat? Girndt: Der Punkt, den Sie angesprochen haben, hängt auch damit zusammen, daß ich mich, wenn erst einmal eine Persönlichkeit, (aufgrund eines lnterpersonalverhältnisses), ausgebildet worden ist, auch auf Dinge beziehen kann wie auf Quasi-Personen: ich antizipire dann die Reaktionen von Dingen auf meine Handlungen, ebenso wie die von Personen. Wenn ich z. B. mein Auto fahre, dann antizipire ich (in meinem Verhalten), wie es auf einer bestimmten Straße reagieren wird, so wie ich antizipiere, wenn ich jemand anspreche, daß er wahrscheinlich dies oder das darauf sagen wird. Manzana: Man könnte vielleicht zwei Sorten von interpersonaler Beziehung unterscheiden: Eine Sorte, wo im alltäglichen Leben die interpersonale Beziehung vermittels von Intentionalität funktioniert, und eine andere und tiefere Ebene, wo die Beziehung nicht vermittels der Intentionalität, die eine Objektivierung ist, funktioniert, sondern vermittels anderer Begriffe wie: Begegnung und Dasein, Miteinander, Sich Befinden? Bei .Fichte sind verschiedene Ebenen der Personalitätsbeziehungen möglich. Girndt: Ich meine allerdings, daß dies Fichte etwas zu unterschätzend ausgedrückt ist, wenn Sie sagen, es handle sich hier um eine Objektivierung des Anderen. Eine Objektivierung des Anderen ist es ja im eigentlichen Sinne nicht, als ich ja den anderen als jemanden ansehe, der sich selbst zu artikulieren und zu bestimmen weiß. Wenn ich mich auf einen anderen als Person beziehe, und das nicht im Kontext eines dirigierten Rollenverhaltens, sondern in direkter Personalbeziehung, dann muß ich (im Prinzip) auf jede Überraschung gefaßt sein, (während das bei einer Objektbeziehung nicht der .Fall ist). - Es gibt zudem auch eine übersprachliche Kommunikation, ebenso wie es eine untersprachliche gibt, (die Mead ,non symbolic' nennt). Wenn wir uns nichtsprachlich aufeinander beziehen, so wie wir es auch gegenüber einem Haustier tun, dann interagieren wir - ohne Werturteil: untermenschlich. Erst auf nicht-sprachlicher Kommunikation aufruhend, erfolgt die eigentliche Interaktion mittels Zeichen und Sprache. Schließlich gibt es noch eine darüber hinausgehende übersprachliche Kommunikation. Eine solche kann nur noch mit Symbolen operieren, (wobei ich das Wort ,Symbol' hier nicht im Sinne Meads verwende). Der Gebrauch von Symbolen -im Unterschied zum normalen Sprachzeichen -ist immer Ausdruck dessen, daß etwas zu artikulieren versucht wird, was in der Sphäre, Fichte würde sagen, des ,Übersinnlichen', liegt (worauf sich Herr Schulte in seinem Vortrag bezog). Es ist so, daß wir drei Dimensionen unterscheiden können: das Vormenschliche, das Mitmenschliche, das Reich der Freiheit, das Miteinander und dann das übersprachliche, Mystische, jedenfalls das nicht mehr unmittelbar Darstellbare als die letzte personale Schicht. Einmal hat Fichte das Interpersonalitätsproblem hinsichtlich der Erschließung von Realität überhaupt nicht fruchtbar gemacht für die Wissenschaften; zweitens hat er überhaupt nicht durch-

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schaut, daß man eine Lehre vom Ich in irgendeinen Zusammenhang bringen kann mit der Interpersonalitätslehre. Und das wäre das eigentlich letzte Fundament einer Korn· munikationstheorie. Lütterfelds: Sie haben eingangs von der solipsistischen Konsequenz einer bloß theo· retischen Ableitung der Person des anderen gesprochen. Die erste Frage: Ist das korrekt, weil Fichtes Wissenschaftslehre von 1794, soweit ich weiß, mit dem Wort "Wir" beginnt, und trotzdem in der Wissenschaftslehre die Person des anderen als Du durch Übertragung einer Ichheit auf ein Es erst deduziert wird, so daß wir also in dieser Wissenschaftslehre schon eine nicht einseitige bloß solipsistische Theorie des Du hätten? Der Begriff der Person ist ja doch offenbar als Ich-Person gegenüber dem Begriff des absoluten Subjekts sekundär. Entsprechend ist ja auch der Handlungsbegriff als Tathandlung sekundär. Ist das wirklich von Bedeutung für eine Theorie der Interpersonalität, sofern ich bei der Person des anderen diese Differenz ja auch geltend machen müßte? Girndt: Wenn Fichte in der Grundlage von ,Wir' spricht, dann bezieht er sich auf sich und die Leser seines Werkes. Selbstverständlich ist eine interpersonale Beziehung schon faktisch vorausgesetzt, bevor ,wir' das Problem der Interpersonalität überhaupt philosophisch angehen können, ebenso wie das für das transzendentale Subjekt gilt, das jeder philosophischen Erörterung zugrundeliegt und doch erst in ihr thematisch gemacht werden kann. - Richtig ist, daß der Begriff der Ich-Person gegenüber dem absoluten Subjekt sekundär ist. Dieses Subordinationsverhältnis ist aber nur methodischer Art. Denn das absolute Subjekt ist ein Abstraktum gegenüber jedem individuellen personalen Ich, weshalb Fichte es ja nach 1794 auch vorzieht, den Ausdruck ,Ich-heit' zur Bezeichnung transzendentaler Subjektivität zu gebrauchen. Siemek: Sie haben am Anfang Ihres Vortrages gesagt, daß bei Fichte wie auch bei Hege!, aber anders als bei Hege!, die Begründung der Interpersonalität in der praktischen Philosophie liege, und mir scheint, daß Sie dagegen im zweiten Teil des Vortrages gezeigt haben, daß wirklich bei Fichte diese Theorie der Interpersonalität als eine transzendentale Theorie gleichermaßen zu verstehen ist, daß es erst die Theorie der Interpersonalität ist, die beide zugleich, sowohl die praktische als auch die theoretische Philosophie, berührt, daß sowohl das moralische Bewußtsein als das erkenntnismäßige Bewußtsein vom Objekt erst aufgrundeiner Intersubjektivität entsteht. Girndt: Wenn man den ausschließlich theoretischen transzendentalen Gesichtspunkt zur Voraussetzung macht, und nicht den praktischen impliziert, dann gelangt man in den Transzendental-solipsismus von Husserl, und da ist nicht herauszukommen. Es liegt somit in der Konsequenz eines ,praktischen' Ansatzes, die theoretischen Aspekte der Interpersonalität mit zu entwickeln. Schüler: Wenn Mead sagt, gleiches Handeln läßt auf gleiche Bedeutung schließen und deshalb kann die Obereinstimmung in der Bedeutung über das Handeln gesichert werden, so erhebt er damit doch den Anspruch, daß das auch wahr sei. Oder soll das nur eine Art Hypothese sein, die sich dadurch rechtfertigt, daß, wenn ich sie zugrunde lege, es keine Unglücke in der Kommunikation gibt? Girndt: Wir haben hier zwei Probleme: ein prinzipielles ,Gesetzesproblem' und ein empirisches. Fichte spricht einerseits von einem kontingenten Anstoß in Form einer Aufforderung zur Selbstbestimmung in dem Sinne, daß ich als individuelles personales Wesen zu mir selbst komme aufgrundeines kontingenten Sachverhaltes. Das aber ist

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ein anderes Problem als: wie sich das transzendentale Ich prinzipiell und unangesehen jeder Kontingenz aufgrund einer Selbstbeschränkung dem Anstoß eines Nicht-Ich eröffnet, der letzilieh in ihm selber begründet liegt. Mues: Wenn es sich aber um einen kontingenten Anstoß handelt, dann heißt das, ich bilde mich nur in der Kontingenz einer bestimmten historischen Situation als Selbstbewußtsein aus. Schüler: Ich glaube, Sie sagten, die Interpersonalität bei Fichte bezieht sich auf soziales Handeln. Habe ich das richtig verstanden? Girndt: Ja! Es handelt sich (in der Interpersonalitätstheorie) bei Fichte um einen kontingenten Prozeß, um eine tatsächliche Einwirkung, nicht um eine bloße Möglichkeit. Die Frage in Fichtes Interpersonaltheorie lautet: Wie komme ich (als Einzelwesen) konkret zu mir selbst? Das ist eine Frage, die Kontingenz impliziert. Und dazu bedarf es des ,Anstoßes' einer kontingenten anderen Person.

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Klaus Harnmacher Problemgeschichtliche und systematische Analyse von Fichtes Dialektik

In seinem Buch Die sechs großen Themen der abendliindischen Metaphysik führt Heinz Heimsoeth die problemimmanente Entwicklung bestimmter philosophischer Grundfragen an der Geschichte der Philosophie vor. Dabei kann man die zunächst verblüffende Feststellung machen, daß für fast alle diese Fragen die Philosophie Fichtes die konsequenteste Durchführung enthält 1 • Fichte, der das Selbstdenken so nachdrücklich forderte und eine neue Art zu philosophieren für sein System in Anspruch nahm, sollte damit jedoch keineswegs als Repräsentant philosophischen Schuldenkens gekennzeichnet werden, welches der Tradition folgte und sich damit bewußt in die Linie einer philosophia perennis stellte, sondern er erscheint eher, gerade weil er unbefangen gegenüber bestimmten Lehrmeinungen ist und sich von traditionellen Denkgewohnheiten befreit, als derjenige, welcher zum Kern der Probleme durchdringt. Ich will in diesem Vortrag versuchen, die Beobachtung Heimsoeths an Fichtes Dialektik erneut zu belegen. Dazu muß gleich gesagt werden, daß Fichte selbst die Bezeichnung Dialektik unter diesem Titel erst in späterer Zeit für seine Methode in Anspruch nimmt (vgl. SW IX, S. 184, 188), und auch dann mehr um der abgrenzenden Klärung willen diese Bezeichnung aufgreift, was ja bei den auf ihn folgenden Systemdenkern Schelling und Hegel ähnlich ist. Trotzdem hat Fichte das Thema Dialektik von Anbeginn an so umfassend begriffen, daß ich behaupten möchte, nur von seinem Denken aus kann die Frage nach dem beantwortet werden, was Dialektik als begründete, nicht allein in der Anwendung gerechtfertigte Denkweise, noch bedeuten kann. Fichte greift zunächst einmal den thematischen, seit Aristoteles festgestellten Anspruch der Dialektik auf, eine logische Bestimmung der Erfahrung und des Erfahrungswissens zu sein 2 , wobei "logisch" freilich in einem seit der Neuzeit differenzierten methodischen Sinne verstanden werden muß 3 • Er greift ihn auf über einige Mißverständnisse hinweg, welche ihm die geschichtliche Entwicklung dieses dialektischen Gedankens vorgab4 , so daß wir an seinen Fragestellungen und vor allem den logischen Formulierungen durchaus Korrekturen anzubringen haben, die aber - wie wir sehen werden -nicht die Gedanken, die darin ausgedrückt sind, mitbetreffen. Wir müssen insbesondere den Begriff Dialektik weiter fassen, als er Fichte von Kant her zunächst vertraut war, weshalb er sein positives dialektisches Vorgehen auch nicht dialektisches, sondern synthetisches Verfahren nennt. Andererseits müssen wir doch den Zusammenhang mit Kants Vorstellung beachten. Es läßt sich am Inhalt dessen, was die transzendentale Dialektik der Kritik der reinen Vernunft behandelt, durchaus die Frage nach der Logik des Erfahrungswissens wiedererkennen, da die Unvermeidlichkeit des "transzendentalen Scheins", der uns unhintertreiblich anhängt (A 298, 339 B 354, 397), auf die "Vernunfteinheit" verweist undtrotzder Kritik des Gebrauches der Verstandesformen zur Bildung allgemeiner Ideen hinsichtlich der Erfahrung, eine "objektive, aber unbestimmte Gültigkeit" solcher synthetischer Sätze subjektiv als Maxime (A 680) im ,,regulativen" Vernunftgebrauch als "heuristisches" Prinzip und zur "Regel möglicher Erfahrung" dienen kann (A 663, B 691). Die Frage nach

Analyse von Fichtes Dialektik

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dem Erfahrungswissen stellt sich also transzendental als Frage des denkenden Subjekts an sich selbst dar, wie es zu einer Erfahrungslogik durch den Gebrauch der Vernunft nach einer Regel für sie selbst kommen kann, da der dialektische Schein auf einem "Mißverstand" (ebenda) der Vernunft in ihrem Gebrauch beruht. Mit diesem Bezug auf das Subjekt können die synthetischen Urteile für das dialektische Verfahren wieder interessant werden, da alle Erfahrung so zunächst innere Erfahrung, Selbsterfahrung ist. Ich behaupte nicht, daß dies das eigentliche Problem war, von dem Fichte ausging. Ich nehme aber an, daß von diesem Sprachgebrauch Kants aus bei ihm sichtbar werden kann, wie die dialektische Fragestellung in sein System eindringen konnte. Die Wendung der Dialektik auf das Subjekt war also bei Kant angelegt. Daß wir die dialektische Thematik dann jedoch bei Fichte gleich zu Beginn in der Schrift über den Begriff der Wissenschaftslehre und in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre mit der kritischen Frage nach dem Gebrauch der Denkformen in der Logik eröffnet finden, weist auf einen weiteren ursprünglichen Charakter der Dialektik: den einer argumentativen Unterredungskunst. Diese schloß nämlich nicht nur ein, daß man jede Aussage als Aussage im Argumentationszusammenhang logisch bestimmte, sondern sie schloß zum mindesten seit Cicero auch ein, daß man auf den Zusammenhang der Aussage mit dem Aussagenden achten mußte 5 • Die Wendung auf das Subjekt kann also auch von hierher verstanden werden. Fichte hebt so gesehen die Frage nach dem Zusammenhang von Aussage und Aussagendem nur auf eine absolute Reflexionsbene, so daß sie jetzt auf das in allen Aussagen sich als äußernd wissende Subjekt geht. Dafür läßt er freilich den Argumentationszusammenhang als Äußerung für den Dialogpartner außer acht, und zwar, weil die Dialektik diesen Aspekt bereits in ihren früheren Wandlungen verloren hatte, wie sie ja auch bei Kant nur noch als Kunst des Scheins und nicht mehr als die logische Erörterung der wahren Meinung im Argumentationszusammenhang verstanden wird 6 . Wir haben diese beiden Seiten der Dialektik bei Fichte nun genauer nachzuweisen im systematischen Zusammenhang seiner Lehre, um zu erkennen, inwiefern sich darin tatsächlich Dialektik überhaupt in ihrer Begründung aufklärt. Damit sindjedoch folgende Nebenaufgaben für diesen Vortrag gestellt: 1) klar zu machen, daß es tatsächlich der dialektische Gedanke im Sinne der antiken Tradition ist 7 , der sich trotz aller Wandlungen, die er durchgemacht hat, in Fichtes Philosophieren darstellt, und nicht etwas, was man - aus welchen Gründen auch immer - in den auf Fichte folgenden Systemen auch Dialektik genannt hat 8 ; 2) damit zusammenhängend darauf hinzuweisen, daß der sich in diesen Systemen ausprägende dialektische Gedanke, insbesondere also der Schellings und Hegels, an den Maßstäben der dialektischen Tradition geklärt werden kann, und deutlich zu machen, daß mit Hilfe der sich unter diesem Gesichtspunkt herausstellenden Kriterien geprüft werden kann, wie weit dabei ein zureichendes oder unzureichendes Problembewußtsein vorliegt; 3) zu zeigen, -hiermit soll dieser Vortrag seine allgemeinere Aufgabe erfüllen - daß Dialektik nur in diesem Sinne angemessen verstanden werden kann und daß dem in allen Denkbereichen heute vor sich gehenden Argumentieren mit einer (angeblichen) Dialektik erst einmal eine Verständigung darüber, was Dialektik sei, vorausgehen muß. Daß diese Frage meist im Anspruch, dialektisch zu denken, ausgeschal-

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Philosophiegeschichtliche Zusammenhänge. Klaus Harnmacher

tet wird, geht selbst auf die durch Fichte begründete neuere Dialektik zurück, deren Darstellung an der genetischen Durchdringung eines Stoffes bei Hegel und in seiner Nachfolge zu der Behauptung führte, daß Dialektik eben nicht unabhängig von dem sich in ihr dialektisch Entfaltenden thematisiert werden könne. So schien sie insbesondere dem Zugriff formaler Wahrheitskontrolle eines Denkens, wie es die Logik beansprucht, entzogen. Es wäre leicht zu zeigen, daß damit wissenschaftliches Denken selbst in Frage gestellt wird, was bisweilen auch von dieser Seite zugestanden wird. Das bleibt jedoch eine Flucht, welche übrigens so etwas wie die Flucht vor dem eigenen Schatten ist. Aber steigen wir mit diesem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit in die Untersuchung selbst ein: Fichte hat ihn mit dem Titel Wissenschaftslehre als "Wissenschaft von einer Wissenschaft überhaupt" ausdrücklich für die Philosophie erhoben (GA I, 2, S. 118) und ist dabei auch vom Begriff der Wissenschaft ausgegangen (Begriffsschrift). Aber genügt seine Darstellung der drei Grundsätze in der Grundlage der gesammten Wissenschafts/ehre, aus deren Aufstellung das synthetische Verfahren als dialektische Methode zuerst gewonnen wird, diesen Kriterien der Wissenschaftlichkeit? Mit der Ausrichtung der Frage auf diese Schrift haben wir uns im Hauptteil dieses Referats auseinanderzusetzen, nicht nur, weil Fichte sie trotz der vielerörterten Überholung durch die späteren Ausarbeitungen 9 hat gelten lassen als Gesamtgrundlegung seines Systems, sondern auch, weil sich allein aus ihr die Entwicklung der Dialektik im Zusammenhang mit der Tradition des dialektischen Gedankens prüfen läßt. Daran schließt sich dann eine notgedrungen kurze Betrachtung der vollständigeren Begründung der Dialektik selbst in der Spätphilosophie an. Grundsatz selbst war die von Christian Wolffeingeführte Übersetzung von Axioma und wurde von ihm erläutert als "propositio theoretica indemonstrabilis" (Logica § 267) 10 • Fichte folgt dieser Bestimmung offensichtlich, wenn er beim ersten Grundsatz hinzugefügt: "beweisen oder bestimmen läßt er sich nicht". (SW, I, S. 91; GA, I, 2, S. 255) Adelungs Wörterbuch führt uns jedoch erst die volle, bei Fichte wirksame Bedeutung dieser Definition vor, wenn dort angegeben wird, daß ein Grundsatz sich durchaus auf die praktische Bewährung als Regel seiner Anwendung in der Sittenlehre stütze (Wörterbuch li, S. 836). Fichtes Erläuterungen des Begriffs Grundsatz in den Vorlesungen über Logik und Metaphysik (Platnervorlesung) durch das Achtgeben auf das Verfahren nach einem Gesetze, bestätigt, daß er auch tatsächlich diese Bewährung meint (NS, li, S. 15 GA IV, 1, S. 185). Damit läßt sich die Aufstellung von Grundsätzen analog mit dem Verfahren erläutern, welches Fichte in einer Anmerkung zur Begriffsschrift in Anschluß an Kant als das der Naturwissenschaft kennzeichnet, insofern diese eine praktische Bewährung im Verfahren nach einer Regel vornimmt: (GA, I, 2, S. I35/36.) Wir erkennen nur das von den Dingen, was wir in sie hineingelegt haben (K.d.r.V. B XVIII), da sich die Gegenstände der Erfahrung notwendig nach Gesetzen richten, die -wie Fichte ergänzt - "Gesetze für uns sind wie wir die Natur zu beobachten haben". Dabei kann die Bestätigung und Widerlegung durch ein "Experiment" eintreten, wie wiederum schon Kant bemerkt (ebenda), weil wir in solchem Denken lediglich auf das Verfahren zu achten haben. In ähnlichem Sinne hatte schon Descartes die kühne Gleichsetzung vorgenommen, man habe nur den Regeln zu folgen, die in der Sache selbst sich darbieten oder aufs klügste für sie ausgedacht sind, da nachher doch nach den Naturgesetzen verändert werde (A. T. X, 404 Princ.Phil. III, Art. 100 A.T.

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VIII, 1, 103 ). Solches methodisches Denken wird nun von Fichte auch auf das denkende Subjekt angewandt, denn: "Man kann gar nichts denken, ohne sein Ich, als sich seiner selbst bewußt, mit hinzu zu denken" (SW, I, S. 97; GA, I, 2, S. 260). Wir haben in unserem Fragezusammenhang jedoch nicht das absolute Ich weiter zu erklären, sondern lediglich darauf zu achten, wie es sich daraus im 1. Grundsatz ergibt. Es läßt sich erkennen, daß dies in indirekter Beweisführung geschieht, denn Reflexion und Abstraktion, die als Prüfungsmittel eingeführt werden, gehen ausdrücklich auf dasjenige, was nicht dazu gehört. (SW I, S. 91; GA I, 2, S. 255.) Und noch rückblickend auf den 1. theoretischen Teil der Grundlage, stellt Fichte fest: "Demnach ist der Beweis apagogisch geführt" (SW I, S. 271; GA I, 2, S. 404). Wir haben rriit diesem indirekten Beweis auch ein dialektisches Verfahren im traditionellen Sinne vor uns und finden bestätigt, daß Fichte dies meinen muß, da er den ersten Grundsatz ausdrücklich als "aufzusuchen" angibt. Reinhold, der den Begriff des 1. Grundsatzes wieder in die Philosophie einführte, redet auch ausdrücklich von der dialektischen Argumentationssituation, wenn er eine eindeutige Bestimmtheit für die Streitenden fordert (Uber die Möglichkeit der Philosophie als strenge Wissenschaft, S. 351 ). Die Frage, die sich aufdrängt, ob denn also auch die methodische Denkweise der Naturwissenschaften als dialektisch zu verstehen sei, muß ich hier beiseite schieben mit dem Hinweis, daß zu einer angemessenen positiven Beantwortung dieser Frage eine Reihe der Wandlungen der Dialektik zu beachten wäre, daß sich aber bei Fichte tatsächlich erst mit der Beantwortung der dialektischen Frage eine Erklärung auch der wissenschaftstheoretischen Frage, warum in der Naturwissenschaft Experimente Beweiskraft haben (auf die ich eben schon anspielte), findet. Der Ansatz beim logischen Satz der Identität, ausdrücklich als "Tatsache des Bewußtseins" verstanden, dient also nur einem indirekten Beweis und setzt keineswegs die Logik anders in Gültigkeit denn als Tatsache. Damit ist auch der Zirkel zwischen Logik und sie begründender Wissenschaftslehre als circulus vitiosus ausgeschlossen. Das Aufzusuchende ist keineswegs schon in der Definition eingeschlossen, sondern liegt in einem nicht eingeschlossenen Geltungsbereich. Der Satz der Identität gilt im Bereich der Erfahrung als Tatsache des Bewußtseins, die zu erreichende Tathandlung, die den ersten Grundsatz erfaßt, ist in einem Bereich, der über die Erfahrung hinausgeht, zu suchen (SW I, S. 425/26; GA I, 4, S. 187/88). Das Problem, das sich dadurch aber für ein solches Aufsuchen ergibt, besteht dann vielmehr in der möglichen willkürlichen Auswahl bei einem solchen Verfahren. Fichte sieht diese ausgeschaltet durch das methodische Vorgehen, welches nicht "immer auch ein Auge mit auf die Erfahrung gerichtet" hat (SW I, S. 447; GA I, 4, S. 206) und drückt sich zur Erläuterung - ganz ähnlich wie oben von Descartes berichtet wurde durch eine Analogie mit mathematischen Konstruktionen aus: "So habt ihr nur, nach der euch wohl bekannten Regel, das Product dieser Factoren zu suchen. Ob es mit der gegebenen Zahl übereinstimme, wird sich hinterher, wenn ihr das Product erst habt, schon finden" (SW I, S. 446; GA I, 4, S. 205). Fichte hat die Wissenschaftslehre von Anbeginn an als genetische Nacherfindung verstanden 12 • An solcher Nacherfindung hält noch die Wissenschaftslehre 18042 ausdrücklich fest. (SW X, S. 100; Meiner, S. 16) Auch dieser Anspruch der Erfindung war der dialektischen Kunst ursprünglich als ars inveniendi (argumenta) oder ars inventiae zugesprochen, nach ihrer Verschmelzung mit der Logik auch auf diese übertragen und dann gerade in der Analyse gesucht, die

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sich nun methodisch verstand und von der traditionellen Logik, den dialektischen An· spruch des erfindenden Denkens aufnehmend, sich abwandte, mit dem Bemerken, daß diese nichts Neues erfassen könnte 13 • Bei Fichte wird die Frage unausweichlich, worin die Erfindung besteht, da das Auffinden der Örter nicht mehr ein Auge auf die Erfahrung gerichtet haben darf. Fich· te fordert einen "Denk-Akt", der mit Freiheit vollzogen werden muß - "und die noth· wendige Weise, wie er zu vollziehen ist, diese ist in der Natur der Intelligenz gegründet, und hängt nicht ab von der Willkür; sie ist etwas nothwendiges, das aber nur in und bei einer freien Handlung vorkommt; etwas gefundenes, dessen Finden aber durch Freiheit bedingt ist". (SW I, S. 445; GA I, 4, S. 204.) Wir sind damit auf einen anderen Zirkel gestoßen, dessen Bedeutung Fichte erst allmählich aufging, den Zirkel von Freiheit und Wissen. Er wird erstmals eigens themati· siert in der Wissenschaftslehre von 1801, und zwar auf dem Hintergrund der komplementär zu verstehenden Grunddisjunktion (vgl. SW II, S. 44, 45, 52 u. 59 ff. Meiner, S. 56/57, 64, 73 ff.), und wird bei dem zentralen Problem der Dialektik für Fichte im abschließenden Teil meiner Betrachtungen wieder auftauchen. In der ursprünglichen Konzeption der Wissenschaftslehre berücksichtigt ihn Fichte noch nicht, gelangt aber trotzdem schon zu einer bestimmten dialektischen Methode, die es ihm ermöglicht, das Problem der Erfahrung "idealistisch" aufzulösen, d. h. die Verbindlichkeit der Intelli· genz für die Erfahrung zu beweisen. (Das ist der großartige Gedanke einer Erfahrungslogik insbesondere in den Vorlesungen über Logik und Metaphysik.) Sehen wir uns deshalb diese zunächst an! Die Aufstellung des ersten Grundsatzes erbringt im indirekten Vorgehen zunächst aus einer Analyse des Identitätssatzes die Einsicht in den logischen Zusammenhang: wenn A ist, so ist A = A (SW I, S. 93; GA I, 2, S. 257) 14 , den man als bloße Implikation (bzw. Folgerung) verstehen könnte, wenn Fichte nicht mit dem "wenn .. . so"-Junktor eben einen Doppelsinn verbinden würde, nämlich noch den des Eintretens des hypothetischen Bedingungs- Verhältnisses. Dieses sind wir seit Frege gewohnt als "ungesättigtes Satzgefüge" von der Folgerung zu unterscheiden 15 • Hierbei verweist die Bedingung auf die bewahrheitende Funktion der Anschauung. Das wurde von Frege nicht zugegeben, wird aber aus seinen Beispielsätzen deutlich 16 • Einer von diesen ist bereits seit Cicero als dialektischer Argumentationstopos bekannt: Wenn er in Athen warund ein Mord in Rom geschehen ist, kann er ihnnicht begangen haben, heißt es bei Cicero 17 , und fast der gleiche Satz nur mit Umkehrung der Orte findet sich noch bei Frege 18 . Nur wird bei Fichte dieses Verhältnis aus den von Kant für die transzendentale Dialektik u. a. aufgestellten hypothetischen Vernunftsschlüssen aufgegriffen, aber nicht mehr auf die Bestimmung aus der raum-zeitlichen Anschauung angewandt bezogen gesehen, weil das von Kant - wie oben erwähnt als dialektischer Schein aufgedeckt worden war, sondern auf eine Anschauung des Tuns im Handeln (intellektuelle Anschauung). Wie sie möglich wird, erklärt uns der viel mißgedeutete Begriff des Setzens. Er taucht schon bei Kant für dasAnnehmen des vorprädikativen Seins auf 19 • Fichte entdeckt nun das Begreifen, das im Bedingungsverhältnis reflektiert wurde, als Anschauen des Handelns: "begreifen heißt auf sich und sein Handeln, welches ein Anschauen ist, reflektieren; also so ein Handeln muß sein, sonst könnte nicht reflektiert werden" (NS II, S. 96, GA IV, 1, S. 251). Er entdeckt es als Setzen aus der lchstruktur: "Wird daher ausgesagt, ich tue das, so heißt das, ich setze mich als dies tuend". (NS II, S. 95; GA IV, 1, S. 250.) Damit wird die Wahrheit gemäß Frege als

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Erfüllung solcher Sätze in einer Funktion begriffen, die sich in einem hypothetischen Bedingungsverhältnis aus der Verneinung desjenigen ergibt, das in dem bedingten Gedanken damit verbunden war20 . Nun könnte man dieses methodische Verfahren modern aus einem operativen Wissen verstehen. Auch Fichte redete bereits von "Operation", stellt aber ausdrücklich fest, daß diese nur zum ,,Ich bin" als Tatsache des Bewußtseins führt. (SW I, S. 94; GA I,2, S. 259/58) Wenn er in einem weiteren Schritt vielleicht zu schnell von der Ersetzung des A = A durch Ich = Ich übergeht, bewegt er sich noch auf dieser Ebene, wohl unter den Einfluß von Maimon, der erklärt hatte: "Ein jedes Subjekt muß nicht nur als Subjekt, sondern auch an sich, ein möglicher Gegenstand des Bewußtseins seyn" 21 , was letztlich eine Transformation von Kants Ich denke, das meine Vorstellungen muß begleiten können darstellt. Die in einer Anschauung zu ergreifende Handlung stellt später aber Fichte differenzierter dar22 • "Ich, das in der Stelle des Prädikats A. setzende, dem zu Folge, daß es in der des Subjekts gesezt wurde, weiß nothwendig von meinem Subjektsetzen, also von mir selbst, schaue wiederum mich selbst an, bin mir dasselbe" (GA I,2, S. 258), heißt es in der 2. Auflage der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre von 1802. Die dialektische Erörterung führt von der logischen Vorzeichnung, die an der sinnlichen Anschauung selbst entdeckt wird, zu dieser intellektuellen Anschauung des Handelns: "wie viel ein Baum Blätter hat, weiß ich so nicht, ohne sie gezählt zu haben, aber er hat doch eine bestimmte Anzahl, dieses ist das bestimmbare, daß sich etwas festes darüber bestimmen lasse, ohne daß man es weiß." (NS II, S. 98; GA IV ,I, S. 253.) Maimon hatte das Bestimmbare als "Subjekt überhaupt" von der Bestimmung unterschieden. Dies wird nun in der Anschauung als intellektuelle Bestimmung begriffen. Deshalb versteht sie Fichte aus einem Handeln; das ist besonders für das Verständnis des 2. Grundsatzes zu beachten: "es ist ein Handeln in Beziehung auf ein anderes Handeln" {SW I, S. 103; GA I,2, S. 266). An diesem als Handeln des Ich wird das indirekt begreiflich: "Erst durch Beziehung auf ein Setzen wird es ein Gegensetzen" (ebenda). Es ist also ein entgegengesetztes Handeln. Im Sonnenklaren Bericht hat Fichte das in der Anschauung vorausgesetzte Denken des Nicht-Ich deutlich zu machen versucht: Woher weiß ich, daß die Uhr, während ich nicht auf sie schaue, weitergegangen ist, so daß ich die Veränderung der Zeiger überhaupt wahrnehmen konnte? Ich denke dies in der Wahrnehmung mit durch die Möglichkeit darauf schauen zu können (SW II, s. 340 f.). Die Tatsache des Bewußtseins im logischen Ausdruck der Negation des 2. Grundsatzes -A nicht =A bleibt jedoch dialektisch unterbestimmt mit dem Satz "Von allem, was dem Ich zukommt, musskraftder blossen Gegensetzung dem Nicht-Ich das Gegentbeil zukommen". (SW I, S. 104; GA I, 2, S. 267 .) Denn hier ist unbestimmt gelassen, ob dies Zukommen eine geschlossene Sphäre aufteilt an Ich und Nicht-Ich, oder nur ausschließend bestimmt 23 , wie nach der dialektischen Tradition seit Platon und Aristoteles - nur mit unterschiedlichen Folgerungen bei beiden -etwa das Nicht-Weiße, nicht schwarz zu sein braucht 24 • Es wird sich bald zeigen, daß nur der letztere Gegensatz gemeint sein kann, es sei aber auf diese offene Stelle hingewiesen, da sie die meisten Mißverständnisse der Dialektik Fichtes hervorgebracht hat. Wir sind damit schon bei der Problematik des 3. Grundsatzes. Er soll ebenfalls durch konsequentes Fortdenken aus der dialektischen Tradition geklärt werden. Die

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zu seiner Deduktion in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre angeführten gegensätzlichen Beweisgänge enthüllen sich bei Prüfung unter solchem Gesichtspunkt als Enthymema, als verkürzte Syllogismen oder Schlüsse aus unterdrückten Prämissen 25 • Sie sind insofern als kontradiktorische Urteile nicht so streng einander ausschließende Beweisgänge, wie Fichte annimmt, da er entgegengesetzte Urteile, wie solche über Ich und Nicht-Ich unmittelbar mit verneinenden gleichsetzt 26 • Der traditionell dialektische Argumentationszusammenhang hält sich aber dabei offensichtlich durch, da nach Maimon quantifizierende Urteile "Schlußsätze abgekürzter Schlüsse" sind 27 • Verkennt Fichte auch zunächst in dieser Nachfolge die genauelogische Funktion, so wird an seiner Vereinigung der Gegensätze mittels Quantifizierung der Totalität 28 deutlich, daß sie diesem dialektischen Denken entspricht. Solches Quantifizieren der Urteile wird von Fichte als "Einschränken" vorgeführt und dabei ausdrücklich betont, daß er den Begriff der Schranken nicht analytisch verstehe, was ihn nach der logischen Klassifizierung der Zeit als "synthetisch" erscheinen läßt, und dieses kann ihn IIur der Dialektik, sofern diese über die Antinomien hinaus (im Unterschied zu Kant) wieder positiv verstanden wird, zuweisen (SW I, S. 108; GA I,2, S. 270). In der genuinen dialektischen Tradition findet sich dies unter dem Begriff der Einteilung als grundlegendes Prinzip. Von "Einteilungsgründen" redet Fichte bereits in der Grundlage, später sogar wieder scholastisch von fundamenta divisionis (SW I, S. 334; GA I,3, S. 145/46.) Aber die divisio in der Deduktion war seit Cicero nur als zulässig erklärt, sofern von etwas ausgegangen wurde, dessen Wahrheit allen einsichtig war und was deshalb nicht der Prüfung bedurfte 29 • Nun handelt es sich bei Fichtes gegensätzlichen Bewt:isen um solche, deren Vereinbarkeit auf ein in einem jeden vorauszusetzenden Vermögen beruht, dem der produktiven Einbildungskraft (SW I, S. 205-227; GA 1,2, S: 350 f.). Fichte geht also über die bloße Verwendung der dialektischen Denkformen hinaus, indem er über die Annahme gegensätzlicher Meinungen auf eine Möglichkeit voii Einsicht rekurriert, in die ein jeder eintreten kann und die jeder so in Wirksamkeit setzen kann, wodurch er diese Vereinbarkeit genetisch versteht. Das bedeutet jedoch keineswegs, daß er ihre Vereinigung psychologisch erklärt. Er redet zwar von Beginn an von der Vereinigung durch ein erfindendes Denken (heuristisch), welches auch die traditionelle Dialektik im Auffinden der Ort er beanspruchte. Er verwahrt sich aber in der transzendentalen Logik ausdrücklich dagegen, das bedeute, das Dritte, das die Gegensätze vereinige, sich auszudenken und von außen hineinzutragen (SW IX, S. 183). Vielmehr ist-- wie oben bereits gezeigtdas methodische Erfinden der neuzeitlichen Wissenschaft gemeint 30 • Die Vereinigung ist eine Aufgabe, ein x oder y zu finden, vermittelst dessen alle gegensätzlichen Folgerungen wahr sein können. Diese Aufgabe wird jedoch wieder durch ein "Experiment" gelöst (SW I, S. 109; GA I,2, S. 270). Aber die Art, wie die Lösung gefunden wird, ist nicht etwas, das in der Lösung enthalten ist. Es geschieht durch Gleichsetzen in einem niederen Begriff, nicht Aufheben in einem höheren (SW I, S. 119; GA I,2, S. 279), und die Lösung der Aufgabe bekommt dadurch eine an die formale Logik anknüpfende Verfahrensweise 31 • Dazu werden die Gegensätze gemäß dem Widerspruchsprinzip unterschieden. Fichte stellt ausdrücklich fest, daß nicht in einem und demselben Sinne das Ich etwa als endlich und unendlich angesehen werden kann, um einen solchen Gegensatz zu nennen (SW I, S. 255; 267; GA 1,2, S. 392, 401), womit auf die genauen Formulierungen des

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aristotelischen Widerspruchssatzes verwiesen wird, denn Aristoteles hatte als Bestnnmungsstücke des Widerspruchssatzes den gleichen Sinn und dieselbe Hinsz-cht gefordert32. Zugleich bedeutet also Einteilung immer Unterscheiden. Fichte faßt den "Unterscheidungs-Grund" als konkrete Form dialektischer Vereinigung Entgegengesetzter (SW I, S. 111, passim GA 1,2, S. 272), denn: Alle Unterschiedenen sind .,in einem Merkmale =X gleich" (ebenda). Da die Unterscheidung nach Fichte sich zugleich als Form des Satzes vom Grunde darstellt, und zwar als diejenige Form, durch die man mittels des Begriffs der Teilbarkeit Entgegengesetztes unterscheidet, ergibt sich ein reeller Widerspruch, denn unterschieden wird Wirkliches. Hierzu gehört erläuternd jene berühmte Stelle aus der Wissenschaftslehre von 1801: "Wie ist denn aber nur der Saz ihrer Logik selbst, daß man keinen Widerspruch denken könne, möglich. Da müssen sie den Widerspruch doch auf irgend eine Weise angefaßt haben, da sie ja seiner Meldung thun" (SW II, S. 53; Meiner S. 65). Aber der Unterscheidungsgrund ist eben nur eine Form des Satzes vom Grunde, neben der noch der ,,Beziehungs-Grund" besteht, und Fichte macht durch Erörterung logischer Urteile klar, daß bei der Angabe des einen notwendig vom anderen abstrahiert werden muß. (SW I, S. 116; GA 1,2, S. 277) Nun verbindet sich aber im Denken des Grundes beides, denn was unterschieden werden soll, muß auf ein Drittes bezogen werden (SW I, S. 276; GA 1,2, S. 408). Und hiermit erst tritt die dialektische Vereinigung nicht als Angabe eines etwa gemeinsamen Grundes auf, sondern als ,,Aufgabe für einen Grund" (SW I, S. 116, passim GA 1,2, S. 277). Die Struktur solchen Denkens wird mit dem .,thetischen Urteil" erläutert. (SW I, S. 115-122; GA 1,2, S. 276-281). Dieses kann aber als "unendliches Urteil" nach der von Kant übernommenen Definition nicht auf die in Prädikate gefaßten Gegensätze mittels der Angabe des Unterscheidungs- und Beziehungsgrundes bezogen werden (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 97, und Fichte, SW I, S. 224) 33 , sondern eröffnet als solches nur die "Möglichkeit" (Kant) der Vereinigung als Aufgabe, da durch ein unendliches Urteil etwas nur ausschließend bestimmt wird. Fichte begreift nun diese "Möglichkeit" als etwas, was sich tatsächlich vollzieht im Ichbewußtsein, sofern man dadurch in aller Erfahrung, bestimmt zu sein - etwa durch das Nicht-Ich- weiß, daß man diese Bestimmtheit denkt, und damit über ihr schwebt 34 : Es ist das Schweben der Einbildungskraft oder später der genetische Wechsel zwischen Absoluten und Disjunktionspunkt (SW I, S. 217; GA 1,2, S. 360; SW X, 13 7, 156 f.). Diese "Möglichkeit" faßt den tatsächlichen Wechsel des Ich vom Erkennen als theoretisches Ich zum Handeln als praktisches Ich und faßt dies an der Formel des Sichbewußtseins auch schon in der Grundlage als "das Ich, das sich setzt, als sich selbst setzend" oder als "durch sich selbst gesetzt" (SW I, S. 218, 276/77; GA 1,2, S. 361/62; 408/409), was den Zentralpunkt der Spätlehre in den unterschiedlichsten :Formulierungen bildet: das SichWissen des Wissens als Wissen, das Sich-Erscheinen der Erscheinung als sich erscheinend, als Bild des Bildes im Bilde usw ... (vgl. SW X, S. 355 ff.). Keineswegs wird damit die dialektische Vereinigung aus einem Sollen vollzogen, das die Gegensätze durch einen postulativen Willensakt aufzuheben fordert 35 . Fichte betont ausdrücklich, daß der Beweis für die Forderung eines Sollens in der praktischen Vernunft durch die theoretische Vernunft geführt werden müsse, und nicht durch den bei Aufstellung der Grundsätze herbeizitierten Machtspruch abgewiesen werden darf (SW I, S. 264; GA 1,2, S. 399). Das Sollen stellt eine Totalität her,

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aber Totalität denken bedeutet nach Fichte selbst schon immer Einschränken, Begren· zen und steht unter dem 3. Grundsatz der Teilbarkeit oder, wie es später heißt, der Quantitabilität (SW I, S. 382; GA 1,3, S. 186): "Ist A Totalität, und wird als solche gesetzt, so wird B ausgeschlossen". Damit erhebt sich erst der Anspruch des einen Gliedes, welches das andere ausschließt auf dieser Ebene des 3. Grundsatzes, und nur deshalb erscheint im "Beziehungsgrund" des So IIens (SW I, S. 261; GA 1,2, S. 396) die Forderung des Ich aus praktischer Vernunft als "absolutes Postulat der Uebereinstimmung mit dem reinen Ich" (SW I, S. 260, GA 1,2, S. 396) also nur in einem der mit dem 3. Grundsatz gesetzten beiden Teile des Wissens. Die Vereinigung geschieht über das Bewußtsein des Ich, das sich setzt als sich set· zend, und so in sich annehmen kann, daß es aus dem oben erwähnten Bewußtsein der Möglichkeit eine von der Tätigkeit des Setzens verschiedene Tätigkeit = X als vereini· gend konstruieren kann. Sie besteht im Streben, nicht im Sollen. Fichte gibt gleich in den Erläuterungen zum 3. Grundsatz ein formales Schema, wie der Satz A=B gültig wird, der dem Satz A=A widerspricht: "X=X, A=X, B=X; mithin A=B, insofern beides ist =X" (SW I, S. 111; GA I,2, S. 273). Das Verständnis Schellings und Hegels von dieser so initiierten neuen Dialektik läßt sich an diesem formelhaft skizzierten Verhältnis am einfachsten kontrollieren. Es sei deshalb kurz davon abgehoben. Schelling nimmt noch in seiner /dentitätsphilosophie, auf deren Gegenüberstellung ich mich hier beschränke, den Satz A=A nicht als Aussage des darin sich als setzend findenden gesetzten Ich, sondern nimmt ihn absolut. Er fin· det nun, daß die Form des Satzes A=A bestimmt ist durch Aals Subjekt und Aals Prädikat (Darstellung meines Systems 16 [120]). Für das Erkennen zeigt sich dann die Voraussetzung, diese Form im Gleichsetzen auch als Differenz gedacht zu haben. In dem Sich-Beziehen des Prädikates auf das Subjekt muß ich sie als Differenz denken, um Identität zu erfassen. Diese Identität der Identität bleibt Indifferenz, und wirkliche Differenz als Unterscheidung läßt sich nur so denken, daß es in diesem Sich-Beziehen zu einem Überwiegen der Objektivität oder Subjektivität der beiden Glieder kommt (ebenda 20 [124]). Sie drückt Schelling in dem Satz "A=B (B als Bezeichnung für Objektivität)" aus. Auch hierin verbirgt sich ein traditioneller dialektischer Gedanke. Die Quantifizierung wird aus der Objektivität entnommen: ,Jedes A=B ist in Bezug auf sich selbst oder an sich (von mir hervorgehoben) betrachtet ein A=A" (29 [133])- "B gesetzt als das, was ursprünglich ist" (31 [ 135 ]). Schelling sieht, daß es, um von A=A zu A=B zu kommen, der Mittelglieder bedarf. Er entnimmt sie gemäß dem transzendentalen Denken der Bedingung ebenfalls durch einen verkürzten Schluß der Denkbarkeit der Identität der Identität als Objektivität. Er geht dabei aber nicht mit methodischer Bewußtseinskontrolle vor wie Fichte, d. h. er findet nicht Vereinigung, weil das zweite A "das sich selbst zum Objecte der Reflexion machende Ich, als in sich gesetzt, vorfindet, weil es dasselbe erst in sich gesetzt hat. Das urtheilende Ich prädicirt etwas, nicht eigentlich von A, sondern von sich selbst, dass es nemlich in sich ein A vorfinde." (Grundlage der gesammten Wissenschafts/ehre, Anmerkung zum 1. Grundsatz, SW I, S. 96; GA 1,2, S. 259.) Auch Hegel hat in der Differenzschrift mit den Formeln der Grundlage der gesummten Wissenschaftslehre nicht nur die Kritik an Fichte, sondern auch seinen eigenen Dia-

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lektikansatz vorgeführt. Er stellt mit Schelling fest: "das eine A ist Subjekt, das andere Objekt", aber kommt zu der verräterischen Vergröberung des Überganges: "der Ausdruck für ihre Differenz ist A nicht =A, oder A=B" (Glockner, I, S. 63 - Hervorhebung von mir). Hierin ist die Geschlossenheit der Sphäre der dialektischen Glieder vorausgesetzt, auch auf der Ebene des reinen Bewußtseins oder die Totalität für den ersten Grundsatz in Anspruch genommen. Daß damit keine dialektische Bestimmung der Erfahrung mehr gegeben werden kann, welche ja nicht in der Weise logisch gegeben sein kann, sondern nur durch die Regel, wie man in der Erfahrung vorzugehen habe, macht sich noch an einer Stelle der Erstausgabe von Hegels Logik bemerkbar, auf die Wolfgang Wieland aufmerksam gemacht hat: "Nehmen wir die Behauptung des reinen Seins a) in der Form auf, wie sie am weitesten aus dem Meynen herausgetreten ist als der Satz: Das Sein ist das Absolute; so wird vom Sein etwas ausgesagt, das von ihm unterschieden ist. Das Unterschiedene ist ein Anderes; das Andre aber enthält das Nichts dessen, dessen Andres es ist. Was somit in diesem Satze vorhanden ist, ist nicht das reine Sein, sondern das Sein ebenso sehr in Beziehung auf sein Nichts. Das Absolute wird von ihm unterschieden; indem gesagt wird, es sey das Absolute, so wird auch gesagt, sie seien nicht unterschieden. Es ist also nicht das reine Sein, sondern die Bewegung vorhanden welche das Werden ist." (Logik 1 35/36.) Dieser Text muß für sich sprechen36. Es ist hier aber keine Begründung der Dialektik der Erfahrung mehr gegeben, sondern nur eine Beschreibung, und das, weil die Sphäre der dialektischen Bestimmung als geschlossene gesetzt ist, die nicht iiber das Ichbewußtsein als Möglichkeit denkender Selbstbestimmung eröffnet wird. Diese kurzen Exkurse zu Schelling und Hege! beanspruchen keineswegs, eine angemessene Auseinandersetzung mit deren Dialektik zu sein, sondern sollen eigentlich mehr dazu dienen, die offene Stelle zu finden, die Fichtes Grundlage von der genuin dialektischen Fragestellung her enthält, und von daher freilich auch die Aufgabe anzeigen, die bei der Behandlung der Dialektik Schellings und Hegels entsteht. Von solcher Betrachtung her läßt sich die offene Stelle in Fichtes Konzept der Dialektik in den frühen Fassungen seiner Lehre daran erkennen, und das gilt auch noch für die Wissenschaftslehre nova methodo, daß er nicht den tatsächlich in der Vereinigung der Gegensätze durch Näherbestimmung eingenommenen Standpunkt anders als bloße Möglichkeit des freien Denkens (in der Einbildungskraft) und im Verweis auf die Erfahrung bestimmt. Diesen seinen unreflektierten Standpunki selbst zu thematisieren, zwang Fichte aber an erster Stelle nicht die Auslegung, die Schelling seinem System gab, sondern ein anderer Denker, dem er die Einsicht in die gegensätzliche Selbstgegebenheit in Wissen und Freiheit selbst und damit in die dialektische Struktur des menschlichen Geistes verdankte: Friedrich Heinrich Jacobi. Es ließe sich zeigen, daß Jacobis Einwände in seinem "Brief an Fichte" diesen schließlich gleichsam nötigen, zu erweisen, daß der Zusammenhang des Menschen in seinem Erkennen und Handeln nicht nur in einem "Nicht-Wissen" liege, das lediglich "außer dem Wissen" Freiheit als unbegreiflich voraussetzt, Qacobi's Werke 111, 5 f., 32, 48) 37 , sondern in einem Wissen, dem Wissen im eigentlichen Sinn, und wenn etwas Unbegreifliches dabei in uns auftritt, dieses durch ein "Begreifen des durchaus Unbegreiflichen, als Unbegreiflichen" (SW X, S_ 115, Meiner S. 34) erfaßt werden muß. Ich hebe nur noch diesen Gedanken aus der Spätphilo-

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sophie Fichtes heraus, der freilich den größten Teil der Entwicklungen in den späten Fassungen der Wissenschaftslehre bestimmt, während Fichte im übrigen, wenn auch in je verschiedener Terminologie, den dialektischen Bestimmungsweisen folgt, wie sie schon in der Grundlage enthalten sind. Das ist besonders in der Rechtslehre und ihren verschiedenen Fassungen von I 796 und 1812 erkennbar. Was also mit der Spätphilosophie als Dialektik in den Mittelpunkt tritt, ist die Disjunktion von Wissen und Freiheit, von Anschauung, Begriff und Licht, oder wie auch immer diese Gegensätze im Bewußtsein genannt werden, als ausschließend im entweder-oder das "Prinzip sein" beanspruchend (vgl. SW X, S. 363 ff., WL 1812). Daß sie dennoch in diesem Anspruch aufeinander verweisen - darin kommt auf höherer Reflexionsstufe die Funktion von Unterscheidungs- und Beziehungsgrund zutage, wie sie auch m.E. die nun in neuer Bedeutung herausgearbeitete Fünffachheit erklärt (vgl. WL 1812; SW X, S. 350 ff.). Sie ist thematisch dadurch gekennzeichnet, daß unser SichWissen als wissend, das "Denken als Denken" (SW X, S. 191; Meiner S. 132 f.), das auch jetzt noch ausdrücklich als "Möglichkeit" des Denkens über seine erfahrungsmäßige Gegensätzlichkeit in "Tatsachen des Bewußtseins" hinauszugehen, beschrieben wird (WL 1801; SW II, S. 42, 43, § 18 - WL 1804; SW X, S. 203/4), als nicht ausreichend erkannt wird, die Einheit des Ich oder absolutes Wissen zu gewähren, weil aufeinander verweisend zweifundamenta divisionis (SW X, S. 135; Meiner S. 59) heraustreten in der Disjunktion, die jedes für sich diese Vereinigung reflektieren und nur so die faktische Einheit als Mittelpunkt der Synthesis genetisch festzustellen fordern (SW X, S. 362 ff.). Die ungeheuere Gedankenarbeit der späten Wissenschaftslehren führt vor, daß dies nicht begrifflich geschehen kann, da wir notwendig in Gegensätzen denken müssen, aber daß auch die im "Schweben" der Einbildungskraft, jetzt der Evidenz (SW II, S. 51 ff.; SW X, S. 121, 203) erfahrene Möglichkeit, das Ich in beiden Disjunktionen zu erhalten, sich selbst nicht trägt. Und doch führt sie, da sie ein Sich-Wissen als wissend, ein Sich-Begreifen als Bild, ist, durch ein neues Verstehen dieses Als -um die von Fichte vielgebrauchte Substantivierung von Partikeln weiter zu entwickeln- weiter. Denn, um sich wirklich zu verstehen in diesem Übergang, was Fichte mit dem ,,Durch" zu fassen versucht, später besser "Durchsichtigkeit" (vgl. WL 1804; SW X, S. 168 ff.; WL 1812, SW X, S. 319 f.) erweist es sich bezogen auf das "Absolute". Das kann aber nicht durch ein Beziehen, wie es im Wissen stattfindet, geschehen, indem das Absolute darin als gegenständliches Sein verstanden würde, sondern indem es sich als Wissen, Äußerung, Erscheinung, Bild des Absoluten begreift "im Lebensakte selber" (SW X, S. 206;Meiner,S.l57). "Thue es, so thust du es eben; das Wissen in seiner qualitativen Absolutheit kannst du nicht wieder wissen." (SW X, S. 249; Meiner, S. 204). Für die Dialektik bedeutet das, daß das "Experiment", welches diese Möglichkeit der Vereinigung der Gegensätze seit der ersten Fassung der Wissenschaftslehre bewahrheiten soll, nicht mehr nur zur Bewährung in der gelungenen Durchführung aussteht und daneben ein kategorischer Imperativ sich anzeigt für das Handeln, der die Übereinstimmung des Nicht-Ich mit dem Ich fordert, sondern daß ein ausgeführter ethischer Akt im Sich-Vernichten der beiden Disjunktionsstandpunkte als an sich gültig vollzogen wird. (SW X, S. 148; Meiner, S. 77). Das gegenständliche Wissen von Objektivität (SW X, S. 148; Meiner, S. 78;) entzog sich dem Tun im Sagen, während Fichte fest-

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stellt, daß so "im Thun die Wahrheit unserer Aussage bestätigt [wird), indem wir auf der Stelle trieben, was wir sagten, und sagten, was wir trieben". (SW X, S. 243; Meiner, S. 197 .) Ein solches Denken ethisch zu vollziehen und das Wissen als Wissen vom Absoluten zu begreifen, kann praktisch nur darin bestehen, den Anspruch im Wissen für sich selbst etwas zu sein als subjektives Denken aufzugeben. Die Konkretheit dieser ethischen Forderung als Aufgeben der Selbstmacht des Wissens wird von Fichte zwar in der praktischen Philosophie deutlich gemacht, aber trotzdem nicht als Selbstkritik deutlich. Diese bescheidene Deutung würde die Dialektik des späten Fichte aus ihrer mystischen Ferne herausholen und zu einer gegenwärtigen Hilfe gegen sich in der Selbstbeständigkeit des Wissens verbergende Machtansprüche der Selbstbehauptung machen.

Anmerkungen und Exkurse 1. So liest man etwa in dem oben genannten Werk bei der Erörterung des Unendlichkeitspro· blems (3. Aufl. S. 86): "Das hat dann Fichte fortgeführt. Er, der allen kosmischen Spekulationen der systematischen Tendenz nach und von Natur aus fernstand ( ... )",beim Seelenbegriff von der "große(n) Weiterbildung durch Fichte" (S. 114): "Damit soll sich auch das seit Descartes so schwer lastende Problem von der Vereinigung des Leibes mit der Seele lösen." (S. 129.) Besonders hebt Heimsoeth Fichtes Fortdenken aus den religiös-christlichen Urmotiven und deren Entfaltung im metaphysischen Zusammenhang hervor (vgl. S. 127, 160, 198). Selbst die Dialektik wird bereits aus solcher Problementwicklung konzipiert verstanden: "Der Ansatz Platos zur Bewegung der Be· griffe (den die Neuplatoniker weiter führten), die Werdenslogik des Heraklit mit ihrer Lehre vom Kampf der Gegensätze, sie finden nun erst eine volle Entwicklung und treten beherrschend in den Mittelpunkt." (S. 162.) Wenn in diesem Sinne das Thema Dialektik hier vorgestellt wird, kann freilich die Problemgeschichte nur durch kurze Verweise skizziert werden, da sie im Kontext einer größeren Abhandlung dargestellt zu werden verlangt. 2. Die zum mindesten von Aristoteles her sich durchhaltende Thematik dialektischen Denkens besteht in der Frage, wie wir vom Erfahrungswissen zur Erkenntnis durch Beweise kommen (vgl. Anal. post. II, cap. 19, lOOa 5 ff.). Aristoteles stellt hierfür bereits die Forderung auf, von einem obersten Grundsatz auszugehen (Anal. post. I, cap. 2, 72a 6 ff.). Das dialektische Begreifen hat frei· lieh nach ihm nur das zum Thema, was sich auf das in der ,,Meinung" (€u6ota) unter bestimmten Kautelen Angenommene stützt. Aber im Begriff eines solchen Grundsatzes ist für Aristoteles unter anderen auch die dialektische Funktion eines solchen denkbar (72a 9 f.). 3. Erst das neuzeitliche Denken hatte statt der logischen Form solChen dialektischen Begreifens aus nicht gegebenen Mittelsätzen, wie sie Aristoteles festlegt (Anal. post. I, cap. 19, 81 b 10 ff.), die methodische Vorgehensweise mit dem Bewußtsein der Denkoperationen in der Anordnung der Gründe entwickelt und deshalb die alte dialektische Frage zunächst als erledigt betrachtet. Vgl. K. Hammacher, Einige methodische Regeln Descartes' und das erfindende Denken, in: Allgemeine Zeitschrift für Wissenschaftstheorie, Bd. IV (1974), Heft 2, S. 207. 4. Die Mißverständnisse bestanden hauptsächlich darin, daß die Dialektik, die in der scholasti· sehen Tradition als logische Begriffsanalyse verstanden wurde, wie oben erwähnt, durch das metho· disehe Denken ersetzt worden war und so nicht mehr auf die Erfahrung, sondern höchstens noch auf die begriffliche Einteilung bezogen wurde. 5. Die konsequente Anwendung der Dialektik auf die rhetorische Situation zwingt Cicero dazu, die Voraussetzungen zu erörtern, die in den Aussagen als Äußerungen eines Subjekts stecken. Das drückt sich dann _in der Unterscheidung eines Zustimmungsaktes (approbatio) in der propositio und assumptio aus, d. h. in den ersten beiden Argumentationsgliedern des syllogistisch interpretierten dialektischen Satzes. (Vgl. De lnventione I, cap. XXXIV- XXXVII, 57-67.) 6. So aber hatte sie grundlegend Anstoteies in seiner Topik bestimmt. Vgl. Topica I, cap. 10, 104a, Anal. post. I, cap. 19, 8lb 18. 7. Daß ich so einfach von der antiken Tradition rede, hat auch schon in der Diskussion Anstoß

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erregt. Tatsächlich kann man mit Recht mindestens zwei sehr stark divergierende Vorstellungen von Dialektik in der griechischen Tradition unterscheiden: die platonische Diairesis und die aristotelische Topik. Beide Richtungen waren aber durch Cicero so sehr miteinander vermittelt worden, daß sie trotz unterschiedlichster Wahrheitsansprüche, nämlich Wahres oder nur Wahrscheinliches zu erkennen, im Humanismusund noch in der deutschen Schulphilosophie des 17. und 18. Jahrhun· derts undifferenziert weitergelehrt werden. Dabei herrschtjedoch in der formalen Behandlung das aristotelische Gedankengut vor, weshalb wir uns an dieses vornehmlich zu halten haben. Daß aber bei Fichte gerade auch platonische Elemente genuin weiterentwickelt werden, kam schon in dem oben gegebenen Zitat von Heimsoeth zum Ausdruck (vgl. auch Max Wundt, Fichte-Forschungen). Formal ist besonders die Fünffachheit auffallig, die seit Platons Sophistes immer wieder an der dialektischen Gliederung beobachtet worden ist und die für Fichte zentral wird. (Vgl. die Arbeiten von Gueroult, Meckenstock, Philonenko und Widmann.) Hierzu siehe im folgenden. 8. In diesem letztgenannten Sinne thematisiert sie Wolfgang Janke in seinem großangelegten Werk Historische Dio.lektik, Berlin 1978, das aber erst kurz nach der Tagung, deren Referate hier vorgelegt werden, erschien. Solche streng inhaltlich bedingte geschichtlich sich entfaltende Dialektik wird hier nicht untersucht, obwohl eine Problemgeschichte, die vom transzendentalphilosophischen Verständnis ausgeht, auch mit der logischen Analyse verbunden werden könnte. In diesem Sinne argumentierte Janke auch in der Diskussion, von der bei diesem meinem Referatjedoch wegen einer technischen Panne keine Ausschnitte vorgelegt werden können. 9. Die Auffassung von der Vollendung der Fichteschen Wissenschaftslehre in der 2. Vortragsfassung von 1804, die zuerst von Georg Gurwitsch in: Fichtes System der konkreten Ethik, Tübingen 1924, und Martial Gueroult, L 'Evolution et Ia Structure de Ia Doctrine de Ia Science chez Fichte, Paris 1930, aufgestellt worden ist, ist trotz vielfacher Bestätigung in der neueren Literatur nach den Ergebnissen dieser Tagung wohl dahingehend zu modifizieren, daß sie nur in gewissen Partien als beste Darstellung angesehen werden kann. 10. Christian Wolffs Eindeutschung dieser Schulbegriffe und deren Erläuterung ist für Fichtes Ansatz in der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre von systembildender Bedeutung. In der Deutschen Logik, d. i. "Vernünftige. Gedanken von den Kräften des menschlichen Verstandes", Halle 1713, werden "Grund-Sätze" als "Erwägungs-Sätze" aus einer Erklärung hergeleitet, die zeigt, wie eine Sache entsteht. (Vgl. Vernünftige Gedanken .•• , hrsg. von H. W. Arndt, Hildesheim 1965, S. 141, 14 7, 161.) Damit wurde die intuitive Einsicht, "daß man sich die Sache nicht vorstellen kann, ohne daß man darinn zugleich erblicket, was ihr beigelegt wird" (ebenda, S. 162), in einem genetischen Denken zugänglich. Das eröffnet Fichte die Möglichkeit, das absolute Ich analog durch einen Denkakt entstehend zu bestimmen, also im Konstruieren ansichtig zu machen. 11. Gegen das Verständnis der Aufstellung des ersten Grundsatzes aus dem "Münchhausen-Trilemma" und die diesem u. a. zukommende Zirkelhaftigkeit der Argumentation (vgl. Hans Albert: ';'-aktat über kritische Vernunft, S. 9) läßt sich FichtesAnsatz gerade mit Russel-Whiteheads Analysen der zirkelhaften Argumentation verteidigen. Vgl. A. N. Whitehead/B. Russe), Principio. Mathematica, Cambridge 2 1927. Chap. II, S. 37-56. Äußerlich gesehen, scheint zunächst der Ausgang vom ldentitätssatz, den auch die Principio. Mathematica als Beispiel für eine Aussagefunktion nennen (vgl. S. 39), und die Annahme des Wertes "Ich" für "A", um die Totalität des "Ich bin Ich" zu folgern (so zwar nur in der Begriffsschrift zu finden, vgl. GA 1,2, S. 139), genau jenem Zirkelargument zu entsprechen. Aber genau besehen, soll bei Fichte nicht die Gültigkeit des Identitätssatzes durch einen seiner Werte erwiesen werden, sondern Fichte macht in einem ersten Reduktionsschritt nur eine Aussage über den Identitätssatz als tautologische Beziehung. Der Satz besagt eigentlich: "wenn A gesetzt ist, so ist A gesetzt" (GA 1,2, S. 139), stellt er fest. Das entspricht einer Aussage über die funktionale Bedeutung der ldentitätsbeziehung, denn nach Fichte ist damit nur etwas über den notwendigen Zusammenhang zwischen dem "wenn" und "so" ausgesagt (GA I, 2, S. 257), was der Feststellung einer Mehrdeutigkeit solcher funktionaler Beziehungen nach den Principia Mathematica entspricht (vgl. ebenda S. 40). Der Obergang zum "Ich bin Ich" als Bedingung jenes Satzes kann dann interpretiert werden als Limitierungjenes Identitätssatzes durch Angabe der Totalität, die außerhalb seiner Gültigkeit liegt (vgl. ebenda, S. 38). In den Eignen Meditationen über Elementar-Philosophie heißt es schon in diesem Sinne: "Die Logik überhaupt ist selbst etwas im menschl. Geiste" (GA 11,3, S. 22) - und die Wahrheitsansprüche beider Sätze werden in ihrer Gültigkeit gegeneinander abgegrenzt, wenn es heißt: "Die Logik also sagt: Wenn A ist, ist A; die Wissenschaftslehre: Weil A ist, ist A" (GA 1,2, S. 140). Der Zirkel zwischen Logik und Wis-

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senschaftslehre ist also kein Zirkel in der Argumentation, sondern ein solcher der Erklärung, der zugegeben wird (vgl. bereits Grundlage der gesammten Wissenschafts/ehre; GA 1,2, S. 256) und in den es gerade gilt, sich zu versetzen. 12. In den ersten Systemausarbeitungen beschreibt Fichte diese genetische Nacherfindung mit dem Vergleich geschichtlicher Wahrheitsfindung, wie sie die Lehre von der praktischen Gewißheit (evidentia moralis; moral certainty) entwickelt hatte, mit der auch die Begriffsschrift noch operiert (vgl. Uber den Begriff der Wissenschaftslehre I. Aufl. S. 9 ff.; GA 1,2, S. 112 ff., besonders die Bei· spiele vom Geschichtsverständnis). So redet er davon, daß die Philosophie als "systematische Geschichte des menschl. Geistes in seinen allgemeinen Handlungsweisen~' (Uber den Unterschied des Geistes vom Buchstaben, GA 11,3, S. 334, vgl. auch S. 336) diesen bei seinen Verrichtungen beobachten und festzuhalten habe (GA 11,3, S. 324/25), wobei die Transzendentalphilosophen nicht Gesetzgeber des menschlichen Geistes, sondern nur seine Historiographen seien (GA 1,2, S. 147, SW I, S. 77; vgl. auch SW I, S. 222, GA 1,2, S. 365). Der hiermit verbundene Begriff von Erfindung steht der im folgenden erwähnten, Fichte nicht mehr bekannten Tradition der Dialektik als Auffindungskunst (ars inveniendi) noch relativ nahe. 13. Vgl. Francis Bacon, Novum Organum, Aphorismen 104, 105, 126 und Descartes Regel XIX der Regulae ad directionem ingenü (A.T. X, 459 f., 468). 14. Ich habe die Formulierung logisch vervollständigt. Bei Fichte heißt es (Uber den Begriff der Wissenschaftslehre, S. 49 GA 1,2, S. 139/40): "wenn A gesetzt ist, so ist A gesetzt" und "Wenn A ist, ist A" und (in der Grundlage der gesammten Wissenschafts/ehre, SW I, S. 93, GA 1,2, S. 257): "wenn A sey, so sey A". Man kann jetzt aufgrundder Gesamtausgabe an den Unterschieden der Formulierung von den Eignen Meditationen über Transzendentalphilosophie über die Begriffsschrift bis zur Grundlage Fichtes Bemühungen um eine angemessenere logische Fassung erkennen, wenn sie ihm auch letztlich nicht gelingt. 15. Vgl. dazu den Artikel von F. Kambartel "Bedingung", in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. von Joachim Ritter, Bd. I (A-C) Sp. 763 f. und meinen Artikel "Bedingung" im Handbuch philosophischer Grundbegriffe, hrsg. von H. M. Baumgartner, H. Krings und Rainer Wild, Bd. I, S. 182 ff.. 16. Vgl. Christian Thiel, Sinn und Bedeutung in der Logik Gottlob Freges, Meisenheim a. GI. 1965, s. 30 ff., 89, 100. 17. De Inventione I, cap. XXXVI, 63: "Si quo die ista caedes Romae facta est, ego Athenis eo die fui, in caede interesse non potui". 18. Gottlob Frege, Die Verneinung. Eine logische Untersuchung. (Gottlob Frege: Logische Untersuchungen, hrsg. und eingeleitet von Günther Patzig, Göttingen 2 1976, S. 58, 59; ErstdruckS. 147, 148): "So kann z. B. vor einem Geschworenengericht mit Recht behauptet werden: ,Wenn der Angeklagte zur Zeit der Tat in Rom gewesen ist, hat er den Mord nicht begangen', und es kann falsch sein, daß der Angeklagte zur Zeit der Tat in Rom gewesen ist. Dann würden die Geschworenen beim Hören des Satzes ,Wenn der Angeklagte zur Zeit der Tat in Rom gewesen ist, hat er den Mord nicht begangen' denselben Gedanken fassen können, während jeder von ihnen mit dem Bedingungssatz seinen eigenen Sinn verbände." - "Wir können durch unser Urteilen am Bestande des Gedankens nichts ändern. Wir können nur anerkennen, was ist. Einem wahren Gedanken können wir durch unser Urteilen nichts anhaben. Wir können in dem ihn ausdruckenden Satze ein ,nicht' einfUgen und dadurch einen Satz erhalten, der, wie dargelegt worden ist, keinen Ungedanken enthält, sondern als Bedingungssatz oder Folgesatz in einem hypothetischen Satzgefüge seine volle Berechtigung haben kann. Weil er falsch ist, darf er nur nicht mit behauptender Kraft ausgesprochen werden." Aus diesen Sätzen Freges und dem folgenden ist ersichtlich; wie nah Fichte bei der dialektischen Bestimmung des Verhältnisses der Logik zur Wissenschaftsl~hre der Bestimmung der logischen Sphäre kommt, welche die moderne Logik gefunden hat. 19. Darauf hat Ernst Vollrath in einem Vortrag auf dem Kant-Kongreß aufmerksam gemacht. (siehe: Kants These über das Nichts, in: Kant-Studien, 61.Jg. (1970), S. 50, 51.) 20. Gottlob Frege: Kleine Schriften, hrsg. von lgnacio Angelelli, Darmstadt 196 7, S. 3 73/74. 21. Salomon Maimon, Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens. (Neuauflage) S. 17, derselbe, Gesammelte Werke, hrsg. von Valerio Verra, Mildesheim 1965 ff., Bd. V, S. 78. Diese Schrift lag Fichte wahrscheinlich bei Ausarbeitung der Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre noch nicht vor. Er konnte aber entsprechende Formulierungen a)lS Maimons Schrift Die Kathegorien des Aristoteles bei seinen Aufzeichnungen Eigne Meditationen über Elementarphilosophie vor

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Augen haben (vgl. R. Lauths Vorbericht zu GA 1,2, S. 95), z. B. die folgende (Gesammelte Werke, Bd. VI, S. 155 ): "Subjekt ist selbst Objekt seiner selbst, undsoUdoch vom Objekt überhaupt verschieden gedacht werden. Dagegen der Begriff von einem unbestimmten Bewußtseyn überhaupt, obschon er die größte mögliche Abstraktion voraussetzt, indem darin selbst von dem Verhältnis von Subjekt und Objekt abstrahirt wird, weil dieses Verhältniß selbst, zwar als bloßes Verhältnis kein bestimmtes Objekt, aber dennoch ein bestimmtes Bewußtseyn ist, nichts unmögliches voraussetzt. Es ist zwar ein, durch innere Merkmale unbestimmtes Bewußtseyn, aber dennoch als Bedingung eines jeden bestimmten Bewußtseyns bestimmt, und in jedem bestimmten Bewußtseyn erkennbar." Maimon entdeckt also in der logischen Funktion des Subjekts eine transzendentale des Ich. Vermutlich hat er dadurch auch Fichte auf die Konzeption der dialektischen Fragestellung aus der Verbindung von Logik und Transzendentalphilosophie gebracht, da diese in den Eigne[n) Meditationen . .. noch nicht auftaucht. 22. Später faßt Fichte die Rückwirkung, die das Bewußtsein auf sich selbst hat, genauer aus dem Sich-Setzen als einem doppelten Handeln. Vgl. die sogenannte Platnervorlesung Vorlesung über Logik und Metaphysik, GA IV,1, S. 127: "mein eignes erstes Handeln ist dieser Stoff u. in diesem zweiten Handeln handle ich zulezt auf mich selbst: bestimme nur mich selbst: stehe mit mir selbst in Wechselwirkung." Der vielen noch immer so anstößige solipsistisch mißverstandene Idealismus Fichtes vor allem in der Jenaer Zeit, da alle Gegenständlichkeit auf die Tätigkeit des Ich zurückgeführt wird, die nur in verschiedener Position wirkt, basiert auf der Gleichsetzung von lntelligibilität mit Handeln als geistiger Tätigkeit. (Vgl. hierzu besonders die Einleitung in die Grundlage des Naturrechts, SW III, S. I ff.; GA 1,3, S. 313 ff.) 23. Hier liegt das Kernproblem der Dialektik Fichtes, das ich in der Auseinandersetzung mit der logischen Problematik in Tradition und Gegenwart beantworten will. Eine solche Antwort ist nur möglich, wenn Fichte nicht unter der Voraussetzung beurteilt wird, daß die dialektische Entgegensetzung mit der auch bei ihm zu findenden klassenlogischen Verwechslung von Funktionen erster und zweiter Ordnung erledigt ist. Die Kernfrage geht auf die Dialektik als geschlossenes oder offenes System von Gegensätzen. 24. Daß Fichtes Aufstellung des 2. Grundsatzes dialektisch in diesem traditionellen Sinn zu lesen ist, ist durch die Veröffentlichung der Eigne[n) Meditationen • .• in der Akademie-Ausgabe eindeutig zu belegen. Dort wird nämlich deutlich, daß Fichte von dem Problem der Vereinigung der gegensätzlichen Aussagen des Bewußtseins ausgegangen ist. Er konstruierte sie zunächst entsprechend der platonischen Verbindung dialektischer Gegensätze im "Sophistes" (vgl. 257a-259a) durch den Begriff des Verschiedenen. (Vgl. GA II,3, S. 32, 37, 44, 54.) Fichtes 1. und 2. Grundsatz sind allein in dieser Art entgegengesetzt, wie sie aber auch Aristoteles noch festgehalten hatte. Dieser hatte die Formen gegensätzlicher Aussagen in dialektischen Sätzen nicht durch ausschließenden Gegensatz für beweisbar gehalten (vgl. Anal. prior. I, cap. I, 24a25-24b13), denn sie werden, dadurch daß sie dem Gegenteil widersprechen, nicht eindeutig bestimmbar, obwohl sie so zu schließen gestatten (vgl. TopiCa I, cap. 10 104a13-28). Genau dies aber wäre nötig, wenn diese Argumentation dem Widerspruchssatz unterliegen würde. Bei Aristoteles heißt es, bei einer dialektischen Fra.ge muß die Wahl gegeben sein, welchen von beiden der sich widersprechenden Sätze der Antwortende behaupten will, mit der Folgerung für ihre Vereinigung: "Allerdings muß die Frage näher [dafür) bestimmt werden" (,d;>.;>.it öei rov epwvrwvra Trpoaöwpiaat') De lnt., cap. 11 20b29/30) Bei Fichte heißt es dann in den Eigne[n) Meditationen ••. bezüglich der Methode der Vereinigung: "Durch die Begränzung komme ich also doch trefflich fort". (GA II,3, S. 90) Er denkt also noch in Übereinstimmung mit beiden Traditionen, wenn er dann diese auch entscheidend fortentwickelt durch ihre Umsetzung in Bewußtseinsschritte. 25. H. Sehepers hat diese Enthymema in seinem Artikel im Historischen Wörterbuch der Philosophie, a.a.O. Bd. 2, (D-F) Sp. 528-538, auf ihre logische Zuverlässigkeit und Brauchbarkeit hin untersucht. Daß sich Fichte ihrer bedient, ist zu erklären aus der bei ihm stärker als bisher angenommen nachwirkenden schulphilosophischen Tradition und der Verlegenheit, in die ihn die transzendentale Wendung gebracht hatte. Durch sie wurde ihm auferlegt, wenn er ein "Schema des menschl. Geistes" geben wollte (GA II,3, S. 328), auch die Bewußtseinsbeziehungen zu formalisieren, ohne daß er sie in den Sätzen der formalen Logik enthalten finden konnte. Was lag also näher, als sie als zwar nicht mehr in der allgemeinen Meinung akzeptierte, aber als für einen jeden, der sie in sich aufzufinden weiß, evidente Prämissen zu fassen, die keiner logischen Rechtfertigung fähig

Analyse von Fichtes Dialektik

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sind, aber ihrer auch noch bedürfen. Sie seien im folgenden anhand eines logischen Quadrates dar· gestellt und interpretiert: Die Klasse alles im Ich Gesetzten und die Klasse des Ich mit der Komplement· klasse von Nicht-Ich werden in der Einheit des Bewußtseins als im Ich Setzen verbunden, zwar nicht mehr durch das allgemein Anerkannte, aber eben als etwas, das ein jeder in sich auffinden kann als allgemein anerkannt und was Fichte dann der intellektuellen Anschauung zuweist. Es geht im Grunde hier, wie bereits beim dialektischen Satz des Aristoteles um einen doppelten Gegensatz, den Gegensatz von Ich und Nicht-Ich und den Ich bzw. Nicht-Ich Gegensatz von ihrer beiden Gesetztsein im id. Bewußtsein gesetzt sein im Ich, wodurch das jeweils andere aur· gehoben wird. So unterschied Aristoteles zwischen den Freunden Gutes tun und den Freunden Böses tun einerseits und den Freunden Gutes und Freunden Böses tun einerseits und den Freunden Gutes und Feinden Böses oder Gutes andererseits, und schließlich Freunden Gutes und Nicht-Gutes und Feinden Gutes und Nicht-Gutes tun, was aber erst bei Fichtes Argumentation unter § 3 A 2) eine Rolle spielt. (Topica I, cap. I 0, I 04a 20 ff. II, cap. 7 112b28 ff.) Beim Enthymem AI) steckt die zwar ~a~ 1 17Jo~ 1 nicht ausgelassene, aber vom Hörer (Leser) zu ergänzende, und zwar aus der in:J~ ~I" (~e:J) tellektuellen Anschauung zu ergänzende ~~i~E" (~Ea ~V Ji~ 1 ) Prämisse im Untersatz. Will man die ein· geschaltete Begründung nicht als klassen· logischen Sprung auffassen (s.o.), wie sie nicht aufgefaßt werden muß, weil Fichte ( ) zu ~rgänzende P~ämisse ausdrücklich erklärt, daß das Ich als Sub~E =1m Bewußtsem entgegengesetzt jekt nicht mit dem Ich als Prädikat verwechselt werden darf, (GA 1,2, S. 259 Anmerk. SW I, S. 96) so kann die Disjunktion als vollständige nur dann zu der Schlußfolgerung führen, wenn in dieser Anschauung enthalten ist, daß vom Gegenteil das Gegenteil gilt, also die Negation des einen Gliedes das andere setzt, ohne daß der Ausschluß des einen als Setzung des anderen logisch begründet werden kann. Dieses Enthymem entspricht in etwa dem 6. Modus des Cicero (Top. XIV, 57). Der Gegensatz wird von Fichte kontradiktorisch dargestellt, was nach der topischen Tradition richtig ist, aber als konträrer interpretiert (vgl. dazu die folgende Anmerkung). Im Enthymem A 2) wird diese Anschauung, die ein jeder in sich aufzufinVx~·~(x)- Vx:J·~(x)den hat, bereits mit der 1. Prämisse eingesetzt. Und zwar steckt sie darin, daß das [V x ~ • J(x) - ~(x)l Entgegensetzen nicht nur auf das Setzen 3x~·~(x)~ bezogen wird, sondern auch auf das SetV X J• ~(x) A:J~(x) zen des Ich im Ich im identischen Bewußtsein. Damit verwendet Fichte die für den dialektischen Satz nach Aristote~(x) =\im Bewußtsein gesetzt sein les charakteristische Argumentation aus [ ] = zu ergänzender Deduktionsschritt der Gegensatzbestimmung als Sache gleicher Haltung. (a~.pdTEpa -yOp a!pera Kal roii auroii Tl-'ov~- Top. 113a3), wie den Freunden Gutes und den Feinden Böses tun. Wir haben in den vorausgesetzten Aussagen gleicher Haltung als für Fichte gleiche Bewußtseinserfahrung bereits in einer Rückbeziehung vorliegen, die auf eine andere Argumentationsebene hin-

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Philosophiegeschichtliche Zusammenhänge. Klaus Harnmacher

weist. Unter A 3) werden die beiden Schlußfolgerungen zum Widerspruch gebracht. Das geschieht mittels einer Reflexion - Fichte redet von den Reflexionsgesetzen, denen er hier folgt. (GA 1,2, S. 269; SW I, S. 107.) Die beiden folgenden Enthymema argumentieren aus den unterschiedlichen Evidenzen des I. Grundsatzes (absolut-gesetztes Ich) und des 2. Grundsatzes (Wechselseitigkeit von Setzen und Entgegensetzen). Sie stellen aber nicht nur Folgerungen aus dem Unterschied von assumptio und approbatio (Cicero) dar, sondern nehmen die jeweils vorher gewonnenen Gegen· sätze, um aus ihnen zu schließen, in einer reflexiven Wendung auf. Da Fichte jedoch dabei die Folgerungen als stringent versteht, muß er logisch konsequent zu einer mehrwertigen Logik gedrängt werden, die aus Gegensätzen Folgerungen als zu entwickelnde begreift. So redet er auch von "Aufgabe" für eine Lösung. Gotthard Günther hat in unseren Tagen unternommen, eine solche mehrwertige Logik in Anschluß an Fichte zu konstruieren. (Vgl. Heget-Studien, Beiheft 1, Heide!· berger Hegel-Tage 1962, Bonn 1964, S. 65-123; Logik, Zeit, Emanation und Evolution, Köln, Opladen 1967). 26. S. Maimon, Die Kathegorien des Aristoteles, a.a.O., S. 176 (160), 204; vgl. auch Versuch einer neuen Logik, S. XXII. Hans Lenks Erörterungen von Fichtes logischen Prinzipien in: Kritik der logischen Konstanten (Berlin 1968) ist für unsere Interpretation nur zu entnehmen, "daß Fichte unter ,Widerspruch' sehr wohl auch abgeleitete kontradiktorische Entgegensetzung im System versteht (obwohl er konträre und kontradiktorische Ausschlußverhältnisse nicht sauber voneinan· der abtrennt)" (S. 189). Im übrigen sieht Lenk die Allgemeinheit dieser Urteile durch Kontraposition nicht aus der in Anmerkung 25 dargestellten syllogistischen Darstellung der Implikation im disjunktiven Schluß entspringen und verkennt deshalb ihren logischen Anspruch, der eindialektischer Anspruch im Sinne der aristotelischen Schulphilosophie ist, von Fichte freilich nur noch in Hilfsfunktion für seine erfindende Denkweise verwendet wird, die er als neue Dialektik entwickelt. Im Unterschied dazu erscheinen mir die eigenen Bemühungen Lenks um eine Normenlogik, die er ohne Rücksicht auf die Problemgeschichte und so auch Fichte vornimmt, für eine angemessene Bestimmung der logischen Form von Fichtes Dialektik in einem Punkt von Bedeutung. In der Spätlehre wird von Fichte nämlich ein material bedingter Normsatz eingeführt, der zu vollziehende Freiheitsakt, durch den erst der wahre Charakter des Wissens ansichtig werden kann. Die Annahme der Gültigkeit von gewissen Kontrapositionsschlüssen scheint nach Lenk berechtigt (vgl. Zur logischen Symbolisierung bedingter Normsätze, in: Normenlogik, UTB, Pullach b. München 1974, S. 124), sofern ein material bedingter Normsatz nicht mit der "materialen Implikation" verwechselt wird. Nun geht es bei Fichte nicht um faktisch bedingte Normsätze, sondern um die Diskussion von Normen. Hierbei soll freilich die Erfüllung der Bedingung p - d. i. in unserem Fall der praktische Vollzug des Freiheitsaktes - die Wahrheit von q- d. h. der erschlossenen Vereinigung, logisch nur durch eine "materiale Implikation" gültig vollzogen werden können. Eine solche liegt, wie ich zeigen konnte, in dem Bedingungsverhältnis bei Fichte (s.S.387). Damit ist die Implikation, die aus der Negation Beliebigkeit anzunehmen gestattete, ausgeschlossen, nicht nur, weil sich die "materiale Implikation" nur auf die Verknüpfung von Handlungsaussagen, nicht aber auf die Handlungen selbst bezieht (vgl. Lenk, S. 114), sondern vor allem, weil es sich um ein System gleichsam offener Negation handelt. Lenk geht selbst auf die Möglichkeit der Verkoppelung von Handlungslogik mit der Modallogik ein (vgl. S. 129 f.) wenn auch nicht im Zusammenhang der Problematik einer heuristisch dialektischen Methode, die ich hier erörtere. Die von Lenk bemerkte Gleichsetzung umfangslogischer Quantifizierung mit möglichen Prädikationen bei Maimon und Fichte bringt also nur die oben erörterte Wendung zur Methode zum Ausdruck. Statt Prädikationen aus Erfahrungsurteilen zu entnehmen, wie dies die alte Dialektik tat, wird der quantitative Anspruch auf die mögliche Erfahrung zum ausschließenden Merkmal der Totalität. Daß Fichte die Denkbarkeit von Totalität nur in Ausschließung aus einer Totalität begreift, charakterisiert die logische Stringenz seiner Dialektik. Man vergleiche dazu das Zitat in Anmerkung 31. 27. Salomon Maimon, Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens, Berlin 1794, S. 160. Maimon kennzeichnet eindeutig solche Sätze als Enthymema und sieht diese Art zu schließen dadurch charakterisiert, daß es um "neue Bestimmungen" geht, die "durch keine dieser Prämissen völlig bestimmt" sind. 28. Principia Mathematica, a.a.O., S. 38: ,,All proposition must be in some way limited before it becomes a legitimate totality, and any Iimitation which makes it legitimate must make any Statement about totality fall outside the totality." 29. Cicero, De lnventione, XXXVI ( 65) "Quae perspicuam omnibus veritatem continet assump-

Analyse von Fichtes Dialektik

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tio, nihil indiget approbationis". Für eine angemessene Bestimmung der Deduktion (ratiocinatio) verlangt Cicero jedoch prinzipiell die Unterscheidung des Beweises (approbatio) einer 1. Prämisse (propositio) oder 2. Prämisse (assumptio) von diesen selbst, weil nur so die Funktion der Zustim· mung im Urteil erfaßt werden kann. Vgl. De /nventione I, XXXIV-XXXVII, 57-65. 30. Die sorgfältige Untersuchung von Werner Hartkopf, Die Dialektik Fichtes als Vorstufe zu Hegels Dialektik, in: Zeitschr. f. Phi!. Forschung, Bd. 21 (1967), S. 173-207, stellt auch heraus, daß Fichte die Vereinigung (Synthese) durch Hinzunehmen "neuer gedanklicher Mittel" (S. 195/ 96) zustande bringt und so seine Dialektik einen "heuristischen" Charakter hat (S. 179 f., 187 ff., 196 f., 201 ). Er sieht auch, daß diese Dialektik in einem "offenen Denkraum" argumentiert (S. 196), erachtet diese Methode jedoch nicht als streng beweiskräftig. Obwohl er selbst das Modelldenken der Naturwissenschaft herbeizitiert (S. 196) und den "experimentierenden" Charakter dieser Dialektik betont (S. 206), erkennt er nicht, daß Fichte hiermit die Methodologie der neuzeitlichen Naturwissenschaft in der Nachfolge Kants philosophisch zu IJegründen versucht. Dies