"Die fünffingrige Hand": Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke [Reprint 2013 ed.] 9783110903492, 9783110172652

Die 'Poetik der Sinne' ist für Rilkes Spätwerk zentral und unterstreicht seine Bedeutung für die Lyrik der Mod

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German Pages 341 [344] Year 2002

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EINLEITUNG
1. DIE POETIK DER SINNE BEIM SPÄTEN RILKE
1.1. Die Modernität einer Poetik der Sinne
1.2. Der Aufsatz Ur-Geräusch
1.2.1. Einleitende Bemerkungen
1.2.2. Der Phonograph
1.2.3. Der Sinnenkreis
2. DAS SEHEN
2.1. Untersuchungen zum Sehen in der Dichtung Rilkes
2.2. Die Umwertung des Sehens im Übergang zum Spätwerk
2.2.1. Die Erschütterung des Konzepts des ‚Sehens‘ in der Krisenzeit
2.2.2. Die Spanische Trilogie
2.3. Rilke und Cezanne - Die Kontur, die es nicht gibt
2.4. Das Schauen und der Blick im späten Werk
2.4.1. Der ‚abschiedliche‘ Blick
2.4.2. Das Motiv des Sternenfalls
2.5. Zusammenfassung
3. DER TASTSINN
3.1. Der Tastsinn in der erkenntnistheoretischen Tradition
3.2. Die haptische Geste des Greifens
3.3. Die Berührung
3.4. Körpergefühl und Kinästhesie
3.4.1. Das Körpergefühl im Spätwerk
3.4.2. Körpergefühl und Konstruktion im Raum - Das Gedicht Schaukel des Herzens
4. DER GERUCH
4.1. Zum Geruch in Kulturgeschichte, ästhetischer Tradition und Literatur der Moderne
4.1.1. Der Geruch zwischen Stigmatisierung und Stilisierung
4.1.2. Zum Geruch in der Literatur
4.2. Rilkes Stellung innerhalb der literarischen Aufwertung des Geruchs
4.3. Die Undeutbarkeit des Geruchs
4.3.1. Die Provokation des Geruchs
4.3.2. Risse in der ‚gedeuteten Welt‘ - Die Schulin-Episode aus dem Malte
4.3.3. Der Hund und der Geruch - Das Sonett I 16
4.4. Der Stellenwert des Geruchs in Rilkes Dichtung
5. DER GESCHMACK
5.1. Der Geschmack zwischen Sinn und Begriff
5.2. Rilkes Rekurs auf den Geschmack im Zuge der Zivilisations- und Religionskritik
5.3. Der Geschmack und das ‚Hiesige‘ - Das Sonett I 13
6. DAS HÖREN
6.1. Untersuchungen zum Hören in der Dichtung Rilkes
6.2. Die Musikauffassung im Übergang zum Spätwerk
6.2.1. Die Maske der Musik
6.2.2. Die ‚Rückseite‘ der Musik
6.3. Das Gehör im späten Werk
6.3.1. Das Verhältnis von Hören und Stille
6.3.2. Das Geräusch und das Gehör
6.4. Schwingung und Gong
6.5. Zusammenfassung
7. DIE KONTUR DES SPHINX - DIE ZEHNTE ELEGIE
LITERATURVERZEICHNIS
ANHANG
Werksigelverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Brief an Marie und Antoinette Windischgraetz vom 15.7.1924
Werkregister
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"Die fünffingrige Hand": Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke [Reprint 2013 ed.]
 9783110903492, 9783110172652

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Silke Pasewalck »Die funffingrige Hand«

Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte Begründet als

Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker von

Bernhard Ten Brink und Wilhelm Scherer

Herausgegeben von

Ernst Osterkamp und Werner Röcke

21 (255)

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

»Die fünffingrige Hand« Die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke

Silke Pasewalck

W DE G Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002

® Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einheitsaufhahme Pasewalck, Silke: „Die füinffingrige Hand" : die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke / von Silke Pasewalck. - Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte ; 21 = (255)) Zugl.: Berlin, Freie Univ., Diss., 2000 ISBN 3-11-017265-8

ISSN 0946-9419 © Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Sigurd Wendland, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

Dieter und meinen Eltern

Danksagung Herzlich danken möchte ich vor allem meiner Doktormutter Prof. Anke Bennholdt-Thomsen, die der Arbeit wesentliche inhaltliche Impulse verliehen und den Entstehungsprozeß kontinuierlich begleitet hat. Gleichfalls danke ich meinem Mann Dieter Neidünger für sein großes Engagement in vielen Diskussionen und für seine geistreiche Lektüre. Mein Dank gilt zudem Prof. Klaus Laermann (für seine treffenden Anmerkungen), András Horváth (für seine gleichermaßen scharfen wie sensiblen Gedanken), Prof. Hella Tiedemann (für den Einblick in die französische Lyrik der Moderne), Dr. Iris Blochel (für ihren kunsthistorischen Sachverstand), Wiebke Amthor, Dr. Fabian Störmer, Dr. Anja Hallacker, Prof. Gerhard Bauer, Uwe Hatscher, Florian Hampel, Ulrich Polednitschek-Veit, Rainer Marx, Dr. Hania Siebenpfeiffer und allen (nicht eigens genannten) guten Freunden, die mich in vielerlei Hinsicht unterstützten. Die Arbeit wäre ohne die Gewährung eines Stipendiums der Nachwuchsförderung des Landes Berlin nicht zustande gekommen.

Inhaltsverzeichnis EINLEITUNG

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1. DIE ΡΟΕΉΚ DER SINNE BEIM SPÄTEN RILKE 1.1. Die Modernität einer Poetik der Sinne 1.2. Der Aufsatz Ur-Geräusch

6 6 9

1.2.1. Einleitende Bemerkungen 1.2.2. Der Phonograph 1.2.3. Der Sinnenkreis

2. DAS SEHEN 2.1. Untersuchungen zum Sehen in der Dichtung Rilkes 2.2. Die Umwertung des Sehens im Übergang zum Spätwerk 2.2.1. Die Erschütterung des Konzepts des .Sehens' in der Krisenzeit

2.2.2. Die Spanische Trilogie

2.3. Rilke und Cézanne - Die Kontur, die es nicht gibt 2.4. Das Schauen und der Blick im späten Werk 2.4.1. Der .abschiedliche' Blick 2.4.2. Das Motiv des Sternenfalls

2.5. Zusammenfassung 3. DER TASTSINN 3.1. Der Tastsinn in der erkenntnistheoretischen Tradition 3.2. Die haptische Geste des Greifens 3.3. Die Berührung 3.4. Körpergefühl und Kinästhesie 3.4.1. Das Körpergefühl im Spätwerk 3.4.2. Körpergefühl und Konstruktion im Raum -

Das Gedicht Schaukel des Hertens

9 10 17

34 34 48 48

57

68 81 81 94

102 103 103 110 116 134 134

139

4. DER GERUCH 4.1. Zum Geruch in Kulturgeschichte, ästhetischer Tradition und Literatur der Moderne

156

4.1.1. Der Geruch zwischen Stigmatisierung und Stilisierung 4.1.2. Zum Geruch in der Literatur

156 161

156

χ 4.2. Rilkes Stellung innerhalb der literarischen Aufwertung des Geruchs 4.3. Die Undeutbarkeit des Geruchs 4.3.1. Die Provokation des Geruchs 4.3.2. Risse in der .gedeuteten Welt' — Die Schulin-Episode aus dem Malte 4.3.3. Der Hund und der Geruch - Das Sonetti 16 4.4. Der Stellenwert des Geruchs in Rilkes Dichtung

166 171 171 173 180 191

5. D E R GESCHMACK 5.1. Der Geschmack zwischen Sinn und Begriff 5.2. Rilkes Rekurs auf den Geschmack im Zuge der Ziviüsations- und Religionskritik 5.3. Der Geschmack und das .Hiesige' — Das Sonetti 13

201 209

6. DAS H Ö R E N 6.1. Untersuchungen zum Hören in der Dichtung Rilkes 6.2. Die Musikauffassung im Übergang zum Spätwerk 6.2.1. Die Maske der Musik 6.2.2. Die .Rückseite' der Musik 6.3. Das Gehör im späten Werk 6.3.1. Das Verhältnis von Hören und Stille 6.3.2. Das Geräusch und das Gehör 6.3.2.1. Das Spektrum der Geräusche 6.3.2.2. Die Fontäne und das Sägewerk 6.3.2.3. Die Taminaschlucht 6.4. Schwingung und Gong 6.5. Zusammenfassung

221 221 226 226 241 252 252 255 255 259 266 277 286

7.

288

D I E K O N T U R DES SPHINX - D I E ZEHNTE

ELEGIE

196 196

LITERATURVERZEICHNIS

298

ANHANG Werksigelverzeichnis Abbildungsverzeichnis Brief an Marie und Antoinette Windischgraetz vom 15.7.1924 Werkregister

317 319 320 321 327

Einleitung Rainer Maria Rilke prägt im Aufsatz XJr-Geräuscfr aus dem Jahr 1919 das Bild der ,fünffingrigen Hand der Sinne' und fordert vom Künsder, er müsse alle Sinne ausbilden und entwickeln. Dieser Forderung liegt eine poetologische Reflexion zugrunde, die — so die These — das Kernstück einer Poetik der Sinne bildet, deren Relevanz für das Verständnis des Spätwerks die vorliegende Arbeit ebenso aufzeigen möchte wie deren Modernität. Die Studie untersucht erstmals die spezifische Bedeutung der Sinne und deren poetische Konfiguration in Rilkes Spätwerk. Dabei wurde ganz bewußt auf ein wahrnehmungstheoretisches Modell als Grundlage verzichtet, da dieses die Eigenart und nicht zuletzt die Provokation des Rilkeschen Ansatzes verstellt hätte. Vielmehr erschließt die textanalytisch und dichtungstheoretisch angelegte Arbeit aus der poetologischen Argumentation ein Konzept, das im Spätwerk nicht nur nachgewiesen werden kann, sondern für die dichterische Praxis zentral ist. Einerseits läßt sich die Poetik der Sinne in den Zeitkontext einordnen, andererseits erklärt sie sich in weiten Teilen nur aus Rilkes Wirklichkeitsund Dichtungsbegriff. Somit richtet sich der Fokus auf eine Explikation aus Rilkes Werk heraus und nicht vorrangig auf den Sinnesdiskurs zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts. Gleichwohl werden die Texte nicht isoliert verhandelt, sondern mit Rücksicht auf parallele Anstrengungen in den Künsten profiliert. Die Rilke-Forschung hat sich bisher vorrangig der Bedeutung des Sehens gewidmet, einem Sinn, dem im mittleren Werk zweifellos die zentrale Stellung zukommt. Im Übergang zum Spätwerk verändert sich indes das Wahrnehmungskonzept nachhaltig. Diesbezüglich wird in jüngerer Zeit häufig ein Wechsel des Leitsinns vom Sehen zum Hören geltend gemacht. Die These der vorliegenden Arbeit modifiziert diesen neueren Forschungsansatz; danach wird dem Wahrnehmungskonzept des späten Rilke lediglich gerecht, wer die Beteiligung sämtlicher Sinne berücksichtigt. Dem Sehen tritt nicht nur das Hören zur Seite, auch die anderen 1

Rilkes Werke werden nach dem der Arbeit angefugten Sigelverzeichnis zitiert. Werktitel und Schlüsselbegriffe sind grundsätzlich kursiv gesetzt. Darüber hinaus dient die Kursive der Hervorhebung.

2

Einleitung

sinnlichen Modi, das Fühlen, Riechen und Schmecken, erlangen tendenziell gleichwertige Bedeutung. Diese These scheint synästhetische Konzepte auf den Plan zu rufen, die im Zeitkontext insbesondere aus dem Symbolismus heraus entwickelt wurden. Jedoch, so hat die Untersuchung ergeben, liegen Rilkes Poetik der Sinne keineswegs, wie zuweilen behauptet, synästhetische Überlegungen zugrunde; das Verhältnis der Sinne muß vielmehr als Konfiguration gedacht werden. Diese Konfiguration der Sinne und die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke entwickle und erweise ich in drei Schritten: Erstens in der Analyse der poetologischen Reflexionen, zweitens der Untersuchung der Bedeutung der einzelnen Sinne und drittens in einer exemplarischen Interpretation, die das Potential der Poetik der Sinne aufzeigt. Das 1. Kapitel bildet den Auftakt und Ausgangspunkt, wobei der Aufsatz Ur-Geräusch im Kontext der späten poetologischen Reflexionen programmatisch gelesen wird. Dabei zeigt sich, daß Rilkes Sinnespoetik weder der in der abendländischen Tradition von Ästhetik und Dichtungstheorie verankerten Hierarchie der Sinne folgt noch synästhetisch fundiert ist. Vielmehr halten alle fünf Sinne im Zuge eines ihnen auferlegten ,Gebietsgewinns' auf eine Grenze des sinnlich Erfahrbaren zu, und zwar vermittels eines doppelten Vorgangs: der Erweiterung der einzelnen ,Sinngebiete' und der Übersetzung zwischen den Sinnen. Diesem zentralen Gedanken trägt die Arbeit in Form einer dynamischen Konzeption des Hauptteils Rechnung. Dieser untersucht in den Kapiteln 2 bis 6 jeden Sinn einzeln sowie in bezug auf die anderen Sinne und folgt dabei dem nicht-synästhetischen Gesamtkonzept der Poetik der Sinne. Denn es gilt, einerseits die Sinne zu unterteilen, andererseits ihre über sich hinausweisenden Möglichkeiten aufzuzeigen. Die Abfolge der Kapitel des Hauptteils bildet hierbei keine Hierarchie der Sinne ab, wohl aber bauen die Untersuchungen zu den Sinnen aufeinander auf.2 Der Aufbau sei kurz erläutert. Es liegt nahe, den Hauptteil mit dem Kapitel zum Sehen zu eröffnen, denn dieser Sinn ist zum einen insbesondere im mittleren Werk leitend, zum anderen erfährt er im Übergang zum Spätwerk eine radikale Umwertung.1 Umwertung heißt allerdings nicht Abwertung. Denn, obgleich 2

3

Diese Kapitelabfolge orientiert sich ihrer Anlage nach auch an der Handzeichnung des .Sinnenkreises', die Rilke im Zuge von Ur-Geräusch angefertigt hat. Die Zeichnung entstand gelegentlich eines Besuchs bei Thankmar von Münchhausen auf dem Schönenberg im März 1920. Eine Kopie dieser Zeichnung nach dem Original findet sich auf S. 20 der vorliegenden Arbeit. Der Begriff der Umwertung meint eine radikale Veränderung, die weniger auf ein Ziel als auf eine gedankliche bzw. dichterische Bewegung zuhält, die sich immer erneut zu

Einleitung

3

er in seinen Grundfesten erschüttert wird, bleibt der Sehsinn für das poetische Raumkonzept unabdingbar. Nur unter dieser Prämisse läßt sich das Mißverständnis korrigieren, es handle sich beim ,Weltinnenraum' um einen Innenraum und Rilke spätes Verwandlungstheorem profiliere das Unsichtbare zu Lasten des Sichtbaren. Dagegen zeige ich anhand der Gedichte an die Nacht, zumal der Spanischen Trilogie, den Er/ebnis-Texten und dem Motiv des Meteors, daß die Grenze zwischen .Innen' und ,Außen' in der späten Dichtung keine Gültigkeit mehr besitzt, sondern durch eine Bewegungsstruktur der Perspektive ersetzt wird, die auf eine Permeabilität dieser Grenze zielt. Diese raumpoetische Valenz bildet den maßgeblichen interpretatorischen Zugriff nicht nur für das Sehen, sondern auch für den Tastsinn und das Hören. An das Kapitel zum Sehen schließt sich die Untersuchung des Tastsinns an, zum einen da Rilke beide Sinne als künstlerische par excellence oft im Verbund thematisiert, zum anderen da sie am stärksten von der diagnostizierten Umwertung betroffen sind. Die für das Sehen aufgezeigte Veränderung ist dem Tastsinn als Bewegung und Tendenz selbst eingeschrieben, insofern sich im Spätwerk ein Übergang vom Greifen über die Berührung zum Körper- und Raumgefühl vollzieht. Zugleich ist diesen drei taktilen Aspekten eine Spannung von Faßbarkeit und Unfaßbarkeit eingeschrieben, die für die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung insgesamt konstitutiv ist: die Spannung zwischen Greifen und Loslassen, zwischen Berührung und Abstand sowie zwischen Schwerkraft und Schwerelosigkeit. Geruch und Geschmack werden in Rilkes Dichtung nicht umgewertet wie das Sehen und der Tastsinn, sondern aufgewertet. Denn diese sogenannten .niederen Sinne' haben in der ästhetischen sowie literarischen Tradition weniger eine Vorprägung als vielmehr eine Vernachlässigung und Marginalisierung erfahren. Die raumpoetische Frage bleibt zwar nach wie vor virulent, tritt aber zugunsten der Frage nach der ,Welt' bzw. erweisen hat. Der Begriff nimmt seine Anleihe bei der Philosophie Friedrich Nietzsches. Rilkes späte Dichtung besitzt — vergleichbar der Philosophie Nietzsches den Impetus einer grundsätzlichen Neuorientierung, eines Neuanfangs unter Infragestellung des Gewohnten, der Konventionen. Bezieht sich dieser Impetus bei Rilke auf die Auffassung von Wirklichkeit, so bei Nietzsche auf ethische, ästhetische und erkenntnistheoretische Fragen. Die spezifischen Unterschiede sollen durch die Übernahme des Begriffs nicht nivelliert werden. Vgl. zum Begriff der .Umwertung': Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, in: Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 5, München 1988 2 , S. 9 - 2 4 3 , hier: S. 67 und 126; Zur Genealogie der Moral, in: Ebd., S. 2 4 5 - 4 1 2 , hier: S. 266 und 269; Götzen-Dämmerung, in: Kritische Studienausgabe, a. a. O., Band 6, S. 5 5 - 1 6 1 , hier: S. 57, 89, 102 und 160.

4

Einleitung

,Wirklichkeit' sowie dem Verhältnis von Leben und Tod in den Hintergrund. Geruch und Geschmack werden aufgewertet, da sie in ihrer Intensität und Flüchtigkeit die .gedeutete Welt' irritieren und als Zeuge eines anderen Wirklichkeitsverständnisses bedeutsam werden. Geruch und Geschmack stehen in einer komplementären Beziehung: Der Geruch ist absent und zugleich plötzlich präsent; der Geschmack ist unmittelbar präsent und zugleich flüchtig und in Auflösung begriffen. Damit figuriert der Geruch für einen Bereich der Wirklichkeit, der sich weder sehen oder fühlen noch begreifen läßt, insbesondere den Tod, während der Geschmack komplementär das .Hiesige' — mit einem Leitwort des Spätwerks gesprochen - als Vergängliches betrifft. Das Hören schließt die Reihe der Sinneskapitel ab; ihm kommt innerhalb der Sinneskonfiguration des Spätwerks eine ausgewiesene Stellung zu, da es die Bewegungsstruktur der Perspektive par excellence realisiert: in der Wechselbeziehung zwischen Raum und — seinerseits räumlich gefaßtem — Gehör. Gleichwohl löst das Auditive weder das Visuelle ab noch dominiert es über die anderen Sinne, sondern das Spätwerk kann dank der Neubewertung des Akustischen (und das meint bei Rilke das Spektrum von Musik, Geräusch, Stille und Schwingung) das Äquivalenzverhältnis zwischen Sichtbarem und Hörbarem umsetzen, wie ich unter anderem an der Beschreibung der Taminaschlucht im Brief vom 15.7.1924 zeige. Zentrales Ergebnis der Untersuchungen der Sinne ist, daß die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung beim späten Rilke in engstem Zusammenhang mit seinem poetischen Raumkonzept (dem Verhältnis von .Innen' und ,Außen') und seiner Wirklichkeitsauffassung (dem Verhältnis von Leben und Tod) steht. Entscheidend für diesen Zusammenhang ist Rilkes Gedanke der Kontut* und sein Begriff der sinnesübergreifend gefaßten — Schwingung. In der Auseinandersetzung mit den Bildkünsten, mit Rodin und Cézanne, prägt Rilke für die Grenze, an die sämtliche Sinne stoßen, den Begriff der .Kontur'. In den Bildern Cézannes behauptet sich die Kontur - die keine feste Begrenzungslinie mehr ist - zwischen Faßbarkeit und Unfaßbarkeit, zwischen Vorhandenheit und Nicht-Vorhandenheit. Bei Rilke meint Kontur gewissermaßen die .sichtbar' gemachte Schwingung, die im Spätwerk wichtiger wird als das Ding qua Gestalt. Dieses zentrale gedankliche Moment der Poetik der Sinne wird in nuce an der Sphinx-Passage der Zehnten Elegie manifest: an der Einzeichnung eines signifikanten Geräuschs, des Entlangstreifens der Eule an der 4

Rilke verwendet in Anlehnung ans Französische (le contour) ausschließlich das männliche Genus.

Einleitung

5

Wange des Sphinx, als Kontur in das ,Toten-Gehör'. Die Interpretation der Elegie (7. Kapitel) führt die Ergebnisse der Studie zusammen, indem sie die im ersten Kapitel entwickelten Thesen zu einer Poetik der Sinne an einem abschließenden Beispiel konzentriert behandelt und die Ergebnisse der Kapitel zu den Sinnen bündelt. Wenn ich in der vorliegenden Arbeit die .Bedeutung' der sinnlichen Wahrnehmung erörtere, so geht es mir um eine dichtungstheoretische Fragestellung, recht eigentlich um das Dichtungskonzept des Spätwerks, das an den Grenzen der Erfahrbarkeit laboriert. Das hat zur Folge, daß die einzelnen Sinne im Rahmen dieser Arbeit nicht erschöpfend behandelt werden können; vielmehr werden über detaillierte Analysen einzelner Gedichte und Texte die Tendenzen und Zusammenhänge einer Sinnespoetik aufgezeigt. Das der Arbeit angefügte Werkregister orientiert über diese Bezüge jenseits der Kapitelgrenzen. Jedoch wären vertiefende Studien über die spezifische Bedeutung der Sinne in der komplexen Konfiguration der Poetik der Sinne wünschenswert. Zudem begrenzt die Untersuchung ihren Gegenstand auf das Spätwerk. 5 Neben der Lyrik finden dabei auch die Schriften und Briefe des Autors Berücksichtigung, wobei neben dem Aufsatz Ur-Geräusch auch der Aufzeichnung Erlebnis I und II aus dem Jahre 1913 sowie dem Brief an den polnischen Übersetzer Hulewicz vom 13.11.1925 programmatische Bedeutung zukommen. Die Briefe werden somit als zugehörig zum Werk verstanden und ausdrücklich in die Deutung einbezogen. 6 Die vorliegende Arbeit möchte einen Beitrag zum Verständnis des späten Rilke leisten und die Poetik der Sinne als Kernstück seiner späten Dichtung und Poetik etablieren. Zugleich wird Rilkes Dichtung als Exemplum verstanden, daß und wie in der Dichtung sinnliche Wahrnehmung thematisiert und gestaltet wird. Es steht zu hoffen, daß sich auf der Folie dieses Wahrnehmungskonzepts Rilkes Stellung innerhalb der modernen Lyrik neu gewichten läßt.

5

6

Die Textbasis bezüglich der Lyrik bildet das gesamte Spätwerk, das nach der Datierung der kommentierten Rilke-Ausgabe die lyrische Produktion der sogenannten Krisenjahre (1910-1922) nach Abschluß der Aufzeichnungen des Malte Laurids Bringe (im folgenden abgekürzt mit JAalte'), die Duineser Elegeti, die Sonette an Orpheus sowie die spätesten Gedichte (1922-1926) umfaßt. Der Malte wird des öfteren hinzugezogen, insofern er für das Spätwerk notwendige Voraussetzung ist. Vgl. Rainer Maria Rilke: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, Band 2, hg. von Manfred Engel und Ulrich Fülleborn, Frankfurt a. M./Leipzig 1996. Rilke hat den Briefen in seinem Testament vom 25.10.1925 Werkcharakter zugesprochen. Vgl. Jutta Wermke: Landschaft als ästhetische Konstruktion zur gedeuteten Welt, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1990, S. 252-307, hier: S. 254.

1. Die Poetik der Sinne beim späten Rilke Wer seine Sinne zur reinsten und innigsten Teilnehmung an der Welt erzieht, mas wird der am Ende nicht alles gewesen sein? Brief an Ilse Blumenthal-Weiß vom 25.01.1922

1.1. Die Modernität einer Poetik der Sinne Im Aufsatz Ur-Geräusch aus dem Jahr 1919 prägt Rilke das poetologische Bild von der „fünffingrigen Hand" (VI, 1092) der Sinne, die der Künstler entwickeln müsse. Die Auffassung, daß alle fünf Sinne, auch Tastsinn, Geruch und Geschmack kunstfáhig sind, ist von spezifischer Modernität, denn sie bricht mit einer Hierarchisierung der Sinne, die der abendländischen Tradition von Dichtung und Ästhetik zugrunde lag. Zwar haben die ästhetischen Positionen des späten achtzehnten Jahrhunderts im Zuge der sich etablierenden ästhetischen Diskussion die „unteren Erkenntnisvermögen"1 aufgewertet; bezüglich der einzelnen sinnlichen Vermögen wurde indes eine Rangfolge aufgestellt, die zur Stigmatisierung der sogenannten Nahsinne bzw. der niederen Sinne und zu einer folgenreichen Ausgrenzung derselben aus dem Feld der Ästhetik führen sollte. Schon Alexander Gottlieb Baumgarten, der die 1

Alexander Gottlieb Baumgarten: Theoretische Ästhetik. Die grundlegenden Abschnitte aus der .Aesthetica' (1750/58), übersetzt und hg. von Hans Rudolf Schweizer, Hamburg 1983, § 3, 7/9, 12 ff. Baumgarten führte bekanntlich 1750 den Begriff der Ästhetik in die deutsche Philosophie ein und löste damit eine komplexe Diskussion aus, die bei Mendelssohn, Lessing, Kant, Herder und schließlich Hegel jeweils unterschiedliche Ausprägungen erfahren hat. Legte Kant bei dem Begriff den Fokus auf die Frage nach der Wahrnehmung, so betrifft .Ästhetik' bei Hegel die Frage nach dem .Kunstschönen'. Herder indes versuchte, die Ästhetik auf das Fundament einer Theorie der Sinne zu stellen. Wenn daher in der vorliegenden Arbeit von .Ästhetik' gesprochen wird, so geschieht dies eingedenk der Spannweite des Begriffes, dessen Konnotationen von der sinnlichen Wahrnehmung (der Aristotelischen .Aisthesis' folgend) über die Theorie und Wissenschaft des Schönen bis zur Erkenntnisform reichen. Im folgenden gilt mein Interesse jenen ästhetischen Kategorien des achtzehnten Jahrhunderts, bei denen die Sinne als Ein- bzw. Ausschließungskriterien fungieren.

Die Modernität einer Poetik der Sinne

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Eigengesetzlichkeit und Eigenleistung des Sinnlichen hervorgehoben und im Rahmen einer Wissenschaft der Ästhetik deren Untersuchung gefordert hatte, nahm den Geschmack, den Geruch und den Tastsinn von dieser Forderung aus. Moses Mendelssohn wies 1757 zwar auf die Beziehung zwischen den schönen Künsten und den „Werkzeugen" des Gesichts und des Gehörs hin, fügte aber hinzu: „Für die übrigen Sinne sind uns noch keine schönen Künste bekannt." 2 Die ästhetische Täuschung als Bedingung für die Erfahrung des Schönen setzte die Distanz zum Objekt notwendig voraus; diese Voraussetzung war für die Nahsinne - nach Ansicht der Theoretiker des achtzehnten Jahrhunderts nicht gegeben, und dies sollte erheblich zu deren geringschätziger Behandlung beitragen. So begründete etwa Mendelssohn seine Auffassung im 82. Literaturbrief damit, daß bei den .dunklen Sinnen' des Gefühls, Geschmacks und Geruchs schon die bloße Vorstellung genüge, um eine widrige Empfindung zu wecken. Er schlußfolgert: ,,[D]iese Sinne haben überhaupt nicht den geringsten Antheil an den Werken der schönen Künste." 3 Kants Einteilung der Künste in der Kritik der Urteilskraft nach der „Art des Ausdrucks, dessen sich Menschen im Sprechen bedienen", berücksichtigte ebenfalls nur den Gesichts- und Gehörsinn.4 Wie bestimmend sich diese Beschränkung auf die Entwicklung der ästhetischen Diskussion auswirkte, zeigt in prägnanter Weise die Hegeische Ästhetik. In seiner Definition des Kunstschönen weist Hegel dem Sinnlichen den Status zu, daß es „im Kunstwerk freilich vorhanden sein müsse, aber nur als Oberfläche und Schein des Sinnlichen erscheinen dürfe". 5 Kunstfähig sind nach Hegel entsprechend nur die beiden theoretischen Sinne des Gesichts und Gehörs, während Geruch, Geschmack und Gefühl vom Kunstgenuß ausgeschlossen bleiben. Denn Geruch, Geschmack und Gefühl haben es mit dem Materiellen als solchem und den unmittelbar sinnlichen Qualitäten desselben zu tun; Geruch mit der materiellen Verflüchtigung durch die Luft, Geschmack mit der materiellen 2

Moses Mendelssohn: Über die Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wissenschaften, in: Gesammelte Schriften (1829). Jubiläumsausgabe, Band 1, bearbeitet von Fritz Bamberger, Stuttgart-Bad Cannstatt 1971, S. 4 2 5 ^ 5 2 , hier: S. 438.

3

Moses Mendelssohn: Zweiundachtzigster Literaturbrief, in: Gesammelte Schriften, a. a. O., Band 5.1., bearbeitet von Eva J. Engel, Stuttgart-Bad Cannstatt 1991, S. 1 3 0 - 1 3 3 , hier: S. 131.

4

Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft, in: Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Band 8, Darmstadt 1983, S. 422 (B 205, A 203). So entschied Kant bezüglich der bildenden Künste: ,,[D]er Sinn des Gefühls aber kann keine anschauliche Vorstellung von einer [...] Form verschaffen" (Ebd., S. 425; Β 209 f., A 207).

5

Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik, in: Werke, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Band 13, Frankfurt a. M. 1986, S. 60.

8

Die Poetik der Sinne

Auflösung der Gegenstände, und Gefühl mit Wärme, Kälte, Glätte usf. Aus diesem Grunde können es diese Sinne nicht mit den Gegenständen der Kunst zu tun haben, welche sich in ihrer realen Selbständigkeit erhalten sollen und kein nur sinnliches Verhältnis zulassen. Zwar hatte Herder schon gegen diese Hierarchisierung opponiert; in seiner dezidiert ästhesiologischen Fundierung der Ästhetik, d. h. einer auf die sinnliche Wahrnehmung gegründeten Ästhetik, etabliert er neben den Sinnen des Gesichts und Gehörs auch das Gefühl als ,dritten Hauptsinn'.7 Im Vierten Kritischen Wäldchen begründet er die einzelnen Künste (Malerei, Musik und Plastik) aus den Sinnen als — mit Kant gesprochen — ,unzergliederlichen Begriffen' (Gesicht, Gehör, Gefühl). Diesen, wie Hans-Dietrich Irmscher betont,8 singulären ästhetischen Ansatz führt er dann in der Schrift Plastik mit dem Bestreben fort, den ,Sinn des Gefühls' als spezifischen Sinn für die Bildhauerkunst zu bestimmen. Aber auch bei Herder bleibt die Ausgrenzung von Geschmack und Geruch bestehen, da diese „an der Empfindung des Schönen weniger Anteil" hätten.9 Diese Vernachlässigung der .dunklen' bzw. .niederen Sinne' in der ästhetischen Tradition bildet die Kontrastfolie, vor der sich das Rilkesche Projekt profiliert. Vor deren Hintergrund erweist sich Rilkes Einschätzung als modern, daß es dem Künstler sowie dem Dichter um eine übergreifende Wertschätzung der Sinne zu tun sein müsse. Freilich geht es dabei keineswegs allein um die Vollständigkeit, mit der nun sämtliche fünf Sinne berücksichtigt werden. Vor dieser Prämisse untersucht die Arbeit die spezifische Bedeutung der Sinne für die Dichtung und ihre komplexe Konfiguration in der Dichtung. Mit seiner Poetik der Sinne ist Rilke in die moderne Lyrik einzuordnen; er beansprucht allerdings eine spezifische Position, die im folgenden erschlossen werden soll.

6 7

8 9

Ebd., S. 61. „Drei Hauptsinne gibt's also, mindestens für die Ästhetik drei, ob es gleich gewöhnlich gewesen ist, ihr nur zwei, das Auge und Ohr einzuräumen." Vgl. Johann Gottfried Herder: Viertes Kritisches Wäldchen, in: Sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Band 4, Berlin 1878, S. 54. Im dritten Abschnitt seiner Schrift Plastik polemisiert er gegen Moses Mendelssohn: „Es ist ein angenommener Satz unter den Theoristen der schönen Künste, daß nur die beiden feinem Sinne uns Ideen des Schönen gewähren, daß es also nur für sie, für Auge und Ohr, schöne Künste gebe." Vgl. Johann Gottfried Herder: Plastik, in: Sämtliche Werke, a. a. O., Band 8, S. 1-87, hier: S. 35. Hans-Dietrich Irmscher: Zur Ästhetik des jungen Herder, in: Johann Gottfried Herder 1744-1803, hg. von Gerhard Sauder, Hamburg 1987, S. 43-76. Herder: Viertes Kritisches Wäldchen, a. a. O., S. 53.

Der Aufsatz Ur-Geräusch

1. 2. D e r A u f s a t z

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Ur-Geräusch

1.2.1. Einleitende Bemerkungen Rilke verfaßte den Aufsatz Ur-Geräusch wenige Monate nach der Übersiedlung in die Schweiz im August 1919 in Soglio (Graubünden); kurz darauf wurde er im Inselschiff veröffentlicht.10 Auf seiner Schweizer Vortragsreise im Herbst desselben Jahres (27.10.—28.11.1919) las er neben Gedichten aus der mitderen Schaffensphase und Übersetzungen auch diesen Aufsatz vor. Der öffentliche Vortrag und wiederholte briefliche Rekurse auf den Text belegen den Wert, den Rilke ihm beimaß. So schreibt er etwa am 4.2.1920 an Nanny Wunderly-Volkart: „Ach, wie oft wünscht man sich nicht, ein paar Grade tiefer zu reden, meine Prosa im .Experiment-Vorschlag' liegt tiefer, eine Spur tiefer im Grunde [...]" (Nan I, 145), und im Brief vom 15.7.1924 an Mary und Antoinette Windischgraetz11 knüpft er an die wahrnehmungstheoretischen Überlegungen des Aufsatzes an und entwickelt sie weiter. Der Text besteht aus zwei Teilen. Der erste enthält, angeregt durch die Erfindung des Phonographen, den Vorschlag zu einem technischen Experiment; der zweite expliziert die poetologische Forderung, die „fünffingrige Hand seiner Sinne" (VI, 1092) zu entwickeln. In welchem Verhältnis stehen Experiment-Vorschlag und Poetologie zueinander? Die Forschung hat sich dem Aufsatz zwar verschiedentlich gewidmet, den Zusammenhang zwischen den beiden, nur scheinbar getrennten Teilen jedoch selten verdeutlicht, obgleich er für das Textverständnis unerläßüch ist. Auf den ersten Teil des Aufsatzes beziehen sich die inzwischen legendäre medientheoretische Lesart Friedrich Kitders 12 sowie — in der Nachfolge Kitders — Lektüren, die von der Dekonstruktion zumindest inspiriert sind.13 Auf den zweiten Teil sind Monika Fick in ihrer Studie 10 Abgedruckt wurde der Aufsatz in der Zweimonatsschrift für die Freunde des InselVerlags Das Inselschiff, Erster Jahrgang, erstes Heft im Oktober 1919. 11 Der Brief findet sich bei Ingeborg Schnack: Rilke in Ragaz. 1 9 2 0 - 1 9 2 6 , Ragaz 1970. 12 Friedrich A. Kitder: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1985. Vgl. vom selben Verfasser: Grammophon, Film, Typewriter, Berlin 1986. 13 Vgl. hierzu u. a. Uwe C. Steiner: Die Zeit der Schrift. Die Krise der Schrift und die Vergänglichkeit der Gleichnisse bei Hofmannsthal und Rilke, München 1996, S. 4 0 1 4 1 8 und Fabian Störmer: .Dann wuchs der Weg zu den Augen zu...'. Rilkes Poetik des Erblindens, in: Poetik der Krise. Rilkes Rettung der Dinge in den ,Weltinnenraum', hg. von Hans-Richard Brittnacher, Stefan Porombka und Fabian Störmer, Würzburg 2000, S. 1 5 5 - 1 7 7 , hier: S. 166 ff.

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zum psychophysischen Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende14 sowie In-Ok Paek in ihrer Arbeit zur „Poetik des .neuen' Sehens" 15 eingegangen. Bislang gibt es jedoch keine Studie, die beide Teile des Aufsatzes interpretatorisch verbindet und programmatisch in Hinblick auf Rilkes Spätwerk liest.16 Zwar werden die Überlegungen aus Ur-Geräusch von einigen Forschern, so etwa von Jean-Rudolphe von Salis,17 als poetologisch relevant erachtet, allerdings ohne dies in der späten Lyrik nachzuweisen. Im folgenden lese ich den Aufsatz ausgerichtet auf die darin entwickelte Poetologie, sehe diese allerdings in thematischer Verbindung zum Experiment-Vorschlag. 1.2.2. Der Phonograph Im ersten Teil berichtet Rilke von dem „Einfall" (VI, 1089), die Kranznaht des menschlichen Schädels mit der Technik des Grammophons abzutasten und auf diese Weise ein Geräusch zu erzeugen. In der Physikstunde sei er mit dem unlängst erfundenen Phonographen konfrontiert worden.18 Man baute den Apparat im Unterricht mit einfachsten Mitteln nach und machte dadurch dessen Prinzip der Klangübertragung und -reproduktion sinnfällig: Das Sprechgeräusch gibt seine Energie an einen Stift weiter, der die akustischen Schwingungen auf eine sich drehende Oberfläche

14 Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele. Der psychophysische Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende, Tübingen 1993. Vgl. darin das Kapitel: Organologisches Sehen oder die Verdichtung der Welt zur .Umwelt': Rainer Maria Rilke, S. 184-223, hier: S. 189 und 213. 15 In-Ok Paek: Rilkes Poetik des .neuen' Sehens in den Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge und in den neuen Gedichten, Konstanz 1996. 16 Auszunehmen ist die Dissertation von Margret Nientimp: Die Verwandlung der Sinnenwelt in der Lyrik Rilkes, Marburg 1945. Die Arbeit ist hervorzuheben, da sie den Aufsatz als poetologisches Programm ernst genommen und auf die Dichtung, sowohl die mittlere als auch die späte Lyrik, bezogen hat. Ihre Schlußfolgerungen sind indes problematisch, vor allem ihr Rekurs auf Innerlichkeit. Sie schließt aus dem Zusammenhang von Sinnenkreis und Poetik der .Verwandlung des Sichtbaren ins Unsichtbare', daß es sich in der späten Dichtung um eine „transzendierende Verwandlung ins Unsinnliche" handelt. Ebd., S. 76. 17 Jean Rudolphe von Salis: Rilkes Schweizer Jahre. Ein Beitrag zur Biographie von Rilkes Spätzeit, Frankfurt a. M. 1975, S. 39 f. 18 Der Phonograph wurde 1877 von dem Amerikaner Thomas Alva Edison als Schallspeichergerät zum Patent angemeldet. Er wurde rasch vom Grammophon abgelöst. Während der Phonograph ein Gerät zur Aufzeichnung und Graphisierung von Schall darstellt, macht das Grammophon umgekehrt graphische Zeichen hörbar. Rilkes Erinnerung datiert auf den Anfang der 1880er Jahre, also wenige Jahre nach der Erfindung.

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überträgt. Wird die dadurch entstandene Linie nun durch das Schreibgerät abgetastet, so gewinnt das Geräusch auf einmal ein Eigenleben. Die Faszination bereits des Schülers gilt einem Instrument, das bisher auditiv nicht Wahrnehmbares zu vermitteln vermag; sie betrifft zunächst den Klang als unerhörtes Phänomen, als etwas, was noch nie gehört wurde und nun mittels Technik hörbar wird: „Man stand gewissermaßen einer neuen Stelle der Wirklichkeit gegenüber" (VI, 1087). Die Verselbständigung des zuvor durch die Kinderstimme hervorgebrachten Lauts verdankt sich indes der technischen Übertragung einer graphischen Zeichenfolge in eine Tonfolge; sie ist Effekt einer Übersetzung. Jahre später wird nun nicht mehr der Klang, sondern „jene der Walze eingeritzten Zeichen" (VI, 1087), die den Übertragungsvorgang gewährleisten, werden zum unerwarteten Gegenstand der Erinnerung. Das Interesse verschiebt sich mit der Wiedererinnerung vom Klang auf die „Spur" (VI, 1089): Während seines ersten Pariser Aufenthalts in den Jahren 1902—1903 hatte Rilke sich im Zuge anatomischer Studien einen menschlichen Schädel angeschafft;19 bei dessen Betrachtung war er nun mit einem Male20 auf die Ähnlichkeit zwischen der Kranznaht des Schädels21 und den in die Walze des Phonographen eingeritzten Zeichen aufmerksam geworden. Während die Zeichenfolge auf der Wachsrolle als 19 Die Beschäftigung mit Anatomie wurde schon während Rilkes Florentiner Aufenthalt (April 1898) durch die zeichnerischen Studien Leonardo da Vincis wenn nicht ausgelöst, so doch angeregt: „schon über den Blättern Lionardos" (VI, 1088). Der Besuch der medizinischen Vorlesungen dürfte abermals mit der bildenden Kunst, diesmal mit der Plastik Rodins, in Zusammenhang stehen. Unter den anatomischen Zeichnungen Leonardos finden sich ebenfalls vier Schädelzeichnungen; es ist anzunehmen, daß Rilke die betreffenden Schädelzeichnungen während seines Florentiner Aufenthalts 1889 gesehen hat. 20 Rilke hebt hervor, daß es sich dabei nicht um eine absichtsvolle, sondern u m eine unwillkürliche Betrachtung des Schädels gehandelt habe, die er als „streifenden Blick" (VI, 1088) charakterisiert. Die Aufzeichnung verdankt sich dieser unwillkürlichen Erinnerung, mit Proust zu reden, einer .mémoire involontaire'. 21 Die Kranznaht heißt mit dem medizinischen Fachausdruck .sutura coronalis'. Sie verbindet das Stirnbein mit den beiden Scheitelbeinen, setzt am Jochbein an, verläuft über die gesamte Schädelrundung und schneidet die Pfeilnaht, die .sutura sagittalis'. Wenn Rilke die Kranznaht als „Kronen-Naht" (VI, 1088) bezeichnet, rekurriert er offenbar auf den lateinischen Fachausdruck, der ihm durch die Anatomievorlesungen gewiß geläufig war. Nach Auskunft des Brockhaus von 1892 sprach man in der damaligen Medizin zumeist von der Kranznaht. Daß Rilkes Interesse explizit der Kranznaht gilt, könnte damit erklärt werden, daß diese, so auch auf den Zeichnungen Leonardos, aus der Seitenansicht mit ihrem charakteristischen Verlauf, der über die gesamte Schädelrundung führt, gut erkennbar ist. Denn die Verknöcherung der Nähte setzt gewöhnlich bei der Kranznaht am spätesten ein.

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„graphische Übersetzung" (VI, 1089) eines Klangs zu dechiffrieren ist, haben wir es bei der Schädelnaht nicht mit dem Resultat einer Übertragung zu tun. Rilkes Experiment-Vorschlag unterstellt der Naht eine Übersetzbarkeit. Er ist sich dabei aber bewußt, daß der Stift an einer Spur ansetzen würde, die nie codiert wurde. Die Abwandlung der Versuchsanordnung kennzeichnet er durch den Ausdruck ,täuschen': W i e n u n , w e n n m a n d i e s e n Stift täuschte u n d ihn, w o er z u r ü c k z u l e i t e n hat, ü b e r eine S p u r lenkte, die n i c h t aus der g r a p h i s c h e n U b e r s e t z u n g e i n e s T o n e s s t a m m t e , s o n d e r n ein an sich u n d natürlich B e s t e h e n d e s —, [...] die K r o n e n N a h t w ä r e —: W a s w ü r d e g e s c h e h e n ? E i n T o n m ü ß t e e n t s t e h e n , eine T o n F o l g e , e i n e M u s i k ... (VI, 1 0 8 9 f.)

Das Abtasten der Kranznaht ist im strengen Sinne also keine Dekodierung. Vielmehr faßt Rilke diesen Vorgang als entwerfenden bzw. verwandelnden Akt, der gewissermaßen zwischen Entdeckung und Erfindung oszilliert. Das hierbei entstehende Geräusch wäre folglich neu, unerhört, aber nicht ursprünglich, weil es dieses Geräusch nie gegeben hat. Der Vorschlag hat nicht, wie der von der Verlegerin Katharina Kippenberg gewählte Titel Ur-Geräusch nahelegt,22 die Rekonstruktion eines ursprünglichen bzw. elementaren Geräuschs im Sinn. Bezeichnenderweise hat Rilke in seinem Brief an die Verlegerin vom 15.9.1919 den Titel Experiment vorgeschlagen, der den Akzent auf den erzeugenden, schöpferischen Charakter des Ansinnens bzw. des Einfalls lenkt.23 Wenn er mit seinem Aufsatz sowohl den „Experimentator und Laboranten" als auch den „Romancier" 24 anzusprechen hofft, bekundet Rilke damit dann nicht seine Auffassung, daß der Experiment-Charakter sowohl auf die technische Versuchsanordnung als auch auf die Dichtung zutrifft, der sich explizit der zweite Teil des Aufsatzes widmet? Seinen Einfall kennzeichnet er mit der Vokabel des Sprungs·, „daß mir seither [...] immer wieder der Antrieb aufsteigt, aus dieser damals unvermittelt wahrgenommenen 22 Die Reinschrift ist ohne Titel. Rilke hat nachträglich Bedenken gegenüber der v o n Katharina Kippenberg bestimmten Überschrift zum Ausdruck gebracht. Vgl. die Briefe v o m 19.11.1919 an Gudi Nölke („Hier ist das .Insel-Schiff. D e r Titel UrGeräusch gefällt mir wenig - , aber lesen Sie, was unter ihm steht [...]" Br. 2 II, 38) und v o m 20.11.1919 an Hans Reinhard (Rainer Maria Rilke: Briefwechsel mit den Brüdern Reinhard 1919-1926, Frankfurt a. M. 1988, S. 146). 23 Rilke. Schweizer Vortragsreise 1919, hg. v o n Rätus Luck, Frankfurt am Main 1986, S. 1120: „Ein völlig entstelltes Telegramm hat mich umso ratloser gemacht, als es beantwortet sein wollte; ich vermute, es enthielt Vorschläge zu einer Überschrift für das .Experiment' (bleiben wir nicht vielleicht bei diesem Titel?)". Rilke befürchtete offenbar Mißverständnisse, wenn das Wort ,Ur-Geräusch', seinem Kontext entrissen, den Aufsatz betitelt. 24 Brief an Katharina Kippenberg v o m 17.8.1919 (Br. 2 II, 21).

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Ähnlichkeit den Absprung zu nehmen zu einer ganzen Reihe von unerhörten Versuchen" (VI, 1089). Zweierlei ist an dieser Aussage hervorzuheben: Z u m einen wird das Kranznaht-Experiment unter vergleichbare Versuche subsumiert. Zum anderen ist mit ,Sprung' ein Ausdruck gebraucht, der im zweiten Teil des Textes in poetologischer Absicht — im „Sprung durch die fünf Gärten" (VI, 1092) — wieder aufgegriffen wird. Rilkes Interesse gilt offenbar nicht der Transformation der Schädelnaht allein, sondern grundsätzlich dem Phänomen, daß Sichtbares in Hörbares übersetzt werden könne. Auch innerhalb des Textes nimmt Rilke eine Erweiterung auf „irgendwo vorkommende Linien" (VI, 1090) vor und veranschaulicht dies später in seinem Brief an Dieter Bassermann vom 5. April 1926: Da das Wesen des Grammophons im graphischen Niederschlag von Tönen seinen Ursprung hat, warum sollte es nicht gelingen, Linien und Zeichnungen elementarischer Herkunft, die in der Natur vorkommen, in Klangerscheinungen zu verwandeln? Der so besondere Verlauf der Kronen-Naht, ζ. B., [...] sollte er nicht wirklich eine Art ,Musik' aussenden? Und wäre es nicht ein Unerhörtes [...], die zahllosen Namenszüge der Schöpfung, die im Skelett, im Gestein..., an tausend Stellen dauern, in ihren merkwürdigen Abwandlungen und Wendungen, zu...vertonen? Der Riß im Holz, der Gang eines Insekts: unser Auge ist geübt, sie zu verfolgen und festzustellen. Welches Geschenk an unser Gehör, gelänge es, dieses Zickzack [...] in auditive Ereignisse umzuwandeln! (Br. III, 937 f.)25 Die Korrelation zwischen Technik und Dichtung setzt die dichterische Präzision mit der technischen Leistung gleich: „Es war immer meine Meinung, daß irgendein Gedicht, gerade infolge seiner extremen Natur, plötzlich ganz unmittelbar an technische Präzisionen heranreichen könne [...]" (Br. III, 937). Die Korrespondenz mit Dieter Bassermann, dem Herausgeber der Schallkiste. Illustrierte Zeitschrift für Hausmusik, bezeugt Rilkes Wertschätzung der Technik mit Rücksicht auf die Dichtung. 26 Zwar 25 Der zitierte Brief belegt, daß es Rilke nicht allein um den Schädel ging, sondern vielmehr um die Energie im Ariden, im Versteinerten, im Knochen. 26 In seinem zweiten Brief an Bassermann vom 19.04.1926 unterbreitet Rilke den Vorschlag, die Sprechmaschine für die Lyrikrezeption zu verwenden, um das Gedicht in seiner klanglichen Gestalt zu konservieren. Auf diese vorsichtig vorgeschlagene Liaison zwischen Technik und Dichtung geht Uwe C. Steiners Lektüre, die in eine andere Richtung als die hier vorgeschlagene Lesart weist, ausführlich ein und qualifiziert die Korrespondenz mit Bassermann als „Nachspiel" des Aufsatzes UrGeräusch. Nach Steiners von der Dekonstruktion beeinflußten Lesart manifestiert der Brief v o m 19. April das Motiv des Aufsatzes Ur-Geräusch, nämlich das „Verhältnis von Schrift und Klang, das den abendländischen Phonozentrismus gewissermaßen seiner letzten Höhe zuführt". Es gehe Rilke um die „sich allein in der Auditivität adäquat

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erweist sich Rilke hier w i e in s e i n e m A u f s a t z als durchaus a u f g e s c h l o s s e n g e g e n ü b e r t e c h n i s c h e n Leistungen. 2 7 Z u g l e i c h markiert die K o r r e s p o n d e n z m i t B a s s e r m a n n aber auch die G r e n z e , an der sich e i n p o s i t i v e s T e c h n i k v e r s t ä n d n i s , das d e n A k z e n t auf die H e r v o r b r i n g u n g legt u n d an die Tradition d e s antiken , t e c h n e ' - V e r s t ä n d n i s s e s a n k n ü p f t , v o n der m o d e r n e n t e c h n i s c h e n E n t w i c k l u n g scheidet, die a u f R e p r o d u k t i o n abzielt u n d das s c h ö p f e r i s c h e M o m e n t ausspart. Rilke faßt T e c h n i k durchaus d e m W o r t s i n n n a c h als H a n d w e r k u n d Kunstfertigkeit. 2 8 A u s g e h e n d v o n d i e s e m T e c h n i k v e r s t ä n d n i s schlägt das i m p o e t o l o g i s c h e n T e i l d e s A u f s a t z e s geprägte Bild v o n der , f ü n f f i n g r i g e n H a n d ' e i n e n B o g e n z u m ersten T e i l d e s T e x t e s . D e r gedankliche Zusammenhang zwischen Kranznaht-Experiment u n d dichterischer P r o g r a m m a t i k erschließt innerhalb d e s A u f s a t z e s das Projekt einer Poetik der Sinne. Die Zeichnung, die Rilke zur V e r a n s c h a u l i c h u n g seiner Ü b e r l e g u n g e n anfertigte, 2 9 hält s o w o h l die Apparatur d e s P h o n o g r a p h e n als auch das K r a n z n a h t - E x p e r i m e n t s o w i e das M o d e l l eines ,Sinnenkreises' auf d e m s e l b e n Blatt f e s t - ein Indiz

einstellende Gestalt" eines Gedichts, der das Grammophon zugute komme, insofern es „eine ,sekundäre Oralität' der lauten Lektüre restituiert". Vgl. Uwe C. Steiner: Die Zeit der Schrift, a. a. O., S. 412—415. Rilkes Überlegungen zur Konservierung von Lyrik mittels des Grammophons stimmen nach meiner Einschätzung mit seinen poetologischen Überlegungen im Aufsatz nicht überein. 27 Diese Tendenz geht schon aus seinem Brief an Lou Andreas-Salomé vom 12./13. Mai 1904 hervor, in dem Rilke seine Aufgeschlossenheit gegenüber der Technik sowie der Naturwissenschaft zum Ausdruck bringt. Er führt darin u. a. die folgenden „Lernabsichten" auf: „1. Ich will naturwissenschaftliche und biologische Bücher lesen und Vorlesungen hören, die zum Lesen und Lernen solcher Dinge anregen. (Experimente und Präparate sehen.) 2. Ich will archivarische und historische Arbeit lernen, soweit sie Technik und Handwerk ist." (Lou, 165 f.) Horst Nalewski betont zu Recht, daß Rilke ein sehr guter Schüler in naturwissenschaftlichen Fächern gewesen sei; daß er sogar an ein naturwissenschaftliches Studium gedacht und öfter den Arztberuf in Erwägung gezogen habe. Vgl. KA IV, 1043. Zumeist wird unterschätzt, daß Rilkes poetische Bildlichkeit von physikalischen sowie naturwissenschaftlichen Vorgängen und Gesetzen geprägt ist. Genannt sei hier unter anderem die Bedeutung der kinetischen Energie, der Schwerkraft und der Wurfparabel etwa für die Gedichte Der Ball (I, 639 f.) und Schaukel des Hertens (II, 254 f.). 28 Rilkes Verhältnis zur Technik ist noch nicht erschöpfend untersucht worden. Dabei müßte die Unterscheidung zwischen positivem und negativem Technikverständnis geltend gemacht werden. Zu Rilkes Verhältnis zur Technik vgl. die Untersuchung von Gerhard Glaser: Das Tun ohne Bild. Zur Technikdeutung Heideggers und Rilkes (in der Reihe: Kunsterfahrung und Zeitkritik 5), München 1983. Diese Arbeit ist allerdings stark von Heideggers Philosophie beeinflußt. 29 Siehe Abb. 1 auf S. 20 der vorliegenden Arbeit.

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dafür, daß der Autor hier von einem Zusammenhang ausgeht. Im Übergang zwischen erstem und zweitem Teil des Aufsatzes findet sich nun auch eine überleitende Bemerkung, wenn nämlich das Verfahren der Übersetzung auf andere Sinne ausgeweitet wird: „Welchen Kontur [möchte man; S.P.] nicht gewissermaßen auf diese Weise zu Ende ziehen, um ihn dann, verwandelt, in einem anderen Sinn-Bereich herandringen zu fühlen?" (VI, 1090) Rilke denkt sich dieses Verfahren folglich nicht begrenzt auf die Übersetzung sichtbarer in hörbare Eindrücke und umgekehrt. Zum einen weitet er es an der Schnittstelle von experimentellem zu poetologischem Teil der Schrift ausdrücklich auf die Übersetzung in andere Sinnesbereiche aus. Zum anderen aber versieht er die Bemühung mit einem emphatischen Impetus, wenn hier nicht mehr von der Zeichenfolge bzw. der Spur die Rede ist, sondern von der Kontur, die es „zu Ende [zu] ziehen" (VI, 1090) gelte. Mit dem Wort Kontur wird die spezifische Gestalt der „irgendwo vorkommende[n] Linien" (VI, 1090) bzw. der umrißhaften Einzeichnungen betont. Die Beschäftigung mit der Kontur ist deutlich beeinflußt durch die Plastiken und Zeichnungen Rodins. Aufschlußreich ist der Brief vom 20. Januar 1907 an seine Frau Clara, die sich zu jener Zeit in Ägypten aufgehalten hat. Er vergleicht darin den charakteristischen Flußlauf des Nils, den der Atlas wiedergibt, sowohl mit einer Schädelnaht als auch mit einer Kontur, wie Rodin sie geschaffen hat: [I]ch bewundere den Verlauf dieser Stromlinie, die, ansteigend, wie ein Rodinscher Kontur, eine Fülle abgewandelter Bewegtheit enthält, Ausweichungen und Wendungen wie eine Schädelnaht [...] Zum ersten Mal fühle ich einen Fluß so, so wesenhaft, so bis an den Rand der Personifikation heran wirklich. (Br. 1,154) Tertium comparationis dieser Linien ist ihre Gestalt, ihr Gebildetsein sowie die verhaltene Bewegtheit und Lebendigkeit, von der ihr Verlauf zeugt. Mehr noch die Stromlinie mit ihren vielfältigen Windungen und Verzweigungen wird bedeutsam, insofern in ihr und durch sie das „Ungeschaffene [...]", die Wüste Gestalt anzunehmen vermag, durch sie faßbar und konturiert wird. Aber während ich dem heiligen Wundertäter auf seinem Wege nachgehe, [...] steigt, wie ein Gegenspiel seiner Sichtbarkeit und Sicherheit, die Wüste herauf, ungewiß, ohne Ende und ohne Anfang, wie Ungeschaffenes; [...]. (Br. 1,154f.) Der Flußlauf des Nils erhält seine markante, einprägsame Gestalt vor dem Hintergrund dieser ungestalten Gegenkraft der Wüste. Die Kontur läßt sich begreifen, die Wüste nicht. Doch durch die in die Wüste eingeschriebene Kontur wird sie - tendenziell - begreifbar. Der Nil zeugt in seiner Bewegtheit und Gestalt somit weniger von sich als vielmehr von dem, was ihn umgibt. Die Kontur faßt die Bewegungen des Außen und die innere

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Bewegtheit, die aus dem Bezug zum Raum hervorgeht. Dieser plastische Gedanke ließe sich nun auf den Schädel beziehen. In der Naht sammelt und konzentriert sich nach dieser Auffassung die „verhaltene Energie und Elastizität" (VI, 1088), die Gespanntheit zwischen Elastizität und Festigkeit des Skeletts bzw. des Schädels. Im Aufsatz ist in bezug auf den Schädel das Wechselverhältnis zwischen „Gehäus" (VI, 1088) und „weltische [m] Raum" (VI, 1088) betont, das dessen spezifische Gestalt erst bewirkt und — so läßt sich schlußfolgern — durch die bzw. in der Naht konturiert wird. Im Vergleich mit der Briefstelle von 1907 geht Rilke im Aufsatz Ur-Geräusch aber einen entscheidenden Schritt weiter. Denn dort bringt er die Linie bzw. die Kontur mit der sinnlichen Wahrnehmung in einen konstitutiven Zusammenhang, insofern es ihm nun um die Übersetzung derselben in einen anderen Sinneseindruck zu tun ist. Die Kontur ist erst dann ,voll ausgezogen', wenn sie sich „verwandelt, in einem anderen Sinn-Bereich [...] fühlen" (VI, 1090) läßt. Dadurch wird das Unfaßliche, das, wohin die Hand unserer Sinne nicht reicht, an seinem Rand fühlbar. Die Kontur ,auszuziehen' hieße demnach, mittels der Sinne oder - mit dem poetologischen Bild Rilkes gesprochen - mit der „fünffingrigen Hand seiner Sinne" (VI, 1092) tendenziell in das „Unerfahrbare" (VI, 1091) vorzudringen. Der Kontur kommt Bedeutung zu als Ort der Verwandlung, und zwar in doppelter Hinsicht: Sie ist Ubergang von einem Sinn in den anderen, und sie ist Übergang vom Faßüchen ins Unfaßliche; sie weist über sich selbst hinaus.30 Zentrales Thema des gesamten Aufsatzes 30 Der hier vorgetragenen Einschätzung nach eignet sich Rilkes Aufsatz Ur-Geräusch nicht für Friedrich Kittlers medientheoretische Lesart (Friedrich Kitder: Aufschreibesysteme, a. a. O., S. 321-324). Sein Interesse gilt den Aufschreibesystemen in der Literatur, im Falle Rilkes der Spur. Eine Spur unterliege als Zeichenfolge immer einer Beschränkung, da sich bei einer Medientransposition das ihr zugrundeliegende Rauschen nie vollständig dekodieren läßt; das Rauschen ist ja als das Ungeordnete und Unlesbare definiert. Rilke rege nun mit seinem Vorschlag an zum „Dekodieren auch einer Sutur, der niemand je Codierung unterstellt hat" (S. 323). Kitder interpretiert das Kranznaht-Experiment damit als eine „extremierte Medientransposiüon" (S. 323), die die Natur mit einem unbewußten Programm ausstatte. Das mittels der GrammophonTechnik hörbar gemachte Geräusch versteht Kitder als „das unmögliche Reale am Grund aller Medien: weißes Rauschen, Ur-Geräusch" (S. 323). Es stellt sich allerdings die Frage, ob eine Spur als Abfolge von Zeichen überhaupt in der Lage ist, Ungeordnetes zu archivieren. Zumindest vernachlässigt Kitder, daß in Rilkes Text die Linearität der Zeichenfolge gerade betont wird, aus der nach Vermutung des Berichtenden eine „Ton-Fe&e" (VI, 1090; Hervorhebung S.P.), tendenziell „eine Musik" (VI, 1090) entstehen müsse. Die Schädelnaht wird schon im Brief vom 20.1.1907 als „Fülle abgewandelter Bewegtheit" (Br. I, 154) beschrieben. Das entstehende Geräusch würde sich danach nicht durch Ungeordnetheit auszeichnen, sondern als abgewandelte Geräusch-Folge zu beschreiben sein. Rilkes Auffassung von der Spur bzw. präziser der

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ist die Frage nach der Steigerung des Sensuellen im Gedicht, die angesichts technischer Errungenschaften ihre Brisanz erhält. Die Faszination des Dichters für das Kranznaht-Experiment erklärt sich daraus, daß hierbei ein sinnlicher Eindruck in einen anderen Sinnesbereich übersetzt wird, und zwar in Form eines entwerfenden Akts, der eine „neue [...] Stelle der Wirklichkeit" (VI, 1087) offenbart. Diesen experimentellen, schöpferischen Vorgang reklamiert Rilke im folgenden für die Dichtung.31 In dieser Absicht verlagert sich der Fokus auf die Poetologie. 1.2.3. Der Sinnenkreis Wie der erste beginnt auch der zweite Teil mit einer Erinnerung, von der aus die Überlegungen entfaltet werden. Die Lektüre von „arabischen Gedichten" (VI, 1090) habe ihn, so schreibt Rilke, auf eine übergreifende Wertschätzung der fünf Sinne im Gedicht aufmerksam gemacht. Er verweist hier als Inspirationsquelle auf die orientalische Textsammlung Tausendundeine Ñachí.32 Eine Beschäftigung mit der Sammlung ist ab 1906

Kontur kann aus medientheoretischer Perspektive, wie ich meine, nicht erklärt werden, da sich Rilkes Aufmerksamkeit nicht auf die Spur bzw. Kontur selbst richtet, sondern vielmehr auf das, was sie konturiert und dem sie Gestalt zu geben vermag. Danach ist die Kontur kein bloßer Code, sondern eine Linie, die immer über sich hinausweist. Zugespitzt ließe sich formulieren, daß Kitder das Mißverständnis, das Rilke wohl durch die Titelgebung befürchtete, in gewisser Hinsicht widerfahren ist. Kittler liest den Schädel metonymisch für das Gehirn und subsumiert Rilkes Aufsatz unter vivisektorische Ansinnen um 1900, u. a. Gottfried Benns Novellensammlung Gehirne und Otto Flakes Roman Die Stadt des Hirns. Das Schreiben stünde dabei „exakt an der Stelle oder anstelle jener Hirnvivisektion, die alle Psychophysik erträumen und versäumen muß" (Ebd., S. 321). 31 Die zögerliche, fast ängstliche Einstellung Rilkes gegenüber seinem gewagten Experiment-Vorschlag ist wohl damit zu erklären, daß er sich hier, als Dichter, in ein ihm nicht vertrautes Gebiet begeben hat. Wieviel Rhetorik mitschwingt, wenn er nachträglich den Vorschlag relativiert und diesen z. B. im Brief an Bassermann vom 19.04.1926 als .Irrtum' bezeichnet, mag an anderer Stelle entschieden werden. In der vorliegenden Untersuchung wird das Experiment wichtig, insofern es Rilkes Auffassung von der sinnlichen Wahrnehmung und der Ausdehnung des Sensuellen Ausdruck gibt. 32 Rilke rekurriert im Aufsatz und in zahlreichen Briefen insbesondere auf die eingelagerten Gedichte. Diese Quelle ist von der Forschung, abgesehen von Walter Großmanns Aufsatz, bisher kaum berücksichtigt worden. Vgl. Walter Großmann: Rilke and the Arabian Nights, with two unpublished Translations, in: Harvard Library Bulletin, XIV.3 (1960), S. 4 6 1 ^ 8 6 . Die Einflüsse dieser Quelle auf Rilkes Dichtung zu untersuchen, wäre eine lohnende Ergänzung der Forschung. Aufschluß versprächen hier die beiden Ausgaben, die sich nach Hans Janssens Angaben in Rilkes Besitz

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dokumentiert, sie reicht indes bis in die letzte Lebenszeit.33 Sein Brief an Lotti von Wedel vom 28.1.1922 bezeugt den Vorbildcharakter der orientalischen Dichtung, zu der Rilke dort auch Goethes Westöstlichen Diwan rechnet.34 Im Unterschied nun zur orientalischen bemerkt er in der zeitgenössischen Dichtung eine einseitige Ausrichtung auf das Auge, eine Vernachlässigung des Hörens und eine Abwertung der sogenannten Nahsinne Geruch, Geschmack und Tastsinn, wenn er feststellt, wie ungleich und einzeln der jetzige europäische Dichter sich dieser Zuträger bedient, von denen fast nur der eine, das Gesicht, mit Welt überladen, ihn beständig überwältigt; wie gering ist dagegen schon der Beitrag, den das unaufmerksame Gehör ihm zuflößt, gar nicht zu reden von der Teilnahmslosigkeit der übrigen Sinne, die nur abseits und mit vielen Unterbrechungen in ihren nützlich eingeschränkten Gebieten sich betätigen. (VI, 1090) Die Auffassung, daß der Dichter keinen Sinn ausklammern und keine Hierarchie in die Konfiguration der Sinne einführen dürfe, steht der abendländischen Tradition von Ästhetik und Dichtungstheorie entgegen. Rilkes Einschätzung der zeitgenössischen Dichtung ist dabei in erster Linie funktional zu der auf die eigene Dichtung gerichteten Programmatik zu verstehen. Die Forderung, neue Erfahrungsdimensionen im Medium der dichterischen Sprache freizulegen, ist indes spätestens seit Arthur

befanden. Vgl. Hans Janssen: Rilkes Bibliothek, in: Philobiblon 33 (1989), S. 293-319, hier: S. 308 f. 33 Vgl. Walter Großmann: Rilke and the Arabian Nights, a. a. O., S. 464. Großmann weist den über Rodin hergestellten Kontakt mit der französischen Übersetzung von Joseph-Charles Mardrus nach und datiert Rilkes erste Bekanntschaft mit den Gedichten auf die letzte Zeit in Meudon im April und Mai 1906. 1923 werden einige Gedichte der Sammlung im Insel-Almanach für das Jahr 1924 abgedruckt; da Enno Littmanns Übersetzung Rilke nicht zufriedenstellt, beschließt er, die Verse selbst zu übersetzen. Walter Großmann hat Rilkes Übersetzungen erstmals veröffentlicht (Ebd., S. 469 ff.). 34 Der Rekurs auf die Dichtung des Orients bezüglich des Gebrauchs der Sinne ist seit Sturm und Drang und Klassik ein Topos in der deutschen Literatur, der sich namentlich bei Goethe und zudem bei Herder findet. So fordert schon Herder im Journal meiner Reise im Jahr 1769, „alle seine Sinne zu gebrauchen. Das Gefühl z. E. schläft bei uns, und das Auge vertritt, obgleich manchmal nur sehr unrecht, seine Stelle." Und er fahrt fort: „Überhaupt ist kein Satz merkwürdiger und fast vergessener, als: ohne Körper ist unsere Seele im Gebrauch nichts: mit gelähmten Sinnen ist sie selbst gelähmt: mit einem muntern proportionirten Gebrauch aller Sinne ist sie selbst munter und lebendig. Es gibt in den alten Zeiten der schönen Sinnlichkeit, insonderheit in den Morgenländern Spuren, daß ihre Seele gleichsam mehr Umkreis zu würken gehabt habe, als wir [...]". Vgl. für beide Zitate: Johann Gottfried Herder: Journal meiner Reise im Jahr 1769, historisch-kritische Ausgabe, hg. von Katharina Mommsen, Stuttgart 1976, S. 143.

Der Aufsatz Ur-Geräusch

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Rimbauds Lettre du voyant ein Projekt moderner Dichtung: „Je dis qu'il faut être voyant, se faire voyant. Le Poète se fait voyant par un long, immense et raisonné dérìglement de tous les sens."35 Rilkes Poetik der Sinne steht zum einen fraglos in dieser Tradition; zum anderen beansprucht sie im Sinnesdiskurs zu Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine bislang unterschätzte eigene Position. Diese Position wird im folgenden in ihrer Spezifik herausgearbeitet; auf die vielfältigen Figurationen der Sinne, die in den Künsten und ästhetischen Manifesten der Moderne virulent werden, kann und soll dabei nur sporadisch eingegangen werden. Ausgehend von der Kontrastierung der europäischen mit der orientalischen Dichtung wird explizit die Aufgabe formuliert, „Gebietsgewinn" (VI, 1093) mit dichterischen Mitteln zu leisten. Dieses Projekt umfaßt genau genommen zwei Forderungen: Es geht zum einen um die „Erweiterung der einzelnen Sinn-Gebiete" (VI, 1092 f.), zum anderen um eine „unter so seltsam abgetrennten Bereichen [herzustellende; S.P.] Verbindung" (VI, 1093). Es gilt, eingedenk der Begrenztheit und Getrenntheit der Einzelsinne, deren Trennung in der dichterischen Sprache tendenziell aufzubrechen. Wie lassen sich diese Forderungen auflösen und verstehen? Wie geht die Erweiterung mit der Verbindung zusammen? Im Zentrum des zweiten Teils von Ur-Geräusch steht die Vorstellung eines .Sinnen-' bzw. ,Erfahrungskreises', zu der sich Rilke, wie bereits erwähnt, behelfsweise eine Zeichnung angefertigt hat. Er weist auf eine wiederholte Verwendung dieses Modells hin, dessen er sich „jedesmal bediente, sooft ähnliche Erwägungen sich aufdrängten" (VI, 1091). Die beiläufige Bemerkung ist als Indiz für eine Kontinuität der poetologischen Überlegungen zu werten, die den Autor offenbar schon geraume Zeit beschäftigten. Die Zeichnung belegt Rilkes Neigung zum Anschaulichen und Konkreten; sie besteht aus einem Kreis, der in zehn unterschiedlich große Segmente unterteilt ist, die abwechselnd unausgemalt und schraffiert sind. In die unausgemalten Segmente sind die Bezeichnungen für die einzelnen Sinne eingetragen: Gesicht, Tastsinn, Geschmack, Geruch, Gehör. Es fallt auf, daß der Gesichtssinn durch den mit Abstand größten Kreisausschnitt repräsentiert wird, gefolgt vom Gehör. Zwischen den Segmenten für den Geruch, Geschmack und Tastsinn sind keine quantitativen Unterschiede auszumachen. In den Kreis sind Pfeile eingezeichnet; ausgehend vom Segment für das Gesicht

35 Arthur Rimbaud: Œuvres complètes, présenté et annoté par Antoine Adam, Paris 1972, S. 251. Als Lettre du voyant bzw. Seherbrief wird Rimbauds Brief an Paul Demeny vom 15. Mai 1871 bezeichnet. Die Pleiade-Ausgabe kommentiert: „II s'agit moins d'une lettre que d'un exposé de ses idées en ce mois [...]" (Ebd., S. 1075). Rilke kannte den Seherbrief sowie das Gedicht Le bateau ivre.

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Rilkes Zeichnung zum Aufsatz Ur-Geräusch (Abb. 1)

Der Aufsatz Ur-Geräusch

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stoßen die Pfeile durch die angreifenden schraffierten Bereiche in die des Gehörs bzw. des Tastsinns vor. Vom Gehör führt ein Pfeil zum Gesicht zurück. Die einzelnen sensuellen Felder sind zum einen deutlich voneinander abgetrennt, zum anderen wird den Sinnen nur ein begrenzter Ausschnitt des „Erfahrungsbereiches]" (VI, 1091), den der Kreis darstellt, zugestanden. Von beträchtlich größerem Umfang sind dagegen diejenigen Bereiche, die das Wahrnehmungs- und Fassungsvermögen der Sinne übersteigen. Vor dem Befund einer Getrenntheit der Einzelsinne 36 und einer eingeschränkten Sensuaütät erhält die dichterische Aufgabe einer Ausweitung des Sensuellen ihre Brisanz. Die spezifische Forderung an den Dichter und die Gefahr, der er hierbei unterliegt, profiliert der Aufsatz durch die Differenzierung zwischen zwei ausgezeichneten Positionen, der des Liebenden einerseits und der des Dichters andererseits. Das Verhältnis zwischen Liebendem und Dichter, in Hinblick auf Abgrenzung sowie auf Verbindung, ist ein zentraler Topos der poetologischen Reflexion Rilkes, der sich in zahlreichen Briefen und Schriften, insbesondere im Testament aus dem Jahr 1921 und zuvor eindrücklich in den Marginalien Bichat von 1909, findet. 37 Im Aufsatz Ur-Geräusch wird dem Liebenden und dem Dichter eine erweiterte sinnliche Erfahrung zugesprochen, die indes unterschiedlich gelagert ist. Rilke lokalisiert den Liebenden in der Mitte des Kreises, dort, wo die Sinne „zusammenlaufen und in der kein Bestand ist" (VI, 1091). Ihm wird die .Einheit der Sinne' zuteil; dies geschieht jedoch um den Preis jeglicher Beständigkeit und Differenziertheit des Sinnlichen. Rilke weist dem Liebenden eine ungetrennte und punktuelle Erfahrung zu. Bezüglich des Aufsatzes stellt sich jedoch nicht die Alternative zwischen Transitivität und Intransitivität, zwischen erfüllter und ungestillter Form, die Rilkes spezifische Liebeskonzeption weitgehend

36 Dieser Befund fügt sich in die Ergebnisse der zeitgenössischen Sinnesphysiologie, die in erster Linie nicht die Verbindung, sondern die Getrenntheit der Einzelsinne herausgestellt hat. Helmholtz teilt die fünf Sinne im Anschluß an Johannes Müller (Gesetz der spezifischen Sinnesenergien, 1830) in fünf untereinander völlig unvergleichbare .Modalitäten der Empfindung' ein. Vgl. Hermann von Helmholtz: Die Thatsachen der Wahrnehmung (1878), in: Hermann von Helmholtz: Vorträge und Reden, Band 2, Braunschweig 1896 4 , S. 213-247. Zur Sinnesphysiologie um die Jahrhundertwende siehe ausführlicher die Studie von Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele, a. a. O. 37 Vgl. VI, 1192-1197. Die Marginalien umfassen Rilkes handschriftliche Exzerpte aus Xavier Bichats Recherches Physiologiques sur la Vie et la Mort (Paris 1805), die mit eigenen Reflexionen verbunden sind. Rilke unterscheidet darin den relativen vom absoluten Genuß sowie Schmerz. Ein absoluter Genuß sei sowohl im Kunstwerk als auch im Liebesakt gegeben.

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Die Poetik der Sinne

prägt.38 Aufgerufen ist hier die Liebe als eine gesteigerte, die den Liebesakt einschließt. Auch der Brief des jungen Arbeiters preist die Liebe als erfüllte Augenblickserfahrung und verteidigt sie in Nietzscheanischer Manier gegen die jahrhundertelangen Versuche des Christentums, sie zu transzendieren und ihre Geschlechtlichkeit mit Scham und Schuld zu verbinden. Der im Christentum vorgenommenen Trennung in sinnliche und geistige Liebe steht die Auffassung gegenüber, daß die Liebeserfahrung keine Trennung kenne und folglich auch keine Zurücksetzung des Sinnlichen: Und hier in jener Liebe, die sie mit einem unerträglichen Ineinander von Verachtung, Begierlichkeit und Neugier die .sinnliche' nennen, hier sind wohl die schlimmsten Wirkungen jener Herabsetzung zu suchen, die das Christentum dem Irdischen meinte bereiten zu müssen. Hier ist alles Entstellung und Verdrängung, obwohl wir doch aus diesem tiefsten Ereignis hervorgehen und selber -wieder in ihm die Mitte unserer Entzückungen besitzen. (VI, 1123) 3 9

Die Stigmatisierung des Geschlechts ist nur der deutlichste Ausdruck einer Herabsetzung des Sinnlichen, für dessen Aufwertung Rilkes späte Dichtung einsteht. Der Vorwurf der Blasphemie wird dabei an die Anklage zurückgegeben, insofern es als eine „Kränkung Gottes" bezeichnet wird, „in dem uns hier Gewährten und Zugestandenen nicht ein, wenn wir es nur genau gebrauchen, vollkommen, bis an den Rand unserer Sinne uns Beglückendes zu sehen! Der rechte Gebrauch, das ists" (VI, 1115). Die Aufwertung gilt dem Wahrnehmbaren und Erfahrbaren, für das Rilke im Arbeiterbrief, in der Siebenten und Neunten Elegie sowie im Brief an den polnischen Übersetzer Hulewicz vom 13.11.1925 das Leitwort des Hiesigen prägt.40 38 Zu diesen beiden Liebesmodellen vgl. den 65. und 66. Abschnitt des Matte sowie die Erste und die Zweite Elegie. Die Konzeption der ungestillten Liebe wird ausnahmslos an der Liebenden festgemacht. Rilke hat immer wieder auf historische Frauenfiguren rekurriert, die sogenannten ,großen Liebenden' Gaspara Stampa, die Nonne Mariana Alcoforado, Bettine von Arnim und Anna de Noailles; letzterer gilt die Rezension Die Bücher einer Liebenden. Für den Komplex der Liebenden ist zudem der Brief an Annette Kolb vom 23.1.1912 zentral. Das maskuline Genus im Aufsatz entspricht nicht dieser ausschließlich weiblich konnotierten Form. 39 In ähnlicher Weise wie in Ur-Geräusch qualifiziert der Brief an Lotte Hepner vom 8.11.1915 die Erfahrung der Liebenden als eine, die Trennungen niederreißt: ,,[A]uch die Liebe nimmt nicht Rücksicht auf unsere Einteilungen, sondern reißt uns, zitternd wie wir sind, in ein endloses Bewußtsein des Ganzen hinein. - Die Liebenden leben nicht aus dem abgetrennt Hiesigen; als ob nie eine Teilung vorgenommen worden wäre, greifen sie den ungeheueren Besitzstand ihrer Herzen an [...]" (Br. II, 514). 40 Vgl. hierzu auch den Brief vom 11.9.1919 an Adelheid von der Marwitz: ,,[D]as Hiesige ist uns nun einmal gegeben und zugemutet und wir müssen alles, was uns widerfährt,

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Die Testament- Aufzeichnungen aus dem Jahr 1921 machen offenkundig, daß die Möglichkeit der Askese auch für den Dichter nicht in Erwägung gezogen wird, daß dieser folglich im selben Maße wie der Liebende auf die Sinne angewiesen ist: Askese freilich ist kein Ausweg; sie ist Sinnlichkeit mit negativem Vorzeichen. Dem Heiligen mag sie, wie eine Hülfskonstruktion, zustatten kommen; [...] Wer aber in die Sinne verpflichtet ist, Erscheinung für rein und Gestalt für wahr zu halten hat auf Erden, wie dürfte der mit der Absage beginnen! [...] bei ihm bliebe sie Betrug, List, Erschleichung - , und zum Schlüsse rächte sie sich irgendwo im Kontur seines Werks, als Härte, als Dürre, als Unzugiebigkeit, als Feigheit der Frucht.

Wenn der Liebende aber jede Beständigkeit und Differenziertheit des Sinnlichen einbüßt, so sind diese Aspekte für den Dichter gerade entscheidend. Während jener in der Kreismitte lokalisiert ist, wird diesem im Rahmen des Kreismodells kein fester Standort zugewiesen: Dem Dichter wäre mit dieser Versetzung nicht gedient, ihm muß das vielfältig Einzelne gegenwärtig bleiben, er ist angehalten, die Sinnes-Ausschnitte ihrer Breite nach zu gebrauchen, und so muß er auch wünschen, jeden einzelnen so weit als möglich auszudehnen, damit einmal seiner geschürzten Entzückung der Sprung durch die fünf Gärten in einem Atem gelänge. (VI, 1092)

Denn nicht das Zusammenfallen, sondern explizit die „Ausdehnung" (VI, 1092) der einzelnen Sinne wird vom Dichter gefordert. Dafür bedarf es einer vielfältigen Beweglichkeit, sowohl innerhalb der einzelnen Sinnessektoren als auch über diese hinaus in Richtung der anderen Sinne. Beide Bewegungen erfolgen dabei ausdrücklich mit Rücksicht auf die „schwarzen Sektoren" (VI, 1091). Daß der Dichter sich jener Bereiche bewußt ist, macht sowohl den spezifischen Impetus seiner Bemühungen als auch die Gefahr aus, der diese unterliegen. in eine neue Vertraulichkeit und Befreundung mit ihm umzuwandeln suchen, denn wohin sollten wir uns abwenden mit Sinnen, die doch für

seine Erfassung

und Be-

wältigung vorzüglich eingerichtet sind [...]" (Br. II, 601). V o r diesem Hintergrund wird die Leistung der Liebenden, so explizit in der

Neunteη Elegie,

hervorgehoben und der

des Dichters zur Seite gestellt: „Ist nicht die heimliche List / dieser verschwiegenen Erde, wenn sie die Liebenden drängt, / daß sich in ihrem Gefühl jedes und jedes entzückt?" (I, 7 1 8 , Vers 3 5 - 3 7 ) . 41

Κ Α IV, 7 1 0 - 7 3 5 , hier: 721. D e r Text wurde erst 1 9 7 4 v o n Ernst Zinn aus dem Nachlaß ediert: Rainer Maria Rilke: Das Testament. Faksimile der Handschrift, hg. v o n Ernst Zinn, Frankfurt a. M. 1974. In den Tw/ewf»/-Aufzeichnungen entwirft Rilke eine Poetologie der Liebe, die den Zwiespalt nicht zwischen Liebe und Arbeit ausmacht, sondern innerhalb der Liebe selbst konstatiert. Der Anspruch, den Rilke an die Erfahrung der Liebe stellt, wird aus diesem Text deutlich.

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Die Poetik der Sinne

Für das Modell eines .Sinnenkreises' gibt es zumindest zwei Vorstufen in Rilkes Werk, im Vortrag Moderne Lyrik von 1898 und in der Rezension Die Bücher einer Liebenden aus dem Jahr 1907. Eine vergleichende Untersuchung dieser Textstellen ergibt keinesfalls eine Deckungsgleichheit der Konzepte, vielmehr den Befund einer Weiterentwicklung, Differenzierung und unterschiedlichen Schwerpunktsetzung. Schon im Vortrag von 1898 wird die Getrenntheit der einzelnen Sinne konstatiert; der Akzent liegt zu dieser Zeit allerdings noch auf dem „gemeinsamen Zentrum" (V, 384), von dem die Einzelsinne ausgehen, die ihrerseits nur fragmentarische Ausschnitte, „nur Stücke dieses weiten Kreises" (V, 384) gewähren. In der Rezension Die Bücher einer Liebenden von 1907 wird im Zusammenhang mit orientalischer Motivik 42 die Leistung der Sinne, die der Anna de Noailles zugewiesen ist, über das Kreismodell veranschaulicht: Es ist eine naive äolische Seele, die sich nicht schämt, dort zu wohnen, wo die Sinne sich kreuzen, und die nichts entbehrt, weil diese entfalteten Sinne einen Kreis bilden, der keine Lücke hat: so weilt sie im Bewußtsein einer ununterbrochenen Welt. (VI, 1018) Die beschriebene Erfahrung resultiert hier — über die Punktualität hinaus — aus der sinnlichen Durchdringung des ganzen Kreises. In beiden Vorstufen ist die anschauliche Vorstellung eines Sinnenkreises präfiguriert. Im Vergleich zu Ur-Geräusch fehlen indes die späteren Differenzierungen. Erst 1919 wird zum einen deutlich zwischen Liebendem und Dichter unterschieden, zum anderen der Kreis in lichte und schwarze Sektoren unterteilt. Erst dort wird die Vorstellung der schwarzen Sektoren ausdrücklich. Überspitzt ließe sich sagen, es geht Rilke nun explizit um diese Kreissektoren. Dabei ist jedoch zu berücksichtigen, daß diese den Bereichen des Sensuellen nicht übergeordnet sind, daß sie sich vielmehr auf einer Kreisebene mit den Sinnessektoren befinden und sehen diese gelagert sind. Das „Unerfahrbare" (VI, 1091) ist nicht transzendent gedacht. Das Irdische deckt nach dieser Auffassung das sinnlich Erfahrbare und das „uns Unerfahrbare" (VI, 1091) ab; das impliziert aber, daß darüber hinaus nichts Weiteres oder gar Höheres existiert. Es meint jedoch zudem, daß nur Ausschnitte des Irdischen bekannt und erfahrbar sind. Aus dieser Auffassung nun erklärt sich die dem Dichter 42 Anna de Noailles wird charakterisiert als „von orientalischen Sinnen restlos und gleichzeitig bedient" (VI, 1017). Die Formulierung wird später in Ur-Geräusch fast wörtlich bezüglich der „arabischen Gedichte" (VI, 1090) wiederholt, wenn es dort heißt, daß „an deren Entstehung die fünf Sinne einen gleichzeitigeren und gleichmäßigeren Anteil zu haben scheinen" (VI, 1090). Dies unterstreicht einmal mehr, daß Rilke eine übergreifende sinnliche Wahrnehmung auf die orientalische Kultur bezieht.

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überantwortete Leistung, ausgehend vom Sensuellen, und das heißt verbleibend im Sensuellen, das Unerfahrbare tendenziell zu erfassen oder — mit dem Brief an den polnischen Übersetzer Hulewicz vom 13. November 1925 gesprochen — in „Besitz" (Br. III, 899) zu nehmen. Die auf konzentrischen Bahnen angeordneten Pfeile in der Zeichnung demonstrieren diesen geplanten und geforderten Impetus. Hierfür findet sich im ersten Teil des Aufsatzes ein Äquivalent, der Experimentvorschlag: Die Übersetzung der Kranznaht als graphische Zeichenfolge in eine Tonfolge wird dort aufgefaßt als entwerfender, schöpferischer Akt, insofern er eine unerhörte, noch nie wahrgenommene Schicht der Wirklichkeit wahrnehmbar macht. Auf selten der Dichtung entsprechen der Versuchsanordnung zwei Bestrebungen: zum einen die lyrischen Überset^ungsvorgänge zwischen den Eindrücken verschiedener Sinne, zum anderen die qualitative Erweiterung des Einzelsinnes. Diese Bemühungen stehen jedoch nicht in Konkurrenz zueinander. Sie sind, wie in den folgenden Kapiteln zu zeigen ist, vielmehr kongruent. Der dichterische Gebrauch der Sinne zielt im Unterschied zu dem des Liebenden auf Dauer. Der Dichter ist auf die sprachliche Gestaltung sinnlicher Eindrücke angewiesen. Das heißt nun, daß die Sinneseindrücke, die das Gedicht evoziert, eine Konsistenz aufweisen, die sie im punktuellen Wahrnehmungsakt nicht besitzen. Rilke spricht hier von der „übernatürlichen Ebene [...] des Gedichtes" (VI, 1091). Der dichterisch evozierten Sinnlichkeit eignet somit ein imaginärer, konstruktiver Charakter. Das bedeutet allerdings mitnichten, daß diese der Wirklichkeit enthoben, daß sie künstlich sei; vielmehr umgekehrt, daß im schöpferischen Vorgang .Wirklichkeit' allererst zu leisten ist. Für Rilke ist von einem doppelten Wirklichkeitsbegriff auszugehen. Danach steht Welt bzw., mit der Ersten Elegie gesprochen, „gedeutete [ ] Welt" (I, 685, Vers 13) für die trügerische Seinsgewißheit, für eine bloß zurechtgemachte Welt ein, während Wirklichkeit das, vornehmlich künsderisch, zu Leistende meint. Nichts liegt einem Autor wie Rilke ferner als die Gewißheit, Wirklichkeit, das heißt mögliches Sein, schon zu haben. Das Gegenteil ist der Fall: Sie ist nicht — die Zweite Elegie formuliert das drastisch: „Doch wer wagte darum schon zu sein}" (Vers 49), und das dritte Sonett im ersten Teil der Sonette an Orpheus fragt: „Wann aber sind wir? [...]" (I, 732; Vers 8).43 Erst angesichts dieses Befundes erklärt sich das ambitionierte Projekt,

43 Vgl. hierzu die Überlegungen v o n Klaus Laermann, der aus psychologischer Perspektive Angstformen

erörtert und

schlußfolgert: .„Wirklichkeit' ist für Rilke

eine

subjektive Leistung. Und die muß gegen Widerstände von außen und innen stets neu behauptet werden. V o n daher wäre es unsinnig, diesem Autor Wirklichkeitsflucht vorzuwerfen." Vgl. Klaus Laermann: ,Oder daß ein Tier, / ein stummes, aufschaut,

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Die Poetik der Sinne

Wirklichkeit dichterisch in Angriff zu nehmen. Wahrnehmung und Konstruktion hängen bei Rilke, zumal in dessen später Dichtung, daher eng zusammen. Das Ziel einer Poetik der Sinne faßt der Aufsatz im Bild vom „Sprung durch die fünf Gärten in einem Atem" (VI, 1092). Der Sprung, verstanden als schöpferischer Vorgang, eignet dem Künsder und zumal dem Dichter. Im Rekurs auf das Kranznaht-Experiment ließe sich hinzufügen, daß er auch dem Experimentator attestiert wird, insofern schon dort vom Sprung bzw. vom „Absprung [...] zu einer ganzen Reihe von unerhörten Versuchen" (VI, 1089) die Rede war. Um die dichterische Leistung nun stärker zu profilieren, bedient sich Rilke einer weiteren Abgrenzung. War es zuvor der „Liebende" (VI, 1091), so wird nun der „Forscher" (VI, 1092) als Kontrastfigur auf den Plan gerufen. Dieser nehme nicht eigentlich eine Erweiterung, sondern nur eine Verschiebung der Sinne vor. Rilke hegt Zweifel an dem Ertrag von Erfindungen wie dem Mikroskop oder dem Fernrohr, „da doch der meiste, so gewonnene Zuwachs sinnlich nicht durchdrungen, also nicht eigentlich ,erlebt' werden kann" (VI, 1092).44 Vor dem Hintergrund der Abgrenzung zum Forscher kann näher bestimmt werden, was unter dem Sprung zu verstehen ist. Es handelt sich nicht um eine rein quantitative Erweiterung; der Sprung zielt auch nicht auf die bloße Vollständigkeit sämtlicher fünf Sinne, sondern auf einen qualitativen „Gebietsgewinn" (VI, 1093). Einer Dichtung, die von den Sinnen als .Zuträgern' (vgl. VI, 1090) auszugehen hat, geht es gleichsam um mehr als das Sinnliche. Für den späten Rilke läßt sich die Ausrichtung auf einen Raum hin nachweisen, der über das sinnlich Wahrnehmbare hinausgeht, zu dem sich aber gleichwohl nur über die Sinne gelangen läßt. Welchen spezifischen Gebrauch der Sinne stellt Rilke nun dem Dichter anheim, wenn er das poetologische Bild der ,,fünffingrige[n] Hand seiner Sinne" (VI, 1092) prägt, die „zu immer regerem und geistigerem Griffe" (VI, 1092) entwickelt werden müsse? Und welche Auffassung von der sinnlichen Wahrnehmung liegt dem zugrunde? Die fünf Sinne bilden das Werkzeug des Dichters - das parallele Bild von der „mit fünf Hebeln ruhig durch uns durch.' Überlegungen zum Blick der Tiere in einigen Gedichten Rilkes, in: Poetik der Krise, a. a. O., S. 123-139, hier: S. 127. 44 Schon Goethe hebt den ästhetischen Fortschritt gegenüber dem technischen Fortschritt hervor. In seinen Betrachtungen im Sinne der Wanderer greift er die eigene Forderung nach einer ,Kritik der Sinne' aus seinen Maximen und Reflexionen auf, die eine ästhetische Beschäftigung mit den Sinnen im Anschluß an Kants Kritik der reinen Vernunft propagiert. Dabei wendet sich Goethe gegen die optischen Geräte: „Mikroskope und Fernröhre verwirren eigentlich den reinen Menschensinn". Vgl. Johann Wolfgang von Goethe: Werke. Hamburger Ausgabe, hg. von Erwin Trunz, Band 8, München 1981· 2 , S. 283-309, hier: S. 293.

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gleichzeitig angegriffene [n] Welt" (VI, 1091) verweist ebenfalls auf das Handwerk. Dies veranschaulicht die Zusammenarbeit der einzelnen Sinne: Die fünf Finger einer Hand haben jeweils unterschiedliche Funktionen. Zugleich aber ist die Beweglichkeit, Geschicklichkeit und Fertigkeit der Hand nur durch das Zusammenwirken und die gegenseitige Unterstützung der fünf Finger gewährleistet. Diese handwerkliche Auffassung ist deutlich geprägt von Rodins Arbeitsweise, die Rilke explizit als Handwerk bezeichnet hat.45 Sie ist ebenfalls beeinflußt durch Cézannes Malweise, die nach Rilkes Darstellung eine Konzentrationsleistung und Geduld des Schauens voraussetzt. Rilke hat sich indes wiederholt über die Unterschiede zwischen dem bildenden Künsder und dem Dichter bezüglich des Gebrauchs der Sinne geäußert, so in seinem Brief an Lou Andreas-Salomé vom 26. Juni 1914: „Es fällt mir ein, daß eine geistige Aneignung der Welt, wo sie sich so völlig des Auges bedient, wie das bei mir der Fall war, dem bildenden Künstler ungefährlicher bliebe, weil sie sich greifbarer, an körperlichem Ergebnissen beruhigt." (Br. II, 465) Die Konzentration auf das Sehen wird in den Krisenjahren, aus denen der Brief datiert, als Problem für den Dichter formuliert. Denn anders als beim bildenden Künsder werde das Auge nicht durch die Hand als gestaltendes Äquivalent aufgewogen. Ganz ähnlich formuliert Rilke dieses Problem im Brief vom 20.3.1922: „Aber ich hatte nicht das in diesem Sinne so hilfreiche métier Rodins, keines, das mir mit solcher täglichen Greifbarkeit und Sicherheit im Sichtbaren, als fortwährend vorhanden, beizustehen fähig gewesen wäre [...]" (Br. III, 775). Vor diesem Hintergrund zielt das Bild von der ,fünffingrigen Hand' auf eine dichterische Gestaltung, die sich nicht nur des Auges, sondern auch der anderen Sinne zu bedienen habe. Rilke qualifiziert den künstlerischen Gebrauch der sinnlichen Wahrnehmung als geistige Anstrengung, so wenn er im Brief an Lou Andreas-Salomé von der ,,geistige[n] Aneignung der Welt" (Br. II, 465) spricht oder im Aufsatz Ur-Geräusch vom ,,geistigere[n] Griffe" (VI, 1092). Das Sinnliche ist danach keine kategorial vom Geistigen unterschiedene Ebene.46 Für die Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung hat das 45 Vgl. die Rûdin-Monographie (V, 225 f.) und den Brief an Lou Andreas-Salomé vom 8.8.1903: „Und da sein großes Werk aus dem Handwerk hervorging, [...] so steht er auch heute noch, [...] als der Schlichtesten einer unter seinen erwachsenen Dingen." (Br. I, 59) Aufgefordert durch das Vorbild Rodin fragt Rilke nachhaltig: „wo ist das Handwerk meiner Kunst [...]?" (Br. I, 61). 46 Vgl. hierzu u. a. den Brief an Nanny Wunderly-Volkart vom 21.01.1924: ,,[T]out mon travail n'était qu'une unité toujours plus dense de toutes mes facultés physiques et spirituelles, et ce corps a trop intensément collaboré à la richesse de mon âme, pour que j'osasse de profiter d'elle, au moment où lui n'y participait davantage." (Nan II,

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Die Poetik der Sinne

entscheidende Konsequenzen; der Sinnlichkeit wird eine erhebliche Aufwertung zuteil, ohne daß dieses aber wiederum zu Lasten des Geistigen ginge. Poetologische Forderung ist demnach auch nicht, die Sprache sinnlich zu machen. Vielmehr umgekehrt wird dem Dichter zugemutet, die sinnliche Erfahrung auf der „übernatürlichen Ebene [...] des Gedichtes" (VI, 1091) zu steigern. Die Forschung bezieht die poetologischen Gedanken aus dem Aufsatz Ur-Geräusch zumeist auf die mittlere Werkstufe zurück. So vermutet Brigitte L. Bradley in ihrer Studie zur Pariser Lyrik, daß „Rilke, wie das öfters bei ihm vorkommt, erst nachträglich formuliert, was er davor schon im Sinne hatte und zur Ausführung brachte".47 In-Ok Paek hat im Rekurs auf den Aufsatz die Neuen Gedichte als „Wahrnehmungslyrik" und den Malte als „Wahrnehmungsprosa" interpretiert.48 Dieser Rückbezug des Aufsatzes hat seine Berechtigung. So belegt das Datum der Erstlektüre der „arabischen Gedichte [...]" (VI, 1090), auf die der Aufsatz hinweist, daß eine übergreifende Wertschätzung sämtlicher fünf Sinne schon seit Rilkes mittlerer Werkphase virulent ist. So hat sich Rilke am 9.10.1908 gegenüber Ellen Key über seine dichterische Arbeit wie folgt geäußert: „Niemals auch war ich weniger weggeflüchtet; niemals mit allen Sinnen so zum Leben hingekehrt, wie ich es gerade in diesem fortwährenden Erfassen geworden bin."49 Schon in der Phase der Neuen Gedichte und des Malte sind die Sinne unentbehrliches ,Werkzeug'. Das Wahrnehmen verliert seine Selbstverständlichkeit; Wahrnehmen ist allererst zu lernen, wie Rilke es in bezug auf den Malte festgestellt hat: „Die Dinge dringen durch alle Sinne in ihn [Malte; S.P.] ein: zunächst das Auge, dann das Ohr, er lernt bloß, sich ihrer zu bedienen. Er lernt sehen, er lernt auch hören [...]".50 Auch wenn der Schwerpunkt dieser Arbeit auf dem späten Werk liegt, ist es notwendig, Gedichte aus der Pariser Zeit und zumal den Malte

962 f.) Vgl. auch den Brief an die dieselbe Empfängerin v o m 8.2.1924: ,,[M]ein Körper ist zu sehr mein Gefährte und mein Mitarbeiter gewesen, als daß ich mich jetzt schon entschließen könnte, eine geistige Verfassung zu üben, die über ihn weg oder gar wider ihn, sich etwas abzuringen versuchte. Ich stehe da ja so anders als die meisten Geistigen. Was ich hervorbringen durfte, dazu haben alle Elemente meines Daseins [...] in unbeschreiblicher Gleichgesinntheit zusammengewirkt." (Nan II, 966). 47 Vgl. Brigitte L. Bradley: Rainer Maria Rilkes ,Der neuen Gedichte anderer Teil'. Entwicklungsstufen seiner Pariser Lyrik, Bern/München 1976, S. 196. Bradley bezieht den Aufsatz, ohne v o n dessen poetologischen Überlegungen auszugehen, auf das N e u e Gedicht Persisches Heliotrop. 48 Vgl. In-Ok Paek: Rilkes Poetik des ,neuen' Sehens, a. a. O., S. 9 f. 49 Rainer Maria Rilke: Ellen Key. Briefwechsel, hg. v o n Theodore Fiedler, Frankfurt a. M./Leipzig 1993, S. 213 f. 50 Vgl. Maurice Betz: Rilke in Paris, Zürich 1948, S. 72.

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einzubeziehen. Bezüglich der Einschätzung der Sinne lassen sich durchaus auch Kontinuitäten und Präfigurationen ausmachen. Und dennoch beziehen sich die poetologischen Ausführungen des Aufsatzes nicht, wie Bradley und Paek meinen, allein auf das mittlere Werk. Denn erst im Spätwerk verliert der Gesichtssinn seine Dominanz, die er in der Frühphase und zumal im mitderen Werk zweifellos besitzt, zugunsten einer stärkeren Berücksichtigung auch der nicht-visuellen Sinne, denen nun eigens poetische Bedeutung zukommt. Im Übergang zum späten Werk verändert sich das poetologische Konzept, was den dichterischen Gebrauch der Sinne zentral betrifft. Die vorherrschende Auffassung in der Forschung, es handle sich bei Rilkes lyrischem Gebrauch der Sinne um Synästhesien, läßt sich im Rekurs auf die im Aufsatz entwickelte Poetik der Sinne entkräften, meint diese doch nicht ein lyrisches Zusammenwirken der Sinne in Form der klassischen Synästhesie. Nach Brigitte L. Bradley zielt Rilkes Plädoyer für eine dichterisch zu leistende Erweiterung der sinnlichen Wahrnehmung auf „erweiterte Synästhesien", worunter sie allein „mehrere Sinne zugleich beteiligende Synästhesie[n]" versteht. 51 Sie belegt diese These mit dem Hinweis auf den bereits erwähnten frühen Vortrag Moderne Lyrik, den Rilke 1898 in Prag gehalten hat. Maja Goth führt Rilkes Überlegungen ebenfalls auf ein Bestreben nach dichterischer Synästhesie zurück. Ihre Auffassung von Synästhesie ist zwar differenzierter dargestellt und explizit an die Kategorie der sinnlichen Erfahrung zurückgebunden, wenn sie feststellt, „daß die poetisch-synästhetische Aussage nicht etwa im vagen Evozieren eines verschwommenen Allgefühls besteht, sondern in der künstlerischen Zusammenfügung präzise gefaßter sensorieller Erfahrungen". 52 Ihre These von einem auf der Ebene des Gedichts zu verwirklichenden „pan-sensuellen Erleben" bleibt jedoch theoretisch, da sie diese an keinem Gedicht exemplifiziert. 53

51

Brigitte L. Bradley: Rilkes ,Der Neuen Gedichte Anderer Teil', a. a. O., S. 1 9 7 und 195. Sie macht für Rilkes Affinität zu diesem dichterischen Stilmittel nicht allein die orientalische Dichtung geltend, sondern auch seinen „Umgang mit der Dichtung Baudelaixes, Verlaines oder Mallarmes" (S. 197).

52 Maja G o t h : Rilke und Valéry. Aspekte ihrer Poetik, Bern 1 9 8 1 , S. 59. 53 Ebd., S. 58. V o n Synästhesie ist in der Sekundärliteratur allenthalben die Rede, so daß es schwer fällt, sich hier auf einzelne Forscher zu beschränken. A u s der jüngeren Forschung seien des weiteren erwähnt: In-Ok Paek: Rilkes Poetik des ,neuen' Sehens, a. a. O., Les Caltvedt: T h e Poetics o f Synaesthesia in Rilke and Handke, in: Modern Austrian Literature 32.1 (1999), S. 5 3 - 6 6 und Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele, a. a. O. Letztere schreibt bezogen auf Ur-Geräusch: „Wieder steht die sinnlich-übersinnliche Erfahrung des Zusammenhangs

aller Erscheinungen

zur Diskussion,

eine

Erfahrung, die durch die synästhetische, die Grenzen der Sinnesgebiete überwindende,

30

Die Poetik der Sinne

Die Forschung berücksichtigt die Weiterentwicklung des Kreismodells nicht, an der sich die Veränderung des dichterischen Wahrnehmungskonzepts ablesen läßt. Im Vortrag Moderne Lyrik dient Rilke das Modell nun in der Tat zur Veranschaulichung seiner Auffassung von Synästhesie. Leicht ironisch kommt er auf das „neue Element" (V, 384), das zeitgenössische Lyriker wie Max Dauthendey und Arno Holz gebrauchten, zu sprechen, um es sodann als eine „allen aufrichtigen Gebildeten [...] alte Erfahrung" (V, 384) zu qualifizieren: Die Wissenschaft ist ganz gewiß unterwegs, festzustellen, daß alle diese Erscheinungen [Töne, Farben; S.P.] peripherische Schwingungen darstellen, welche, von einem gemeinsamen Zentrum ausgehend, uns nur deshalb andersartig zum Bewußtsein kommen, weil unsere beschränkten Organe immer nur Stücke dieses weiten Kreises wahrzunehmen vermögen. Warum sollte also nicht auch hier die Kunst vorausgehen und mit diesen Mitteln neue Pfade finden in die Teilnahme des Einzelnen? (V, 384)

Die hohe Wertschätzung, die Rilke der Synästhesie hier beimißt, erklärt sich zum einen aus der langen Tradition ihres Gebrauchs, 54 zum anderen aus der ihr zugebilligten ,,feine[n] Erkenntnis" (V, 384). Diese Akzentuierung ist durchaus in kritischer Absicht gegen einen inflationären und unachtsamen Gebrauch in der zeitgenössischen Lyrik gewendet. Synästhesie ist demnach nie bloßer stilistischer Selbstzweck. Vielmehr korreliert Rilke hier das sprachliche Mittel auffällig mit Befunden zeitgenössischer Wissenschaften: Orientiert an der Schwingungslehre und Sinnesphysiologie macht er „unsere beschränkte[n] Organe" (V, 384) für eine Wahrnehmung nach getrennten Sinnesmodalitäten verantwortlich. Der Nachweis eines übergreifenden Zusammenhangs der einzelnen Empfindungen läge im Fokus sowohl der wissenschaftlichen Forschung als auch der Kunst. Zu beachten ist dabei die physikalischWahrnehmungsweise erlangt werden soll. Wieder ist es der Dichter, der zu der Mitte vordringt, indem er die einzelnen Sinneseindrücke intensiviert." ( S. 213). 54 Synästhesie meint eigentlich Mitempfindung. Die Synästhesie etabliert sich spätestens ab dem 18. Jahrhundert als literarisches Stilmittel und erlebt ihre Blüte vor allem in der Romantik. D e m von Rilke erwähnten Ε. T. A. Hoffmann wären u. a. noch Novalis und - bei anderer Akzentsetzung - auch Baudelaire zur Seite zu stellen. Besonders verbreitet ist die gleichzeirige Evokation von visuellen und auditiven Sinneseindrücken, sie kann darüber hinaus aber durchaus auch die anderen Sinne betreffen. Vgl. hierzu die einschlägige Untersuchung von Ludwig Schräder: Sinne und Sinnesverknüpfungen Studien und Materialien zur Vorgeschichte der Synästhesien und zur Bewertung der Sinne in der italienischen, spanischen und französischen Literatur, Heidelberg 1969 sowie Louise Vinge: The Five Senses: Studies in a Literary Tradition, Lund 1975. Vgl. auch die einleitenden Bemerkungen in Peter Utz: Das Auge und das Ohr im Text. Literarische Sinneswahrnehmung in der Goethezeit, München 1990, S. 7-17.

Der Aufsatz Ur-Geräusch

31

naturwissenschaftliche Weltauffassung,55 die sich bereits in der frühen Phase Rilkes mit einer Aufmerksamkeit für die sinnliche Wahrnehmung verbindet. Schon hier beruft er sich im Zusammenhang mit der sinnlichen Wahrnehmung auf den physikalischen Terminus der Schwingung, aber erst im Spätwerk erhält der Begriff seine poetologische Prägnanz. Synästhesie interessiert den Autor folglich weder allein als sprachliches Mittel noch als Wahrnehmungsphänomen.56 Rilke selbst war auch nicht, wie das beispielsweise auf Künsder wie Kandinsky oder Autoren wie Nabokov zutrifft, synästheüsch begabt. Rilke betont, daß Synästhesie in der Lyrik gerechtfertigt sei, insofern sie auf das sich der Wahrnehmbarkeit Entziehende verweise, das wissenschaftlich — und eben auch künstlerisch — belegt werden könne. Den künstlerischen Anstrengungen wird zudem ein gewisser Vorsprung bescheinigt, eine Überzeugung, die im Aufsatz Ur-Geräusch in modifizierter Akzentuierung im Wort vom „Gebietsgewinn" (VI, 1093) wiederkehrt. Obwohl der frühe Vortrag eine Wertschätzung der Synästhesie bezeugt, läßt sich die Synästhesie-These durch den Vergleich des frühen Textes mit Ur-Geräusch entkräften: 1898 wird der späterhin für den Dichter tabuierte Ort des Kreismittelpunkts noch als Quelle der Einheitserfahrung aufgefaßt. Rilke spricht dabei zwar schon von den „Stücken" (V, 384) des Kreises, unterteilt diese jedoch noch nicht in die Bereiche des Erfahrbaren und des Unerfahrbaren. Der Befund einer Begrenztheit des Sensuellen allerdings bleibt für Rilkes Auffassung leitend, wie u. a. die Illustration des Sinnenkreises im Aufsatz von 1919 belegt. Im Krisendiskurs um 1900 hat die Synästhesie fraglos Konjunktur. Mein Ansatz ist es aber zu zeigen, daß Rilkes Poetik der Sinne durch den Synästhesie-Begriff nicht abgedeckt wird. Die Bezeichnung impliziert eine Aufhebung der Grenzen zwischen den Sinnen.57 Bezüglich der Dichtung 55 In diesem Zusammenhang erwähnt Rilke erstmals den Phonographen. Allerdings verwendet er ihn bildlich, um die Beziehung der Lyriker Johannes Schlaf und A r n o Holz zu beschreiben. Vgl. V, 382. 56 Bekanntlich bezeichnet das W o r t Synästhesie zunächst ein Wahrnehmungsphänomen, die sogenannte synästhetische Wahrnehmung, das Farbenhören etwa. Jüngere physiologische und psychologische Arbeiten haben sich näher mit diesem

Phänomen

beschäftigt, so Richard Cytowic: Synesthesia. A Union o f the Senses, New York 1 9 8 6 und Lawrence Marks: The Unity o f the Senses: Interrelation A m o n g the Modalities, New Y o r k 1978. 57 Dieses Moment einer Durchdringung der Sinne macht Heinz Brüggemann stark und unterstreicht damit die Aufhebung vormalig bestehender Grenzen als Bestreben der künsderischen und literarischen Avantgarde. Vgl. Heinz Brüggemann: Diskurs des Urbanismus und literarische Figuration der Sinne in der Moderne, in: V o m Sinn der Sinne, hg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland,

32

Die Poetik der Sinne

Rilkes, die, von der Getrenntheit und Begrenztheit der Sinne ausgehend, eine „schließlich dringende Verbindung" (VI, 1093) intendiert, ist dieser Begriff daher mißverständlich. Er verstellt sogar den Zugang zu der poetischen Bedeutung der sinnlichen Wahrnehmung in seiner Lyrik, zumal der des Spätwerks.58 Der für Rilkes Wahrnehmungskonzept entscheidende Gedanke ist vielmehr, in den Sinnen zu verbleiben, um mit ihnen gleichsam über sie hinauszugehen, ohne daß dieser lyrische Impetus auf ein Unsinnliches oder gar Übersinnliches zuhielte. Halten wir uns zum Schluß nochmals den gesamten Aufsatz UrGeräusch vor Augen, um nach dem Zusammenhang zwischen den beiden Teilen zu fragen und dadurch Aufschluß über den Charakter der poetologischen Gedanken zu erhalten: Beschrieben wird zunächst der Versuch, mit technischen Mitteln ein Experiment in Angriff zu nehmen. Dann aber verlagert sich die Fragestellung auf die Poetologie bzw. auf die Dichtung. Die leitende Frage nach einer „Ausdehnung" (VI, 1092) des Sensuellen wird dabei aufrechterhalten, aber auf dichterische Mittel hin untersucht. Rilke selbst hat beide Versuche, den der Technik und den der Dichtung, am Schluß nochmals aufeinander bezogen: Sieht man sich aber nun nach einem Mittel um, unter so seltsam abgetrennten Bereichen die schließlich dringende Verbindung herzustellen, welches könnte versprechender sein als jener, in den ersten Seiten dieser Erinnerung angeratene Versuch? [...] Dafür schien ihm der, während so vielen Jahren übergangene und immer wieder hervorgetretene Auftrag zu begrenzt und zu ausdrücklich zu sein. (VI, 1093)

Göttingen 1998, S. 362—400. Brüggemann verweist bezüglich synästhetischer Konzepte insbesondere auf Carl Einstein und die Futuristen (u. a. Marinetti). Rilkes Poetik der Sinne berücksichtigt er allerdings nicht. 58 Meine Skepsis gegenüber dem Synästhesiebegriff stützt sich auf die Ausführungen des Kunsttheoretikers und Musikwissenschafders Klaus-Ernst Behne: Über die Untauglichkeit der Synästhesie als ästhetisches Paradigma, in: Vom Sinn der Sinne, a. a. O., S. 104—125. In der Einschätzung der Rilkeschen Sinnespoetik folge ich der Auffassung Klaus Laermanns, der bezüglich des Gedichts Schwang Kat^e, aber auch generell für die Gedichte pointiert: „Die Sinne wirken hier (wie in anderen Gedichten) nicht synästhetisierend; sie erscheinen vielmehr überscharf vereinzelt." Vgl. Klaus Laermann: Überlegungen zum Blick der Tiere, a. a. O., S. 130. Rilkes Sinneskonzept steht ebenso nicht in der Tradition eines ,sensus communis', da es weder von einer (ursprünglichen) Einheit der Sinne noch von einem Zentralorgan erst nachträglich getrennter Vermögen ausgeht, wie der ,sensus communis' etwa bei Novalis oder Ε. T. A. Hoffmann gefaßt wurde. Vgl. näher zur Entwicklung dieses auf Aristoteles zurückgehenden Begriffs den Artikel .Sensus communis' von Thomas Leinkauf u. a., in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Band 9, Basel 1995, S. 622-675.

Der Aufsatz Ur-Geräusch

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Ist das Kranznaht-Experiment für sich genommen „zu begrenzt und zu ausdrücklich" (VI, 1093), so erhält die dichterische Aufgabe angesichts der technischen Möglichkeiten doch nachhaltigere Relevanz, wird von dieser inspiriert. Rilke hatte gegenüber der Verlegerin Katharina Kippenberg den Titel ,Experiment' vorgeschlagen. Offenbar bezieht sich dieses Wort sowohl auf den Bereich der Technik als auch den der Dichtung. Und tatsächlich liest sich auch der zweite Teil wie eine Versuchsanordnung, deren Ergebnis noch gar nicht ausgemacht ist. Der Dichter wird bezeichnenderweise im Sinnenkreis nicht lokalisiert; seine Position bleibt offen bzw. profiliert sich in der Abgrenzung von Positionen, die diesem gegenüber- oder zur Seite gestellt werden: dem Liebenden, dann dem Forscher und — nimmt man den ersten Teil hinzu — auch dem Experimentator. Der Aufsatz Ur-Geräusch enthält, recht besehen, weniger ein dezidiertes dichterisches Programm, das nun noch an der Lyrik zu verifizieren wäre. E r eröffnet vielmehr ein Feld, in dem die Versuche der Steigerung und Ausdehnung der Sinne auf spezifische Weise realisiert und ausgeprägt werden: das der Dichtung.

2. Das Sehen (O Hälfte aller Welten, unerkannt, sich auf mein unerkanntes Aufschaun schließend.) Paris, November 1 9 1 3

2.1. Untersuchungen zum Sehen in der Dichtung Rilkes Die Forschung zur sinnlichen Wahrnehmung in Rilkes Dichtung konzentrierte sich bisher vornehmlich auf das Sehen, das vor allem für die mitdere Schaffensphase und in weit geringerem Maße für das Spätwerk untersucht worden ist.1 In jüngster Zeit stellt sich der Beschäftigung mit dem Sehen eine stärkere Zuwendung zum Hören zur Seite, auch wenn hier noch keine detaillierte Untersuchung vorliegt. Die wiederholt geäußerte These hierzu lautet, daß der Leitcharakter des Visuellen im mittleren Werk einer Orientierung am Auditiven in der späten Dichtung weicht, zumal in den Sonetten an Orpheus. Die Poetik der mittleren Werkstufe steht fraglos im Zeichen des ,Sehens'. Die Leitworte dieser Zeit, .Sehen' bzw. .Schauen', beziehen sich dezidiert auf die visuelle, aber auch die sinnliche Wahrnehmung generell und auf deren Schulung mit Rücksicht auf eine spezifische Form der Erfahrung und Gestaltung. Diese Spannweite drückt sich etwa in dem berühmten Satz .Ich lerne sehen' aus, mit dem der vierte Abschnitt des Malte-Romans einsetzt und in dem sich das Programm der Aufzeichnungen konzentriert. 2 Rilkes Sehkonzept verdankt sich einem anderen 1

Der vorliegende Forschungsbericht zum Sehen beansprucht keine Vollständigkeit, sondern will die Grundzüge der Untersuchungen zum Sehen anhand ausgewählter Studien nachzeichnen. Besonderes Gewicht liegt hierbei, der Themenstellung der Arbeit geschuldet, auf den Forschungsergebnissen bezüglich des Spätwerks.

2

Das ,Sehen lernen' bei Rilke muß angesichts der die Geschichte des Augensinns charakterisierenden Weidäufigkeit der Bedeutungen konkret an Wahrnehmung und Erfahrung rückgebunden werden. .Sehen lernen' meint dann eine wertungsfreie, nichts Erfahrbares bzw., mit Rilke gesprochen, .Seiendes' ausgrenzende Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Es meint eine Form der Erkenntnis, allerdings nicht im intellektualistischen Sinn. Vgl. zur Philosophiegeschichte des Augensinns das Vorwort von Ralf Konersmann in: Kritik des Sehens, Leipzig 1999 2 , S. 9 - 4 7 sowie

Untersuchungen zum Sehen

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künstlerischen Medium, den Bildkünsten. Er formt sein künstlerisches Selbstbewußtsein, sein Arbeitsethos und seine dichterischen Gestaltungsprinzipien in der Auseinandersetzung mit der Plastik Rodins und der Malerei Cézannes.3 Und nicht zuletzt bildet er erst in der Beschäftigung mit der bildenden Kunst, vor allem dem Werk Cézannes, ein eigenes Wahrnehmungskonzept heraus. Seine Dichtung ist am Konkreten und Gegenständlichen, an der visuell-plastischen Gestalt ausgerichtet; unter dem Einfluß der bildenden Künste entwirft Rilke seine poetische Raumkonzeption. Dieses Dichtungsverständnis steht der einflußreichen, zumal romantischen Auffassung entgegen, die eine Orientierung der Poesie an der Musik favorisierte. Sie ist damit der grundlegenden Unterscheidung zwischen zeitlichen und räumlichen Künsten entgegengesetzt, die durch Lessing in die Dichtungstheorie Eingang fand. Lessing hatte mit der Tradition des Horazschen ,ut pictura poiesis' gebrochen und seine Differenzierung zwischen Dichtung und bildenden Künsten aus der Verschiedenheit der künstlerischen Mittel begründet.4 Rilkes Orientierung am Medium der Bildkünste fällt nun aber

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4

den Artikel .Sehen' im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Band 9, Basel 1995, S. 121-161, besonders .Bedeutungsgeschichtliche Leitlinien' (S. 121-134) vom selben Autor. Konersmann verweist etwa auf die Verankerung zahlreicher Begriffe der Erkenntnis, der Wahrnehmung und des Wissens in den verba videndi (vgl. .Anschauung', .Betrachtung', .Schau"), um die Spannweite der Bedeutung des Augensinns zu indizieren. Vgl. hierzu auch Gottfried Boehm: Sehen. Hermeneutische Reflexionen, in: Internationale Zeitschrift für Philosophie 1 (1992), S. 50-67, insbesondere S. 52. Vom Vorbildcharakter der Bildkünste spricht Rilke, nach seinen Quellen und Einflüssen befragt, noch in seinem späten Brief an Alfred Schaer vom 26.2.1924. „Und die Kunst ... die Künste! Daß ich Rodins Sekretär gewesen sei, ist nicht viel mehr als eine hartnäckige Legende, [...] Aber sein Schüler bin ich viel besser und viel länger gewesen [...] und als das stärkste Vorbild stand, seit 1906, das Werk eines Malers vor mir, Paul Cézannes, dem ich dann, nach dem Tode des Meisters, auf allen Spuren nachging." (Br. III, 859 f.) Genannt seien hier außerdem die WorpswedeKünstler, zumal Paula Modersohn-Becker und Rilkes spätere Frau Clara Westhoff. Der Aufenthalt in Worpswede stellt einen bedeutsamen Schritt innerhalb der künsderischen Entwicklung Rilkes zur sachlichen Poetik dar, mit der sich der Autor von seiner früheren gefühlsbefangenen, subjektiven Lyrik nachhaltig verabschiedet. Vgl. hierzu das Requiem für eine Freundin von 1908: „So ohne Neugier war zuletzt dein Schaun / und so besitzlos, von so wahrer Armut, / daß es dich selbst nicht mehr begehrte: heilig." (I, 649; Vers 85-87). Während Lessing die .Malerei' aufgrund des Nebeneinanders der Körper im Raum als Raumkunst qualifizierte, bestimmte er die Dichtung aufgrund ihres Prinzips der Konsekutivität bzw. Sukzessivität als Zeitkunst und grenzte sie kategoriell von der Malerei ab. Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon, in: Werke, hg. von Herbert G.

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Das Sehen

k e i n e s w e g s w i e d e r hinter Lessing zurück. E s g e h t i h m n i c h t u m eine malende oder beschreibende Dichtung, sondern d a r u m — geschult an den Plastiken u n d G e m ä l d e n - , .sehen z u lernen' als D i c h t e r . A u f d e r G r u n d l a g e des V i s u e l l e n u n d G e s t a l t h a f t e n w i r d eine L y r i k konzipiert, die d a m i t s p e z i f i s c h m o d e r n e dichterische M a ß s t ä b e setzt. 5 Z a h l r e i c h e A r b e i t e n h a b e n sich d e n I m p l i k a t i o n e n des .Sehens' b z w . ,Schauens' s o w i e seiner g r a m m a t i s c h e n A b l e i t u n g e n i m W e r k Rilkes g e w i d m e t . Z u m einen seien hier W o r t f e l d a n a l y s e n g e n a n n t , die v o n d e r phänomenologisch orientierten F o r s c h u n g angeregt w u r d e n . Käte H a m b u r g e r h a t die E n t w i c k l u n g eines p r ä g n a n t e n W o r t g e b r a u c h s des V e r b u m s . S c h a u e n ' u m f a n g r e i c h belegt; sie spricht dabei z u t r e f f e n d v o n e i n e m G r u n d - u n d S c h l ü s s e l w o r t Rilkes, das sich v o r a l l e m in d e r f r ü h e n u n d m i t d e r e n S c h a f f e n s p h a s e ausprägt, j e d o c h bis in die späte D i c h t u n g hinein w i c h t i g bleibt. Hierbei hat sie h e r v o r g e h o b e n , d a ß sich d e r B e g r i f f stets a u f d e n W a h r n e h m u n g s v o r g a n g bezieht, u n d z w a r in e r k e n n t n i s kritischer A b s i c h t , f ü r die sie eine strukturelle Parallele z u r P h ä n o m e n o l o gie H u s s e r l s reklamiert. 6 M i t dieser p h i l o s o p h i s c h e n A u s r i c h t u n g hat sich

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Göpfert, Band 6, Darmstadt 1996, S. 7-187. Einerseits hob Lessing damit den Eigenwert des Poetischen hervor, andererseits engte er das Gebiet der Dichtung wiederum ein, insofern er sie auf die Sukzessivität festlegte. Dies wurde bereits von zeitgenössischen Rezipienten wie ζ. B. Herder bemerkt. Vgl. Johann Gottfried Herder: Erstes Kritisches Wäldchen, in: Sämtliche Werke, a. a. O., Band 3, S. 1-188. Rilkes ikonographische Orientierung ist zeittypisch; sie stellt ein herausragendes Beispiel für die enge Verbindung der Lyrik zu den bildenden Künsten dar, die sich mit Dieter Lamping als ein Charakteristikum moderner Lyrik begreifen läßt. Lamping erwähnt hierbei, um nur einiges zu nennen, auch Baudelaires Kunstkritiken sowie dessen Auseinandersetzung mit Delacroix, Audens ,Bildbeschreibungen', Mallarmés visuelle Poesie und Apollinaires graphische Experimente. Vgl. Dieter Lamping: Moderne Lyrik. Eine Einführung, Göttingen 1991, S. 70-80. Vgl. hierzu auch den Sammelband: Lyrik und Malerei der Avantgarde, hg. von Rainer Warning und Winfried Wehle, München 1982, der sich mit der Wechselbeziehung der beiden Künste in den romanischen Avantgardebewegungen beschäftigt. Für die deutsche Lyrik hat etwa Claudia Öhlschläger in ihrem Rilke-Aufsatz auf Ansätze eines ,neuen Sehens' auch in der Dichtung Hugo von Hofmannsthals hingewiesen. Claudia Öhlschläger: ,Sagen können, wie es hier ist, werd ich ja nie'. Bildlektüren des Unbeschreiblichen in Rainer Maria Rilkes Briefen aus Spanien (1912/13), in: Hofmannsthal-Jahrbuch zur europäischen Moderne 4 (1996), S. 367-392, hier: S. 370. Vgl. Käte Hamburger: Die phänomenologische Struktur der Dichtung Rilkes, in: Rilke in neuer Sicht, hg. von Käte Hamburger, Stuttgart 1971, S. 83-159. Vgl. auch Helmut Naumann: Der Inhalt des Wortes SCHAUEN beim frühen Rilke, in: Ders.: Studien zu Rilkes frühem Werk, Rheinfelden/Berlin 1991, S. 124-169, der Hamburgers Aussagen vor allem bezüglich des frühen und mitderen Werks präzisiert. So datiert er

Untersuchungen zum Sehen

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zuletzt die Monographie von In-Ok Paek auseinandergesetzt, die die Dichtungen der mittleren Phase, die Neuen Gedichte sowie den Malte, unter der Maßgabe einer Poetik des ,neuen' Sehens interpretiert und hierbei in Abgrenzung von der phänomenologischen Interpretationsrichtung den Begriff der „Nicht-Intentionalität der poetisch dargestellten Wahrnehmung" prägt.7 Sie hält der phänomenologischen ,Reduktion' den schöpferischen Vorgang eines Sehens als ,künsderischer Methode' und damit die Freisetzung vielfacher Sinn- und Bedeutungsebenen in der Sprache' entgegen. Dieser Ansatz greift allerdings zu kurz, da er Wahrnehmung' als allein mittels Sprache hervorgebracht auffaßt. Zu großen Teilen wird das Sehen in Studien untersucht, die den Einfluß der bildenden Künste betreffen. Zunächst richtete die Forschung diesbezüglich das Augenmerk auf den Einfluß Auguste Rodins, der Rilke einer „strenge [n] Schule des Sehens" anhand der Kunstwerke der Antike, der Kathedralen des Mittelalters und der Plastiken des Bildhauers unterwarf. 8 Zweierlei wurde hier betont: zum einen die Beschäftigung mit den ,Kunstdingen', zum anderen eine explizit auf die äußere Wirklichkeit gerichtete Wahrnehmungshaltung, die sich für Rilke mit der Vokabel des ,Schauens' verbindet. Diese unterscheidet sich grundlegend vom frühen Werk, insofern sie von allem Subjektiven und Gefühlsbetonten abzusehen trachtet. Die Wahrnehmung wird zum integralen Bestandteil des Schaffensvorgangs erklärt: Das Sehen ist einerseits unabdingbare Voraussetzung des Gestaltens und andererseits dem Gestaltungsprozeß inhärent. Zu den wichtigsten Studien in diesem Zusammenhang gehören die Arbeiten von Ursula Emde aus den 1940er Jahren und von Martina Krießbach aus den 1980er Jahren. 9 Martina Krießbach akzentuiert bezüglich der Rodin-Rezeption die Erfahrung eines im Sichtbaren und Körperlichen determinierten plastischen Werks und zeigt deren ,Übersetzung' in das dichterische Medium, die sie bis ins späteste Werk nachzeichnet. Die Erfahrung des Plastischen hält sie für grundlegend und geht von einer bleibenden Beziehung zu Gestalt und Gestaltwerdung auch beim späten Rilke aus. Sie betont damit zutreffend die Orientierung dieser

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die Entwicklung eines prägnanten Gebrauchs des Wortes .Schauen' auf die Begegnung mit Jakob Wassermann im Jahre 1897. In-Ok Paek: Rilkes Poetik des ,neuen Sehens', a. a. O., S. 11. Vgl. hierzu Fülleborns Kommentar zu den Neuen Gedichten; K A I, 906. In der kommentierten Rilke-Ausgabe wird, einer neuen Tendenz der Forschung folgend, der Einfluß Rodins vornehmlich auf den ersten Teil der Neuen Gedichte bezogen, während für den zweiten Teil des Zyklus der Einfluß Cézannes hervorgehoben wird. Vgl. Ursula Emde: Rilke und Rodin, Marburg 1949. Auf diese Pionierarbeit stützt sich Martina Krießbach: Rilke und Rodin. Wege einer Erfahrung des Plastischen, Frankfurt a. M. 1984.

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Das Sehen

Dichtung an einer plastischen Raumauffassung, auch wenn sie den Veränderungen, denen die Gestaltkonzeption im Spätwerk unterliegt, nicht dezidiert nachgeht. Ausgelöst durch Herman Meyers Aufsatz über „Rilkes CézanneErlebnis" verlagerte sich das Interesse auf die Rezeption des französischen Malers.10 Zwar geht Meyer von dem Einfluß des Künstlercharakters Cézanne aus,11 akzentuiert jedoch im Unterschied zu früheren Arbeiten, die die ethische Seite des Künstlertums hervorgehoben hatten,12 vor allem das ästhetisch-objektive Moment. Leitend für die Rilkesche Dichtung zumal der mitderen Phase ist nach Meyer die Ausrichtung der Cézanneschen Kunst auf die réalisation, wobei er drei Aspekte dieses Programms hervorhebt und darstellt: die „Deutungslosigkeit des Kunstwerks, die Sachlichkeit des Schauens und die Autarkie des Kunstwerks".13 Meyer geht zudem näher auf das am Vorbild Cézanne geschulte Sehen ein, betont das absichtslose, alles Seiende gleichermaßen anerkennende Schauen, das unwählerisch und wertungslos ist und das einen primitiven bzw. kreatürlichen Blick zur Folge hat. Er hebt den häufigen Vergleich des Künstlerblicks mit dem Hundeblick in Rilkes Briefen über Césanne hervor und liest den Hund als „Chiffre für den Maler".14 Aktuelle Arbeiten haben die ästhetischen Parallelen zwischen Rilkes und Cézannes Kunst dezidiert in kompositioneller und struktureller Hinsicht untersucht und zu Einsichten bezüglich des Rilkeschen Dichtungsund Raumkonzepts geführt. Cézannes Malweise sowie Rilkes Bemühung 10

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Herman Meyer: Rilkes Cézanne-Erlebnis, in: Ders.: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, Stuttgart 1963, S. 244-286. Zuerst veröffentlicht in: Jahrbuch für Ästhetik und Allgemeine Kunstwissenschaft 2 (1952-1954), S. 69-102. Meyer betont dabei auch, daß die Begegnung mit dem Werk Cézannes einflußreicher auf die Dichtung Rilkes gewesen sei als das Werk Rodins. Meyers verdienstvolle quellenphilologische Arbeit stützt sich dabei in erster Linie auf die Memoiren Emile Bernards, die Rilke während der Zeit seiner Besuche der Cézanne-Gedâchtnisausstellung im Oktober 1907 gelesen hat und die sein Bild vom Charakter und der Arbeitsweise des Malers prägten. Vgl. Emile Bernard: Souvenirs sur Paul Cézanne, in: Mercure de France 69 (1907), S. 385-404 und 606-627. Vgl. hierzu vor allem die beiden Monographien von Else Buddeberg (.Kunst und Existenz im Spätwerk Rilkes. Eine Darstellung nach seinen Briefen', Karlsruhe 1948 und .Rainer Maria Rilke. Eine innere Biographie', Stuttgart 1955, besonders S. 120127) sowie die Arbeit des Kunsthistorikers Wolfgang Schneditz: Rilke und die bildende Kunst. Versuch einer Deutung, Graz 1947. Herman Meyer: Rilkes Cézanne-Erlebnis, a. a. O., S. 256. Ebd., S. 260 f. Der Vergleich zwischen dem Schauen des Künstlers und dem Hundeblick finde sich, so Meyer, implizit schon in dem wenig zuvor entstandenen Gedicht Oer Hund (I, 641), das den späteren Vergleich gewissermaßen präfiguriere. Ebd., S. 280 f. Er liest das Gedicht damit sowohl als Ding- als auch als Sinngedicht.

Untersuchungen zum Sehen

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um eine sprachliche Adaptation werden nun stärker in den Kontext der Sehtheorien um 1900 gestellt; hier ist insbesondere Conrad Fiedlers Konzeption eines ,reinen Sehens' wichtig.15 Die Studien in diesem Zusammenhang widmen sich vornehmlich den Briefen über Césanne,16 dem Zyklus der Neuen Gedichte und dem Malte}1 Am entschiedensten geht der Deutungsversuch von Annette Gerok-Reiter in ihrem Aufsatz zur 15

Conrad Fiedler: Der Ursprung der künsderischen Tätigkeit, in: Ders.: Schriften zur Kunst, mit einer Einleitung von Hans Eckstein, Köln 1977, S. 131-240. .Reines Sehen' meint nach Fiedler eine der Wissenschaft durchaus ebenbürtige, spezifisch .visuelle' Erkenntnis, die jedoch nicht auf Bedeutungen abziele, sondern, als ,Ausdrucksbewegung' verstanden, vornehmlich das Wie des Sehens zur Virtuosität ausbilde. 16 Vgl. Susanne Scharnowski: Rilkes Poetik des Blicks zwischen Einfühlung und Abstraktion: Die Bildbeschreibungen in den .Briefen über Cézanne', in: Poetik der Krise, a. a. O., S. 250-261 Scharnowski untersucht Rilkes Beschreibungen zweier Bildnisse Cézannes - Portrait Mme. Césanne (1877) und das Selbstportrait Günnes (1875/76) - vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Sehtheorien, deren Spannungspole mit Wilhelm Worringer als ^Abstraktion und Einfühlung' bezeichnet werden. Für die Abstraktion bringt sie hier Conrad Fiedlers Theorie der .reinen Sichtbarkeit' in Anschlag, für die Einfühlungstheorie u. a. Theodor Lipps. Rilkes Versuche, den Cézanneschen Prozeß der réalisation in Sprache zu übersetzen, bewege sich, so ihre These, zwischen den genannten Polen der Einfühlung und Abstraktion: „Cézannes malerisches Verfahren der réalisation ist auch für Rilke eine Form der ästhetischen Abstraktion von begrifflichem Wissen, die viele Gemeinsamkeiten mit Conrad Fiedlers Konzept eines ,reinen Sehens' aufweist. Doch zugleich sind Rilkes Briefe getragen von Empathie für das Leben und die Person Cézannes." (S. 255) Der Aufsatz unterzieht die dichterische Bemühung einer kritischen Wertung, insofern er die sprachliche Beschreibung an ihrem eigenen Anspruch bemißt und die Grenzen des Sprachmediums aufzeigt. Vgl. außerdem die Arbeiten von Konstantin Imm: Rilkes Briefe über Cézanne, Frankfurt a. M. 1986 (diese Arbeit enthält einen umfangreichen Forschungsbericht, der sämtliche Titel zum Thema Rilke - Cézanne von 1907 bis in die Mitte der 1980er Jahre berücksichtigt) und Paul Hoffmann: Rilke und Cézanne, in: Tutzinger Materialien 43 (1987), S. 1-30. 17

Ralph Köhnen: Sehen als Textkultur. Intermediale Beziehungen zwischen Rilke und Cézanne, Bielefeld 1995. In seiner semiotisch angelegten Studie hat Ralph Köhnen die Wortverhältnisse in den genannten Dichtungen der mitderen Werkstufe und die Bildverhältnisse in Cézannes Gemälden aufeinander bezogen. Vor dem Hintergrund des Laokoon-Problems und der Fiedlerschen Ausdrucksbewegung zeigt er die Möglichkeiten und Grenzen einer wechselseitigen Befruchtung der unterschiedlichen künstlerischen Medien. In seiner Bewertung des Spätwerks halte ich Köhnens Deutung für verfehlt, da er den Weltinnenraum einseitig als Verlagerung auf die Subjektseite mißversteht und das Spätwerk dann mit einer radikalkonstruktivistischen Weltsicht kurzschließt. Im Gegensatz zu Köhnen favorisiere ich nicht den Gedanken eines „poetischen Konstruktivismus" (S. 302), sondern den der poetischen Konstruktion.

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Das Sehen

Perspektivität bei Rilke und Cézanne vor, in dem die ästhetischen Parallelen nicht mehr allein auf die mitdere Phase, sondern auf das Spätwerk Rilkes bezogen werden.18 Für beide Künsder macht sie eine vergleichbare Raumerfahrung geltend, die sich einer unvoreingenommenen Konzentration auf den Wahrnehmungsvorgang im Vergessen tradierter Denkmuster und Wahrnehmungsschemata verdanke. Diese „kopernikanische Blickwendung"19 impliziert in der gestalterischen Praxis einen veränderten Umgang mit der Perspektive. Sie rekurriert dabei auf Kurt Leonhards Cézanne-Monographie,20 die anhand des berühmten Gemäldes Stilleben mit Früchtekorb (1886, Paris/Louvre) gezeigt hat, wie der Wechsel der Blickbewegungen und der Augenhöhen die Zentralperspektivik des Renaissanceraums außer Kraft setzt und wie die bildnerische Komposition durch die wechselnden unterschiedlichen Sehrichtungen und -höhen erst erzeugt wird.21 Den Befund, daß die Zentralperspektive mit künstlerischen Mitteln aufgebrochen wird, hat Gerok-Reiter auf die späte Lyrik Rilkes, explizit auf die Sonette an Orpheus, bezogen und hierbei anhand exemplarischer Sonett-Analysen nachgewiesen, daß „das flexible Spektrum an perspektivischen Möglichkeiten den Vorrang einer

18

Annette Gerok-Reiter: Perspektivität bei Rilke und Cézanne. Zur Raumerfahrung des späten Rilke, in: Deutsche Vierteljahrsschrift 67.3 (1993), S. 484-520. 19 Gerok-Reiter greift einen Ausdruck des Kunsthistorikers Gottfried Boehm bezüglich der Cézanneschen Malerei auf. Vgl. Gottfried Boehm: Paul Cézanne. Montagne Sainte-Victoire. Eine Kunst-Monographie, Frankfurt a. M. 1988, S. 29 f. Boehm wiederum greift auf Kants Verständnis einer kopernikanischen Wende in der Philosophie zurück, modifiziert den Begriff aber für die Malerei im Sinne einer Konzentration auf den Sehakt selbst und einer dadurch bedingten Veränderung der Bildstruktur. Diese ,kopernikanische Wende des Blicks' bezieht er nicht allein auf Cézanne, sondern auf die moderne Malerei insgesamt, insbesondere auch den Impressionismus. Vgl. seinen Beitrag: Eine kopernikanische Wende des Blickes, in: Sehsucht. Uber die Veränderung der visuellen Wahrnehmung, hg. von der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Göttingen 1995, S. 25-42. 20 Kurt Leonhard: Cézanne, Reinbek 1966. 21 Leonhard schlußfolgert, daß die Wahrnehmung bei Cézanne nicht der mimetischen Abbildung von Wirklichkeit dient; das gemalte Bild zielt nicht mehr wie in der Renaissancemalerei auf eine illusionäre Raumwirkung, sondern darauf, im Medium der Malerei Raum allererst zu erzeugen. Bei Cézanne kommt der Wahrnehmung als konstitutiver Grundlage der künstlerischen Gestaltung daher eine konstruktive, schöpferische Aufgabe zu. Wahrnehmung ist, wie Leonhard pointiert, recht eigentlich die „vierte Dimension", die eine grundlegend veränderte Raumerfahrung bewirkt. Ebd., S. 32 f. Leonhard selbst verweist auf die grundlegende Studie von Erle Loran, der die Kompositionsprinzipien in Cézannes Gemälden minutiös untersucht hat. Erle Loran: Cézanne's composition. Analysis of his form, with diagrams and photographs of his motivs, Berkeley and Los Angeles 1963.

Untersuchungen zum Sehen

41

festgelegten Sichtweise unterbindet. Ausdrücklich geht es um Standortpluralität. [...] jeweils kommt es auf die Bewegungsfreiheit der Sichtweise an, die das einseitig intentionale Auf-etwas-Gerichtetsein zu unterlaufen sucht."22 Ihre Darstellung ist für meine Arbeit relevant, da sie einen wichtigen aktuellen Beitrag zum Verständnis der Wahrnehmungs- und Gestaltungsweise des späten Rilke präsentiert. Gerok-Reiter überträgt Cézannes flexiblen Umgang mit der Perspektive auf Rilkes späte Dichtung unter der folgenden Prämisse: Sie parallelisiert den .Verkehr der Farben' auf Cézannes Bildern mit seinem Umgang mit der Perspektive, und sie analogisiert den ,Verkehr der Sprachelemente' in den Sonetten an Orpheus mit der grammatischen Perspektive. Die von Rilke in seinen Briefen über Césanne eigens betonte „Wendung in dieser Malerei"23 besteht nach Gerok-Reiter in dem ,Verkehr der Farben'. Hier ließe sich kritisch fragen, ob besagte .Wendung' sich tatsächlich allein auf den Bereich der künstlerischen Mittel und zumal der Farben bezieht und ob dabei nicht der Aspekt der réalisation vernachlässigt wird, wonach Wirklichkeit — und das meint keine abgezogene Kunstwirklichkeit — künstlerisch allererst zu leisten ist.24 Hielte man auch für den späten Rilke am Begriff der réalisation fest, so wäre dann nicht das Aufgeben der vormaligen Gegenstandsorientierung, wie Gerok-Reiter postuliert, das Entscheidende, sondern die grundlegende Veränderung, der die Dingauffassung im

22

Annette Gerok-Reiter: Perspektivität, a. a. O., S. 496. .Perspektive' versteht GerokReiter vornehmlich als grammatische Perspektive. Dem Aufbrechen der Zentralperspektive im Bildmedium entspräche im dichterischen Medium die Loslösung von der perspektivischen Vorrangstellung des lyrischen Ich. Die lyrische Realisierung einer flexiblen Perspektivik vollzieht sie an der Pronominalstruktur und der syntaktischen Komposition nach, also bezüglich der sprachlichen Mittel. Für die Sonette an Orpheus macht sie hierbei im wesentlichen drei sprachliche Verfahren aus: die Perspektivsprünge (vgl. das Sonett I 3), die perspektivische Variabilität des grammatischen Subjekts und Objekts (vgl. die Sonette II 25 und I 14) sowie die Simultaneität verschiedener Perspektiven (vgl. das Sonett II 11). 23 Vgl. Rilkes Brief vom 18.10.1907 an seine Frau: „Es ist gar nicht die Malerei, die ich studiere [...] Es ist die Wendung in dieser Malerei, die ich erkannte, weil ich sie selbst eben in meiner Arbeit erreicht hatte oder doch irgendwie nahe an sie herangekommen war [...]" (Cé, 48 f.). 24 Kurt Leonhard betont diesen Aspekt in seiner Beschreibung des Cézanneschen Stilleben mit Früchtekorb (1886) nachdrücklich. Kurt Leonhard: Cézanne, a. a. O., S. 34 f.: „Wie dieses Vorstellungsbild, diese unauflösliche Einheit von subjektivem Akt und objektivem Datum, sich im Prozeß der genauen Wahrnehmung - besser würde man hier .Wahrgebung' sagen - entwickelt, das haben aufmerksame Beobachter wie Fritz Novotny und Erle Loran an Hand sorgfältiger Bildanalysen gezeigt." (S. 35).

42

Das Sehen

Spätwerk unterliegt.25 Dieser Veränderung des Ding-Konzepts korrespondiert meines Erachtens eine Veränderung der Bedeutung und des Gebrauchs der Sinne. Die von Rilke hervorgehobene .Wendung' bezüglich seiner eigenen Dichtung ist danach nicht so sehr auf einen flexiblen Umgang mit der grammatischen Perspektive zu beziehen, als vielmehr zu einem veränderten Gebrauch der Sinne, insbesondere des Sehens, ins Verhältnis zu setzen. Während für die mittlere Werkstufe der Leitcharakter des Visuellen und die Orientierung an den bildenden Künsten unbestritten ist, gehen bezüglich der späten Lyrik die Auffassungen in der Forschung auseinander. Weitgehende Einstimmigkeit besteht in der Auffassung, daß sowohl das Sehen als auch der Einfluß der Bildkünste ihre dominante Stellung bzw. ihre Leitfunktion verlieren. Rilkes dichterisches Konzept wandelt sich in der sogenannten ,Krisenzeit' nachhaltig. Die Forschung hat darauf hingewiesen, daß der Wandel des sprachlichen Gestus bzw. der dichterischen Sprachgestaltung mit einer Veränderung des poetischen Wahrnehmungskonzepts zusammenhängt. Jutta Wermke prägte für diesen Zusammenhang die Wendung von der "Krise der Wahrnehmung". 26 Bislang ist noch keine Monographie erschienen, die explizit das Sehen beim späten Rilke untersuchte, allerdings gehen zahlreiche Studien im Zusammenhang mit der Landschaftskonzeption, der Ding- und 25

Gerok-Reiter stellt Rilkes Lyrik mit ihrer These in die Tradition autonomer Dichtung. Annette Gerok-Reiter: Perspektivität, a. a. O., S. 485. Das Gleichgewicht zwischen Autonomie der künsderischen Mittel und Gegenstandsbezogenheit gelte zwar für den mitderen Rilke, weiche nach dem Ersten Weltkrieg aber einer zunehmenden Abstraktheit: „Die Phänomenologie der Dinge weicht einer sich nurmehr in Andeutungen haltenden Chiffrensprache. Das poetologische Konzept der .Figur' ersetzt den Maßstab plastischer Konsistenz." (S. 487) Dieser These entspricht, daß Gerok-Reiter das Spätwerk nicht mehr unter der Maßgabe des Visuell-Plastischen begreift und das Hören als strukturelle Matrix zumal der Sonette an Orpheus auffaßt. Demgemäß ordnet sie den Cézanneschen taches eine wortgeneüsche Technik zu, die in den Sonetten wirksam sei. Diese Technik bestimmt sie als Moment eines musikalischen Prinzips der späten Lyrik. Vgl. dazu auch die Dissertation der Autorin, wo sie Rilkes Dichtung dann ausdrücklich in die symbolistische Strömung einordnet: Wink und Wandlung. Komposition und Poetik in Rilkes .Sonette an Orpheus', Tübingen 1996. 26 Jutta Wermke: Landschaft als ästhetische Konstruktion zur Überwindung der ,gedeuteten Welt', a. a. O., S. 281. Bereits Anthony Stephens hat in seiner Monographie zu den Gedichten an die Nacht auf die existentielle Problematik, die der sogenannten Schaffenskrise zugrunde liegt, nachdrücklich verwiesen: ,,[D]ie Krise scheint wesentlich im vorsprachlichen Bereich der Erfahrung zu wurzeln. Nicht etwa das Mitteilen innerer Vorgänge ist problematischer geworden, sondern vielmehr die Grundstruktur der Erfahrung selbst [...]". Vgl. Anthony Stephens: Nacht, Mensch und Engel. Rilkes Gedichte an die Nacht, Frankfurt a. M. 1978, S. 38 f.

Untersuchungen zum Sehen

43

Gestaltauffassung und schließlich dem poetischen Raumkonzept ausführlicher auf das Sehen ein. Jutta Wermke beschäftigt sich in ihrer Untersuchung der ästhetischen Landschaftsmodelle in Rilkes Werk mit vier Stationen, denen sie jeweils spezifische Sehweisen zuordnet: Rußland, Paris, Spanien und das Wallis. Ihre Interpretation geht von zwei konträren Bedeutungskomplexen in Rilkes Dichtung aus: der „gedeuteten Welt" (I, 685; Vers 13) und deren lyrischer Überwindung. Wesentlich an dieser These ist, daß sowohl die ,gedeutete Welt' als auch die ästhetische Landschaftskonzeption in den Werkphasen jeweils unterschiedlich gefaßt werden. 27 So konnte Jutta Wermke zeigen, daß sich angesichts der Erfahrung der spanischen Landschaft und der Konfrontation mit den Gemälden des spanischen Manieristen El Greco eine neue Sehweise ausprägt, die sie zutreffend auf die Orientierung an einer „unverminderten Wirklichkeit" bezieht. 28 Diese Auffassung wendet sich gegen eine reduzierte Welt, die „wesentliche Bereiche der Wirklichkeit - die Schmerzen, den Tod, die Abgründe - leugnet". 29 Nach Wermke wird diese Auffassung durch die Malweise El Grecos unterstützt, insofern dort die Gesetze der Zentralperspektive unterminiert werden „durch Entgrenzung des oberen und unteren Bildrandes, über den die Vertikaldynamik der hochgezogenen Proportionen den Betrachter hinausreißt". 30 Für die Wahrnehmung konstatiert Wermke hier eine nachhaltige Erschütterung, die sich bezüglich des Visuellen als ein entgrenzendes Sehen bekunde, dem die Bevorzugung der Nacht korrespondiere, die zudem aber stärker den auditiven Modus und die Nahsinne zur Entfaltung bringe. Diese Andeutungen halte ich bezüglich der Veränderung des Wahrnehmungskonzepts für entscheidend und werde mich im folgenden

27

Schon für den frühen Rilke zeigt Wermke dabei, daß sich angesichts der russischen Landschaft ein Aufbrechen der monokularen Zentralperspektive und des anthropozentrischen Standpunktes vollzieht, was allererst zu einem poetischen Landschaftskonzept in der Worpsivede-Monogcaphie

und den Dichtungen des Stunden-Buchs führt.

Jutta Wermke: Landschaft als ästhetische Konstruktion, a. a. O., S. 2 5 8 - 2 6 6 . 28

Ebd., S. 279.

29

Ebd.

30

Ebd., S. 280. Claudia Öhlschlägers Untersuchung der Briefe aus Spanien kommt zu einer anderen Akzentuierung des Verhältnisses zwischen den Bildern El Grecos und der Landschaftserfahrung. Die Wahrnehmung der spanischen Landschaft sei durch die Lektüre der Greco-Bildnisse bereits präfiguriert, so daß ein unverstelltes Sehen der Landschaft gar nicht mehr gelingen könne. Erst diese ikonographische Vorprägung bewirke ein ,Uberladen- und Geblendetwerden' des Auges. Rilkes Briefe aus Spanien werden damit zum Exemplum einer krisenbefangenen Orientierung der Dichtung am Medium

der

bildenden

Künste.

Vgl.

Unbeschreiblichen, a. a. O., S. 3 6 7 - 3 9 2 .

Claudia

Öhlschläger:

Bildlektüren

des

Das Sehen

44

auch auf sie stützen. Wermke vertritt die These, daß die Wahrnehmungskrise vor allem das Sehen betreffe und daß dies zu einer zunehmenden Aufwertung des Hörens auf Kosten des Sehens im späten Werk führe. Hiermit wäre sie in eine gegenwärtige Tendenz in der Forschung einzuordnen, die von einem paradigmatischen Wechsel vom Leitsinn des Sehens zu dem des Hörens im Spätwerk ausgeht, die in erster Linie anhand des Zyklus der Sonette an Orpheus, der späten Musikgedichte sowie Rilkes Beschäftigung mit Musik belegt wird. 31 Dieser Position steht die Auffassung in der Forschung gegenüber, daß auch für den späten Rilke das Sehen wesentlich bleibt — allerdings mit veränderten Implikationen. Hiermit verbunden ist die Frage nach der Auseinandersetzung des Dichters mit der bildenden Kunst. Nachhaltig hat wiederum zuerst Herman Meyer darauf hingewiesen, daß der Einfluß der bildenden Künste zwar für das mittlere Werk umfangreich untersucht wurde, daß diese Frage für das Spätwerk hingegen fast vollständig vernachlässigt worden sei.32 Zwar hält Meyer daran fest, daß das Werk Paul Cézannes unhintergehbarer Maßstab in der Bewertung der modernen Kunst bleibe, fragt jedoch nach Rilkes Rezeption der Kunst nach Cézanne, geleitet von der These, daß auch der späte Rilke „zuerst und zuletzt ein echter Künstler [ist], auf Gestalt versessen; ihm wird die Wirklichkeit erst als Gestalt sinn- und wertvoll." 33 Gestützt auf umfangreiches Briefmaterial, vor allem aus den Krisenjahren, zeigt Meyer, daß Rilkes Reflexion über das ,Schwinden des Sichtbaren' angesichts der ,Entwirklichungs'-Tendenzen in der Moderne — Beschleunigung und Technisierung — nicht nur ein zentrales Problem der zeitgenössischen Kunst berührt, sondern daß Rilke sich in diesem Zusammenhang mit der modernen Malerei, vor allem mit Picasso und Klee, auseinandergesetzt hat.34 Meyer pointiert, daß sich erst in dieser Auseinandersetzung das

31

Vgl. zu der These v o m Wechsel des Leitsinns den Forschungsbericht im Kapitel zum Hören.

32

Vgl. Herman Meyer: Die Verwandlung des Sichtbaren. Die Bedeutung der modernen bildenden K u n s t für Rilkes späte Dichtung (1957), in: Ders.: Zarte Empirie. Studien zur Literaturgeschichte, Stuttgart 1963, S. 2 8 7 - 3 3 6 .

33

Ebd., S. 269.

34

O b w o h l Meyer das Verhältnis zu Klee kritisch sieht, hat seine Untersuchung eine Beschäftigung in der jüngeren Forschung mit dem Klee-Bezug bzw. mit den ästhetischen Parallelen der beiden Künsder Rilke und Klee ausgelöst. Vgl. hierzu Annette Gerok-Reiter: Wink und Wandlung, a. a. O., insbesondere ihr Exkurs ,Klees konstruktive Abstraktion' (S. 2 3 4 - 2 3 8 ) und Peter Por: Rilke - Rodin, Cézanne, Klee: Die Schöpfung des Raumes in der Moderne, in: Actes du X l l e

congrès

de

l'Association internationale de Littérature comparée, editeur Roger Bauer, Band 3, München 1990, S. 50—56. Ein zentraler Beleg für die v o n Rilke gezogene Verbindung

Untersuchungen zum Sehen

45

dichterische V e r w a n d l u n g s k o n z e p t des Spätwerks herausbilden k o n n t e , für das er v o r allem a u f die Siebte u n d Neunte Elegie zurückgreift. G e g e n die bis d a t o v o r h e r r s c h e n d e T h e s e v o n einer T r a n s z e n d i e r u n g bzw. V e r g e i s t i g u n g d e s Sichtbaren 3 5 b e t o n t M e y e r nachhaltig, daß a u c h der späte Rilke an der visuellen G e s t a l t a u f f a s s u n g festhalte. D i e n a c h f o l g e n d e F o r s c h u n g hat z u m Teil an M e y e r a n g e s c h l o s s e n , sich z u m T e i l auch sehr kritisch m i t s e i n e m A n s a t z auseinandergesetzt. 3 6 M e y e r s U n t e r s u c h u n g berührt die Frage n a c h d e m S e h e n letztlich indirekt i m H i n b l i c k a u f Rilkes späte Gestalt- u n d D i n g a u f f a s s u n g . E i n z e l n e A r b e i t e n sind d a g e g e n dezidierter auf die V a l e n z d e s S e h e n s i m Spätwerk eingegangen: 3 7 M o n i k a Fick, die sich in ihrer Studie z u m

35

36

37

zwischen Zeitphänomen und moderner Kunstentwicklung ist die Klee-Monographie von Wilhelm Hausenstein, die Rilke gelesen hat. Vgl. Ders.: Kairuan oder die Geschichte vom Maler Klee und von der Kunst dieses Zeitalters, München 1921. Diese Auffassung findet sich etwa in der Studie von Otto Friedrich Bollnow: Rilke, Stuttgart 1951 und auch bei Else Buddeberg: Die Duineser Elegien R. M. Rilkes. Ein Bild vom Sein des Menschen, Karlsruhe 1948. Letztere legt die „Umwandlung des Sichtbaren in Unsichtbares" (Br. III, 899) in Richtung Transzendenz aus, wenn sie dabei auch zutreffend den Aspekt der Gestalt hervorhebt: „Durchgehend durch die Elegien aber hat die Bezogenheit auf die Transzendenz ihren Sinn nur in der Zurückwendung ins Irdische [...]" (Ebd., S. 295). Herman Meyer und nach ihm Martina Krießbach (Dies.: Rilke und Rodin, a. a. O.) halten an der Gegenständlichkeit fest und gehen von einer „Bewahrung der noch erkannten Gestalt" (Siebte Elegie, Vers 66-67) in der Vorstellung aus. Vgl. hierzu auch: Rainer Maria Rilke: Uber moderne Malerei, Zusammenstellung und Nachwort von Martina Krießbach-Thomasberger, Frankfurt a. M./Leipzig 2000. Die jüngere Forschung hat den Begriff der Abstraktion stärker differenziert und konnte damit über Meyers Argumentation hinausgehen: Wenn Abstraktion nicht einfach mit Entgegenständlichung gleichgesetzt wird, sei auch für den späten Rilke eine stärkere Abstraktheit zu konstatieren. Die Valenz des Abstraktionsbegriffs verschiebt sich damit Richtung Konstruktion und Figurkonzept. Genannt seien hier vor allem Winfried Eckel: Musik, Architektur, Tanz. Zur Konzeption nicht-mimetischer Kunst bei Rilke und Valéry, in: Rilke und die Weltliteratur, hg. von Manfred Engel und Dieter Lamping, Düsseldorf 1999, S. 236-259; Peter Por: Rilke - Rodin, Cézanne, Klee, a. a. O.; mit Einschränkung auch Manfred Engel: Rainer Maria Rilkes .Duineser Elegien' und die moderne Lyrik, Stuttgart 1986. Letzterer versteht das Verwandlungskonzept als Verbindung von konkreter und abstrakter Dichtung. Mit Meyers Thesen, vor allem seinem Plädoyer für den Gegenstandsbezug, hat sich unlängst Annette Gerok-Reiter auseinandergesetzt. Vgl. Dies.: Wink und Wandlung, a. a. O., S. 222 ff. Die aktuelle Forschung bindet im Rekurs auf Beda Allemann (Ders.: Zeit und Figur beim späten Rilke. Ein Beitrag zur Poetik des modernen Gedichts, Pfullingen 1961) das Verwandlungskonzept an ein temporal strukturiertes figúrales Konzept. Siehe zudem: Patrick Bridgewater: Rilke and the Modern Way of Seeing, in: Rilke und der Wandel in der Sensibilität, hg. von Herbert Hertzmann und Hugh Ridley, Essen

46

Das Sehen

psychophysischen Monismus in der Literatur der Jahrhundertwende auch mit dem Werk Rilkes beschäftigt, arbeitet hierbei mit dem Begriff des „organologischen Sehens". 38 Damit ordnet sie Rilkes Dichtung in den Zeitkontext ein und weist erstmals auf die Bezüge zu dem Biologen Jacob von Uexküll hin, die sie dann anhand des Gesicht-Motivs in der Rilkeschen Lyrik erhellt.39 Martina Krießbach-Thomasbergers Interpretation des Walliser Landschaftsgedichts Vorfrühling und Anke Bennholdt-Thomsens Untersuchung des poetologischen Raumkonzepts bei Rilke und Celan41 haben bezüglich der dichterischen Raumerfahrung und -gestaltung beim späten Rilke auf den Zusammenhang zwischen dem Sehen und anderen, vor allem auditiven Wahrnehmungen hingewiesen und damit einen Weg vorgezeichnet, der in der vorliegenden Untersuchung beschritten wird. Martina Krießbach-Thomasberger zeigt anhand einer detaillierten Gedichtanalyse, daß das landschaftliche Sehen bzw. Wahrnehmen ausdrücklich kosmische Vorgänge integriert, und sie akzentuiert, daß der dichterische Vorgang „ein der gewöhnlichen Wahrnehmung nicht Faßbares [...] zum sprachlichen Erscheinen" bringt.42 Sie bestimmt die Landschaft des Wallis als eine des Gesichts und des Gehörs und geht zudem auf haptische Sinneserfahrungen ein. 1990, S. 19-41 sowie Fabian Störmer: Rilkes Poetik des Erblindens, a. a. O., S. 155177. Störmers Aufsatz hat sich unter poetologischen Gesichtspunkten dem Topos der Blindheit gewidmet. 38

39 40 41

42

Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele, a. a. O.; siehe darin vor allem das Kapitel: Organologisches Sehen oder die Verdichtung der Welt zur ,Umwelt': Rainer Maria Rilke, S. 184-223. Ebd., S. 216 ff. Martina Krießbach-Thomasberger: Ein Walliser Landschaftsgedicht Rilkes, in: Blätter der Rilke-Gesellschaft 15 (1988), S. 63-78. Anke Bennholdt-Thomsen: Das poetologische Raum-Konzept bei Rilke und Celan, in: Celan-Jahrbuch 4 (1991), S. 117-149. Im vorliegenden Zusammenhang gehe ich auf ihre Untersuchung von Rilkes Spätwerk ein, lasse jedoch den Vergleich mit Celans Dichtung unberücksichtigt. Martina Krießbach-Thomasberger: Ein Walliser Landschaftsgedicht, a. a. O., S. 66. Dieses mit den .gewöhnlichen' Sinnen nicht Faßbare bestimmt sie als ein unsichtbar wirkendes Prinzip in der Natur und rekurriert dabei auf die Vorstellung einer .natura naturans'. Wie später Wermke betont sie den schöpferischen, konstruktiven Aspekt des landschaftlichen Sehens. Vgl. Jutta Wermke: Landschaft als ästhetische Konstruktion, a. a. O., S. 287 ff. (Wermke untersucht die brieflichen Landschaftsbeschreibungen). Zuletzt hat sich eindringlich Winfried Eckel mit den späten Landschaftsgedichten, zumal den in französischer Sprache geschriebenen, beschäftigt. Vgl. Ders.: Wendung. Zum Prozeß der poetischen Reflexion im Werk Rilkes, Würzburg 1994, S. 210-217.

Untersuchungen zum Sehen

47

Anke Bennholdt-Thomsen widmet sich den Raumkonzepten des späten Rilke und Celans; diese verdanken sich einer vergleichbaren dichterischen Position, die mit einem Blickwechsel und einer grundlegend veränderten Perspektive einhergeht. Schon vor Gerok-Reiter hat Bennholdt-Thomsen damit zeigen können, wie das dichterische Raumkonzept des Spätwerks durch einen Wechsel bzw. eine Umkehr der Perspektive bedingt ist, wobei sie diese mit einer erkennntniskritischen Einstellung verbindet. So macht sie als entscheidende Prämisse die Todeserfahrung geltend, wie sie sich im Malte niedergeschlagen hat. 43 Die MalteErfahrung betrifft die „blickmäßige Auseinandersetzung" 44 mit dem Schrecklichen, Fremden und Unvertrauten, die im Spätwerk zu Versuchen einer lyrischen Raumerschließung führt, die nicht mehr an der subjektiven Perspektive des Menschen orientiert sind. Wie Wermke arbeitet Anke Bennholdt-Thomsen diesbezüglich die Ausrichtung der sinnlichen Wahrnehmung an der Vertikalen heraus und betont, daß diese Raumerschließung „höchst empirisch gestaltet [wird]. Rilke und Celan bedienen sich grundsätzlich vor allem der sinnlichen Fähigkeiten des Sehens, Fühlens, Berührens, Hörens und Riechens." 45 Das Sehen beim späten Rilke, so zeigen letztgenannte Aufsätze, steht im Kontext einer komplexen Konfiguration der Sinne. Die These der vorliegenden Untersuchung ist, daß man dem Wahrnehmungskonzept des späten Rilke nur dadurch gerecht werden kann, daß man die Aufmerksamkeit nicht auf die vermeintliche Dominanzverschiebung unter den Leitsinnen des Sehens und des Hörens richtet, sondern die Beteiligung aller Sinne in der Herausbildung einer neuen Wahrnehmungs- und Gestaltungsform berücksichtigt. Es steht zu hoffen, dabei nähere Aufschlüsse zu erlangen sowohl über die Veränderungen, von denen der Einzelsinn betroffen ist, als auch über die Poetik der Sinne des späten Rilke. Der Forschungsposition, daß das Hören zunehmend an Bedeutung gewinnt, ja daß das poetische Sprechen sich nun stärker am Klanglichen orientiert, ist vorbehaltlos zuzustimmen. Hierbei darf jedoch nicht übersehen werden, daß das Sehen auch im späten Werk relevant bleibt, daß es nicht etwa abgelöst wird durch einen neuen Leitsinn. Das Visuelle ist nach wie vor von großer Bedeutung — in umgewerteter Art und Weise, 43

Zu Recht liest Bennholdt-Thomsen damit einzelne Abschnitte des Malte als Präfigurationen bzw. als Voraussetzungen der späten lyrischen Perspektive und Raumauffassung.

44

Ebd., S. 122.

45

Ebd., S. 125. Bennholdt-Thomsen zeigt dies vor allem für das Sehen und tendenziell auch für das Hören anhand der Umkehrung der Blick- und der Hörrichtung, weist aber zugleich auf die große Bedeutung des Körper- bzw. Raumgefühls für die lyrische Raumerschließung hin.

48

Das Sehen

wie zu zeigen sein wird — , insofern es für Rilkes Gestalt- und Raumauffassung unabdingbar ist. Allerdings treten das Auditive, aber auch die anderen sinnlichen Modi, das Fühlen, Schmecken und Riechen, dem Visuellen tendenziell gleichwertig an die Seite, ohne daß sich hier eine Hierarchie der Sinne ausmachen ließe. Im ersten Kapitel der Arbeit wurden zwei dichterische Bemühungen bezüglich der Poetik der Sinne herausgestellt: zum einen die Übersetzungsvorgänge zwischen den Eindrücken verschiedener Sinne, zum anderen die qualitative Erweiterung des Einzelsinns. Beide Bemühungen sind letztlich aufeinander verwiesen in Richtung auf eine Vollzähligkeit, auf die das Wahrnehmungskonzept im Spätwerk zuhält. Was heißt das nun zunächst für das Sehen? Im folgenden soll anhand konkreter poetischer Bilder und Motive gezeigt werden, inwieweit das Visuelle in Rilkes Spätwerk eine qualitative Erweiterung erfährt; dabei wird zu fragen sein, worauf diese Erweiterung zielt, worauf das Sehen im Spätwerk zuhält und in welches Verhältnis es dabei zu den nicht-visuellen Sinnen, insbesondere zum Hören, tritt. Wenn in dieser Arbeit, zumal bezüglich des Sehens, des Hörens und der Taktilität, vom .Übergang zum Spätwerk' gesprochen wird, so ist damit eine Zeitspanne gemeint, die zum einen schon zum Spätwerk gehört, zum anderen aber eine Phase des Krisenbewußtseins und der Veränderungen markiert, die dem Spätwerk gewissermaßen vorgelagert ist, sich aber gleichwohl mit diesem verbindet. Es wäre gewiß unzulässig, hier harte zeitliche Brüche festzulegen und diesen Übergang genau datieren zu wollen. Die Vorstellung des Übergangs weist ja von sich aus solche scharfen Umgrenzungen zurück. Die angesprochenen Veränderungen in der Rilkeschen Lyrik schlagen sich, um doch eine gewisse zeitliche Eingrenzung vorzunehmen, vielleicht am deutlichsten in den lyrischen Projekten der Jahre 1912—14 nieder, die daher auch die größte Beachtung finden sollen.

2.2. Die Umwertung des Sehens im Übergang zum Spätwerk 2.2.1. Die Erschütterung des Konzepts des ,Sehens' in der Krisenzeit War das mittlere Werk im Zeichen des ,Sehen Lernens' noch von dem Vorsatz und Optimismus getragen, die Dinge in der Arbeit des Schauens und der künstlerischen Umsetzung erfassen zu können, 46 so sind zumal 46

Prägnant hat Rilke diese Haltung des ,Schauens' bzw. .Anschauns' in seinem Brief aus Capri vom 8.3.1907 an seine Frau charakterisiert: „Das Anschauen ist eine so wunderbare Sache, von der wir so wenig wissen; wir sind mit ihm ganz nach außen gekehrt, aber gerade wenn wirs am meisten sind, scheinen in uns Dinge vor sich zu

Die Umwertung des Sehens

49

die während des Spanien-Aufenthalts verfaßten Briefe von einer tiefen Skepsis gegenüber der Möglichkeit eines unverstellten Sehens gekennzeichnet. Angesichts der Eindrücke der spanischen Landschaft erscheint Rilke sein bisher geübter Gebrauch der Sinne als einseitig und unzureichend. In seinem Brief an Lou Andreas-Salomé vom 19.12.1912 beschreibt er diesen im Modus des Visuellen als angestrengtes und fruchtloses Schauen, als krampfhaftes Erfassen-Wollen: [U]nd jetzt sitz ich da und schau und schau, bis mir die Augen wehtun, und zeig mirs und sag mirs vor, als sollt ichs auswendig lernen, und habs doch nicht und bin so recht einer, dems nicht gedeiht. (Br. II, 387)

In die Wahrnehmung und zuvörderst in das Sehen als den dominierenden Modus trägt sich nun deutlich eine kritische Implikation ein. Die Konfrontation mit der spanischen Landschaft stellt Anforderungen an das Sehen, auf die die langjährige Praxis offenbar nicht vorzubereiten vermochte; so beschreibt Rilke das Sehen nun geradezu als verbraucht, wenn er rückblickend 1914 an die Musikerin Magda von Hattingberg schreibt: Und da schaute man nun und war, wie Moses, mit dem ganzen Gesicht ans Ungeheure verpflichtet. Nun hatte ich schon die Jahre vorher v o r den größesten Eindrücken gestanden, plötzlich in Ronda [...] wurde mirs klar, daß mein Sehen überladen sei, auch dort noch ging der Himmel so großartig vor und die Wolkenschatten zogen einen solchen Ausdruck über das Wesen der Erde - , ach da saß ich und war wie am Ende meiner Augen, als müßte man jetzt blind werden um die eingenommenen Bilder herum, oder, wenn schon Geschehen und Dasein unerschöpflich sind, künftig durch einen ganz anderen Sinn die Welt empfangen: Musik, Musik: das wär es gewesen.

gehen, die auf das Unbeobachtetsein sehnsüchtig gewartet haben, und während sie sich, intakt und seltsam anonym, in uns vollziehen, ohne uns,- wächst in dem Gegenstand draußen ihre Bedeutung heran, ein überzeugender, starker, - ihr einzig möglicher Name, in dem wir das Geschehnis in unserem Innern selig und ehrerbietig erkennen, ohne selbst daran heranzureichen, es nur ganz leise, ganz von fern, unter den Zeichen eines eben noch fremden und schon im nächsten Augenblick aufs neue entfremdeten Dinges begreifend - . " (Br. 2 I, 247) Die lyrische Gestaltung gründet in Anlehnung an Cézanne - auf dem Akt eines ganz nach außen gerichteten Sehens, einer durch kein Vorwissen vorgeprägten oder beeinflußten Wahrnehmung, die in der Forschung zumeist mit dem Attribut der Objektivität und Sachlichkeit belegt wird. Vgl. hierzu vor allem Herman Meyer: Rilkes Cézanne-Erlebnis, a. a. O., S. 260 ff. Das ,Anschaun' wäre hier als ein .Erfassen' zu qualifizieren, jedoch nicht im Sinne der Aneignung, sondern in Anbetracht des Fremdbleibens des geschauten Dinges, insofern dieses sich sogleich wieder entzieht. 47

Rilke in Spanien. Briefe. Gedichte. Tagebücher, hg. von Eva Söllner, Frankfurt a. M./Leipzig 1993, S. 123 f.

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Während das Auge den Anforderungen der „größesten Eindrücke", wie der Brief besagt, nicht gewachsen zu sein scheint, tritt hier nun das Gehör als unverstellter Sinn auf den Plan, der, wie Rilke betont, „neu [ist] wie eines Tragkindes Fußsohle — [—]".48 Der Brief indiziert bereits die zunehmende Bedeutung, die der auditive Modus in Rilkes später Dichtung erhalten wird. Andererseits aber zeigen die in Spanien geschriebenen Briefe und Gedichte, vor allem die Spanische Trilogie und die Erlebnis-Aufzeichnungen, daß das Sehen nicht einfach durch das Hören ersetzt werden kann und Rilke dies auch gar nicht intendierte. Denn die krisenhafte Befangenheit, die sich zumal als Krise des Sehens zu erkennen gibt, ist zugleich Ausdruck des Versuchs, mittels einer veränderten Wahrnehmungshaltung, und dies gerade auch bezüglich des Sehens, dichterisch einer Landschaft bzw. Natur zu begegnen, die in die weitesten räumlichen Dimensionen eingespannt ist. So verdeutlicht die Landschaftsbeschreibung in oben genanntem und in zahlreichen weiteren Briefen aus Spanien eine Ausrichtung des Visuellen an der ,Dynamik des Raums', die sich der Einbeziehung der Vertikalen verdankt. Indem die horizontale Sicht in die Vertikale wechselt, kommen die Bewegungen des Himmels, die auch die Erde betreffen, in den Blick.49 Das Bild des Wolkenschattens hat Rilke in der Spanischen Trilogie gestaltet, auf die im folgenden näher eingegangen wird. Statt einer Schulung des Sehens bedarf es nun einer grundlegend veränderten Auffassung von Sichtbarkeit und Sehen, die sich etwa ausdrückt in der Bestimmung Toledos als einer Stadt, die „in gleichem Maße für die Augen der Verstorbenen, der Lebenden und der Engel da" (Br. II, 369) sei. Was sich hier bekundet, ist weniger ein hybrider Anspruch an das eigene Sehvermögen als vielmehr ein Blick, der sich der Eingeschränktheit der Sehweise bewußt und in seinen Grundfesten erschüttert wird. Die in Spanien und in der Folgezeit entstandenen Briefe und poetischen Texte zeugen von einer Krise des Sehens, zugleich aber von dem Versuch, sich mit dieser Erschütterung des vormaligen Sehkonzepts auseinanderzusetzen. Es gilt, das Sehen mit Rücksicht auf eine „unver48 49

Ebd., S. 124. Vgl. u. a. den Brief an Marie von Thum und Taxis vom Allerseelentag 1912, w o über Toledo gesagt wird: ,,[S]o sehr sternisch ist die Art dieses ungemeinen Anwesens gemeint, so hinaus, so in den Raum - , ich bin schon überall herumgekommen, hab mir alles eingeprägt, als sollt ichs morgen für immer wissen, die Brücken, beide Brücken, diesen Fluß und, über ihn hinüber verlegt, diese offene Menge der Landschaft, übersehbar wie etwas, woran noch gearbeitet wird." Vgl. Rilke in Spanien, a. a. O., S. 37. Daß sich das Sehen im Übergang zum Spätwerk an der Vertikalen ausrichtet, haben unlängst die Untersuchungen von Jutta Wermke und Anke Bennholdt-Thomsen gezeigt.

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minderte Wirklichkeit"50 umzuwerten und auf die Abgründe und Grenzen des Erfahrbaren zuzuhalten. Im Vergleich zur mittleren Werkstufe manifestiert sich hier ein veränderter Gebrauch der Sinne, der für die späte Lyrik von Bedeutung sein wird, allerdings in gespannter, nahezu ins Extrem getriebener Weise. Mit der Begrifflichkeit des Aufsatzes Ur-Geräusch ließe sich pointieren: Wenn die Wirklichkeit nicht das Erfahrbare allein betrifft, sondern zudem „das uns Unerfahrbare" (VI, 1091), so hat sich die Art und Weise der Wahrnehmung und Gestaltung ausdrücklich an dem zu messen und auch zu orientieren, was hinlänglich über die Erfahrbarkeit hinausreicht. Diese Haltung hat sich im früheren Schaffen Rilkes vorbereitet, so wenn im Malte ausdrücklich das Sterben, der Tod, das Abwesende und Schreckliche thematisiert werden51 oder wenn Rilke auf seiner Ägyptenreise um die Jahreswende 1910/11 mit Eindrücken konfrontiert wird, angesichts derer das visuelle Fassungsvermögen versagt, mit dem Sphinx52 von Giseh oder den Säulen von Karnak; Erfahrungen, die sich nachhaltig erst in der späten Lyrik niederschlagen werden. In den Jahren nach Abschluß des M alte, wesentlich ausgelöst durch die Spanien-Reise, werden nun mit der ,Nacht', der Figur des ,Engels', dem .gestirnten Himmelsraum' thematische Komplexe in die Lyrik aufgenommen, die nicht mehr eigentlich als Wahrnehmungsphänomene figurieren. Man kann fragen, weshalb ein Lyriker, der sich bislang so dezidiert einem Programm des ,Sehens' unterzogen hatte, sich nun mit dem Komplex der Gedichte an die Nachfi1 der ,Nacht' zuwendet. Stellt dies nicht zumindest eine Provokation, eine Herausforderung an das Sehen dar, und wird darin nicht eine gründliche Revision des bisherigen poetischen Wahrnehmungskonzepts manifest? Die Zuwendung zur ,Nacht' impliziert im Falle der Rilkeschen Lyrik weder eine mystische noch eine metaphysische Erfahrung, wie sie etwa in Novalis' Hymnen an die Nacht zur Geltung kommt.54 50 Jutta Wermke: Landschaft als ästhetische Konstruktion, a. a. O., S. 279. 51 Vgl. hierzu den Eingang des Malte. „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier" (VI, 709), dann insbesondere die Beschreibung der bloßgelegten Mauer und des Sterbenden (18. Abschnitt) sowie die Szene in der Salpetrière (19. Abschnitt). 52 Rilke versieht den Sphinx seit seinen ägyptologischen Studien mit dem maskulinen Genus. Die vorliegende Arbeit folgt hierin dem Autor. 53 Rilke hat im Jahre 1916 zweiundzwanzig Gedichte, die zwischen dem 6./14.1.1913 und Februar 1914 entstanden sind, unter dem Titel Gedichte an die Nacht in ein Schreibheft eingetragen. 54 Das spezifisch romantische Paradigma der Nacht, das als provokatives Gegenmodell zur Tag- und Lichtmetaphorik der Aufklärung gesetzt wird, ist eingespannt in metaphysische Theoreme, die sehr wohl von der Nachteifahrung zu unterscheiden sind, die in Rilkes Dichtung zum Tragen kommt. Eine noch einmal anders gerichtete,

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Auch ist die ,Nacht' nicht einfach die Abwesenheit von Sichtbarem. ,Nacht' meint bei Rilke immer den Nacht räum, den Himmel mit dem Gang der Gestirne, die Tiefe und das Unabsehbare dieses ,Raums'. 55 Angesichts der Inkommensurabilität des Nachtraums erhebt sich die Frage nach der Möglichkeit einer Beteiligung von selten des Menschen an dieser .kosmischen Dynamik', die in den lyrischen Texten der Jahre 1913— 14 anvisiert und zugleich kritisch reflektiert wird. Denn einerseits steht der Sehnsucht nach Teilnahme die Gefahr der Distanz gegenüber, andererseits die Gefahr des Aufgelöstwerdens angesichts des Nacht- und Weltraums. Dieses spannungsvolle „Verhältnis von Fremdheit und Beteiligung" hat Anthony Stephens für die Gedichte an die Nacht herausgestellt. 56 Ich folge Stephens, der diese Texte aus der ihnen inhärenten Problemlage heraus als lyrisches Projekt ernstgenommen und als „Versuchsraum für die Thematik der Duineser Ulegien"57 verstanden hat, meine jedoch, daß die von Stephens ausgemachte Problemkonstellation zu kurz greift, da sie die sinnes- und raumpoetische Relevanz des Rilkeschen Projekts zu wenig berücksichtigt. Meines Erachtens sind die Gedichte an die Nacht - einbezogen in den Kontext der dichterischen Produktion der Jahre 1912 bis 1914 - als Teil eines lyrischen Versuchs anzusehen, in dem sich ein sprachlicher Gestus und ein lyrischer Gebrauch der Sinne vorbereitet, der prognostisch auf das späte Werk vorausweist. Nur so läßt sich auch erklären, daß Rilke im Jahr 1924 dezidiert an die Nachtthematik anschließt; in jenem Jahr entstehen die Gedichte Nachthimmel und Sternenfall (II, 175), Gestirne der Nacht, die ich erwachter gewahre (II, 177) sowie Nacht. O du in Tiefe gelöstes (II, 178 f.). Eingedenk der doppelten Gefahr, von einem unermeßlichen Nachtund Weltraum einerseits nicht tangiert, andererseits aber vernichtet zu vor allem geschichtsphilosophisch fundierte Reflexion findet sich in Hölderlins späten Nachtgesängen aus dem Jahr 1803. Anthony Stephens hat auf die Tradition verwiesen. Anthony Stephens: Nacht, Mensch und Engel, a. a. O. 55 Präfiguriert ist diese spezifische Raumerfahrung bereits in der Capreser Lyrik des Jahres 1907, ein Umstand, der Vorsicht bezüglich zu scharfer Grenzziehungen innerhalb der Werkentwicklung geboten sein läßt. 56 Vgl. Anthony Stephens: Nacht, Mensch und Engel, a. a. O., S. 38. Stephens macht für Rilkes Dichtung — unter Bezugnahme auf den Puppen-Aukztz und das Testament - das Problem der Ich-Teilung geltend und liest die Nachtgedichte auf dieser Folie. Vor Stephens hat sich Ulrich Fülleborn der .Nacht'-Thematik in Rilkes Lyrik stärker zugewandt und hierbei eine Brücke zu dem späten Gedicht Nacht. O du in Tiefe gelöstes (II, 178 f.) geschlagen. Vgl. Ulrich Fülleborn: Das Strukturproblem der späten Lyrik Rilkes. Voruntersuchung zu einem historischen Rilke-Verständnis, Heidelberg 1973 2 , S. 55-84. 57 Anthony Stephens: Nacht, Mensch und Engel, a. a. O., S. 19.

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werden, wird in den Gedichten an die Nacht gleichwohl ein Sich-Aussetzen gefordert, eine Haltung, die explizit als Schauen postuliert wird, 58 signifikant verbunden mit der Vorstellung eines Gesichts, das sich in den Weltraum hält und mit diesem in Kontakt tritt. Leitmotivisch ergeht die Forderung zu schauen bzw. ¿«Zuschauen, also nach einem in den Himmelsraum gerichteten Gestus: 1

Überfließende Himmel verschwendeter Sterne prachten über der Kümmernis. Statt in die Kissen, weine hinauf. Hier, an dem weinenden schon, an dem endenden Antlitz, 5 um sich greifend, beginnt der hinreißende Weltraum. Wer unterbricht, wenn du dort hindrängst, die Strömung? Keiner. Es sei denn, daß du plötzlich ringst mit der gewaltigen Richtung 10 jener Gestirne nach dir. Atme. Atme das Dunkel der Erde und wieder aufschau! Wieder. Leicht und gesichdos lehnt sich von oben Tiefe dir an. Das gelöste nachtenthaltne Gesicht giebt dem deinigen Raum. (II, 54) Das Schauen wird hier zu einem empfangenden Vermögen, was insbesondere das Motiv des Gesichts anzeigt. Denn das Gesicht bezeichnet zum einen die visuelle Wahrnehmung, zum anderen — Rilkes Lyrik rekurriert hier auf die doppelte Konnotation des Wortes in der deutschen Sprache — den Körperteil, der durch die empfangenen Eindrücke geformt und gestaltet wird, der zum Ausdruck des Empfangenen wird. 59 Dem unendlichen „Weltraum" (Vers 6) steht das „endende [ ] Antlitz" (Vers 4) gegenüber. Das Schauen tritt in eine dynamische, ja gespannte Beziehung zum .Weltraum'. Der von selten des Wahrnehmenden in den Raum gerichtete Gestus wird gewissermaßen erwidert von der „Richtung / jener Gestirne nach dir" (Vers 9—10). Die Perspektivumkehr setzt das spannungsvolle Geschehen um. Eingedenk der Diskrepanz, die sich etwa in der Bestimmung .hinreißend' ausdrückt

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Vgl. hierzu auch das Gedicht: „Nun erst, Nachtstunde, bin ich ohne Angst / und darf in aufgeblühtem Schauen stehen / da du für dein unendliches Geschehen / mein ungenügendes Gesicht verlangst." (II, 408; Vers 1 - 4 ) Schon Käte Hamburger hatte das häufige Vorkommen des Verbums ,schauen' für die Zeit v o n 1 9 1 2 - 1 4 festgestellt, ohne sich allerdings zu fragen, was sich hier nun im Vergleich zum Schauen im mitderen Werk anders darstellt. Vgl. S. 36 dieser Arbeit.

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Unlängst hat Monika Fick diese Doppelstruktur der Gesichts-Metapher in Rilkes Werk verfolgt. Vgl. Monika Fick: Sinnenwelt und Weltseele, a. a. O., S. 216 f.

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(die Silbentrennung an der Zeilengrenze der Verse 5 und 6 macht die räumliche Spanne und die Spannung, die zwischen Nacht und Menschengesicht herrscht, sinnfällig), ist hier ganz konkret die Vorstellung gestaltet, daß das Erfahrene im Schauenden einen Gesichtsausdruck auslöst, ja daß der Himmelsraum sich damit gewissermaßen in das Gesicht auflöst und dessen Züge prägt. Diese Vorstellung hat Rilke zumal für das Gesicht des Sphinx angestellt, auf das an späterer Stelle noch zurückzukommen sein wird. Der anvisierte Austausch mit dem Nachtraum wird nun sowohl visuell als auch taktil - über das Körpergefühl und den Atmungsvorgang — inszeniert:60 [...] Atme. Atme das Dunkel der Erde und wieder aufschau! Wieder. [...] (Vers 10-12) Die syntaktische und rhythmische Struktur dieser Verse realisiert den Austausch, der im Atmen statthat und die „Erde" (Vers 11) als Element des Gegengewichts in die ,Dynamik des Raums' integriert. Eingefaßt in diesen Wechselvorgang ist hier auch das Schauen („wieder / aufschau! Wieder."), das sich in seiner Doppelvalenz von Sehen und Gesicht der Dynamik des Atmens anpaßt. Sehen und Atmen unterstützen sich somit gegenseitig, gehen eine stärkere Verbindung ein mit Rücksicht auf die „Strömung" (Vers 8), die sowohl den Vorgang des Atmens und Schauens betrifft,61 als auch den Nachtraum selbst, der als gelöstes, fließendes Element (vgl. den Eingang des Gedichts „Überfließende Himmel"; Vers 1) angesprochen wird. In den Schlußversen des Gedichts ist die Spannung zwischen Gesicht und Nicht-Gesicht, Faßbarkeit und Nicht-Faßbarkeit nicht aufgehoben, doch hat sich der vormals inszenierte Austausch nun zu der Vorstellung verdichtet, daß das eigene Gesicht mehr geworden sei als nur ein Menschengesicht: [...] Leicht und gesichdos lehnt sich von oben Tiefe dir an. Das gelöste nachtenthaltne Gesicht giebt dem deinigen Raum. (Vers 12-14)62 60 61 62

Die Aufwertung des Körpergefühls im Spätwerk wird im Kapitel zum Tastsinn expliziert. Siehe S. 134 ff. Vgl. hierzu die Formulierung in einem der Nachtgedichte: „Ströme von Aufblick" (II, 67; Vers 9), in der das Sehen direkt mit der Strömung verbunden ist. Interpretiert wurde dieses Gedicht von K. G. Schrötter (Rilkes Gedicht .Überfließende Himmel'. Aus den Gedichten an die Nacht, in: Der Deutschunterricht 14.3 (1962), S. 3 0 - 3 7 ; die existentialistisch beeinflußte Deutung läßt die Konkretheit der Motive weitgehend außer acht) sowie von Ulrich Fülleborn im Kontext einer Betrachtung dreier Nachtgedichte (Ders.: Das Strukturproblem, a. a. O., S. 69-73). Fülleborn

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Wenn hier der Nachtraum seinerseits ,gesichthaft' gefaßt wird, so eingedenk der vorherigen Bestimmung als „gesichdos" (Vers 10). Diese doppelte Bestimmung des ,Raums' etabliert die Vorstellung eines .anderen' Gesichts, das nicht menschliche Züge trägt, sondern umgekehrt das Menschengesicht beeinflußt. Die Vorstellung des Gesichts wird auf den Raum übertragen, aber nicht, um das Inkommensurable auf Faßbarkeit hin zu reduzieren, vielmehr umgekehrt, um das Menschengesicht in das Inkommensurable einzustellen. In einem lyrischen Text vom Januar 1914 steht das Schauen des Hirten für die eingeforderte Wahrnehmungsweise Pate. Im Unterschied zum eben untersuchten Gedicht liegt hier der Akzent allein auf der Beeinflussung des Gesichts durch den Nachtraum: 1 Hinhalten will ich mich. Wirke. Geh über so weit du vermöchtest. Hast du nicht Hirten das Antlitz größer geordnet [...] 5 [...] Wenn die Galionen in dem staunenden Holz des stillhaltenden Schnitzwerks Züge empfangen des Meerraums, in den sie stumm drängend hinausstehn: o, wie sollte ein Fühlender nicht, der will, der sich aufreißt, unnachgiebige Nacht, endlich dir ähnlicher sein. (II, 75) In den Gedichten der Jahre 1912 bis 1914 wird das Verhältnis zum Nachtraum als ein gespanntes lyrisch inszeniert. Immer wieder wird indes die Überzeugung ausgesprochen, daß die Nacht an unsere Wahrnehmund Erfahrbarkeit doch heranreicht, daß dies aber der Wahrnehmung selbst eine Leistung abverlangt bzw. eine neue Anforderung an die Wahrnehmung stellt, so wenn es in dem Gedicht So angestrengt wider die starke Nacht heißt: 1 So angestrengt wider die starke Nacht werfen sie ihre Stimmen ins Gelächter, das schlecht verbrennt. O aufgelehnte Welt voll Weigerung. Und atmet doch den Raum, 5 in dem die Sterne gehen. Siehe, dies bedürfte nicht und könnte, der Entfernung fremd hingegeben, in dem Übermaß von Fernen sich ergehen, fort von uns. Und nun geruhts und reicht uns ans Gesicht 10 wie der Geliebten Aufblick; schlägt sich auf stellt zwar die Paradoxic „gesichtloses Gesicht" als strukturbildend heraus, verfolgt dieses Motiv jedoch nicht näher, sondern macht als „movens des Gedichts eine enttäuschende, negative Liebeserfahrung" (S. 71) geltend.

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uns gegenüber und zerstreut vielleicht an uns sein Dasein. Und wir sinds nicht wert. [...] Umsonst. Denn wer gewährte? Und wo es einer gewärtig wird: wer darf noch an den Nacht-Raum die Stirne lehnen wie ans eigne Fenster? W e r hat dies nicht verleugnet? Wer hat nicht 20 in dieses eingeborne Element gefälschte, schlechte nachgemachte Nächte hereingeschleppt und sich daran begnügt? [...] (II, 52) 6 3

Das Ansinnen ist zunächst, sich abzugrenzen von der „gedeuteten Welt" (I, 685; Vers 13), die wesentliche Bereiche der Wirklichkeit, ja das „eingeborne Element" (Vers 20) aus der menschlichen Erfahrung ausgrenzt. 64 Das dichterische Ansinnen erweist sich so verstanden als Versuch, das Ausgegrenzte sozusagen wieder einzuklagen; andererseits wird das Unternehmen selbst in Frage gestellt, schieben sich Zweifel an der Berechtigung und Möglichkeit des so vehement Geforderten ein: [...] Und w o es einer gewärtig wird: wer darf noch an den Nacht-Raum die Stirne lehnen wie ans eigne Fenster? (Vers 1 6 - 1 8 )

Die Unmöglichkeit des Unterfangens drückt sich in der Vorstellung aus, den Nachtraum berühren, sich an ihn anlehnen zu können; nichts ist ja weniger Stütze als der offene, haidose Raum. Eine Teilnahme ist angesichts der geschichtlichen Situation — das „noch" (Vers 17) verweist auf eine vormalige und jetzt verwehrte Möglichkeit — verwehrt. Diese Spannung zwischen der Suche nach Beteiligung und dem Wissen um seine Vergeblichkeit ist für die Gedichte an die Nacht insgesamt kennzeichnend, läßt sie zur Signatur der Krise selbst werden. Auf der anderen Seite manifestiert sich in ihnen ein lyrischer Gestus, eine Ausrichtung des Visuellen — und auch der Taktilität, wofür das Verb ,fühlen' und der Atmungsvorgang einstehen - an der Vertikalen, an der kosmischen .Dynamik des Raums'.

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Das Gedicht ist im Februar 1913 in Paris, kurz nach der Rückkehr aus Spanien, entstanden. Noch 1921, in einem Brief an Otto Pick vom 1. Dezember, bekräftigt Rilke die Relevanz des dort Gestalteten, insofern es „nach Inhalt und Gestalt, auch noch meiner gegenwärtigen Verfassung und Fähigkeit" entspräche. Vgl. Rainer Maria Rilke: Briefe zur Politik, hg. von Joachim W. Storck, Frankfurt a. M./Leipzig 1992, S. 359. Diese Kritik an der Ausgrenzung wesentlicher Wirklichkeitsbereiche findet sich später, so in der Zehnten Elegie und im Brief des jungen Arbeiters, in satirischer Überzeichnung.

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2.2.2. Die Spanische Trilogie Die Spanische Trilogie ist im Januar 1913 im südspanischen Ronda entstanden und macht chronologisch gesehen die ersten drei der Gedichte an die Nacht aus. An der Trilogie zeigt sich in besonderer Prägnanz die Orientierung des Visuellen an der kosmischen .Dynamik des Raums'. Meine Interpretation konzentriert sich auf die Ausrichtung am — mit einem Schlüsselwort der Trilogie gesprochen — ,,welthaft-Irdisch[en]" (Vers 22), die sich anhand der poetischen Bildlichkeit verfolgen läßt.65 Weder soll der Gesamtzusammenhang der drei Gedichte dabei erschöpfend thematisiert noch der Versuch unternommen werden, die darin aufgeworfene Problematik zugunsten eines ,Gelingens' aufzulösen. Die Spanische Trilogie zeugt von einer krisenhaften Befangenheit und ihrer poetischen Thematisierung. Gleichwohl bezeugt die Bildlichkeit und Sprachgebung einen programmatischen Anspruch, der prognostisch auf die spätere Lyrik vorausweist. 1 Aus dieser Wolke, siehe: die den Stern so wild verdeckt, der eben war - (und mir), aus diesem Bergland drüben, das jetzt Nacht, Nachtwinde hat für eine Zeit - (und mir), 5 aus diesem Fluß im Talgrund, der den Schein zerrissner Himmels-Lichtung fängt - (und mir); (II, 43 f.; Vers 1-6) Das erste Gedicht setzt mit einer Landschaftsszenerie ein: Von einem hoch gelagerten Standort werden die Dimensionen der Landschaft durch die Bewegungen des Blicks ausgemessen. Die anfängliche Ausrichtung an 65

Die detaillierte Interpretation von Anthony Stephens legt den Akzent auf die Haltung des lyrischen Ich innerhalb der drei Teile der Trilogie. Hierbei verwahrt sich Stephens ausdrücklich gegen eine primär poetologische Lesart, die das zu machende Ding (vgl. die leitmotivische Formel im ersten Gedicht: „ein Ding zu machen" Vers 7, 13, 15, 21) vorschnell mit dem Gedicht gleichsetzt. Stephens hat sich der poetischen Bildlichkeit und der darin zum Ausdruck kommenden Veränderung des Sehens allerdings nicht in erforderlichem Maße gewidmet. Vgl. Anthony Stephens: Nacht, Mensch und Engel, a. a. O, S. 1 7 - 5 7 . Poetologisch ausgerichtet sind die Interpretationen von Käte Hamburger und Judith Ryan. Hamburgers Lesart gilt vor allem der Struktur des Gegenüberseins. Vgl. Käte Hamburger: Die phänomenologische Struktur, a. a. O., S. 127 ff. Vgl. auch Judith Ryan: Umschlag und Verwandlung. Poetische Struktur und Dichtungstheorie in R. M. Rilkes Lyrik der mittleren Periode (1907-1914), München 1972, S. 9 9 - 1 0 3 . Zuletzt hat sich Sergio Corrado ausführlich mit dem ersten Gedicht der Trilogie auseinandergesetzt und hierbei die ,I