Der späte Rilke [Reprint 2019 ed.] 9783486774641, 9783486774634


182 80 29MB

German Pages 540 Year 1948

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Table of contents :
INHALT
Vorbemerkung zur ersten Auflage
Vorbemerkung zur zweiten Auflage
I. TEIL: Zehn Studien
1. Rose, oh reiner Widerspruch
2. Randbemerkungen zu Rilkes Freundschaften
3. Engel und Orpheus
4. Wendung — Waldteich — Klage
5. Anmerkungen zu einem Beileidsbrief
6. Rilkes Kampf mit dem Engel
7. Studie zur vierten Elegie
8. Der wendende Punkt
9. Die Nilbarke
10. Der „Umschlag"
II. TEIL: Der Weg zu den Elegien und Sonetten
1. Herkunft und Ursprung
2. Schloss Duino
3. Gott und Götter
4. Spanische Reise
5. In und nach dem Krieg
6. Von der Liebe
7. Liebe und Tod
8. Religiöse Produktivität
9. Vor dem Abschluss
10. Schloss Muzot
Anmerkungen zum I. Teil
Anmerkungen zum II. Teil
Personen- und Sachregister
Vergleich der Paginierung dieser Ausgabe mit der ersten Ausgabe
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Der späte Rilke [Reprint 2019 ed.]
 9783486774641, 9783486774634

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Bassermann / Der späte Rilke

Lizenzauflage aus dem Leibniz-Verlag (bisher R. Oldenburg-Verlag) München #

B A S S E R M A N N / D E R SPÄTE RILKE

DIETER

BASSERMANN

DER SPATE RILKE

V E R L A G D R . H A N S v. C H A M I E R E S S E N und F R E I B U R G i. Br.

Alle Rechte liegen beim LEIBNIZ - VERLAG (BISHER R. OLDENBOURG - VERLAG), MÖNCHEN Die zweite, durchgesehene Aullage wurde als Lizenzauflage vom VERLAG DR. HANS v. CHAMIER, ESSEN und FREIBURG I. Br., tiesorgt Gesamtherstellung: Druderei C.Hundtsel.Wwe., Hattingen-Ruhr 1

9

4

t

Dr. Arthur für

Muthmann

ZieU uni Wegweisung zugeeignet

dankbar

INHALT Seite

Vorbemerkung zur ersten Auflage Vorbemerkung zur zweiten Aullage

11 13

I. T E I L Zehn Studien 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10.

Rose, oh reiner Widerspruch 17 Randbemerkungen zu Rilkes Freundschaften . . 24 Engel und Orpheus 29 Wendung — Waldteich — Klage 51 Anmerkungen zu einem Beileidsbrief . . . . . . . 79 90 Rilkes Kampf mit dem Engel Studie zur vierten Elegie 111 Der wendende Punkt 139 Die Nilbarke 163 Der „Umschlag" 179 II.

TEIL

Der Weg zu den Elegien und Sonetten 1. Herkunft und Ursprung

215

2. Schloß Duino

Z25

Duino 1911/12, S. 225. Lou, S. 228. Die Fürstin, S. 231. Malte, S. 238. Zufall und Schicksal, S. 241.

3. Gott und Götter

.244

Sommer 1915, S. 244. Briet an L. H., S. 246. Hölderlin, Strindberg, Büchner und die Leuchtturme, S. 248. Vom Werden der Götter, S. 252. Vom Tod, S. 257. Vom Jenseits,

Saita

S. 259. Vom Glauben, S. 260. Von der Liebe, S. 263. Tolstoi, S. 265. Vierte Elegie und „Der Tod", S. 270. Militärmusterung, S. 277. 4. Spanische Reise 279 Beiträge zum Insehilmanach 1919, S. 279. „Erlebnis" I, S. 281. „Erlebnis" n , S. 288. Tagebuchblatt aus Ronda, S. 293. Winterliche Stanzen, S. 299. 5. In und nach dem Krieg 301 Herbst 1917, S. 301. Begegnung mit Bernhard v. d. Marwitz, S. 302. Tod des Grafen Staufenberg, S. 311. Alfred Schuler, S. 312. Der zeltlose Auftrag, S. 313. 6. Von der Liebe 316 Briefe an den jungen Dichter und an den Schwager, S. 317. Ehe, S. 324. Die Portugiesische Isonne, S. 328. Das MalteLied, S. 333. Requiem, S. 335. Der verlorene Sohn, S. 337. Die großen Liebenden, S. 338. Die im Voraus verlorene Gellebte, S. 341. 7. Liebe und Tod 353 Briefe an eine junge Frau, S. 353. Liebe und Tod, S. 360. Bewußtseinspyramide, S. 363. Frühwerk, Malte und das Verstummen, S. 369. Das Urgeräusch, S. 373. Tod als Intensitätserfahrung, S. 378. Die Unerfahrbarkelt des Sterbens, S. 380. 8. Religiöse Produktivität Vom Christentum, S. 382. Religiöse Produktivität, S. 388.

382

9. Vor dem Abschluß 398 Paris 1920, S. 399. Schloß Berg am Irschel, S. 404. Gedichte aus dem Nachlaß des Grafen C. W., S. 405. Paul Valéry, S. 413. 10. Schloß Muzot 420 Einsamkeit und Konzentration, S. 420. Frau Gertrud Ouckama Knoops Aufzeichnungen über Weras Sterben, S. 428. Begegnung mit Orpheus, S. 439. Anfang der Arbeit, S. 441. Der Mythos, S. 446. Die Sonette an Orpheus, S. 449. Die Elegien, S. 459. Ausklang, S. 484. Anmerkungen zum I. Teil Anmerkungen zum II. Teil Personen- und Sachregister Vergleich der Paginierung dieser Ausgabe mit der ersten Ausgabe

501 519 531 537

VORBEMERKUNG

ZUR

ERSTEN

AUFLAGE

Die in der Reihenfolge ihres Entstehens (Januar 1937 bis Januar 1943) vorgelegten Arbeiten stellen den Versuch dar, ausschließlich an Hand von Rilkes authentischen Worten in den Sinn seines Werks einzudringen. Zur Sinnerhellung schwer zu durchdringender Aussagen. wurden deshalb auch nidit Rilke-fremde Spekulationen, gedankliche Möglichkeiten philosophischer oder religiöser Art, herangezogen, sondern lediglich wieder authentische Rilkeworte, deren Sinn jeweils aus dem zeitlichen und lebensmäßigen Zusammenhang, in dem sie stehen, erschlossen werden mußte. Nur so, schien es, war die Möglichkeit gegeben, zunächst einmal festzustellen, was denn eigentlich Rilke in seinem Werk ausgesagt hat, als Grundlage und Anregung für die weitere Forschung. Bei dieser ganz auf die Rilkeschen Wortlaute gegründeten Methode erübrigte sich weitgehend das Eingehen auf die im Rilkeschrifttum bereits vorliegenden Deutungen, da auch grundsätjliche Fehlinterpretationen sich ohne besondere, mehr oder weniger polemische Nachweisungen von selbst berichtigen werden. — Genannt sind im allgemeinen Arbeiten nur, sofern ihnen Tatsachenmaterial wirklich entnommen ist. — Es sei daher an dieser Stelle ausdrücklich und mit Dank vermerkt, daß ich nahezu allen Arbeiten über Rilke, die mir zu Gesicht gekommen sind, vielerlei fördernde Anregungen zu verdanken habe. Eine Sonderstellung im Rilkeschrifttum nehmen die Erinnerungsbücher ein, vor allem das von Frau Lou Andreas-Salome und das der Fürstin Marie von Thum und Taxis-Hohenlohe; als biographische Quellen gehören sie dem Schrifttum an, sind je-

doch durch die jahrelangen, freundschaftlichen Beziehungen der Verfasserinnen zu Rilke gleichzeitig Bestandteil der Biographie und Objekt der Untersuchung. Es handelt sich — "beide Male — eingeständlich nicht um den Versuch einer objektiven Darstellung von Rilkes Leben, sondern um ein Denkmal der Freundschaft, wie sie diese Frauen mit dem Dichter verband; damit gehören sie aber zu jenen Grenzerscheinungen, in denen sich der biographische Bericht und die (den Dichter oder die Freundin verklärende) Legende durchdringen. Trotj des unausgesprochen erhobenen Anspruchs auf gültige Zeugenschaft werden deshalb Erinnerungsbücher sachlich ausgewertet werden können nur, sofern sie im Hinbiidt auf das Wesen der Verfasserin und ihrer Beziehung zu Rilke zuvor vorsichtig gedeutet sind. Dieser Tatsache ist versucht Rechnung zu tragen. Die Großtat der Rilkephilologie ist die von Dr. Ernst Zinn durchgeführte Datierung der sogenannten „Späten Gedichte", d. h. edler erst aus Rilkes Nachlaß veröffentlichten Dichtungen, wie sie veröffentlicht ist in R. M. Rilkes „Ausgewählten Werken", Inselverlag 1938, sowie in „Dichtung und Volkstum" Band 40 S. 119 ff. Erst damit war der Forschung für die spätere Lebenszeit Rilkes für die Jahre 1910 bis 1926 die einwandfreie Grundlage geschaffen. Da die vorliegenden Arbeiten durchweg der Datierung von Dr. Zinn folgen, ist von einzelnen Hinweisen abgesehen. Die unveröffentlichten Brief- und Manuskriptstellen aus dem Rilkearchiv sind mit der gütigen Erlaubnis von Rilkes Erben und des Inselverlags abgedruckt. Das Rilkearchiv hat den Fortgang der Arbeit mit weitestgehendem Verständnis und bereitwilligem Entgegenkommen großzügig gefördert und hat jederzeit jeden möglichen Einblick in das unerschöpfliche Material an unveröffentlichten Manuskripten und Briefen gewährt, wofür ich auch an dieser Stelle Frau Ruth Sieber-Rilke und Herrn, Dr. Carl Sieber (f 1945) meinen verbindlichen Dank ausspreche. Die entscheidende Anregung und Förderung meiner Beschäftigung mit dem Werk und dem Leben Rilkes verdanke ich seit

vielen Jahren fortlaufend Herrn Dr. Arthur Muthmann (Freibürg). In Gesprächen und in Briefen kamen mir von ihm eine solche Fülle von Hinweisen und Erhellungen grundsäglichster Art, daß es nicht möglich war, auch nur das Wesentlichste davon einzeln anzumerken. Diesem Tatbestand und meinem Dank dafür habe ich versucht in der Zueignung des Buches Ausdruck zu geben. Das Manuskript wurde abgeschlossen im Frühjahr 1943 in Vahnerow in Pommern. Staufen im Breisgau, Frühjahr

1947. Dieter

VORBEMERKUNG

ZUR

ZWEITEM

Bassermann.

AUFLAGE

Kurz nach Erscheinen des Buches hatte sich eine Neuauflage als notwendig erwiesen. Der Verlag Dr. Hans von Chamier, Essen und Freiburg i. Brsg., hat es unternommen, diese als Lizenzauflage des Leibniz-Verlages (bisher R. Oldenbourg-Verlag) München herauszugeben. Die zweite Auflage ist auf die Genauigkeit der Texte nochmals durchgesehen und ist vermehrt um ein Personen- und Sachregister, in dem auch die Seitenzahlen der ersten Auflage in Klammern ( ) vermerkt sind. Ferner sind in einem besonderen Anhange am Schluß dieses Buches die Seitenzahlen der ersten Auflage den Seitenzahlen dieser neuen Auflage gegenübergestellt. Im übrigen ist die zweite Auflage unverändert. Staufen im Breisgau, Frühjahr 1948. Dieter

Bassermann.

/. TEIL Zehn

Studien

ROSE,

OH REINER

WIDERSPRUCH

Besinnliches um einen Grabspradi

Auf Rilkes Grabstein ist außer dem Rilkeschen Familienwappen ein Spruch eingemeißelt, den er selbst dafür bestimmt hat: Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern. Es ist ein Sonderbares um die „letzten Worte". Ihre Letztheit, ihre anscheinende Endgültigkeit bestrahlt sie mit der Gültigkeit unbedingter Kronzeugenschaft. Sie versuchen uns, in ihrer gewissermaßen rückstrahlenden Erhellung eine letzte und nicht mehr widerrufbare Deutung all des bis dahin Ausgesagten zu sehen. So ist von durchsichtiger Tiefe die Legendenbüdung um das letzte Goethe-Wort, die fast schon an seinem Todestag einsetzte und in überraschend kurzem Ablauf in die Pathetik der Worte „Mehr Licht!" einmündete, einem allzu handlichen Universalkommentar. — Seltsam beunruhigend bleibt des Sokrates letzte Bitte am Morgen seines Hinrichtungstages, dem Äskulap einen Hahn zu opfern (die Nietzsche knapp in die harten Worte übersetzte: „Das Leben ist eine lange Krankheit!"). — Beunruhigend und dunkel sind die drei Zeilen auf dem Grabstein des Bergfriedhofes von Raron. Als das Gedenken an den zehnten Todestag des Dichters bei vielen die latente Erinnerung an seine Verse und Bilder in bewußte Besinnung aufrief, muß manchem wieder der 2

17

Grabspruch zu denken gegeben haben. Wenigstens glaube ich es nicht als Zufall nehmen zu sollen, daß in meinem Lebensumkreis immer wieder die Frage auftauchte nach dem Sinn. Die bildhafte Klangprägung verhüllt dem nur Aufnehmenden fast bis zum eigentlichen Wortsinn den Inhalt. Die alles Ungefähren bare Sparsamkeit heischt und verführt, die aufgerufenen Vorstellungsreihen weiterschwingen zu lassen in den sich einstellenden Erinnerungen anklingender RilkeWorte, der Gefühlsabläufe und Gedankenreihen, wie sie von den Vorstellungen Schlaf, Rose, Tod und „reiner Widerspruch" ausgehen und sich anbieten, damit sich verdeutliche, was in orphischer Verhülltheit als offenbares Geheimnis seinen Sinn gleicherweise darstellt und verschweigt. Aus wirklicher Kenntnis von Rilkes späten Werken und jenen Briefstellen, in denen er den Sinn seines Lebens und seiner Schöpfung wörtlich auszusprechen sich bemüht, wurde mir vorgehalten und als Deutung angeboten: Lust niemandes Schlaf zu sein, kann kein Bekenntnis sein zur Köstlichkeit des Schlafes, sondern nur ein Bekenntnis zur Köstlichkeit des Nicht-Schlafens; die Rose, genährt von denselben Kräften der Erde, die er, der Tote, nährt, der unter ihr schläft, schläft nicht, unter so vielen Lidern, die sich doch könnten zum Schlafe schließen. „Aus Dunkel steigt ein buntes Offenbares / und hat vielleicht den Glanz der Eifersucht / der Toten an sich, die die Erde stärken. / Was wissen wir von ihrem Teil an dem?" 1 / Aus „reinem Widerspruch" öffnet die Rose alle ihre Lider in der widersprechenden Lust nicht zu schlafen, sondern da zu sein, zu blühen, zu duften — zu singen! „Laßt die Rose nur jedes Jahr zu seinen Gunsten blühn! Denn Orpheus ist's. Seine Metamorphose in dem und d e m . . . Ein für alle Male ist's Orpheus, wenn es singt!"' (Heißt es nicht: „Ist er ein Hiesiger? Nein, aus beiden Reichen erwuchs seine weite Natur", und „er, der Beschwörende, mische unter der Milde des Augenlids ihre — der Toten — Erscheinung in alles Geschaute!")3 Nein, die vielen Rosen-

18

lider sind nicht Schlaf, sind niemandes Schlaf, sondern sind Lust da zu sein, Duft, Gesang, Leben, Dasein, verwandelter Orpheus, seine Metamorphose in dem und d e m . . . Die immanente Heiterkeit dieser Deutung hat eine schöne Verführungskraft. Ihr großer Zauber liegt in dem Trost, sich bei ihr nun wirklich beruhigen zu dürfen. Somit wäre also der Grabspruch die Krönung des von Rilke in der Zeit seiner Reife immer bekannten und im Gedicht wie im Brief ausgesprochenen Entschlusses: „das Leben gegen den Tod hin offen zu halten", „die Wandlungen der Liebe in dieses e r w e i t e r t e Ganze anders einzustellen, als es in dem engeren Lebenskreislauf (der den Tod einfach als das Andere ausschloß) möglich war." 4 So m u ß also der Grabspruch zu deuten sein, als letzte Zusammenfassung der Preisung und Rühmung des Hiesigen und Irdischen. Lust niemandes Schlaf zu sein — kann nur die Lust sein, nicht zu schlafen, auch im Tode noch zu wissen, daß im Leben — dessen eine Seite der Tod ist — Lust ist: Dasein — niemandes Schlaf sein unter so viel Lidern, sondern Blühen, Duften, Singen. Wenn man's so hört, möcht's leidlich scheinen. — Rilkes Glaubenskraft der Lebensbejahung in Einbeziehung der „anderen Seite", des Todes, reicht mit den Wurzeln aus der bewußten und gewollten Seelenlage tief in die unbewußten Schichten seines Wesens, aus dem die wundersamen Prägungen, die Bilder, Träume und zwingenden Symbole entwachsen. So ist es tiefe Wahrheit, ist Wirklichkeit, daß er — wie er wiederholt erzählt — „unter Diktat" geschrieben hat. Daher die große Verführung, diesen von ihm klar bedeuteten und entschlossen eingeschlagenen Weg als zum vorbestimmten Ziel geführt zu denken und wahr zu haben. Nur vom erreichten Ziel her sei der Gehalt des Grabspruchs zu erfassen, zu deuten. Von jenseits des Grabes, also wahrhaft am Ende der grimmigen Einsicht, rückblickend ein Liebeswort für das, was er mit allem Wissen und Willen dargelebt, gestaltet und bis an sein Ende zu vervollständigen nie aufgehört hat. *»

19

Indessen — ist diese Deutung nicht zugleich Umdeutung von des Dichters deutlichen und gar nicht ungefähren Worten? „Rose, oh reinen- Widerspruch, niemandes Schlaf zu sein" wird aus der Wortgestalt gebrochen in: „reiner Widerspruch, nicht Schlaf zu sein"; die „ungetrübte Widersprechlichkeit" entgleitet in ein „absolutes Widersprechen"; „Niemandes Schlaf zu sein" entwest sich zur präziösen Stilisierung des weniger Ungefähren: „nicht Schlaf zu sein". Aber Rilke war ein Dichter — „und haßte das Ungefähre". Muß denn Schlaf immer Schlaf j e m a n d e s sein? Wäre es denn nicht die äußerste Virtualität des Schlafes, der Schlaf an und f ü r sich, der „schlechthinnige Schlaf", die Leben gewordene Idee des Schlafes, wenn er nur Schlaf wäre und nicht jemandes, sonder niemandes Schlaf? Die Rosenblätter nennt er (in einem seiner vierundzwanzig französischen Rosengedichte) „mille paupières" (tausend Lider) und „mille sommeils" (tausend Schlafe); diese tausend Lider, die sich nicht zum Schlafe schließen (weil niemand da ist, der ihn schlafen könnte), s i n d Schlaf — sind der reine Widerspruch, indem sie niemandes Schlaf sind. Die eingeborene Hymnik aber der blühenden Rose ist die Lust niemandes Schlaf zu sein. Und sollte es denn nicht eine Lust sein, niemandes Schlaf zu sein, tausend kühle Schlafe, die nichts sind als Schlaf? Schierer Schlaf? Schiere Lust des Schlafes? Ein eminent „reiner" Widerspruch, einer Köstlichkeit wie der blühenden Rose durchaus würdig. (Der Widerspruch „Schlaf" und „NichtSchlaf zu sein", erscheint dagegen nicht rein, sondern getrübt von Menschlichem, Tröstlichem, der die Rose — in ihrem Rose-sein — überhaupt nicht betrifft.) Audi wird man mich schwer davon überzeugen, daß Rilke den seltsam kühnen Ausdrude „niemandes Schlaf" geprägt hätte (er, der verantwortlichste Gebraucher und Füger von Worten), wenn er nicht wesenhaft anderes hätte sagen wollen als mit den weniger ungefähren Worten „nicht Schlaf zu sein". 20

Es ist vielleicht nicht unwichtig, daran zu erinnern, daß Rilke keine Lehre formuliert hat, daß er kein lückenloses System aufgerissen hat, aus dem sich ein Dogma könnte ableiten lassen. Alle seine Worte, die er je im Gedicht und im Brief geprägt hat, sind nicht Glieder einer logischen Gedankenkette, sondern Aussage; Leben, nicht Denk-Werk; Ausdruck, nicht Beweisführung; Mahnung, nicht Lehre. Denn über allem ist das Werk — die Dichtung — Spiegel des Seins. Was denn wäre Schlaf, solange er jemandes Schlaf ist? Sicher nicht Tod; denn ein Toter wird nicht „schlafen", „Tote sind beschäftigt" 6 — heißt es einmal — und von der toten Eurydike sagt er: „Sie war in sich. Und ihr Gestorbensein 1 erfüllte sie wie Fülle. / Wie eine Frucht von Süßigkeit und Dunkel, / so war sie voll von ihrem großen Tode, / der also neu war, daß sie nichts begriff. / Sie war in einem neuen Mädchentum / und unberührbar; ihr Geschlecht war zu / wie eine junge Blume gegen Abend, / und ihre Hände waren der Vermählung l so sehr entwöhnt, daß selbst des leichten Gottes / unendlich leise, leitende Berührung / sie kränkte wie zu sehr Vertraulichkeit. I . . . I Sie war schon aufgelöst wie langes Haar / und hingegeben wie gefallner Regen / und ausgeteilt wie hundertfacher Vorrat." 6 Der Tote, über dessen Grab der Spruch der Rose steht, liegt nicht hier und schläft und spricht kein Liebeswort rückblickend — er ist erfüllt von Tod, ist aufgelöst in Tod; „was wissen wir von ihrem Teil an dem?" 7 Nur vermuten können wir vielleicht, daß das Schließen der Lider im Tod, wenn es je Schlaf ist, niemandes Schlaf sein wird. Reiner Widerspruch. Rilke hat die Schwere des Lebens gewußt und wahr gehabt; er hat es sich nicht leicht gemacht. Das ist seine Tragik, der Urgrund seiner Produktivität — und seiner Heroik. Er wußte auch um die eigene Form und Art seiner Liebeshaltung. Oder glaubt irgendwer, daß es Zufall ist, wenn er oft das Thema des Narziß umkreist, daß er in den genannten Rosengedichten von der Rose spricht, wie ihr Inneres sich unentwegt zärtlich 21

tut in sich selbst, das Thema des erhörten Narziß erfindet? „Ainsi tu inventes le thème du Narcisse exaucé." 8 Er wußte, daß er, wo immer er liebte, der geliebte Gegenstand w u r d e , daß er nicht ein verfügbares Gefühl übertrug, sondern einging in die Dinge, und so a u s ihnen sprach, nicht v o n ihnen oder zu ihnen. Es ist unerhört, was er aus dieser Not des Niemalsseins, des Sichimmerverwandelns gemacht hat. Und er hat nicht aus der Not eine Tugend gemacht, aber er hat — verantwortlich, bewußt, wissend — Schicksal gelebt und gestaltet. Auf diesem gefährlichsten Weg der Identifikation im Gefühl hat er unsagbare Geheimnisse erschlossen. Das ist seine Not, seine Gefahr, seine Größe, sein Prophetentum. Sollte es nicht möglich sein, daß er — nun er tot ist — (und als er den Grabspruch bestimmte, nahm er gewiß das ganze Totsein vorweg) — dieser „sonst abgewandten Seite des Lebens, die nicht sein Gegenteil ist", „leidenschaftlich, erschüttert zustimmt"? — Uns geht nichts an als die Existenz des Toten in unserem Herzen (wie er in einem Brief vom Dreikönigstag 1923 sagt;' und ihn geht nichts mehr an als sein Totsein, das er, wie alles Leben, gewiß leidenschaftlich lebt. („Du gerne, du leidenschaftlich Toter", sagt er einmal.) Und wenn das Totsein ihm, bei seiner Eigenart, zum erstenmal die Erfüllung „reinen Seins" wäre, nicht, mehr das Niemalsselbersein, das sich immer ins Gegenüber-Verwandeln, mit jener Selbstverständlichkeit sein dürfen, wie er sie tausendmal gesungen, vielleicht hunderttausendmal im Gegenüber erlebt, nur niemals an sich selbst? „Das Leben sagt immer zugleich: Ja und Nein. Er, der Tod (ich beschwöre Sie, es zu glauben!), ist der eigentliche Jasager. Er sagt nur: Ja. Vor der Ewigkeit." (Brief vom Dreikönigstag 1923).10 Also hört mit dem Tod, der nur Ja sagt, der Widerspruch des Lebens, das immer zugleich: Ja und Nein sagt, auf? obwohl der Tod nur die eine Seite des Lebens ist, also (eigentlich) auch nichts anderes sollte sagen können als das Leben? 22

Oder sollte eben das der reine Widerspruch sein, dieses Nurnochjasagen? Wie die Rose, Lust niemandes Schlaf zu sein unter so viel Lidern? „Aber Lebendige machen alle den Fehler, daß sie zu stark unterscheiden." 11 Alles überklingt das Wort aus den Sonetten: „Was wissen wir von ihrem (der Toten) Teil an dem?" Ich unterstelle nicht, daß Rilke immer ganz genau gewußt hat, was er eigentlich gesagt hat oder hat sagen wollen; dazu war er allzu sehr Dichter und hat „unter Diktat" geschrieben — wie Hölderlin, wie Goethe in seinen größten Augenblicken. Wäre das nicht, es bliebe ja nichts übrig als ein Dogma, ein Beweis, eine schlüssige Kette, und niemals könnte ein Werk wachsen weit über den Dichter hinaus und Jahrhunderte und Geschlechter überdauern. Die Unabsehbarkeit, die Grenzenlosigkeit aller wahren Dichtung erschließt sich immer neu aus der Unverbrauchbarkeit der aus dem Unbewußten entstiegenen Bilder und Wortgefüge, die zu jenen Dingen werden, von denen es in den Sonetten heißt: „Nähme sie einer ins innige Schlafen und schliefe tief mit den Dingen —: o, wie käme er leicht, anders zum anderen Tag, aus der gemeinsamen Tiefe." 12 Darin beruht dieser Dinge Unergründlichkeit, ihr offenbares Geheimnis. — Darum ist es recht, daß sich das Dichtwerk jeder noch so gründlichen rationalen Deutung immer entzieht. Oder sollte die Rose der einzige „reine Widerspruch" sein auf der ganzen irdischen Welt? Alles Lebendige trägt ihn in sich. Auch der Dichter, der das Leben nicht auflöst in eine mathematisch oder logisch handliche Formel, sondern sein Erleben in Gedicht und Bild verwandelt ausspricht. Deshalb wird Dichtung wohl niemals Lehre sein, aber in den geglückten Fällen —: Vorbild und Maß.

23

RANDBEMERKUNGEN

ZU RILKES

FREUNDSCHAFTEN

Wenn wir eines Dichters Briefe lesen, neigen wir dazu, sie hinzunehmen wie das Werk, gleichwertig als Inhalt, gleichgewichtig in der Aussage. Unterschätzen wir da nicht ein wenig, wie anders Zwiesprache gelagert ist als der Monolog? Das Werk ist meist monologisch geschaffen, auf nichts zu, ins Freie — schiere ¿Aussage. An einen bestimmten Menschen aber nur zu denken (man braucht ihm nitiit wirklich zu begegnen), verändert schon Verfassung von Geist und Seele, wie wenn ein fremder Tropfen in eine Substanz fällt; etwas schlägt sich nieder, verfärbt, temperiert anders. Der Brief aber ist Zwiesprache ohne die Gegenwart des Partners. Der Briefempfänger muß vom Schreiber ganz und gar eingebildet werden; denn der Brief soll ihn ja betreffen, soll Freude, Teilnahme, wenigstens deutliche Mitteilung an ihn vermitteln. Diese Leistung, sich den anderen vorzustellen, verfärbt den Schreiber nach dessen Bild, tönt sein Denken und seinen Ausdruck nach ihm um, stellt ihn ein (wie eine Wasserwaage). Natürlich gibt es auch andere Briefschreiber; extrem monologische, die sich zum Du nicht verhalten; stoßende, convexe Menschen. Audi sie können reiche Menschen sein, die vieles zu geben haben; nur berührt sie oft nicht die Frage, ob sie auch den richtigen Empfänger wissen, der es ihnen abnimmt. Rilke war ein rein Empfangender; noch wo er gab, gab er mit der Gebärde des Hinnehmens; er war der ideale Briefschreiber. Alle seine Briefe tragen die gleiche — seine — Handschrift; alle klingen sie aber ganz in der Melodik und Harmonie des jeweiligen Empfängers. Nie hat vielleicht wer vorbehaltloser und mehr aus sich heraus Briefe geschrieben; und war doch jedesmal völlig mit dem Empfänger geeint. Aus der Art, wie Rilke ein gleiches Ereignis verschieden ihm nahen Menschen mitteilt, läßt sich — wie auf ausgespartem Grund — das jeweilige Profil des vorgestellten Lesers 24

im Umriß ahnen. Selbst bei dem Bericht über das erschütternde Ereignis, daß in dem ungeheuren Diktat weniger Tage die tausend Verse der Duineser Elegien entstanden waren, sind die drei bekannten Mitteilungen — fast gleich im Wortlaut und Inhalt — drei völlig verschiedenen Menschen angeähnelt.1 Der Brief an die Fürstin Taxis, der die Elegien zugeeignet sind als „aus ihrem Besitz", hat ein wenig höfische Tournüre; in einer Nachschrift bittet der noch wie vom Dämon geschüttelte Dichter, der Fürstin öttingen zu Gnaden empfohlen zu sein. Auf einer Zeile allein steht, wie zusammenfassend, ausgespart das Wort: „Amen". Den Brief an Lou tönt andringliche Vertraulichkeit. „Denk!", schreibt er, „Denk! ich habe überstehen dürfen bis dazu hin. Durch alles. Wunder. Gnade." Der dritte Brief, d. h. der erste in der Reihenfolge — ging an den Freund, den Verleger. Was dort „Amen" heißt und da: „Wunder, Gnade" ist hier ein auf einer Zeile einzeln stehendes: „So." Das ist der Atem, aus dem dieser Brief geht. Die Enthaltsamkeit aber ist von weit größerer Fülle als der Überschwang. Bei diesem für Rilke ungeheuersten Ereignis handelt es sich nur um Schwebungen im Ausdruck. Aber es lohnt, auf sie zu horchen, ihnen nachzugehen bis zu ihrer Herkunft. Das Gegenübersein der Frau bestimmt den Eindrucksamen zum Sichgehenlassen in das ihm nahe, doch von ihr (der Frau) bestimmte Gefälle. Er verwandelt sich ein in die Weichheit, in die Übertreibung ihres lauschenden Herzens. Teils Spiel, teils Spiegelung ähnelt er sich so sehr an, daß die Gebärde des Hinreichens den Inhalt des Hingereichten mitunter zu färben scheint. Die seltsam gezirkelte Courtöisie der Fürstin und vielen adeligen Damen gegenüber wächst sich oft aus in ein Auf- und Uberblühen von Zartheiten und Empfindungsübersteigerungen, als handle es sich um die mondän getönten Herzensüberschwänge, die er bei Bettina und der Duse in 25

menschliche Substanz und Form zu schlagen versuchte. Die Lou aber schenkt ihm alle wünschbaren Verführungen und Möglichkeiten, sich vor der Edles Verstehenden (und Mißverstehenden) ohne Scham und Haltung gehen zu lassen; sie nahm ihn als Kind; er liebte sie als Mutter. Ihr Mißverständnis, sie seien einander Freunde, war so f ü r sie beide beglückend. 1 Nur in den an Clara Rilke gerichteten Briefen west ohne Vorbehalt und Übertreibung die Achtung vor dem ebenbürtigen Gegenüber in der Frau. (Von solcher Art vermutet man auch die Briefe an die „Herrin" [Katharina Kippenberg], die noch nicht, und an Frau Wunderly-Volkart, die nur in knappen Bruchstücken vorliegen.) Sonst sind ihm die tausendundeine Frauen, an die sich die Ergiebigkeit seiner Brieffeder verströmt, nur mehr oder weniger Anlaß zum oft sublimen, oft auch vom Widerschein der Empfängerin stark timbrierten Monologisieren. Manche gewaltigen Gehalte sprechen sich da aus; vieles verschnörkelt sich und weicht sich auf in allzu herzlichem Eingehen auf vielerlei herzlich unnotwendige Not. Wo wirklich Not ist, ist auch seine Menschlichkeit von großhelfender Bereitschaft. Aber nötig ist, die Briefe mit wacher Aufmerksamkeit zu lesen, um Spiel und Spiegelung nicht völlig mit des Dichters Bild und Wesen sich vermengen zu lassen. Unverdächtig und echt ist Rilke er selbst, wo er sich vertrauten Männern gegenüber äußert. Leicht war dem einsamen, kameradschaftslosen Jüngling das Erlernen der Männerfreundschaft nicht gewesen. Man weiß von Rodin und was Rilke ihm verdankt. Das Verhältnis — Rilke dreißigjährig, ganz knabenhaft in seiner Devotion — ist unantik, ganz ohne Eros und fast ohne Gegenspiel; mittelalterlich auf die Haltung des Lehrlings zum Meister (im Handwerksinne) ausgerichtet. Die Spannung ist einseitig: aufnahmebereite Dienstwilligkeit gegenüber dem Reifen, Bewiesenen. Wer wagte zu vermuten, wieviel und was Rilke Rodin bedeutet hat? — Ihm 26

war er angestaunter Meister in seiner Kunst, im Erfassen und Bändigen des Lebens. So glückte das unausdenkbare Paradox, daß ein Dichter am Bildhauer lernte Verse zu meißeln, Prosa zu schmieden; daß der Übersensitive an der sich verschwendenden männischen Naturkraft erfuhr, sich zusammenzuhalten, auf daß Leben und Werk ihm gelänge. Niemals wieder hat soviel Mißverständnis und Unverstand in einer Rilkeschen Freundschaft gehaust. Aber so war sie nötig zu seinem größten Fortschritt. Erwachsen kam er aus Meudon zurück, nach wenigen Monaten. Das gewischte Pastell seiner Jünglingsseele war in männlichen Kontur gebändigt, ins Menschliche gereift. Sein Wesen wird F o r m Von nun an wahrt er Wert und Maß. Man lese die Briefe aus dieser Zeit, den zweiten Teil des Malte, die neuen Gedichte. Schicksalsfügung, daß eben jetzt die zweite, die gültige, Rilkes künftiges Leben bestimmende, umhütende und aufbauende Freundschaft anhebt. Mit der Beziehung zum Inselverlag, der sein Werk übernimmt, wächst unaufhaltsam der menschliche Bezug zu seinem Verleger, Vertrauen und Selbstvertrauen stützen einander, im Austausch verschieden gearteter, gleichgewichtiger Kräfte; Bereitschaft, Gewährung und Dank schafft einen währenden Einklang ungetrübter Ausgewogenheit, wie er beide in gleicher Weise ehrt. Da nur die Briefe Rilkes und auch sie nur im Auszug veröffentlicht sind, kann man nur ahnen, wie der wenig ältere Mann aus seinem breitgelagerten erfolgreichen Berufsleben mit verständnisvoll männlicher Zartheit den den praktischen Gegebenheiten gegenüber recht hilflosen Dichter wie ein sorgender Bruder betreut, ihm in der Unstete seines Lebens Sicherheitsgefühl verbürgt. Man erlebt es mit, wie er den einseitig und nur von Zufallsfunden „Gebildeten" in fremde, ihm ganz neue Bereiche des Geistes verlockt, wie er in Bücherpaketen, in gelegentlich vorgelesenen Gedichten gleichsam Lockspeisen auslegt, des Aufnahmewilligen Horizonte unsagbar auszuweiten. Wie mächtig das Bildungsmäßige ins Menschliche 27

überschlug, ist abzulesen an der langsam sich wandelnden Haltung Rilkes Goethe gegenüber, den er noch im Malte (gelegentlich Bettinen) hoffärtig glaubte verurteilen zu sollen und dem er in steigenden Jahren, von dem wissenden Freund unmerklich geführt, in dankbarer Erkennung zureift und sich in Verehrung neigt, daß er ein Jahr vor seinem Tod, als er die französische Ausgabe des Malte vorbereitet, seinem Ubersetzer einbekennt, wie an dieser Stelle damals, als er sie schrieb, ein hemmungslos liebendes Herz die menschlichen Maße verkannt und ihre Werte verwechselt hatte. 3 Wie hier eine reife Freundschaft der schöpferischen Genialität zu geistiger Großräumigkeit die Wege ebnete, wie im Austausch zahllose Anregungen aus schierem Wertgefühl zum Verleger zurückflössen, das sind Aspekte von Rilkes Leben, von denen noch viel zu reden sein wird. Das sind die Lebensgefilde und fruchtbaren Seelenspannungen, in denen die Gegenspieler Männer sind von gesammelter Kraft, von bewiesener Leistung im Leben: Karl von der Heydt, Leopold von Schlözer, Hofmannsthal, Verhaeren, Gerhard Ouckama Knoop. Man überschätze nicht Rilkes Wort, er habe mit dem Mann nie etwas anzufangen gewußt; sein Leben widerspricht dem. Es ist durchzogen von viel wohlgeratener Männerfreundschaft, der er jeder bis ans Ende die Treue hielt. Das Bild der reifen Jahre des Dichters fängt langsam erst an sich zu enthüllen und darzustellen. Wie tief an seines Wesens Kern, die Freundschaft mit Hellingrath rührte, der eben geknüpfte und schon durch den Tod zerrissene Bezug zum jungen Marwitz, das aufrichtige Nahesein zu Thankmar Münchhausen erfuhren wir erst jüngst in den Briefen aus der Kriegszeit. Von seinen Schweizer Freunden wissen wir nur einzelnes Wesentliche aus I. R. von Salis' vortrefflichem Buch; wie wissend und überlegen er mit dem Leben vertraut war in seinen letzten Jahren, lassen erst wenige Bekenntnisse und Erinnerungen ahnen. Wie unpathetisch war dieses Leben allmählich geworden, wie aufrichtig in seiner Überschau, wie wahrhaftig im Ein28

beziehen des Lächelns noch in das tragische Geschehen. Alle Ansätze waren da, daß der Kreis sich schloß zu denkbar glückhaftem Gelingen, daß sich verwirklichte im Leben, was in begnadeter Stunde die Elegien und die Sonette — im Gedicht vollbracht — vorwegnahmen: die Versöhnung von Mensch und Schicksal. Da stand aus unerkannten Tiefen die tödliche Krankheit in ihm auf. Als Vermächtnis lag auf des Verstorbenen Schreibtisch sein letztes vollendetes Werk — ein schmaler Anstieg in Neuland — der Brief eines Arbeiters.4 Ob es nicht langsam Zeit wird, seine Werke lesen zu lernen mit dem Blick gerichtet dahin, wohin es ihn führte, nicht immer nur da verweilend und eigensinnig ihn halten wollend, woher er kam?

ENGEL

UND

ORPHEUS

Im „Archäischen Torso Apollos" bricht der Sinn des Kunstwerks, vom Betrachter her gefaßt, abrupt, überraschend, gewissermaßen überrumpelnd aus der Schlußzeile der deutend beschreibenden Strophen. Dieses Aperçu: „Du mußt dein Leben ändern" steht sinnlos, ungehörig, unzugehörig gegen die Marmorzeilen des Sonetts, daß es jenen Schock weitergibt, wie ihn nur ungefiltertes wirkliches Erleben zu erteilen vermag. Der Überschlag aus dem Betrachtendaufnehmenden ins Wesenbildende und -verändernde, sein Angekoppeltsein an die in letzter Intensität gestalthaften Worte, läßt, wie im Wetterstrahl, die Unlogik im Verhältnis von Kunstschaffen und Kunstaufnehmen, das Inkommensurable ihres Zusammenhangs aufleuchten. Wie alles bei Rilke ist auch das hier 29

und so Gesagte unprogrammatisch und in keiner Weise didaktisch gemeint. Dieser Auftrag: sein Leben zu ändern — ist Aussage eines Erlebten. Trotzdem bleibt es Zeugnis für die wirkliche, unendliche und wirkende Lebensverbundenheit, in der für ihn die Kunst besteht. — Ungefähr zwei Jahrzehnte nach diesem Gedicht umschreibt er (am 13. März 1922) diesen gleichen Tatbestand in der verhaltenen Diktion seiner Brieffeder. (Es mag bemerkenswert sein, daß dieser Brief in der Zeit unmittelbar nach dem Entstehungssturm der Elegien — Februar 1922 — geschrieben ist.) „Also, darüber müßten wir, zum Schluß, genau verständigt s e i n . . . : daß die Kunst nicht zuletzt wieder Künstler zu stiften vorhat. Sie meint keinen zu sich hinüber zu rufen, ja, es ist immer meine Vermutung, daß es ihr auf eine Wirkung überhaupt nicht Einkäme. Indem aber ihre Gestaltungen, aus unerschöpflichem Ursprung ununterdrückbar hervorgegangen, seltsam still und unübertrefflich unter den Dingen dastehen, könnte es geschehen, daß sie j e d e r menschlichen Betätigung unwillkürlich irgendwie vorbildhaft werden durch ihre angeborene Uneigennnützigkeit, Freiheit und Intensität." 1 Das ist sehr leise, sehr vorsichtig und doch sehr unbedingt gesagt. Ohne daß es dem Kunstwerk (und dem, der es schafft) auf eine Wirkung ankäme, ist es doch, als ein schließlich rein durch sein Dasein Wirkendes, mitten in den Ablauf des Lebendigen gestellt und einbezogen. * 2

Rudolf Kaßner erzählt von Rilke: „Einmal sagte er mir sehr erregt, als ich ihm seine Nachsicht gegenüber einem. Dichtwerk vorwarf: er wolle ja nie kritisieren, es läge ihm nichts daran. In der Tat gab es f ü r ihn nicht diesen so männlichen, dem Mann so eigenen Zwiespalt zwischen Urteil und Gefühl." Was sich wieder schon fast wie ein Urteil anhört. Rilke war sehr klar, deutlich und unbedingt in seinem Urteil, wenn es auch nur selten jene Schärfe annahm, wie in dem 30

Brief an den Arbeiter J. H. s , der ein Manuskript Gedichte gesandt hatte. Daß ihm am Kritisieren nichts lag, hat er öfter bestätigt. Einmal (17. März 1922) schreibt er über den papierenen lebensfernen Dichtertyp, der so hoffnungslos und widerwärtig sei: „Aber warum ihn b e k ä m p f e n . . . genügt es nicht ihn zu übersehen? Soviel Dinge des Untergangs wert kommen am besten zu ihrem Ende, wenn man sie gewähren läßt, sie sind ja ohnehin immerfort dabei, sich abzuleben."' Rilke hatte aber dem Kunstwerk gegenüber ein unendliches und doch wohl durch nichts zu betrügendes Wertgefühl; wo er sich mit etwas einließ, drang er stets ins Innere. Während es die Frage bleibt, ob „Kritisieren" überhaupt eine Haltung ist, in der man an ein Kunstwerk herankommt. Auch wo Rilke einschränkt bis zur Ablehnung, läßt er ein Gebilde in seiner Ganzheit bestehen. Seine Aufnehmung ist immer ohne Bruch; deshalb ist auch seine Wertung, wenn er eine gibt, ohne Zwiespalt zwischen Gefühl und Urteil. Aber sehr unbedingt, sehr wissend. Solche vorbehaltlose Aufnehmung eines Gedichts führt sachlich und unmittelbar zu seinem Sinn. Sie hat natürlich nichts mit dem zu tun, was gutgemeinte Enthusiastiken — auch im Rahmen des Rilkeschrifttums — treiben, die in jedem Vers eine religiöse Offenbarung, in jedem Wort eine philosophische Wahrheit wittern; aber sie hebt sich ab gegen eine schließlich in dubio doch immer besserwissende und bemäkelnde Begutachtung, die ganz großen wissenschaftlichen Apparat anfährt, um schließlich nachzuweisen, daß ein Dichter irgendwo vorbeigelebt hat oder daß etwas bei ihm nicht stimmt. Rilke gegenüber ist — lange Zeit noch — erste Aufgabe nicht eine vielleicht sehr „männliche" Kritik, sondern das Bemühen um die Einsicht, was er denn eigentlich gesagt hat. *

Daß die Elegien und Sonette nicht leicht aufzunehmen sind, dunkel, oft rätselhaft bis in den Wortlaut, hat jeder 31

erfahren, der sich mit ihnen einließ. Die Art aber, wie Rilke selbst davon spricht, daß er sie streckenweise und zeitweise nicht versteht, daß er nur allmählich in ihren Sinn eindringt, gehört zu seinen liebenswertesten Selbstzeugnissen. Das ist im ernstesten Ernst der ehrfürchtige Widerklang desselben, was sich in anderen heiteren Erlebnismomenten als sein sublimer, oft sich selbst persiflierender Humor darstellt; jene letzte Unbefangenheit, die, um ein seiniges Wort auf ihn anzuwenden, nicht sagt: das bin ich; nein: dies ist. Ein wenig verwundert kommt er immer wieder auf dieses langsame Eindringen in den Sinn der Sendimg zurück. So heißt es am 23. Juni 1922 (also immerhin schon vier Monate nach dem Entstehen der Dichtungen): „Es war mir eine tiefe Bewegung, die Aufnehmung zu erleben, die die Fürstin T. den Elegien zu bereiten wußte! Einen Tag las ich ihr alle zehn, den folgenden die fünfzig Sonette an Orpheus, deren innere Einheit und deren Zusammenhang mit den Elegien, die sie herrlich parallelisieren, mir erst über diesem Anhören fühlbar geworden ist. Beide Arbeiten sind mir so, als ob es nicht meine w ä r e n . . . nun eigentlich geschenkt worden —, die Fürstin staunte, und ich, wenn ich ganz wahr sein darf, ja, ich staunte mit, tout simplement, mit meinem reinsten, innigsten Staunen. — Womit ja alles in bester Ordnung wäre." 5 — Im April 1923 heißt es von den Sonetten: „Sie sind vielleicht das geheimste, mir selber, in ihrem Aufkommen und Sichmirauftragen, rätselhafteste Diktat, das ich je ausgehalten und geleistet h a b e . . . Ich dringe auch selber erst mehr und mehr in den Geist dieser Sendung ein, als die die Sonette sich darstellen." 6 Drei Tage später in einem anderen Brief: „Ich selbst habe diese Gedichte... erst jetzt, im Vorlesen, nach und und nach begreifen und genau weitergeben gelernt; . . . der Zusammenhang stellt sich überall her, und wo ein Dunkel bleibt, da ist es von der Art, daß es nicht Aufklärung fordert, sondern Unterwerfung." 7 Am 1. Juni 1923 schreibt er: „Der Satz, den Sie mir schreiben: die Einsicht, 32

daß jene .höhere Sphäre', in der die Gedichte vor sich gehen, sich doch eigentlich als die dem Wesen n ä c h s t e , naheste, also vergessen-vertrauteste erweise . . . ist das Zustimmendste und Schönste, was mir, seit sie da sind, zu den OrpheusSonetten gesagt worden ist. Was bedeuten, diesem Gefühl gegenüber, die kleinen Unsicherheiten da und dort! Es handelt sich ja wirklich oft um das Schwierigste, in einem ,Grenzstreif' des eben noch Sagbaren Belegene. Manchmal ringe ich selbst um den Sinn, der sich meiner bedient hat, um sich menschlich durchzusetzen, und das Licht einzelner Stellen besitze auch ich nur in einzelnen begnadeten Augenblicken." 8 In dem berühmten Kommentarbrief an den polnischen Übersetzer — von dem Katharina Kippenberg 9 so hübsch sagt, „man spürt, daß es ihm nicht recht bequem war, Intuitionen zu begründen" — heißt es am Schluß: „Elegien und Sonette unterstützen einander beständig." 10 In den Briefen der späten Zeit tauchen immer wieder solche Hinweise auf. Sie erweisen des Dichters Bemühen, selbst zu erfassen, was da durch ihn sich menschlich durchgesetzt hat, und sein zustimmendes Staunen, wie Elegien und Sonette einander ergänzen. *

Es ist eine Aufgabe f ü r sich, einmal die Themen aufzuspüren, die — in abgewandelter Verformung eines einzigen Erlebnisses — in der Aussage im Gedicht oder im Brief sehr verschieden betonte Erlebniswerte ergeben und bezeugen. Hier stehe als Beispiel die kleine Anemone. Von ihr schreibt er am 26. Juni 1914 an Lou: „Ich bin wie die kleine Anemone, die ich einmal in Rom im Garten gesehen habe, sie war tagsüber so weit aufgegangen, daß sie sich zur Nacht nicht mehr schließen konnte! Es war furchtbar, sie zu sehen in der dunkeln Wiese, weitoilen, immer noch aufnehmend in den wie rasend aufgerissenen Kelch, mit der viel zuvielen Nacht über sich, die nicht alle wurde. Und daneben alle die klugen Schwestern, jede zugegangen um ihr kleines Maß Überfluß." 11 3

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Das ist die gleiche Anemone, die in den Sonetten an Orpheus steht: „Blumenmuskel, der der Anemone / Wiesenmorgen nach und nach erschließt, / bis in ihren Schoß das polyphone / Licht der lauten Himmel sich ergießt, // in den stillen Blütenstern gespannter / Muskel des unendlichen Empfangs, / manchmal so von Fülle übermannter, / daß der Ruhewink des Untergangs // kaum vermag, die weitzurückgeschnellten / Blätterränder dir zurückzugeben: / du, Entschluß und Kraft von w i e v i e l Welten! // Wir, Gewaltsamen, wir währen länger. / Aber w a n n , in welchem aller Leben, / sind wir endlich offen und Empfänger?" — Und schon einmal steht die kleine Anemone in der am 16. Februar 1907 geschriebenen „Migliera": „Und doch, Du weißt: wir können also so / am Abend zugehn wie die Anemonen / die Tiefe eines Tages in sich schließend, / und, etwas größer, morgens wieder aufgehn. / Und das zu tun, ist uns nicht nur erlaubt, / das ist es, was wir sollen, zugehn lernen / über Unendlichem." 12 Es geht nun wohl nicht an, diese drei einander überschneidenden und ausschließenden Sinngebungen e i n e s Erlebnisses gegeneinander auszuspielen. Vielleicht sollte man auch mit dem Entwicklungsbegriff vorsichtig sein, nicht nur bei dieser einen immer gleichen und widersprechlichen Anemone. Wenn auch das Bild in der Verformung feist zwei Jahrzehnte umspannt — sind die früheren jeweils durch die spätere überholt? Man wird keines nach Belieben auslassen dürfen; sie haben alle drei ein unendliches Dasein, organisch hervorgegangen aus dem wirklichen Erleben. * Man weiß, wie erfüllt mit Schwerem die Zeit nach der Beendigung des Malte war, 1910—1914; dann kam der Krieg. Manche Zeiten der Flutung hoben sich heran, die — durch äußere Ereignisse bedingt, oder auch ohne solche — wieder verebbten. Der Krieg selbst wird, nach seinen Briefen und den Erinnerungen seiner Freunde, nur als eine Zeit dumpfer,

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amorpher Verzweiflung für Rilke dargestellt. Und doch gibt es eben aus der Kriegszeit ergreifende Zeugnisse, wie ihn ein, wenn auch oft tief verschütteter, doch niemals unterbrochener Strom des Glaubens an die Lebensganzheit trägt. Eines der schönsten ist ganz gegen Ende des Krieges geschrieben in einem Brief am 9. Oktober 1918: „Ich habe mich alle die Jahre nicht gefragt, . . . wie sehr ich noch bei aller Trübsal, Wirrnis und Entstellung der Welt an die großen, an die vollkommenen, weithin unerschöpflichen Möglichkeiten des Lebens glaube; Ihr Hochzeitstag sei mir ein Anlaß, mich zu prüfen. Und da bekenne ich denn..., daß ich das Leben für ein Ding von der unantastbarsten Köstlichkeit halte, und daß die Verknotung so vieler Verhängnisse und Entsetzlichkeiten, die Preisgebung so zahlloser Schicksale, alles, was uns diese letzten Jahre zu einem immer noch zunehmenden Schrecken unüberwindlich angewachsen ist: mich nicht irre machen kann an der Fülle und Güte und Zugeneigtheit des Daseins. Es hätte keinen Sinn, Ihnen mit Wünschen nahe zu kommen, wenn nicht vor allem Wunsch diese Überzeugung stünde, daß die Güter des Lebens rein und unverdorben und im Tiefsten begehrenswert aus Umsturz und Untergang hervorgehen." u Die Leidensfähigkeit Rilkes, die Erschütterbarkeit seines Gefühls durch tragische Lebensmomente ist gewiß überhaupt nicht zu übertreiben. Immer wieder ist er bedroht von völliger Preisgegebenheit, von hilfloser Geworfenheit im Schicksal. Alles das wird im Gedicht und im Brief Aussage, Gestalt. Aber auch hier hat man nicht die Wahl, was man auslassen will. Die gegenwendigen, der Lebensfruchtbarkeit Äquivalente schaffenden Aussagen sind ebenso da, in der gleichen lauteren Aufgerichtetheit reinen Bekennertums. Erst beide zusammen, als voll zu Recht bestehende und bestandene Widersprüche, ergeben den vollen Klang im Lebensakkord. Das spricht er selbst, in einem Brief aus Toledo (17. November 1912) deutlich und wissend aus. (Man erinnere sich, daß damals die erste und die zweite Elegie neu, Teile der dritten 3*

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wohl fertig waren, aus Ronda wird an Lou der „Engel" geschickt, am Dreikönigstag 1913 der dumpfe Schrei: „Eigentlich war er längst frei." Die letzte Veröffentlichung war der Malte.) „Was Sie meine ,Welt' nennen", schreibt er an ein junges Mädchen, „das reicht vorderhand nicht hin, jemanden zu nähren und zu erhalten, gerade dagegen muß man Gleichgewichte aufnehmen, um im Ganzen zu sein. Mag sein, daß aus den Fragmenten, die man nach und nach vor sich bringt, einmal, im Uberblick, ein Welthaftes wird zu gewahren sein — aber das hat noch gute Wege bis dahin, ich bin gerade jetzt mehr als je im Einseitigen, die Klage hat vielfach überwogen, aber ich weiß, man darf die Klagesaiten nur dann so ausführlich gebrauchen, wenn man entschlossen ist, auf ihnen, mit ihren Mitteln, später auch den ganzen Jubel zu spielen, der hinter jedem Schweren, Schmerzhaften und Ertragenen anwächst, und ohne den die Stimmen nicht vollzählig sind." 14 Diese Gleichgewichte, die man aufnehmen muß, liegen nicht leichter Hand bereit. Es kann sich bei ihnen nicht darum handeln, der Schwere des Lebens ihr wahres Gewicht zu nehmen; aber sie sollen — in gleichgewichtiger Gegenschwere — die Schwere (wie sie in der Klage Gestalt wurde) aufheben. Rilke hat alles, was ihm aufgetragen war, nicht nur ausgehalten — „überstanden" —, er hat es auch so aufgelebt, daß er die gegengewichtigen Gleichgewichte wirklich leistete. Deshalb kann an diesen Brief aus Toledo, der eine noch nicht erfüllte Forderung ausspricht, ohne Naht und Bruch in den Sonetten an Orpheus die schiere Aussage anschließen: „Nur im Raum der Rühmung darf die Klage gehn." *

Es sei hier darauf hingewiesen, daß es kein „Zufall" war, nicht etwas, das vielleicht ebensogut auch anders hätte geschehen können, daß bei der Entstehung die Sonette den Elegien gewissermaßen zuvorkamen. Die Lebenseindringlich36

keit, die Rilke in der Geduld von zehn Jahren geleistet hatte, war, gereift, um die Jahreswende 1921/22 ganz auf die Vollendung der Elegien gerichtet. Als aber dieses reif gewordene Erleben, mit der Vehemenz, als werde eine hoch gestaute Schleuse geöffnet, sich in Form ergoß, wurden — völlig unvermutet — nicht die Elegien, sondern, planlos im höchsten Sinn, im rätselhaftesten Diktat, die Sonette; ohne daß ein Wort im Zweifel oder zu ändern war, der ganze erste Teil des Orpheus. — Erst nun war der Raum bereitet, in den der breite Strom der Elegien sich ergießen konnte. Kaum aber waren die Elegien fertig, gingen auch schon die Sonette weiter, und in ununterbrochenem Akt entsteht der zweite Teil. — So ist der Raum der Rühmung wahrhaft um die Klage geschlossen. Aus dieser Zwiegeburt von Sonetten und Elegien ergibt sich die Notwendigkeit, sie auch zusammen zu schauen, will man nicht, eklektisch, nur einen Ausschnitt aus Rilkes Weltanschauung — meist wohl auf Kosten des anderen Teils — herausschälen. Erst die Zusammenschau versichtbart die im Werk gestaltete Lebensganzheit. Ein Brief vom 12. April 1923 klingt wie eine Verdeutlichung dieses Tatbestandes, wenn er auch nicht von der Formwerdung oder der Gestalt der Gedichte, sondern von der Lebenssubstanz selber spricht. „Die Furchtbarkeit hat die Menschen erschreckt und entsetzt: aber wo ist ein Süßes und Herrliches, das nicht zu Zeiten diese Maske trüge, die des Furchtbaren? Das Leben selbst — und wir kennen nichts außer ihm — ist es nicht furchtbar? Aber so wie wir seine Furchtbarkeit zugeben (nicht als Widersacher, denn wie vermöchten wir ihr gewachsen zu sein?), sondern irgendwie in einem Vertrauen, daß eben dieses Furchtbare ein ganz Unsriges sei, nur ein, vor der Hand, f ü r unsere lernenden Herzen noch zu Großes, zu Weites, zu Unumfaßliches..., so wie wir, meine ich, seine schrecklichste Furchtbarkeit bejahen, auf die Gefahr hin, an ihr (das heißt an unserem Zuviel!) zugrunde zu gehen — erschließt sich uns eine Ahnung des Seligsten, das 37

um diesen Preis unser ist. Wer nicht der Fürchterlichkeit des Lebens irgendwann, mit einem endgültigen Entschlüsse, zustimmt, ja ihr zujubelt, der nimmt die unsäglichen Vollmächte unseres Daseins nie in Besitz, der geht am Rande hin, der wird, wenn einmal die Entscheidung fällt, weder ein Lebendiger noch ein Toter gewesen sein. Die I d e n t i t ä t von Furchtbarkeit und Seligkeit zu erweisen, dieser zwei Gesichter an demselben göttlichen Haupte, ja dieses einzigen Gesichts, das sich nur so oder so darstellt, je nach der Entfernung aus der oder der Verfassung, in der wir es wahrnehmen...: dieses ist der wesentliche Sinn und Begriff meiner beiden Bücher." 16 Man wird hier vor allen Dingen den „endgültigen Entschluß" festhalten müssen, mit dem der „Fürchterlichkeit des Lebens" „zugestimmt" wird und aus dem erst alles übrige folgt: „um diesen Preis" geht es: die Einsicht in die unausweichliche Naturnotwendigkeit des Fürchterlichen in der Welt. — Wer auf eine Getragenheit, eine Geborgenheit, Getröstetheit von vornherein als auf eine Rückversicherung glaubt Anspruch zu haben, stellt sich der Ur-Tatsache des Lebens — seiner Furchtbarkeit — nicht. „Das Leben — und wir kennen nichts außer ihm — ist es nicht furchtbar?": das ist das gültige Bekenntnis zur unbedingten Tragik des Lebens. Alle Versuche, diese Tragik versöhnlich einzurenken, sind Versuche, sich den „Vollmächten des Daseins" zu entziehen, durch nichtwirkliche Arrangements, die der Schwere ihr volles Gewicht erleichternd nehmen sollen. In der Zeit kurz nach den Elegien und Sonetten (wenn auch ohne Bezug darauf) schreibt er an einen jungen Menschen: „Jenes ,Schwernehmen' des Lebens, von dem meine Bücher erfüllt sind, ist ja keine Schwermütigkeit... jenes Schwernehmen will ja nichts sein, nicht wahr?, als ein Nehmen nach dem wahren Gewicht, also ein Wahrnehmen." 16 — Von diesem wahren Gewicht wird nicht versucht etwas abzuschminken durch „Verdacht, Glück oder Zufall", durch Meinen,

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Wähnen und Begutachten, durch Darüberhinaus- und Jenseitsdenken. Das Wahrnehmen (und man möchte hinzufügen Wahrhaben) ist unerbittlich. Das Sichstellen diesem Unerbittlichen gibt dieser Anschauung der Welt — dieser Weltanschauung Rilkes — das Heroische, das wahrhaft Heldische im Geist. Wer es mit sich vereinbaren kann, mag dem entgegenhalten, daß das doch alles gar nicht so schlimm sei; daß es wirklich nicht Eingehe, das Leben, ohne Einschränkung und Ausweg, „furchtbar" zu nennen; daß doch für jeden Einsichtigen allerhand Erleichterungen da seien, so zum Beispiel gegen die Schwere des eigenen Todes des Morphium, gegen die Verlassenheit und Einsamkeit die Zweisamkeit in der Liebe und die Geborgenheit in Familie und Volk, und so fort; und im übrigen sei im Christentum und in den verschiedenen Philosophien — es brauche ja durchaus nicht die neueste und eben sehr moderne zu sein — für jeden Geschmack ein passender Trost zu finden. Solches mag einem glücken, der durch ein gütiges Geschick höchstens gelegentlich an den Rand des „Abgrunds" geführt wurde, eben einen Blick hinein getan hat und alsbald in die von Zivilisation umhegte scheinbare Geborgenheit zurückfand. („Und wenn er auch so leicht tut, / er ist verkleidet, und er wird ein Bürger / und geht durch seine Küche in die Wohnung." ") Rilke steht nicht am Rand des Abgrunds, gegen den er sich stemmt und wehrt — er ist mitten drin. Und zwar auf die Gefahr hin, darin zugrunde zu gehen. Das ist der Einsatz. Es geht nicht ohne diesen Einsatz. Die Preisgegebenheit, die einer erlebt, ist die alles völlig in Frage stellende Tatsache; — sie ist nicht ein Trick, der selbsttätig zu einer Erlösung führt, für die man die Quittung gewissermaßen schon in der Tasche hat. Dieser volle Einsatz muß von jedem auf eigene und auf jede Gefahr hin stets neu geleistet werden. Das ist der Grand, warum Rilke — wie Kaßner sagt (von der Figur Christi des Gottmenschen und Mittlers sprechend) — den „Sohn" nicht einsieht. Es gibt — für Rilke — nicht das 39

stellvertretende Opfer; deshalb gibt es f ü r ihn auch nicht den Mittler. Die Erlösung — der „Umschlag" — ist nur möglich bei vollem Einsatz des Selbst, auf die Gefahr hin, zugrunde zu gehen. Eben in dieser wirklichen Gefährdung, die einer sich nicht mit Anspruch auf Hoffnung, mit „Glaube", erleichtert, in dieser vollen Preisgegebenheit liegt überhaupt erst die Möglichkeit des Umschlags. Das ist gemeint, wenn Malte Laurids Brigge sagt: „Oh, es fehlt nur ein kleines, und ich könnte das alles begreifen und gutheißen. Nur ein Schritt, und mein tiefes Elend würde Seligkeit sein. Aber ich kann diesen Schritt nicht t u n . . . " 1 8 Daß Malte diesen Schritt nicht tun kann, daß er sich zurückhält, daß er Anspruch und Hoffnung auf Erlösung (auf die Gegenliebe Gottes) nicht aufgibt bis zum Schluß, daß er nicht wirklich „arm" zu sein vermag, das ist der Grund zu seinem Untergang. Deshalb ist der Malte, nach Rilkes Aussage, gegen den Strom zu lesen; deshalb hat sich Rilke dagegen verwahrt, mit dem Malte „verwechselt" zu werden. Am 16. Juni 1911 schreibt er an Rudolf Kaßner: „Was mich angeht, so habe ich noch immer nicht die Wende geleistet, die mein Leben machen muß, um aufs neue ergiebig oder gar gut zu sein. Einmal in Kairo schrieb ich mir aus Ihren Sprüchen in mein Taschenbuch: ,Der Weg von der Innigkeit zur Größe geht durch das Opfer' — (Ich schrieb aus dem Gedächtnis, weiß nicht, ob wörtlich richtig —) — das wird es wohl sein, aber wie?" 1 9 In der Zeit zwischen dem Malte und den Elegien und Sonetten liegt dieses Opfer, der gültige Verzicht auf den Anspruch, auf jede Hoffnung in menschlichem Besserwissen; daraus erwachsend eine bereite Lebensgläubigkeit und Bereitschaft, das Leben — auch wenn es arg ist — hinzunehmen (ohne zu urteilen und zu befinden) als das dem Menschen Vorbehaltene und von ihm zu Leistende. Am 22. Februar 1923 schreibt Rilke an ein junges Mädchen: „Die starke innerlich bebende Brücke des Mittlers hat nur

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Sinn, wo der Abgrund zugegeben wird zwischen Gott und uns —; aber eben dieser Abgrund ist voll vom Dunkel Gottes, und wo ihn einer erfährt, so steige er hinab und heule drin (das ist nötiger, als ihn überschreiten). Erst zu dem, dem auch der Abgrund ein Wohnort war, kehren die vorausgeschickten Himmel um, und alles tief und innig Hiesige, das die Kirche ans Jenseits veruntreut hat, kommt z u r ü c k . . . " 2 0 „Ach, ich schreie, mit zwei Hölzern schlag ich / und ich meine nicht, gehört zu sein." So heißt es in dem „Engel" aus dem J a h r 1913. Nicht auf das Schreien kommt es an und auf das Schlagen mit den Hölzern; die Wende liegt in der Einsicht: „nicht gehört zu sein". Wie auch keiner aus der Engel Ordnungen hörte, wenn er schriee. Wer noch meint, gehört zu sein, dem ist der Abgrund nicht Wohnort. Dem ist er höchstens ein nicht eben angenehmer Aufenthaltsraum, wie etwa ein ungeheizter Bahnhofswartesaal im Winter, aus dem er sich, fast nach Belieben, jederzeit wieder drücken kann — f ü r den es aber verbürgt und auf alle Fälle eine „Erlösung" gibt. Von solcher Bürgschaft, von solchem Anspruch weiß Rilke nichts. Der „Abgrund", das „Furchtbare" ist — f ü r ihn — nicht das „Andere", es gehört dazu, es ist ein ganz Unsriges. Deshalb kann auch das „Furchtbare" nicht Folge einer „Erbsünde" sein, die irgendwann einmal in die Welt gekommen, die durch den „Sohn" und sein „Opfer" stellvertretend und ein f ü r allemal wieder aus der Welt geschafft ist. Es ist Ur-Tatsache des Lebens, die auszuhalten, zu bestehen ist und f ü r die — besten Falles — Gegengewichte aufgenommen werden können. Das aber ist schon das Spätere. Zunächst und endgültig — gültig und unausweichlich — geht es darum, auszuhalten, zu überstehen, zu bejahen, „irgendwie in einem Vertrauen" in das Sosein und das Rechtsein des Lebens. Alles, was Rilke über Christus und das Christentum gesagt hat, ist nur von hier aus zu erfassen. Das Opfer muß von jedem neu und von jedem immer wieder gebracht werden, 41

mit dem Einsatz seines ganzen Seins, auf die Gefahr hin, dabei zugrunde zu gehen. In diesem Aufgeben jeden, aber auch wirklich des letzten Anspruchs, daß von irgendeiner transzendenten Weltinstanz Sorge getragen werden müsse, daß es ihm in seinem Leben und Sterben wohl ergehe, ist jenes Opfer gebracht, durch das — bei Rilke — der Weg von der Innigkeit zur Größe geht. Darin — aber auch nur darin — liegt die so viel besprochene und so vielfältig mißdeutete „Demut" Rilkes. Von hier aus ist auch der „eigene Tod", Rilkes Stellung zum Tod überhaupt einzusehen. Der Tod und das „Schwinden" sind die dem Menschen nahesten und immer sichtbaren Exponenten des „Furchtbaren". Für die Hervorbringung der Elegien und Sonette nennt er entscheidend, „den im Gemüt mehr und mehr erwachsenen Entschluß, das Leben gegen den Tod hin offen zu halten, und, auf der anderen Seite, das geistige Bedürfnis, die Wandlungen der Liebe in dieses erweiterte Ganze anders einzustellen, als das im engeren Lebenskreislauf (der den Tod einfach als das Andere ausschloß) möglich war." 51 Daß es Auswahl und Ablehnung nicht gibt, auch dem Tod gegenüber nicht, (daß es also gewissermaßen auch keinen „eigenen Tod" mehr gibt) — das ist dieses „erweiterte Ganze". Dieses Ganze nicht begutachten und erlebend umdeuten, sondern es so, wie es ist, in seiner vollen Schwere hinnehmen, überstehen und bejahen — das ist: „Rühmen". Dieses „Rühmen" heißt nicht Preislieder und Gedichte auf die Schönheit des Lebens schreiben oder singen, sondern „irgendwie in einem Vertrauen" zum Leben — auch wenn es arg ist — „sei es selbst ein Moment aus dem Leben der Pein" —: „Ja" sagen. Ohne Vorbehalt. — Nur wem das glückt, dem kann es geschehen, daß die Himmel umkehren. Das ist — dann — der „Umschlag". Er ist — das darf nicht mißverstanden werden — nicht ein einmaliger Akt, nach dessen Vollzug sich nun gewissermaßen alles mit den umgekehrten Vorzeichen abspielt, so daß, nachdem zuvor alles „furchtbar" war, nun alles und immerzu 42

»Seligkeit" wäre. Audi durch den Umschlag wird weiterhin niemand etwas erspart; das Leben verliert — auch dann — seine Gefährdetheit nicht. Es ist kein ein für allemal entscheidbares Entweder-Oder. In den „Vergers" heißt es an einer Stelle: „Peut-être qu'on compte trop peu / avec ce mouvant équilibre; / il y a des courants dans le Tibre, / tout jeu veut son contrejeu." In dem gleichen Gedicht steht das Wort: „la sainte loi du contraste". — „O Leben, Leben, wunderliche Zeit, von Widerspruch zu Widerspruche reichend." — Das ist das „Ganze", von dem er immer wieder spricht, das es einzusehen, zu bejahen, zu „rühmen" gilt; nicht — um das noch einmal zu sagen — in Gedichten (es sei denn, daß man „zufällig" ein Dichter sei), sondern in seiner ganzen bis in den Tod währenden Lebenshaltung. — Von Widerspruch zu Widerspruche reichend; nicht nur, wenn das Leben einem eben einmal die freundliche Fassade zukehrt oder wenn es gerade so versprechlich aussieht, als solle es nun wirklich „gut ausgehen". Jedes Spiel will sein Widerspiel; nichts ist es selbst, da alles sich rein widerspricht. Erst die Gegengewichte, in ihrer vollen Schwere aufgenommen, „wahr genommen", ergeben das mouvant équilibre, das bebende Gleichgewicht, das Ganze. Auf das Ganze, auf die Vollzähligkeit des Lebens, des Erlebens, kommt es an. Dafür ist der Dichter Sprachrohr. — Es geht (um auch das noch einmal zu wiederholen) in allem Werk Rilkes nicht um das Dichtersein; es geht immer um das Leben in seiner Vollzähligkeit. *

Von Katharina Kippenberg wird das Wort Rilkes überliefert: „Mein Schicksal ist, kein Schicksal zu haben." " Das Wort sei im Krieg gesprochen —, so mag man aus seinem Klang die Düsternis jener Zeit mit heraushören. Aber trotzdem — und ohnedem — wäre es nicht schwer, den Nachweis 43

zu führen, daß es — zum mindesten auch — Rilkes Schicksal war, sehr viel Schicksal zu haben. Wenn man nur richtig zusieht, wird man f ü r zahllose seiner Aussagen, die einseitig gerichtet sind (und die nun so gerne als Beweise und Gegenbeweise angeführt werden f ü r das, was er gesagt oder wie er erlebt habe) die rein widersprechende Gegenaussage finden. Das „Ganze", von Widerspruch zu Widerspruche reichend, das bebende Gleichgewicht — all das sind keine ausgedachten Dinge und Behauptungen, die er nun hübsch und systematisch (als eine Lehre) darzustellen und zu beweisen versucht —; was je und je in sein Wort einging, im Gedicht oder im Brief, war Leben, Erleben, das er wahrnahm und wahr hatte mit seinem reinsten innigsten Staunen. So steht in einem Brief vom 17. März 1922 genau die gegenteilige Einsicht ausgesagt zu der, es sei sein Schicksal, kein Schicksal zu haben. Er spricht dort von dem Wunsch und Bestreben Richard Dehmels, den Dichter ins „Leben" zu stellen, aus seinem berechtigten Groll gegen den „Schreibtischliteraten"; die Verallgemeinerung aber, in die Dehmel verfalle, sei ein Fehler, „ein nicht tief genug Gedachtund Beobachtethaben". „Ist denn", fährt er fort, „um den Schreibtisch herum, an den sich einer, sagen wir, zurückzöge, kein Leben mehr, reicht Schicksal, Dasein, Nichtsein und alles Bedrängende, Gefährliche und Mächtige etwa nicht bis an diesen dorthin (sagen wir) Geflüchteten? Was seine Hervorbringung schwach, unwahr, überflüssig und lächerlich macht, ist nicht sein Platz, an dem er sich hält, sondern daß er an diesem Platz, der ebenso eine vitale Mitte darstellen könnte wie irgendein anderer Platz auf der Welt, vom Leben absehen lernt, das ihn auch dort umdrängt und umbrandet —, daß er das Leben überhaupt nicht mehr gewahrt, sondern nur das Papier und den Tintenileck am Federfinger." 23 — Hier bezeugt Rilke ausdrücklich, daß sein „Schreibtisch" eine vitale Mitte ist, vom Leben umdrängt und umbrandet, und was

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eben damals in Verse eingegangen war — der Brief ist vom 17. März 1922 — war: Schicksal. Also hebt dieser Briefabschnitt das von Frau Kippenberg bewahrte Wort auf? Nur als Gegengewicht, nur als Teil des Ganzen. Die Furchtbarkeit überfällt und bedroht den Menschen in dem Maß, als die Gegengewichte fehlen; so wie es für Rilke in der Zeit 1910 bis 1914 war. Selbstverständlich, daß es auch nun noch „Reaktionen" geben kann und wird, „nach solchem Geworfenwerden das Auffallen irgendwohin", wie er am 22. Februar 1922 an Lou schreibt. (Er antwortet ihr auf die Warnung vor den körperlich-seelischen Folgen, die der Schaffensakt der Elegien und Sonette auf ihn werde haben können.) Aber das „Auffallen" nach dem „Geworfenwerden" durch die Elegien mußte ein ganz anderes sein als nach dem Malte. Nicht daß der Pendelausschlag nun ausblieb; aber nun war die Einsicht geleistet, daß dem so ist — im Verzicht auf den Anspruch —, und das fehlte im Malte. Der Schluß des Malte lautet: „Er war jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, daß nur Einer dazu imstande war. Der aber wollte noch nicht." — In diesem „noch", könnte man pointiert sagen, ist Maltes Untergang besiegelt. Deshalb — und weil Rilke sich dagegen verwahrt, mit dem Malte verwechselt zu werden, setzen, wenige Tage, nachdem er diese Verwahrung geschrieben hatte (28. Dezember 1911 an Lou), die Elegien so endgültig und unwiderruflich ein: „Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen?" Und doch hat es noch zehn Jahre gewährt, und der Krieg war nötig und alles, was vor, während und nach ihm geschah, bis die ganze Schwere wirklich aufgelebt war, die Gegengewichte aufgenommen, so daß das bebende Gleichgewicht sich in einer nicht mehr trüglichen Waage ergab. Dieses Bewußtsein und Innesein des möglichen Gleichgewichts im Ganzen prägt sich in Äußerungen und Haltung seiner späten Jahre, bis zu seinem schweren vorbildhaften Sterben aus.

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Solche Gegengewichte, die einander polar bedingen, „herrlich parallelisieren" und „ergänzen", die sich „rein" widersprechen und so, zusammen erst, das „Ganze" ausmachen und bedeuten, sind die Elegien ünd die Sonette; und je in der Mitte ihres Raums der Klage und der Rühmung die mythischen Gestalten: der Engel und Orpheus, „schrecklich" und „heiter und verteilt". *

Es ist einmal an sehr sichtbarer Stelle die Frage aufgeworfen worden: „Meint Rilke, daß es die Engel der Elegien .gibt'?"2* Da ist es denn eine rechte Beruhigung, daß Rilke sich selbst zu dieser Frage geäußert hat, und zwar negativ. Die Antwort auf diese Frage steht in dem „Brief eines jungen Arbeiters". Der Arbeiter erzählt dort von den Kirchen, in die er manchmal geht, und von den Glasfenstern, die er dort sieht, und fährt dann fort: „Hier ist der Engel, den es nicht gibt, und der Teufel, den es nicht gibt; und der Mensch, den es gibt, ist zwischen ihnen, und, ich kann mir nicht helfen, ihre Unwirklichkeit macht ihn mir wirklicher. Ich kann das, was ich fühle, wenn es heißt: ein Mensch, dort drin besser zusammennehmen als auf der Straße unter den Leuten, die rein nichts Erkennbares an sich haben." 25 (Man erinnere sich, daß der Arbeiterbrief in unmittelbarstem Anschluß an Elegien und Sonette entstanden ist.) Die Unwirklichkeit des Engels hilft den Menschen wirklicher machen, als es die „Leute" sind, die so rein gar nichts Erkennbares an sich haben. Der Engel ist also gewissermaßen die Arbeitshypothese, die es erst ermöglicht, die menschliche Wirklichkeit zu erkennen. Es ist nicht abwegig, das — in diesem zeitlichen und schöpferischen Zusammenhang — Gesagte in solchem Ausmaß wörtlich zu nehmen und es mutatis mutandis für Orpheus gelten zu lassen. Wenn Rilke, der fast nichts von dem, was über ihn geschrieben wurde, las (und deshalb nur selten Gelegenheit hatte, Mißverständnissen zu begegnen, denen er ausgesetzt 46

war), gelegentlich einmal, Freunden gegenüber, eine Mißdeutung richtigstellt, ist es verblüffend, wie er selbst sich nach dem Wortlaut nimmt — und wie einfach dann der von ihm gesagte Sinn auf einmal ist. Hierzu gibt Maurice Betz schöne Beispiele, wenn er davon erzählt, wie Rilke seine Malte-Ubersetzung Wort für Wort mit ihm durchgegangen. — Einmal schreibt Rilke an die Fürstin, die ihm die ins Italienische übersetzte zweite Elegie geschickt hatte: „Ferner bin ich besorgt um den mir so lieben Ausdruck die Liebenden betreffend: ,Ich weiß / ihr berührt euch so selig, weil die Liebkosung verhält, / weil die Stelle nicht schwindet, die ihr, Zärtliche, / zudeckt; weil ihr darunter das reine / Dauern verspürt.' — Dies ist so durchaus wörtlich gemeint, daß die Stelle, auf die der Liebende seine Hand legt, dem Hingehen, dem Altern, allem, was schon immer fast Ver-Wesung ist unseres Wesentlichen, dadurch entzogen sei, — einfach unter seiner Hand dauere, sei —: es müßte möglich sein, es ebenso wörtlich italienisch verständlich zu machen, durch jede Umschreibung geht es einfach verloren. Nicht wahr? Und ich hänge an diesen Zeilen mit einer besonderen Freude, sie haben formen zu können." 28 Ein andermal — am 1. Juni 1923 — spricht er vom Sinn zweier Orpheus-Sonette: „In dem Gedicht an den Hund ist unter ,meines Herrn Hand' die Hand des Gottes gemeint; hier des .Orpheus'. Der Dichter will diese Hand führen, daß sie auch um seiner unendlichen Teilnehmung und Hingabe willen den Hund segne, der, fast wie Esau, sein Fell auch nur umgetan hat, um in seinem Herzen einer ihm nicht zukommenden Erbschaft des ganzen Menschlichen mit Not und Glück teilhaft zu werden." — („Esau" ist hier Schreibfehler; es war Jakob, auf den sich das Wort bezieht: „Hier, das ist Esau in seinem Fell.") „Sie sehen also, Sie denken zu weit, über das Gedicht hinaus, wenn Sie meinen, den Gedanken der Seelenwanderung, der mir in diesem Sinne fremd ist, zu Hilfe nehmen zu müssen. Ich glaube, daß kein Gedicht in den Sonetten 47

an Orpheus etwas meint, das nicht völlig darin ausgeschrieben steht, oft allerdings mit seinem verschwiegensten Namen. Alles, was .Anspielung' wäre, widerspricht für meine Uberzeugung dem unbeschreiblichen ,D a - S e i n' des Gedichts. So ist auch im Einhorn keine Christus-Parallele mitgemeint; sondern nur alle Liebe zum Nicht-Erwiesenen, Nicht-Greifbaren, aller Glaube an den Wert und die Wirklichkeit dessen, was unser Gemüt durch die Jahrhunderte sich erschaffen und erhoben hat, mag darin gerühmt sein." 2 7 (Es sei nur gestreift, wie Rilke hier die im Schrifttum über ihn aufgetauchte und verschiedentlich festgehaltene Seelenwanderungshypothese ablehnt.) Kein Gedicht, glaubt er, meint etwas, das nicht völlig darin ausgeschrieben steht; nichts ist Anspielung. Es kann sich also nur darum handeln, das oft mit seinem „verschwiegensten Namen" Ausgeschriebene zu erlauschen. *

So wörtlich, ohne „Anspielung" und nur als „verschwiegener Name", ist auch der Engel, den es nicht gibt, und Orpheus, den es nicht gibt, gemeint — wie das Einhorn. Uber Orpheus und seine Musik sagt Rudolf Kaßner das Entscheidende in seinem zweiten Erinnerungsaufsatz vom 4. Dezember 1935. Von seiner Antithese der „Raumwelt" (des Vaters) und der „Geisteswelt" (des Sohnes) ausgehend, betont er mit höchster Eindringlichkeit, „daß auch Rilkes Musik räumlich war, die Musik seines Orpheus der Sonette: Ordnung heißt das, Ordnung innerhalb des Raumes, Gestalt gewordener Zwischenraum, genau dies. Seine Musik ist gewissermaßen Zwischenraum im Raum und ist da, damit ,der Widerspruch rein' sei." 28 (Man sieht, daß auch die Kaßnersche Raumhypothese, so fruchtbar sie ist, nur einen Versuch darstellt, der Verschwiegenheit des Orpheus-Namens beizukommen.) Lange vor der Entstehung der Sonette an Orpheus hat Rilke — aus Toledo — in einem Brief an die Fürstin Taxis

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bekenntnishaft über seine Stellung zur Musik überhaupt gesprochen, und diese Worte verdeutlichen vielleicht am ehesten, was sich hinter dem Namen „Orpheus" verschweigt. Er hatte damals ein Buch von Fabre d'Olivet gelesen, von dem er der Fürstin erzählt. „Was er von der Musik sagt, ihrer Rolle bei den alten Völkern mag im Recht sein, daß das Stumme in der Musik, wie soll ich sagen — ihre mathematische Rückseite, das durchaus lebensordnende Element zum Beispiel noch im chinesischen Reiche war, wo der für das ganze Kaisertum angenommene Grundton (dem Fa entsprechend) die Großheit eines obersten Gesetzes hatte. Musik war jedenfalls in allen alten Reichen etwas namenlos Verantwortliches und sehr Konservatives; hier ist die Stelle, wo manches zu erfahren wäre, was mit meinem Gefühl Musik gegenüber zu tun hat . . . daß diese wahrhaftige, ja diese einzige Verführung, die die Musik ist (nichts ver-führt doch sonst im Grunde), nur so erlaubt sein darf, daß sie zur Gesetzmäßigkeit verführe, z u m G e s e t z s e l b s t . Denn in ihr allein tritt der unerhörte Fall ein, daß das Gesetz, das doch sonst immer befiehlt, flehentlich wird, offen, unendlich unser bedürftig. Hinter diesem Vorwand von Tönen nähert sich das All, auf der einen Seite sind wir, auf der anderen, durch nichts von uns abgetrennt als durch ein bißchen gerührte Luft, aufgeregt durch uns, zittert die Neigung der Sterne. Darum besticht es mich so, Fabre d'Olivet zu glauben, daß nicht allein das Hörbare in der Musik entscheidend sei, denn es kann etwas angenehm zu hören sein, ohne daß es w a h r sei; mir, dem es überaus wichtig ist, daß in allen Künsten nicht der Anschein entscheidet, ihr ,Wirken' (nicht das sogenannte ,Schöne'), sondern die tiefste innerste Ursache, das vergrabene Sein, das diesen Anschein, der durchaus nicht gleich als Schönheit muß einsehbar werden, hervorruft — mir würde es verständlich sein, daß man in den Mysterien eingeweiht wurde in die R ü c k s e i t e d e r M u s i k , in die selige Zahl, die sich dort teilt und wieder zusammennimmt und aus unendlich Vielfachem 4

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in die Einheit zurückfällt, und daß, wenn man das einmal wußte und verschwieg, das Gefühl, so nahe am Untrübbaren hinzuleben, nicht wieder ganz zu vergessen war (wie immer sich im übrigen das Schicksal verhielt)." 2" Von hier aus erhellt sich und wird durchsichtig alles, was in den Sonetten an Orpheus dunkel oder Bätsei ist: der Baum im Ohr, das Lied überm Land, — und warum es ein für alle Male Orpheus ist, wenn es singt. Orpheus ist heiter und verteilt, ein zum Rühmen Bestellter, denn er verführt — durch seine Musik, die er ist — flehentlich, offen, unendlich unser bedürftig — zum Gesetz, i s t Gesetz — der zu erlebende Sinn menschlichen Seins, Da-Seins. Nur in diesem Raum der Rühmung darf die Klage gehen. Deshalb kamen die Sonette den Elegien zuvor. Die Elegien sind Klage — im Raum der Rühmung. In den frühen Elegien (bis zur vierten, im Krieg geschriebenen) überwiegt noch einseitig die Klage — wie er schon 1912 aus Toledo an das junge Mädchen schrieb. Es ist ihm sicher nicht leicht geworden — und er hat es sich nicht leicht gemacht —, die Gleichgewichte aufzunehmen. Aber schließlich erhebt sich doch der Raum der Rühmung — die Bejahung alles dessen, was ist — um alles, was Klage ist. Die Klage aber geht um das Schicksal: Gegenüber sein und nichts als das und immer gegenüber; in maßloser Weise verdichtet im Engel, dem frühe Geglückten, in dem alles, was uns Schicksal ist — das Unsrige, das für unsere lernenden Herzen zu Große —, Dasein ist, vor dem wir unerhört, unerhörbar stehen, vor dem „hohen Vorwurf, dicht vor dem Herzen erhoben". Der Engel, diese geglückte Furchtbarkeit des Daseins, ist die Zusammenballung alles Vermögens, mit dessen Scherben und Brüchen wir uns von Untergang zu Untergang retten, wenn Schicksal, das uns nicht meint, das uns nicht kennt, über uns hingeht und handelt. Im Menschlichen ist niemals Eines wirklich „rein". Jedes Spiel will ein Widerspiel. So geht die Klage im Raum der Rühmung und hält auf einmal „schräg und ungeübt" „doch 50

ein Sternbild unsrer Stimme in den Himmel, den ihr Hauch nicht trübt": „Hiersein ist herrlich." „Erde, du liebe, ich will." Gleicherweise aber steht die Rühmung im Schatten der Klage — in der Einsicht der letzten Unvollbringbarkeit des „Ganzen" im Menschlichen aus dem ihm eigenen Gesetz: „Nicht sind die Leiden erkannt" und das „Töten", eine „Gestalt unseres wandernden Trauerns" — immer wieder eine Klagehusche, ein Sprühregen der Trauer, herübergeweht in die Rühmung aus dem mächtig aufsteigenden Strahl der Klage — bebendes Gleichgewicht. Das ist Orpheus — der Sinn, der durch alles späte Werk Rilkes geht — wie er aus Toledo von den Mysterien der Musik geschrieben hat —: „daß wenn man das einmal wußte und verschwieg, das Gefühl, so nahe am Untrübbaren hinzuleben, nicht wieder ganz zu vergessen war (wie immer sich im übrigen das Schicksal verhielt)".

WENDUNG

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WALDTEICH

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KLAGE

„Kunstdinge sind ja immer die Ergebnisse des In-GefahrGewesen-Seins" 1 , sagt Rilke in einem frühen Brief. Aus der Zeit des Elegiensturmes ist ein Notizblatt erhalten, auf dem es heißt, daß „Kunst" nur dadurch „hilfreich sein kann, insofern wir (die Künstler) unsere eigenen Nöte leidenschaftlicher durchmachen, dem Uberstehen einen vielleicht manchmal deutlicheren Sinn geben und uns die Mittel entwickeln, das Leiden in uns und seine Überwindung genauer und deutlicher auszusprechen, als es denjenigen möglich ist, die die Kräfte an anderes zu wenden haben." 2 4*

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Es wird gut sein, bei jedem Versuch einer Deutung des Rilkeschen Werks sich dieser Aussagen verpflichtend zu erinnern, vor allem, wenn man den von Rilke geprägten und in Deutungsversuchen sowohl an sich wie auf ihn vielfach und vielfältig ausgedeuteten Begriff des „Umschlags" verdeutlichen will. Das Rilke-Schrifttum scheint sich zum großen Teil auf den Vorschlag geeinigt zu haben, daß für Rilke der Umschlag jeweils nur den Übergang aus einer Zeit dichterischer Unfruchtbarkeit in die künstlerische Produktivität bedeutet. Aus dieser These aber ergibt sich die Folgerung, daß alles Leiden, von dem Rilke spricht, und alle Unzulänglichkeit beschlossen sind in seiner Künstlernot; daß er, wo er „ich" sagt oder „Mensch", lediglich sein dichterisches Sonderschicksal meint, daß er mit den Worten „leben", „leben können" oder „können" schlechthin nichts anderes habe sagen wollen als „Dichtenkönnen" und „künstlerisches Gestalten". Damit wird die Fragestellung, um die es bei Rilke geht, von ihrem Wesentlichen abgedreht, der Sinn aus dem verpflichtenden Ernst menschlichen Seins und Soseins umgebogen ins Private einer einmaligen, mehr oder weniger bewältigten Dichterexistenz und Dichternot. Rilke hat sich aber nie gescheut — im Briefwort ebensowenig wie im Kunstwort — die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, unmittelbar und unmißverstehbar zu sagen, was er meint: Man möge ihn nicht verdächtigen, er habe in Chiflern gesprochen, Mensch gesagt anstatt Dichter, leben anstatt dichten. „Alles, was .Anspielung' wäre, widerspricht für meine Überzeugung dem unbeschreiblichen Dasein des Gedichts." 3 Es ist deshalb auch ein fruchtloses Beginnen, die unbeschreiblich daseienden, so erlebten und ausgesagten Bilder mit der Lehrerfrage: „Was meint der Dichter da?" in handlich-begrifflichen Gleichsetzungen erklären zu wollen. Er meint genau das, was er sagt. Er selbst besteht darauf, wo er Gelegenheit dazu findet, so „wörtlich" genommen zu werden. 52

Sein Gedicht — wenigstens vom Malte an — ist von ungemeiner, oft verletzender Lebensunmittelbarkeit. Nahezu unbearbeitet wird, wie unter organischem Druck, unter seltsamer Ausschaltung des Denkens, des Begreifens, Erleben völlig ungefiltert ins Wort herübergeschleust, ins eruptiv Herausgesagte, daß es bei aller anhaftenden Leuchtkraft, genau wie das Leben selbst, seine Transparenz nur nach und nach, begrifflich nicht faßbar enthüllt. Die Gedichte sind schiere, vom Gedanklichen nicht entweste, Lebensvorgänge. Was sich an Lebenssubstanz schließlich der Wortwerdung ergibt, ist nicht in eine logische oder begriffliche Abfolge zurechtgedacht, sondern ist in den Zustand der Sagbarkeit aufgelebt, daß es sich als „lyrische Summe" darstellt. An diese außerhalb alles Begrifflichen entstandenen Gedichte ist deshalb mit (den für ganz andere und Rilke wesensfremde Denk- und Sagevorgänge geprägten) Begriffen nicht heranzukommen. Hier taucht die sehr eigenartige Frage nach Rilkes Denkvorgängen auf (die meines Wissens noch in keiner RilkeUntersuchung angerührt ist, mit Ausnahme eines kurzen Hinweises von Rudolf Kaßner)4, die ihn auf alogische Weise zu den „lyrischen Summen" 5 gelangen lassen und ihn befähigen, ganze Lebensabläufe lediglich in ihrem Endsinne auszusprechen, doch so, daß sie die Essenz des ganzen Werdegangs enthalten. Daher fehlt seinen Aussagen alles Konstruktive und Zielstrebige; sie sind dadurch dem Versuch entzogen, ihnen rein verstandesmäßig, in logischen Folgerungen nachzugehen. Wie jedes Erleben in seinem lebendigen Geschehen und in seiner Auswirkung vielstrahlig ist, so ist es auch das unmittelbar Herausgesagte, sei es im Gedicht oder im Brief. Deshalb ist ein etwa dunkler Sinn einer solchen Aussage nicht zu klären durch logische Spekulation oder das Gegeneinanderausspielen und -aufrechnen verschiedener an Rilkes Worten abstrahierter Begrifflichkeiten. Man kann die Abkürzungen, als welche sich die Gedichte ergeben, nur auflösen in der Gegenbewegung des Vorgangs, in dem sie entstanden sind. 53

Der Zugang zu einer Deutung Rilkes führt nur vom Leben her. Den Lebensvorgängen, die zu den Gedichtwerdungen führten, muß nachgegangen werden. Es handelt sich um jene seelischen Zustände und Abläufe, von denen, In bezug auf Ibsen, im Malte die Rede ist, die, analog zu organismischen Wandlungen einer Substanz, im seelischen, im wirklichen Erleben und Erleiden solchen Ablaufs, in währender Gefahr explosiver oder sonstiger Vernichtung, die Existenz völlig in Frage stellen, bis dann auf einmal aus den Gegebenheiten und ihrer Wandlung eine Klärung, eine neue Lösung sich herstellt oder sich einstellt. Das ist der „Umschlag". Das Gedicht, ja, die Tatsache des etwas-wie-ein-Gedichtschreiben-könnens gibt Rechenschaft, daß und wie weit der Umschlag wieder einmal geglückt ist. H i e r liegt die Frage nach der Existenz, die nicht in ein paar handlichen Rubriken schematisierbar und etikettierbar ist. Das Leben ist unendlich ausführlich und erspart einem nichts. Darüber darf nicht täuschen, daß es hier einem gelingt, von diesen unendlich langsam und mühsam sich vollziehenden Vorgängen in „lyrischen Summen" auszusagen. — Wie vollziehen sich die Wandlungen in diesem Leben? Was geht an Lebensgefährdendem und alles Infragestellendem jeweils und jedesmal vor? Wo liegen die Kraftquellen, welches ist die Lebenshaltung, die dieses stets und immer wieder am Rand der Vernichtung sich Vollziehende doch immer wieder aushalten lassen? es immer wieder zum Umschlag erleben? Es sei hier betont, daß Rilke nicht, wie häufig unterstellt wird, nach dem Aufschwung von Elegien und Sonetten für die letzten Jahre seines Lebens „zusammengebrochen" ist. Denn: er starb sana mente. Den seelischen Gefährdungen, denen sein Leben so, wie er sich der Wirklichkeit stellte, dauernd ausgesetzt war, ist Rilke nicht erlegen. Die Krankheit, an der er litt und starb, war erkennbar erst etwa sechs Wochen vor seinem Tod; an den Anzeichen ihres Sichbildens 54

hat er bereits vorher gelegentlich stark körperlich und seelisch gelitten. Dem hat er vorbehaltlos Ausdruck gegeben. Daß er aber seelisch zerbrochen sei, weil er sich „zu tief" mit den „Dämonen" eingelassen habe und ihnen „erlegen" sei, widerspricht den allgemein bekannten und jedem zugänglichen Tatsachen. Um die Frage der „Dämonen" in Rilkes Leben angehen zu können, müßte zuvor festgestellt sein, was man denn unter dem mythischen Namen „Dämonen" sich vorstellen will, d. h. f ü r welche Gegebenheiten sie die Bezeichnung sind. Falls aber die Dämonen lediglich bestimmte, mythisch benannte Gegebenheiten des Menschlichen sein sollten (wie zu vermuten ist, da es sich kaum um außermenschliche „Kräfte", „Gewalten" oder „Strömungen" mehr oder weniger okkulter Herkunft handeln dürfte), müßte zuvor begründet werden, wieso ein Sichbergen, ein Sichverstecken vor diesen „Dämonen" eine würdigere, eine menschenwürdigere, eine als Wert mehr zu bejahende Haltung sein soll, als wenn einer sich diesen Gegebenheiten des Menschlichen stellt. Aber auch ohne eine solche vorherige Klärung darf festgehalten — muß festgestellt werden, daß nichts dergleichen Gewalt über Rilke bekommen hat; daß er der Schwere dessen, was er auf sich genommen, weder erlegen noch ausgewichen ist, daß er in keinen Wahn oder Wahnsinn geflüchtet ist. Er ist gestorben bei klarem Bewußtsein, bis in seine letzten Atemzüge voll verantwortlich und keines Trostes bedürftig. Er hat tapfer durchgehalten, bis sein Leibliches zerbrach. Sein letztes Bekenntnis war eine volle Zustimmung zum Leben, trotz der furchtbaren (körperlichen) Leiden seines Sterbens. *

Den Malte hat Rilke 1915 gekennzeichnet: er sei nicht durchgekommen, in diesem Buch sein „ganzes Staunen auszuschreiben darüber, daß die Menschen seit Jahrtausenden mit Leben umgehen und dabei diesen ersten unmittelbarsten, ja 55

genau genommen einzigen Aufgaben so neulinghaft ratlos, so zwischen Schrecken und Ausrede gegenüberstehen." 6 1921 heißt es: „Enthält das Buch bittere Vorwürfe, so sind diese durchaus nicht an das Leben gerichtet. Im Gegenteil, sie sind die Feststellung, daß wir aus Mangel an Kraft, durch Zerstreuung und ererbte Irrtümer fast gänzlich die unzähligen Reichtümer verlieren, die uns zugedacht waren." 7 Im Malte selbst steht die diese Kennzeichnung vorwegnehmende Stelle, die mit den Worten schließt: „Wenn aber dieses alles möglich ist,... dann muß ja, um alles in der Welt, etwas geschehen. Der Nächstbeste, der, welcher diesen beunruhigenden Gedanken gehabt hat, muß anfangen, etwas von dem Versäumten zu tun." 8 Der Malte geht unter bei diesem Versuch. „Daß der arme Malte darein zugrunde geht, ist seine Sache und braucht uns nicht weiter zu bekümmern" 8, heißt es 1912 kurz nach Entstehung der ersten Elegien. Rilke ist bei dem Versuch solchen Anfangens nicht untergegangen. Er hat überstanden bis an sein Lebensende. Wie schwer dieses Anfangen war, wie leicht es mißriet und wieder aufgenommen werden mußte, ist nachzulesen in den Briefen von 1910—1914, deren Ratlosigkeit kurz vor dem Entstehen der zwei ersten Elegien in Duino, im Dezember 1911 einen Höhepunkt erreichte. Allerdings taucht schon damals das sagbare Einsehen auf, daß der Malte für ihn „ein unbeschreiblicher Abschnitt" war, eine „hohe Wasserscheide"; noch undeutlich, noch nicht eigentlich aussprechbar kündigt sich hier schon an, daß und warum es ihm nicht mehr möglich war, so weiterzuleben wie bisher, scheinschützend hinter Ausreden sich zu bergen, im Irrsal ererbter Irrtümer zu verharren. 10 Langsam kristallisiert es sich heraus — wovon er erst später wörtlich spricht —, daß die „Erfahrungen des Malte" ihn lebensmäßig „verpflichten".11 Aber der Weg der longues études, den Rilke nun selbst, oft in vieler Ratlosigkeit, geht, bringt ihm die Erfahrung, daß es nicht genügte, den beun56

ruhigenden Gedanken zu haben und anzufangen, sondern daß mein es eines Tages auch würde können müssen, wenn man nicht selbst daran zugrunde gehen wollte.12 Manchmal scheint sich das Schicksal des Malte gespenstisch an Rilke zu wiederholen. „Nur ein Schritt, und mein tiefes Elend würde Seligkeit sein. Aber ich kann diesen Schritt nicht t u n . . A b h a n d e n gekommen ist ihm aber das gute Gewissen, da zu verharren, wo er ist, sich den bisherigen Gewohnheiten weiter hinzugeben, die die Menschheit so ratlos sein läßt zwischen Ausrede und Schrecken, an ihren ererbten Irrtümern hangend als an ihrem heiligsten Besitz, wie er sie sieht. Am 26. August 1912 heißt es: „Meine Beschäftigung, bald schon mein Beruf ist es: Geduld zu haben." 14 Häufig im Verlauf der Zeit taucht dies Wort auf: Geduld — bis er sie nicht mehr nennt, so geläufig war sie ihm geworden. Unendlich schweres langsames Wachstum geht hier vor. Dieses Anfa igen ist nicht getan mit einem knappen Entschluß, der sich kurz und gut durchführen läßt: dazu haften die Ausreder und Irrtümer auch bei ihm zu fest, diese Gepflogenheiten seit Urzeiten der Menschheit. Alle Willenseingriffe in diesen Geschehensablauf aber erweisen sich als fruchtlos, verwirrend, wegführend. Jeder erzwungene Akt, der nicht notwendig, gewissermaßen ohne sein Zutun, in ihm ersteht, stellt sich heraus als falsch im hergebrachten zerstreuten und zerstreuenden Sinn.15 Alle Klagen, die er so verschwenderisch ausströmt in diesen Jahren, gehen um diese Einsicht. Aber er erspart sich nichts „im anwachsenden Nichtanderskönnen seines Herzens". Wieder klingt ein Maltewort auf, das ihm zur verpflichtenden Entscheidung geworden scheint: „Wird er sich teilen zwischen der zarten Wahrhaftigkeit seines Willens und dem plumpen Betrug, der sie ihm selber verdirbt?" Malte ist an dieser Fragestellung zugrunde gegangen; „denn diesmal hoffte er auf Erhörung". Und wie lange hat auch Rilke auf Erhörung gehofft? Man lese nach in den genannten Briefen. 57

Aber ungeteilt blieb er entschieden für die Wahrhaftigkeit, über deren seltsam zarte Unerbittlichkeit kein Zweifel besteht. Dieses verpflichtende Entschiedensein weit über Wollen und Entschluß hinaus ist alle die Zeit der Grund seines tiefen Beunruhigtseins, ist der Grund seiner Not, ist der Grund seiner Vereinsamung. Als alleiner Mensch begeht er den vermessenen Versuch, entgegen dem wohlwollend geübten und ihm immer wieder aufgenötigten Brauch der ihn umgebenden Welt, ohne Ausrede, ohne ererbten Irrtum, ohne Zerstreuung mit dem Leben umzugehen, unter welcher mythischen, religiösen oder gesellschaftlichen Maske ihre Verlockung ihm auch immer begegnet. Was dieser Versuch in eines Menschen Leben bedeutete, und wohin er führte, ist abzulesen an allem, was Rilke fortan im Werk ausgesagt, im Brief mitgeteilt, im Leben gelebt hat. Leicht gemacht hat er es sich auch schon früher nicht. Die Unerbittlichkeit aber, die den Malte an diesen Einsichten zerbrechen ließ, ließ ihm selber keine Wahl, als selbst zu überstehen. Eine lange und schwer gemachte Erfahrung spricht er 1924 aus, daß „das Beste, uns natürlich Zukommende sich entstellt, schon allein dadurch, daß es in die ungeduldigen Bereiche des Willens einbezogen wird." 16 Rilkes Wesensentwicklung verlief so, daß sich die Wachstumskräfte in ihm ungebrochen erhielten und sich auswirkten, schließlich ganz ohne in die ungeduldigen Bereiche des Willens einbezogen zu werden. Ein Vorahnen davon ist ausgesprochen schon in dem Requiem auf Kalkreuth (1908), daß einer warten soll, „daß die Schwere ganz unerträglich wird, dann schlägt sie um und ist so schwer, weil sie so echt ist". Aber erst im Puppenaufsatz, den er (1913/14) „ahnungslos hinschrieb, unter dem Vorwand einer Puppenerinnerung vom Ureigensten handelnd",17 gibt ihm sich das Wesentliche des „Umschlags" — ahnungslos — in Worte: „ . . . jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht die ganze, sanft 58

weitergehende Natur wie ein Lebloses über Abgründe hinüberhübe." 18 — So oft Rilke auch den „Umschlag" erlebt haben mag und vermochte, das bis zur Unschädlichkeit aufgelebte Verhängnis auszusagen und die Beglückung des Könnens in seinem Dasein erwies (wie es die Briefe spiegeln und manche Erinnerungsblätter erzählen), — was eigentlich dabei vorgeht, hat er, so einfach und einsehbar, nur an dieser einen verschwiegenen Stelle gesagt. Das Wissen darum widerklingt in dem Vers aus dem Jahre 1921: „Weils keiner meistert, bleibt das Leben rein." 10 Anzunehmen ist, daß er selbst — schlechter „Denker", der er war — bewußt davon kaum hätte Rechenschaft geben können. Nach dem unerhört mühsamen Anfang, nach der schweren Verschüttung, die ihm der Weltkrieg bereitet hat, hat er nur noch e i n e gewaltige Sturzflut des Umschlags erlebt, in den Schaffenstagen des Februar 1922. Damit war der endgültige Durchbruch in die nicht mehr beirrbare Lebenszustimmung erreicht. Abgesehen von der Besorgnis um die aufsteigenden Krankheitssymptome und das Gequältsein von ihnen ist das Auf und Ab seines Lebensgefühls fortan nicht größer als Ebbe und Flut eines Binnenmeeres. Man vergleiche mit der jahrelangen Ratlosigkeit in der Erschöpfung nach dem Malte die Haltung nach den Elegien. Er schreibt (1924) darüber an Lou, der gegenüber er die „Klagesaiten" doch stets besonders bereitwillig klingen läßt: „Was Du nach jener ungeheuren Fähigkeit des ersten Winters auf Muzot vorausgesehen hattest, der Rückschlag ist eingetroffen . . . Ich hab aber auch nicht verleugnet, was ich Dir damals schrieb, vor zwei Jahren: daß ich nach der Herrlichkeit dieser Leistung gern ertragen will, was mir etwa möchte an Rückschlag auferlegt werden. Ich halts aus. Und war auch nicht ganz untätig dabei: ein ganzer Band französischer Gedichte i s t . . . entstanden, sonst manches daneben . . . " 20 Im Winter zuvor gelang ihm die Valery-Übersetzung. „Ich habe herrliche Paul-Valery-Gedichte übertragen, Gipfel der

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Herrlichkeit, und nie noch, auch in meinen besten Übersetzungen, ist mir solche Annäherung gegeben gewesen. Das macht natürlich sehr glücklich und die malaises des Körpers und ihr Zwiespalt sind von solchen Siegen dann in den reinsten Bogen überbrückt." 21 Im Jahr 1925 ist Rilke fünf Monate in Paris. Wir wissen von seinem französischen Übersetzer, wie unerschöpflich seine Mitteilung im Zwiegespräch war bei den wochenlang täglichen Arbeitsstunden zur Durchsicht des Malte, wie unermüdlich er den gesellschaftlichen Verpflichtungen genügte, in die er gegen Willen und Neigung in diesem Ausmaß in Paris hineingeraten war. Wir wissen, daß Hofmannsthal „die physische Kraft bewunderte, die er dazu aufbrachte". Frau Kippenberg, der es fernliegt, Rilke ins Heitere zu übertreiben, berichtet von ihren Besuchen auf Muzot: „Der Dichter selbst war ein neuer Mensch . . . ein Feiernder und Befreiter" (1922). „Die Tage kamen aus innerem Uberfluß... es war wie das Spielen an einem Feiertag" (1924). „Die Briefe aus dieser Zeit quellen über von der Lust ein Menschen." 22 Von Klagen weiß Frau Kippenberg nur (1924) über Körperliches zu berichten, sowie über sein schlechtes, mageres Aussehen. Das Jahr 1926 (das Todesjahr) schenkt Kilke an Prosaübersetzungen den Eupalinos und — sechs Wochen vor seinem Tod — kurz vor der Übersiedlung ins Sanatorium „in fähigeren Stunden diktiert" „Tante Berthe".23 Uber die NarzißFragmente des Valéry schreibt er am 21. Juni 1926 (sechs Monate vor seinem Tod): „C'est beau, c'est magnifique et ma traduction me contente á souhait. De la faire était une félicité entre toutes félicités!" 24 Im Sommer reist er nach Ragaz, wo ihm heitere Laune attestiert wird, im September nach Lausanne, nach Ouchy, in lebhaftem Austausch mit Freunden. Valéry berichtet von der damaligen Begegnung: „Niemals hatte ich ihn bei anscheinend so gutem Befinden gesehen, so fröhlich, so befriedigt von seiner Arbeit... Ich sprach, und er nahm teil an meinen Worten... wie ein Dichter teilnimmt an

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sich selbst, wie jemand, der innen steht und selbst ringsum umdrängt ist von den Einfällen, Verführungen, Hemmungen, Erleuchtungen, Willensregungen, Entschließungen und Verzichten, von all dem, was das wahre innere Leben eines Gedichts ausmacht." 26 Am 6. August, während des Aufenthalts in Ragaz, schreibt er Freunden „Die Weide von Salenegg" in ihr Gästebuch; „wie eine große freudige Bejahung steht dieses Gedicht . . . am Ende seiner irdischen Laufbahn. Er hatte die Hoffnung auf ein harmonisches künstlerisch fruchtbares Alter nicht verloren." 26 Aber das war noch nicht das letzte seiner großen Gedichte. In einem begnadeten Wurf schenkt sich ihm am 10. August die Herrlichkeit „Nicht Geist, nicht Inbrunst", darin in Versen, die zu den köstlichsten gehören, die er geschrieben hat, in erlebnissatten Bildern voll vielstrahligen Sinnes ein gewaltiges Bekenntnis zustimmender Hingegebenheit zu allem Leben und zu seinem eigenen Leben strömt. In „Engel und Orpheus" habe ich versucht, die Lebensströme und -Stauungen anzudeuten, die zu dem gewaltigen Durchbruch im Muzotwinter 1922 geführt haben. Dieses Werkgelingen ist der sichtbarste und entscheidendste „Umschlag" in Rilkes Leben, der sich von längster Hand vorbereitet hatte durch all sein Leben bis dahin, der endlich geglückte Abschluß der schweren Krise, deren Lösungsstufen sich rhythmisch in Schaffenszeiten und heiterer Lebensbejahung anzeigen, die in Rückschlägen, oft schweren Notzeiten, wieder zu verebben drohen. Die große Zahl der sogenannten „späten Gedichte" und die in reicher Paraphrasierung vom Leben dieser Zeit berichtenden Briefe zeigen, daß die schwere Verschüttung durch den Krieg diesen Fortgang nicht unterbrochen, sondern nur verzögert hat. Wie manche Einsichten in ergreifendem Auf und Ab schon kurz vor dem Krieg bis zur Sagbarkeit erlebt waren, ist an der plötzlichen und synchronen Entstehung von „Wendung" 61

und „ W a l d t e i c h . . s o w i e der unmittelbar anschließenden „Klage" abzulesen.27 Das Geschehen ist nicht von Ausmaß und Wucht des Elegiensturms, ist aber eben deswegen übersehbarer in Herkunft und Hinkunft. Als Frage von Rilkes Lebensmitte reicht sie tief hinab in seine jungen Jahre und eine glückliche Fügung hat eine Fülle von Gegebenheiten aufbewahrt, daß an dem heute bereits Veröffentlichten das Werden des Vorgangs zu verfolgen ist. In keiner Lebensphase allerdings sind ein einziges Kraftfeld und die ihm entstammenden Strömungen und Stauungen für das Erleben allein bestimmend. Wie vielschichtig und einander überschneidend die Lebensantriebe und -hemmungen bei Rilke waren, ist zeitweise in geräumiger Vollzähligkeit in den Verlegerbriefen andeutend wie auseinandergefaltet; häufig nachdenklich oder erheiternd ist es mitzuerleben, wie Briefe von gleichen oder nahe benachbarten Tagen, die einen nur ganz Klage sind, die anderen voll heiterer Gelassenheit und manche von leiser Selbstverspottung klingen, oft wenn sie alle vom gleichen Erleben oder Erdulden berichten. Das Leben ist nicht nur ausführlich und erspart einem nichts in seiner grausamen Genauigkeit; es ist auch voller Gnade und hilfreich in den regenerativen Kräften, die in beglückender Mächtigkeit einsetzen können, wo einer sie gewähren läßt. Rilke war darin kein Ausnahmemensch und unterstand den allgültigen Lebensgesetzen; nur daß es ihm beschieden war, die Schmerzen und Erschütterungen wie auch die Freuden und Heilungen leidenschaftlicher durchzumachen und deutlicher auszusprechen, als es denjenigen möglich ist, die die Kräfte an anderes zu wenden haben. Wer ist denn gewillt und fähig in Alltag und Beruf, in der überstürzten Einteilung von Zeit und Kraft, das Wachstümliche des Lebens seiner selbst auch nur wahrzunehmen und es, sich Rechenschaft gebend, in sich einzuordnen. So entzieht sich fast immer die Einsicht in die Vielverwurzeltheit eines

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einzigen Erlebens, und „Wille" und „Entschluß" wird genannt, was oft nur der mißratene Kompromiß zahlloser unübersehbarer Reaktionen ist, die in gewalttätigem, scheinfreiwilligem Tun jedem eigenen Willen entzogen sind. Die Wahrhaftigkeit aber, mit der Rilke sein Erleben den ungeduldigen Regionen des Willens immer weniger einbezieht, gewährt ihm im leidenschaftlichen Durchmachen der Herkunft aller Lebensströme — deren Zusammenmünden erst das Leben ergibt — tief einsehenden Zugang zum Erlebnisgrund. *

Uber „Wendung" schreibt Rilke an Lou am 20. Juni 1914: „ . . . da ist ein wunderliches Gedicht, heute morgen geschrieben, das ich Dir gleich schicke, weil ichs unwillkürlich „Wendung" nannte, weils die Wendung darstellt, die wohl auch kommen muß, wenn ich leben soll und Du wirst sie verstehen, wie sie gemeint ist." 28 Das andere Gesicht, „Waldteich..." schickt Rilke am 24. Juni an Frau von Nostiz: „Vor ein paar Tagen schrieb ich ein Gedicht, dieses, das ich Ihnen schicke, weils von einem gewissen kleinen Waldteich im linken Strandwald seinen Ausgang nahm; plötzlich wurde mir dieses Stück Heiligendamm ganz überaus fühlbar..." 26 Der Notizzettel im Rilke-Archiv mit dem Beginn: „Denn dieses ist mein Wesen zur Welt..." 3 0 macht die Kombination, die Wendung sei aus Waldteich entstanden, gewissermaßen aus dessen Schlußversen kontrapunktisch erwachsen, bestechend. Indes — die Worte des Notizzettels sagen das (überholte) Gegenteil aus von den Waldteich-Versen: „O ich habe zu der Welt kein Wesen" (das folgende „wenn" ist irreal). Sind nicht außerdem die ersten zweiundzwanzig Verse von „Wendung" in Haltung und Sprachmelodie, als handle es sich wirklich darum, daß sich die „angeschauten Dinge" „freuen"? Ist das „Erschrecken" der Türme nicht Freude, in Einem plötzlich wiedererbaut zu sein? Ist nicht das Gerührtsein der Frauen 63

die endliche Begnadung des unentwegt Schauenden? Ist es nicht möglich (wahrscheinlich?), daß die Lebensflutung, die Rilke diese Verse schenkte, ihn im Steigen des Lebensgefühls (nach der vorhergehenden tiefen Verzweiflung) zu einer Uberbietung trieb in einem „geflügelten Entzücken", das ihn weit abhob vom Wirklichen, hinein in einen „Jubel", der ihn von Strophe zu Strophe trug — ahnungslos — "bis in die Fragen („Schauend wie lang? wie lang schon innig entbehrend?"), die ihn erst zur Besinnung und zur Einsicht führten, daß mit dem Schauen und mit den Frauen ja gar nichts getan ist. („Und verwehrte ihm weitere Weihen.") Ist nicht der Wartende im fremden Gasthofzimmer ein leise widerstrebendes Erinnern? Das „Herzwerk", das er nun tun soll, statt „Werk des Gesichts", der „innere Mann" und das „innere Mädchen", ja selbst die „Liebe", die er „nicht habe" — sind nicht alle diese Wortbilder von euphemistischer Ungefährheit? Ausdruck eines dialektischen Darüberhinspielenwollens, um einer ersten heraufdämmernden Einsicht vielleicht doch noch ausweichen zu können? Sind nicht die (offenbar doch später) mit Tinte auf den Notizzettel geschriebenen Worte vom „liebevollen Bemühtsein um innere Fülle" von einer schäbigen Billigkeit, wie sie jedes Erbauungsbuch zierte? Ist nicht all das Versuch, dem Unausweichlichen noch in die unverpflichtenden Allgemeinheiten, Redensarten und Unklarheiten, in die „Ausreden" und „ererbten Irrtümer" ausweichen zu können? — Stimmt dazu nicht auch das eilfertige Schicken des Gedichts an Lou, der er zuvor, wie schon so oft, seine vorhergegangene Verzweiflung gebeichtet hatte, und die raschestens erfahren sollte, wie gut nun alles durch diese „Wendung" werden würde oder schon geworden war? Gelegentlich wurde die Wendung „maßlos überschätzt" genannt; aber geht es hier nicht um anderes? Ist es nicht selbstverständlich, daß die „Wendung" sich Freunde macht, da Rilke hier so — erbittlich ist? Da er hier den guten Willen fast schon für die Tat nimmt? Hier berät „es" in der Luft, verwehrt Weihen und richtet. Und was ist 64

das Urteil dieses Richtens? Tue nun Herzwerk, weil die geschautere Welt in der Liebe gedeihen will; der innere Mann sehe sein inneres Mädchen, dieses nie noch geliebte Geschöpf. Wenn er das alles aber schon so genau weiß, dann ist ja auch alles schon so gut wie gut. Ist nicht in alledem — nicht im Wortklang, aber in den Gehalten — die Wendung von der ungefähren Gefühlsseligkeit, die stark an das Stundenbuch erinnert? Die Worte vom „liebevollen Bemühtsein" mag er im Anschluß an die Abschrift und an den Begleitbrief an Lou rasch notiert haben, in jener nicht ganz glaubhaften Beschwingtheit des Briefes, der auch in rasch einverständigten Worten eine Bemerkung von Lou zum Puppenaufsatz auffängt und zurückgibt. All das ist von seltsamem Unernst euphorischen Beglücktseins, wie es das Ausweichen vor einer Einsicht, die einen überstürzen will, solange es glückt, leicht hervorruft. Der „Waldteich", der alle Momente der „Wendung" aufnimmt, geht im Ernst der Haltung, in der Aufrichtigkeit und im Umfang des Erlebensgehaltes weit darüber hinaus. Er ist nicht überschwänglich; er ist gehalten. Hier wird nicht von „Liebe" schlechthin geredet, sondern hier weiß er, was der Gewalttätigkeit seines Anschauens anhaftet, was diese „Liebe" so ungedeihlich macht. Hier wird nicht von einem anonymen „es" befunden, ob weitere „Weihen" zu erteilen sind; hier wird schlicht bekannt: „Ich habe das Errungene gekränkt, weil ich nichts bedacht habe, als wie ich mirs finge und habe das also Gefangene eingeschränkt." Der Fluchtversuch: „Denn dieses ist mein Wesen zur W e l t . . . " — ist mißglückt; gar nicht mehr renommistisch sieht er ein: „Ich habe zu der Welt kein Wesen." Vor dieser Objektivation des Seins und Wesens im Ausgesagten vollzieht sich eine steile Kurve in die Verzweiflung. Anfang Juli schreibt er die „Klage" nieder. Dieses Gedicht ist die ganz unerbittliche Rechenschaft über das, was er in

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„Wendung" so hoflnungsfröhlich zu bezwingen glaubte, und dem er erst in „Waldteich" wieder sich stellt. — „Klage" ist die hoffnungsloseste Wortprägung Rilkes überhaupt, ein Schrei, der nicht mehr Atem hat und sich in mühsamem Gestammel Luit macht. Er weicht nicht aus, er stellt sich; aber er kann nicht. Der Weg seines Herzens behält die Richtung zur Zukunft, die er verloren weiß; damit bricht aber sein „Jubelbaum", der schönste in seiner unsichtbaren Landschaft. Nur durch ihn — den er gebrochen w e i ß (und zu dem er die Richtung nicht aufgeben k a n n ) — glaubte er sich „Engeln" kenntlicher. „Klage" ist der Ausdruck des völligen, völlig unbeschönigten Zusammenbruchs; die Krise in ihrem höchsten, lebensgefährlichen Zustand. Dieser Zustand ist mit einer phänomenologischen Genauigkeit gesehen und ausgesagt. Der Wortwerdung des Eingesehenen gegenüber bleibt — außer dem Untergang — nur die Gesundung. Drei Wochen später bricht der Weltkrieg aus.81 *

Welches Erleben schafft sich hier in einem bestimmten Reifezustand — der Sagbarkeit der nicht mehr ausweichlichen Entscheidung — diesen Ausdruck. Dem Gedicht „Wendung", wie er es sofort nach der Niederschrift an Lou schickt, sind als Motto die Kaßner-Worte vorangestellt (die in der späteren Abschrift für Kippenberg fehlen! 32 ), wie er sie im Frühjahr 1911 in Ägypten, aus dem Gedächtnis, in sein Taschenbuch notiert hatte. Die Begleitworte an Lou haben fast den gleichen Wortlaut wie ein drei Jahre zuvor (16. Juni 1911) an Kaßner gerichteter Brief. „Was mich angeht, so hab ich noch immer nicht die Wende geleistet, die mein Leben machen muß, um aufs neue ergiebig oder gar gut zu sein. Einmal, in Kairo, schrieb ich mir aus Ihren Sprüchen in mein Taschenbuch: ,Der Weg von der Innigkeit

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zur Größe gebt durch das Opfer'... das wird es wohl sein, aber wie?" 33 Das Opfer aber war: der „Jubelbaum" und der „Engel". *

Die Lebenswelle, die diese drei entscheidenden Gedichte herausschaffte, kündigt sich an — genau wie bei Entstehung der ersten Elegien in Duino — durch ein hemmungsloses Aufklagen in einem Brief an Lou. Am 28. Dezember 1911 heißt es: es steht schlecht mit mir, wenn ich auf Menschen warte, Menschen brauche, mich nach Menschen umsehe... Es ist also ein schlechtes Zeichen, daß ich seit dem Malte oft auf irgend jemand gehofft habe." 34 (Am 23. Januar erhielt die Fürstin Taxis die Reinschrift der zwei ersten Elegien.) Diesmal heißt es am 8. Juni 1914 (am 20. Juni ist die „Wendung" entstanden): „Wenn ich manchmal in den letzten Jahren mich dahin ausreden durfte, daß gewisse Versuche, im Leben" selbst menschlicher und natürlicher Fuß zu fassen, deshalb fehlgeschlagen wären, weil die Menschen, um die es sich dabei handelte, midi nicht verstanden, mir eins über das andere Gewalt, Unrecht und Schaden angetan und mich so fassungslos gemacht hätten —, so bleib ich nun nach diesen Monaten Leidens ganz anders gerichtet zurück: einsehen müssend diesmal, daß keiner helfen k a n n . . . Was schließlich so völlig zu meinem Elend ausfiel, fing mit vielen, vielen Briefen an, leichten, schönen, die mir stürzend vom Herzen gingen." 35 Man kann die frohe Beschwingtheit, von der in diesem Brief mit bei ihm seltener Präzision und Vorbehaltlosigkeit an Lou berichtet wird, in bewegten Briefen durch Monate zurück verspüren. In ihnen taucht in heiterer Abwandlung auch da und dort der Wunschtraum vom „schwesterlichen Menschen", der nichtkommenden Geliebten auf. Auch wo er klagt, bleibt er voll hoffenden Vertrauens und in einer ihm 5*

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eigentümlichen Weise „vergnügt". So schreibt er am 27. Dezember 1913 (ein halbes Jahr vor „Wendung") an die Fürstin: „ . . . ich bin in der Puppe, es weht Altweibersommer in meiner Stube... Warten Sie, bitte, bitte, auf den nächsten Schmetterling, Sie haben im Herbst in Berlin gesehen, wie trist und abscheulich die Raupe war, ein Greuel. Kommt kein Schmetterling heraus am Ende — auch gut, so bleibe ich in dieser Filzerei Stedten und träume so still für mich von dem grandiosen Trauermantel, der zu werden ich einstens etwas Aussicht hatte. Flieg ich nicht aus, so fliegt ein anderer, der liebe Gott will nur, daß geflogen wird; wers besorgt, dafür hat er nur ein ganz vorübergehendes Interesse." 36 (1910 schrieb er an Kaßner: „Wenn nur das äußerst Notwendige geschieht, wer es tut, darauf kommt es nicht an." 37 Die Beschwingtheit, die bis ins Frühjahr trägt, schlägt jäh um; am 18. Mai heißt es (nach einer Reise über Duino, Venedig nach Assisi): „ . . . jedes Atom in mir war aus einer schweren, stumpfen Stummheit gemacht... II faut que je me remets, que je me retrouve, ce sera long..." 3 8 Zurück in Paris am 28. Mai noch ein Versuch von Haltung: „Ich mache einen großen Strich unter die unruhigen, unvermuteten letzten Monate, die hätten unbeschreiblich viel Gutes bringen können — unter Umständen —, nun wird, daß sies nicht gebracht haben, ehrlich zu verstehen und zu verwerten sein, und am Ende kommt daraus noch reinerer Nutzen, als aus allem töricht Erhofften hätte ausgehen dürfen." 39 Der Brief an Lou, in dem er sich nicht mehr wehrt, ist zehn Tage später; abermals zwölf Tage später entsteht „Wendung". *

Ein halbes Jahr früher steht in einem Brief: „Ich erschrecke, wenn ich denke, wie ich aus mir hinauslebte, wie immer am Fernrohr stehend, jeder Kommenden eine Seligkeit zuschreibend, die sicher bei keiner zu finden war: meine Seligkeit, 68

die Seligkeit, einst, meiner einsamsten Stunden. Ich muß so viel an das Gedicht aus den Neuen Gedichten denken, das, ich glaube, ,Der Fremde' heißt — wie wüßt ich, worauf es ankommt: ,Alles dieses immer unbegehrend hinzulassen' — und ich, der ich nur noch begehrte. — Wieder anfangen." *n Das sich so glücklich anlassende Erlebnis war nur ein Ritardando in dem Ablauf, ein letzter Versuch, vielleicht doch noch sich ersparen zu können, was als unausweichlich und notwendig längst eingesehen war. Erst in der Zeit nach dem Malte, in der Unstete, die über ihn hereinbrach, ziehen sich alle Fragen des Menschlichen, des Künstlerischen, ja des Weltischen, peinlich zusammen um Fragen der „Liebe" im hergebrachtesten Sinn. In schmerzhafter Weise wird sein Heimlichstes zu einem fast öffentlich um ihn schwälenden Geheimnis. Wie weit er sich selbst dabei in Confidencen fallen läßt, erzählt die Fürstin gelegentlich der Begegnung im Herbst 1913 in Berlin: „ . . . dabei sprach er viel und aufgeregt und äußerst nervös; er sagte, er habe endlich eingesehen, daß er sich sein ganzes Leben hindurch getäuscht habe. Immer habe er den Gefühlen, den Wünschen, dem Willen der anderen nachgegeben, jetzt wolle er endlich auch selbst fühlen, begehren und lieben. Bisher sei in ihm ein seltsames Gefühl des Mitleidens gewesen, das ihn f ü r alle Bitten, alle Hilferufe empfänglich gemacht habe — leidenschaftlich habe er sich an der Glut anderer begeistert und dann geglaubt, sie zu empfinden. Er habe gemeint, selbst ebensoviel empfinden zu müssen, als ihm geschenkt worden sei — um nur zu bald zu entdecken, daß er sich Illusionen hingegeben habe, die zu einem Nichts zusammenschmolzen." Man ahnt noch hinter diesen ins Handlichhergebrachte umstilisierten Worten, was da Ausdruck suchte an Quälendem, das er selbst nicht verstand, das keiner der Freunde ihm deuten zu helfen auch nur versuchte, vor denen er sich entblößte. In der besorgten Betriebsamkeit ihrer freundschaftlichen Mütterlichkeit sprach die Fürstin mit Kaßner, dessen

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Antwort sie wiedergibt: „Was wollen Sie, alle diese Frauen beginnen ihn zu langweilen." " „Sie legten sein Ungestüm nach ihrer Weise aus." " *

Ein dicker Band ließe sich füllen mit all den Worten, die auf dem Weg der früheren Jahre die Vorbereitung von „Wendung" — der Wende des Juni 1914 — andeuten. Die Frage drängt sich auf, ob nicht — auf diesem Weg — der Malte der geniale Versuch war, selbst dem Opfer auszuweichen. Die namenlose Enttäuschung, das völlige Aufgebrauchtsein nach Beendigung des Malte fließt aus dem Fassungslos-Davorstehen, daß es gar nichts hilft, um diese Dinge zu „wissen" und sie noch so hinreißend zu sagen, wenn man selbst nicht fähig ist, wirklich zu leisten, was not tut. Der Malte ging so ungeheuer über seine Kraft, weil er an dem Postulat zugrunde geht, dem Rilke selbst sich, wirklich, noch gar nicht gestellt hat, und weil er diese Tatsache und diese Notwendigkeit in gleicher Weise einsieht. Als die gewaltige, beglückende Zusammenfassung der Werkgestaltung (mit dem Abschluß des Buches) vorüber ist, und er- vom künstlerischen Umgang mit diesen Dingen — der ihn jahrelang absorbiert hat — zurückkehrt zum Wirklichen, zum Umgang mit der Welt und den Menschen, versagt er genau wie Malte — er kann „den Schritt nicht tun". *

Das, worein Malte zugrunde geht, woran Rilke bis zur Selbstaufhebung leidet, ist die Unfähigkeit zur gemäßen Haltung der Umwelt an Menschen und Dingen gegenüber. Den ersten entscheidenden Ausdruck und Lösungsversuch findet das im Requiem auf eine Freundin. (31. Oktober/1. November 1908.) Zum Ich-Du-Bezug heißt es hier: „Denn dieses Leiden

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dauert schon zu lang und keiner kanns; es ist zu schwer für uns, das wirre Leiden von der falschen Liebe, die, bauend auf Verjährung wie Gewohnheit, ein Recht sich nennt und wudiert aus dem Unrecht... Denn das ist Schuld, wenn irgend eines Schuld ist: die Freiheit eines Lieben nicht vermehren um alle Freiheit, die man in sich aufbringt. Wir haben, wo wir lieben, ja nur dies: einander lassen, denn daß wir uns halten, das fällt uns leicht und ist nicht erst zu lernen." 43 Es ist viel gerätselt worden um das „einander lassen" und um „das wirre Leiden von der falschen Liebe". Was zum äußeren Anlaß der Stelle gehört, ist nachzulesen in den Briefen, die Carl Hauptmann an den Ehemann der Freundin schrieb, der das Requiem gilt, in denen er in Wohlmeinender Engherzigkeit dem Ehemann gute Ratschläge gibt." Aber muß man so weit ab in fremden Leben suchen? In zeitlicher Nähe des Requiemes und in e i n e m rhythmischen Lebensablauf mit ihm heißt es (4. September 1908) in einem Brief: „Urteils nicht ab. Bitte, laß mich gelten und hab Vertrauen. Verlang nichts anderes von mir, auch nicht im Geiste. Ich fühl es sonst, und es legt sich auf eine Stelle meines Herzens, die arglos sein soll... Erschrick nicht — aber ich bin so übertrieben empfindsam, und wenn ein Auge auf mir ruht, so lähmts mich schon an einer Stelle. Ich möchte immer nur wieder die Gestirne auf mir verweilen wissen, die aus ihrer Weite alles auf einmal sehen, im ganzen, und so keines binden, vielmehr alles freilassen in allem.'" 5 1906 steht in einem Brief: „O alle diese lautlosen Verwandlungen des Lebens... wie die leisen Dinge einfach fortgehen, wenn wir sie mit irgendeinem Anspruch kränken; wie sie gar keine Anhänglichkeit haben, so ganz unsentimental sind — einfach weggehen, fortfliegen, nicht mehr gesehen werden." *" Ein Jahr später heißt es — vom künstlerischen Schaffen — (über die Cezanne-Bilder): „Man merkt auch, von Mal zu Mal besser, wie notwendig es war, auch noch über die Liebe hinauszukommen; es ist ja natürlich, daß man jedes dieser Dinge 71

liebt, wenn man es macht; zeigt man das aber, so macht man es weniger gut; man b e u r t e i l t es, statt es zu s a g e n . . . Man malte: ich liebe dieses hier; statt zu malen: hier ist es. Wobei denn jeder selbst gut zusehen muß, ob ich es geliebt habe." 47 Im Requiem heißen die dieses Bereich berührenden Worte: „So ohne Neugier war zuletzt dein Schaun, und so besitzlos, von so wahrer Armut, daß e s . . . nicht mehr begehrte: heilig." Was zuvor „Liebe" und „beurteilen" hieß, ist nun wesentlich benannt: „begehren", das andrängende Sichaneignenwollen. *

Viel Eigenerlebtes gewinnt im Requiem am Schicksal der Freundin Worte, am Anschauen und Gestalten des Künstlers wie auch am Menschlichen. Ist das eindringliche Eifern, mit dem er dem Mann die ganze Schuld am wirren Leiden von der falschen Liebe zuschieben möchte, nicht unterströmt von der Beklagung Selbsterlebten? Und später, wenn er sich so sehr für die „großen Liebenden" ergeht, in seinen Seligpreisungen, daß sie einen Geliebten durchlieben, wie man einen Handschuh durchträgt, 48 — ist dabei nicht ein Klang des Pharisäischen in den Untertönen vernehmbar, des auf der Seite der „Gerechten" Stehenden (ein Wort, das Rilke damals vorübergehend besonders liebt und in den unwahrscheinlichsten Verbindungen gebraucht: „gerecht"). Von der grandiosen Mißdeutung der Bettina und dem Mißverständnis über die Möglichkeit eines wirklichen Bezugs von und zu ihr ausgehend, schreibt er 1908: „Wie hätte man sich geliebt, face en face. Ich hätte wohl ihre Briefe beantworten mögen; das wäre eine Himmelfahrt geworden, ohne Scham, vor aller Augen." 49 Alles das klingt zusammen, wenn er sich später so erbarmungslos „am Fernrohr stehen" sieht, „jeder Kommenden eine Seligkeit zuschreibend". Es war ja nicht nur seine „Einsamkeit", die er — damals — „wie einen verschleppten Knochen 72

mit lautem Hallo von Gebüsch zu Gebüsch trägt" 50, wie er im Januar 1912 sagt; es war all sein Nichtkönnen des Wirklichen, an dem er litt und von dem er nicht schweigen konnte. Es war ihm nichts erspart und er hat sich nichts erspart und nichts beschönigt, so gewaltig es ihn auch immer wieder drängte, auszubrechen von dem Weg, f ü r den er — weit über sein Wollen hinaus — entschieden war. Was anderes als ein Ausbruchsversuch war es, wenn er im Juli 1912 in sein Taschenbuch schreibt (und alsbald der Fürstin mitteilt): „Ach, da wir Hilfe von Menschen erharrten, stiegen Engel lautlos, mit einem Schritt hinüber, über das liegende Herz." 51 Dieses Wort hat ihn auf der spanischen Reise begleitet, so daß er es wenige Tage nach seiner Rückkehr nach Paris einem Freund gegenüber im Brief variiert. Und doch hatte er in Spanien erfahren, daß er „sich nicht rein geschält" hatte — „wie geht es zu, daß ich alles verderbe —." 52 Ist es nicht der ebenso hilflose Versuch eines Überbaues, der nicht trägt, wenn er behauptet, er könne „nicht anders, als im Menschlichen immer gleich bis ans Heilige hindenken (in dem erst mir alles begreiflich und notwendig wird)"? 53 Und was bedeutet es, wenn er drei Tage vor dieser Äußerung an Lou schreibt: „Ich sage mir oft, daß ich nur durch Dich mit dem Menschlichen zusammenhänge, in Dir ist es mir zugekehrt, ahnt mich, atmet mich an; überall sonst komm ich doch hinter seinem Rücken heraus und k a n n m i c h i h m nicht kenntlich machen"54 So ergeht es ihm im Menschlichen und in Gleichschwingung mit dem Künstlerischen, mit dem „Schauen". „Jetzt scheint mirs zuweilen, als ob ich den Eindrücken gegenüber zuviel Gewalt anwendete (was ich ja praktisch bei so vielen Gelegenheiten tue), ich bleib zu lang davor, ich drück sie mir ins Gesicht, und sie sind doch schon Eindrücke von Natur, nicht wahr, selbst wenn man sie nur ganz leise eine Weile liegen läßt, au lieu de me pénétrer les impressions me percent." 55 Wie ist das fern von jenem „Schauen ohne Neu73

gier", „das nichts begehrt", von dem er vor Jahren schon „wußte". Trotzdem — Rückfall auf Rückfall. Trotz allem, mit immer neuer Bereitschaft und voller Aufrichtigkeit: „Anfangen". „Wieder anfangen." — Und jedesmal, nach einer Weile, geschieht ihm, was er acht Tage vor „Wendung" bekennt drei (nicht gekonnte) Monate Wirklichkeit haben etwas wie ein starkes kaltes Glas darüber gelegt, unter dem es unbesitzbar wird, wie in einer Museumsvitrine. Das Glas spiegelt und ich sehe darin nichts als mein Gesicht, das alte, frühere, vorvorige..." 6 6 Die Hilfe der Menschen versagt sich. Und der Engel, der lautlos hinüberstieg über das liegende Herz? — Nicht gekonnte Wirklichkeit — dagegen aber: Anspruch auf „Jubel", auf „Seligkeit", auf „Weihen". Das ist die Einsicht, die sich stufig durchsetzt in den drei Gedichten: Wendung, Waldteich, Klage. So „unwillkürlich" er das Gedicht „Wendung" genannt hat, so „ahnungslos" mag er den Spruch vom „Opfer" als Motto darüber geschrieben haben. Vollzogen jedoch ist das Opfer erst, als er zur „Klage" reif war. In diesem Sturm — und die Wende, deren Ansatzpunkt „Wendung" war, war ein Sturm — bricht ihm sein Jubelbaum. Es ist nichts mit dem „Jubel". Es geht um ganz andere Dinge. Damit aber ist er auch den „Engeln" nicht mehr kenntlich. „Klage" ist der endliche und endgültige Verzicht auf allen Apparat, mit dem er sich das „Nichtkönnen" der Wirklichkeit verziert und erträglich zu machen gesucht hat. So tiefe Einsichten ihm auch früher schon gelungen waren von den Vorgängen hinter den Vorwänden menschlichen Tuns und Seins — erst in der Klage ist er selbst am Grund der Seele und allem Vorwändigen im Seinigen entkommen. Es ist kein Entschluß, kein Wollen; es ist ein Geschehen: „bricht mir mein Jubelbaum". Die Tatsache hat sich bei ihm durchgesetzt, daß der Jubel und der Engel, so wie er sie bisher gehandhabt, das dem Menschen im Wirklichen Nichtvorhaltene ist, 74

daß das Menschliche sich weder ins Heilige noch ins E n g e l i s c h e übertreiben und umstilisieren, sondern sich nur im Wirklichen können läßt. Im Juni 1906 heißt es in einem Brief: „Aber wie gut ist das Leben. Wie gerecht, wie unbestechlich, wie nicht zu betrügen: auch durch Kraft nicht, auch durch Willen nicht, nicht einmal durch Mut. Wie bleibt alles, was es ist, und hat nur diese Wahl: sich zu erfüllen oder sich zu ü b e r t r e i b e n . . 5 7 Acht Jahre fast auf den Tag hat es gewährt, bis das damals Eingesehene bei ihm selbst zur Wirklichkeit geworden ist. So ist die „Wendung" in dem Sturm, von dem sie ausgelöst wurde und den sie heraufführte, wirklich zur Wende geworden. Die nackte Grausamkeit der „Klage" hat in der Gewachsenheit dessen, was sie, nach dem Wegfegen aller Glücks- und Hoffnungsattrappen aus dem Arsenal der „Ausreden" und „ererbten Irrtümer" hinterläßt, etwas erschütternd Befreiendes. Was am Seelengrund nach diesem Wendungssturm nun allein noch da ist, ist aufgebrochene, reingejätete Scholle, zu jeder Fruchtbarkeit fähig. *

Es wird sich kaum vermeiden lassen, bei solchen Untersuchungen sich der für Wortwerdungs- und Ausdrucksvorgänge gebräuchlichen Bezeichnungen zu bedienen; doch wird man sich immer gegenwärtig halten müssen, daß es sich bei allem zu Rilkes Werk Gesagtem und Sagbarem nicht handelt um die Feststellung eines vom Dichter willentlich herbeigeführten Wesens- und Erlebenswandels, den er nach Möglichkeit, Rechenschaft gebend, dichterisch, d. h. in „gehobener" Sprache ausdrückt. Rilkes Wortwerdungen sind nicht Ausdrücke seines Wesens, die er prägt, sondern sie sind Wesensumsatz. Er setzt sich wesensmäßig um in seine Prägung, „wie sich der Steinmetz einer Kathedrale verbissen umsetzt in des Steines Gleichmut." r,s Dieser Tatbestand gibt dem Rilkeschen 75

Werk bis in die abgesprengtesten Äußerungen — als Umsatz des Lebendigen in Form — das eminent Unliterarische, wodurch es der Auffassung die eigene Gesetzlichkeit vorschreibt. Ästhetischer, religiös-ethischer und literarphilosophischer Betrachtung bleibt es deshalb wesenhaft unzugänglich. Nur von der Dynamik wirklich w e s e n d e n Lebens her sind die offenbaren Geheimnisse des Rilkeschen Werks — als Wesensumsatz in der Wortprägung — zu erfassen. * Bei dem, was vom August 1914 bis zur Reise in die Schweiz im Juni 1919 mit Rilke geschieht, wird vorsichtig auseinanderzuhalten sein, welches die Verschüttungen sind, die das ihm unerklärlich bleibende Ereignis, die unfaßbare Möglichkeit der Tatsache: Krieg, angerichtet hat, und wo und wie weit darunter jenes Leben währt, das die Kontinuität seines eigenen Seins trägt und verbürgt, an die zu glauben Rilke nie wirklich aufgehört hat. — Das „Anheilen der bösen Bruchstellen", von dem nach dem Krieg eine Zeitlang oft die Rede ist, ist ein Vorgang des allmählich ins Bewußtseinhebens und Sicherns dieser Kontinuität. Daß ihm das notwendig war, mag in das gleiche Gebiet gehören wie die Tatsache, daß er zeitweise wirklich vergessen zu haben scheint, daß die vierte Elegie nicht vor dem Krieg, sondern im Kriegsjahr 1915 in München entstanden ist. Es wird bei dieser vierten Elegie sowie bei den in Muzot vollendeten Elegien in weit stärkerem Ausmaß darauf zu achten sein, welch andere Betonungen manche in den ersten Elegien schon berührten Bereiche nun haben. Man wird der endgültigen Entrückung des Engels heraus aus den Bereichen des Menschlichen so inne werden müssen, daß manches Dunkel sich dabei lichtet. Hierzu ist aufschlußreich, was Rilke im September 1914 aufgeschrieben hat. Er spricht vom „Unbrauchbaren und Mißverstandenen der Kindheit", und fährt

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dann fort: „Bin ich nicht so recht darauf angelegt, gerade um dies herum, was sich nicht leben ließ, was zu groß, was vorzeitig, was entsetzlich war, Engel, Dinge, Tiere zu bilden, wenn es sein muß, Ungeheuer?" 59 Eine nachdenkliche Variante hierzu stellt der (wohl kurz vorher geschriebene) Brief an Lou vom 9. September 1914 dar: „Es wäre furchtbar, die Kindheit so in Brocken von sich zu geben, furchtbar für einen, der nicht darauf angewiesen ist, ihr Unbewältigtes in sich aufzulösen, sondern ganz eigentlich dazu da, es in Erfundenem und Gefühlen verwandelt aufzubrauchen, in Dingen, Tieren —, worin nicht? — wenn es sein muß in Ungeheuern." Der „Engel", der einmal in diese Zusammenhänge geraten ist, ist nicht mehr der, der mit einem Schritt lautlos hinübersteigt über das liegende Herz — und kann es nie wieder werden. Das gleiche geschieht mit den „Liebenden". Ein völlig gewandelter Ton liegt auf ihrem Anruf. „Aber nicht sie nur k ä m e . . . " Ist sie, die dem Engel bis ans Knie reicht, noch jene „verlassene", „niemals gestillte"? Die Übertreibungen der ins Einseitige verzerrten „Liebe" entfallen. Geraume Zeit vor der Vollendung der Elegien liegen die Verse: „Dies überstanden haben" (1920/21). Fast klingen die Strophen wie eine späte Antwort auf die im August 1912 in den Gustgen-Briefen ausbrechende Frage: „ . . . ob man noch so einen Moment im Leben haben kann, auch später, denn ach, gehabt hat man ihn nicht." 60 Nun heißt es: „Auch das Glück ganz überstanden haben, still und gründlich." In aller unmeßbaren Weite ist die unerschöpfliche Begnadung durch das Leben gefühlt: „Gekonnt hats keiner; denn das Leben währt, weils keiner k o n n t e . . . Weils keiner meistert, bleibt das Leben rein." Das ist ein Vorklang der Orpheus-Verse: „Selbst wenn sich der Bauer sorgt und h a n d e l t . . . reicht er niemals hin. Die Erde schenkt." Auch das Sonett an Elisabeth Barrett-Browning: „O wenn ein Herz längst wohnend im Entwöhnen..." ist in seiner Leuchtkraft etwas wesentlich anderes als eine höflich-litera77

rische Verbeugung vor der englischen Dichterin. (Datiert 4. November 1919). „Hier tönt ein Herz, das sich im Gram verschwieg." Die Fragen sind aufgelebt, die sich aufrichten wollten vor den aneinanderlehnenden Leitern (der fünften Elegie) und den sichfühlenden Antennen (der Sonette): ahnendes Innesein des „Könnens" der „Liebe"; einer Liebe, die nicht vergewaltigt, die nicht im gedrängten Herzen einschränkt, die nicht recht und Rechte haben will und glaubt, haben zu sollen, bloß weil da einer „liebt". „Einander lassen." (Es heißt ja nicht: „ v o n einander lassen".) Im Bereich des Sagens verwirklicht sich der analoge Vorgang: „nicht großtun mit herrlich Erfühltem." 61 Darin ist eingemündet, was an Enthaltsamkeit, an Sichverhalten sich in ihm sammelte seit Jahren. Auch das ist, die Freiheit eines Lieben vermehren um alle Freiheit, die mein in sich aufbringt. Bedeutsam heißt es (1924) von dem „geflügelten Entzücken", das ihn „über manchen frühen Abgrund trug": „Nur Getragensein ist nicht genug." Ein Brief aus der späten Zeit (nach 1924) birgt die Worte: „Uber beiden aber, wie sie auch seien, stünde, was ich nie vergesse, das einige Wunder des Lebens und des Todes."63 Dies Überstandenhaben und in Worte haben eingehen lassen, ist der Sinn von Rilkes Werk. Diesen Sinn der Wortgewordenheiten des Lebens — des „Ganzen" — ihn erfahrend zu deuten, ist Aufgabe der Forschung.

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ANMERKUNGEN

ZU EINEM

BEILEIDSB'RIEF

In memoriam Gerhard von Thadden

„Wehe denen, die getröstet sind", notiert Rilke in einem Beileidsbrief an Gräfin Margot Sizzo.1 An anderer Stelle desselben Briefs steht: „Aller Trost ist trübe!" „Nicht sich trösten wollen über einen solchen Verlust, müßte unser Instinkt sein, vielmehr müßte es unsere tiefe schmerzhafte Neugierde werden, ihn ganz zu erforschen." In diesem Zusammenhang stehen ein paar Worte über „christliche Vorstellungen". „Ich liebe nicht die christlichen Vorstellungen eines Jenseits, ich entferne mich von ihnen immer mehr, ohne natürlich daran zu denken, sie anzugreifen...; sie mögen ihr Recht und Bestehen haben, neben so vielen anderen Hypothesen der göttlichen Peripherie — aber für mich enthalten sie zunächst die Gefahr, uns nicht allein die Entschwundenen ungenauer und zunächst unerreichbarer zu machen —; sondern auch wir selber, uns in der Sehnsucht hinüberziehend und fort von hier, werden darüber weniger bestimmt, weniger irdisch: was wir doch, vor der Hand, so lange wir hier sind, und verwandt mit Baum, Blume und Erdreich, in einem reinsten Sinne zu bleiben, ja immer erst noch zu werden haben!" Man achte genau auf die Worte von jenen „christlichen Vorstellungen": eine Hypothese der göttlichen Peripherie neben so vielen anderen; eine Hypothese, die er nicht liebt. Man wird sich in diesem Zusammenhang an den Brief über Cordoba erinnern (17. Dezember 1912)2 und an den „Brief eines jungen Arbeiters" (12.—15. Februar 1922)3. — Es ist aufschlußreich, daß er in dem Sizzobrief besonders gelassen (man ist versucht zu sagen „tolerant") von den christlichen Vorstellungen spricht, daß er seine Ablehnung nun in Zusammenhang bringt mit der Trübe des Trostes und den Beschöni79

gungen; als sei er inzwischen an den Kern der Frage und damit zur Ruhe gekommen, daß es ihn nicht mehr zu eifern drängt wie vor zehn Jahren und wie noch vor einem Jahre. In dem Kondolenzbrief fährt er dann fort von seinem eigenen Erfahrenhaben. „Was mich angeht, so starb mir, was mir starb, sozusagen in mein eigenes Herz hinein." „Es war so rührend zu fühlen, daß er (der Tote) nun nur noch dort sei." Hier klingt aus den Elegien an: „Nirgend, Geliebte, wird Welt sein als innen"; und das Gedicht aus dem Jahr 1913, in dem (zum ersten Male) das Erlebthaben des „Weltinnenraums" Wort wird, jenes Innenraums, dessen Tiefen, Tatsächlichkeiten und Möglichkeiten einzusehen fürder so geräumigen Raum bei ihm einnehmen wird 4 . Ein Brief aus dem Jahre 1924 (11. August) versucht — in anderen Zusammenhängen — davon einiges einsehbar zu machen. „So ausgedehnt das .Außen' ist, es verträgt mit allen seinen siderischen Distanzen kaum einen Vergleich mit den Dimensionen, mit der T i e f e n d i m e n s i o n u n s e r e s I n n e r e n , das nicht einmal die Geräumigkeit des Weltalls nötig hat, um in sich fast unabsehlich zu sein. Wenn also Tote, wenn also Künftige einen Aufenthalt nötig haben, welche Zuflucht sollte ihnen angenehmer und angebotener sein, als dieser imaginäre Raum?" r' Auch das in diesen Zusammenhängen Gesagte ist nachdenklich dafür, was die Vorstellung vom Fortleben nach dem Tod für Rilke bedeutet haben mag. In dem Beileidsbrief handelt es sich zunächst darum, wie der Lebende den Tod eines Gestorbenen erfährt. „So tief", heißt es da weiter, „steckt der Tod im Wesen der Liebe, daß er ihr (wenn wir ihn nur m i t wissen, ohne uns durch die ihm angehängten Häßlichkeiten und Verdächte beirren zu lassen) nirgends widerspricht." — „Ich werf es allen modernen Religionen vor, daß sie ihren Gläubigen Tröstungen und Beschönigungen des Todes geliefert haben, statt ihnen Mittel ins Gemüt zu geben, sich mit ihm zu vertragen und zu verständigen." Hier — am Tod — ist Rilke am mittelsten Punkt 80

(am wendenden Punkt), an dem sein gesamtes weltisches Verhalten sich abhebt. Hier nennt er das andere: „alle modernen Religionen"; im Cordobabrief sind es „Protestanten und amerikanische Christen"; im Arbeiterbrief ist es das kirchlich geformte Christentum und das in ihm entwickelte Christusbild. Man muß sich auch hier immer gegenwärtig halten, daß Rilke ein schlechter Denker war; auch hat er sich nie bildungsmäßig um zusammenhängendes Wissen über eine Frage bemüht. So blieb es seinem Bewußtsein entzogen, wie sehr es nicht nur die „christlichen Vorstellungen" sind, nicht nur die „modernen Religionen", die ihren „Gläubigen" „Tröstungen und Beschönigungen liefern", sondern daß es sich hier um eine Grundhaltung (eine grundsätzliche Schwäche und Unzulänglichkeit) des Menschen schlechthin handelt, der seit den Jahrtausenden seiner Geschichtlichkeit in allen Religionen und Philosophien, in allen Arten seiner Lebenshaltung und deren Rechtfertigungsversuchen immer und ausschließlich darum bemüht ist, diesen Beschönigungen und Tröstungen für gewisse unabänderliche und unausweichliche Tatsachen des Menschseins eine formal abgewandelte, wesenhaft aber immer gleiche Geltung zu verschaffen. Die Geschichte des menschlichen Geistes und seiner Verwirklichungen ließe sich begreifen als eine Folge unentwegter Versuche, sich mit immer neuen Mitteln des Geistes und des Gemütes der für den Menschen offenbar unertragbaren Schwere des Lebendseins zu entziehen. Wie entscheidend Rilke seine naturgegebene Anlage, „sich mit dem Tod zu vertragen und zu verständigen", mit der Konvention der menschlichen Grundhaltung dieser Frage gegenüber in Widerspruch setzte, darüber blieb er weitgehend ahnungslos. Er ist offenbar auch niemand begegnet, der einsah, was hier vorging, und der den Versuch gemacht hätte, ihn aufzuklären. Gewisse menschliche Abwendungen, die er erfahren hat (z. B. das Auseinanderleben mit Ellen Key), mögen sich von hier aus einsehen lassen. Diskussionen, die 6

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gelegentlich mit ihm versucht wurden (z. B. von Kaßner über den „Sohn" und den „Vater"), scheinen nicht bis zu dem wesentlichen Punkt vorgedrungen zu sein, daß es Rilke ja nicht um Trost und Beschönigung f ü r die Schwere des Lebens ging, nicht um eine Umdeutung des Lebensphänomens in eine scheinbare Ertragbarkeit, sondern lediglich darum, wie das so und so beschaffene Leben in seiner „Vollzähligkeit" — ohne Trost.— zu überstehen und zu bejahen sei. Jede Art christlicher Tröstung und alle damit verwandten Philosopheme, die auf eine „Überwindung des Todes" oder des „Lebens" und eines Teils seiner Phänomene hinauslaufen, müssen gegenüber der Bereitschaft, die Ganzheit des Lebens in der Furchtbarkeit seiner Multipolarität zu ertragen und zu bejahen, gegenstandslos werden. Die derartigen „Überwindungen", die den Kern aller Philosophien und Weltanschauungen sowie sämtlicher Religionen ausmachen, mögen sie den einseitig auf das Gute ausgerichteten Einen Gott, die Absolutheit der Ideen oder des kategorischen Imperativs, den Willen zur Macht oder die Überwindung des Leidens und der Angst zum Ziel und Ausgangspunkt haben, sind — wie Rilke erlebend erfahren und ausgesagt hat — lebensmäßig nicht wirklich vollziehbar und stellen jeweils einen Verzicht auf die Vollzahl der Manifestationen dar, denen der Mensch durch die Tatsache seines Lebendseins ausgesetzt ist. Es war Rilkes Naturgegebenheit, daß er sich dem, was er erlebend wahrgenommen hat, durch Mittel des Geistes oder des Gemüts (durch Beschönigungen oder Trost), d. h. denkerisch oder gläubig, auf die Dauer nicht hat entziehen können. Wollte man von einer „Entwicklung" Rilkes reden, so kann es sich nur darum handeln, daß er diesen Versuchen sich zu entziehen im Maß seines Reifer- und Älterwerdens immer weniger nachgegeben hat. Von dieser Tatsache wird jede Deutung Rilkes ausgehen müssen, die nicht Gefahr laufen will, die Keimzelle, aus der wachstümlich das ganze spätere Werk (zum mindesten seit

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dem Malte) hervorgeht, zu verfehlen. Für Widerlegungs- oder Bestätigungsversuche durch die Trostmittel von Religionen und Philosophien (von Dogmatik und Dialektik) ist der Sinn der wortgewordenen Lebensvorgänge in Rilkes Werk völlig unerreichbar. Man mag dieses Nichtverstandenwerden Rilkes zu seinen Lebzeiten f ü r eine glückliche Fügung halten, die es ihm vergönnte, das ihm Naturgegebene ganz nach der eigenen Gesetzlichkeit zu leben und Wort werden zu lassen, ohne durch ihm bereitete Widerstände zu Falschbetonungen und Verzerrungen verleitet zu werden, wozu ein dialektisch so Ungeschulter, denkerisch so wenig Fähiger gegenüber sich-aufdrängenden Besserwissern leicht zu verführen ist. Diese Gefahr wird sichtbar, wenn Rilke versucht, auf dahingehende Fragen, seinen unbewußten Wortwerdungen gedanklich und begründend zu folgen. 6 Bei anderen Äußerungen, wie bei dem hier angeführten Beileidsbrief, ermöglicht ihm die von keinem darüber hinausgehenden Zweck bestimmte menschliche Anteilnahme oder Mitteilung lediglich eigenes Erleben ins Wort eingehen zu lassen, ohne daß ihn eine versucht logische Gedankenkette oder Folgerung vom wirklichen Erlebthaben ablenkte. In dem Brief heißt es weiter: „ . . . sich mit ihm (dem Tod) zu vertragen und zu verständigen, mit seiner völligen unmaskierten Grausamkeit: diese Grausamkeit ist so ungeheuer, daß sich gerade bei ihr der Kreis schließt: sie führt schon wieder an das Extrem einer Milde, die so groß, so rein und so vollkommen klar ist (aller Trost ist trübe!), wie wir nie, auch nicht im süßesten Frühlingstag, Müdigkeit geahnt haben." Um das Befremdende dieser Hyperbel aufzufassen, muß man sich an das Wort aus dem Puppenaufsatz erinnern, an „jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht die ganze sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloses, über Abgründe hinüberhübe." 7 Einmal, im Malte, beschreibt er einen analogen Vorgang. Nach maßlosem Aushalten von 6*

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Ängstendem, das sich in verzehrenden Geraus dien verdichtet hatte, heißt es: „Und nun (ja, wie soll ich es beschreiben?), nun wurde es still, Still, wie wenn ein Schmerz aufhört. Eine eigentümlich fühlbare, prickelnde Stille, als ob eine Wunde heUte." 8 — „Wie wenn ein Schmerz aufhört", „ — als ob eine Wunde heilte." Immer wieder lassen sich solche Vorgänge bei Rilke wahrnehmen; auch jenseits des Malte. Es ist ein durch kein menschliches Es-besser-wissen-wollen eingeschränktes Vertrauen, daß mit den zehrenden und zerstörenden Kräften auch die heilenden und aufbauenden enthalten sind, deren Wirkendwerden zwar mit keinem Akt des Willens, des Verstandes oder des Gemütes zu erzwingen ist, deren Wirkung sich aber da entfalten kann, wo eine Arglosigkeit des Vertrauens sie ungestört gewähren läßt. Der Brief fährt fort: „Zur Erfahrung dieser reichsten und heilsten Milde hat die Menschheit niemals auch nur die ersten Schritte getan." Es ließe sich sogar vermuten, daß alle „Schritte", die die Menschheit getan hat, immer eben auf das Ziel gerichtet waren, ihr die wirkliche Möglichkeit dieser Erfahrung zu ersparen. „Und wie stark wäre das Herz, wenn wir ihm nicht seine Aufgaben entzögen, ehe sie völlig und eigentlich geleistet sind!" steht etwas vorher in demselben Brief. Es ist das gleiche gemeint, das er zwei Jahre zuvor den Malte betreffend so ausdrückte: „daß wir aus Mangel an Kraft, durch Zerstreuung und ererbte Irrtümer fast gänzlich die unzähligen irdischen Reichtümer verlieren, die uns zugedacht w a r e n " w a s er bereits 1915 — auch über den Malte — anders formuliert hat: „daß die Menschen seit Jahrtausenden mit Leben umgehen und dabei diesen ersten unmittelbarsten, genau genommen einzigen Aufgaben so neulinghaft ratlos, so zwischen Schrecken und Ausrede so armsälig gegenüberstehen." 10 Das Entsprechende zu den Ausreden und Schrecken sind die Beschönigungen und Tröstungen, die die Religionen und Weltanschauungen ihren Gläubigen liefern, anstatt ihnen die Mittel zu entwickeln, sich mit der unmaskierten Grausam-

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keit ihres Lebendseinmüssens zu vertragen und zu verständigen. Man kann nicht überhören, daß er es „Mangel Ein Kraft" nennt, daß dem so ist. Nicht ohne Bedeutung scheint es, daß Rilke nun (ein Jahr nach dem Entstehen der Elegien und der Sonette) von der Erfahrung des Durchgangspunktes von der äußersten Grausamkeit zur äußersten Milde (übrigens beiläufig, in einer Parenthese) sagt: „die, empfänden sie nur einige von uns mit Uberzeugung, vielleicht alle Verhältnisse des Lebens nach und nach durchdringen und transparent machen könnte." „Nichts, ich bin sicher", heißt es weiter, „war je der Inhalt der .Einweihungen' als eben die Mitteilung eines Schlüssels, der erlaubte, das Wort ,Tod' ohne Negation zu lesen." Man erinnert sich eines anderen Briefes, in dem auch von diesen Einweihungen, den antiken Mysterien die Rede ist. Der Brief ist in Toledo an die Fürstin geschrieben und handelt von Musik. Dort heißt es: „Mir, dem es überaus wichtig ist, daß in allen Künsten nicht der Anschein entscheidet, ihr .Wirken', nicht das sogenannte .Schöne', sondern die tiefste innerste Ursache, das vergrabene Sein, das diesen Anschein, der durchaus nicht gleich als Schönheit muß einsehbar werden, hervorruft, — mir würde es verständlich sein, daß man in den Mysterien eingeweiht wurde in die Rückseite der Musik, in die selige Zahl, die sich dort teilt und wieder zusammennimmt und aus unendlich Vielfachem in die Einheit zurückfällt, und daß, wenn man das einmal wußte und verschwieg, das Gefühl, so nahe am Untrübbaren hinzuleben, nicht wieder ganz zu vergessen war (wie immer sich im übrigen das Schicksal verhielt)." 11 Das Wissen um das Untrübbare, dem der Mensch im Erleiden seines Lebendseins verhaftet ist — wie immer sich das Schicksal verhält — ist der „Schlüssel", das Wort „Tod" ohne „Negation" zu lesen. Das ist allerdings weder ein Trost noch eine Beschönigung für die Tatsache des Lebendseins und seine unmaskierte Grausamkeit. In einem Brief vom 21. Oktober 1924 heißt es: 85

„Göttliche Güte ist so unbeschreiblich an göttliche Härte gebunden." 12 In dem auf den Beileidsbrief folgenden an die Gräfin Sizzo vom 12. April 1923 steht das Wort: „— irgendwie in einem Vertrauen, daß eben diese Furchtbarkeit ein ganz Unsriges sei, nur ein, vor der Hand, f ü r unsere lernenden Herzen noch zu Großes? zu Weites, zu Unumfaßliches." 13 In dem Beileidsbrief verweilt er zunächst noch ganz bei der angeschlagenen Frage der Einheit von Leben und Tod. „Wie der Mond, so hat gewiß das Leben eine dauernd uns abgekehrte Seite, die nicht sein Gegenteil ist, sondern seine Ergänzung zur Vollkommenheit, zur Vollzähligkeit" — (man erinnert sich an die Bezeichnung „der Gott der Vollzähligkeit" ") —, „zu der wirklichen heilen und vollen Sphäre und Kugel des Seins." „Der Tod ist nicht über unsere Kraft, er ist der Maßstrich am Rande des Gefäßes: wir sind voll, so oft wir ihn erreichen — und Vollsein heißt (für uns) Schwersein . . . das ist alles. — Ich will nicht sagen, daß man den Tod l i e b e n soll, aber man soll das Leben so großmütig, so ohne Rechnen und Auswählen lieben, daß man unwillkürlich ihn immerfort mit einbezieht." Hier ist wieder jener Vorgang, dessen Unsagbarkeit genau, unmißverstehbar deutlich werden zu lassen, Rilke an so vielen Stellen seiner Briefe bemüht ist. Am 21. November 1921 schreibt er an Frau G. Ouckama Knoop: „Und selbst Leben und Tod! Wie offen die Wege von einem zum anderen für uns, wie nah, wie nah am Fast-es-schon-wissen, wie fast schon Wort dieses dieses, in dem sie zur (vorläufig namenlosen) Einheit zusammenstürzen." 15 Und um die Jahreswende 1921/22, als er antwortet auf die Zusendung der Aufzeichnungen der Mutter über Weras Sterben, die ein paar Wochen später dem plötzlichen Werden der Orpheussonette den Weg bereiten sollten: „Wie wunderbar, wie einzig, wie unvergleichlich ist ein Mensch! Da entstand nun, da alles sich aufbrauchen durfte, plötzlich, was sonst f ü r ein langes Da(Wo?)-sein hätte vorreichen mögen, da entstand nun dieses Übermaß von Licht in

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dem Herzen des Mädchens, und in ihm erscheinen, so unendlich erhellt, die beiden äußersten Ränder ihres reinen Einsehens: d i e s e s , daß der Schmerz ein Irrtum sei, ein im Körperlichen entspringendes dumpfes Mißverständnis, das seinen Keil hineintreibt, seinen steinernen Keil, in die Einheit Himmels und der Erde —, und auf der a n d e r e n Seite dieses einige Einssein ihres, allem erschlossenen Herzens mit dieser Einheit der seienden und währenden Welt, diese Zusage ans Leben, dieses freudige, dieses gerührte, dieses bis ins Letzte fähige Hineingehören ins Hiesige — ach, ins Hiesige nur?! Nein, (was sie nicht wissen konnte in diesen ersten Angriffen des Abbruchs und Abschieds!) — ins G a n z e , in ein viel mehr als Hiesiges." 16 Auf dieses „Ganze" greift, unter anderen, auch der Elegienbrief zurück, in dem es heißt: „Lebens- u n d Todesbejahung erweist sich als Eines in den Elegien. Das eine zuzugeben ohne das andere, sei, so wird hier erfahren und gefeiert, eine schließlich alles Unendliche ausschließende Einschränkung." 17 Man erinnert sich des soeben zitierten Wortlauts aus dem Brief über den Malte: „Daß wir aus Mangel an K r a f t . . . fast gänzlich die unzähligen Reichtümer verlieren, die uns zugedacht waren." Man achte auf den Wortlaut: „Der Tod ist nicht über unsere Kraft." „Ich will nicht sagen, daß man den Tod lieben soll." Es handelt sich um einen völlig andersgearteten Vorgang als bei den Todespreisungen und -Sehnsüchten gewisser Romantiker und religiöser Ekstatiker. Bei ihnen ging der Tod „über die Kraft" und sein Erleidnis oder dessen seelische Vorwegnahme und ihr Daraufhindrängen wurde zu einem Erkranken in einen Rausch der Selbstvernichtung hinein, in dem der Tod auf Kosten des Lebens, also ohne oder gegen das Leben „zugegeben" wurde. Rilkes Ausdrucksvermögen stößt, wo er den innersten Kern seiner Welterfahrung Wort werden läßt, an eine Schranke, die gesetzt ist durch das Nichtzur-Verfügung-Stehen des genauen Wortes, das die volle Um87

Setzung wäre für das, was sich hier durchzusetzen versucht. Die Sprache (und soweit mir bekannt ist: alle Sprachen, also der Mensch schlechthin) hat kein Wort, um den Vorgang zu bezeichnen, der Leben und Tod (Sterben) in gleicher gleichgewichtiger gleichbetonter Weise umfaßt.17a Dialektisch hilft sich der Mensch mit der Scheinlösung, der Tod (das Sterben) sei e b e n a u c h ein Lebensvorgang. Das ist jedoch (und wohl mit gutem Grund) eine Irreführung, da eine solche Aussage nur haltbar wäre, wenn die polare Äquivalenz von Leben und Tod durch gleichzeitige Gleichbetonung in Erscheinung träte, daß, wie der Tod (das Sterben) ein Lebensvorgang — auch das Leben ein Sterbensvorgang ist. Diese Tatsache aber ist durch die einpolige Ausrichtung der Sprache zugunsten des Lebens „beschönigt". Menschliches Erleben, Fühlen und Denken ist völlig und einseitig darauf gerichtet, die Präponderanz des Lebens gegenüber dem Tod zu sichern. Zur Erfahrung der unmaskierten Grausamkeit, die die Polarität und Gleichwertigkeit von Leben und Tod im Lebensphänomen darstellt, hat die Menschheit so sehr unterlassen, auch nur die ersten Schritte zu tun, daß sie es versäumt hat, dieser entscheidenden Tatsache — deren Bewußtwerdung den Menschen überhaupt erst in wirklichen Einklang mit den ihm auferlegten Lebensbedingnissen zu setzen vermöchte — einen entsprechenden, gültigen Namen zu geben. Dieser Mangel, diese Entbehrung der Sprache bedingt die Schwierigkeit, die sich Rilkes Wortwerdungen dieser entscheidenden Lebensvorgänge und -Wahrnehmungen bietet und gleichermaßen die Schwierigkeit, die Rilkes Worte von diesen Vorgängen dem Verständnis bereiten. Es handelt sich durchweg darum, das Wort „Tod" ohne Negation zu lesen. „Unser effort kann nur dahingehen, die Einheit von Leben und Tod vorauszusetzen, damit sie sich uns nach und nach erweise. Voreingenommen, wie wir es gegen den Tod sind, kommen wir nicht dazu, ihn aus seinen Entstellungen zu lösen." Im folgenden Brief an die gleiche Adressatin, ein

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Vierteljahr später, heißt es dann bestätigend: „Sie empfindens ja auch oft wie eine Einweihung, eine Einführung ins G a n z e und so, als könne einem nichts Böses, nichts in bösem Sinne Tödliches mehr widerfahren, wenn dieses elementarische Leid einmal rein und wahrhaftig durchgemacht ist." 1 8 — Das allerdings ist Voraussetzung, dieses „durchmachen", ohne „Trost" und ohne „Beschönigung". Hier klingt wieder an: „Wie immer sich im übrigen das Schicksal verhielt." Zum Schluß erinnert Rilke noch an Bilder und Zuschriften, die Gräfin Sizzo ihm zu Anfang ihrer Beziehung geschickt hatte: „Denken Sie an den .schlafenden Baum'. Ja, wie gut, daß es mir einfällt... wie haben Sie da im jugendlich-arglosen Vertrauen immerfort b e i d e s in der Welt erkannt und bejaht: das Schlafende und das Wache, das Lichte und das Dunkle, die Stimme und das Schweigen,... la présence et l'absence. Alle die scheinbaren Gegenteile, die irgendwo, in einem Punkt zusammenkommen, die an einer Stelle die Hymne ihrer Hochzeit singen — und diese Stelle ist — vor der Hand — unser Herz!" Hier weitet sich das an Tod und Leben Erfahrene hinaus in alles Erleben, dessen Polaritäten es so schwer fällt, jeweils beide ohne Negation zu lesen, „alle diese scheinbaren Gegenteile" — der „reine Widerspruch" wird es später heißen, „la sainte loi du contraste", „le mouvant équilibre" 19 , das bebende Gleichgewicht — und mündet ein in jenen „größeren Kreislauf", in dem alle Manifestationen des „Todes" in ihren Erscheinungsformen von Vergängnis, Versagung und Zerstörung in Ein- und Zusammenklang mit ihren „reinen Widersprüchen" des „Lebens" zugegeben und bejaht werden. Dieser Brief, der ein Jahr nach den Elegien und Sonetten geschrieben ist, enthält den bekennenden Satz: „Dies ist mir immer deutlicher geworden mit den Jahren, und meine Arbeit hat vielleicht nur noch den e i n e n Sinn und Auftrag, von dieser Einsicht, die mich so oft unerwartet überwältigt, immer unparteilicher und unabhängiger... seherischer vielleicht, wenn das nicht zu stolz klingt... Zeugnis abzulegen."

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Der „Schlüssel", der es erlaubt, das Wort „Tod" ohne Negation zu lesen, wird sich als der Schlüssel zu Rilkes Werk herausstellen.

RILKES

KAMPF

MIT DEM

ENGEL

Die Tatsache, daß es den Engel der Elegien „nicht gibt" 1, überhebt nicht der Frage, was er im Raum der Elegien ist und bedeutet, wo er als die dritte Ordnung der Geschöpfe — neben Mensch und Tier — das Leben durchwaltet; die Frage nach seiner wesenden und wirkenden Wirklichkeit, wie sie im Wortlaut der Elegien bezeugt ist; die Frage, was sich Rilke bei dieser „Satzung" 2, mit der er umgeht, gedacht hat; was er gemeint hat, das sich vom Leser dabei wird denken lassen. Der Engel des christlichen Vorstellungsbereichs — gegen den Rilke den Elegien-Engel ausdrücklich abhebt — hat seine vieltausendjährige Geschichte des Gestaltwandels, seit er in der Schrift zum erstenmal aus dem Feuerstrom auftaucht. In seiner Frühzeit ist er nicht ein Wesen besonderer Gattung, von dem man zum mindesten dieses wüßte, daß es diese Gattung gibt, sondern Bote schlechthin (was ja auch der griechische angelos, die Stammform unseres Engel bedeutet), der nicht anders als in seiner Botschaft existiert. Sein Auftauchen aus dem Feuerstrom deckt sich so sehr mit der jeweiligen Aktivität Gottes, daß sowohl er das Ich Gottes, wie auch Gott seine Rede an beliebiger Stelle wieder aufnehmen kann. 2a Schon in den Schriften des Alten und Neuen Testaments ist mit diesem Urengel eine beträchtliche Wandlung vorgegangen. Romano Guardini beschreibt 3 den Engel der Schrift folgendermaßen: „Der Engel ist Geist; nur Geist. Nicht dem

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Leibe feindlich, aber unleiblich... Alle Höhe, Tiefe, Weite des Sinnes ist sein B e r e i c h . . . Der Engel ist der Fliegende... Dem Menschen gegenüber sind sie Wesen, vor denen sich das Wort .Götter' auf die Lippen d r ä n g t . . . Archetypen des Seins; lebendige Urbilder und Urmächte, die vorstrahlen und einwirken . . . Damit, daß der Engel .Geist' genannt wird, ist aber noch nicht das eigentliche g e s a g t . . . Der Engel als bloßer Geist geht den Menschen nichts a n . . . als unberührbare Region übermenschlichen Daseins. Von diesem Engel redet die Schrift überhaupt nicht. Augustinus sagt von ihm, daß er ,in einem haltlosen Schweifezustand geistiger Ungeformtheit' stehe und darin ,dunkles Chaos' sei. So war der Engel in jenem unvollziehbar kurzen Augenblick ,nach' der Erschaffung durch Gott und ,vor' seiner Entscheidung gegenüber Gott. Der Engel, von dem die Schrift redet, ist jener, der sich in Glaube, Liebe und Gehorsam dem zugewandt hat, von dem alles Leben stammt und durch dessen Erleuchtung zu schönem Leben zum .Himmel der Himmel' geworden ist." — Die Verwandlung dieser zunächst nur inneren Schau in leiblich Schaubares und Geschautes vollzieht sich dann in den Gestaltungen der bildenden Kunst von den hieratischen Gestalten der byzantinischen Frühzeit über die Engelbilder von Renaissance und Barock in der Auflockerung ihres Schlechthinseins in Bewegtheit nach außen, in Anteilnahme hinübergehend; ein Gestaltwandel aus dem Monumentalen ins Schöne, Hübsche, Niedliche, Sinnlichberührende, bis zu den Zweideutigkeiten von Rokoko und der Andachtsindustrie des neunzehnten Jahrhunderts. Auch in Rilkes Werk hat der Engel seine Entwicklungsgeschichte; von der vagen Zartheit und Zärtlichkeit der frühen Schutzengel an, der ,Engel mit den müden Münden und hellen Seelen ohne Saum', über die biblischen Visionen von Kampf, Berufung und Verkündigung bis zu der anonymen Ungestalt, wie sie in den Elegien west. Wenn einmal die Geschichte von Rilkes Bildungserleben geschrieben sein wird, wird sich ohne Mühe an seinem aus91

giebigen Umgang mit der Bibel und mit Heiligen-Schriften, sowie mit Gestaltungen der Kunst aller Zeiten ergeben, wievieles vom Werden des geschichtlichen Engelbildes ihm selbstverständlicher Wissensbesitz war, und wie die je und je in seinem Werk erscheinende Gestalt die rückläufig parallele Entwicklung durchläuft wie das geschichtliche Bild. Vom christlichen Engel hebt Guardini — in Zustimmung zu Rilke — den Elegien-Engel in folgender Weise ab *: „Diese Engel sind wieder von numinoser Energie erfüllt, groß, ja furchtbar, und ihre Herrlichkeit für den Menschen tödlich; aber sie sind aus der Beziehung zum lebendigen Gott der Schrift, aus der Gnade herausgenommen. Man möchte sagen, sie sind in jenem .Augenblick' festgehalten, da sie noch nicht für Gott entschieden waren und nur als höhere Wesen genommen. . . . sie haben ihre Aufgabe in jenem Gesamt, das allein die Wirklichkeit ausmacht, der Welt, die des Einen Gottes nicht bedarf, weil sie von Göttern voll und selbst übergöttlich ist." Die völlige Unbezogenheit auf Gott , ist dem christlichen Anschauen das wesentliche Unterscheidungsmerkmal des Elegienengels vom Engel der Schrift. Rilke deutet an 6 , jener habe eher mit den Engelgestalten des Islam zu tun. Es ist meines Wissens nicht festgestellt, aus welcher Quelle Rilke eine Vorstellung der Engelgestalten des Islam geschöpft haben kann. In der Beschreibung von Mohammeds Himmelfahrt, wo die islamischen Engel erstmals Gestalt werden, sind den verschiedenen Himmeln je eigene Engel zugeteilt, artgebunden, raumgebunden und auch noch in der grotesken Überdimensionierung (siebzig Tagereisen zwischen den Augen; ein Lobpreisungsengel mit siebentausend Köpfen, an jedem Kopf siebentausend Mäuler, in jedem Maul siebentausend Zungen, die alle immerzu Tag und Nacht dem Höchsten lobsingen) 6 durchaus gestalthaft, vor allem aber in Sinn und Zweck ihres Daseins ganz und gar gottbezogen — alles Eigenschaften, die dem Engel der Elegien wesenhaft nicht eignen. Bis zum Be-

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weis einer belegenden Erhellung ließe sich vielleicht vermuten, daß Rilke — bei einer gefühlsbestimmten Hinneigung zu islamisch Religiösem — in einer vagen Vorstellung befangen war, der Engel des Islam müsse seinen sonstigen Vorstellungen dieser Glaubenshaltung entsprechen, an der — nach seinen vom Islam handelnden Briefstellen — das Fehlen der Mittlergestalt im christlichen Sinne wohl das Ausschlaggebende sein dürfte. Vielleicht ließe sich diese Vermutung dahin ausspinnen, daß diese nicht klar Wort gewordene Absicht, sich in einem „ganz anderen" auszudrücken, versuchte, das Nicht-auf-denMenschen-Bezogene des Elegienengels in einer (vermuteten) Ähnlichkeit mit dem Engel des Islam zu verdeutlichen. In der von Rilke selbst gegebenen Erklärung der Elegien 7 ist von einer möglichen Gott- oder sonstigen Bezogenheit oder Beziehbarkeit des Engels nicht die Rede. — Der Deutungsbrief hebt an mit dem nachdenklichen Satz: „Und bin ich es, der den Elegien die richtige Erklärung geben darf? Sie reichen unendlich über mich hinaus." Trotz dieses Vorbehalts versucht er dann mit ein wenig widerstrebender Gefälligkeit auf vielen Briefseiten eine solche Erklärung zu geben. Es fällt auf, wie wenig darin vom Engel, dieser sinnerhellenden Mittelgestalt der Gesänge, die Rede ist. Am Schluß des ersten Briefdrittels wird er zum erstenmal genannt und bei dieser ersten — und bei der zweiten späteren — Erwähnung ist er in Anführungszeichen gesetzt (wie „Klage" und „Klageland") und damit als „Satzung" gekennzeichnet; erst dann, bei der häufigeren Wiederholung des Wortes fällt diese Typographierung weg. Die Sätze der Deutung, die den Engel erwähnen und seine Gestalt oder deren Sinn zu verdeutlichen versuchen, lauten: „Die wahre Lebensgestalt reicht durch beide Gebiete [Leben und Tod], das Blut des größesten Kreislaufs treibt durch beide: es gibt weder ein Diesseits noch Jenseits, sondern die große Einheit, in der die uns übertreffenden Wesen, die ,Engel', zu Hause sind." Später: „Der ,Engel' der Elegien hat nichts mit dem Engel des christlichen Himmels zu tun (eher

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mit den Engelgestalten des I s l a m ) . . . Der Engel der Elegien ist dasjenige Geschöpf, in dem die Verwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares, die wir leisten, schon vollzogen erscheint. Für den Engel der Elegien sind alle vergangenen Türme und Paläste existent, weil längst unsichtbar, und die noch bestehenden Türme und Brücken unseres Daseins schon unsichtbar, obwohl noch (für uns) körperhaft dauernd. Der Engel der Elegien ist dasjenige Wesen, das dafür einsteht, im Unsichtbaren einen höheren Rang der Realität zu erkennen. — Daher .schrecklich' f ü r uns, weil wir, seine Liebenden und Verwandler, doch noch am Sichtbaren hängen. — Alle Welten des Universums stürzen sich ins Unsichtbare, als in ihre nächsttiefere Wirklichkeit; einige Sterne steigern sich unmittelbar und vergehen im unendlichen Bewußtsein der Engel —, andere sind auf langsam und mühsam sie verwandelnde Wesen angewiesen, in deren Schrecken und Entzücken sie ihre nächste unsichtbare Verwirklichung erreichen." „Wir sind", schließt dieser Erklärungsversuch, „noch einmal sei's betont, im Sinne der Elegien, sind wir diese Verwandler der Erde, unser ganzes Dasein, die Flüge und Stürze unserer Liebe, alles befähigt uns zu dieser Aufgabe (neben der keine andere, wesentlich, besteht)." Die Deutung des Engels geht in ihrer Verdeutlichung durchweg über das in den Elegien Wort gewordene etwas hinaus; für die Angabe aber, daß einige Sterne „sich unmittelbar im Bewußtsein der Engel steigern und darin vergehen", ist ein Anhaltspunkt dort nicht gegeben. Die durch „wer weiß" eingeschränkte Vermutung (die nicht auf den Engel, sondern auf den Menschen, auf „uns" bezogen ist), daß die Umsetzung des geliebten Sichtbaren in die Schwingung und Erregtheit unserer Natur in die Schwingungssphären des Universums neue Schwingungszahlen einführe, aus denen nicht nur Intensitäten geistiger Art bereitet werden, sondern, wer weiß, neue Körper, Metalle, Sternnebel, Gestirne, ist in ihrer konkretteleologischen Phantastik meines Wissens ohne Analogie in 94

Rilkes Äußerungen. Das erst jüngst zum Vorschein gekommene Gedicht aus dem Herbst 1924: „Was unser Geist der Wirrnis abgewinnt" 8 wäre als Vorstufe einer solchen Hypothese zu werten, wenn darin auch der Schritt von der möglichen Dynamik menschlichen Fühlens zur physiko-chemischen Urzeugung durch menschliche Gefühlsemanationen noch nicht vollzogen ist. — Es ist öfter die Wahrnehmung zu machen, wie Rilke bei intellektuellen Denkversuchen, vom Gegenüber oder auch von sich selbst verführt, sich fallen läßt in das Gefälle assoziativen Aneinanderreihens von Einfällen, das seinen Aussagen etwas unverpflichtet Ausschweifendes kaum mehr beherrschter Wunschträume verleiht, in denen sich ihm scheinbar zu erfüllen vermag, was ihm die verantwortliche „Eingestaltung in sein Verzichten" 9 im gewordenen Werk versagt. 10 Die naturgegebene „andere Dichtigkeit" des Briefstils 1 1 im Gegensatz zum geschaffenen Wort, ist gelegentlich von einer gefährlichen Durchlässigkeit, durch die sich die im Werk geleisteten Verzichte, auf dem Umweg über die Confidence, eine Erfüllung und nachträgliche Befriedigung verschaffen. In diese Gebiete von der Einsicht ins Selbst („wie voll Vorwand das alles ist, was wir hier leisten") scheint der Einleitungssatz des Deutungsbriefs zu weisen; das Wissen darum, daß er wohl außerstande sein wird, sich in seinen Erklärungen an das zu halten, was bei der Schaffung, damals, ein für allemal und nicht widerrufbar, Wort geworden ist, in der herrischen Auswahl der in zehn Jahren herangestauten Konzentration, Auswahl aus dem zahllos Brauenden in ihm, das chaotisch das in den Elegien Gestalt gewordene umlagert hatte — und das auch jetzt noch immer wieder aufrufbar war. So könnte der Einleitungssatz besagen, daß die Elegien ja da sind, in ihrer Gestalt, die „unendlich über ihn hinausreicht"; daß Geltung hat nicht nur das, was sich damals durchgesetzt hat, sondern auch die Tatsache, daß das andere — was sich noch dazu sagen, denken, meinen ließe — (auch von ihm selbst, gerade von ihm

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selbst) — sich damals, um ins Werk einzugehen, nicht hatte durchsetzen können. Es ist ein Wort von Rilke überliefert, in dem er das Wissen ausspricht, daß das, was nicht da ist, die Abwesenheit (l'absence) manchmal gerade das ist, was den Schlüssel zu den Dingen gibt." E? sei der Versuch gemacht, eine Sinndeutung des ElegienEngels aus dem Wortlaut der Elegien und möglichst nur aus ihm zu geben. Die die Elegien umlagernden Engelgestalten oder sonst aufrufbaren Analogien sollen lediglich zur Erhellung dienen dessen, was da ist, und dessen, was nicht da ist; nur zur Belichtung, nicht zur Vermehrung oder Abänderung der Gestalt- und Wesenszüge des Engels, wie er in den Elegien erscheint. Eine Vielzahl der Engel (der Engel Ordnungen) kommt nur vor in der ersten und zweiten sowie im Einleitungssatz der zehnten Elegie, alles Stücke, die dem ersten großen Schaffensakt in Duino in den Januartagen 1912 zugehören. In der dritten, sechsten und achten Elegie fehlt der Engel (des Blutes Neptun, der Held, das Tier). An den übrigen Stellen, wo der Engel angerufen wird, ist er einzeln: „ d e r Engel". — In der ersten Sicht (des Jahres 1912) ist der Bezug vom Menschen zum Engel oder vom Engel zum Menschen vorzustellen oder herzustellen versucht. Die späteren Elegienstücke setzen die Unbezogenheit und Unbeziehbarkeit von Mensch und Engel weitgehend voraus. Der Irrealis des Anrufs: „Wer, wenn ich schriee" und die folgenden Irrealen „gesetzt, es nähme einer mich plötzlich Eins Herz", „Träte der Erzengel hinter den Sternen eines Schrittes nieder und herwärts" sind Wunschbilder, deren Verwirklichungsunmöglichkeit zwar eingesehen, die aber als solche doch nicht aufgegeben sind und als gedachte (Un-)Möglichkeit je und je aufgerufen werden; der nicht erfüllbare Wunsch ist Sehnsucht geblieben, die im Drängen der irrealen Bilder und Fragen am Rand der Selbstvernichtung zittert. — In der Frage, ob Engel „im Wirbel der Rückkehr zu sich" nur Ihriges auf-

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fangen, „oder ist manchmal, wie aus Versehen, ein wenig unseres Wesens dabei?" — in dieser Frage ist eine Möglichkeit unterstellt, die, falls sie wirklich bestehen sollte, sich dauernd verwirklichen könnte; zwar merken sie's nicht und wir wissen es nicht; aber schon diese vage Möglichkeit, — daß die Engel etwas unseres Wesens auffangen — könnte ihnen einen, wenn auch noch so undeutlichen und nicht wirklich nachweislichen, aber doch immerhin einsehbaren Sinn im Kosmos (der Elegien) geben, und das scheint (an dieser Stelle) etwas unendlich Tröstliches zu haben, das ein Teil des „Schrecklichseins" (der völligen Unbeziehbarkeit) aufhöbe. Diese Frage knüpft unmittelbar an, an die Beschreibung der Engel (II. 10—17), die einzige Stelle, wo sie versuchen, aus sich heraus schaubare Gestalt, Wesenheit zu werden. Die Stelle lautet: „Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung, Höhenzüge, morgenrötliche Grate aller Erschaffung, — Pollen der blühenden Gottheit, Gelenke des Lichtes, Gänge, Treppen, Throne, Räume aus Wesen, Schilde aus Wonne, Tumulte stürmisch entzückten Gefühls und plötzlich einzeln, Spiegel: die die entströmte eigene Schönheit wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz." Die Auftürmung von preisenden Worten, die eine übersteigerte Herrlichkeit nicht mehr greifbar, sondern nur ahnbar in Raum-, Glanz- und Gefühlsbildern Wort werden läßt, gemahnt an die Angelographien und ihre gnostisch-scholastisch integrierte Metaphern, nur daß Rilkes Metaphern aus individueller Schau stammen. Ich gestehe, daß ich zu der Mehrzahl der hier aufrauschenden Bilder keinen andern Zugang habe, als den des rauschhaften Überglänztwerdens durch eine Licht- und Bildflut von gepriesener und preisender Pracht und Herrlichkeit; Superlative, deren Klang- und Bildwirkung im prunkenden Wort so gesteigert ist, daß sie, wie eine zu starke Lichtquelle, das genaue Hinsehen unmöglich macht. Der Ausgangspunkt dieses Aufstiegs scheint noch ganz konkret: „Frühe Geglückte, ihr Verwöhnten der Schöpfung", 7

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und wird wie von einem Glückswirbel emporgerissen. (Sehr eigenartig wirkt ein Vergleich mit dem anderen — zehn Jahre später entstandenen — gewaltigen Crescendo des Glanz- und Prachterlebens in. Jahreszeit, Tag und Nacht „O und der Frühling begriffe". (Siebente El. 10—29.) Wie die Preisung des Engels ins Ungestalte entrauscht, bleibt sie dort in unfaßbarer Weise an die einfache, deutliche, genaue Aufrufung des Gepriesenen gebunden.) In der überlichteten Bildwirrnis des Engelbildes verblüfft das völlig konkrete: „Pollen der blühenden Gottheit." Pollen sind Blütenstaub, und zwar die männlichen Fortpflanzungszellen. Dies Bild ist durchaus nicht in klangbegünstigtem übersteigertem Blühsinn gebraucht. Die Stundenbuchverse: „Dann aber lösten seines Liedes Pollen..." 13 erweist das genaue Wissen um den biologischen Sinn dieses Wortes, und daß er es genau in diesem Sinn zu verwenden weiß. So vage die übrigen Preisungsworte bleiben mögen, was sich unter der Satzung: „Pollen der blühenden Gottheit" wird denken lassen müssen, dürfte kaum fragbar sein. Hier ist vielleicht die Einbruchstelle, in die der eigenartige Schluß abstürzt: „Und plötzlich, einzeln, Spiegel: die die entströmte eigene Schönheit wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz." Es sei an die Parallele in den Narzißzeilen erinnert: „Er liebte, was ihm ausging wieder ein." 14 Die Elegie fährt, im Anschluß an die Beschreibung des Einzelengels, fort: „Denn wir, wo wir fühlen, verflüchtigen; ach, wir atmen uns aus und d a h i n . . . Und jene, die schön sind, . . . Unaufhörlich steht Anschein auf ihrem Gesicht und geht fort. Wie Tau von dem Frühgras hebt sich das Unsere von u n s . . . " In Narziß I. heißt es: „Dies, also dies geht von mir aus und löst sich in der Luft und im Gefühl der Haine... Dies hebt sich unaufhörlich von mir fort, ich will nicht w e g . . . doch alle meine Grenzen haben Eile. . . . Nichts bindet uns genug. Nachgiebige Mitte in mir, Kern voll Schwäche, der nicht sein 98

Fruchtfleisch anhält . . . o Flug von allen Stellen meiner Oberfläche." 15 Narziß ist der Versuch der Amalgamierung engelischer und menschlicher Wesenheit, wie sie in der zweiten Elegie (15 bis 17 und von 18 bis 30) einander kontrastiert sind. — Die Narzißvision endet: „Narziß verging. Von seiner Schönheit hob sich unaufhörlich seines Wesens Nähe . . . Er liebte, was i h m ausging, wieder e i n . . . und hob sich auf und konnte nicht mehr sein." Der Identifikationsversuch des Menschen mit der engelischen Grundwesenheit hebt die menschliche Seinsmöglichkeit auf. Vielleicht fällt von hier aus ein Licht auf die stark gefühlsbetonten Worte: „Frühe Geglückte, Ihr Verwöhnten der Schöpfung." Die Engel sind und können, was dem Menschen bei Gefahr der Selbstaufhebung versagt ist. — Narziß ist datiert „zirka 1913". Er gehört zu der Fortführung der Gestaltung des Erlebnisgehaltes, wie er in Duino Wort geworden sich im Engel (der zwei ersten Elegien) verdichtet hatte. Solchen fortführenden Versuchen begegnen wir in der Zeit nach Januar 1912 immer wieder. Im Juni 1912 schreibt er in sein Taschenbuch: „Ach, da wir Hülfe von Menschen erharrten, stiegen Engel lautlos, mit einem Schritte hinüber, über das liegende Herz" 18 — eine ins Pathetisch-Sentimentale gesteigerte Version von: „Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen, Engel nicht, Menschen nicht" (erste Elegie, 12), einer der engelbezogenen Irrealen des ersten Elegienwurfs. In diese Zeit fallen die (1913/14 datierten) Engelgedichte „Siehe, Engel fühlen durch den Kaum ihre unaufhörlichen Gefühle" 17 und „Wie der Abendwind durch geschulterte Sensen der Schnitter, geht der Engel lind durch die schuldlose Schneide der Leiden" 18. — Der Engel ist da, immer wieder erlebt und nicht zu fassen. Der Versuch im ersten dieser Gedichte, dem Gefühlsleben des Engels Wirklichkeit abzugewinnen und es in Bezug zu Menschlichem zu bringen, mißlingt ebenso ins Ungestalte wie der Versuch, 7*

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das Leiden und den Tod an ihn heranzubringen. — Eine Reinschrift des Gedichts: „So angestrengt wider die starke Nacht" ist aus dem August 1913 datiert. 19 Darin die Verse: „Vielleicht entzieht's den Engeln etwas Kraft, daß nach uns her der Sternenhimmel nachgibt und uns hereinhängt ins getrübte Schicksal." Hier wird die Gegenbewegung Wort zu der Frage, ob Engel Unsriges auffangen im Wirbel der Rüdekehr zu sich: durch das Medium der Nacht sind dem Engel eignende Kräfte dem Menschen — vielleicht — nutzbar. Das „Nachgeben" gegen uns, das vom Engel nicht zu erreichen ist, geht über an die Nacht. „Siehe, dies bedürfte nicht . . . Und nun geruhts und reicht uns ans Gesicht... zerstreut vielleicht an uns sein Dasein." Hier ist die unerschöpfliche Glücksquelle, die sich ausströmt in den Gedichten an die Nacht 20 , darin die Bezogenheit, der sich der Engel versagt, auf die Nacht realisiert wird. In diese Zeit fällt auch das Engelgedicht: „Starker, stiller, an den Rand gestellter Leuchter" 21 (14. Januar 1913), wohl der gewaltigste Versuch, die Gestalt aus ihrer unbeziehbaren Andersgeartetheit herüberzureißen, die eigene Hilflosigkeit einsehend, wie sie sich in Weinen und Lächeln, in Schreien und mit zwei Hölzern schlagend wie ins Gehörlose hinaustobend verliert und schließlich der verzweifelte Schrei: „Leuchte, leuchte: mach mich angeschauter bei den Sternen." Sinngebung des Engels, wenn auch nur zu einem Angeschautermachen bei den Sternen. Da dem Engel artmäßig unmittelbares Hilfreichsein versagt ist — was trotz aller drängenden Fragen und Anrufe schon bei seinem ersten Erscheinen außer Frage steht —, da aber der Mensch in der Not seines Menschseins ohne jenseitige, übermenschliche Hilfe nicht glaubt auskommen zu können, doch immer wieder der Versuch, dem Engel — und nur . ihm — eignende Wesenshaftigkeiten irgendwie hilfreich dem Menschen einzubeziehen. Wie dieser gewaltige Kampf mit dem Engel in einem der Willensentscheidung entzogenen, aber doch völlig geleisteten Verzicht zu Ende kommt, habe ich versucht in „Wendung,

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Waldteich, Klage" nachzuzeichnen. Erst dieser Verzicht gibt jene Sicht frei, wie sie sich dann (nach Juli 1914) durchsetzt. Das Narziß-Gedicht rückt Rilke selbst unmittelbar in den Elegien-Umkreis. Sein zweiter Teil ist abgedruckt im Inselalmanach auf das Jahr 1919, zusammen mit dem Prosastück „Erlebnis" I, mit dem Gedicht der „Der Tod" und der Übersetzung der Verse der Komtesse de Noailles „Tu vis, je bois l'azur". Gelegentlich der Überreichung des Almanachs an Gräfin Stauffenberg (in der Beziehung zu der das auch in diesen Umkreis gehörende „Requiem auf den Tod eines Knaben" eine bedeutsame Rolle spielt) sagt er zu diesen vier Stücken 22: „Alle diese Stücke, jedes in seiner Art, enthalten Annäherungen an die Grenzempfindungen des Daseins und streben alle jenem ahnbaren Ausgleich z u . . . [wie er ihn beim Anhören eines Musikstücks einmal erlebt hat, das den Eindruck erweckte] zweier Waagschalen, die, leise ausschwebend, gegeneinander zur Ruhe kamen." Das Musikstück wurde ihm nachträglich als eine „antike Grabschrift in Noten" erklärt, „für die das dann allerdings die ergreifendste Bestätigung war, daß sie unter solchem Gleichnis konnte aufgenommen und verstanden werden". Des weiteren heißt es in diesem Brief: „Wenn i c h . . . noch eine Aufgabe, rein gestellt und unabhängig, vor mir sehe, so ist es einzig diese: die Vertraulichkeit zum Tode aus den tiefsten Freuden und Herrlichkeiten des Lebens heraus zu bestärken." Von dem Prosastück heißt es, daß dabei „die Gebiete des Sagbaren nicht eigentlich auszureichen schienen. Ich weiß, ich bin im Unzulänglichen geblieben... Versuche so weit vorgestoßener Art mögen immerhin einigen Anspruch auf Nachsicht machen." 23 Der Vorgang von „Erlebnis" I ist 2 4 — niedergeschrieben Anfang Januar 1913 in Spanien — zeitlich und örtlich festgelegt, kurz vor Entstehung der ersten zwei Elegien in Duino. Das anschließende Prosastück: „Später meinte er, sich gewisser Momente zu erinnern" („Erlebnis" II) 25 sowie die Aufzeichnung vom 6. Januar 1913 in Ronda (kurz vor Niederschrift 101

von „Der Engel", 14. Januar 1913): „Eigentlich war er längst frei" 26 sind drei Variationen des gleichen Themas. Dies letztgenannte Prosastück hat ebenso wie der „Engel" extrem tragischen Akzent; beide wurden sie alsbald an Lou geschickt. „Erlebnis" II umreißt merkwürdig deutlich und mit einer zu dieser Zeit in dieser Erlebnissphäre bei Rilke sonst nicht angetroffenen Gelassenheit den seelischen Raum, wie er ihn als seinen Um-Raum erlebte. „Noch wußte er nicht, wie weit den Anderen seine Abgeschiedenheit zum Eindruck kam. Was ihn selbst anging, so verlieh erst sie ihm eine gewisse Freiheit gegen die Menschen, — der kleine Anfang von Armut, um den er leichter war, gab ihm unter diesen aneinander Hoffenden und Besorgten, in Tod und Leben Gebundenen, eine eigene Beweglichkeit. Noch war die Versuchung in ihm, ihrem Beschwerten sein Leichtes entgegenzuhalten, obwohl er schon einsah, wie er sie darin täuschte, da sie ja nicht wissen konnten, daß er nicht (wie der Held) in allen ihren Bindungen, nicht in der schweren Luft ihrer Herzen, zu seiner Art Überwindung gekommen war, sondern draußen, in einer menschlich so wenig eingerichteten Geräumigkeit, daß sie sie nicht anders als ,das Leere' nennen würden." — Das durchaus positive Vorzeichen, unter dem hier ausgesagt wird, ist nicht zu überhören. — Trotzdem geht der Kampf mit dem Engel weiter, bis er im Schrei über den „gebrochenen Jubelbaum" ausklingt und verstummt. (Die „Abschrift" von „Erlebnis" II ist in der Briefausgabe „an Lou Andreas-Salome" ohne Datum und ohne nähere Erklärung eingereiht zwischen dem 28. Oktober und 4. November 1925.27 Der letztvorhergehende veröffentlichte Brief an Lou 28 vom 22. April 1924 liegt mehr als anderthalb Jahre zurück, so daß es gewagt scheint, Schlüsse daraus zu ziehen. Immerhin sei erwähnt, daß dieser veröffentlichte Brief den Versuch enthält, Lou zu überzeugen, daß er den Rückschlag, der ihm auf den Arbeitsausbruch der Elegien auferlegt war [auf welchen Rückschlag Lou den ganzen Schluß ihres Rilke102

buches aufbaut], trotz körperlicher malaises aushält. So könnte die Ubersendung der Abschrift von „Erlebnis" II als eine Unterstreichung seiner Zustimmung zu dem, was ihm geschah, zu deuten sein. Eine Anzahl der damals entstandenen französischen Gedichte könnte als Unterstützung solchen Gedankenganges herangezogen werden). Wie schwer Rilke der Entschluß zur Veröffentlichung der Prosa geworden ist, zeigt der betreffende Verlegerbrief vom 3. Juli 19182": „Ich gedenke einige Ubersetzungen [zum Inselalmanach 1919] zu geben, vielleicht auch einmal wieder ein kleines Stück Prosa, wenn ich's über mich bringe, mich davon zu trennen." Unter den vier im Almanach 1919 abgedruckten Stücken ist wie erwähnt auch „Der Tod".30 Ernst Zinn hat die sehr eigenartige Parallele aufgedeckt 31 , die zwischen diesem Gedicht und dem „Requiem auf den Tod eines Knaben"32 in dessen ursprünglicher, später verworfener Fassung besteht. In der ersten, im Rilke-Archiv verwahrten Niederschrift „fehlen gegen Ende die beiden punktierten Reihen, und in ununterbrochenem Fluß schließt sich an die jetzige letzte Zeile folgendes an: Chor der Engel. Da stürzen wir dem Knaben zum Empfang. Da nehmen wir von seinem Leib das Gehen und geben ihm der Flügel Überschwang. Da geht von ihm der Schwingen erstes Wehen und wie es weich in unsre Stürme drang ist er in uns — sind wir in ihm geschehen.

Diese beiden Terzinen sind mit Bleistift hernach eingeklammert und kreuz und quer durchstrichen." Die analoge Schlußwendung von „Der Tod" lautet: 0

Sternenfall,

von einer Brücke einmal eingesehen . . . Dich nicht vergessen. Stehn!

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„Der Tod" ist, laut Kalendernotizen Rilkes auf den 9. November, das Requiem auf den 13. November 1915 datiert. Es ist ohne weiteres einsehbar, daß der „Chor der Engel" gestrichen werden mußte, so verlockend die Kontrastgebung im ersten Augenblick des Niederseihreibens gewesen sein mag; die harmlose Flügelfantasie und das Ineinandergeschehen von Engeln und Knabe war nach den furchtbaren Kämpfen mit dem Engel nicht verantwortbar. Die Schlußwendung von „Der Tod" ruft das polar gegensätzliche Erleben zum Grauenhaften des Vorhergehenden auf, unbezogen, ohne Beistand und Trost, ganz im Ich geschehen. Im Herbst 1915 ist die vierte Elegie entstanden, mit der Vision Engel und Puppe. „Wenn mir zumute ist, zu warten vor der Puppenbühne, nein, so völlig hinzuschaun, daß, um mein Schauen am Ende aufzuwiegen, dort als Spieler ein Engel hinmuß, der die Bälge hochreißt. Engel und Puppe: dann ist endlich Schauspiel. Dann kommt zusammen, was wir immerfort entzwein, indem wir da sind. Dann entsteht aus unsern Jahreszeiten erst der Umkreis des ganzen Wandeins. Über uns hinüber spielt dann der Engel. Sieh, die Sterbenden, sollten sie nicht vermuten, wie voll Vorwand das alles ist, was wir hier leisten. Alles ist nicht es selbst." Hier hat der Engel zum erstenmal völlig neue Bedeutung. Seine Anrufung, ja sein Herbeizwingen hat nichts zu tun mit dem Wunsch um irgendein Hilfreichsein. Hier, in der vierten Elegie, ist der Engel zum erstenmal da, damit an seiner Unwirklichkeit Menschliches „wirklicher", d. h. wirklich erkennbar werde. Der Engel ist der Repräsentant „beider Bereiche". („Engel [sagt man] wüßten oft nicht, ob sie unter Lebenden gehn oder Toten." Erste Elegie, 83.) So kann der Gedankenfluß ununterbrochen auf die Sterbenden übergehen, diese vom einen Bereich ins andere Hinübergehenden, die wohl vermuten sollten, wie voller Vorwand alles ist, was wir hier leisten. Alles ist nicht es selbst. Wenn „zusammenkommt", was wir hier immerfort entzweien, dann ist es „ohne Vor104

wand" und „es selbst". •— Die Auflösung dieser Vision ins Nacherlebbare oder auch nur gedanklich Faßbare ist meines Wissens bis jetzt keiner Elegiendeutung geglückt, auch nicht Mason der das reichste Material und die geistreichsten Vorschläge zur Deutung der vierten Elegie beigebracht hat. So mag sie, bis auf weiteres, zu jenem „Dunkel" gehören, das von der Art ist, „daß es nicht Auf-Klärung fordert, sondern Unterwerfung". 34 Eindeutig jedoch ist die Haltung des Engels und dem Engel gegenüber: hier ist nicht Hilfe oder Beistand erwartet, sondern: Maß erkannt. Von 1915 bis 1922 ist eine Gestaltung des Engels oder von dem Elegienumkreis unmittelbar Zugehörendem nicht mehr bezeugt.35 Die siebte Elegie ist ganz geprägt von den Einleitungsworten: „Werbung nicht mehr, nicht Werbung, entwachsene Stimme, sei deines Schreies Natur." Und nun beschreibt der Gesang einen gewaltigen Umweg über Rühmung und Preisung von Hiesigem, Seiendem und Gestaltetem — „Hiersein ist herrlich" —, daß es ihn fortreißt aus seiner Enthaltung und er wieder anruft: „Engel, dir noch zeig ich es, da! in deinem Anschaun steh es gerettet zuletzt, nun endlich aufrecht." Wie in einem stolzen und doch auch ängstlichen Großtun zählt er der Herrlichkeiten herrlichste auf — „O staune, Engel, denn wir sind's, wir, o du Großer" — aber die Kurve, die sich im Jubel wie überschlägt, sinkt in Fragekadenzen ab — ein Turm war groß? — Chartres war groß! — und Musik? — eine Liebende? reichte sie dir bis ans Knie? — Damit mündet der Anrufungsversuch ein in die Schlußworte, die in der ersten Fassung lauteten: „Glaub nicht, daß ich werbe, Engel, und würb ich dich auch! Du kommst nicht, aus Rücksicht." 30 In der vollständigen Abschrift der Elegien vom 12. Februar 1922, in der als fünfte Elegie noch nicht die erst am 14. Februar entstandenen „Saltimbanques", sondern die jetzt „Gegen-Strophen" genannten Verse stehen, f e h l e n noch die jetzigen sechs Schlußverse der siebten Elegie, die heute lauten: „Engel und würb ich dich auch! Du kommst

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nicht. Denn mein Anruf ist immer voll Hinweg; wider so starke Strömung kannst du nicht schreiten. Wie ein gestreckter Arm ist mein Rufen. Und seine zum Greifen oben offene Hand bleibt vor dir offen, wie Abwehr und Warnung, Unfaßlicher, weit auf." In früheren Notizen scheinen diese Verse oder Vorstufen dazu nicht auffindbar. Auffallend ist ein Anklang aus einem Brief an die Fürstin aus Venedig vom 14. Mai 1912: „Ich frage mich manchmal, ob die Sehnsucht nicht von einem so ausstrahlen kann, wie ein Stern, so daß, dieser ausgehenden Richtung entgegen, wider sie, nichts zu ihm kommen kann."37 Die beiden Schlußvarianten der siebten Elegie stellen einen eigenartigen Kontrast dar. Das später getilgte „aus Rücksicht" — aus der der Engel, trotz der Werbung, nicht kommt — klingt an an die allererste Schau des Elegienengels, wo das „Schöne" (des Schrecklichen Anfang) „gelassen verschmäht, uns zu zerstören". Die zweite, endgültige, also gültige Variante bringt — als einzige Stelle — ein Unvermögen des Engels. „Wider so starke Strömung kannst du nicht schreiten"; was vorauszusetzen scheint, daß der Engel also doch käme, wenn er nur könnte. Nachdenklich ist, daß die Ersetzung der ersten Variante durch die zweite offenbar erst geschieht, nachdem auch noch die Saltimbanques, die heutige fünfte Elegie, entstanden ist. (Nach Vollendung der siebten entstehen noch nacheinander die achte, neunte und zehnte Elegie. Während dieser ganzen Zeit bildet die Variante „aus Rücksicht" den Schluß der siebten.) Verblüffend ist, wie in der nachträglich eingefügten Fassung — also nachdem die Elegien endgültig vollendet waren — das Verhältnis Mensch-Engel in seinem sonst waltenden Sinn verkehrt wird, daß die Unbezogenheit Mensch-Engel nicht mehr in der Tatsache des Engelseins begründet erscheint, sondern in einem Kräfteausstrahlen des Menschen, das dem Engel — trotz einer möglichen Bezogenheit — zur Realisierung des Bezugs unüberwindlich ist („kannst du nicht schrei106

ten"). Es sei die Vermutung erlaubt, diese plötzliche Überwertung des Menschen und Entwertung des Engels sei der Euphorie des Siegesrausches zuzuschreiben, den die Vollendung der Elegien im Dichter auslöste. Etwas wie ein Wiederaufnehmen und Unterstreichen des „O staune, Engel, denn wir sind's." Zur neunten Elegie sind die ergreifend aufschlußreichen Entwurfblätter im Rilke-Archiv verwahrt, an denen abzulesen ist, wie durch sich auftürmendes Urgestein die Sturzflut dieser Verse sich den Weg erkämpft hat. In kaum mehr kenntlichen Buchstabenbildern stürzen Worte in weichster Bleistiftschrift schief über große Quartbögen. Auf einer Seite eines Manuskriptbogens 38 nehmen die Worte: „im Hingang es hat keine andere Zuflucht" schrägzeilig den ganzen Raum einer Seite ein. Auf der Gegenseite steht in wenig gebändigter er, stürmischer Schrift: „Mitten im Hingang hat's keine andere Zuflucht als dein verwandelndes Herz, um dort unsichtbar zu sein. So bring von deiner Neigung zum Hiesigen das Deutliche mit." Auf der Vorderseite des gleichen Bogens: „Holst du doch auch vom Hang nicht die unsägliche Erde dir je ins Tal sondern den wörtlichen, den blauen Enzian. So: das Haus, das Fenster. Nimm's mit, mach es zum Sternbild. Es will unsichtbar werden in dir, sich verwandeln, wenn du ihm diese nicht giebst." Und die Rückseite des Bogens lautet: „Nein, weil wir's s e i n wollen. Einmal dieses gewesen sein. Irdische. Was mitnehmen, was behalten. Die Schmerzen; die — Erfahrungen der Liebe. Warum Unsägliches, wenn auch riesig, mitnehmen hier, wo alles so sein wird unsäglich. Im Weltall — hier ist des Säglichen Zeit. Sprich. Benenns." Ein anderer halber gebrochener Quartbogen verwahrt auf der einen Seite die Worte: „dieser voreilige Vorteil eines nahen Verlusts"; auf der anderen Seite steht: „Nur daß wir einst eine Schwelle hatten, die wir ein wenig mitverbrauchten, nicht viel — — — daß uns ein Glas deutlicher wurde, weil wir einander fühlten (auch trinkend) die 107

Dinge umfassen d a z u , nur daß wir wüßten endlich behielten!"39 In diesem auf das Papier gejagten Gestammel dämmern die kommenden Konturen; die Akzente stehen grell in ihrer Abgerissenheit, bis in weiterwühlendem Drängen die Verbindungen hergestellt sind für den fortlaufenden Fluß von Klippe zu Klippe. In der gültigen Fassung erscheint über dem Kampf mit der Rühmung wieder der Engel. „Preise dem Engel die Welt." Der Engel als Repräsentant beider Bereiche, im Lebensu n d Todesbezug, im „Ganzen". „Preise dem Engel die Welt, nicht die unsägliche, ihm kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem." Wie schwer es war, dahin zu gelangen, zeigen die Entwurfmanuskripte in ihrer atemlosen Schrift: „Was mitnehmen. Was behalten. Die Schmerzen: die Erfahrungen der Liebe. Warum unsägliches, wenn auch riesig, mitnehmen hier, wo alles so sein wird unsäglich." Nun heißt es: „Am liebsten alles behalten f ü r i m m e r . . . Ach, in den andern Bezug, wehe, was nimmt man hinüber? . . . kein hier Ereignetes... Also vor allem das Schwersein, also der Liebe lange Erfahrung, — also lauter Unsägliches. Aber später, unter den Sternen, was soll's: die sind besser unsäglich." Und wie die Antwort auf den Versuch, das Sägliche mit aller Innigkeit zu erinnern, steht der Engel: „ihm kannst du nicht großtun mit herrlich Erfühltem." Vor dem Engel, dem Repräsentanten des „Ganzen" gelten andere Maße als vor Menschen und MenschengeschafEenem; da hilft kein „Großtun mit herrlich Erfühltem". Der Engel wird hier „ein Grund von Gegenteil für eines Augenblickes Zeichnung" 40 , damit an seiner unwirklichen Wirklichkeit der Kontur des menschlich Wirklichen und Eigentlichen sichtbar werde. „Zeig ihm das Einfache", heißt es weiter; „sag ihm die Dinge" („das Deutliche" heißt es im Entwurf). D a s , nicht das „herrlich Erfühlte" sind die — im „Ganzen" — menschlich wertigen Spezifica. Das „Erfühlte" ist „im Weltall" (wenn auch „riesig" 108

sagt der Entwurf) als „Unsägliches" entwest zur Gehaltlosigkeit. Der Engel ist da, damit wenigstens irgendwer greifbar und da ist, dem man n i c h t großtun kann mit herrlich Erfühltem, wie es sonst allem gegenüber, ohne Ausnahme, des Menschen Brauch ist. Einzig der Engel ist in seiner Unerbittlichkeit dieser Möglichkeit entzogen. Dadurch aber wird er für das menschlich Eigentliche und Wirkliche zum Maß. Von diesem Verzicht auf das „Großtun mit herrlich Erfühltem" nimmt der Schluß der neunten Elegie seinen jubelnden Aufschwung: „Erde, du liebe, ich will. . . . Dein heiliger Einfall ist der vertrauliche Tod. . . . Überzähliges Dasein entspringt mir im Herzen." — Von hier aus gewinnen die „zustimmenden Engel" der zehnten Elegie völlig neue Bedeutung; von hier aus ist einzusehen, was im „Klageland" die „ältere Klage" dem „jungen Toten" zeigt. Um diesem gegen jedes „Großtun mit herrlich Erfühltem" gefeiten Engel dennoch die „Liebenden" zeigen zu können, so daß sie vor seiner Unerbittlichkeit bestehen 41 , entsteht „in herrlichem Nachsturm" die Saltimbanques-Elegie. „Engel: es wäre ein Platz, den wir nicht wissen, und dorten, auf unsäglichem Teppich, zeigten die Liebenden, die's hier bis zum Können nie bringen, ihre kühnen hohen Figuren des Herzschwungs, ihre Türme aus Lust, ihre längst, wo Boden nie war, nur aneinander lehnenden Leitern, bebend, — und könnten's." Es ist beachtlich, daß diese Vision der Liebenden vor dem Engel und den Toten als Zuschauern in eine Frage ausklingt und nicht in eine Beteuerung. — Und noch eine „Rettung" angesichts dieses unerbittlichen Engels scheint in der fünften Elegie zu gelingen: in der Nähe des immer trabenden Herzens blindlings das Lächeln: „Engel! o nimm's, pflück's, das kleinblütige Heilkraut." Hier sind Konturen der Gefühlsrealität versucht (von im Gefühl enthaltener, nicht übersteigerter Wirklichkeit), die auch in der Gegenwart (im Anschaun) des Engels bestehen. 109

Rilke hatte ein tiefes Wissen von der wirkenden Wirklichkeit der Wortwerdungen. Als er bei der Durchsicht der MalteÜbersetzung zu Ingeborgs Sterben kam, ließ er sich aus über ihre Worte: „Ihr müßt euch nicht so zusammennehmen; wir wissen es alle und ich kann euch beruhigen, es ist gut so, wie es kommt, ich mag nicht mehr." Dazu bemerkte Rilke: „Es ist nicht so sehr der Ton ihrer Stimme, den sie hören will, sondern der Ton, die Klangfarbe ihres erstaunlichen Bekenntnisses: im Augenblick, in dem sie dieses hört, wird der Seelen zustand, den sie der ganzen Welt und auch ein wenig sich selbst verborgen hat, sozusagen Wirklichkeit." 42 Diese Wirklichmachung von Seelenzuständen im Wort ist das erschütternde Phänomen von Rilkes Wortwerdungen, wodurch Werk und Leben bei ihm identisch wird. Hier leuchtet die lebendige Verpflichtung jedes von ihm verantworteten Wortes für ihn auf, die zur Keimzelle seines Werk gewordenen Ethos wird. Trotz der Gegenwehr — wie sie sich, schon und noch, in der Schlußredaktion der Endzeilen der siebten Elegie durchsetzt — gewinnt die einmal Wort gewordene Wirklichkeit im Verlauf der weiteren Schöpfungen und Lebensdokumente immer mehr Geltung: daß das Großtun mit herrlich Erfühltem keine Leistung ist, daß es ganz andere Dinge sind, die in der Unerbittlichkeit des „Ganzen", beider Bereiche, angesichts der Einheit von Leben und Tod, wie er sie erlebt, in Betracht kommen. Das Bedeutsame des Elegien-Engels ist, wie in ihm, unter ungeheuren Kämpfen in Wortwerdungen, dieses Maß erwächst, an dem das Menschliche wirklicher werden kann als an den gebräuchlichen Maßen, die das „herrlich Erfühlte" ihm anbietet.

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STUDIE

ZUR

VIERTEN

ELEGIE

In der vierten Elegie läßt sich der Zusammenhang der Erlebnisgehalte aus der gewordenen Wortgestalt nicht ohne weiteres ablesen. Die aufgerufenen Bilder sind in der Vielfalt ihrer Bedeutung so vielstrahlig, die Leitung von einer Metapher zur anderen ist oft so undurchsichtig, daß sich (wie vorliegende Deutungsversuche beweisen) fast heterogene Deutungen daraus ergeben können. Eine gewaltige Verdichtung verleiht den aneinander gereihten Wortbildern oft eine volle Undurchdringlichkeit in scheinbar völlig unauflösbarem Gewirr. Das soll die Deutung aber nicht verführen, sich peripher zu verhalten oder die Wortbilder wie Hieroglyphen oder starre Klischees zu nehmen und, sofern ein Sinnzusammenhang sich von innen her nicht scheint ergeben zu wollen, von außen her einen möglichen Sinn heranzutragen. Es wird sich immer als fruchtlos erweisen, den schwer oder nicht auflösbaren Fragen bei Rilke anderwärts vorliegende Sinn- und Deutungsmöglichkeiten zur Erhellung unterzuschieben, da mit der ihm nicht eignenden Antwort zugleich seine Fragestellung aus ihrem Zusammenhang gerissen wird. Versucht man die vierte Elegie mit Begriff- und Bildanalogien aus philosophischen und religiösen Vorstellungen und Spekulationen aufzuklären, verfällt man der Gefahr, das Symbol 1 — die lebendige Umsetzung von Erlebnisvorgängen ins bedeutende Wort — in Allegorien aufzulösen — in begriffliche Gleichsetzung von Wörtern. Audi verführt solch Deutungsversuch den Deutenden leicht, eigene Erlebniserfahrungen hineinzuinterpretieren und von diesem Standpunkt aus abzuschätzen, ob die durch Deutung der Erhellung bedürftige Dichtung dem Leser (bzw. dem Deuter) etwas, und was sie ihm zu „geben" vermag an Lehre, Tröstung oder was dergleichen mehr gesucht werden mag. Man darf als erwiesen annehmen, daß Rilke einen Lehroder Trostauftrag für sich und sein Werk in keiner Weise in 111

Anspruch nimmt, so wenig wie den einer Prophetie. „Das innerste Gewissen wach halten, das uns bei jedem ausgebildeten Erlebnis ansagt, ob es so, wie es nun dasteht, ganz und gar in seiner Wahrhaftigkeit und Lauterkeit zu verantworten sei: Das ist der Grund jeder künstlerischen Hervorbringung, der auch dort zu schaffen wäre, wo eine in Schwebe erhaltene Inspiration sozusagen des Bodens entbehren kann" (22. November 1920).2 Wiederholt ist darauf hingewiesen, wie wörtlich Rilke selbst seine Wortlaute nimmt und genommen haben will; daß alles, was „Anspielung" ist, dem „unendlichen Da-Sein des Gedichts" widerspricht. 3 Die Schwierigkeit jedoch besteht, daß Umfang, Gewicht, Richtung, Strahlung jedes einzelnen Wortgehaltes f ü r verschiedene Menschen verschiedene Möglichkeiten bieten, die in der Erlebnisherkunft der Wortvorstellungen gründen, durch die das Wort je verschiedene Zusammenhänge aufruft, ganze Erlebnisräume aufreißt und ineinanderklingen läßt. Eine weitere Schwierigkeit bei Rilke ist die ausgesprochene Dynamik seiner Metaphern. Das in der Metapher zum Sinnund Bedeutungsträger gewordene Bild ist damit nicht erstarrt; es ist dem Lebensrhythmus und damit der eigenen Gesetzlichkeit der Weiterführung nicht entrückt; die Bildwerdung eines Erlebnisses ist nicht Anlaß und Ausdruck seiner abschließenden Beruhigung. In oft hinstürzendem Weiterdrängen tragen die Assoziationen fort von Bild zu Bild, ohne daß immer die Überleitung von einem zum anderen ohne weiteres sichtbar wird. Diese Vorgänge vollziehen sich weitgehend im Unbewußten des Dichters. Hier ist der Grund dafür, daß er selbst manche seiner Gedichte erst im Vorlesen, geraume Zeit nach ihrer Entstehung, begreifen gelernt hat.* Von hier aus ist auch einzusehen, wie das „Diktat" gemeint ist, in dem viele seiner Gedichte sich ihm auferlegt haben. Dieses Weitergetragenwerden von Bild zu Bild im Ablauf des Erlebnisvorganges ist von lebensmäßiger Konsequenz. Oft 112

mag es schwer sein, einen logisch faßbaren Gedankenfaden reinlich darin bloßzulegen. Oft wird es die Aufgabe der Deutung sein, die inneren wie unterirdischen, zum Teil weit unterhalb der Bewußtseinschicht verborgenen Verbindungen zu erforschen, um dem in oft kühnen Sprüngen sich durchsetzenden Sinn eines Erlebens in der Wortgestalt zu folgen. *

Entstanden ist die vierte Elegie im Herbst 1915 in München, 15 Monate nach Kriegsausbruch. Ihr Lebensgehalt gehört dem seelischen Ablauf an, der einsetzt mit der Beendigung des Malte (1910), der zu Beginn des Jahres 1914 euphorisch ansteigt und schon im Frühling desselben Jahres zu einem völligen Absturz führte. 6 Der Krieg hat, nach den ganz anders gerichteten Erlebnisansätzen und deren Ausdruck in der Ergriffenheit des August 1914, ab Herbst zu weitgehender seelischer Verschüttung geführt. Erst die Herbsttage des folgenden Jahres (1915) brachten wieder ein unaufhaltsames Steigen der produktiven Kräfte", das eine Zahl umfangreichster Gedichte und sonstiger Äußerungen voll der gewichtigsten Gehalte zutage förderte. 7 Die schwere Zeit des Frühlings und (Vorkriegs-) Sommers 1914, die in einer einzigen Ununterbrochenheit bis in die Novembertage 1915 währt, ist nur ein Stück jener Erlebniskurve, die einsetzt mit der Vollendung des Malte und die im Verlauf ihrer Höhe- und Tiefe-Punkte ergreifend den Kampf sichtbar werden läßt, in dem Rilke versucht, die Aufgabe zu bewältigen, die ihm die Verantwortung der im Malte Gestalt und Wort gewordenen Erlebnisse auferlegte. Insofern ist die vierte Elegie ein bedeutsamer Abschluß im Werk. In schonungslosen Wortlauten hat sie den tragischen Ton völliger Verzweiflung. Nach dem Malte — vor 1911 — hatte Lou warnend, mahnend an Rilke geschrieben: „Du gehst noch so weit." Kurz vor Entstehen der ersten und zweiten 8

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Elegie (28. Dezember 1911) fragt Rilke, darauf bezugnehmend: „Und wenn nicht — was tun, um im Stehenbleiben nicht schlecht zu werden?" 8 Es war nicht in seinen Willen gegeben, auf dem einmal beschrittenen Weg stehenzubleiben; es bestand nur die Möglichkeit, sich dem Furchtbaren, das sich ihm erschlossen hatte, wirklich zu stellen und es zu überstehen. Aufzuhalten war diese Entwicklung schon 1911 nicht mehr. Die vierte Elegie ist wie die Zusammenfassung des Grauens alles bis dahin Erlebten. Der schöpferische Aufschwung des Herbstes 1915 wurde durch Rilkes Einberufung zum Militär jäh unterbrochen. Erst eine Zeit nach Beendigung des Krieges, 1919, in der Schweiz, ist er wieder zu gestaltender Sammlung fähig. Da aber hat schon der Aufstieg aus der Dürre der Verzweiflung begonnen, der zur Vollendung der Elegien und zu den Sonetten führen sollte. In der Wortgebung ist die vierte Elegie von eigenwilliger Willkür. Bilder von äußerster Verdichtung sind, wie fragmentarisch, mit unbehauenen Bruchstellen, neben- und übereinander getürmt. Ein völliges Innesein und volles Durchlittenhaben der Gegebenheiten bis zum Grund scheint für ihn weit auseinanderliegende Bezirke so aneinandergerückt zu haben, daß er ahnungslos aus dem einen in den anderen hinüberwechselt. Überall starrt ihn Eines, das Gleiche, in immer neuen Versichtbarungen an, zu immer neuer Erschütterung durch die unentrinnbare, nahezu unertragbare Schicksalhaftigkeit. Es sei versucht, diesem Beben der Grundfesten, wie es im wörtlichen Ablauf der Elegie sich darstellt, durch die Wirrnis der Bilder zu folgen, an Hand von Bedeutungserhellungen, die Rilke selbst an anderen Stellen für seine Worte gibt. *

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O Bäume Lebens, o wann winterlich? Wir sind nicht einig. Sind nicht wie die Zugvögel verständigt. Überholt und spät, so drängen wir uns plötzlich Winden auf und fallen ein auf teilnahmslosen Teich. Die Klage u m das Nicht-Verständigtsein des Menschen mit dem Rhythmus des Lebendigen ist bei Rilke nicht neu. Vom Malte sagt er, daß dieses Buch, das in den Beweis zu münden scheint, daß das Leben (des Menschen) unmöglich ist, keine Vorwürfe gegen das Leben enthalte, im Gegenteil nur die Feststellung, daß „wir", die Menschen, „aus Mangel an Kraft, durch Zerstreuung und ererbte Irrtümer fast gänzlich die unsäglichen Reichtümer verlieren, die uns zugedacht waren." 9 Um dieses „Nicht-Verständigtsein", das in seiner Weise ganz den Malte bestimmt, geht die Klage der vierten Elegie. Im Malte selbst ist das in den Anfangszeilen der Elegie angeschlagene Thema vorweggenommen. „Vielleicht ist das neu, daß wir das überstehen, das J a h r und die Liebe. Blüten und Früchte sind reif, wenn sie fallen; die Tiere fühlen sich und finden sich zueinander und sind es zufrieden. Wir aber, die wir uns Gott vorgenommen haben, wir können nicht fertig w e r d e n . . . Was ist uns ein J a h r ? Was sind uns alle?" 10 — Wie überall im Malte, ist auch hier versucht, ins Unendliche der Gottbezogenheit auszuweichen, um des Menschen Versagen an seiner Aufgabe unter dieser unrealisierbaren Perspektive zu beschönigen. Schon in der ersten Elegie (Januar 1912) ist dieses Verhalten gewissermaßen bereinigt. „Nicht, daß du Gottes ertrügest die Stimme, bei weitem." Zum erstenmal und endgültig scheint hier die Bezogenheit auf Gott und von Gott — als der beschönigende Vorwand f ü r das sein-Lebennicht-können — aufgegeben. Der Mensch ist fortan, ohne transzendente Hilfsstellung, seiner ihm als Lebendsein-müssendem in dieser Tatsache gestellten Aufgabe verantwortlich gegenübergestellt. Deshalb entfallen nun auch die Lösungsversuche und -Vorschläge, mit denen Malte sich seinem u n 8*

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ausweichlichen Schicksal zu entziehen sucht, bevor er darin untergeht. Damit aber entfällt auch Frage und Vorwurf; es bleibt nur Einsicht und Klage. „Sei euch die Klage nicht schmählich. Klaget. Wahr erst wird das unkenntliche, das keinem begreifliche Schicksal, wenn ihr es maßlos beklagt und dennoch das maßlos, dieses beklagteste, seht: wie ersehntes, begeht." 11 — Was im Malte in genialer Kasuistik auseinandergelegt war, um durch diesen Versuch dem verhängten Schicksal auszuweichen, was in den Jahren danach als unentrinnbare Wirklichkeit immer wieder über Rilke hereingebrochen war, von ihm durchlitten und immer wieder überstanden wurde, und was in verschiedenen Erlebnisstadien je in Worte einging, das wird nun, in ungeheurer Zusammenfassung, noch einmal „maßlos beklagt". In der vierten Elegie waltet das Äußerste jener Verfassung, wie er sie drei Jahre zuvor bezeichnet hatte: „Ich bin gerade jetzt mehr als je im Einseitigen, die Klage hat vielfach überwogen, aber ich weiß, man darf die Klagesaiten nur dann so ausführlich gebrauchen, wenn man entschlossen ist, auf ihnen, mit ihren Mitteln, später auch den ganzen Jubel zu spielen, der hinter jedem Schweren, Schmerzhaften und Ertragenen anwächst und ohne den die Stimmen nicht vollzählig sind." 12 Die vierte Elegie ist ganz im „Einseitigen" maßloser Klage befangen; aber erst in ihr wird das Schicksal wahr, in der unbeschönigten und nicht beschönigenden Wortwerdung erst ist die Anerkennung des Schicksals und seine Wirklichwerdung. Einzig das Ertragen des Schweren und Schmerzhaften („wenn ihr es, wie ersehntes, begeht") schafft die Voraussetzung zu einer Möglichkeit, daß — dahinter — (vielleicht) — ein „Jubel", eine Zustimmung anwachsen kann. Von solch unausweichlicher Schicksalhaftigkeit ist die Klage um das Nicht-verständigtsein des Menschen mit dem Lebendigen, mit sich selbst, mit den Mitmenschen, mit allem umgebenden Leben und Welt. 116

Blühn und verdorrn ist uns zugleich bewußt. Und irgendwo gehn Löwen noch und wissen, solang sie herrlich sind, von keiner Ohnmacht.

Das Beides-wissen ist Grund und Ausdruck des Uneinigseins. Was den Tieren nicht geschieht (die sich fühlen und es zufrieden sind), kann dem Menschen geschehn, daß er „sich Winden aufdrängt" und „einfällt in einen Teich", wenn er „teilnahmslos" ist. Aus dem Beides-wissen wird des Menschen Instinktlosigkeit, die ihn in die Möglichkeit entarten läßt, das im Rhythmus des Lebendigen und Wachstümlichen Gegebene zu versäumen, um dann — überholt und spät — dem Ungegebenen und Nichtverwirklichbaren sich aufzudrängen. — Das gleiche beklagt im Requiem der tote Knabe 13 : „So hab ich mich dem Allen aufgedrängt. Und war doch alles ohne mich zufrieden." — In diesen Fehlhandlungen aus Nichtverständigtsein wurzeln die Verfälschungen im Erleben des Menschen. Uns aber, wo wir Eines meinen, ganz, ist schon des andern Aufwand fühlbar. Feindschaft ist uns das Nächste.

Der Mensch weiß beides zugleich — Blühn und Verdorrn, Herrlichkeit und Ohnmacht, so daß ihm eines ganz zu „meinen", zu sein oder zu tun, zu fühlen oder zu denken, völlig verwehrt ist; alsbald im Einen ist ihm des Andern Aufwand fühlbar. In der menschlichen Verweilungstendenz entgegen dem Zeitablauf ist das Nächste-Nächstfolgende: Feindschaft; in der Subjekt-Objekt-Situation ist die Zahllosigkeit des Gegenüber das, was immer zerstreut und hindert, Eines je ganz „meinen" zu können, und so ist (auch räumlich) das NächsteNaheste: Feindschaft. — Doch west nicht nur im Außer-Ich von Raum und Zeit die Feindschaft; auch der eigene Innenraum enthält uns feindliche Kräfte und Mächte, denen wir gegenübergestellt sind. — Im „östlichen Taglied" 14 heißt es schon Jahre zuvor: „Doch während wir uns aneinander drücken, um nicht zu sehen, wie es ringsum naht, kann es 117

aus dir, kann es aus mir sich zücken: denn unsere Seelen leben von Verrat." — Dieses Thema ist weitgehend Gehalt der dritten Elegie. Treten Liebende die sich versprachen

nicht immerfort Weite, Jagd und

an Ränder,

eins im

andern,

Heimat.

Können denn die Liebenden einander halten, was sie einander versprachen? Raum einer für den anderen zu sein, der sie einander enthält und alles umschließt? Sie treten immerfort an Ränder eins im andern — wie die portugiesische Nonne den Grafen Chamilly „durchgeliebt hat, wie man einen Handschuh durch trägt". 15 Der seelische Raum, den sie einander zu sein versprachen, ist unvermutet durchmessen, sie sind an den Rändern eines des andern und nicht mehr „innen in der Geliebten"; ihre Liebe ist — auf einmal und ohne einsehbaren Grund — nicht mehr heil, dicht und tragend.16 Da wird für eines Gegenteil

Augenblickes

Zeichnung

ein Grund

von

bereitet, mühsam, daß wir sie sähen; denn man ist sehr

deutlich mit uns. Wir kennen den Kontur

des Fühlens

nicht, nur

ivas ihn formt von außen.

Man ist sehr deutlich mit uns: das Leben erspart uns nichts. Auch da, wo wir es nicht wissen und kennen, auch wo wir uns nicht darum bemühen, zu erfahren und zu erfassen, wie die Dinge und Vorgänge wirklich sind, auch wo wir uns gerne der Einsicht in die Wirklichkeit des Gegebenen und des Geschehens entziehen, da wird es uns „sehr deutlich" gezeigt. Es ist uns nicht vergönnt, einer Tatsache unter dem Vorwand, daß wir sie nicht kennen, auszuweichen und zu entgehen. — So kennen wir den Kontur des Fühlens nicht. Wir wissen nicht und geben uns nicht Rechenschaft von der Mächtigkeit unseres Fühlens aus seiner eigenen Substanz; wir wissen nicht, wo es sich, von innen, aus sich heraus begrenzt. Nur wo unser Fühlen am Außen anstößt oder sich erschöpft oder wohin es nicht mehr reicht, wird es uns deutlich. Für eines Augenblickes (des Gefühles) Zeichnung wird ein Grund von 118

Gegenteil bereitet, mühsam, daß wir die Zeichnung auf dieser Folie sähen. — Man entsinnt sich der Worte aus der zweiten Elegie": „Erstaunte euch nicht auf attischen Stelen die Vorsicht menschlicher Geste? . . . Diese Beherrschten wußten damit: soweit sind wirs, dieses ist unser, uns so zu berühren; stärker stemmen die Götter uns an. Doch dies ist Sache der Götter." — Wir — Unbeherrschten — wissen nicht, wie weit wir's sind; wir kennen den Kontur des Fühlens nicht. In der Unvorsicht unserer Gesten wird uns das Unsrige nur am Nächsten erfahrbar, das uns feindlich und fremd gegenübersteht. Erst Ein diesem Grund von Gegenteil erfahren wir, wo die wirkende Kraft unseres Fühlens sich am Außen erschöpft und — im Kontur — endet. Wer saß nicht bang vor seines Herzens Vorhang? Der schlug sich au}: die Szenerie war Abschied. Leicht zu verstehen. Der bekannte Garten, und schwankte leise: dann erst kam der Tänzer.

Wer weiß wirklich, was in seinem Herzen vorgeht (auch wenn scheinbar nichts darin vorgeht); wer ist nicht bang vor d e m Vorgang und vor dem Wissen darum. — Die „Szenerie", wann immer der „Vorhang des Herzens sich aufschlägt", auch wenn dann „nichts" vorgeht, ist immer da, immer die gleiche, leicht zu verstehen, „der bekannte Garten" 18 und schwankte leise 19 : Abschied. — In der achten Elegie wird als einfache Aussage stehen: „So leben wir und nehmen immer Abschied." 20 Abschied ist die währende Grundsituation aller Vorgänge im Herzraum, im Raum des Fühlens, der Grund von Gegenteil an dem eines Augenblickes Zeichnung uns erst sichtbar wird. In dieses Immergegebene, Bekannte, den seelischen Raum und Umraum, kommt — dann erst — der „Tänzer". Es scheint, daß der aufgerufene Tänzer mit dem vollen Wertakzent des ihm eignenden gemeint ist. Nahe liegt es hier, den Namen Nijinski zu nennen, der in der Vorkriegszeit von 1914 der Inbegriff des Tänzers schlechthin war, und der in Kreisen, die Rilke nahestanden, eine bedeutsame Rolle

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spielte.®1 — Als Phänomen vollkommener körperlicher Begabung und Schulung, als hinreißende Gestaltungskralt mit souveränen Mitteln war Nijinski zum Repräsentanten höchster Ausdrudesfähigkeit im Tanz geworden. Die schwebende Leichtigkeit war das Specificum seiner Kunst. Nicht der. Genug. Und wenn er auch so leicht tut, er ist verkleidet und er wird ein Bürger und geht durch seine Küche in die Wohnung.

Dann erst kam der „Tänzer" in die „Szenerie" (hinter des Herzens Vorhang), um sich im Vorgang vor diesem Grund von Gegenteil zu verhalten; verkleidet, leicht tuend, etwas vorspielend, was das Ich (oder das Du) gar nicht ist und meint. — „Sieh dir die Liebenden an, wenn erst das Bekennen begann, wie bald sie lügen." 22 Das Bild des Theaters im Vorgang der Liebe ist schon vor Jahren in dem Gedicht „Das Bett" zu einer düsteren Vision verdichtet. „Laß sie meinen, daß sich in privater Wehmut löst, was einer dort bestritt. Nirgend sonst als da ist ein Thater; reiß den Vorhang f o r t . . . " 23 In der inbrünstigen Klage „Perlen entrollen" 24 wird die Geliebte beschworen: „Wie der Vormorgen den Aufgang, wart ich dich an, blaß von geleisteter Nacht; wie ein volles Theater, bild ich ein großes Gesicht, daß deines hohen mittleren Auftritts nichts mir entginge." Im bejahenden Pathos ist hier der Herzraum „Theater" und die Geliebte ist erwartet als auftretender Akteur. Man entsinne sich noch der Abschnitte über das Theater aus dem Malte, die mit den Worten beginnen: „Das war im Theater zu Orange..." 25 Dort heißt es an einer Stelle: „Diese Stunde, das begreife ich jetzt, schloß mich für immer aus von unseren Theatern. Was soll ich dort? Was soll ich vor einer Szene, in der diese Wand (die Ikonwand der russischen Kirchen) abgetragen wurde, weil man nicht mehr die Kraft hat, durch ihre Härte die Handlung durchzupressen, die gasför120

mige, die in vollen schweren öltropfen austritt. Nun fallen die Stücke in Brodten durch das lochige Grobsieb der Bühnen und häufen sich an und werden weggeräumt, wenn es genug ist. Es ist dieselbe ungare Wirklichkeit, die auf den Straßen liegt und in den Häusern, nur daß mehr davon dort zusammenkommt, als sonst in einen Abend geht." — Die ungare Wirklichkeit, mengenmäßig übersteigert, dazu die Unnatur des Gespielten, „die schlappen Türen, die hingetäuschten Vorhänge, die Gegenstände ohne Hinterseite" 26 — unter solchen Aspekten steht „Theater" und „Bühne" im Raum des Malte an jener Stelle, wo die aufgerufene Gestalt der Duse Auftakt und Anlaß zu der Rühmung der Liebenden wird: „Schlecht leben die Geliebten und in Gefahr. Ach, daß sie sich überstünden und Liebende würden." — Die Vision von Szenerie und Bühne, die zunächst nur schien, das Anschauen und Einschauen verdeutlichen zu sollen, läßt, aus ihrer Herkunft, zahlreiche negative, entwertende Gefühle mitschwingen. „Dann erst kam der Tänzer. Nicht der. Genug." — Der Abscheu bricht durch gegen das Unwahre, das Verkleidetsein, das Leichttun während des Vorgangs im Herzraum, das Sichverspielen mit tänzerischer Geste vor der Immergegebenheit „Abschied", das gewollte, wenn auch gekonnte Gehabe des Liebenden, der nie ganz meinen kann; dessen Aufschwünge der Liebe, — wenn er auch so leicht tut — schicksalhaft verhaftet bleiben den Bindungen der Schwere und der Gewohnheit — „er wird ein Bürger und geht durch seine Küche in die Wohnung". (Man beachte den grimmig getönten Anklang an „Tisch und Bett".) Ich will nicht diese halbgefüllten Masken, lieber die Puppe. Die ist voll. Ich will den Balg aushalten und den Draht und ihr Gesicht aus Aussehen.

„Außen ist vieles anders geworden", heißt es im Malte.27 „Aber innen und vor Dir, mein Gott, innen vor Dir, Zuschauer: sind wir nicht ohne Handlung? Wir entdecken wohl, daß wir 121

die Rolle nicht wissen, wir suchen einen Spiegel, wir möchten abschminken und das Falsche abnehmen und wirklich sein. Aber irgendwo haftet uns noch ein Stück Verkleidung an, das wir vergessen. Eine Spur Übertreibung bleibt in unseren Augenbrauen, wir merken nicht, daß unsere Mundwinkel verbogen sind. Und so gehen wir herum, ein Gespött und eine Hälfte: weder Seiende, noch Schauspieler." — Wie überall im Malte ist auch hier das Ausweichen ins Unendliche versucht, in der Anrufung Gottes. In der vierten Elegie ist „Gott" nicht mehr als „Zuschauer" bemüht, um dieses Wirkliche wahrzunehmen: „ein Gespött und eine Hälfte"; — nun schaut er selbst und „nimmt wahr" „nach dem wahren Gewicht" 28; beschönigt nicht mehr. Was im Malte nur in der unendlichen Perspektive Gottes vermutbar war, enthüllt sich dem Hinschauenden als Tatsache: „halbgefüllte Masken". Alles lieber das: diese Unwahrhaftigkeit, dieses Leichttun, dieses Halbundhalbe — lieber die Puppe, die ist voll. Es ist ein Äußerstes, was mit der „Puppe" gemeint ist und doch ist sie ihm noch erträglicher als der „Tänzer". Am 20. Juni 1914 (im gleichen Brief, in dem er die „Wendung" überschickt) antwortet er Lou auf einen Brief über den im März veröffentlichten Puppenaufsatz, den er erwartet hatte „mit tröstlichem irgendwie ordnendem Eindruck" 2 '. „Ja, ich verstehe genau, was Du da erkennst, auch den letzten Satz, den die .Wörter' nicht leisten, auch diesen letzten Satz vom Einsgewordensein der Puppe mit dem Leiblichen und seinen grausigsten Verhängnissen. Aber ist es nicht furchtbar, daß man ahnungslos so etwas hinschrieb, unter dem Vorwand einer Puppenerinnerung vom Ureigensten handelnd, und dann die Feder rasch fortlegt, um das Gespensthafte noch einmal unbegrenzt, ja wie noch nie auszuleben: bis einem jeden Morgen der Mund dürr war, vom Werg mit dem man, Balg durch und durch, angefüllt war, bis in ihn herauf?" Das „Gespensthafte", das er nach dem Fortlegen der Feder ausgelebt hat wie noch nie, in den „unruhigen, unvermuteten 122

letzten Monaten, die viel Gutes hätten bringen können, unter Umständen" 3 0 , bezeichnete er zwölf Tage zuvor 31 : „Was schließlich so völlig zu meinem Elend ausfiel, fing mit vielen, vielen Briefen an, leichten, schönen, die mir stürzend vom Herzen gingen." Das wurde dann „eine lange, breite und schwere Zeit, eine Zeit, mit der wieder eine Art Zukunft vorüber i s t . . . zu Ende gequält, bis sie zugrunde ging" und er blieb „gerichtet zurück", nicht ertragbar, wie er sich „steif und schwer machte", „mit der Trübe und Dichte seiner Unterwasserwelt". Es ist erstaunlich, wie weitgehend er in dem Brief vom 20. Juni sich mit dem in dem Aufsatz über die Puppe Gesagten, bekenntnishaft, identifiziert: „Bis einem der Mund dürr war vom Werg, mit dem man, Balg durch und durch, angefüllt war." Aber lieber diesen „Balg" aushalten als den „Tänzer". Man muß sich vergegenwärtigen, was alles mit einer Art von Selbstpeinigung in dem Aufsatz über die „Puppe" gesagt ist. Es heißt da unter anderem J 2 : „Ernährt mit Scheinspeise wie der „Ka", das Wirkliche, wo's ihnen durchaus sollte beigebracht werden, verwöhnt an sich verschmierend, undurchdringlich und in dem äußersten Zustand von vorweggenommener Dickigkeit... ohne eigenes Urteil, nachgiebig gegen jeden Lappen 'und doch, wenn er einmal angeeignet war, ihn auf eine besondere Art besitzend, nachlässig, selbstgefällig, unrein . . . träge: hingeschleift durch die wechselnden Emotionen des Tages, in jeder liegen bleibend; wie ein Hund, zum Mitwisser gemacht, zum Mitschuldigen, aber nicht wie er empfänglich und vergeßlich, sondern eine Last in beidem; eingeweiht in die ersten namenlosen Erfahrungen ihrer Eigentümer..." Später, im Gegensatz zu den dankbaren Dingen heißt es: „ . . . fände man, sie unter einem Haufen teilnahmsvoller Dinge hervorziehend, eine unserer Puppen: sie würde uns fast empören durch ihre schreckliche dicke Vergeßlichkeit... entlarvt läge sie vor uns da, als der grausige Fremdkörper, an den wir unsere lauterste Wärme verschwen123

det haben; als die oberflächlich bemalte Wasserleiche, die sich von den Überschwemmungen unserer Zärtlichkeit heben #

und tragen l i e ß . . . " 33 „Sie erwiderte nichts . . . Sie war so bodenlos ohne Phantasie, daß unsere Einbildung an ihr unerschöpflich wurde..." wenn jenes beschäftigungslose Geschöpf fortfuhr, sich schwer und dumm zu spreizen, wie eine bäurische Danae nichts anderes kennend als den unaufhörlichen Goldregen unserer Erfindung." „Daß wir dich aber dann doch nicht zum Götzen machten, du B a l g . . . das lag daran, . . . daß wir dich gar nicht meinten . . . eine Seele meinten wir: die Puppenseele."34 Man muß die mögliche Vergegenwärtigung dieser auf das Ich bezogenen Gehalte (bis in die „grausigsten Verhängnisse") in sich zu verwirklichen versuchen, um einzusehen, was alles in den Worten enthalten sein kann: lieber die Puppe... Ich will den Balg aushalten .." Ein andermal noch taucht eine Puppenidentifikation auf; in der „Erlebnis"-Aufzeichnung aus Ronda 35 : „Er hatte sich nicht rein geschält, hatte sich aus sich herausgerissen und Stücke Schale mit fortgegeben, oft auch sich (wie Kinder vor Puppen tun) an einen eingebildeten Mund gehalten und geschmatzt dabei, und der Bissen war liegengeblieben. So sah er jetzt dem Abfall gleich." Daß hier dem Ich von Seiten der Puppe geschieht und das Ich nicht die Puppe ist („Du Balg" und nicht „man, Balg durch und durch"), macht den Vorgang in seiner Vertauschbarkeit noch gespenstiger. Aber alles lieber als der Tänzer — selbst diese Puppe, Balg, der man ist („das starre stumpfe Stück" nennt er sich im Mai 1914)30 — und das Gesicht aus Aussehen. Man erinnere sich der Erfahrung des Gesichter-sehen-Lernens im Anfang des Malte 37 ; daß jeder Mensch mehrere Gesichter habe, die er abtrage, eines nach dem andern, und wie bei manchen Menschen, die nicht „sparsam" mit ihren Gesichtern umgingen, schließlich „die Unterlage herauskommt", „das Nicht-Gesicht, und sie gehen damit herum". 124

Wenige Seiten weiter im Malte (bei einer der sich auftürmenden Fragen) heißt es 38 : „Ist es möglich, daß man trotz Erfindungen und Fortschritt, trotz Kultur, Religion und Weltweisheit an der Oberfläche des Lebens geblieben ist? Ist es möglich, daß man sogar diese Oberfläche, die doch immerhin etwas gewesen wäre, mit einem unglaublich langweiligen Stoff überzogen h a t . . . " So könnte auch das „Gesicht aus Aussehen", diese Oberfläche, die nichts ist als Aussehen, doch „immerhin etwas" sein, etwas Echtes, und nicht ein Überzug, eine Maske. Den Puppendraht erwähnt mit eigenartiger Innigkeit das Ariel-Gedicht zu Shakespeares Sturm 39 , als Prospero der Zaubermacht entsagt und „wieder Herzog wird. Wie er sich sanft den Draht ins Haupt zieht und sich zu den andern Figuren hängt und künftighin das Spiel um Milde b i t t e t . . . Welcher Epilog vollbrachter Herrschaft. Abtun, bloßes Dastehn mit nichts, als eigner Kraft: ,und das ist wenig'." Worte zarter Zustimmung zu diesem Verzicht auf menschliches Sichüberheben und sich Entwirklichen: Dastehn mit nichts als eigner Kraft — und doch: Puppe am Draht, des Spiels, das an ihr geschehen wird, gewärtig 40 . Auch dieser „Draht" ist auszuhalten, damit an der „Puppe" geschehe, und nicht der Tänzer mit seinem entwirklichenden Scheinkönnen — unverständigt — zu vollbringen versuche. Hier. Ich bin davor. Wenn auch die Lampen ausgehen, wenn mir auch gesagt wird: Nichts mehr —, wenn auch von der Bühne das Leere herkommt mit dem grauen Luftzug, wenn auch von meinen stillen Vorfahren keiner mehr mit mir dasitzt, keine Frau, sogar der Knabe nicht mehr mit dem braunen Schielaug: Ich bleibe dennoch. Es gibt immer Zuschaun. Wenn auch nichts mehr geschieht auf der Bühne, in der Immer-Gegebenheit des Herzens — wenn also der Tänzer nicht mehr da ist, nur irgendwo noch diese Puppe herumliegt — es gibt immer Zuschaun. Etwas geschieht immer, was 125

das Zuschaun lohnt. Auch wenn die Lampen ausgehn — wenn nach den hellen Aufschwüngen in den Abstürzen es völlig dunkel geworden ist — wenn mir auch gesagt wird: Nichts mehr — wenn ich nicht nur selbst durch dieses „Dunkelwerden" völlig überzeugt bin, daß „nichts mehr" kommt, sondern es mir auch gesagt wird, von Freunden bestätigt wird, daß, so wie es um mich bestellt ist, auf dieser „Bühne" kein Vorgang mehr sein wird 41 , ich bleibe dennoch. — Es ist bezeichnend, daß erst diese Bestätigung von dritter Seite dem Eindruck Raum gibt, daß „von der Bühne das Leere herkommt mit dem grauen Luftzug", dieses ergreifende Bild hahler seelischer Verödung. Diese Verödung des Herzraums hebt alles Verbundensein im Seelischen auf, so sehr, daß auch das Zugehörigkeitsgefühl, das eingeborene Verbundenheitsgefühl zu den Vorfahren aussetzt, so daß diese rückverbundene Lebenssicherung entfällt, so daß auch von den „stillen Vorfahren" keiner mehr mit dasitzt — man erinnere sich, wie ausgeprägt bei Rilke das Ahnengefühl war, und wie viel es ihm für die Sinngebung des Lebens bedeutete; — auch keine Frau ist mehr da; auch wenn „keine Spur von Schicksal zwischen ihnen war" 42 , wenn also die Frau nicht „Mitspielerin" bei dem Vorgang im Herzraum war, sondern nur „Mitzuschauerin", bedeutete ihm ihr Da-Sein eine innige Hütung. Aber auch diese Verbundenheit zu einer befreundeten Frau ist nicht mehr spürbar. Ja, die Erstarrung geht so weit, daß er das früheste, innigste und unvergänglichste Gefühlserleben aus seinen Knabentagen aus dem Empfinden verliert, den „Knaben mit dem braunen Schielaug". Im Malte 43 sind ihm die Worte geweiht: „Lieber, lieber Erik, vielleicht bist du mein einziger Freund gewesen. Denn ich habe nie einen gehabt." Jahre später wird Rilke ihm (Egon von Rilke) eines der Sonette an Orpheus „in memoriam" schreiben. Wenn alles dieses so ist, wenn im Herzraum nichts mehr spürbar ist als die Leere mit dem grauen Luftzug, wenn in 126

der vollen Erstarrung der Seele alles, was je war, wie nicht gewesen ist, wenn er aus Vergangenheiten und Gegenwarten keine Teilnahme irgendwelcher Art mehr wahrzunehmen vermag — ich bleibe dennoch. Es gibt immer Zuschaun. Hab ich nicht recht? Du, der um mich so bitter das Leben schmeckte, meines kostend, Vater, den ersten trüben Aufguß meines Müssens, da ich heranwuchs, immer wieder kostend und, mit dem Nachgeschmack so fremder Zukunft beschäftigt, prüftest mein beschlagnes Aufschaun, — der du, mein Vater, seit du tot bist, oft in meiner Hoffnung innen in mir Angst hast, und Gleichmut, wie ihn Tote haben, Reiche von Gleichmut, aufgibst für mein bißchen Schicksal, hab ich nicht recht?

Die Unterstellung (daß es immer Zuschaun gibt) ist so widersinnig, so aller Wahrscheinlichkeit widersprechend, daß er selbst ihren Sinn erst rechtfertigen muß. Auch der Vater muß, bis zum Heranwehen der grauen Leere, an ihm, dem Heranwachsenden, gelitten haben, als der Sohn in seinem „ersten trüben Müssen" sich ihm entfremdete zu der fremden, dem Vater unverständlichen Zukunft; und das „beschlagene" Aufschaun des Sohnes konnte (in seiner Undurchsichtigkeit) dem Vater nichts mitteilen; und trotzdem gab es — damals •— immer Zuschaun, im Herzraum des Vaters und in dem des Sohnes; da war des Vaters Angst um des Sohnes Zukunft wirkend und ging über von einem Herzraum in den andern; — so sehr, daß nun der Vater tot ist, seine Angst noch weiterlebt innen in des Sohnes Hoffnung. Das Innensein des Toten im erinnernden Herzen ist eine alte Vorstellung Rilkes. Im Requiem auf eine Freundin heißt es: „Doch hilf mir so, daß es dich nicht zerstreut, wie mir das Fernste manchmal hilft: in mir." 44 So gewaltig viel Handlung ist in diesem Herzraum, auch wenn nichts zu geschehen scheint, daß er, der Tote, „Reiche von Gleichmut" aufgibt, um innen in ihm — als Angst in der Hoffnung — dem Lebenden hilfreich zu sein. 127

Und ihr, hob ich nicht recht, die ihr midi liebtet für den kleinen Anfang Liebe zu euch, von dem ich immer abkam, weil mir der Raum in eurem Angesicht, da ich ihn liebte, überging in Weltraum, in dem ihr nicht mehr wart.

War nicht auch Handlung in dem „kleinen Anfang Liebe", um deswillen er wiedergeliebt wurde? in der unheimlichen Wandlung des Gefühls, das erwacht am „Raum eines Angesichts", — jene Gefühlswelle, die aufklingt an einem Wesen und dort die Gegenströmung aufruft; und dieses Wesen konnte die aufrauschende Welle Gefühls doch nicht fassen, weil es die Geliebte, an der es erwacht war, so sehr überstieg, daß der „Raum in ihrem Angesicht" überging „in Weltraum", in dem sie nicht mehr war. Eine andere Version für den Gehalt der vorhergehenden Worte: „Treten Liebende nicht immerfort an Ränder eins im andern." — „O wie entgeht dann der Trinkende seltsam der Handlung", heißt es in der zweiten Elegie.45 In der dritten Elegie ist alles hierzu Sagbare vorweggenommen —; „dies kam dir, Mädchen, zuvor." 46 — (Hab ich nicht recht? Es gibt immer Zuschaun.) . . . Wenn mir zumut ist, zu warten vor der Puppenbühne, nein, so völlig hinzuschaun, daß um mein Schauen am Ende aufzuwiegen, dort als Spieler ein Engel hinmuß, der die Bälge hochreißt. Engel und Puppe.

(Hab ich nicht recht), wenn mir zumut ist, zu warten?, wenn auch der Herzraum nichts birgt — könnte nicht, trotzdem, wenn einer nur völlig gesammelt wäre — so völlig hinschaute —, etwas Ungeheueres geschehen? Jahre zuvor hat dieses völlige Gesammeltsein einmal ausführliche, gültige Wortgestalt gewonnen.47 „Vielleicht war dieses alles: so zu knien (so wie es alles ist, was wir erfuhren): zu knien: daß man die eigenen Konturen, die auswärtswollenden, ganz angespannt im Herzen hält, wie Pferde in der Hand. Daß, wenn ein Ungeheueres geschähe, das nicht versprochen ist und nieverbrieft, wir hoffen könnten, daß es 128

uns nicht sähe und näher käme, ganz in unsre Nähe, mit sich beschäftigt und in sich vertieft." Das Ungeheure, für dessen vage Möglichkeit das Völlig-gesammeltsein hier die Voraussetzung schafft, ist in der Elegie in einen kausal herbeizwingenden Zusammenhang gebracht: „daß um mein Schauen am Ende aufzuwiegen ein Engel hinmuß, der die Bälge hochreißt." (Das „am Ende" hat außer dem zeitbestimmenden einen physikalisch-dynamischen Klang.) Das Hinmüssen des Engels ist ein Ungeheueres, das nur einzig als Antwort auf das Völlig-hinschauen, diese äußerste Sammlung würde erfolgen können. Es sei (noch einmal) an die verschwiegene UmschlagSchilderung im Puppenaufsatz erinnert* 8 , „jenes Hohle im Gefühl, jene Herzpause, in der einer verginge, wenn ihn dann nicht die ganze sanft weitergehende Natur, wie ein Lebloses, über Abgründe hinüberhübe." Das „Hochreißen der Bälge" durch den Engel ist — nur in die ungeduldige Geste der Verzweiflung übersetzt — das gleiche — was die Natur in sanftem Weltergehen dem, der ihr nicht widerstrebt, gewährt; daß an dem Willenlos-Gewillten, über ihn hinüber, geschieht. Engel und Puppe:

dann ist endlich Schauspiel.

zusammen, was wir immerfort entsteht

aus unsern

Jahreszeiten

Wandeins. Über uns hinüber

Dann

kommt

entzwein, indem wir da sind. Dann spielt

erst der Umkreis dann der

des

ganzen

Engel.

Das ist die Antwort zu den Eingangsversen der Elegie. Ein Ungeheures muß geschehen, damit an Einem geschieht, was er von sich aus — aus seinem Nicht-Verständigtsein, aus seinem Uneinigsein — zu tun und zu erleben nicht vermag; einig zu werden mit den „Jahreszeiten", mit dem rhythmischen Ablauf des Lebendigen, gelingt Einem nur, wenn der „Engel" „über ihn hinüber spielt", damit er, der Mensch, in seinem überheblichen Eifern und Esbesserwissenwollen, nicht alles verdirbt („wie geht es zu, daß ich alles verderbe", heißt es

9

129

in einem Brief an L o u ) d a ß nicht das Halbundhalbe geschieht, sondern der „Umkreis des ganzen Wandeins", damit die „unzähligen Reichtümer, die uns zugedacht sind", sich verwirklichen können. Am 15. Juni 1914 schreibt Rilke an eine Freundin: „Möge mir Gott einen Platz Einweisen und mir die Kraft verleihen, daß ich dort verweile, ohne mich von der Stelle zu bewegen, wie ein Baum, und ohne nach anderem zu verlangen, als was aus der Erde kommt und was die schuldlosen Jahreszeiten mir gewähren nach der Milde und dem Zorn des Himmels! Nichts anderes, nichts, was ebensogut auch nicht hätte geschehen können." 60 Nie ist eine andere Klage von Rilke geklagt worden, aber nie zuvor hat sie sich in diese unmenschliche Gewalt verdichtet wie hier, wo ein Engel hin muß, damit er ihn hochrisse, Balg, der man ist, und über ihn hinüber — ihn in einen w i r k l i c h e n , nicht in einem gewollten Vorgang (der auch ebensogut nicht hätte kommen können), stellend — spiele. Damit endlich in des Menschen Leben Wirklichkeit werde und nicht Vorwand. Engel und Puppe gehört — wie die Engelanrufung der ersten und zweiten Elegie — zu den beschworenen Unmöglichkeiten; nur hat dort die menschliche Hilfsbedürftigkeit zur Engelsehnsucht verführt. Engel und Puppe ist Ausdruck jener Verzweiflung, die eine äußerste Unmöglichkeit beschwört, damit endlich am Menschen geschehe, WEIS der Mensch selbst, alleine, ohne das Eingreifen einer übermenschlichen Macht, nicht vermag. — Am Engel — der nicht kommt! — wird die volle Hoffnungslosigkeit des Menschen bildhaft, seine wesenhafte Unfähigkeit im Raum des Fühlens je wirklich zu werden. Sieh, die Sterbenden, sollten sie nicht vermuten, wie voll Vorwand das alles ist, was wir hier leisten. Alles ist nickt es selbst.

Nur die Sterbenden einzig sind so begnadet, daß sie zu vermuten vermögen, wie all unser Treiben voll Vorwand ist. — 130

Die achte Elegie mag den Schlüssel zu diesen Worten geben: „Denn nah dem Tod sieht man den Tod nicht mehr." 51 Audi die Worte aus der zehnten Elegie gehören hierher „Gleich im Kücken der Planke, gleich dahinter ists w i r k l i c h " ; diese Planke ist noch beklebt „mit Plakaten des,Todlos', jenes bitteren Biers, das den Trinkenden süß schmeckt, wenn sie immer dazu frische Zerstreuungen kaun". Solange sie sich mit Zerstreuungen, mühsam und betriebsam, des Innewerdens ihrer Todesverfallenheit erwehren, bleibt all das Ihrige unwirklich. Gleich dahinter ists w i r k l i c h (von Rilke unterstrichen). Das ist vorweggenommen (in der vierten Elegie) mit den Worten, daß die Sterbenden vielleicht vermuten, wie voll Vorwand alles ist, was wir hier leisten. „Alles ist nicht es selbst." Alles ist nicht wirklich. Der Unwirklichkeit alles hier Geschehenden gilt auch das Erstaunen des toten Knaben in dem Requiem. „Denn daß wir alle so beisammensaßen, das hab ich nie geglaubt . . . Ihr spracht, ihr lachtet, dennoch war ein jeder im Sprechen nicht und nicht im Lachen. Nein. So wie ihr alle schwanktet, schwankte weder die Zuckerdose noch das Glas voll Wein." Als Gegensatz zu dieser schwankenden Unwirklichkeit erinnert er: „Der Apfel lag. Wie gut das manchmal war, den festen vollen Apfel anzufassen, den starken Tisch, die stillen Frühstückstassen, die guten, wie beruhigten sie das Jahr." 63 Hier sind es — im Gegensatz zum Menschen — die Dinge, die verständigt sind so sehr, daß sie „das Jahr" „beruhigen". Nur den Toten und den Sterbenden ist erst ein Vermuten um das Wirkliche vergönnt. Schon früher hat Rilke in einem Gedicht den Tod und eine Sterbende (oder Gestorbene) in den Zusammenhang mit der „Bühne" (damals der „Bühne des Lebens" schlechthin) gestellt.61 „Noch ist die Welt voll Rollen, die wir spielen. Solang wir sorgen, ob wir auch gefielen, spielt auch der Tod, obwohl er nicht gefällt. Doch als du gingst, da brach in diese 9*

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Bühne ein Streifen Wirklichkeit durch jenen Spalt, durch den du hingingst: Grün wirklicher Grüne, wirklicher

Sonnen-

schein, wirklicher Wald. Wir spielen weiter. Bang und schwer Erlerntes h e r s a g e n d . . H i e r ist es der Fremdtod, der einen Streifen Wirklichkeit in das Menschendasein bringt, in das Lebendsein, w i e der Mensch es sich mit Vorwänden und Rollen verstellt und verbirgt. Nur der Tod ist die „absolute Situation" 35 , die unausweichbar den Menschen mit dem Wirklichen so in Berührimg bringt, daß er nicht mehr und in nichts mehr ausweichen kann, daß das sich ins Unwirkliche Entziehen ihm nicht mehr gelingt. In

solcher Absolutheit

der

nicht mehr

ausweichbaren

Situation ist der Engel, der die Bälge hochreißt und über uns hinüber uns spielt, die volle Äquivalenz zu dem Tod als erlebtem Erleidnis des Menschen, das an ihm, dem Willenlosen (oder Widerstrebenden) über ihn hinüber geschieht. Dann endlich entfällt der Vorwand, und was geschieht ist „es selbst". Engel und Puppe ist der gewaltige, wenn auch irreale Versuch, diesem Stück Mensch das Wirkliche wirklich beizubringen. (Mein erinnere sich der Worte am Anfang des Aufsatzes über die „Puppen", die „das Wirkliche, w o es ihnen durchaus sollte beigebracht werden, verwöhnt an sich verschmieren." 68) 0 Stunden in der Kindheit, da hinter den Figuren mehr als nur Vergangnes war und vor uns nicht die Zukunft.

Wir wuchsen

freilich und wir drängten manchmal, bald groß zu werden, denen halb zulieb, die andres nicht mehr hatten, als das Großsein. Immer, wenn Rilke um Wirklichkeit ringt, liegt es ihm nahe, die Kindheit anzurufen als jenen Zustand des Menschen, der mit dem Vorwändigen menschlicher Haltung noch nicht belastet ist. Ein paarmal versucht er den Gegensatz vom Kind zum Erwachsenen zu verdeutlichen. Als Malte feststellt, daß er nie ein rechter Leser war, heißt es 67 : „In der Kindheit kam mir das Lesen vor w i e ein 132

Beruf, den man auf sich nehmen würde, später einmal, wenn alle die Berufe kamen, einer nach dem andern... Ich verließ mich darauf, daß man es merken würde, wenn das Leben gewissermaßen umschlug und nur noch von außen kam, so wie früher von innen. Ich bildete mir ein, es würde dann deutlich und eindeutig sein und gar nicht mißzuverstehen. Durchaus nicht einfach, im Gegenteil recht anspruchsvoll, verwickelt und schwer meinetwegen, aber immerhin sichtbar. Das eigentümlich Unbegrenzte der Kindheit, das Unverhältnismäßige, das Nie-recht-Absehbare, das würde dann überstanden sein. . . . Es war leicht zu beobachten, daß die Erwachsenen sehr wenig davon beunruhigt wurden; sie gingen herum und urteilten und handelten, und wenn sie je in Schwierigkeiten waren, so lag das an äußeren Verhältnissen." Das Urteilen und das Handeln in äußeren Verhältnissen ist das, was die Zukunft absehbar macht, was sie begrenzt in Vergangenes und Künftiges, verhältnismäßig macht, daß alles nicht mehr es selbst ist, sondern alles nur ein "Bezogenes auf das Gewesene oder das Bevorstehende, das man erhofft oder befürchtet. Für das Urteilen, das alles mit allem in Bezug setzt (nichts als „es selbst" gelten läßt, sondern auf- und entwertet), liegt hinter allem Wahrnehmbaren Vergangenes und Künftiges. — In der Kindheit — wenigstens „in Stunden in der Kindheit" — scheint das anders gewesen zu sein; als sei damals alles — oder doch vieles — „es selbst" gewesen, unbezogen, unbeziehbar und doch erlebt. Im Malte heißt es an einer Stelle, in Zusammenhang mit der gespenstischen Geschichte der Hand, die ihm als Knabe begegnete58: „Ich stellte mir vor, wie man herumgehen würde, voll von Innerem und schweigsam. Ich empfand eine ungestüme Sympathie für die Erwachsenen; ich bewunderte sie und ich nahm mir vor, ihnen zu sagen, daß ich sie bewunderte." — Dies ist ein eigenartiger Vorklang zu dem „sich drängen bald groß zu werden". 133

Und waren doch in unserem Alleingehn mit Dauerndem vergnügt und standen da im Zwischenräume zwischen Welt und Spielzeug, an einer Stelle, die seit Anbeginn gegründet war für einen reinen Vorgang. In dem Fragment „Laß dir, daß Kindheit w a r " 5 " ist von der Kindheit gesagt: „Nicht daß sie hannlos sei; der behübschende Irrtum, der sie verschürzt und berüscht, hat nur vergänglich getäuscht. Nicht ist sie sicherer als w i r . . . Schutzlos ist sie, wie w i r . . . Schutzloser: denn sie erkennt die Verstecke nicht." (cf. „wie voller Vorwand das alles ist".) . . . In der Hütung der Mutter schlägt, im Gefühl des Kindes, die Gefahr in Schutz um. „Das innige Kindsein steht wie die Mitte in ihr, sie aus-fürchtend, furchtlos . . . Aber die Angst! . . . Zugluft zuckt sie herein durch die Fugen . . . Vom Rücken huscht sie es an überm Spielen, das Kind, und zischelt Zwietracht ins Blut — , die raschen Verdachte, es würde immer ein Teil nur später ergreiflich sein, immer irgend ein Stück, fünf Stücke, nicht einmal alle verbindbar, des Daseins —, und alle zerbrechlich." Hier wird deutlich der Werdevorgang des Nicht-Verständigtseins; im Entwachsen heraus aus dem Dumpfen der Kindheit, in Erkennung der Gefahr und Erleben der Angst, die Zwiespalt ins Blut zischelt, die es vom Rücken anhuscht — (daß nie das Ganze, daß immer nur Teile ergreifbar sind) — „und schon spaltet sie an, im Rückgrat, des Willens Gerte, daß sie gegabelt, ein zweifelnder Ast am Judas-Baume der Auswahl wachsend verholze." In gewaltiger Verkürzung ist hier ein Bild verdichtet von der Genese des Halbundhalben menschlichen Verhaltens aus dem Erleiden der Urangst, das des Willens Gerte spaltet, daß sie gegabelt, zweifelnd „verholze am Judesstamme der Auswahl", daß sich des Menschen Wille spalte, im Banne der Angst, im Zweifel der immer möglichen Wahl, die ihn, wesenhaft, zum „Judas" macht, der, aus Zweifel, verrät, (cf. „Denn unsre Seelen leben von Verrat.") 134

Nach dieser Vision von dem Erleben von des Kindes weithinweisenden Erschütterungen in der Zeit seines Heranwachsens, fährt das Fragment fort: „Wie nur besticht sie die Puppe, die gute, das eben zärtliche Spielzeug." Nun folgt ein zarter Seelenklang vom Kind zur Puppe im Spiel, eine andere Umschreibung des Wortlauts aus dem Puppenaufsatz: „Stundenlang, ganze Wochen mochte es uns befriedigen, an diesem stillhaltenden Mannequin die erste flaumige Seide unseres Herzens in Falten zu legen." 60 „O Puppe", heißt es im Fragment weiter, „fernste Figur —, wie die Sterne am Abstand sich zu Welten erziehn, machst du das Kind zum Gestirn. Ist es dem Welt-Raum zu klein: Raum der Gefühle spannt ihr erstaunt zwischen euch, den gesteigerten Raum. Aber auf einmal geschiehts . . . Was? Wann? — Namenlos, Abbruch — Was? — der Verrat... gefüllt mit der Hälfte des Daseins will sie nicht mehr, verleugnet, erkennt nicht." „Sieh, wie die Dinge sich schämen für sie", so schließt das Fragment. Hier ist es die Puppe, die den Verrat begeht, weil sie, durch die Gefühlsströme des Kindes „mit der Hälfte des Daseins" gefüllt ist. Dies „Halbgefülltsein" ist in der vierten Elegie der Puppe wieder abgenommen und dem Menschen, als ihm Eignendes, zurückgegeben. — Aus dem Bereich des „Spielzeugs" scheint die „Puppe" seither weitgehend ausgeschieden. Das Requiem auf den toten Knaben nennt zwar „die Puppe mit nur einem Bein" zusammen mit „Holzpferd" und „Hahn". Die besinnlich erinnernde Betrachtung verweilt aber beim Holzpferd. „Daß man das machen kann: ein Pferd aus Holz in irgendeiner Größe... Warum war das nicht Lüge, wenn man dies .Pferd' nannte? Weil man selbst ein wenig als Pferd sich fühlte, mähnig, sehnig, vierbeinig wurde... Aber war man nicht ein wenig Holz zugleich um seinetwillen und wurde hart im Stillen..." — Im Puppenaufsatz ist die Puppe, die keine „Seele" hat, in ausdrücklichen Gegensatz zu dem (beseelten) Spielzeug gesetzt: „Große mutige Seele des Schaukelpferds . . . überzeugte Seele der Trambahn, die in uns 135

fast überhand nehmen konnte, wenn wir nur mit einigem Glauben an unsere Wagennatur in der Stube herumfuhren. Seelen, Ihr alle, der einsamen Spiele und Abenteuer." — Nach der Besinnlichkeit über das Holzpferd, fährt das Requiem — ohne Ubergang — fort: „Jetzt mein ich fast, wir haben stets getauscht. Sah ich den Bach, wie hab ich da gerauscht, rauschte der Bach, so bin ich hingesprungen. Wo ich ein Klingen s a h , hab ich geklungen, und wo es klang, war ich davon der Grund." Ist nicht hier — genau hier die Stelle für den „reinen Vorgang" „im Zwischenräume zwischen Welt und Spielzeug"? in der Vertauschbarkeit 61 von Objekt und Subjekt, von Wesen und Wirkung, Tun und Geschehen, ja, Vertauschbarkeit sogar der Sinnzonen („wo ich ein K l i n g e n s a h , hab ich geklungen") und alles das um „einigen Glauben an unsere SoseinsNatur" („Wagennatur" der Trambahn); Einswerdimg auf dem Weg der Identifikation, die in diesem Vorgang den Bezug zwischen Subjekt und Objekt aufhebt, vom Kinde erlebt am Spielzeug und angewandt an die Welt — oder erlebt sin der Welt, wodurch das Spielzeug erst für das Kind zum Sinnträger wird, „Seele der einsamen Spiele und Abenteuer"? In diesem Vorgang, der ein „Es-selbst-Sein" ergibt, entfällt Vergangenheit und Zukunft; Subjekt und Objekt, eins geworden, stehen wahrhaft im „Offenen". — Dieses kindhafte einDing-sein-können hebt jede mögliche Bezogenheit zu Dingen und Menschen auf und wird so zu völligem „Alleingehen". Das identifizierende Sich-Vertauschen-können ist, solange der Vorgang währt, der Wirklichkeit des Zeitlichen völlig entrückt in ein zeitloses, in die Zeit wie hineinprojiziertes „Dauern". Hier führt eine tief unterirdische Verbindung zu Narziß, der sich mit sich selbst identifiziert („er liebte, was ihm ausging wieder ein") und darin zur Selbstaufhebung kommt.62 Hier ist in fernen Anklängen die Gleichrichtung der „Stunden in der Kindheit" mit des Engels Wesenhaftigkeit vernehmbar: 136

jene Spiegel, die die eigene Schönheit wiederschöpfen zurück in das eigene Antlitz. Wer zeigt ein Kind, so wie es steht? und gibt das Maß des Abstands

Wer stellt es ins

ihm in die

Gestirn

Hand?

Wer stellt das Kind ins Gestirn? An der Puppe gelang es nicht, daß das Kind aus dem Spiel herausreifte ins Wirkliche, „wie die Sterne einander zu Welten erziehen." — Hier klingt die Grundfrage auf von Rilkes Werk und Leben: wer stellt das Kind ins Gestirn — wie wird der Mensch aus dem Chaos seiner So-Beschaflenheit der Wirklichkeit fähig, verständigt mit den Gezeiten des Lebens, mit Leben und Welt, in Abstand und Nahesein, zwischen Schwerkraft und Leichtsein, so wie die Sternwelten im Gestirn. Wie ist des, was dem Kind in seinem Alleingehn ahnungslos zu gelingen scheint, im Menschsein zu verwirklichen, wo das Einswerden zwischen Welt und Spielzeug nicht gilt, wo das „Maß des Abstands" waltet. Wer macht den Kindertod aus grauem Brot, das hart wird, — oder läßt ihn drin im runden Mund so wie den Gröps von einem schönen Apfel? . .. Mörder sind leicht einzusehen. Aber dies: den Tod, den ganzen Tod, noch vor dem Leben so sanft zu enthalten und nicht bös zu sein, ist unbeschreiblich.

Das Kind lebt ohne Tod. Das um den Tod als zugehörigen Teil des Lebendseins Nichtwissen, läßt aber den Menschen seiner menschlichen Eigentlichkeit nicht inne werden, läßt ihn kindhaft bleiben oder sich zu dem Halbundhalben des nicht verständigten Menschseins entwickeln. Das Maß des Abstands (cf. „Diese Beherrschten wußten: so weit sind wirs. Dieses ist unser.") erwächst dem Menschen erst am Innesein des Todes, des Sterbenmüssens nicht als einer Feindschaft, sondern als eines schon seit Anbeginn Enthaltenen im Lebendsein. Wer macht den Kindertod aus grauem Brot, das hart wird — wer macht den Tod so zu etwas, daß er selbst ein 137

Kind nicht schreckte und doch Wirklichkeit gewänne — harmlos, wie zum Spiel, aus grauem Brot geknetet, das hart wird; — wer läßt ihn drin im runden Mund, enthalten im Mund des Kindes, dieser Quelle von des Kindes unerschöpflicher Lust und Erfahrung, das alles, was es um seine Art befragt, in den Mund nimmt, um es wahrzunehmen — um es sich einzuverleiben — es eins zu machen mit sich und sich mit ihm. Wer läßt ihn drin, den Kindertod, im runden Mund, so wie den Gröps von einem schönen Apfel, der — Kerngehäuse, unscheinbar und hart — Sinn und Wesen, weitertragender Keim aller Apfelzukunft ist, für den der „schöne Apfel" nichts ist als die anmutig-vergängliche Hülle von Fruchtfleisch und Schale. Mörder — die Gewaltsamkeiten des Menschlichen, selbst diese äußerste, nur dem Menschen von allem Lebenden mögliche Gestaltung des Todes im Mord vom Menschen am Menschen — sind leicht einzusehen. Solches — selbst ein Mörder — bietet (für des Menschen Aufnehmung) keine gedankliche oder seelische Schwierigkeit. Alles vom Menschen Gestaltete ist „leicht einzusehen". Die achte Elegie wird sagen: „Schon das frühe Kind wenden wir um und zwingens, daß es rückwärts Gestaltung sehe, nicht das Offne, das im Tiergesicht so tief ist. Frei von Tod. Ihn sehen wir allein." 63 So „umgewendet" ist der Mensch, daß ihm alles Ankommende nur als ein Schon-Gestaltetes begreifbar und so — wenn auch ein Nächstes — Feindschaft ist. Dieses läßt ihn auch den Tod nur als ein Gegenüber, als lebensfremdes, lebensfeindliches Geschehen „sehen" — und so „leicht einsehen". — Den Tod aber nicht sehen, weil man ihn als Teil seines Lebendseins enthält, seiner inne sein und den ganzen Tod schon vor dem Leben als ein wachstümlich und organisch Zugehöriges — wie die Frucht das Kerngehäuse — „so sanft enthalten und nicht böse sein" 61 — hier versagt die Beschwörung und das verwirklichende Ausschwingen im Wort, — es bleibt die erschütternde Einsicht in staunendem Verzicht: „ist unbeschreiblich". — Die 138

Ahnung einer fernen