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German Pages 381 [384] Year 1981
Günter Wohlfart · Der spekulative Satz
Günter Wohlfart
Der spekulative Satz Bemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel
W G DE
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1981
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Die vorliegende Arbeit wurde in geringfügig abgeänderter Form 1978 vom Fachbereich Philosophie der Universität Tübingen als Habilitationsschrift anerkannt.
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Wohlfart, Günter: Der spekulative Satz : Bemerkungen zum Begriff d. Spekulation bei Hegel / Günter Wohlfart. — Berlin, New York : de Gruyter, 1981. ISBN 3-11-008111-3
© 1980 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung · J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit & Comp., Berlin 30, Genthiner Straße 13. Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie, Xerokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Arthur Collignon G m b H , Berlin Einband: Lüderitz & Bauer, Berlin
Vorwort Das Problem des spekulativen Satzes ist das Problem der sprachlichen Darstellung des Spekulativen. Indem sich zeigt, daß das Problem der Darstellung der spekulativen Idee als des philosophischen Inhalts des Satzes mit dem Problem der spekulativen Methode am Ende identisch ist, wird deutlich, daß Hegels Beschäftigung mit dem spekulativen Satz keine Episode der Vorrede zur „Phänomenologie" darstellt, sondern daß das Problem des spekulativen Satzes von zentraler Bedeutung für die Philosophie Hegels ist. Daß in diesem Problem geradezu das Zentrum der Hegeischen Philosophie gesehen werden kann, wurde in der Hegel-Literatur bereits verschiedentlich bemerkt. U m zuerst zu prüfen, ob Hegels Philosophie der spekulativen Vernunft, insofern diese die Schranken des reinen Verstandes überschreitet und aus der Dialektik als positive hervorgeht, einen Rückfall hinter die Kantische Kritik der Vernunft in die vorkritische, dogmatische Metaphysik darstellt, und ob der Hegeischen Philosophie, insofern in ihr das Spekulative als gleichbedeutend mit dem Mystischen genommen wird, als einer ,mystischen', d.h. unbegreiflichen Philosophie zu mißtrauen ist, oder ob ein Mißtrauen in dieses Mißtrauen zu setzen ist und sie vielmehr als Metakritik der Kantischen Kritik der spekulativen Vernunft und als nachkritische Metaphysik zu begreifen ist, wurde die Kantische Philosophie als Ausgangspunkt dieser Arbeit gewählt. Dies geschah trotz der Kluft, die die natürliche Vorstellung in der Kantischen Philosophie vom freien Begriff in der Hegeischen Philosophie auch in den Punkten trennt, in denen beide Positionen einander besonders nahe kommen. (Auf eine Würdigung der Bedeutung der Fichteschen und der Schellingschen Philosophie für die Philosophie Hegels mußte verzichtet werden, da sie den Rahmen dieser Arbeit gesprengt hätte.) D a Hegel den Weg der immanenten Kantkritik an einigen Stellen offenbar verlassen hat, schien es mir angebracht zu sein, den Versuch zu machen, auf eigene Faust mit Kant ein geringes Stück über Kant hinauszugehen, d. h. ihn besser zu verstehen, als er sich selbst verstand, um zu sehen, ob dieser Gedankengang an der Hegeischen Philosophie vorbeigeht, oder in sie hineinführt. Bei diesem Versuch sollten Hegels Überlegungen zunächst zu-
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rückgestellt werden, um der kritischen Reflexion Kants größere Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Deshalb erschien es mir notwendig, dieser Arbeit über Hegel ein einleitendes Kapitel über Kant voranzustellen. Besondere Bedeutung wurde im E i n l e i t u n g s k a p i t e l der „Kritik der Urteilskraft" beigemessen, mit der Kant sein ganzes kritisches Geschäft als beendet ansah und die für Hegel den interessantesten Punkt des Kantischen Systems darstellte, so wie er Kants Ausführungen über das hier etwas näher betrachtete transzendentale Prinzip, das die Urteilskraft bei ihrer Reflexion präsumiert, nämlich die Idee der Zweckmäßigkeit oder Vernunftmäßigkeit als besonders geeignet erachtete, in das Begreifen der spekulativen Idee einzuführen. Ausgehend von dem Anhang zur transzendentalen Dialektik, der von dem regulativen Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft und von der Endabsicht der natürlichen Dialektik der menschlichen Vernunft handelt und in dem man bereits den Umriß der „Kritik der Urteilskraft" vorgezeichnet finden kann, wie er am deutlichsten wohl in den beiden Einleitungen in die „Kritik der Urteilskraft" zu erkennen ist, sollte im ersten Teil des einleitenden Kapitels der Zusammenhang der regulativen, hypothetischen Vernunft und der reflektierenden Urteilskraft einerseits, sowie der spekulativen, d.h. bei Kant konstitutiven, hypostasierenden Vernunft und der das Bestimmen der bestimmenden Urteilskraft bloß vorspiegelnden reflektierenden Urteilskraft andererseits geklärt werden. Ohne die reflektierende, einen Vernunftbegriff präsumierende Urteilskraft mit der bestimmenden, unter Verstandesbegriffe subsumierenden Urteilskraft zu verwechseln, wie dies in der vorkritischen Ontologie geschah, die die Aufgaben der Vernunft zu Gegebenheiten hypostasierte und durch die Erschleichung logischer Begriffsinhalte als realer vernünftiger Urteile in vernünftelnde verkehrte, sollte in diesem Teil der Einleitung dem Wechselspiel beider Urteilskräfte überhaupt nachgegangen werden, um zur absoluten, d.h. zur voraussetzenden wie auch setzenden Reflexion der dialektischen Bewegung des Urteils bzw. Satzes durch Hegel hinzuführen. Im zweiten Teil der Einleitung wurde insbesondere auf das Verhältnis von logisch bestimmender und ästhetisch reflektierender Urteilskraft eingegangen, um den Gedankengang von einem diakritischen Verständnis der ästhetischen Idee bzw. des Ideals der Einbildungskraft (des Menschen) einerseits und der logischen Idee bzw. des Ideals der Vernunft (Gottes) andererseits zum dialektischen Begreifen ihrer Einheit in ihrer Verschiedenheit zu rekonstruieren und zu sehen, inwiefern Hegel diese spekulative Einheit in Form des sinnvollen Begreifens oder begreifenden Anschauens
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der spekulativen Idee, bzw. in Form des (heroischen) Ideals der klassischen Kunst-Religion betrachtet hat. Es sollte auf die Einsicht vorbereitet werden, daß die philosophische Komprehension als das begreifende Anschauen, als das sie sich nach Hegel am Ende bestimmt, den Gegenstoß der voraussetzenden gegen die setzende Reflexion und d.h. mutatis mutandis die entgegengesetzte Bewegung der reflektierenden und der bestimmenden Urteilskraft Kants und mithin auch den Gegenstoß der comprehensio aesthetica gegen die comprehensio logica in sich hat. Im dritten Teil wurde Kants Kritik der Physikotheologie als mißverstandener physischer Teleologie sowie Kants Kritik aller spekulativen Theologie erörtert, um zu verdeutlichen, daß diese Kritik und die Kritik an den spekulativen Sätzen der Theologie — im Anhang an die Einleitung in Kants Logik ist expressis verbis von spekulativen Sätzen die Rede — in ihrer Konsequenz zu Fragen führt, die eine Gedankenstellung voraussetzen, die in Hegels Ausführungen über den spekulativen Satz in der Vorrede zur „Phänomenologie" anzutreffen ist. Dort sollte sich rückblickend zeigen, daß sich das Spekulative des Kantischen spekulativen Satzes oder vernünftelnden Urteils vom Spekulativen des Hegeischen spekulativen Satzes unterscheidet wie das von Hegel sogenannte .schlechte' Unendliche des Verstandes vom .wahrhaften' Unendlichen der Vernunft, wie das An-sich-Sein vom Für-uns-Sein des An-sich-Seins. Das Ziel dieser Arbeit ist es, deutlich zu machen, daß der spekulative Satz kein Unikum der Vorrede zur „Phänomenologie" ist, sondern daß die Problematik des spekulativen Satzes die Methodenproblematik der sprachlichen Darstellung des Spekulativen ist. Um dies zu zeigen war es nötig, nicht allein die betreffenden Absätze der Vorrede heranzuziehen, wie dies in den meisten Arbeiten über den spekulativen Satz bisher geschah, sondern, anknüpfend an Überlegungen zu den Motiven des spekulativen Satzes vor dem Erscheinen der „Phänomenologie", insbesondere in den theologischen Jugendschriften, im ersten Kapitel dieser Arbeit zunächst den Gedanken des spekulativen Satzes in den Haupttext der „Phänomenologie des Geistes" zurückzuverfolgen, um die Idee des spekulativen Satzes dann im zweiten Kapitel dieser Arbeit in Hegels Hauptwerk, der „Wissenschaft der Logik" weiter zu verfolgen. Geht es im zweiten Kapitel um eine systematische Betrachtung, wobei die Betrachtung des Urteils und seines Verhältnisses zum Satz, insbesondere aber die Untersuchung der Fortbestimmung des ersten Urteilsmoments, des Urteils des Daseins, das Hegel auch Urteil der Inhärenz genannt hat, zum zweiten Moment des Urteils, zum Urteil der Sub-
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sumtion, den größten Raum einnimmt, so steht im Zentrum des e r s t e n K a p i t e l s die historische Betrachtung der griechischen Kunst-Religion, eine Betrachtung, die in diesem Zusammenhang zunächst überraschen mag. Der erste Teil des ersten Kapitels behandelt nach zwei Vorbemerkungen zum Begriff der Spekulation bei Hegel das Problem der systematischen Stellung der Sprache in der Philosophie Hegels. Ausgehend von dessen Zuweisung der Sprache zum Bereich der Vorstellung in seinen Ausführungen über den theoretischen Geist in der „Enzyklopädie" wurden Überlegungen darüber angestellt, ob sich Entsprechungen zu der enzyklopädischen Einteilung in Anschauung, Vorstellung und Denken in der „Phänomenologie" finden lassen und wie weit der Bereich der Vorstellung in der „Phänomenologie des Geistes" reicht, um zu sehen, ob sich ein Hinweis auf die systematische Stellung der Sprache in ihr ergibt. Hinsichtlich der seit einiger Zeit diskutierten Fragen der Zuordnung einzelner Systemteile erwiesen sich einige m . E . bisher zu wenig beachtete, in systematischer Hinsicht recht interessante Bemerkungen Hegels in der „Wissenschaft der Logik" als hilfreich. Sie gaben in ihrer Konsequenz Anlaß zu Vermutungen über das Wesen der Sprache sowie über das wesentliche Verhältnis von Sprachlichkeit und Wirklichkeit bzw. von Sprachlichkeit und Vernünftigkeit. Bei Gelegenheit der systematischen Betrachtung der „Phänomenologie" unter dem Aspekt der Sprache sollte sich das bestätigen, was die Nachforschung der Motive des spekulativen Satzes ohnedies ergibt, und was nach der Erinnerung an die Behandlung dieses Themas durch Kant auch nicht anders zu erwarten war: die grundlegende Bedeutung der Religion als der höchsten Erscheinungsform des vorstellenden Bewußtseins für die philosophische Spekulation bei Hegel. Als geeigneter Ausgangspunkt für die Betrachtung der Religion im Hinblick auf das Problem der sprachlichen Darstellung bzw. Vorstellung des spekulativen Begriffs ergab sich die im Zentrum der Religion stehende Kunst-Religion. Als besonders bedeutsam erwies sich der Punkt der Umkehrung des geistigen Bewußtseins der natürlichen Religion in das geistige Selbstbewußtsein der Kunst-Religion, der dem Wendepunkt des Bewußtseins ins Selbstbewußtsein korrespondiert und wie dieser gleichsam als Brennpunkt des Erfahrungsbereichs des vorstellenden Bewußtseins angesehen werden kann. In den recht umfangreichen Ausführungen des zweiten Teils des ersten Kapitels sollte der häufig mißverstandenen und in Mißkredit geratenen Hegeischen Einsicht Rechnung getragen werden, daß der Inhalt der Philosophie spekulativ und damit religiös ist. Die, welche es der Philo-
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sophie verargen, daß sie die Religion denkt, wissen in der Tat nicht, was sie verlangen. Der ,Haß und die Eitelkeit' - um hier mit Hegels Worten am Ende seiner Vorlesungen über die Religionsphilosophie zu reden — sind dabei zugleich im Spiel unter dem äußeren ,Schein der Demut'. Die religiöse Vorstellung ist nämlich die Vorstellung des spekulativen Begriffs als absolutes Wesen, Gott ist die höchste Vorstellung des Begriffs. Der spekulativ-philosophische Begriff ist umgekehrt der denkend erkannte Begriff dieser religiösen Vorstellung von einem absoluten Wesen. Die absolute Reflexion des spekulativen Begriffs ist sozusagen die philosophische Revision des künstlerisch-religiösen Gehalts. N u r insofern ist die spekulative Philosophie über die Kunst und die Religion hinaus, als sie sich in sie als in ihren Grund vertieft und beide in sich begreift und schließt. — Die Bemerkung, die Hegel im Zusammenhang mit der Erörterung des spekulativen Satzes in der Vorrede zur „Phänomenologie" über die Plastizität der philosophischen Exposition gemacht hat, welche nur durch das spekulative Verhältnis der Glieder eines Satzes erreicht wird, könnte nun wohl kaum als hinreichender Grund für eine ausführliche Beschäftigung mit dem lebendigen Kunstwerk oder gar mit der Kunst-Religion im allgemeinen angesehen werden. Der Grund für diese eingehende Beschäftigung mit der Kunst-Religion - in den Vorüberlegungen zur natürlichen Religion kommt es vor allem auf den besagten Ubergang von der NaturReligion in die Kunst-Religion an — ist zunächst einmal darin zu sehen, daß Hegels Ausführungen über die Sprache im Zusammenhang mit der Betrachtung der Kunst-Religion bisher so gut wie keine Beachtung gefunden haben, was zum Teil wohl auf die Kryptik des an mythologischen Allusionen reichen Textes zurückzuführen ist. Diese Betrachtung ist im Hinblick auf das Problem der sprachlichen Darstellung der spekulativen Idee nun insofern von größter Bedeutung, als sich das Problem der adäquaten sprachlichen Darstellung des spekulativen Inhalts hier stellt als Problem der angemessenen künstlerischen Darstellung eines religiösen Inhalts. So, wie die sprachliche Darstellung des absoluten Inhalts — Kantisch gesprochen — als , Exposition' der künstlerischen Darstellung des religiösen Inhalts angesehen werden kann, so kann umgekehrt die künstlerisch-sprachliche Darstellung des religiösen Gehalts als R e m o n s t r a tion' der philosophisch-sprachlichen Darstellung des spekulativen Gehalts betrachtet werden. Ich habe mich bemüht, durch Detailuntersuchungen den umständlichen Entwicklungsprozeß der künstlerischen Darstellung als einen Gang über verschiedene Stufen der Entwicklung der Sprache zu rekonstruieren, der von der stummen, unausgesprochenen Sprache des
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natürlichen Kunstwerks bis zu der von Menschen gesprochenen Sprache des geistigen Kunstwerks und hier schließlich zur Sprache des dramatischen Dialogs führt, um zu verdeutlichen, daß das denkend erkennende Begreifen der Entwicklungsgeschichte der künstlerisch-sprachlichen Darstellung bzw. Vorstellung religiöser Inhalte insofern das Begreifen der Problematik der philosophisch-sprachlichen Darstellung des spekulativen Inhalts ist, als dieser Weg der Entwicklung die ausführliche Geschichte (Chronologie) des logischen Geschehens der dialektischen Bewegung des Begriffs ist, die als der wirkliche spekulative Gehalt und Geist des Satzes für die Zerstörung der Natur des Satzes verantwortlich ist. (Die Affinität der Gedankenhandlung des dialektischen Denkens und der dramatischen Handlung im allgemeinen, wie insbesondere die Bedeutung des Ausgangs des Prozesses der Eumeniden des Aischylos für die spekulative Philosophie Hegels — der junge Hegel erblickte in diesem Ausgang das Bild der Tragödie, die das Absolute ewig mit sich selbst spielt — wurde in der Hegel-Literatur von verschiedenen Seiten bereits bemerkt.) In der Betrachtung der Kunst-Religion bin ich weitgehend dem Gedankengang Hegels gefolgt, um, über weite Strecken den Textzusammenhang nur kurz andeutend, an den Stellen länger zu verweilen, die Anhaltspunkte zum besseren Verständnis der Problematik der sprachlichen Darstellung der spekulativen Idee zu enthalten schienen. Eine Hauptschwierigkeit bei der Lektüre dieses Teils der Arbeit könnte darin gesehen werden, daß die Bedeutung der Motive des kunstreligiösen Bewußtseins und der Bewegung seiner Gestalten oft erst in der Rückschau durch die denkende Betrachtung der Momente der logischen Bewegung des Begriffs gesehen werden kann, von der erst weiter unten die Rede ist, daß also der Gang der Untersuchung zeitweise gleichsam unterirdisch verläuft, während etwa im zweiten Teil der Arbeit die Verbindungen zum zentralen Problem des spekulativen Satzes offen zu Tage liegen. Die erforderliche Langsamkeit im Nachgehen jener ,Maulwurfsgänge' des Gedankens mag mitunter als quälend empfunden werden. Auch mag der der Sache der Kunst wie der Religion wenig geneigte Leser einige Längen in ihrer Darstellung entdecken. Ihm möchte ich eingestehen, daß ich mich in der Tat an einzelnen Stellen nicht enthalten konnte, etwas länger bei der Betrachtung des Schönen zu verweilen, als es unbedingt erforderlich gewesen wäre. In den kurzen Ausführungen über die offenbare Religion habe ich, gestützt auf die Passagen am Anfang des entsprechenden Kapitels der „Phänomenologie", die sich vor allem auf die Kunst-Religion rückbe-
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ziehen, den Versuch gemacht, den Fortgang von der natürlichen zur offenbaren Religion durch die Betrachtung der dialektischen Bewegung des Satzes: „das Selbst ist das absolute Wesen" zu exponieren. Die im dritten Teil des ersten Kapitels gegebene Interpretation der sich mit dem Problem des spekulativen Satzes beschäftigenden Absätze der Vorrede zur „Phänomenologie" steht im Mittelpunkt dieser Arbeit. Sie stellt gewissermaßen das Verbindungsstück des ersten und zweiten Kapitels dar. Da sich in der Hegel-Literatur schon einige gründliche Arbeiten über diese Absätze finden, konnte ich mich hauptsächlich auf den Absatz konzentrieren, in dem zum ersten Mal ausdrücklich vom spekulativen Satz die Rede ist und von Hegel im Anschluß daran ein aufschlußreicher Vergleich angestellt wird, und zwar der bekannte, in seiner Tragweite für das Problem des spekulativen Satzes m . E . aber noch nicht erkannte Vergleich des Konflikts der Form eines Satzes überhaupt und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs mit dem Konflikt, der im Rhythmus zwischen Akzent und Metrum stattfindet. Geht man diesem Vergleich mit der rhythmischen Versifikation, die nach Hegel ihre reichhaltigste Entwicklungsstufe in der griechischen Poesie erreicht, vor allem in den „Vorlesungen über die Ästhetik" genauer nach, so zeigt sich, daß dieser Vergleich keineswegs zufällig und der Sache der spekulativen Darstellung äußerlich ist, sondern daß durch die Abgrenzung des philosophischen Satzes vom dichterischen Wort, die zugleich das Eingeständnis der Angrenzung der Prosa des Denkens und der Poesie der Vorstellung ist, deutlich wird, was bereits in Anbetracht der Kunst-Religion deutlich geworden sein sollte, daß nämlich das Problem der sprachlichen Darstellung der spekulativen Idee nicht nur ein logisches, sondern — horribile dictu — ebensosehr ein ästhetisches Problem ist, oder daß die Bewegung des spekulativen Begriffs aus der Dialektik von ästhetischer und logischer Komprehension entspringt. Der aus einem plötzlichen, dem sinnlichen Anschauen zuwiderlaufenden Sichentsinnen resultierende sinnerfüllte Augenblick ästhetischer Erfahrung ist als Moment in der spekulativen Methode, als Moment in der dialektischen Bewegung des Sich-Ubersetzens des Begriffs in die Anschauung aufgehoben. Er begegnet als Moment des Gegenstoßes der sowohl regressiven als auch progressiven Bewegung des Begriffs im spekulativen Satz wieder, d.h. als Moment der Erfahrung des philosophischen Sinns des Satzes. Die spekulative Idee, in Anbetracht welcher der spekulative Sinn gesehen wird, hat den Doppelsinn des Anschaulichen und Begrifflichen. Die anschauende Betrachtung des Schönen ist in die denkende Betrachtung des Spekulativen eingegangen, sie ist ein Moment des begreifenden An-
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schauens der spekulativen Idee als des im Einzelnen bestimmten, konkreten Allgemeinen. Der spekulative Begriff ist ohne die ästhetische Anschauung ebenso leer und sinnlos, wie die ästhetische Anschauung ohne den spekulativen Begriff blind ist. (Dieser ist nicht mit dem abstrakten Allgemeinbegriff Kants zu verwechseln, der als conceptus communis das Einzigartige des Schönen nicht erreichen kann.) Es war die Hauptaufgabe dieser Arbeit zu zeigen, daß die ästhetische Erfahrung der logischen Erfahrung nicht äußerlich ist, sondern daß die ästhetische Anschauung das Innerste des spekulativen Begriffs ausmacht. Es kam darauf an, deutlich zu machen, daß die logische Komprehension der Begriff und Inbegriff der ästhetischen Komprehension ist. An dieser Stelle sei die Bemerkung erlaubt, daß diese Arbeit zwar nicht als durchgängiger Kommentar gelesen werden kann, insofern aber doch einen deutlich kommentarischen Charakter hat, als die Überlegungen jeweils von der Interpretation ausgewählter Textabschnitte ausgehen. D a ich die Auffassung teile, daß es darauf ankommt, Hegel buchstabieren zu lernen, sah ich mich in den meisten Fällen genötigt, innerhalb der ausgewählten Texte nochmals Akzente zu setzen, um einzelne sehr eng begrenzte Textstücke einer genaueren Analyse unterziehen zu können. Dies ist im dritten Teil des ersten Kapitels dieser Arbeit etwa im Fall des erwähnten Absatzes der Vorrede zur „Phänomenologie" und, um ein vielleicht noch krasseres Beispiel zu nennen, im zweiten Teil des zweiten Kapitels bei der Interpretation des Absatzes der Vorbetrachtung über das Urteil im allgemeinen in der „Wissenschaft der L o g i k " geschehen, in dem Hegel auf die Verhältnisse der Inhärenz und der Subsumtion zu sprechen kommt. In den Fällen, in denen die näher betrachteten Textstücke nicht so in sich geschlossen waren wie z . B . der ebenfalls ausführlich kommentierte kurze Abschnitt über das unendliche Urteil in der „Wissenschaft der L o g i k " , habe ich versucht, den Kontext durch die Wiedergabe angrenzender Textpassagen sowie durch Texthinweise herzustellen. In vielen Fällen wurden auch sinnergänzende Textstellen den im Zentrum der Betrachtung stehenden Textstücken ohne Kommentar an die Seite gestellt, wobei ich auf die argumentative Kraft der Zusammenstellung vertraut habe. Der zum Teil unübertrefflichen Prägnanz der Hegeischen Formulierung wegen — gedacht ist hier insbesondere an Hegels Ausführungen über die Kunst — habe ich in der Regel das direkte Zitat meiner eigenen Wiedergabe vorgezogen.
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Der kommentarische Charakter dieser Arbeit sowie das damit im Zusammenhang stehende Bestreben nach größtmöglicher Exoterik dürfen so vielleicht als Gründe für das Zustandekommen der Vielzahl der die flüssige Lektüre hemmenden Anmerkungen und Zwischenbemerkungen angeführt werden. Da dieses Bestreben nicht in allen Stücken zum gewünschten Erfolg geführt hat, was in dem Abschnitt über die Kunst-Religion vielleicht am deutlichsten wird, ich aber im Interesse größtmöglicher Vollständigkeit beim Nachweis der in die Arbeit eingegangenen Textstellen keine Möglichkeit zu einer weiteren Glättung des Textes gesehen habe, bleibt mir nur, den Leser für das Überladene und Umständliche der Darstellung um Nachsicht zu bitten. Ich bin nicht der Ansicht, daß es verfehlt wäre, die innerhalb der „Wissenschaft der Logik" und der „Enzyklopädie" entwickelten Bestimmungen auf die Problematik des spekulativen Satzes anzuwenden. Erst wenn die Unangemessenheit der Form des Satzes und seines spekulativen Inhalts, der spekulativen Idee auseinandergelegt wird durch die Betrachtung der mehr oder weniger großen Inadäquatheit der verschiedenen Urteilsformen, erst wenn die dialektische Bewegung des Satzes betrachtet wird im Hinblick auf die dialektische Bewegung der Fortbestimmung des Urteils durch die Verschiedenheit der Urteile, wird der Zusammenhang des Problems des spekulativen Satzes mit dem Problem der spekulativen Methode deutlicher. Ich teile vielmehr die Auffassung, daß Hegel keinen Zweifel daran gelassen hat, daß das Modell des spekulativen Satzes die für die Große Logik gültige Darstellungsform beschreibt. Daß sich Hegel vom Anfang der „Logik" an der Problematik der sprachlichen Darstellung des Spekulativen bewußt war, obgleich meines Wissens in der „Wissenschaft der Logik" expressis verbis nicht vom spekulativen Satz gesprochen wird, beweist die Anmerkung 2 des ersten Kapitels der Seinslogik, auf deren Bedeutung für das Darstellungs- wie das Methodenproblem bereits von anderer Seite aufmerksam gemacht worden ist. Des Hinweises auf den entsprechenden Paragraphen 88 der enzyklopädischen Logik von 1830 (bzw. auf den Paragraphen 41 der'enzyklopädischen Logik von 1817), in dem Hegel zunächst das Problem des methodischen Fortgangs des Philosophierens erörtert und ausdrücklich auf „spekulative Sätze" zu sprechen kommt, bedarf es zum Beweis nicht. Im ersten Teil des z w e i t e n K a p i t e l s dieser Arbeit habe ich durch die Weiterführung der Diskussion der methodologischen Bedeutung der sprachlichen Darstellung für die Selbstbewegung des Begriffs zu verdeut-
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liehen versucht, daß Hegel in dieser zweiten Anmerkung bereits am Anfang der „Wissenschaft der Logik" den Gedanken wieder aufnimmt, den er in den vom spekulativen Satz handelnden Absätzen der Vorrede zur „Phänomenologie" entfaltet hatte, um sich am Ende der „Wissenschaft der Logik" im Kapitel über die absolute Idee ausführlich mit ihm zu beschäftigen. Die Überlegungen zur spekulativen Methode im dritten Teil des zweiten Kapitels dieser Arbeit knüpfen insofern an die Ausführungen über die sprachliche Darstellung des spekulativen Gedankens im ersten Teil dieses Kapitels an. Im zweiten Teil geht es um eine Klärung des Verhältnisses von Urteil und Satz. Die dem Urteil des Daseins vorangestellte Vorbetrachtung über das Urteil im allgemeinen, in der Hegel die Bewegung des Urteils thematisiert, ohne auf die verschiedenen Urteilsformen im einzelnen einzugehen, wurde für die Interpretation ausgewählt, weil Hegel in ihr, wenn auch unter anderem Namen, der Sache nach seine früheren Überlegungen zum spekulativen Satz aufnimmt. Ein Hinweis darauf wie auch allgemeine Bemerkungen über die Relevanz der Urteilslogik für das Problem des spekulativen Satzes finden sich an verschiedenen Stellen in der Hegel-Literatur. Eine unter diesem Aspekt vorgenommene genauere Untersuchung einzelner Urteilsformen oder wenigstens der Vorbetrachtung über das Urteil findet sich hingegen nicht. Wie bereits erwähnt, habe ich dem Absatz dieser Vorbetrachtung besondere Beachtung geschenkt, in dem Hegel die Verhältnisse der Inhärenz des Prädikats im Subjekt und der Subsumtion des Subjekts unter das Prädikat auseinandersetzt. Bei der spekulativen Betrachtung beider Verhältnisse, die im Mittelpunkt des zweiten Teils steht und auf die am Ende der Arbeit zurückgekommen wird, wurde deutlich, daß die Wechselbestimmung von Inhärenz und Subsumtion nicht nur bei der Fortbestimmung der Urteile der Inhärenz zu den Urteilen der Subsumtion eine Rolle spielt, sondern für die Bewegung des Urteils im allgemeinen und darüberhinaus wohl für die Bewegung des Begriffs überhaupt von der größten Bedeutung ist. In der spekulativen Betrachtung der Verhältnisse der Inhärenz und der Subsumtion bzw. des Inhalts und des Umfangs oder der Form der Satzteile kann der Schwerpunkt dieser Arbeit gesehen werden. Die kursorische Betrachtung des positiven und des negativen Urteils wurde vor allem im Hinblick auf die Interpretation des Abschnitts über das unendliche Urteil durchgeführt. Dieser Abschnitt wurde nicht allein
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deshalb genauer analysiert, weil Hegel in dem zentralen Absatz der Vorrede zur „Phänomenologie", in dem zum ersten Mal ausdrücklich vom spekulativen Satz die Rede ist, darauf hinweist, daß der identische Satz und das heißt das positiv unendliche Urteil - den Gegenstoß zu dem gewöhnlichen Verhältnis der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat im endlichen Urteil enthält, wodurch er zum Moment im Rhythmus der dialektischen Bewegung des spekulativen Satzes wird, in dem die Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat hervorgehen soll. Das unendliche Urteil wurde auch deshalb näher betrachtet, weil es als Resultat der Fortbestimmung des endlichen Urteils gleichsam den Wendepunkt der Umkehrung des Urteils der Inhärenz ins Urteil der Subsumtion darstellt. Aufzuklären war die Verwechslung des abstrakten, identischen Satzes, d.h. des tautologischen analytischen Urteils mit dem absoluten identischen Satz, dessen Identität nicht die Identität des Verstandes, sondern die Vernunftidentität der Identität und der Nichtidentität ist und der insofern spekulativ ebensosehr als analytischer wie als synthetischer Satz zu betrachten ist, sowie die Verwechslung des schlechten' unendlichen Urteils mit dem ,wahrhaft* unendlichen Urteil, als das Hegel auch die Idee bezeichnet. Daß Hegel im Zusammenhang der Ausführungen über die absolute Methode im letzten Kapitel der „Wissenschaft der Logik" wieder auf das Urteil zu sprechen kommt, ist insofern nicht überraschend, als es die im Urteil gesetzten Bestimmungen des Begriffs selbst und deren Beziehungen sind, die nach Hegel am Ende der „Logik" als Bestimmungen der Methode zu betrachten sind. Im letzten Teil dieser Arbeit ging es nach einer Vorklärung des endlichen Erkennens, das, wie am Ende des einleitenden Kant-Kapitels ausführlich dargelegt wurde, entweder analytisch oder synthetisch ist, um die Explikation der spekulativen Methode des wahrhaft unendlichen Erkennens, die ebenso analytisch wie synthetisch ist. Es kam mir darauf an, die dialektische Bewegung des Begriffs, die das wirkliche Spekulative, die spekulative Idee ist, als dialektisches, sowohl analytisches bzw. formales als auch synthetisches bzw. inhaltliches Moment des Urteils zu begreifen. Wird der spekulative Satz zunächst nur als Satz vorgestellt — die Berechtigung dafür kann darin gesehen werden, daß die Fixierung des Satzes ein notwendiger Anhaltspunkt in der dialektischen Bewegung des Satzes ist — so muß das Spekulative des spekulativen Satzes am Ende als Methode begriffen werden, als Ubergehen oder
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vielmehr als Ubersetzen der Glieder des Satzes, als eine Bewegung, aus der die spekulative Idee als der spekulative Sinn des Satzes hervorgeht. Beim spekulativen d.h. philosophischen Satz geht es am Ende um nichts anderes als um die philosophische Reflexion des Erfassens des Sinns eines Satzes. Zum Schluß möchte ich Hegel darin zustimmen, daß jede Philosophie, die diesen Namen verdient, die spekulative Idee zu ihrem Inhalt hat, daß die Philosophie nichts darstellt, als daß sie die ,höchste Seligkeit als Idee konstruiert'. Diese Idee ist nicht das Resultat einer persönlichen Divination Hegels, kein ,vornehmes' Vermögen, wie dies dem aufs Diskursive beschränkten Verstand vorkommen mag, dessen Bewußtlosigkeit über die spekulative Vernunft in der Tat unglaublich weit geht. Das vernünftige Tun und der höchste Genuß müssen am Ende eines sein. Der gesunde Menschenverstand kann die philosophische Spekulation nicht nur nicht verstehen, sondern er muß den spekulativen Begriff, der mit Hegel — mag dies für die meisten heute auch befremdlich klingen — die ,freie Liebe und schrankenlose Seligkeit' genannt werden könnte, hassen, wenn er von ihr erfährt und, um ein Wort des jungen Hegel aufzunehmen, wenn er nicht in der völligen Indifferenz der Sicherheit ist, sie ,verabscheuen' und .verfolgen'. Die im Gewände der Bescheidenheit auftretende Arroganz des vorherrschenden modernen philosophischen Bewußtseins möchte mit solcherlei, vor allem aber mit den ,Scheinfragen' der von ihm als längst überholt angesehenen spekulativen Metaphysik verschont werden. In dieser Arbeit war es weniger meine Absicht, das Augenmerk auf die unbestreitbaren Unscharfen und Unklarheiten des Hegeischen Systems zu lenken. Dennoch hoffe ich, daß der mir angemessener erscheinende Versuch des Sich-Einlassens wegen des hohen ,Kredits', der Hegel gegeben wurde, nicht als kritiklose Hegelgläubigkeit erscheinen möge. An einzelnen Stellen läßt sich jeder philosophische Vortrag ,zwacken' — wie Kant sich ausdrückt —, denn er kann nicht so gepanzert auftreten wie der mathematische, und ich denke, er sollte es auch nicht. Es kam mir bei der Erörterung der Methodenproblematik mehr darauf an, die spekulative Idee im Ganzen im Auge zu behalten. Zurecht unterscheidet Kant zwischen den Gelehrten, denen die Geschichte der Philosophie ihre Philosophie ist und denjenigen, die aus den Quellen der Vernunft selbst zu schöpfen bemüht sind. Sich zum Selbstdenken durchzuarbeiten ist aber am Ende wohl eine Frage der Entschließung und des Mutes, zuerst aber der Zurückhaltung, der Geduld und ,Zucht des Denkens', d.h. hier des Durchdenkens durch die Geschichte der prima philosophia. Diese Unbequemlichkeit steht der Akkomodation
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an den Modeton unseres kritischen Zeitalters entgegen, dem sich nahezu alles unterworfen hat, seitdem der kritische Fußsteig zur Heerstraße der Vielen wurde, die es sich zur Ehre machen, der Metaphysik und ihren Ideen alle Verachtung zu beweisen. Hegels spekulative Philosophie an ihrem eigenen Anspruch gegenüber der kritischen Philosophie Kants zu messen, scheint mir demgegenüber ein zwar mühsamer und umständlicher, dennoch aber auch weiterhin ein vielversprechender Weg zu sein, um zur Einsicht in die ,Größe' und die .Grenzen' der nachkritischen Metaphysik Hegels zu gelangen. Der metakritische Weg scheint mir allein noch offen zu sein. In der Rückschau sind mir die Unzulänglichkeiten dieser Arbeit deutlicher geworden. Einige Mängel konnten bei der Durchsicht beseitigt werden. Grundsätzliches bleibt späteren Arbeiten vorbehalten. An dieser Stelle möchte ich mich bei meinem Lehrer, Herrn Prof. Dr. B. Liebrucks bedanken, der den Grund für diese Arbeit gelegt hat. Ebenso danke ich Herrn Prof. Dr. J. Simon, der das Zustandekommen dieser Schrift ermöglicht hat. Zu Dank verpflichtet bin ich auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft für Ihre Unterstützung des Drucks. Nicht zuletzt danke ich meiner Frau für ihre unersetzliche Hilfe bei der Fertigstellung.
Inhaltsverzeichnis Vorwort
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Einleitung Überlegungen zu Kants Kritik der Spekulation ausgehend von der Interpretation einzelner Abschnitte der „Kritik der reinen Vernunft" und der „Kritik der Urteilskraft" 1. Die reflektierende Urteilskraft überhaupt und der regulative Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft (Der Anhang zur transzendentalen Dialektik und die Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft)
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Bestimmende und reflektierende Urteilskraft. Die Hypothese der Entsprechung der reflektierenden Urteilskraft und der regulativen Vernunft
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Die Entsprechung der als bestimmende erschlichenen reflektierenden Urteilskraft und der konstitutiven (spekulativen) Vernunft. Der Grundsatz der Affinität (Kontinuität) bzw. der Zweckmäßigkeit als Grundsatz der regulativen Vernunft bzw. der reflektierenden Urteilskraft
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Natura formaliter spectata und natura materialiter spectata. Verstandesbestimmung und Vernunftreflexion
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Das Prinzip der transzendentalen Zweckmäßigkeit als Voraussetzung der Vernunftreflexion
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Die transzendentale Subreption der transzendentalen Zweckmäßigkeit (technica speciosa) als metaphysische Zwecktätigkeit (technica intentionalis) durch die spekulative Vernunft
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Vorbemerkungen zur Dialektik von reflektierender (präsumierender, voraussetzender) und bestimmender (subsumierender, setzender) Urteilskraft im Hinblick auf die Hegeische Wesenslogik
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Die Kritik an der spekulativen Vernunft als Kritik an der transzendentalen Subreption der Voraussetzung der reflektierenden Urteilskraft bzw. der regulativen Vernunft als Gesetz. Das „als ob" als höchster Standpunkt der Transzendentalphilosophie . . . .
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Inhaltsverzeichnis
2. Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft und die von Vernunftidee und ästhetischer Idee
Unterscheidung 40
Logisches, teleologisches und ästhetisches Urteil
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Ästhetische Reflexion und logische Bestimmung. Zur Kritik der transzendentalen Subreption der comprehensio aesthetica als comprehensio logica
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3. Die teleologisch reflektierende Urteilskraft und die Physikotheologie als mißverstandene physische Teleologie. (Die „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft"). Kants Begriff des spekulativen Satzes
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Die Kantische Kritik des onto-theologischen Arguments
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I. Kapitel Überlegungen zu Hegels Begriff der Spekulation ausgehend von der Interpretation einzelner Abschnitte der „Phänomenologie des Geistes" 1. Die systematische Stellung der Sprache und das Verhältnis Vernunft und Sprache
von 67
Vorbemerkung zur historischen Stellung des Begriffs der Spekulation
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Vorbemerkung zur systematischen Stellung des Begriffs der Spekulation
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Die systematische Stellung der Sprache. Die Problematik einer Korrelation der Momente des theoretischen Geistes und der Gestalten des erscheinenden Geistes
74
Die Problematik einer Entsprechung der Gestalten des erscheinenden Geistes und der abstrakten Momente der Wissenschaft
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Vernunft und Sprache. Zum Begriff der Sprache als Wechselwirkung von Äußerung und Erinnerung
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2. Die Religion
100
Die natürliche Religion. Der Werkmeister. Die stumme Sprache der Steingebilde der Naturreligion des Rätsels 102 Die Kunst-Religion Vorbetrachtung Das Problem des .Endes der Kunst'
112 112 .116
XXI
Inhaltsverzeichnis
Das abstrakte Kunstwerk
120
Die Sprache des Orakels und die Sprache der Hymne
120
Die tragische Kollision der Mächte des Substantiellen (Eumeniden) und des Subjektiven (Apoll) als religiöse Vorstellung des Konfliktes von Form und Inhalt im spekulativen Satz. Der Ausgang des Prozesses der Eumeniden als dramatische Vorstellung der harmonischen Einheit des formalen Unterschieds und der inhaltlichen Identität der Teile des spekulativen Satzes 125 Die beiden ersten abstrakten Kunstwerke: Bildsäule und Hymne und deren Vermittlung im Kultus des Opferns in den offenbaren Mysterien. Das Mystische und das Spekulative 133 Das lebendige Kunstwerk
138
Die rhythmische Bewegung des lebendigen Kunstwerks als Vorbild der dialektischen Bewegung des spekulativen Satzes
138
Das Ideal der Kunst
142
Die stillschweigende Sprache der idealen Skulpturgestalt
148
Der Schein
153
Das geistige Kunstwerk
157
Die epische Sprache. Die Mnemosyne
157
Die dramatische Handlung als poetische Vorstellung der spekulativen Gedankenhandlung. Die dramatische, dialogische Sprache und das dialektische Denken 162 Die komische Sprache. Der Entwicklungsgang der künstlerischen Darstellung als Fortgang über verschiedene Stufen der sprachlichen Vorstellung des spekulativen Begriffs 166 Die offenbare Religion. Die Bewegung der Glieder des spekulativen Satzes der Kunst-Religion: Das Selbst (Subjekt) ist das absolute Wesen (Substanz) 3. Der
spekulative
Satz in der
170 Vorrede
zur „Phänomenologie
des
Geistes"
177
Bemerkungen zu Hegels Begriff der Reflexion mit Rücksicht auf den Kantischen Begriff der reflektierenden Urteilskraft
177
Die Absätze 5 8 - 6 6 der Vorrede
184
Der zentrale Absatz 61 der Vorrede. Die Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat im spekulativen Satz
194
Der Vergleich von Satzform und Satzinhalt mit dem im. Rhythmus stattfindenden Konflikt zwischen Akzent und Metrum. Die rhythmische Versifikation 198
XXII
Inhaltsverzeichnis Das dichterische Wort und der philosophische Satz. Die Darstellung der dialektischen Bewegung des Satzes 208 Zur Problematik des Gegenstoßes in der dialektischen Bewegung des Satzes 217
Die erfüllte Einheit des Begriffs und die leere Kopula des Urteils. Bemerkungen im Hinblick auf den Anfang der Seinslogik 221 II. Kapitel Überlegungen zu Hegels Begriff der Spekulation ausgehend von der Interpretation einzelner Abschnitte der „Wissenschaft der Logik" 1. Die sprachliche Darstellung des Spekulativen
225
Zum Problem des Anfangs der „Wissenschaft der Logik" . . . 225 Die Anmerkung 2 des 1. Kapitels der Seinslogik. Der Satz: Das Sein ist Nichts als spekulativer Satz 228 Form und spekulativer (philosophischer) Inhalt des Satzes. Grundsatz und spekulativer Satz 233 Das spekulative Verhältnis von Syntax und Semantik
242
Gemeintes und Gesagtes
245
Die Zerstörung der Natur des Satzes als Erfahrung des spekulativen Geistes des Satzes 249 Die Unmöglichkeit des Ausdrucks des wirklichen Spekulativen in einem einzelnen Satz 252 2. Das Urteil Vorbetrachtung Begriff - Urteil - Schluß
257 257 257
Das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Urteil des Daseins als Verhältnis des selbständigen Einzelnen zum unselbständigen Allgemeinen. Der Vergleich des Verhältnisses der Selbständigkeit des Subjekts zur Unselbständigkeit des Prädikats mit dem Verhältnis von Gedanke und Sprache 261 Die Urteile als Momente der dialektischen Bewegung des Urteils. Die dialektische Bewegung des spekulativen Satzes als die sich in der Bewegung der Fortbestimmung des Urteils in die Verschiedenheit der Urteile vollziehende begriffliche Vereinigung von Subjekt und Prädikat . . . . 264 Die Einheit des Begriffs als Beziehung von Subjekt und Prädikat im Urteil. Urteil und Satz
271
Die Fortbestimmung des Urteils des Daseins bzw. der Inhärenz zum Urteil der Reflexion bzw. der Subsumtion 275
Inhaltsverzeichnis
XXIII
Der zentrale Absatz 11 der Vorbetrachtung. Die Verhältnisse der Inhärenz des Prädikats im Subjekt und der Subsumtion des Subjekts unter das Prädikat Inhalt und Umfang der Begriffe; Inbegriff und Unterbegriff Zwischenbemerkung zum Kantischen Begriff des Inbegriffs Die spekulative Betrachtung des Inhärenz- und des Subsumtionsverhältnisses Das positive und das negative Urteil
278 284 287 290 299
Das unendliche Urteil 308 Umkehrbarkeit und Umfangsgleichheit identischer Sätze 311 Absoluter und abstrakter identischer Satz. Der Satz der Identität . . . 320 3. Die Idee Das analytische und das synthetische Erkennen
325 325
Die absolute Idee 335 Die spekulative Methode als eine sowohl analytische als auch synthetische Methode 335 Der spekulative Sinn des Satzes als das Umschlagen des Inhalts in die Form. Inhalt/Form — Inhärenz/Subsumtion — Inbegriff/Unterbegriff — analytisch/synthetisch 342 Literaturverzeichnis
351
Sachregister
357
Einleitung Überlegungen zu Kants Kritik der Spekulation ausgehend von der Interpretation einzelner Abschnitte der „Kritik der reinen Vernunft" und der „Kritik der Urteilskraft" 1. Die reflektierende
Urteilskraft überhaupt und der regulative der Ideen der reinen
(Der Anhang zur transzendentalen A 642/В
670-А
704/В
Gebrauch
Vernunft
Dialektik (Kritik der reinen
Vernunft,
732) und die Einleitung in die
Kritik der
Urteilskraft)
Kant ist der Ausgangspunkt dieser Betrachtung über Hegel. 1 Ziel der Kantischen Kritik der Vernunft ist die Aufklärung der Vernunft. 2 Aufklärung ist die Verbannung der Spekulation. 3 Hier soll die allgemeine Vorbemerkung gemacht werden, daß der Hegeische Begriff des Spekulativen Bemerkung zu den Kant- und Hegel-Zitaten: Mit Ausnahme der „Kritik der reinen Vernunft" (K.r.V.), der „Kritik der praktischen Vernunft" (K.pr.V.) der „Kritik der Urteilskraft" (K.U.), der Dissertation „ D e mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis", der ersten Einleitung in die „Kritik der Urteilskraft" und der „Prolegomena", bei denen von der Meiner-Ausgabe ausgegangen wird, wird nach der Akademieausgabe zitiert. Bei der „Kritik der reinen Vernunft" werden die Seitenzahlen der ersten Originalausgabe von 1781 (A) und die Seitenzahlen der zweiten Originalausgabe von 1787 (B) wiedergegeben. Die Seitenzahlen der Meiner-Ausgabe werden bei der „Kritik der reinen Vernunft", der „Kritik der praktischen Vernunft" und der „Kritik der Urteilskraft" in Klammern wiedergegeben. Mit Ausnahme der „Wissenschaft der Logik" (Log. I und II), der „Phänomenologie des Geistes" (Phä.), der „Jenenser Logik, Metaphysik und Naturphilosophie" und der „Jenaer Realphilosophie", die nach der Meiner-Ausgabe zitiert werden, wird nach der Glockner-Ausgabe (SW Bd. 1 - 2 0 ) zietiert. (Die altertümliche Schreibweise wurde beibehalten). Die Frühen Schriften werden nach der Suhrkamp-Ausgabe, Bd. 1 zitiert. 1
Hegel erinnert daran, daß er auf die Kantische Philosophie häufig Rücksicht nehmen werde, weil sie die Grundlage und den Ausgangspunkt der neueren deutschen Philosophie ausmache und ihr dieses Verdienst durch das, was an ihr ausgesetzt werden möge, ungeschmälert bleibe. Vgl. Log. I, 44, Anm.; vgl. auch den Aufsatz von E. J . Fleischmann, Hegels Umgestaltung der Kantischen Logik, in: Hegel-Studien 3 (1965), 1 8 1 - 2 0 7 und in: Hegel in der Sicht der neueren Forschung, Darmstadt 1973, 1 2 9 - 1 6 0 . Obgleich ich nicht der Meinung W. Bröckers bin, daß der „wirkliche Kant" Hegel im Grunde ganz unbekannt geblieben ist, teile ich doch dessen Auffassung, daß ein Fortsetzung der Fußnote 1 sowie Fußnote 2 und 3 s. S. 2.
2
Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
bzw. Spekulativ-Vernünftigen durch die Metakritik 4 des Kantischen Begriffs der Spekulation bzw. der spekulativen Vernunft zu verdeutlichen ist. Metakritik der spekulativen Vernunft besteht insofern darin, die Aufklärung über sich selbst aufzuklären, d. h. die diakritischen Gedanken der Aufklärung zusammenzubringen, als das Spekulative nach Hegel „im Allgemeinen in nichts anderem (besteht), als seine Gedanken, d.i. die man schon hat, nur zusammen zu bringen." 5 Nach Kant soll nun die Aufklärung unserer Begriffe der Vernunft den „Eigendünkel der Spekulation" 6 auf bescheidene, die Grenzen der Erfahrung nicht überfliegende Erkenntnis restringieren und die Vernunft zu Verwirkliches Gespräch zwischen Kant und Hegel uns als Aufgabe hinterlassen ist, (vgl. Ingtraud Görland, Die Kantkritik des jungen Hegel, Frankfurt 1966, Vorwort von W . Bröcker, VI.), und zwar deshalb, weil kaum zu leugnen ist, daß die von Hegel — und zwar nicht nur die vom jungen Hegel — explizit vorgetragene Kantkritik die Kantische Philosophie in mehr als einem Punkt stark vereinfacht, wenn nicht sogar vergröbert und verkürzt. Um zu zeigen, daß sich Hegel in zentralen Punkten dennoch in den Umkreis der Stärke Kants gestellt hat, bleibt es des öfteren unsere Aufgabe, die immanente Kritik an Kant so weit voranzutreiben, bis wir uns -
sozusagen unversehens — in der
Hegeischen Philosophie wiederfinden. Μ . E. ist D . Henrich zuzustimmen, wenn er sagt, daß eine Kantkritik ohne Bewährung bleibe, die sich in Hegels eigenen Formulierungen bewegt und daß man Hegels Kritik an Kant neu formulieren und weiter ausarbeiten müsse, wenn man versuchen will, sie auch für den Kantischen Standpunkt einsichtig und überzeugend zu machen. Vgl. D . Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, Tübingen 1960, Kap. III, A . 2, Hegel und die Kantische Kritik, 196. 2
3
4
5
6
Vgl. K . r . V . , Transzendentale Methodenlehre, 1. Hauptstück, 2. Abschnitt, Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihres polemischen Gebrauchs. Vgl. SW Bd. 19, 553: „Das letzte Resultat der Kantischen Philosophie ist die Aufklärung", 554 und SW Bd. 20, 12 f. Vgl. Log. I, 3 und SW Bd. 11, 552: ,,. . . alles Speculative aus menschlichen und göttlichen Dingen hat die Aufklärung verbannt und vertilgt." Hegel selbst hat den Ausdruck , .Metakritik" soweit ich sehe nur im Zusammenhang mit der Erörterung der Schriften von Hamann und Herder verwendet. Vgl. J . G . Hamann, Metakritik über den Purismum der Vernunft, in: Sämtliche Werke, III. Band, 280—289 und J . G . Herder, Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, in: Joh. Gottfr. Herder's Sprachphilosophie, Ausgewählte Schriften, Meiner Bd. 248, 183—227. SW Bd. 16, 467; vgl. SW Bd. 18, 237 und Log. I, 142. „ E s kann noch eine allgemeine Bemerkung über das Resultat gemacht werden, welches sich aus der kritischen Philosophie für die Natur des E r k e n n e n s ergeben, und zu einem der Vorurtheile d.i. allgemeinen Voraussetzungen der Zeit erhoben hat. In jedem dualistischen System, insbesondere aber im kantischen giebt sich ein Grundmangel durch die Inkonsequenz das zu v e r e i n e n , was einen Augenblick vorher als selbständig somit als u n v e r e i n b a r erklärt worden ist, zu erkennen. . . . Es fehlt bei solchem Philosophiren das einfache Bewußtseyn, daß mit diesem Herüber- und Hinübergehen selbst jede dieser einzelnen Bestimmungen für unbefriedigend erklärt wird, und der Mangel besteht in der einfachen Unvermögenheit, zwei Gedanken — und es sind der Form nach nur zwei vorhanden, — zusammen zu bringen." (SW Bd. 8, § 60, 158.) Vgl. ferner SW Bd. 19, 570. K . r . V . , A 735/B 763 (675).
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
3
stände bringen. 7 Die durch Kritik aufgeklärte verständige Vernunft, die von ihren Begriffen nur immanenten Gebrauch macht, bleibt auf dem einheimischen Boden der Erfahrung als dem Land der Wahrheit und hütet sich vor dem Schein. 8 Sie ist von der überschwenglichen spekulativen Vernunft, die von ihren Begriffen transzendenten Gebrauch macht, mit ihren Begriffen auf dem „weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitze des Scheins" 9 herumschwärmt, zu unterscheiden. Im Interesse unserer Selbsterhaltung werden wir gewarnt, uns nicht ä corps perdu in diesen uferlosen Ozean zu stürzen. Kritik der Vernunft ist Kritik an der spekulativen Vernunft durch die verständige Vernunft. (Bei dieser handelt es sich um die kritisierende, bei jener um die kritisierte Vernunft.) Zur näheren Bestimmung des Begriffs der Spekulation bei Kant scheint mir die „berühmte" 1 0 Kritik aller spekulativen Theologie am geeignetsten. Der Vergleich der Stellen der „Kritik der reinen Vernunft", an denen Kant von Spekulation spricht, zeigt, daß die Bedeutung dieses Begriffes schwankt, 11 läßt es m . E . jedoch als gerechtfertigt erscheinen, die in der „Kritik aller spekulativen Theologie" gegebene Erklärung der spekulativen Erkenntnis, nach der sie eine theoretische Erkenntnis ist, die sich auf Gegenstände bzw. Begriffe von Gegenständen bezieht, zu denen man in keiner Erfahrung gelangen kann 1 2 als maßgebend für den Kantischen Gebrauch des Begriffs der Spekulation anzusehen. Unter dem spekulativen Vernunftgebrauch soll hier demgemäß nicht der theoretische Vernunftgebrauch, sondern der illegitime theoretische Vernunftgebrauch verstanden werden. Zunächst soll jedoch auf den, an die Kritik der spekulativen Theologie anschließenden „Anhang zur transzendentalen Dialektik" eingegangen werden. In diesem Anhang geht es um die Unterscheidung des legitimen, immanenten, regulativen oder hypothetischen Gebrauchs der Vernunft — der auch als v e r s t ä n d i g e r V e r n u n f t g e b r a u c h bezeichnet werden soll — vom illegitimen, transzendenten, konstitutiven oder apodiktischen — der auch als s p e k u l a t i v e r V e r n u n f t g e b r a u c h bezeichnet werden soll— bzw. um die Unterscheidung der Ideen der Vernunft als legitimer vernünf7 8 9 10 11 12
Vgl. Log. I, 81. Vgl. K.r.V., A 235/6 /В 294/5 (287), А 642/3 / В 670/1 (604/5) und А 689/ В 717 (640). A.a.O., А 235/6 /В 294/5 (287). Zu Hegels Aufnahme dieses Kapitels vgl. SW Bd. 1, 314 und SW Bd. 3, 307. Vgl. H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, Dritter Teil, Berlin 1969, 460, Anm. 87. Vgl. K.r.V., А 634/5 /В 662/3 (599).
4
Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
tiger Begriffe (conceptus ratiocinati) von den Ideen als illegitimen vernünftelnden Begriffen (conceptus ratiocinantes). 13 Die im zweiten Stück des Anhangs durchgeführte Deduktion der Ideen als vernünftiger Begriffe, die ihre gute und zweckmäßige Bestimmung haben, von denen wir also einen guten immanenten Gebrauch machen können, 14 bezeichnet Kant als die „Vollendung des kritischen Geschäftes der reinen Vernunft". 15 Der „Anhang zur transzendentalen Dialektik" ist m.E. von doppeltem Interesse. 16 Erstens bekommt er eine Bedeutung nicht nur für die transzendentale Dialektik, sondern für die „Kritik der reinen Vernunft" insgesamt, wenn man ihn im Zusammenhang mit dem Anhang zur transzendentalen Analytik sieht. Im Anhang zur Dialektik geht es um die Verwechslung des verständigen (empirischen) mit dem unverständigen Vernunftgebrauch. Sie wird vermieden durch die Kritik der Vernunft, durch die subtile Unterscheidung zwischen den Ideen als relativen Suppositionen (suppositiones relativae), als zweckmäßigen Hypothesen, als Vernunftforderungen zum Zwecke der Regulierung der Verstandesbestimmungen und den Ideen als absoluten Suppositionen (suppositiones absolutae), wie sie durch Hypostasierung (durch die Verdinglichung bloßer Bedingungen) entstehen; eine Unterscheidung, die nicht nur für die Deduktion der reinen Vernunftbegriffe von großer Wichtigkeit ist. Im Anhang zur Analytik geht es um die Verwechslung des empirischen mit dem transzendentalen Verstandesgebrauch. Sie wird vermieden durch die Kritik des Verstandes, durch die Unterscheidung von Phaenomena und Noumena. Diese Unterscheidung ist " Vgl. a . a . O . , A 644/ В 672 (606), А 670/ В 698 (625/6), А 681/ В 709 (633/4), А 311/ В 368 (347/8) und К. U . , 330 (260). 1 4 Vgl. K . r . V . , А 643/ В 671 (605) und А 669/ В 6 9 7 (625); vgl. ferner А 336/ В 393 (366). 1 5 A . a . O . , А 670/ В 698 (625). Zu der im dritten Absatz des zweiten Stückes des A n hangs durchgeführten transzendentalen Deduktion der reinen Vernunftbegriffe (A 670/1 /В 698/9 (625—627)) im Verhältnis zur transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe vgl. auch den Absatz 28 des ersten Stückes des Anhangs (A 663/4 /В 691/2 (620/1)), w o Kant auf А 336/ В 393 ( 3 6 6 f f . ) verweist. 1 6 In § 60 der „Prolegomena" bezeichnet Kant die beiden Stücke dieses Anhangs als „Scholien", die „nicht als Glieder zum Ganzen des Systems gehören." (Kants Schriften. W e r k e IX, Immanuel Kant's Logik, Ein Handbuch zu Vorlesungen, § 39, 112. (Es sei bemerkt, daß ich in der folgenden Arbeit, im Unterschied etwa zu R. StuhlmannLaeisz - vgl. R. Stuhlmann-Laeisz, Kants Logik, Berlin/New Y o r k 1976, 1, A n m . 1 trotz der ungünstigen Beurteilung durch K. Reich — vgl. K . Reich, Die Vollständigkeit der Kantischen Urteilstafel, Berlin 1932, 21—24 — verschiedentlich das von G. B. Jäsche herausgegebene Handbuch zu Kants Logikvorlesungen heranziehen werde — freilich ohne deshalb auf die anderen verfügbaren Nachschriften zu Kants Logikvorlesungen ganz zu verzichten).)
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
5
für die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe insofern bedeutsam, als die Pflicht der transzendentalen Reflexion zur Verhinderung des Einflusses der Sinnlichkeit auf den Verstand ein Licht wirft auf das Recht der Handlungen des Verstandes bezüglich der ihm untergelegten Sinnlichkeit. 17 O b es auch die Aufgabe der transzendentalen Reflexion ist, über die transzendentale Affinität der Erscheinungen und über deren Zweckmäßigkeit bzw. Angemessenheit für die Bestimmung gemäß der transzendentalen Apperzeption zu reflektieren und ob insofern beim legitimen Gebrauch des Verstandes bereits regulativer Gebrauch von der Vernunft gemacht wird, kann hier noch nicht geklärt werden. 1 8 Zweitens bekommt der Anhang zur transzendentalen Dialektik eine Bedeutung nicht nur für die „Kritik der reinen Vernunft", sondern für die kritische Philosophie überhaupt, wenn man ihn mit der „Kritik der Urteilskraft" vergleicht, mit der Kant sein ganzes kritisches Geschäft beendet. 1 9 Die „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft" (einschließlich des Anhangs zur transzendentalen Dialektik) erlaubt also nicht nur eine Klärung des Begriffs der spekulativen Vernunft, sondern die Durchsicht dieses Abschnitts der Vernunftkritik im Hinblick auf die „Kritik der Urteilskraft" kann m . E . auch den Zusammenhang des Begriffs der regulativ gebrauchten Vernunft mit den Begriffen des I d e a l s , der Z w e c k m ä ß i g k e i t und der r e f l e k t i e r e n d e n U r t e i l s k r a f t deutlicher machen. 2 0
17 18 19
20
Vgl. K . r . V . , A 263/ В 319 (311) und А 294/ В 351 (335). Vgl. dazu weiter unten. Vgl. K . U . , X (5); u. a. hat A. Baeumler auf die Bedeutung des Anhangs zur transzendentalen Dialektik hingewiesen. (A. Baeumler, Das Irrationalitätsproblem in der Ästhetik und Logik des 18. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft, Darmstadt 1967 2 , 9, 12 und 14. Μ . E. kann man Hegel zustimmen, wenn er allgemein bemerkt: „Die K r i t i k der U r t h e i l s k r a f t hat das Ausgezeichnete, daß Kant in ihr die Vorstellung, ja den Gedanken d e r I d e e ausgesprochen hat. Die Vorstellung eines i n t u i t i v e n V e r s t a n d e s , i n n e r e r Zweckmäßigkeit u.s.f. ist das A l l g e m e i n e zugleich als an ihm selbst k o n k r e t gedacht. In diesen Vorstellungen allein zeigt daher die kantische Philosophie sich s p e k u l a t i v . . . . Die kantischen Reflexionen über diese Gegenstände wären daher besonders geeignet, das Bewußtseyn in das Fassen und Denken der k o n k r e t e n Idee einzuführen." (SW Bd. 8, 154f., § 55 und vgl. SW Bd. 10, § 415, 259f.). In „Glauben und Wissen" kommt der junge Hegel in seinen Ausführungen über die reflektierende Urteilskraft, die für ihn „der interessanteste Punkt des Kantischen Systems" ist (SW Bd. 1, 315), zu dem bekannten — mehrfach auch kritisierten - Ergebnis: „So wie die wahrhaft spekulative Seite der Philosophie Kant's allein darin bestehen kann, daß die Idee so bestimmt gedacht und ausgesprochen worden ist, und wie es allein interessant ist, dieser Seite seiner Philosophie nachzugehen: so viel härter ist es, das Vernünftige nicht etwa nur wieder verwirrt, sondern mit vollem Bewußtseyn die höchste Idee verderbt und die Reflexion und endliches Erkennen über sie erhoben werden zu sehen." (SW Bd. 1, 322, vgl. auch 309
6
Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Bestimmende und reflektierende Urteilskraft Die Hypothese der Entsprechung der reflektierenden Urteilskraft und der regulativen Vernunft In der ersten Einleitung in die „Kritik der Urteilskraft" führt Kant die reflektierende Urteilskraft folgendermaßen ein: „Die Urteilskraft kann entweder als bloßes Vermögen, über eine gegebene Vorstellung, zum Behuf eines dadurch möglichen Begriffs, nach einem gewissen Prinzip zu ref l e k t i e r e n , oder als ein Vermögen, einen zum Grunde liegenden Begriff durch eine gegebene empirische Vorstellung zu b e s t i m m e n , angesehen werden. Im ersten Falle ist sie die r e f l e k t i e r e n d e , im zweiten die bes t i m m e n d e U r t e i l s k r a f t . " 2 1 In der zweiten Einleitung sagt Kant an der entsprechenden Stelle: „Urteilskraft überhaupt ist das Vermögen, das Besondere als enthalten unter dem Allgemeinen zu denken. Ist das Allgemeine (die Regel, das Prinzip, das Gesetz) gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert, (auch, wenn sie als transzendentale Urteilskraft a priori die Bedingungen angibt, welchen gemäß allein unter jenem Allgemeinen subsumiert werden kann) b e s t i m m e n d . Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß r e f l e k t i e r e n d . " 2 2 In der „ L o g i k " geht Kant im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Schlüsse der Urteilskraft 23 auf den Unterschied zwischen bestimmender und reflektierender Urteilskraft ein: „Die Urtheilskraft ist zwiefach: die b e s t i m m e n d e oder die r e f l e c t i r e n d e Urtheilskraft. Die ersteregeht v o m A l l g e m e i n e n z u m B e s o n d e r n , die zweite v o m B e s o n d e r n z u m A l l g e m e i n e n . Die letztere hat nur s u b j e c t i v e Gültigkeit, denn das Allgemeine, zu welchem sie vom Besondern fortschreitet, ist nur e m p i r i s c h e Allgemeinheit — ein bloßes Analogon der l o g i s c h e n . " 2 4 (Bereits H. Heimsoeth hat in seinem Kommentar des sechsten Absatzes des Anhangs zur transzendentalen Dialektik auf § 84 der Kantischen „ L o g i k " aufmerksam gemacht. 25 In diesem Paragraphen, der die Uberschrift trägt „ I n d u c t i o n und A n a l o g i e — die b e i d e n S c h l u ß a r t e n
21 22 23 24 25
und SW Bd. 12, 91. Die Wichtigkeit der „Kritik der Urteilskraft" wird auch in Hegels Ausführungen über die „Kritik der Urteilskraft" in SW Bd. 19, 596 betont.). Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 17. K . U . , XXV/VI (15). Vgl. Kants Schriften. Werke I X , Logik, §§ 8 1 - 8 4 , 131-133. Kants Schriften. Werke IX, Logik, § 81, 131/2. H . Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 566, Anm. 233.
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
7
der U r t h e i l s k r a f t " 2 6 heißt es: „Die Urtheilskraft, indem sie vom Besondern zum Allgemeinen fortschreitet, um aus der Erfahrung, mithin nicht a priori (empirisch) allgemeine Urtheile zu ziehen, schließt e n t w e d e r von vielen auf alle Dinge einer Art, o d e r von vielen Bestimmungen und Eigenschaften, worin Dinge von einerlei Art zusammenstimmen, auf die ü b r i g e n , s o f e r n sie zu d e m s e l b e n P r i n c i p geh ö r e n . Die erstere Schlußart heißt der Schluß d u r c h I n d u c t i o n , die andre der Schluß nach der A n a l o g i e . Anmerkung 1. Die I n d u c t i o n schließt also vom Besondern aufs Allgemeine (a particulari ad universale) nach dem Princip der All g e m e i n m a c h u n g : Was vielen D i n g e n einer G a t t u n g z u k o m m t , das k o m m t auch den ü b r i g e n zu. Die A n a l o g i e schließt von p a r t i c u lar er Ähnlichkeit zweier Dinge auf t o t a l e , nach dem Princip der Spec i f i c a t i o n : Dinge von einer Gattung, von denen man vieles Ubereinstimmende kennt stimmen auch in dem Übrigen überein, was wir in einigen dieser Gattung kennen, an andern aber nicht wahrnehmen. Die Induction erweitert das empirisch Gegebene vom Besondern aufs Allgemeine in Ansehung vieler G e g e n s t ä n d e , die Analogie dagegen die g e g e b e n e n E i g e n s c h a f t e n eines Dinges auf mehrere eben d e s s e l b e n D i n g e s — Eines in V i e l e n , also in Allen: I n d u c t i o n , Vieles in E i n e m (was auch in Andern ist), also auch das Übrige in demselben: A n a l o g i e . " Dieser Paragraph 84, in dem Kant Induktion und Analogie als die beiden logischen Präsumtionen der reflektierenden Urteilskraft behandelt, scheint mir interessant zu sein im Hinblick sowohl auf die Unterscheidung der Prinzipien der Klassifikation und der Spezifikation, von der im V. Kapitel der ersten Einleitung die Rede ist, als auch auf die ihr offenbar entsprechende, im Zentrum des ganzen ersten Stückes des Anhangs zur transzendentalen Dialektik stehende Unterscheidung der beiden Prinzipien der Homogenität (Aggregation) und der Spezifikation (Varietät), aus deren Vereinigung das Prinzip der Kontinuität (Affinität) entspringt. 27 Die Affinität wird unter dem geläufigen Namen der Zweckmäßigkeit (forma finalis) als transzendentales Prinzip der Urteilskraft vorgestellt werden. 28 ) Vergleicht man nun die in der „Kritik der Urteilskraft" und in der „Logik" gegebenen Bestimmungen der reflektierenden Urteilskraft mit der von Kant 26 27
28
Kants Schriften. Werke IX, § 84, 132/3. Vgl. dazu Kants Schriften. Werke IX, Logik, § 83, 132, der von dem den Schlüssen der Urteilskraft zugrundeliegenden Prinzip handelt. Vgl. aber auch das IV. Kapitel der ersten Einleitung, in dem noch expressis verbis vom Prinzip der Affinität die Rede ist.
8
Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
bereits in der „Kritik der reinen Vernunft" (im sechsten Absatz des ersten Stückes des Anhangs zur transzendentalen Dialektik) gegebenen Bestimmung des hypothetischen Gebrauchs der Vernunft, 2 9 so scheint mir allein der Vergleich dieser Textstellen berechtigten Anlaß zu der Vermutung zu geben, daß das, was man den reflektierenden Gebrauch der Urteilskraft nennen könnte, dem regulativen Gebrauch der Vernunft entspricht. 3 0 Absatz 6 lautet: „Wenn die Vernunft ein Vermögen ist, das Besondere aus dem Allgemeinen abzuleiten, so ist entweder das Allgemeine schon an s i c h g e w i ß und gegeben und alsdann erfordert es nur U r t e i l s k r a f t zur Subsumtion, und das Besondere wird dadurch notwendig bestimmt. Dieses will ich den apodiktischen Gebrauch der Vernunft nennen. Oder das Allgemeine wird nur p r o b l e m a t i s c h angenommen, und ist eine bloße Idee, das Besondere ist gewiß, aber die Allgemeinheit der Regel zu dieser Folge ist noch ein Problem; so werden mehrere besondere Fälle, die insgesamt gewiß sind, an der Regel versucht, ob sie daraus fließen, und in diesem Falle, wenn es den Anschein hat, daß alle anzugebenden besonderen Fälle 29
30
Zum Begriff der Hypothese vgl. die von Kant in Abschn. X der Einleitung in die Logik (Kants Schriften. Werke IX, 84—86) gegebene Erläuterung des Begriffs der Hypothese als des Fürwahrhaltens einer Voraussetzung als Grundes, in der deutlich wird, daß die Gewißheit einer Hypothese eine Gewißheit durch Induktion ist. In meiner Dissertation „Metakritik der ästhetischen Urteilskraft", Frankfurt 1970, habe ich im ersten Teil „ D a s Prinzip der transzendentalen Zweckmäßigkeit und der regulative Gebrauch der Ideen der reinen Vernunft" (24—48) durch eine vergleichende Textinterpretation zu verdeutlichen versucht, daß der regulative, hypothetische Gebrauch der Vernunft, dem Verfahren bzw. der Funktion der reflektierenden Urteilskraft entspricht. Ich kann mich deshalb hier auf die Ergebnisse dieses Teils der Arbeit beziehen. Auf die Entsprechung von hypothetisch gebrauchter Vernunft und reflektierender Urteilskraft hat, soweit ich sehe, zuerst A. Stadler (Kants Teleologie und ihre erkenntnistheoretische Bedeutung, Berlin 1874, vgl. insbes. 36ff.) aufmerksam gemacht. Vgl. auch die Arbeit von M. Liedtke, Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft, Diss., Hamburg 1964, vgl. insbes. 109ff. und neuerdings die Dissertation von H . Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung in Kants Kritik der Urteilskraft, München 1975, 33—46 (insbes. 36/7), die ferner auf die Arbeit von M. Souriau, Le jugement reflechissant dans la Philosophie critique de Kant, Paris 1926, hinweist. F. P. van de Pitte, der in seinem Aufsatz: Is Kant's Distinction Between Reflective and Determinant Judgement Valid?, in: Akten des 4. Internationalen KantKongresses, Mainz 6. —10. April 1974, Teil II, 1, 445—451, zu dem bemerkenswerten Ergebnis kommt, „that „reflective" judgement plays an essential role in the sub-system to which determinant judgement belongs — and from which the reflective-determinant distinction would exclude it." (450), verweist auf das erste Kapitel der Arbeit von M. Souriau, wenn er die Auffassung vertritt: „The regulative ideas of reason in the Dialectic have precisely the same function and precisely the same validity that is later assigned to reflective judgement . . . . " ( A . a . O . , 446, vgl. auch a . a . O . , 451, Anm. 5: „ I f one is disturbed by the tendency to identify these two faculties, it should at least be acknowledged that, in their reflective employment, their f u n c t i o n is the same.")
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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daraus abfolgen, wird auf die Allgemeinheit der Regel, aus dieser aber nachher auf alle Fälle, die auch an sich nicht gegeben sind, geschlossen. Diesen will ich den hypothetischen Gebrauch der Vernunft nennen." 3 1 Im folgenden soll von der Hypothese der Entsprechung der regulativen Vernunft und der reflektierenden Urteilskraft (überhaupt) ausgegangen werden. Zu einer Schwierigkeit wenigstens, die sich bereits beim Vergleich des ersten Stückes des Anhangs zur transzendentalen Dialektik mit den Kapiteln IV und V der zweiten Einleitung in die „Kritik der Urteilskraft" zu ergeben scheint, möchte ich hier eine Bemerkung machen. In den Absätzen 9 ff. 3 2 des Anhangs zur transzendentalen Dialektik geht es Kant darum, zu begründen, daß die systematische oder zweckmäßige Vernunfteinheit nicht bloß ein l o g i s c h e s Prinzip, sondern ein t r a n s z e n d e n t a l e s Prinzip der Vernunft ist. Entsprechend geht es in Kapitel V der Einleitung 33 um die Rechtfertigung des Prinzips der Zweckmäßigkeit als eines transzendentalen Prinzips der Urteilskraft. So wie es nun in der „Kritik der Urteilskraft" darauf ankommt, die Zweckmäßigkeit zwar als ein transzendentales Prinzip, aber nicht als ein Prinzip der bestimmenden, sondern bloß der r e f l e k t i e r e n d e n U r t e i l s k r a f t anzusehen, so kann m . E . kein Zweifel daran sein, daß es dementsprechend in der „Kritik der reinen Vernunft" darauf ankommt, die zweckmäßige Vernunfteinheit zwar als ein transzendentales Prinzip, aber nicht als ein Prinzip der apodiktisch konstitutiv gebrauchten Vernunft, sondern nur der r e g u l a t i v g e b r a u c h t e n V e r n u n f t anzusehen. 34 Scheint auch die von Kant z.B. im Absatz 12 des Anhangs verwendete Ausdrucksweise zunächst Anlaß zu Zweifeln zu geben, so läßt sich m . E . dieser Absatz im Hinblick auf die Ausführungen in der „Kritik der Urteilskraft" besser verstehen, als er sich vielleicht allein im Kontext des Anhangs selbst versteht. Mir scheint, daß es hier — wie an der entsprechenden Stelle der „Kritik der Urteilskraft" — darum geht, zu zeigen, daß ein l o g i s c h e s Prinzip, wie z.B. das der Ersparung der Prinzipien als bloße Schulregel der D e n k ökonomie, als bloße Sentenz der metaphysischen Weisheit, notwendig ein 31
K.r.V., A 646/7 /В 674/5 (607/8). Vgl. dazu Heimsoeths Interpretation der Absätze 6—12 (H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 564—575). Als Beispiele für das Fortschreiten zur empirischen, komparativen Allgemeinheit im problematischen Vernunftgebrauch nimmt Heimsoeth Galileis Suche nach dem Fall-,,Gesetz" und Keplers induktives Aufsuchen der drei Planetengesetze. ( A . a . O . , 566, Anm. 232).
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K.r.V., А 648/ В 676 (609) ff. K . U . , X X I X (17) ff. Vgl. K.r.V., Absatz 29, А 664/ В 692 (621).
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
t r a n s z e n d e n t a l e s , empirische E r k e n n t n i s ermöglichendes Prinzip voraussetzt. 35 Ein solches transzendentales Prinzip der Zweckmäßigkeit, d.h. der „Vernunftmäßigkeit" 36 kann die reflektierende Urteilskraft bzw. die regulativ gebrauchte Vernunft weder von der Erfahrung entnehmen (entlehnen), bzw. aus der Natur schöpfen, noch der Natur vorschreiben, sondern nur sich selbst für die Reflexion über die Natur als Gesetz geben. So ist es zu verstehen, daß die Vernunft im Hinblick auf die systematische Einheit nicht bettelt, sondern gebietet - und zwar sich selbst — jedoch, ohne die Grenzen dieser Einheit bestimmen zu können. 37 Die regulativ gebrauchte Vernunft verfolgt ihr Interesse der zweckmäßigen Anstellung des Verstandes, indem sie — ohne etwas zu bestimmen — den Weg zur systematischen Einheit vorzeichnet. 38 W. Bartuschat hat in seinem Buch „Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft" 39 in Abrede gestellt, „daß im Anhang zur transzendentalen Dialektik die reflektierende Urteilskraft in der ihr spezifischen Struktur, auf das Besondere als solches zu gehen, thematisiert wäre" 4 0 — Bartuschat kommt auf den Seiten 49—53 seines Buches nur kurz auf den Anhang selbst zu sprechen — und die Behauptung aufgestellt, daß die reflektierende Urteilskraft in ihrer Möglichkeit noch nicht einmal als Problem gesehen sei. Der regulativ gebrauchten Vernunft gehe es um „die Einheit der besonderen Erkenntnis, nicht jedoch um eine einheitliche Erkenntnis des Besonderen" 4 1 , nicht um die Bestimmung des Besonderen als Besonderen, was die Aufgabe der reflektici enden Urteilskraft sei. — M . E . ist es dagegen genaugenommen so, daß es nicht die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft sein kann, „ das Besondere als solches zu bestimmen". 42 Die reflektierende Urteilskraft reflektiert über die Mannigfaltigkeit des Besonderen, indem sie diese zwar nicht durch die Subsumtion unter allgemeine Ge-
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Vgl. а. а. О . , A 650/ В 678 (610) ff., insbes. Absatz 12 und Absatz 15f. mit K . U . , X X X I (18/9). K.r.V., А 624/ В 652 (591), vgl. А 661/ В 689 (619). Vgl. a . a . O . , А 645/ В 674 (607) und А 653/ В 681 (613) und K . U . , XXVII (16) und X X X V I I (22). Vgl. K.r.V., А 665/ В 693 (622) sowie das Ende des ersten Teils des Anhangs, А 668/ В 696 (624). W. Bartuschat, Zum systematischen Ort von Kants Kritik der Urteilskraft, Frankfurt 1972. А. а. O . , 52, vgl. 39ff.: Transzendentale Urteilskraft und regulativer Gebrauch der Vernunft in der transzendentalen Dialektik. A . a . O . , 51. A . a . O . , 51 und 52.
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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setze durch unseren (diskursiven) Verstand bestimmt — und es insofern bei ihrer Besonderheit beläßt - indem sie dennoch aber unter der Voraussetzung eines (intuitiven) Verstandes so reflektiert, als ob ein solcher Verstand der Grund der (objektiven) Zweckmäßigkeit für die Vereinigung der Mannigfaltigkeit des Besonderen in einem bestimmten Begriff, d. h. in einer allgemeinen Vorstellung wäre (im teleologisch reflektierenden Urteil) bzw. als ob ein solcher Verstand der Grund der (subjektiven) Zweckmäßigkeit für die Zusammenstimmung der Mannigfaltikeit des Besonderen zu einem unbestimmten Begriff wäre (im ästhetisch reflektierenden Urteil). Das Besondere ergibt sich als Besonderes (nicht als Einzelnes), insofern als es bereits eine Beziehung auf ein Allgemeines hat. Was die ästhetische Reflexion angeht, so ist bei Kant bereits deutlich gesehen, daß schön nicht einfach das ist, was ohne Begriff (d.h. ohne abstrakten Allgemeinbegriff) gefällt, sondern dasjenige, was zugleich durch seine Begriffsmäßigkeit (seine Angemessenheit für den Begriff) gefällt. Das Besondere erscheint als Besonderes in seiner Schönheit nicht ungebrochen, sondern vermittels seiner Affinität zum Allgemeinen. Gerade dann aber, wenn man streng daran festhalten will, daß es in der reflektiernden Urteilskraft um die einheitliche Erkenntnis des Besonderen (als solchen) geht — wobei es mir allerdings schon insofern unglücklich zu sein scheint, in diesem Zusammenhang von Erkenntnis zu sprechen als ästhetisch reflektierende Urteile im Unterschied zu teleologisch reflektierenden Urteilen bekanntlich keine Erkenntnisurteile sind 43 — scheint es mir bei genauem Zusehen nicht möglich zu sein, diese durch die Präsumtion eines Vernunftbegriffs zustandekommende Erkenntnis, die im Vergleich zu der durch die Subsumtion unter Verstandesbegriffe zustandekommenden Erkenntnis als besondere Erkenntnis bezeichnet werden muß, von der besonderen Erkenntnis zu unterscheiden, um deren Vereinheitlichung es beim hypothetischen Gebrauch der Vernunft durch den Bezug auf deren systematische, zweckmäßige Einheit geht. Es sei noch betont, daß hier nicht die vollständige Identität der regulativ gebrauchten Vernunft und der reflektierenden Urteilskraft überhaupt behauptet werden soll, wohl aber die Entsprechung ihrer Funktionen. (Insofern, als die teleologische Urteilskraft im Unterschied zur ästhetischen kein besonderes Vermögen, sondern nur die reflektierende Urteils43
Bei dem freien Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand kommt es nach Kant nur zu einer Erkenntnis überhaupt und auch die Kenntnis durch teleologische Reflexion ist keine Erkenntnis im Sinne logischer Bestimmung. Zur Unterscheidung des logischen Urteils vom teleologischen und ästhetischen vgl. weiter unten.
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
kraft überhaupt ist, 44 zeigt sich die Entsprechung von reflektierender Urteilskraft und hypothetisch gebrauchter Vernunft am deutlichsten in der Entsprechung von teleologisch reflektierender Urteilskraft und hypothetisch gebrauchter Vernunft. 4 5 Die detaillierte Interpretation, insbesondere des Anhangs zur transzendentalen Dialektik und der beiden Einleitungen in die „Kritik der Urteilskraft", macht m . E . klar, daß Kant bei der Erörterung des regulativen Gebrauchs der Vernunftidee in der „Kritik der reinen Vernunft" zumindest im „Umriß" 4 6 das im Blick hatte, was er in der „Kritik der Urteilskraft" dann ausführlich dargestellt hat. Der Schluß, zu dem bereits A. Stadler kam, hat nach wie vor seine Gültigkeit: „Wenn daher gefragt wird, was denn eigentlich der reflectirenden Urtheilskraft in der Kritik entspreche, so kann darauf eine vollkommen präcise Antwort gegeben werden, nämlich: die Vernunft in ihrem hypothetischen Gebrauche." 4 7 H . Mertens ist in ihrem Kommentar zur ersten Einleitung in Kants „Kritik der Urteilskraft" auf die Vernunftideen als regulative Prinzipien des systematischen Verstandesgebrauchs eingegangen 48 und hat in diesem Zusammenhang auch zu W. Bartuschats These Stellung genommen, daß Kant im Anhang zur transzendentalen Dialektik die reflektierende Urteilskraft nicht im Blick gehabt habe. Aufgrund ihrer Interpretation der ersten Einleitung hält sie Bartuschats Behauptung, die reflektierende Urteilskraft habe das Besondere als solches zu bestimmen, für unzutreffend und hebt demgegenüber hervor, daß regulativer Vernunftgebrauch und logische Reflexion der Urteilskraft faktisch in vielen Punkten übereinstimmen. Andererseits hält sie freilich daran fest, daß sich die regulativ gebrauchte Vernunft nur in mittelbarer Weise über den Verstand auf die Mannigfaltigkeit des sinnlich Gegebenen bezieht, während sich die reflektierende Urteilskraft dagegen direkt auf das konkret Gegebene richte. 49 Insofern hierbei vor allem an die ästhetische Reflexion der Urteilskraft gedacht sein könnte, bleibt an dieser Stelle zunächst nur daran zu erinnern, 44 45
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Vgl. K.U., LH. Vgl. insbes. die Absätze 17ff. des zweiten Stückes des Anhangs zur transzendentalen Dialektik, K.r.V., A 686/ В 714 (637) ff. Vgl. K.r.V., Β XXII/III (23) und А 13/ В 27 (57). Α. Stadler, Kants Teleologie und ihre erkenntnistheorefische Bedeutung, 43. Vgl. auch R. Kroners „Kritische Betrachtung" der Kritik der Urteilskraft, „Von Kant bis Hegel", Tübingen 1921, 1. Bd. 238—256, wo Kroner in der reflektierenden Urteilskraft die kritisierende Vernunft erkennt. Vgl. H . Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung in Kants Kritik der Urteilskraft, a . a . O . , 33ff. Vgl. a . a . O . , 36/7.
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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daß im formalen ästhetischen Reflexionsurteil über das Schöne — im Unterschied zum materialen ästhetischen Sinnesurteil über das Angenehme, das sich unmittelbar durch den Sinn aufs Gefühl der Lust bezieht - der Verstand im Spiele ist, daß es in der ästhetischen Reflexion — mit gewissem Recht könnte hier wohl auch von ästhetischer Überlegung gesprochen werden 5 0 — nicht um eine Empfindung geht, die von der empirischen Anschauung des Gegenstandes unmittelbar hervorgebracht wird. 5 1 Im Anschluß an die von ihr 52 in diesem Zusammenhang zitierte Textstelle aus dem § 35 der „Kritik der Urteilskraft" sagt Kant, daß der Geschmack ein Prinzip der Subsumtion enthalte, „aber nicht der Anschauungen unter B e g r i f f e , sondern des V e r m ö g e n s der Anschauungen oder Darstellungen (d.i. der Einbildungskraft) unter das V e r m ö g e n der Begriffe (d.i. den Verstand), sofern das erstere in s e i n e r F r e i h e i t zum letzteren in s e i n e r G e s e t z m ä ß i g k e i t zusammenstimmt. 53 In ihrer Reflexion über die formale ästhetische Zweckmäßigkeit, die eine Zweckmäßigkeit ohne Zweck, d.h. eine bloße Angemessenheit (Affinität) des Mannigfaltigen zu seiner (ästhetischen) Zusammenfassung (Komprehension) in eine Anschauung als (ästhetisches) Maß ist, hält die Urteilskraft Einbildungskraft und Verstand zusammen und urteilt in Anbetracht des harmonischen Verhältnisses beider so, als ob Anschauung und Begriff kontinuierlich ineinander übergingen, (obgleich doch — nach Kant — beide toto coelo verschieden sein müssen.). Insbesondere aber dann, wenn man — an diesem Punkt freilich über Kant hinausgehend - die Auffassung vertritt, daß die bestimmende Urteilskraft als in der reflektierenden Urteilskraft aufgehobene betrachtet werden kann 5 4 wird man sich schwer tun mit der Distinktion zwischen regulativer, sich nur in mittelbarer Weise über den Verstand auf das Sinnliche beziehender Vernunft und der reflektierenden Urteilskraft, die ihr Prinzip der Zweckmäßigkeit ohne Vermittlung durch den Verstand direkt an der Fülle des Konkreten erprobe. 5 5 50 51
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Vgl. Erste Einleitung in die „Kritik der Urteilskraft", 17 und ferner K.r.V., В 316 (309). Zu der von Kant in Kap. VIII der ersten Einleitung in die K . U . gemachten Unterscheidung des ästhetischen Reflexionsurteils vom ästhetischen Sinnesurteil vgl. auch den Kommentar von Mertens selbst, a . a . O . , 128ff. Vgl. H . Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung in Kants Kritik der Urteilskraft, Anm. 10, 129/30. K . U . , 146 (137). Zu der Frage, inwieweit die Bestimmung einer Sache als Fall einer Regel, das Setzen unter Verstandesgesetze als Moment der Reflexion über die Gesetzmäßigkeit des Zufälligen dieser Sache, der Reflexion im Spiegel einer Vernunftvoraussetzung angesehen werden kann vgl. weiter unten. Vgl. H . Mertens, Kommentar zur Ersten Einleitung in Kants Kritik der Urteilskraft, 37.
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Die Entsprechung der als bestimmende erschlichenen reflektierenden Urteilskraft und der konstitutiven (spekulativen) Vernunft Der Grundsatz der Affinität (Kontinuität) bzw. der Zweckmäßigkeit als Grundsatz der regulativen Vernunft bzw. der reflektierenden Urteilskraft Geht man nun trotz der erwähnten Bedenken wie gesagt von der Hypothese der Entsprechung der regulativen Vernunft und der reflektierenden Urteilskraft aus, um sie auf ihre ,Erklärungsmächtigkeit' hin zu überprüfen, so käme die Erschleichung der verständigen regulativen Vernunft als unverständiger spekulativer Vernunft dann dadurch zustande, daß die reflektierende Urteilskraft als bestimmende Urteilskraft auftritt. Der spekulativen Vernunft entspräche die fälschlicherweise als bestimmende Urteilskraft gebrauchte reflektierende Urteilskraft. Insofern es in der Kritik der Vernunft um die Aufdeckung des Scheins zu tun ist, der Schein aber allein im Urteil anzutreffen ist, richtet sich die Kritik gegen die Verwechslung der zwei Urteilskräfte — oder, im Hinblick auf die Betrachtung des Zusammenspiels beider „Kräfte" besser gesagt gegen die Verwechslung im Gebrauch der Urteilskraft. Kritik der Vernunft ist am Ende Kritik der Urteilskraft. Die Aufgabe der bestimmenden Urteilskraft, die auch als subsumierende bezeichnet werden kann, ist es, das Mannigfaltige der gegebenen Anschauung unter einen Verstandesbegriff zu setzen, die Aufgabe der reflektierenden Urteilskraft, die auch als präsumierende bezeichnet werden kann, ist es dagegen, unter der Voraussetzung eines Vernunftbegriffs über die Zusammenstimmung der in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigkeit zu einem (bestimmten bzw. unbestimmten) Begriff zu reflektieren. Der bestimmenden Urteilskraft ist ihr Prinzip a priori vom Verstand vorgesetzt, unter das sie zu subsumieren hat. Die reflektierende Urteilskraft bedarf auch eines Prinzips als Leitfaden für die Reflexion. 56 Dieses Prinzip der reflektierenden Urteilskraft ist die transzendentale Zweckmäßigkeit, deren relative Supposition es uns ermöglicht, das in Anbetracht der allgemeinen Gesetze des Verstandes als zufällig zu Beurteilende als gesetzmäßig, d.h. als vernunftmäßig zu betrachten. 57 Der problematische Begriff (die Idee) der Zweckmäßigkeit als transzendentales Prinzip der reflektierenden Urteils56 57
Vgl. K . U . , X X V I ff. (15ff.). Zur Zweckmäßigkeit als der Gesetzmäßigkeit des Zufälligen vgl. K . U . , 344 (270) und Erste Einleitung in die K . U . , 24.
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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kraft ist das regulative Prinzip — d.h. der heuristische Grundsatz — der Vernunft in ihrem legitimen hypothetischen Gebrauch. Die Hypothese einer Zweckmäßigkeit der Natur als Maxime der reflektierenden Urteilskraft ist die Maxime der Vernunft in ihrem hypothetischen Gebrauch. Der Begriff der Zweckmäßigkeit als Prinzip der reflektierenden Urteilskraft ist also ein heuristischer (nicht ostensiver) Begriff der Vernunft, der ihr beim hypothetischen (nicht apodiktischen) Gebrauch als regulatives (nicht konstitutives) Prinzip dient. 58 Durch dieses apriorische Prinzip schreibt die reflektierende Urteilskraft nicht der Natur, sondern sich selbst ein Gesetz vor, das Kant in der zweiten Einleitung in die „Kritik der Urteilskraft" auch das Gesetz der Spezifikation nennt. 59 (In der ersten Einleitung stellt er zunächst der Spezifikation die Klassifikation an die Seite.) In der „Kritik der reinen Vernunft" sagt Kant, daß die Vernunft in ihrem regulativen Gebrauch dem Verstand sein Feld bereite durch ein Prinzip der Homogenität, auf Grund dessen wir zu höheren Gattungen aufsteigen, ein Prinzip der Spezifikation, auf Grund dessen wir zu niederen Arten herabsteigen, und ein Gesetz der Affinität und Kontinuität, das aus der Vereinigung der beiden ersten entspringt, und die systematische oder zweckmäßige Einheit vollendet, die durch die Hypothese einer Zweckmäßigkeit der Natur in die Erfahrung gebracht wird. 60 Der Grundsatz der Spezifikation oder Varietät 58
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Vgl. K.U., LVI/VII (35). Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft zeichnet sich auch dadurch als besonderes Vermögen aus, daß ihr Prinzip der ästhetischen Zweckmäßigkeit in Anbetracht des Gefühls der Lust oder Unlust als konstitutives Prinzip zu betrachten ist. Vgl. K.U., XXXVII (22) und K.r.V., A 656/ В 684ff. (615ff.). Vgl. K.r.V., А 657/8 /В 685/6ff. (615ff.). Es spricht m.E. einiges dafür, daß die transzendentale Zweckmäßigkeit, die in der „Kritik der reinen Vernunft" wohl vom ersten Satz an im Spiel ist (vgl. K.r.V., А 19/ В 36 (63)), nicht nur unter dem Namen der transzendentalen Kontinuität (lex continui in natura) als Voraussetzung des logischen Gesetzes des continui specierum (formarum logicarum) (vgl. a . a . O . , А 660/ В 688 (618)) zur systematischen Einheit der Vernunft geleitet, sondern auch unter dem Namen der transzendentalen A f f i n i t ä t (aus der die empirische bloß folgt) in der synthetischen Einheit des Verstandes anzutreffen ist. (Vgl. а. а. О . , А 114 (166a) und А 122 (179a)). (Übrigens spielt die in Ausgabe В nicht expressis verbis erwähnte Affinität (Zweckmäßigkeit) m.E. dort eine mindestens ebenso große Rolle wie in Ausgabe A. Sie ist in dem Wörtchen „gemäß" (vgl. K.r.V., В 150ff. (164b ff.) versteckt)). Der Frage, inwiefern nicht nur die Vernunft - in ihrem kritischen regulativen Gebrauch — an den Verstand g e b u n d e n bleibt, sondern inwiefern auch umgekehrt der Verstand bei seinen Handlungen so notwendig die Vernunft als Regulativ braucht, daß ohne Vernunftregulation gar keine Verstandeskonstitution stattfände, daß ohne den Leitfaden, den ihr die Vernunft an die Hand gibt, überhaupt gar keine V e r b i n d u n g eines Mannigfaltigen möglich wäre, soll durch die Untersuchung des Verhältnisses von reflektierender und bestimnmender Urteilskraft nachgegangen werden. Vgl. auch Log. II, 407, wo Hegel bezugnehmend auf Kant sagt: „ D i e Vernunftbegriffe sollen zum B e g r e i f e n , die Verstandesbegriffe zum V e r s t e h e n der Wahrnehmungen dienen. — In
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
(das Prinzip der Arten), der Verschiedenheit postuliert, schränkt den Grundsatz der Homogenität (das Prinzip der Gattungen), der Identität postuliert, ein, so daß die Vernunft ein doppeltes einander widerstreitendes Interesse zeigt: „Einerseits das Interesse des U m f a n g e s (der Allgemeinheit) in Ansehung der Gattungen, andererseits des I n h a l t s (der Bestimmtheit), in Absicht auf die Mannigfaltigkeit der Arten, weil der. Verstand im ersteren Falle zwar viel u n t e r seinen Begriffen, im zweiten aber desto mehr in d e n s e l b e n denkt." 6 1 Im Grundsatz der Kontinuität oder Affinität, d . h . der Zweckmäßigkeit oder Vernunftmäßigkeit ist das Interesse des I n h a l t s (der Bestimmtheit und B e s o n d e r h e i t ) , das Interesse der U n t e r s c h e i d u n g (Differenzierung) im Herabsteigen zu niederen Arten mit dem Interesse des U m f a n g s (der A l l g e m e i n h e i t ) , dem Interesse der V e r e i n h e i t l i c h u n g (Integrierung) im Aufsteigen zu höheren Gattungen vereinigt und ein systematischer (kontinuierlicher) Zusammenhang hergestellt. Im Hinblick auf die späteren Ausführungen bleibt festzuhalten, daß der die einander widerstreitenden Interessen des Umfangs und des Inhalts der Begriffe in sich vereinigende Grundsatz der Affinität ein Grundsatz der hypothetisch gebrauchten Vernunft bzw. der reflektierenden, von der Idee eines Maximums der Abteilung und Vereinigung nur legitimen, vernünftigen Gebrauch machenden Urteilskraft ist. 62 Die transzendentale Zweckmäßigkeit zeichnet als transzendentale Kontinuität der Erfahrung den Weg zur systematischen Einheit vor. N u r anhand des Leitfadens der transzendentalen Zweckmäßigkeit ist es uns möglich, die kontinuierliche Stufenleiter der Begriffspyramide nicht nur hinauf (vom Besonderen zum Allgemeinen), sondern auch hinab (vom Allgemeinen zum Besonderen) zu steigen, während die Sprossen dieser Leiter für uns viel zu weit auseinanderständen, wenn wir allein auf die Angabe dieser Sprossen durch die Erfahrung angewiesen wären. 6 3 Die reflektierende Urteilskraft bzw. die regulative Vernunft reflektiert also, indem sie das Prinzip der Zweckmäßigkeit zum hypothetischen Gebrauch
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der Tat aber, wenn die letztern wirklich B e g r i f f e sind, so s i n d s i e B e g r i f f e , — es wird durch sie begriffen, und ein V e r s t e h e n der Wahrnehmungen durch Verstandesbegriffe wird ein B e g r e i f e n sein." Vgl. dazu Kants Schriften. Werke IX, Logik, Einleitung, VIII (65) w o Kant das Verstehen (intellegere) als ein Erkennen durch den Verstand vom Begreifen (comprehendere) als einem Erkennen durch die Vernunft unterscheidet. K.r.V., A 654/5 /В 682/3 (614). Zu den Absätzen 16ff. des Anhangs (A 654/ В 682 ff. (613ff.)) vgl. die §§ 7ff. der „Logik", ferner das Kapitel 11,2 dieser Arbeit, w o an zentraler Stelle wiederum v o m Umfang und vom Inhalt der Begriffe die Rede sein wird. Vgl. K.r.V., А 668/ В 696 (624).
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präsumiert und zwar das Prinzip der Homogenität, um vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigen und das Prinzip der Spezifikation, um vom Allgemeinen zum Besonderen herabsteigen zu können. In der „Kritik der Urteilskraft" kommt die transzendentale Zweckmäßigkeit in Form des transzendentalen Gesetzes der Spezifikation der reflektierenden Urteilskraft in ihrer Suche nach dem Allgemeinen e n t g e g e n . Dieses transzendentale Gesetz der Spezifikation lernt die Urteilskraft nicht von der Natur durch Beobachtung, noch schreibt sie es der Natur vor (sonst wäre sie bestimmend), sondern das Gesetz der Spezifikation schreibt die Urteilskraft sich selbst vor, um über die H o m o g e n i t ä t der N a t u r reflektieren zu können. Dieses Gesetz besagt, daß wir über die Natur so reflektieren können, als ob sie ihre allgemeinen Gesetze nach dem Prinzip der Zweckmäßigkeit für unser Erkenntnisvermögen spezifiziere, damit wir zum Besonderen das Allgemeine finden können. 6 4 Das Gesetz der Spezifikation ist ein Gesetz nicht in Ansehung der „Natur überhaupt" und ihrer allgemeinen Gesetze, sondern in Ansehung der „spezifisch-verschiedene(n) Naturen" und ihrer empirischen besonderen Gesetze. 65
Natura formaliter spectata und natura materialiter spectata Verstandesbestimmung und Vernunftreflexion Die Natur, bloß als Natur überhaupt betrachtet (als natura formaliter spectata) hängt von den Kategorien als dem ursprünglichen Grund ihrer notwendigen Gesetzmäßigkeit ab. „Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine N a t u r ü b e r h a u p t , als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu, durch bloße Kategorien den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon n i c h t v o l l s t ä n d i g a b g e l e i t e t werden, ob sie gleich alle insgesamt unter jenen stehen." 6 6 64 65
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Vgl. K . U . , X X X V I I (22/3). In seinem Kommentar des fünften Absatzes des ersten Stückes des Anhangs zur transzendentalen Dialektik interpretiert Heimsoeth unter Hinweis auf die K . r . V . , В 165/6 die besonderen Gesetze im Unterschied zu den allgemeinen Gesetzen, ohne die N a t u r überhaupt nicht gedacht werden kann, als Gesetze der N a t u r materialiter spectata. Vgl. H . Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, a . a . O . , 557. K . r . V . , В 165 (185b).
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
(Unter Natur formaliter („adiective") genommen ist nach Kant die natürliche Gesetzmäßigkeit der Naturdinge überhaupt, die ,Natur' der Dinge zu verstehen, unter Natur materialiter („substantive") genommen dagegen die Dinge der Natur, das Ganze der besonderen Naturwesen. 6 7 Natur in formeller Bedeutung als Inbegriff der Regeln, unter denen alle Erscheinungen stehen müssen, wenn sie in „einer Erfahrung" als verknüpft gedacht werden sollen, ist möglich vermittels der Beschaffenheit unseres Verstandes, Natur in materialer Bedeutung, als Inbegriff der Erscheinungen, ist möglich vermittels der Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit. 68 ) In der zweiten Einleitung in die „Kritik der Urteilskraft" sagt Kant, daß es, gleichsam als Modifikationen der allgemeinen transzendentalen Naturbegriffe, so mannigfaltige Formen der Natur gebe, die durch die vom reinen Verstand a priori gegebenen Gesetze „unbestimmt gelassen werden", weil es in diesen nur um die Möglichkeit einer Natur überhaupt geht, daß es für jene Naturformen doch auch Gesetze geben müsse, die als empirische nach unserer Verstandeseinsicht zwar zufällig sein mögen, als Gesetze aber dennoch aus einem Prinzip der Einheit des Mannigfaltigen als notwendig angesehen werden müssen. Während die allgemeinen Naturgesetze ihren Grund in unserem Verstand haben, sind die besonderen empirischen Gesetze „in Ansehnung dessen, was in ihnen durch jene unbestimmt gelassen ist" diesem Prinzip gemäß nach einer solchen Einheit zu betrachten, als ob ein Verstand (obgleich nicht der unsrige) sie für unser Erkenntnisvermögen gegeben hätte, um ein System der Erfahrung nach besonderen Naturgesetzen möglich zu machen. 69 Die „spezifisch-verschiedenen Naturen" sind außer der formalen Zeitbedingung als der Bedingung der Subsumtion unter dem Allgemeinen, „außer dem, was sie als zur Natur überhaupt gehörig gemein haben", noch durch eine Mannigfaltigkeit besonderer Gesetze bestimmbar. 70 Durch die allgemeinen Naturgesetze findet zwar ein durchgängiger Zusammenhang unter den Dingen als Naturdingen überhaupt, aber nicht spezifisch, als besonderen Naturwesen statt, so daß die reflektierende Urteilskraft in Anbetracht der Form der Dinge der Natur unter empirischen Gesetzen genötigt ist, von der Idee der Zweckmäßigkeit der Natur in ihrer Mannigfaltigkeit als dem transzendentalen Prinzip der Gesetzmäßigkeit bzw. Notwendigkeit des Zufälligen auszugehen. 71 Betrachtet 67 68 69 70 71
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
a . a . O . , В 446 Anm. (447). Prolegomena, § 36, 318 (77/8). K . U . , XXVI/VII (16/7). a . a . O . , XXXI (20). K.U., XXXIII (20).
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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man nun im Unterschied zu den allgemeinen Gesetzen der Natur formaliter spectata, unter die die bestimmende Urteilskraft subsumiert, die empirischen besonderen Gesetze, denen die reflektierende Urteilskraft — unter der apriorischen Voraussetzung der transzendentalen Affinität dieser Gesetze — nachgeht, als Gesetze der Natur materialiter spectata, so scheint sich zu bestätigen, daß nach Kant die formale Betrachtung der Natur der materialen (logisch) vorhergeht, d. h., daß es in der Bestimmung um die allgemeinen Gesetze der Natur geht, „ohne welche sie gar kein Gegenstand einer Erfahrung sein könnte" 72 , (also z.B. auch keiner ästhetischen), während es in der Reflexion in Ergänzung dazu um das in dieser Bestimmung unbestimmt Gelassene, außerdem noch Bestimmbare geht. Bedeutete dies nicht auch — um das Beispiel der ästhetischen Erfahrung aufzunehmen — von der logischen Bestimmung als Voraussetzung der ästhetischen Reflexion auszugehen, obgleich in der ästhetischen Reflexion über eine unter keinem bestimmten Begriff stehende vage Schönheit, im Unterschied zur logischen Bestimmung durch die Subsumtion unter einen reinen Verstandesbegriff mittels der Zeitbedingung, die Zeitbedingung als aufgehoben anzusehen sein wird? 73 Widerspräche ein Ausgehen von der Priorität der bestimmenden Urteilskraft gegenüber der reflektierenden bzw. der logischen Bestimmung gegenüber der ästhetischen Reflexion nicht bereits der Einsicht, daß die transzendentale Zweckmäßigkeit der Form der Dinge der Natur unter empirischen Gesetzen ein apriorisches Prinzip ist, und daß über die ästhetische transzendentale Zweckmäßigkeit in Urteilen reflektiert wird, die ästhetische synthetische Urteile a priori sind? 74 Könnte nicht die Deduktion der reinen Geschmacksurteile, in der dargelegt wird, daß die Lust am Schönen notwendig bei jedermann auf denselben Bedingungen beruhen muß, „weil sie subjektive Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt sind, und die Proportion dieser Erkenntnisvermögen, welche zum Geschmack erfordert wird, auch zum gemeinen und gesunden Verstände erforderlich ist" 75 , könnte die Einsicht, daß eine ästhetische Vorstellung die Erkenntnisvermögen erst in die proportionierte Stimmung bringt, „die wir zu allem Erkenntnisse fordern" 76 nicht eher sogar zu der umgekehrten Vermutung Anlaß geben, daß die Re72 73 74 75 76
A . a . O . , XXXV (21). Vgl. weiter unten. Vgl. K.U., §§ 36 und 37, 147-150 (138-140). K.U., § 39, 155 (143), vgl. § 38. A . a . O . , § 9, 31 (58).
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
flexion über die Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt als Voraussetzung der Bestimmung, d.h. der Vereinigung der Erkenntnisvermögen zu einer bestimmten Erkenntnis anzusehen ist? Ist nicht die Reflexion auf den ,Text' der Erscheinungen als Text bzw. die Reflexion auf deren Kontext und deren systematischen Zusammenhang die Voraussetzung für das Buchstabieren der Erscheinungen, um sie als (zusammenhängende) Erfahrung lesen zu können? 7 7 (Ferner bleibt zu bedenken, ob es nur dann möglich ist, den Unterschied von bestimmender und reflektierender Urteilskraft daran festzumachen, daß die bestimmende Urteilskraft nur in Anbetracht des Formalen der Natur überhaupt bestimmend ist, während die reflektierende Urteilskraft nur in Anbetracht des Materialen der Natur reflektiere — und zwar sowohl indem sie bei ihrer Reflexion das Interesse des Umfangs verfolgt und vom Besonderen zum Allgemeinen aufsteigt, als auch indem sie das Interesse des Inhalts verfolgt und vom Allgemeinen zum Besonderen herabsteigt — wenn es wiederum als selbstverständlich angenommen wird, daß die transzendentale logische Reflexion auf das Verhältnis von Form und Materie als eine eigentlich nur zum Zweck der Verstandesbestimmung anzustellende Reflexion von der Reflexion der reflektierenden Urteilskraft bzw. von der Vernunft in ihrem regulativen Gebrauch gänzlich unterschieden ist.) Festzuhalten ist zunächst, daß es genaugenommen nicht so ist, daß die bestimmende Urteilskraft vom Allgemeinen zum Besonderen, die reflektierende Urteilskraft dagegen vom Besonderen zum Allgemeinen geht, 7 8 die bestimmende Urteilskraft das Besondere unter das Allgemeine s e t z t ( s u b s u m i e r t ) , die reflektierende Urteilskraft dagegen zum Besonderen ein Allgemeines v o r a u s s e t z t ( p r ä s u m i e r t ) . Vielmehr zeigt der Vergleich mit der „Kritik der reinen Vernunft", daß die transzendentale Zweckmäßigkeit als transzendentale Kontinuität bzw. transzendentale Affinität die Prinzipien der Homogenität und der Spezifikation in sich vereinigt und sowohl den Weg vom Besonderen zum Allgemeinen, als auch den umgekehrten Weg vom Allgemeinen zum Besonderen vorzeichnet. Die von dem präsumierten Prinzip der transzendentalen Zweckmäßigkeit ausgehende und bei ihrer Reflexion von diesem Prinzip hypothetischen Gebrauch machende Urteilskraft enthält zugleich den Leitfaden für die Bestimmung. Zwar sind bestimmende und reflektierende Urteilskraft kritisch auseinanderzuhalten, um Verwechslungen zu vermeiden. Deshalb dürfen sie jedoch als setzende 77 78
Vgl. dazu weiter unten. Vgl. K . U . , X X V I f. (16) und Kants Schriften. Werke I X , Logik, § 81.
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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und voraussetzende Urteilskräfte ebensowenig als bloß entgegengesetzte und einander ausschließende betrachtet werden wie Verstand und Vernunft. Beide Gedanken sind metakritisch zusammenzuhalten und in ihrer Wechselbeziehung zu betrachten. Es ist zu klären, inwiefern die Bestimmung als in der Reflexion beschlossene bzw. begriffene und ,aufgehobene' betrachtet werden kann. Kann die Verstandesbestimmung als ,Moment' der Vernunftreflexion betrachtet werden? Zur Klärung scheint zunächst eine Untersuchung der Zweckmäßigkeit als transzendentaler Voraussetzung der reflektierenden Urteilskraft — wie der nicht spekulativen Vernunft — angebracht. Zweckmäßigkeit (forma finalis) ist die Kausalität eines Begriffs in Ansehung seines Objekts. 7 9
Das Prinzip der transzendentalen Zweckmäßigkeit als Voraussetzung der Vernunftreflexion Die technische Zweckmäßigkeit 8 0 als transzendentales Prinzip der reflektierenden Urteilskraft muß von dem metaphysischen Prinzip der praktischen (absichtlichen) Zweckmäßigkeit oder Zwecktätigkeit, die in der Bestimmung eines freien Willens gedacht werden muß, 8 1 unterschieden werden. Das transzendentale Prinzip der Zweckmäßigkeit ist ein Prinzip, „durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können". 8 2 An dieser Stelle möchte ich den Begriff der Zweckmäßigkeit etwas weiter differenzieren, insbesondere im Hinblick auf den Begriff der i n n e r e n Z w e c k m ä ß i g k e i t , der in der Philosophie Hegels eine wichtige Rolle spielt. Seiner i n n e r e n F o r m nach als zweckmäßig wird ein Produkt der Natur beurteilt, insofern in ihm alles Zweck und wechselseitig auch Mittel ist, während von äußerer Zweckmäßigkeit gesprochen wird, wenn ein Ding der Natur einem anderen als Mittel zum Zweck dient. 8 3 Diese Bestimmung der inneren Zweckmäßigkeit macht deutlich, inwiefern wir in der Teleologie das Reich der Natur beurteilen können, als ob 79
80
81 82 83
Vgl. K . U . , 32 (58). Zur Unterscheidung des nexus finalis vom nexus effectivus vgl. a . a . O . , §§ 61 und 65 und K . r . V . , A 687/8 / В 715/6 (639). Vgl. dazu L o g . II, 383ff. Vgl. Kants Schriften. Werke X X , 243. (Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 52.) Vgl. K . U . , X X X (18). A . a . O . , X X I X (17). Vgl. a . a . O . , 295/6 (239) und 379 (293).
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
es ein Reich der Zwecke wäre, inwiefern der Begriff der Zweckmäßigkeit den Ubergang von der Sinnlichkeit zur S i t t l i c h k e i t möglich macht. „Denn vernünftige Wesen stehen alle unter dem G e s e t z , daß jedes derselben sich selbst und alle anderen n i e m a l s b l o ß als M i t t e l , sondern jederzeit z u g l e i c h als Z w e c k an sich s e l b s t behandeln solle. Hiedurch aber entspringt eine systematische Verbindung vernünftiger Wesen durch gemeinschaftliche objektive Gesetze, d.i. ein Reich, welches, weil diese Gesetze eben die Beziehung dieser Wesen aufeinander als Zwecke und Mittel zur Absicht haben, ein Reich der Zwecke (freilich nur ein Ideal) heißen kann." 84 Die innere Zweckmäßigkeit (daß etwas von ihm selbst zugleich Mittel und Zweck ist) 85 als ,,,absolute(n) Verknüpfung der Dinge" 86 erfordert nach Hegel eine spekulative Auffassung. 87 Hegel spricht nun nicht nur bezüglich der Teleologie, sondern auch in bezug auf die Ästhetik von innerer Zweckmäßigkeit. 88 Dies scheint zunächst eine unerlaubte Ausweitung des Kantischen Begriffs der Zweckmäßigkeit zu sein. Eine nähere Betrachtung dieses Begriffs ergibt jedoch folgendes. 89 Das Prinzip der reflektierenden Urteilskraft 84 85 86 87
88
89
Kants Schriften. Werke IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 433. Vgl. u.a. SW Bd. 3, 141 und 187, SW Bd. 19, 603 und SW Bd. 8, §§ 57 und 58, 156/7. SW Bd. 1, 320. SW Bd. 8, § 204, 413-416. „Eines der großen Verdienste K a n t s um die Philosophie besteht in der Unterscheidung, die er zwischen relativer oder ä u ß e r e r und zwischen i n n e r e r Zweckmäßigkeit aufgestellt hat; in letzterer hat er den Begriff des L e b e n s , die I d e e aufgeschlossen und damit die Philosophie, was die Kritik der Vernunft nur unvollkommen, in einer sehr schiefen Wendung und nur n e g a t i v tut, p o s i t i v über die Reflexionsbestimmungen und die relative Welt der Metaphysik erhoben." (Log. II, 387; vgl. SW Bd. 8, § 204, 415 und SW Bd. 16, 537). „ D a s Schöne dagegen existiert als zweckmäßig in sich selbst, ohne daß Mittel und Zweck sich als verschiedene Seiten getrennt zeigen." (SW Bd. 12, 94). Bei der folgenden Einteilung wurde lediglich der Versuch unternommen, ausgehend von den Gliederungen des Begriffs der Zweckmäßigkeit, die Kant in den Einleitungen selbst gegeben hat (vgl. Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, Kapitel XII und K.U., Einleitung, L (30/1)), unter Beibehaltung der Symmetrie dieser Gliederungen auch der Annehmlichkeit und der relativen Vollkommenheit ihren systematischen Ort zuzuweisen. Vgl. dagegen das von K. Marc-Wogau entworfene Einteilungsschema „Vier Studien zu Kants Kritik der Urteilskraft", Uppsala/Leipzig 1938, 71 (Uppsala Universitets Ärsskrift, 1938, 2). Vgl. auch die Untersuchung von G. Tonelli, Von den verschiedenen Bedeutungen des Wortes Zweckmäßigkeit in der Kritik der Urteilskraft, in: Kant-Studien, Bd. 49, Heft 1, 1957/8, 154-166. (Obgleich ich Toneiiis Ansicht teile, daß Marc-Wogau bei seinem Einteilungsversuch in einige Ungereimtheiten geraten ist, bin ich der Auffassung, daß Tonelli in seiner Kritik der Schemata von Marc-Wogau diesem nicht in allen Punkten gerecht geworden ist. Vgl. а. а. O . , 166.)
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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überhaupt (der ästhetischen sowohl als auch der teleologischen) ist die transzendentale (figürliche) Zweckmäßigkeit. Das Prinzip der teleologisch reflektierenden Urteilskraft ist die objektive (intellektuelle) transzendentale Zweckmäßigkeit. 90 Sie ist eine Zweckmäßigkeit des Objekts für die Vereinigung von Anschauung und Begriff zur bestimmten Erkenntnis, d . h . zu einem bestimmten Begriff. 91 Das Prinzip der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft ist die subjektive (ästhetische) transzendentale Zweckmäßigkeit. Sie ist eine Zweckmäßigkeit des Objekts für die Zusammenstimmung von Anschauung und Begriff zur Erkenntnis überhaupt, d . h . zur Möglichkeit eines Begriffs. 92 Die objektive (intellektuelle) Zweckmäßigkeit muß strenggenommen in die objektive (intellektuelle) formale Zweckmäßigkeit (zu denken ist hier an die relative Vollkommenheit geometrischer Figuren) 93 und die objektive (intellektuelle) reale oder materiale 94 Zweckmäßigkeit eingeteilt werden. 9 5 Die objektive (intellektuelle) reale Zweckmäßigkeit teilt sich nun nochmals in die innere Zweckmäßigkeit 96 , d . h . in die Vollkommenheit 97 und in die äußere (relative) Zweckmäßigkeit, d.h. die Nützlichkeit. Die innere Zweckmäßigkeit als das Prinzip der Beurteilung der Naturzwecke ist der eigentliche Gegenstand der teleologischen Urteilskraft. In Analogie zu der von Kant vorgenommenen Einteilung der objektiven (intellektuellen) Zweckmäßigkeit in objektive (intellektuelle) formale und objektive (intellektuelle) materiale kann man auch die subjektive (ästhetische) in subjektive (ästhetische) formale Zweckmäßigkeit und subjektive (ästhetische) materiale Zweckmäßigkeit, d . h . Annehmlichkeit 98 gliedern, wozu auch Paragraph 14 der „Kritik der Urteilskraft" Anlaß gibt, in dem Kant zwischen reinen (formalen) ästhetischen Urteilen als den eigentlichen Geschmacksurteilen, von denen in der „transzendentalen Ästhetik der Urteilskraft" 99 lediglich die Rede sein muß, und empirischen (materialen) ästhetischen als bloßen Sinnesurteilen einen Unterschied macht. Da man „alle Z w e c k m ä ß i g k e i t , sie mag subjektiv oder objektiv sein, in i n n e r e und r e l a t i v e einteilen" 100 kann, läßt sich die subjektive (ästhetische) for90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100
Vgl. K.U., 271 (223) und 278 (227). Vgl. a . a . O . , XLIX (30). Vgl. a . a . O . , XLVIII (30) und Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 39 und 57. Vgl. K.U., § 62, 278 (228). Vgl. a . a . O . , 188 (165). Vgl. a . a . O . , 271 (223) ff. Vgl. a . a . O . , 295 (239). Vgl. a . a . O . , 44 (66) und Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, Kapitel XII, 60. Vgl. a . a . O . , Kapitel VIII, die Ausführungen über das ästhetische Sinnesurteil. Vgl. K.U., 118 (117). Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 59.
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
male wieder in die innere Zweckmäßigkeit (Schönheit) und die äußere (relative) Zweckmäßigkeit (Erhabenheit) einteilen. 101 Das zeigt, daß es die innere Zweckmäßigkeit ist, die man — einen von Kant in der ersten Einleitung gebrauchten Ausdruck aufnehmend 1 0 2 — auch „absolute(n) Zweckmäßigkeit" nennen könnte, die in der Ästhetik unter dem Namen „Schönheit", in der Teleologie unter dem Namen „Vollkommenheit" im Zentrum der Betrachtung steht. Was die praktische Zweckmäßigkeit oder Zwecktätigkeit anbetrifft, so könnte man entsprechend zwischen der relativen äußeren Zwecktätigkeit auf Grund hypothetischer Imperative und einer ihr gegenüber absolut zu nennenden inneren Zwecktätigkeit auf Grund des kategorischen Imperativs unterscheiden. 103 Die , a b s o l u t e ' Z w e c k m ä ß i g k e i t als Analogon dieser ,absoluten' Zwecktätigkeit ist es eigentlich, die den Namen V e r n u n f t m ä ß i g k e i t verdient. 104 Seiner inneren Form nach als zweckmäßig zu betrachten wäre das V e r n u n f t g e m ä ß e , das der Vernunft A n g e m e s s e n e (Adäquate) oder besser gesagt, das ihr E n t s p r e c h e n d e . Zu zeigen ist, inwieweit die Vernunft wirklich durch die Idee der Zweckmäßigkeit m a ß g e b e n d ist für die Verstandesh a n d l u n g e n .
Die transzendentale Subreption der transzendentalen Zweckmäßigkeit (technica speciosa) als metaphysische Zwecktätigkeit (technica intentionalis) durch die spekulative Vernunft Die reflektierende Urteilskraft schreibt durch den transzendentalen Begriff der Zweckmäßigkeit der Natur nicht wirkliche Zwecktätigkeit zu, sondern gibt nur an, wie in der Reflexion verfahren werden müsse. Der transzendentale Begriff der technischen Zweckmäßigkeit der Natur (forma finalis naturae spontanea) 105 gestattet es uns nur, per analogiam von einer 101 Vgl. a . a . O . , 59. Insofern die formale innere Zweckmäßigkeit eine Zweckmäßigkeit (forma finalis) ohne Zweck (finis) ist, könnte auch in Ansehung der ästhetischen inneren Zweckmäßigkeit mit gewissem Recht von einer Schönheit der ,innerern Form' gesprochen werden. 102
Vgl. a . a . O . , 24. юз V g l . Kants Schriften. Werke IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 427f.; vgl. auch K . U . , 427 (323), w o Kant von der inneren Zweckbestimmung durch das moralische Gesetz spricht. 104 Zum Ausdruck „Vernunftmäßigkeit" vgl. außer den beiden bereits erwähnten Stellen der K.r.V., (A 624/ В 652 (591) und А 661/ В 689 (619)) ferner А 318/ В 375 (353), w o Kant von der Verknüpfung „nach Zwecken, d.i. nach Ideen" spricht, los Vgl. Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 42.
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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Absicht der Natur zu reden (wobei es jedoch gänzlich unausgemacht bleibt, ob die Zweckmäßigkeit in der Tat absichtlich oder unabsichtlich ist). Er ist von immanentem Gebrauch. Der metaphysische Begriff einer praktischen Zweckmäßigkeit (forma finalis naturae intentionalis) 106 legt der Natur eine absichtlich wirkende Ursache bei. Er ist von transzendentem Gebrauch. 107 Bezüglich der objektiven teleologischen Zweckmäßigkeit scheint es besonders leicht zu dem Mißverständnis zu kommen, als werde durch dieses Prinzip, im Unterschied zur bloß subjektiven ästhetischen Zweckmäßigkeit, der Natur selbst eine absichtlich wirkende Ursache unterstellt. Um dem möglichen Mißverständnis der Physikoteleologie als Physikotheologie zu begegnen, betont Kant: „ N u n ist klar, daß in solchen Fällen der Begriff einer objektiven Zweckmäßigkeit der Natur bloß zum B e h u f der R e f l e x i o n über das Objekt, nicht zur B e s t i m m u n g des Objekts durch den Begriff eines Zwecks diene und das teleologische Urteil über die innere Möglichkeit eines Naturprodukts ein bloß reflektierendes, nicht ein bestimmendes Urteil sei. So wird z . B . dadurch, daß man sagt, die Kristallinse im Auge habe den Z w e c k , durch eine zweite Brechung der Lichtstrahlen die Vereinigung der aus einem Punkte auslaufenden wiederum in einem Punkt auf der Netzhaut des Auges zu bewirken, nur gesagt, daß die Vorstellung eines Zwecks in der Kausalität der Natur bei Hervorbringung des Auges darum gedacht werde, weil eine solche Idee zum Prinzip dient, die Nachforschung des Auges, was das genannte Stück desselben betrifft, dadurch zu leiten, imgleichen auch der Mittel wegen, die man ersinnen könnte, um jene Wirkung zu befördern. Dadurch wird nun der Natur noch nicht eine nach der Vorstellung von Zwecken, d.i. a b s i c h t l i c h wirkende Ursache beigelegt, welches ein bestimmendes teleologisches Urteil, und als ein solches, transzendent sein würde, indem es eine Kausalität in Anregung bringt, die über die Naturgrenzen hinaus liegt." 1 0 8 Die spekulative Vernunft (bzw. die als bestimmende Urteilskraft auftretende reflektierende Urteilskraft) macht aus der technica speciosa eine technica intentionalis, aus der transzendentalen Zweckmäßigkeit metaphysische Zwecktätigkeit. Die spekulative Vernunft vergißt, daß die Rede von der „Absicht" der Natur eine unerlaubte ratiocinatio per analogiam ist. Uns ist es nur erlaubt, die Natur so zu denken, als ob sie Absichten habe. 106 107 108
Ebenda. Vgl. K . U . , 321 (254). Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 44.
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
„ E s ist doch etwas ganz anderes, ob ich sage: die Erzeugung gewisser Dinge der Natur, oder auch der gesamten Natur, ist nur durch eine Ursache, die sich nach Absichten zum Handeln bestimmt, möglich, oder: ich kann nach der e i g e n t ü m l i c h e n B e s c h a f f e n h e i t m e i n e r E r k e n n t n i s v e r m ö g e n über die Möglichkeit jener Dinge und ihre Erzeugung nicht anders urteilen, als wenn ich mir zu dieser eine Ursache, die nach Absichten wirkt, mithin ein Wesen denke, welches nach der Analogie mit der Kausalität eines Verstandes produktiv ist." 1 0 9 Das erste Prinzip ist ein „ o b j e k t i v e r Grundsatz für die bestimmende, das zweite ein subjektiver Grundsatz bloß für die reflektierende Urteilskraft, mithin eine Maxime derselben, die ihr die Vernunft auferlegt." 1 1 0 Das Prinzip der transzendentalen Zweckmäßigkeit, das auch Prinzip der Technik der Natur (technica speciosa) 111 heißt, ist eine Idee, die es uns nur erlaubt, die Natur als Kunst vorzustellen, 112 bzw. die Natur so zu betrachten, als ob sie ein Reich der Zwecke wäre. 1 1 3 Diese Technik der Natur ist von der Nomothetik der Natur nach transzendentalen Verstandesgesetzen darin unterschieden, „daß diese ihr Prinzip als Gesetz, jene aber nur als notwendige Voraussetzung geltend machen kann." 1 1 4 Von dem transzendentalen Prinzip der reflektierenden Urteilskraft, das Kant in der ersten Einleitung als subjektiv-notwendige Voraussetzung bezeichnet, um es von den transzendentalen Verstandesgesetzen, unter die die bestimmende Urteilskraft subsumiert, zu unterscheiden, sagt er dann in der zweiten Einleitung, daß man es auch das Gesetz der Spezifikation „nennen könnte" 1 1 5 , und unterscheidet die Gesetzgebung der reflektierenden Urteilskraft von der Gesetzgebung des Verstandes, indem er jene als heautonome 1 1 6 , diese als autonome charakterisiert. Durch die in der ersten Einleitung gegebene Erklärung scheint mir jedoch besser zum Ausdruck zu kommen, daß sich die reflektierende Urteilskraft von der bestimmenden Urteilskraft dadurch unterscheidet, daß wir uns bei jener des Vorausset109 110 111
112 1,3
114 115 1,6
K . U . , 333 (262); vgl. a . a . O . , 308 (247) u. 318 (252/3). A . a . O . , 333/4 (262). Vgl. Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 41; vgl. auch a . a . O . , 11, 12, 20, 22, 26, 41 und 57ff. und K . U . , X L I X (30), 77 (89), 322 (255), 356 (278) und 369 (286). Vgl. Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 11, 12 und 22. Vgl. Kants Schriften. Werke IV, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 436: „Teleologie erwägt die Natur als ein Reich der Zwecke, die Moral ein mögliches Reich der Zwecke als ein Reich der Natur." Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 22. Vgl. a . a . O . , 16/7. K . U . , X X X V I I (22). Vgl. Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 32.
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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zungscharakters ihres Gesetzes bewußt sein müssen. Die transzendentale Zweckmäßigkeit ist eine Voraussetzung, die per analogiam als Gesetz vorgestellt werden kann. Strenggenommen dürfen wir die Zweckmäßigkeit der Natur nicht als Gesetz betrachten, sondern wir müssen sie so ansehen, als ob sie ein Gesetz wäre. 117 Die Schwierigkeit besteht nur darin, daß ich sowohl bei der teleologischen Naturbeobachtung als auch bei der ästhetischen Naturbetrachtung gerade für die Dauer der Beobachtung bzw. Betrachtung den bloßen Voraussetzungscharakter der Zweckmäßigkeit wieder vergessen und so tun muß, als ob die Zweckmäßigkeit tatsächlich (realiter) ein Gesetz wäre. Die hypothetisch gebrauchte Idee der Zweckmäßigkeit muß gerade dann hypostasiert werden, wenn sie der reflektierenden Urteilskraft als heuristisches Prinzip dienen können soll. Die Idee der Zweckmäßigkeit der Natur ist bloß eine Anweisung der Vernunft an die Urteilskraft, über die Natur so zu reflektieren, als ob sie zweckmäßig eingerichtet sei. Dieses „als ob" enthält jedoch schon die Aufforderung, innerhalb seiner die transzendentale forma finalis naturae spontanea als transzendente forma finalis naturae intentionalis anzusehen, d.h. gerade in transzendentaler Hinsicht die Zweckmäßigkeit als transzendente zu unterstellen und die Maxime der Zweckmäßigkeit 118 als Maximum zu hypostasieren. Die Idee dieses Maximums der Abteilung und Vereinigung der Verstandeserkenntnis ist uns jedoch nicht gegeben, sondern als Maxime der Vernunft aufgegeben. Als Schema eines Vernunftbegriffs ist es ein bloßes Analogon des Schemas eines Verstandesbegriff s. 119 (Dieser Vernunftschematismus muß nach Kant sowohl vom Verstandesschematismus und vom Schematismus der reflektierenden Urteilskraft unterschieden werden. — Insofern nun aber die regulative Vernunft der reflektierenden Urteilskraft entspricht, könnte zur deutlicheren Gegenüberstellung des Verstandesschematismus einerseits, bei dem es um die die Subsumtion der Anschauungen unter reine Verstandesbegriffe vermittelnde transzendentale Zeitbestimmung geht, und des dtem Schematismus der reflektierenden Urteilskraft entsprechenden Vernunftschematismus andererseits, bei dem es nicht um die B e s t i m m u n g — d.h. hier eigentlich um das Beilegen bzw. Anhängen von Begriffen — sondern um die Reflexion über die Z u s a m m e n s t i m m u n g zu einem unbestimmten (vagen) Begriff geht,
117 118 119
Zum Ausdruck der bloßen Möglichkeit steht das „als o b " mit dem Konjunktiv. Vgl. K.U., XXXIV (21). Vgl. K.r.V., A 665/6 /В 693/4 (622).
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
das transzendentale Ideal als Symbol der transzendentalen Zweckmäßigkeit bezeichnet werden. 120 ) Will ich also nicht bei dem bloßen Vorsatz stehenbleiben, die Zweckmäßigkeit als eine Hypothese, eine Präsumtion anzusehen, sondern soll z . B . die teleologische Zweckmäßigkeit wirklich als Leitfaden, als Arbeitshypothese bei der Naturforschung eine Rolle spielen, so muß ich sie mit Notwendigkeit hypostasieren und unter sie subsumieren nach Art der bestimmenden Urteilskraft. Eine Reflexion über die Reflexion der Natur kann mir wohl im Voraus (oder im Nachhinein) zu Bewußtsein bringen, daß ich unter ein präsumiertes Prinzip subsumiere, indem ich jedoch über die Natur selbst reflektiere, projiziere ich mit Notwendigkeit die transzendentale Voraussetzung der Zweckmäßigkeit als Gesetz der Natur auf die Natur, und so schleicht sich der Fehler ein, die transzendentale Zweckmäßigkeit mit der metaphysischen Zwecktätigkeit, die reflektierende Urteilskraft mit der bestimmenden, die verständige Vernunft mit der spekulativen zu verwechseln. 121 Kant selbst hat nun die Subreption der reflektierenden Urteilskraft als bestimmende Urteilskraft in Gestalt der Subreption der regulativ gebrauchten Vernunft als konstitutiv gebrauchter Vernunft als unvermeidlich erkannt und als transzendentale Subreption bezeichnet. 122 Aus dem Gedanken, die Subreption als erkenntnisermöglichend zu begreifen, lassen sich m . E . einige Konsequenzen ziehen.
120
Vgl. K . U . , § 59, 2 5 4 (211) ff. Zum Vernunftschema vgl. im zweiten Teil des Anhangs zur transzendentalen Dialektik A 6 7 0 / В 698 (626), А 6 7 4 / В 702 (628/9), А 6 7 9 / В 707 (632), А 6 8 2 - 6 8 4 / В 7 1 0 - 7 1 2 ( 6 3 4 - 6 3 6 ) , А 6 9 7 / В 725 (645) und А 6 9 9 / В 727 (647).
121
В . Liebrucks hat diese Erschleichung der bestimmenden Urteilskraft innerhalb der reflektierenden gesehen. (Vgl. B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Frankfurt 1964ff., Bd. 3, 334). E r sieht den Kantischen Versuch der Trennung der reflektierenden und der bestimmenden Urteilskraft insofern als mißglückt an, als die reflektierende Urteilskraft nur das „als o b " vor ihre Sätze setze, von da ab aber als bestimmende auftrete, (vgl. a . a . O . , 316) d . h . innerhalb des „als o b " bestimme in der Weise der bestimmenden U r teilskraft. (Vgl. a . a . O . , 310). In Kapitel 11 („Stellungnahme zu Kant und Ubergang zu Hegel, a.) Der Widerspruch innerhalb der Konzeption der reflektierenden Urteilskraft als reflektierender und seine gegenständliche Erscheinung", 309ff. vgl. auch Bd. 4, 92 und 154) führt Liebrucks aus, daß der Begriff der Zweckmäßigkeit niemals Leifaden sein könnte, wenn die bestimmende Urteilskraft, nicht innerhalb der reflektierenden als Moment vorgestellt wäre und die Zwecktätigkeit nicht als Moment in der Zweckmäßigkeit steckte.
122
Vgl. u . a . K . r . V . , А 6 1 9 / В 647 (587).
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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Vorbemerkungen zur Dialektik von reflektierender (präsumierender, voraussetzender) und bestimmender (subsumierender, setzender) Urteilskraft im Hinblick auf die Hegeische Wesenslogik (Log. II, 2. Buch, 1. Abschn. 1. Kap., C, 2, Anm.) Bezeichnet man die r e f l e k t i e r e n d e U r t e i l s k r a f t ihrer t r a n s z e n d e n t a l e n V o r a u s s e t z u n g wegen, unter der sie reflektiert, als p r ä s u m i e r e n d e oder v o r a u s s e t z e n d e U r t e i l s k r a f t und die b e s t i m m e n de U r t e i l s k r a f t der t r a n s z e n d e n t a l e n G e s e t z e wegen, unter die sie subsumiert und dadurch die Gegenständlichkeit der Gegenstände konstituiert, als s u b s u m i e r e n d e oder s e t z e n d e U r t e i l s k r a f t , so könnte man sich vielleicht so ausdrücken: Die voraussetzende Urteilskraft verkehrt ihre Voraussetzung notwendig in ein Gesetz und damit sich selbst in die setzende Urteilskraft. Die voraussetzende Urteilskraft verläßt sich bei ihrer Reflexion auf ihre Voraussetzung (sie geht von dieser Voraussetzung aus), aber das Sich-Verlassen auf das Vorausgesetzte, ist das Verlassen des Vorausgesetzten als Vorausgesetzten und das Ankommen beim Vorausgesetzten als Gesetztem. Die voraussetzende Urteilskraft klammert notwendig die Einsicht in den Voraussetzungscharakter ihres Gesetzes aus und ist so unter ihrer eigenen Voraussetzung setzende Urteilskraft. Hegel geht in einer Anmerkung im Anschluß an Kapitel 1.C.2 der Wesenslogik „Die äußere Reflexion" expressis verbis auf die Kantische Entgegensetzung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft ein. 1 2 3 Betrachtet man Hegels Darstellung der setzenden und der äußeren Reflexion 124 — bereits die Reihenfolge der Besprechung der setzenden und der äußeren Reflexion zeigt, was auch durch die Aufmerksamkeit auf das, was man sagt, deutlich wird, daß nämlich die Bestimmung des Setzens in der des Voraussetzens zu finden ist 125 — auf dem Hintergrund dieser Entgegensetzung von bestimmender und reflektierender Urteilskraft, so verhält es sich m . E . so, daß die bestimmende Urteilskraft, insofern sie der reflektierenden bloß entgegengestellt wird, wie die reflektierende Urteilskraft gleichfalls als äußerliche Reflexion zu betrachten ist. Erst insofern die bestimmende als Moment der reflektierenden Urteilskraft — die Be123 Vgl. dazu auch den Kommentar von B. Liebrucks, in: Sprache und Bewußtsein, Bd. 6/2, 79ff., in dem er auf seine Ausführungen über den der reflektierenden Urteilskraft innewohnenden Widerspruch (vgl. a . a . O . , Bd. 3, 309ff.) hinweist. 124 Log. II, 14 ff. 125 Yg] ; n a n d e r e m Zusammenhang Log. I, 132.
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Stimmung nicht als außerhalb, sondern als innerhalb der Reflexion sich findende — betrachtet wird, kann ihre Beziehung zur reflektierenden Urteilskraft als Entsprechung der reflektierenden Bewegung von setzender und voraussetzender Reflexion betrachtet werden. (Der sich in der verständigen Vernunft findende Verstand ist der zur Vernunft und damit zu sich gekommene vernünftige Verstand). Hegels Erörterung der inneren und der äußeren Reflexion und ihrer „Einheit" 1 2 6 , der bestimmenden Reflexion, ist in unserem Zusammenhang insofern interessant, als hier zuerst die logischen Konsequenzen aus dem äußerlichen Verhältnis der Urteilskräfte — als äußerliche kann die Kantische Entgegensetzung von setzender und voraussetzender Urteilskraft insofern bezeichnet werden, als sie selbst eine zweckdienliche, d.h. nützliche Voraussetzung ist, unter der allein die Unabhängigkeit der Bestimmungen zu sichern ist, nach denen sich die Natur formaliter zu richten hat — gezogen werden. Daß die reflektierende Bewegung der absoluten sich zur setzenden und zur äußeren Reflexion bestimmenden Reflexion des W e s e n s nach Hegel als „ a b s o l u t e r G e g e n s t o ß in sich selbst" 1 2 7 zu sehen ist 1 2 8 , soll hier als Vorerinnerung an die absolute Reflexion des B e g r i f f s im sogenannten spekulativen Satz genommen werden. Vorgreifend kann nämlich bemerkt werden, daß die reflektierende Bewegung von voraussetzender und setzender Reflexion insofern dem ungewöhnlichen Verhältnis von Subjekt und Prädikat im spekulativen Satz entspricht, als erst, indem auf das Subjekt als Resultat des Prädikats zurückgekommen wird, sozusagen der springende Punkt des Subjekts als des wissenden erfaßt wird bzw. begriffen wird, während gewöhnlich zunächst vom Subjekt als dem Vorausgesetzten der Vorstellung ausgegangen wird. 1 2 9 Auch was die beiden Teilsätze — nicht bloß die Satzteile — anbetrifft, die die dialektische Bewegung ferner zu ihren Elementen haben wird, so 126
L o g . II, 2 0 ; das „unglückliche W o r t " Einheit (vgl. L o g . I, 77) sollte an dieser Stelle freilich besser vermieden werden, um dem Mißverständnis vorzubeugen, daß damit eine vorkritische Identifikation beider, nicht aber die metakritische Einsicht in deren Identität der Identität und der Nichtidentität gemeint sei.
127
L o g . II, 16, vgl. auch a . a . O . , 63.
128
„ D i e Bewegung wendet sich als Fortgehen unmittelbar in ihr selbst um und ist nur so Selbstbewegung, — Bewegung, die aus sich kommt, insofern die s e t z e n d e Reflexion v o r a u s s e t z e n d e , aber als v o r a u s s e t z e n d e Reflexion schlechthin s e t z e n d e i s t . " ( A . a . O . , 16).
129
Vgl. SW Bd. 8, § 115 und S W Bd. 16, 4 5 1 - 4 6 2 ; vgl. ferner J . Simon, Satz, Text und Diskurs in transzendentalphilosophischer und sprachlogischer Reflexion, in: Sprache und Begriff, Festschrift für B . Liebrucks, hrsg. von H . Röttges, B . Scheer und J . Simon, Meisenheim 1974, 2 1 6 / 7 .
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könnte insofern von einer Entsprechung dieser dialektischen Bewegung des Satzes und des Gegensatzes und der reflektierenden Bewegung der voraussetzenden und der setzenden Reflexion gesprochen werden, als im Gegensatz auf den ersten Satz zurückgekommen und das ausgesprochen bzw. inhaltlich thematisiert wird, was dieser bloß seiner Form nach als Voraussetzung in sich schließt. 130a "8 no.Vgl. dazu Kap. II, 1 dieser Arbeit. Weiter unten wird noch zu sehen sein, inwiefern die reflektierende Bewegung der ä u ß e ren R e f l e x i o n — die sozusagen von außen nach innen geht — und der i n n e r e n R e f l e x i o n - die sozusagen von innen nach außen geht - insofern sie auf dem Hintergrund der Gegenübersetzung von r e f l e k t i e r e n d e r und b e s t i m m e n d e r U r t e i l s k r a f t gesehen wird, dem absoluten Gegenstoß von E r i n n e r u n g und Ä u ß e r u n g in der dialektischen, den S a t z g e g e n s t a n d in die S a t z a u s s a g e übersetzenden Bewegung des Satzes entspricht. W . Marx, der sich zu Anfang des letzten Paragraphen seiner Arbeit über „Hegels Theorie logischer Vermittlung", Stuttgart 1972, 169ff. in einigen Bemerkungen auf die ich hier nicht näher eingehen möchte, zum „Anhang der transzendentalen Dialektik" ( K . r . V . , A 642/ В 670ff. (604ff.)) geäußert hat, sieht zwar in Hegels Theorie der Reflexion keine Uberwindung des transzendentalen Standpunkts, immerhin aber eine Markierung der Schwierigkeit, die mit der Kantischen Verhältnisbestimmung von Vernunft und Verstand entsteht. , 3 0 c D . Henrich hat in seinem analytischen Kommentar zur Logik der Reflexion (vgl. D . Henrich, Hegels Logik der Reflexion, in: Hegel im Kontext, Frankfurt 1971, insbes. 105—132) nicht vor der Hermetik dieses Textes resigniert, sondern den Versuch unternommen, in die Feinstruktur dieses Teils der Logik einzudringen. Auf die Anmerkung im Anschluß an das Kapitel über die äußere Reflexion (vgl. Log. II, 18—20) - die ihrer Erinnerung an Kant wegen für mich sozusagen ein unentbehrlicher Stützpunkt bei dem zunächst fast aussichtslos erscheinenden Versuch einer Erschließung dieses Textstücks war — ist Henrich leider nicht zu sprechen gekommen. 1 3 0 d Erst in Rücksicht auf die Kantische Philosophie wird ganz deutlich, wie unqualifiziert die Bemerkung von McTaggart ist: ,,It seems to me that Hegel would have done better if he had suppressed Positing and External Reflection alltogether, and had taken what he now calls Determining Reflection as the undivided category of Reflection". (J. McTaggart, E . McTaggart, A Commentary on Hegel's Logic, New York 1964, 102). i30c g e ; J e m Versuch einer Skizzierung der Entwicklung des Begriffs der Reflexion von Kant bis Hegel wäre es sicherlich interessant, sich nicht nur auf eine Betrachtung dieses Begriffs in der „Kritik der Urteilskraft", resp. der Ausführungen über die hypothetische Vernunft im Anhang zur transzendentalen Dialektik zu beschränken, sondern darüber hinaus die Zusammenhänge mit dem Anhang zur transzendentalen Analytik zu berücksichtigen. (Vgl. weiter oben. Einen ersten unzulänglichen Versuch, auf diese Zusammenhänge aufmerksam zu machen, habe ich bereits in meiner Dissertation unternommen. Vgl. G . Wohlfart, Metakritik der ästhetischen Urteilskraft, Dritter Teil, Der Begriff der Reflexion und die Trennung von reflektierender und bestimmender Urteilskraft, 7 6 - 9 5 ) . 130b
So interessant in dieser Hinsicht nun auch der Abschnitt über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe zu sein scheint, so unzureichend muß m . E . die weitgehende Beschränkung auf diesen Abschnitt erscheinen, wenn es darum gehen soll, auf die Spuren innerhalb des Kantischen Reflexionsbegriffs aufmerksam zu machen, die eine Entwicklung von der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe" bis hin zur „Logik des
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Die Kritik an der spekulativen Vernunft als Kritik an der transzendentalen Subreption der Voraussetzung der reflektierenden Urteilskraft bzw. der regulativen Vernunft als Gesetz Das ,als ob' als höchster Standpunkt der Transzendentalphilosophie Doch zurück zu Kant und dessen Versuch, den transzendentalen Schein zu kritisieren, der dadurch entsteht, daß die reflektierende Urteilskraft ihre Voraussetzung in ein Gesetz verkehrt und dadurch als bestimmende Urteilskraft auftritt. Die Aufgabe der transzendentalen Kritik ist es nach Kant nicht, diese transzendentale Illusion 131 zu vermeiden (denn sie ist so unvermeidlich, wie wir Dinge beim Blick in den Spiegel unvermeidlich ebenso weit hinter dem Spiegel sehen als sie sich vor ihm befinden), sondern ihre Aufgabe ist es, die Klammer, durch die wir das „als o b " ausgeklammert hatten, wieder aufzulösen, um zu verhindern, daß die spekulative Vernunft uns „durch Vorspiegelungen hinhält und am Ende betrügt." 1 3 2 Die transzendentale Kritik hat die als setzende Urteilskraft auftretende voraussetzende Urteilskraft — und nur insofern sie als setzende Urteilskraft auftrat, spielte sie überhaupt eine Rolle für die Naturbeobachtung bzw. für die Naturbetrachtung — daran zu erinnern, daß sie in Wirklichkeit bloß voraussetzende Urteilskraft ist. Die Kritik hat die Aufgabe, die mit der bestimmenden U r teilskraft gleichsam ihre Rolle tauschende und sich in dieser Rolle verWesens" verständlich machen können. (Vgl. die Arbeit von P. Rohs, Form und Grund, Hegel-Studien, Beiheft 6, 48/9, der den zugestandenermaßen schwierigen Versuch gewagt hat, ein Kapitel der „Wissenschaft der Logik" — das Kapitel über den Grund — Satz für Satz zu interpretieren.) " o f Nicht näher eingegangen
auf die Hegeische Unterscheidung der inneren und der vor-
aussetzenden Reflexion wie auf deren Hintergrund in der Kantischen Unterscheidung der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft ist auch B. Lakebrink. (Vgl. B. Lakebrink, Dialektische Ontologie und die Thomistische Analektik, Köln 1955, 3. Kapitel: Reflexion und Wesenheiten. Vgl. auch ders., Die Europäische Idee der Freiheit, 1. Teil, Hegels Logik und die Tradition der Selbstbestimmung, Leiden 1968, 2. Kapitel: Das Wesen als Scheinen in sich selbst.) 130
s Übrigens habe ich bei dem für die Ausarbeitung der folgenden Kapitel notwendigen Versuch einer Erschließung der Logik der Reflexion rücksichtlich der Kantischen Philosophie Findlays aufrichtige Selbstbeurteilung als ermutigend empfunden: „The above sketch will give some idea of Hegel's account of ,Reflection' in the S c i e n c e o f L o g i c . We have left it with the Hegelian mists clinging to it, without seeking to make it perfectly luced. We have by no means done full justice to the exuberant richness of the argument, of which it has not always been possible even to keep the thread." (J. N . Findlay, Hegel, A Re-examination, London 1957, 188.)
131 132
Vgl. K . r . V . , A 297/8 / В 353/4 (336/7), A 644/5 / В 672 /3 (606) und A 696/ В 724 (645). A . a . O . , В X V (19); vgl. auch А 6/ В 10 (44/5).
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gessende, d.h. die sich mit der bestimmenden Urteilskraft identifizierende und als bestimmende Urteilskraft auftretende reflektierende Urteilskraft an ihre Nichtidentität mit jener zu erinnern und dabei die Hoffnungen der auf den Flügeln der Idee der Zweckmäßigkeit die Schranken des Verstandes überfliegenden Vernunft zu enttäuschen. Die transzendentale Subreption zwingt uns, das Vorausgesetzte als Gesetztes zu betrachten, die transzendentale Kritik dagegen zwingt uns, das Vorausgesetzte so anzusehen als ob es Gesetztes wäre. Sie zwingt uns, die ,,List" 1 3 3 (!) der spekulativen Vernunft zu durchschauen. Die Kritik ermahnt die Vernunft, sich durch den Rollentausch von reflektierender und bestimmender Urteilskraft nicht darüber täuschen zu lassen, daß es sich in Wahrheit bloß um die reflektierende Urteilskraft handelt, die als hypothetische Vernunft gezwungen ist, hypostatisch bestimmend zu werden, d.h. von der ihr zum Prinzip dienenden Idee der Zweckmäßigkeit spekulativ Gebrauch zu machen. Dadurch wird der Vernunft eine Welt eröffnet, aber diese sich geradezu eröffnende Welt ist eine verkehrte Welt. Gleich zu Beginn des Anhangs zur transzendentalen Dialektik sagt Kant im vierten Absatz, den ich seiner Bedeutung für diesen Teil der Arbeit wegen 134 ganz wiedergeben möchte: „Ich behaupte demnach: die transzendentalen Ideen sind niemals von konstitutivem Gebrauche, so, daß dadurch Begriffe gewisser Gegenstände gegeben würden, und in dem Falle, daß man sie so versteht, sind es bloß vernünftelnde (dialektische) Begriffe. Dagegen aber haben sie einen vortrefflichen und unentbehrlich notwendigen regulativen Gebrauch, nämlich den Verstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Richtungslinien aller seiner Regeln in einen Punkt zusammenlaufen, der, ob er zwar nur eine Idee (focus i m a ginarius), d.i. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb den Grenzen möglicher Erfahrung liegt, dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung zu verschaffen. Nun entspringt uns zwar hieraus die Täuschung, als wenn diese Richtungslinien von einem Gegenstande selbst, der außer dem Felde empirisch möglicher Erkenntnis läge, ausgeschlossen 135 wären (so wie die Objekte hinter der Spiegelfläche gesehen werden), allein diese 133 134
K . r . V . , A 6 0 6 / В 634 (577). Ich möchte mich der Ansicht von B . Liebrucks anschließen, daß diese Erörterung Kants von höchstem Wert ist, insbesondere aber dann, wenn man sie mit der von Kant wenige Seiten vorher in der „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft" gegebenen Erklärung der Spekulation zusammensieht. (Vgl. B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 4, 2 2 6 f f . ) .
135 Mellin: „geflossen"; Schopenhauer: „ausgeschossen"; Rosenkranz: „aus geschlossen".
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Illusion (welche man doch hindern kann, daß sie nicht betrügt), ist gleichwohl unentbehrlich notwendig, wenn wir außer den Gegenständen, die uns vor Augen sind, auch diejenigen zugleich sehen wollen, die weit davon uns im Rücken liegen, d.i. wenn wir, in unserem Falle, den Verstand über jede gegebene Erfahrung (dem Teile der gesamten möglichen Erfahrung) 136 hinaus, mithin auch zur größtmöglichen und äußersten Erweiterung abrichten wollen." 1 3 7 Vergleicht man, das Kantische Bild variierend, die Spekulation der Vernunft in der Dialektik des diskursiven und des intuitiven Verstandes mit dem Prozeß des Sich-Erkennens im Spiegel, so entspräche die verkehrte ratio recta der vorkritischen dogmatischen Metaphysik (der im Kantischen Sinne spekulativen Vernunft) dem sozusagen selbstvergessenen Bewußtsein des sich geradewegs mit seinem Spiegelbild als mit sich Identifizierenden und in sein Gegenüber einfach Hineinversetzenden; die umgekehrte ratio obliqua der kritischen Metaphysik (der regulativen Vernunft), dem Selbstbewußtsein des sich seines Unterschieds (zu seinem Spiegelbild, als zu sich) Erinnernden und des an der Voraussetzung der Differenz zu seinem Gegenüber Festhaltenden. Spekulativ im metakritischen Hegeischen Sinne wäre die Vernunft zu nennen, die zur Einsicht in die Identität der Identität und der Nichtidentität (die a b s o l u t e S e l b s t ä n d i g k e i t ) des sich von sich l ö s e n d e n und sich selbst in seinem Gegenüber erkennenden S e l b s t s gekommen ist. 1 3 8 Unter der .schlechten', vorkritischen Spekulation, gegen die sich Kants Kritik richtet, kann man eine a n s c h a u e n d e B e t r a c h t u n g verstehen, durch die sich die Reflexion als Bestimmung vorstellt. Sie ist von der wahrhaften', metakritischen Spekulation, von der bei Hegel die Rede sein wird, insofern zu unterscheiden, als sie als eine diese Anschauung anschauende 139 , d.h. als eine d e n k e n d e B e t r a c h t u n g genommen werden kann. Sie wird die Vorstellung der schlechten' Spekulation, durch die sich die Reflexion mit der Bestimmung i d e n t i f i z i e r t bzw. g l e i c h s e t z t , zerstören und
136
Zur Unterscheidung der gegebenen (wirklichen) Erfahrung von der möglichen Erfahrung vgl. K . r . V . , A 7 0 2 / 3 / В 730/1 ( 6 4 9 / 5 0 ) .
137
A . a . O . , А 6 4 4 / 5 / В 6 7 2 / 3 (606); zur Bezeichnung der Idee als focus imaginarius vgl. a . a . O . , A 2 9 2 / В 348 (333), wo Kant eine leere Anschauung ohne Gegenstand als ens imaginarium bezeichnet; vgl. dagegen das Bild des jungen Hegel für die Spekulation, SW Bd. 1, 68.
138
Die „Unbequemlichkeit" des spekulativen Denkens gegenüber kritischen Vorstellungen besteht dabei darin, daß das Ich sich insofern selbst im Wege steht, als „ I c h nicht gedacht werden kann, ohne daß es Ich ist, welches d e n k t . " ( L o g . II, 432). Hegel bezieht sich auf Kant, K . r . V . , A 3 4 6 / В 404 (374).
139
Vgl. dazu SW Bd. 1, 77ff.
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diese Vorstellung als verkehrte Vorstellung bzw. als V e r w e c h s l u n g erkennen, und zwar nicht, um nun von der umgekehrten V o r a u s s e t z u n g der gänzlichen V e r s c h i e d e n h e i t bzw. der äußerlichen A b w e c h s l u n g von Reflexion und Bestimmung auszugehen, sondern um Bestimmung und Reflexion als W e c h s e l b e s t i m m u n g e n , d.h. um die Bestimmung als B e s t i m m u n g der R e f l e x i o n bzw. die Reflexion als R e f l e x i o n der B e s t i m m u n g zu begreifen. Hier bleibt zunächst festzuhalten: Die verständige Vernunft bedient sich also nicht zum Zweck der Bestimmung, sondern zum Zwecke der Systematisierung der Naturerfahrung der Idee des unbestimmten Prinzips (principium vagum) 140 der Z w e c k m ä ß i g k e i t der Natur, die sie jedoch bei ihrer Reflexion als Zweckmäßigkeit der N a t u r der Natur selbst unterstellt und so bei ihrer Betrachtung die Zweckmäßigkeit in Zwecktätigkeit verkehrt. Denn betrachten wir die Natur als zweckmäßig, so betrachten wir sie ebenso notwendig als verkehrte (d.h. als zwecktätig), wie wir die Dinge, die wir im Spiegel betrachten, als verkehrte betrachten. Der Vergleich des transzendentalen Scheins mit dem optischen 141 soll uns nun lehren, den Fehler der verkehrten spekulativen Vernunft (perversa ratio, ύστερον πρότερον) 142 zu erkennen, die projektierte Vernunfteinheit 1 4 3 als Projektion zu durchschauen, den eingebildeten Punkt im Spiegel von dem wirklichen zu unterscheiden. Die von der spekulativen Vernunft als etwas Gegebenes hypostasierten Ideen (Vernunfthypothesen) sind zu verstehen als Aufgaben, als Projekte der Vernunft, im Hinblick auf ihre Vollendung gleichsam als Fluchtpunkte, in denen die Richtlinien am Horizont bzw. im Unendlichen zusammenlaufen, nicht jedoch als höchste Standpunkte, von denen ausgehend (anfangend) die in Spekulationen verstiegene Vernunft den sicheren Gang der Wissenschaft (d.h. der mechanischen oder physischen Naturforschung) durch einen Schwindel gefährden würde. 1 4 4 Die Kritik möchte uns darüber aufklären, daß es der Vernunft nur dann, wenn sie die Gefahr der Vorspiegelung falscher Tatsachen, die Gefahr der Unterstellung bloßer Glaubenssachen als Tatsachen im Auge
140 141 142 143 144
Vgl. K . r . V . , A 6 8 0 / В 708 (633). Vgl. auch K . r . V . , А 2 9 3 / В 349ff. (334ff.). Vgl. a . a . O . , А 6 9 2 / В 720 (642). Vgl. a . a . O . , А 6 4 7 / 8 / В 6 7 5 / 6 ( 6 0 8 / 9 ) . Vgl. a . a . O . , А 6 8 9 / В 717 ( 6 3 9 / 4 0 ) , Absatz 18 des zweiten Teils des Anhangs zur transzendentalen Dialektik.
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behält, 145 „nutzen" 1 4 6 und auf keinen Fall etwas schaden kann, so zu tun, als ob 1 4 7 die Richtlinien der distributiven synthetischen Einheit der Apperzeption als des höchsten Punktes 148 d.h. unseres diskursiven Verstandes von einer höchsten kollektiven, systematischen (zweckmäßigen) Einheit der Vernunft ausgingen, die wir uns per analogiam als intuitiven Verstand denken dürfen. „Diese höchste formale Einheit, welche allein auf Vernunftbegriffen beruht, ist die z w e c k m ä ß i g e Einheit der Dinge, und das s p e k u l a t i v e Interesse der Vernunft macht es notwendig, alle Anordnungen der Welt so anzusehen, als ob sie aus der Absicht einer allerhöchsten Vernunft entsprossen wäre. Ein solches Prinzip eröffnet nämlich unserer auf das Feld der Erfahrungen angewandten Vernunft ganz neue Aussichten, nach teleologischen Gesetzen die Dinge der Welt zu verknüpfen, und dadurch zu der größten systematischen Einheit derselben zu gelangen." 1 4 9 Die Frage allerdings, ob dieses ens rationis ratiocinatae, 150 das es uns erlaubt, die Natur als zweckmäßig zu betrachten, indem wir so tun, als ob ein ens perfectissimum in ihr zwecktätig sei, die Frage also, ob dieses „Etwas überhaupt" 1 5 1 objektiv real ist, ob Gott (ein ens realissimum) ist, hat — in theoretischer Absicht — nach Kant so wenig Sinn und Bedeutung (d.h. hier Objektbezug) 152 wie die Aussage: „Das absolute Wesen ist alle Realität" oder „Gott ist das Sein". Die sich zum transzendentalen Prinzip der Affinität vereinigenden transzendentalen Vernunftgrundsätze der Homogenität und der Spezifikation sind — im Unterschied zu den konstitutiven Verstandesgrundsätzen — regulative „synthetische Sätze a priori" 1 5 3 , heuristische Grundsätze der Naturforschung, die über die gegebene (wirkliche) Erfahrung hinaus zur Regel möglicher Erfahrung dienen, regulative Prinzipien, die die Vernunft dem Verstand als „Richtschnur" 1 5 4 zur größtmöglichen und äußersten Er145 146
147 148 149 150 151
152 153
154
Vgl. K . U . , § 91, 454 (341). K . r . V . , A 687/ В 715 (638); vgl. K . U . 44 (66), wo Kant die Nützlichkeit als äußere Zweckmäßigkeit bestimmt. Vgl. Phä., 411. Vgl. K . U . , X X V I I / V I I I (16/7). Vgl. K . r . V . , В 134 (143b). K . r . V . , А 686/7 / В 714/5 (638). Vgl. a . a . O . , А 681/ В 709 (634). A . a . O . , A 677/ В 705 (631); vgl. А 679/ В 707 (632), А 674/5 / В 702/3 (629) und А 697/ В 725 (646); vgl. ferner a . a . O . , А 670/1 / В 698/9 (626). Vgl. a . a . O . , А 696/ В 724 (645). А . а. О . , А 663/ В 691 (621), Absatz 28 des ersten Teils des Anhangs zur transzendentalen Dialektik. A . a . O . , А 675/ В 703 (629).
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Weiterung seiner Erkenntnis an die Hand gibt. 155 Dadurch nun, daß wir in Analogie zum Schema der Verstandesbegriffe einen transzendentalen Gegenstand, ein Etwas = X als Schema der Vernunftbegriffe voraussetzen, erweitern wir unsere Erkenntnis noch keineswegs über das Feld möglicher Erfahrung. 1 5 6 Versuchten wir dagegen, dieses gänzlich unbestimmte (abstrakte) Etwas, von dem wir bestenfalls einen „zarten Umriß" 1 5 7 kennen — ist der Begriff von diesem Etwas überhaupt seinem U m f a n g nach nicht so zu denken, daß sich von ihm keine Bestimmung mehr wegdenken läßt, als ein Begriff also, der mit allen anderen, von ihm verschiedenen nichts gemein hat? 158 — zu bestimmen (determinieren) und zu erkennen, versuchten wir etwa, uns einen bestimmten Begriff (als Prädikat eines synthetischen Urteils) von der absoluten Notwendigkeit dieses von der Welt unterschiedenen, außerhalb der Welt anzunehmenden (extramundanen) Etwas in der Idee zu machen, 159 d.h. den leeren Begriff von ihm zu erfüllen, so würden wir die Grenzen möglicher Erfahrung überfliegen, die Natur als das der Vernunft eigentümliche Feld verlassen 160 und uns also nur die Illusion machen, synthetisch a priori zu urteilen. Ist diese Idee ihrem Inhalt nach aber nicht als Inbegriff aller Prädikate zu denken und l ä u t e r t sich 161 zu einem durchgängig a priori bestimmten Begriff, — zu einem Begriff also, zu dem sich keine weitere Bestimmung mehr hinzudenken läßt — und wird mithin zum Begriff von einem einzelnen, durch die Idee allein durchgängig bestimmten Ding, zur individuierten Idee der Vernunft? Dieses Ideal der Vernunft kann legitimerweise erläutert, d. h. analytisch beurteilt werden, ohne dadurch unsere Kenntnis von ihm zu erweitern. U m aber eine Erkenntnis werden zu können, müßte der Begriff von diesem Ideal demonstriert, d.h. in der Anschauung — etwa der des Schönen — dargestellt werden können. 1 6 2 iss Vg] Absatz 4 des ersten Teils des Anhangs zur transzendentalen Dialektik, A 645/ В 773 (606) und den letzten Absatz des zweiten Teils des Anhangs zur transzendentalen Dialektik, А 702/3 /В 730/1 (649/50). 156 Vgl. Absatz 25 des zweiten Teils des Anhangs zur transzendentalen Dialektik, А 697/8 /В 725/6 (646) und A 250ff. (299ff.). 157 158 159
160 161 162
K.r.V., А 623/ В 651 (590). Vgl. Kants Schriften. Werke IX, § 6, Anm. 2, 95 und § 15, 99. Vgl. K.r.V., А 561/ В 589 (544), А 614/ В 642 (584) ff. Entdeckung und Erklärung des dialektischen Scheins in allen transzendentalen Beweisen vom Dasein eines notwendigen Wesens, А 679/ В 707 (632/3), Absatz 10 des zweiten Teils des Anhangs zur transzendentalen Dialektik und А 695/6 /В 723/4 (644/5), Absatz 24. Vgl. a . a . O . , А 701/ В 729 (648/9). Vgl. a . a . O . , А 574/ В 602 (553). Weiter unten habe ich versucht, einige der sich hieraus ergebenden Probleme etwas näher zu betrachten.
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Sehen wir nun zurück auf den kritischen Weg, so sehen wir, daß dieser Weg uns bis zum „als o b " , dem höchsten Standpunkt der Transzendentalphilosophie führt. Auf diesem Standpunkt des als o b verstellen wir uns freilich den Weg zur Beantwortung der Frage, ob ich den intuitiven Verstand (das absolute Wesen) als diskursiven Verstand (identisches Selbst) begreifen darf, denn dieser Standpunkt überhebt uns der Beantwortung dieser Frage. Die Spitze der Transzendentalphilosophie ist auf dem Punkt erreicht, von dem aus gesehen die Frage nach dem Dasein Gottes gegenstandslos geworden ist. Im Dunkel der Möglichkeit einer Erkenntnis ist nur ein vages Etwas überhaupt auszumachen. Was es ist, und ob es überhaupt etwas Wirkliches ist, ist nicht zu erkennen. Um hier an Adickes' Polemik gegen Vaihingers Deutung der Transzendentalphilosophie als einer Philosophie des Als-Ob zu erinnern, so kann es „nicht mehr als ein methodisch-wissenschaftliches Vorgehen bezeichnet werden" 1 6 3 — um mich Adickes' eigener Worte zu bedienen — wenn Adickes seine tendenziöse Deutung von Kants Kritik des theologischen Ideals 164 Kant als dessen „innerste Tendenz" 1 6 5 unterstellt, die Kant die von der strengen Transzendentalphilosophie geforderte Zurückhaltung habe vergessen und „ohne oder gar gegen seine eigentliche Absieht halb instinktiv niedergeschrieben(e)" 166 „Wendungen entschlüpfen lassen, in denen seine feste Uberzeugung von der wirklichen, transzendentalen Existenz Gottes" 1 6 7 von der „wirkliche(n) transsubjektive(n) Realität" 1 6 8 Gottes klar zutage getreten sei. Betrachtet man die Ausführungen Kants, in denen er vorläufig die Vollendung seines kritischen Geschäfts übernahm, dagegen als transzendentalphilosophisch im strengen Sinne und zieht aus der dort bezogenen Stellung die Konsequenzen — und das scheint mir hier die philosophische Obliegenheit zu sein — so kann man wohl schwerlich zu der Uberzeugung kommen, daß es für den sich auf der Höhe der theoretischen Transzendentalphilosophie befindenden Kant feststand, Vgl. E. Adickes, Kant und die Als-Ob-Philosophie, Stuttgart 1927, Abschnitt 3b, Der Doppelanhang zur transzendentalen Dialektik mit seiner transzendentalen Deduktion der Ideen, 98. 164 Vgl. insbes. die in Absatz 24 des zweiten Stückes des Anhangs zur transzendentalen Dialektik in Absicht auf eine transzendentale Theologie aufgeworfenen Fragen, K . r . V . , A 695/ В 723 (644) ff. (zu beachten ist zunächst Kants Anmerkung) und dazu die Interpretation von Adickes, Kant und die Als-Ob-Philosophie, 92 ff. 1 6 5 A . a . O . , 90, 92, 94, 97 und 98. 1 6 6 E. Adickes, Kant und die Als-Ob-Philosophie, 90. 1 6 7 A . a . O . , 98. 1 6 8 A . a . O . , 92. 163
Die reflektierende Urteilskraft überhaupt
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d a ß Gott existiert und nur das W a s ? , seine Beschaffenheit, unerkennbar ist. 169 Einer solchen Auffassung gegenüber schiene mir in der Tat sogar eher noch derjenige im Recht zu sein, der mit Kant daran erinnert, was es in Wahrheit ist, was der über die unveränderlichen Landesgrenzen des reinen Verstandes bis zum Horizont hinausschweifende und den Schein für Sein nehmende Blick der spekulativen Vernunft erfaßt: Nichts. 1 7 0 Strenggenommen ist es so, daß wir nur ein Etwas vorausgesetzt haben, von dem wir gar keinen Begriff haben, was es an sich selbst sei. Wir haben uns jenes unbekannte Wesen nur nach der Analogie mit einer Intelligenz gedacht, d. h. es in Ansehung der Zwecke, die sich auf demselben gründen, mit den Eigenschaften begabt, die nach den Bedingungen unserer Vernunft den Grund einer systematischen und zweckmäßigen Einheit enthalten können. 1 7 1 Mehr als diesen subtilen Anthropomorphismus 1 7 2 , durch den wir uns in Analogie zu unserem diskursiven Verstand (intellectus ectypus) einen intuitiven Verstand (intellectus archetypus) und eine ihm korrespondierende intellektuelle Anschauung 173 denken, erlaubt die Kritik nicht. Die Einsicht in die kritische Reflexion über den Unterschied der Verstandeseinheit von der Vernunfteinheit — im Hinblick auf welche wir befugt sind, so über die Natur zu reflektieren, als ob sie ein von dem unseren unterschiedener Verstand zweckmäßig eingerichtet hätte — die metakritische Einsicht in jene Reflexion als bloße Reflexion, in der wir eigentlich nur dazu berechtigt sind, so zu reflektieren, als ob die Verstandeseinheit (bzw. der diskursive Verstand) von der Vernunfteinheit (bzw. dem intuitiven Verstand) unterschieden sei, scheint verstellt. Die Entgegensetzung von Reflexion und Bestimmung und mit ihr diejenige von intuitivem und diskursivem Verstand — ergibt sich aber als eine Einteilung der Reflexion, als eine Einteilung also, die selbst in die Reflexion fällt.
169 170 171 172 173
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
a.a.O., a.a.O., a.a.O., K.r.V., a.a.O.,
96. 87/8, Anm. 12 und K.r.V., A 290/ В 346 (331) ff. А 698/ В 726 (646). А 700/ В 728 (648). А 695/ В 723 (644) und K.U., § 77, 344ff. (270ff.).
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
2. Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft und die Unterscheidung von Vernunftidee und ästhetischer Idee (Kritik der Urteilskraft, § 57 Anm. I) Zur Klärung des Kantischen Begriffs der Spekulation wurde zunächst der spekulative Vernunftgebrauch v o n d e m r e g u l a t i v e n G e b r a u c h d e r I d e e n d e r r e i n e n V e r n u n f t unterschieden. Insofern nun die reflektierende Urteilskraft der regulativen und die als bestimmende Urteilskraft mißverstandene reflektierende Urteilskraft der spekulativen Vernunft entsprach, ging es zunächst vor allem um die Untersuchung des Verhältnisses der bestimmenden Urteilskraft und der reflektierenden U r t e i l s kraft überhaupt. Da nun die K r i t i k d e r U r t e i l s k r a f t von der Unterscheidung der ästhetisch reflektierenden und der teleologisch reflektierenden Urteilskraft ausgeht — wobei nach Kant eigentlich nur die ästhetische Urteilskraft ein besonderes Vermögen ist, während die teleologische nur die reflektierende Urteilskraft überhaupt ist 174 — möchte ich zunächst noch einmal genauer auf das Verhältnis von (logisch) bestimmender und ä s t h e t i s c h r e f l e k t i e r e n d e r Urteilskraft eingehen und dadurch auf Hegels Ausführungen über die „Kunst-Religion" vorbereiten. 175 Abschließend möchte ich dann auf Kants K r i t i k aller s p e k u l a t i v e n T h e o l o g i e als mißverstandener Teleologie zu sprechen kommen und durch Kants Kritik der Sätze dieser Theologie als mißverstandene t e l e o l o g i s c h r e f l e k t i e r e n d e U r t e i l e in Hegels Ausführungen über den spekulativen Satz einleiten. 176 Zunächst sollen also einige Erklärungen Kants über den Unterschied zwischen einer Vernunftidee und einer ästhetischen Idee bzw. zwischen dem Ideal der Vernunft und dem Ideal der Einbildungskraft vorangestellt werden: Unter Idee im allgemeinen ist eine Vorstellung zu verstehen, die nie eine Erkenntnis werden kann. In Anmerkung I zu § 57 der „Kritik der Urteilskraft", von der bei den folgenden Überlegungen ausgegangen werden soll, sagt Kant: „Eine ä s t h e t i s c h e I d e e kann keine Erkenntnis werden, weil sie eine A n s c h a u u n g 174 Vgl. K.U., LH. In der ersten Einleitung sagt Kant: „Es ist also eigentlich nur der Geschmack, und zwar in Ansehung der Gegenstände der Natur, in welchem allein sich die Urteilskraft als ein Vermögen offenbart, welches sein eigentümliches Prinzip hat, und dadurch auf eine Stelle in der allgemeinen Kritik der obern Erkenntnisvermögen gegründeten Anspruch macht, den man ihr vielleicht nicht zugetrauet hätte." (Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 53). 175 Vgl. Kap. I, 2 dieser Arbeit. 176 Vgl. Kap. I, 3 dieser Arbeit.
Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft
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(der Einbildungskraft) ist, der niemals ein Begriff adäquat gefunden werden kann. Eine V e r n u n f t i d e e kann nie Erkenntnis werden, weil sie einen B e g r i f f (vom Übersinnlichen) enthält, dem niemals eine Anschauung angemessen gegeben werden kann. Nun glaube ich, man könne die ästhetische Idee eine i n e x p o n i b l e Vorstellung der Einbildungskraft, die Vernunftidee aber einen i n d e m o n s t r a b e l e n Begriff der Vernunft nennen." 1 7 7 „ . . . unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstellung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, ohne daß ihr doch irgendein bestimmter Gedanke, d.i. B e g r i f f , adäquat sein kann, die folglich keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. — Man sieht leicht, daß sie das Gegenstück (Pendant) von einer V e r n u n f t i d e e sei, welche umgekehrt ein Begriff ist, dem keine A n s c h a u u n g (Vorstellung der Einbildungskraft) adäquat sein k a n n . " 1 7 8 „Mit einem Worte, die ästhetische Idee ist eine, einem gegebenen Begriffe beigesellte Vorstellung der Einbildungskraft welche mit einer solchen Mannigfaltigkeit von Teilvorstellungen in dem freien Gebrauche derselben verbunden ist, daß für sie kein Ausdruck, der einen bestimmten Begriff bezeichnet, gefunden werden kann, die also zu einem Begriffe viel Unnenn177
K . U . , 240 (201). Der junge Hegel fügt ohne Umstände hinzu: . . als ob nicht die ästhetische Idee in der Vernunftidee ihre Exposition, die Vernunftidee in der Schönheit dasjenige, was Kant Demonstration nennt, nämlich Darstellung des Begriffs in der Anschauung, hätte." (SW Bd. 1, 316). Hegels Begriff der absoluten Idee als des absoluten Wissens ihrer selbst (vgl. Log. II, 413) ist in umständlicher immanenter Kritik der Kantischen Begriffe der ästhetischen Idee und der Vernunftidee zu gewinnen. (Zu den Ausführungen dieses Teils der Einleitung vgl. weiter unten insbes. Kap. II, 3 dieser Arbeit). O b Hegel nun in allen Punkten seiner explizit vorgetragenen Kantkritik — gedacht ist hier nicht nur an die weniger glücklichen Ausführungen in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" (SW Bd. 19, 551—611) - Kant in seiner Differenziertheit gerecht geworden ist, muß — wie gesagt — als fraglich erscheinen. Es ist sogar die Frage, ob sich nicht mitunter das, was „als immanente Kritik angelegt ist, in abstrakte Negation" verwandelt. (J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Frankfurt 1968, Hegels Kantkritik: Radikalisierung oder Aufhebung der Erkenntnistheorie, 17/8). Deshalb wäre m . E . hier nicht genug damit getan, Hegels Äußerungen zur kritischen Philosophie einfach aufzunehmen. Der Weg, den Hegel mit Siebenmeilenstiefeln beschritten hat, sollte in ganz kleinen Schritten gegangen werden. — Auch sollten die Antworten Hegels auf Kant nicht zuletzt da gesucht werden, wo Hegel nicht expressis verbis auf Kant zu sprechen gekommen ist. Es ist zu prüfen, inwiefern Hegel in der Entwicklung der Denkbestimmungen die Konsequenzen aus der kritischen Reflexion Kants gezogen hat. — O b eine solche Prüfung im Einzelnen in dieser Arbeit in allen Stücken gelungen ist, kann bezweifelt werden. Die Auseinandersetzung zwischen Kant und Hegel bleibt weiterhin eine schwierige Aufgabe.
178
K . U . , 192/3 (167/8).
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
bares hinzudenken läßt, dessen Gefühl die Erkenntnisvermögen belebt und mit der Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet." 1 7 9 Ästhetische Ideen veranlassen uns, auf unbestimmte Weise mehr zu denken, als sich in einem bestimmten Begriff, in einem bestimmten Sprachausdruck zusammenfassen läßt. 1 8 0 Unter Ideal im allgemeinen ist die Vorstellung eines einzelnen, einer Idee adäquaten Wesens zu verstehen, 1 8 1 eine Idee in individuo. 1 8 2 Das Ideal der Vernunft ist Gott. Von ihm muß das Ideal der E i n b i l d u n g s k r a f t unterschieden werden. 1 8 3 „ N u r das, was den Zweck seiner Existenz in sich selbst hat, der M e n s c h , der sich durch Vernunft seine Zwecke selbst bestimmen, oder, wo er sie von der äußeren Wahrnehmung hernehmen muß, doch mit 179 180 181 182 183
A . a . O . , 197 (171). Vgl. a . a . O . , § 49, 192 (167) ff. Vgl. a . a . O . , 54 (73). Vgl. K . r . V . , A 568/ В 596 (549). Vgl. K . U . , 53 (72) ff. und K . r . V . , А 570/ В 598 (550/1). Kant unterscheidet zwischen der reproduktiven Einbildungskraft und der produktiven Einbildungskraft, die auch als reine bzw. transzendentale Einbildungskraft auftritt. Hegel unterscheidet in „Glauben und Wissen" (vgl. SW Bd. 1, 294—327) nicht streng zwischen produktiver und transzendentaler Einbildungskraft. Man kann — wie W . Biemel das getan hat (vgl. W. Biemel, Die Bedeutung von Kants Begründung der Ästhetik für die Philosophie der Kunst, Köln 1959, § 15c) — nun genaugenommen vier Formen der Einbildungskraft bei Kant unterscheiden, nämlich 1. die empirisch-reproduktive, 2. die empirisch-produktive, die auch dichtende heißt und das Vermögen der ästhetischen Ideen ist, 3. die reine produktive, die die Schemata der sinnlichen Begriffe bildet und 4. die transzendentale Einbildungskraft, die die Schemata der reinen Verstandesbegriffe bildet. (Vgl. K . r . V . , А 141/2 / В 181 (200)). Diese verschiedenen Formen der Einbildungskraft stehen jedoch — wie W. Biemel hervorgehoben hat — nicht beliebig nebeneinander, sondern sind so ineinander fundiert, daß die transzendentale als die Voraussetzung der reinen produktiven, diese als Voraussetzung der empirisch-produktiven und die empirisch-produktive als Voraussetzung der empirisch-reproduktiven angesehen werden kann. Insofern ist es durchaus gerechtfertigt, der produktiven Einbildungskraft eine transzendentale Funktion zuzusprechen. In „Glauben und Wissen" betont der junge Hegel die transzendentale Funktion der produktiven Einbildungskraft (vgl. SW Bd. 1, 299 und 310) (die er ohne Umstände als wahrhaft spekulative Idee bezeichnet), indem er zunächst bei der Erörterung der Vernunft im Vermögen unseres Verstandes zur ursprünglichen synthetischen Einheit der Apperzeption das Prinzip der figürlichen Synthesis die Idee der Einbildungskraft erblickt (und sie insofern als Bedingung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori ansieht), (vgl. a . a . O . , 296—315) und dann bei der Erörterung der reflektierenden Urteilskraft diese Idee der transzendentalen Einbildungskraft als Idee des anschauenden Verstandes erkennt. (Vgl. a . a . O . , 315—324). Vermittels der transzendentalen Einbildungskraft erblickt er im diskursiven den intuitiven Verstand. Daß der Einbildungskraft später alledings nicht mehr eine so bedeutende Funktion zugesprochen wird, zeigt sich z . B . daran, daß Hegel im Zusammenhang mit der Würdigung der ursprünglichen Synthesis der Apperzeption als „eines der tiefsten Prinzipien für die spekulative Entwicklung" (Log. II, 227; vgl. auch a . a . O . , 221 und 445) nicht mehr von der Einbildungskraft spricht.
Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft
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wesentlichen und allgemeinen Zwecken zusammenhalten und die Zusammenstimmung mit jenen alsdann auch ästhetisch beurteilen kann: dieser M e n s c h ist also eines Ideals der S c h ö n h e i t , sowie die Menschheit in seiner Person als Intelligenz des Ideals der V o l l k o m m e n h e i t unter allen Gegenständen in der Welt allein fähig." 1 8 4 Versteht man unter einem Schema die direkte Darstellung eines Begriffs durch Demonstration, unter einem Symbol dagegen die indirekte Darstellung eines Begriffs durch eine Analogie, so kann man mit Kant sagen, das Schöne sei das Symbol des Sittlichguten. 185 Etwas anders ausgedrückt heißt das: Eine Vernunftidee kann zwar nicht demonstriert, d. h. direkt dargestellt werden, aber sie kann doch indirekt (per analogiam) dargestellt werden durch eine ästhetische Idee. Wir dürfen nach Kant also eine ästhetische Idee nicht als Demonstration einer logischen Idee betrachten, wohl aber dürfen wir sie uns vorstellen, als ob sie die Demonstration einer logischen Idee wäre. Umgekehrt ist es möglich, sich eine logische Idee so vorzustellen, als ob sie die Exposition einer ästhetischen Idee wäre. Entsprechend könnten wir uns (per analogiam) das mit intuitivem Verstand begabte Ideal der Vernunft anthropomorphistisch so vorzustellen, als ob es die Exposition des Ideals der Einbildungskraft und dieses die Demonstration des Ideals der Vernunft wäre. Diese Problematik wird noch metakritisch zu betrachten sein.
Logisches, teleologisches und ästhetisches Urteil Uberschaut man die reflektierende Urteilskraft im Hinblick auf die bestimmende vom kritischen Standpunkt des „als o b " , so erkennt man zunächst folgende Unterschiede zwischen logischem, teleologischem und ästhetischem Urteil. 1 8 6 Im logischen Urteil bestimmen wir die Objekte durch unseren Verstand (intellectus ectypus), indem wir Anschauung und Begriff zu einer bestimmten Erkenntnis vereinigen; im teleologischen reflektieren wir über ein Objekt, als ob ein Verstand (intellectus archetypus) die Ursache der Zweckmäßigkeit des Objekts für die Vereinigung von Anschauung und Begriff zur bestimmten Erkenntnis sei, und im ästhetischen reflektieren wir über ein Objekt, als ob ein Verstand (intellectus arche184
K . U . , 5 5 / 6 (74).
Vgl. a . a . O . , § 59, 254 (211) ff. 186 Vgl. dazu die Einleitung meiner Dissertation, Metakritik der ästhetischen Urteilskraft. 185
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
typus) die Ursache der Zweckmäßigkeit des Objekts für die Zusammenstimmung von Anschauung und Begriff zur Erkenntnis überhaupt (zur Möglichkeit einer Erkenntnis) sei. In der Deduktion der Geschmacksurteile 1 8 7 sagt Kant, daß die Urteilskraft im reinen Geschmacksurteil auf dasjenige Subjektive gerichtet sei, das man in allen Menschen („als zum möglichen Erkenntnisse überhaupt erforderlich") voraussetzen könne. In § 39 heißt es mit anderen Worten, daß die Lust am Schönen notwendig bei jedermann auf denselben Bedingungen beruhen müsse, weil sie subjektive Bedingungen der Möglichkeit einer Erkenntnis überhaupt seien, und die Proportionen dieser zum Geschmack erforderlichen Erkenntnisvermögen auch zum gemeinen Verstände erforderlich sei. 1 8 8 Angesichts der Tatsache, daß die Bedingung der Möglichkeit der reinen ästhetischen Beurteilung 1 8 9 einer freien Schönheit (pulchritudo vaga) 1 9 0 die ästhetische Zweckmäßigkeit des schönen Objekts für das freie Zusammenspiel von Anschauung und Begriff zu einer Erkenntnis überhaupt ist, diese ästhetische Zweckmäßigkeit aber ein transzendentales Prinzip ist, das als principium vagum bezeichnet werden kann 1 9 1 , könnte man diese Erkenntnis überhaupt im Unterschied zu der an einem Begriff hängenden (der auf einen Begriff fixierten) Erkenntnis mit Kant vielleicht als freie (vage) Erkenntnis bezeichnen. Mit ihr ist „eine gewisse L i b e r a l i t ä t der Denkungsart" 1 9 2 verbunden. Sind wir in unserer Verstandesbestimmung auf Kategorien, d. h. auf Begriffe von einem Gegenstand überhaupt angewiesen, „dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der l o g i s c h e n F u n k t i o n e n zu Urteilen als b e s t i m m t angesehen w i r d " 1 9 3 , während wir uns in der Vernunftreflexion von der Idee eines Ideals leiten lassen, in dem (gleichsam als focus) alle Kategorien als zusammenlaufend und vor dem Verstand versammelt wenigstens imaginiert werden, 1 9 4 reflektieren wir dann über das in der Anschauung gegebene Mannigfaltige nicht vernünftigerweise so, als ob es in Ansehung aller logischen Funktionen zu Urteilen auf einmal sozusagen als ,bestimmt überhaupt' oder besser gesagt als mit unserer Urteilskraft überhaupt übereinstimmend und ihr angemessen ange187 188 189 190 191 192 193 194
Vgl. K . U , § 38, 151 (140). Vgl. a . a . O . , § 39, 155 (143), vgl. auch § 9. Vgl. a . a . O . , 118/9 (117/8). Vgl. a . a . O . , § 16. Vgl. K.r.V., A 680/ В 708 (633). K . U . , 116 (115). K.r.V., В 128 (136). ,,Im Ideal der reinen Vernunft" sind „alle Categorien in einer Idee beysammen". Kants Schriften. Werke XVIII, 223, Nr. 5553, vgl. K.r.V., А 580/ В 608 (558).
Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft
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sehen werden kann? Ist die Verstandesbestimmung durch die distributive bzw. synthetische Einheit der Apperzeption nicht selbst nur rückbezüglich der kollektiven bzw. systematischen und zweckmäßigen Einheit der Vernunft zu erreichen und ist es insofern nicht im Grunde der Vernunftbegriff der transzendentalen Zweckmäßigkeit, den wir unter dem fremden Namen der transzendentalen Affinität in dem Grundsatz der synthetischen Einheit der Apperzeption als dem Grund der Möglichkeit der Verstandesbegriffe antreffen? Setzen wir nicht, auch indem wir im Begriff sind, vermittels des „Vehikels" 1 9 5 der synthetischen Einheit der transzendentalen Apperzeption eine Verstandeshandlung auszuführen, die darauf abzweckt, die Natur zu nötigen, sich nach unserer Erkenntnis zu richten, um durch diese Präformation der Natur die R i c h t i g k e i t bestimmender synthetischer Urteile a priori zu sichern, bereits die Angemessenheit dieser Handlung und mithin in W a h r h e i t eine Entsprechung des Verstandes als des Richters, der die Vernehmung vornimmt, und der Natur als der Zeugin, die genötigt ist, auf dessen Fragen zu antworten, voraus? 1 9 6 .
195 196
Vgl. K.r.V., A 341/ В 399 (371). J. Simon hat in seinem Aufsatz „Freiheit und Urteil bei Kant" (J. Simon, Freiheit und Urteil bei Kant, in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Teil II. 1, 141 ff.) die Transzendentalität der ästhetischen Zweckmäßigkeit des schönen Objekts für das freie Zusammenspiel von Anschauung und Begriff zur Möglichkeit einer Erkenntnis (zu einer Erkenntnis überhaupt) hervorgehoben und darauf aufmerksam gemacht, daß die Freiheit des Urteilsvermögens letztlich als Bedingung dafür angesehen werden muß, daß überhaupt gedacht oder geurteilt werden kann. „ I m Gegenstand des Geschmacksurteils schaut das Subjekt sein reines Vermögen an, objektive Urteile zu fällen. Es hält sich in dieser Freiheit auf, ohne sich wirklich zu einer bestimmten Urteilshandlung zu entscheiden. Die Vorstellungen werden angesehen als solche, die vermöge der logischen Formen kategorisiert werden k ö n n t e n . Das Subjekt versteht sich aber noch als Spielen mit den Möglichkeiten solcher Kategorisierung." ( A . a . O . , 144). „Indem das Subjekt auf sich als auf ein freies Urteilsvermögen reflektiert, weiß es sich v o r dem Eintritt in solche Zusammenhänge als freies Spiel seiner noch nicht durch VorBestimmungen und Vor-Urteile gelenkten Erkenntniskräfte, wenngleich der Begriff des eindeutig b e s t i m m t e n Objekts als des objektiven Korrelats dieses (vorurteilsfreien) Urteilsvermögens sich dann doch zugleich nur mit dem Verlassen dieses freien Spiels und mit einer „Neigung" zu einer der a priori möglichen Bestimmungsformen ergeben kann." ( a . a . O . , 156). In Simons Aufsatz „Satz, Text und Diskurs in transzendentalphilosophischer und sprachlogischer Reflexion a . a . O . , 212ff., wird deutlich, daß die transzendentale Logik, indem sie voraussetzt, daß ein Subjekt eine Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen als bestimmt ansieht, im Grunde von dem Entschluß des Subjekts handelt, eine der logischen Möglichkeiten auszuwählen als die Form, in der es mit seiner Bestimmung eines Gegenstandes als Einheit zum Schluß zu kommen gedenkt. Die Be-
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Vom kritischen Standpunkt des „als o b " aus betrachtet, kann man die Unterschiede zwischen logischem, teleologischem und ästhetischem Urteil auch so sehen: Im logischen Urteil urteilen wir über die Objekte durch unseren Verstand, indem wir das in einer Anschauung gegebene Mannigfaltige in einem bestimmten Begriff des Objekts vereinigen; im teleologischen Urteil urteilen wir über ein Objekt, als ob ein Verstand die Ursache der Zweckmäßigkeit für die Vereinigung des in einer Anschauung gegebenen Mannigfaltigen in einem bestimmten Begriff wäre; und im ästhetischen Urteil urteilen wir über ein Objekt, als ob ein Verstand die Ursache der Zweckmäßigkeit des Objekts für die Zusammenstimmung des in der Anschauung gegebenen Mannigfaltigen zur Möglichkeit eines Begriffs (unbestimmt welcher) wäre. 1 9 7 Das logische sowohl als auch das teleologische Urteil sind Erkenntnisurteile (wenn auch das teleologische Urteil nur ein der reflektierenden Urteilskraft angehöriges Urteil ist) 1 9 8 , bei denen Einbildungskraft und Verstand in einer comprehensio logica (teleologische und logische Urteilskraft) zu einem bestimmten Begriff zusammenstimmen. Insofern das teleologische Urteil im Unterschied zum ästhetischen ein Erkenntnisurteil ist, ist es leichter, das l o g i s c h e (bestimmende) Urteil im t e l e o l o g i s c h e n (reflektierenden) Urteil zu finden. Zur Einsicht in ein solches Aufgehobensein des logischen Setzens im teleologischen Voraussetzen ist freilich wieder nur auf einem metakritischen Umweg zu gelangen. Wenn die Kritik nicht gezwungen wäre, sogleich wieder zu vergessen, daß es bloß eine Reflexion ist, wenn sie über den Unterschied von Reflexion und Bestimmung und deren Selbständigkeit reflektiert, um nicht den festen Boden der Natur — als Dasein der Dinge unter Gesetzen — unter den Füßen zu verlieren und damit den sicheren Gang der Philosophie als Wissenschaft zu gefährden, so müßte sie zur Selbstkritik ihrer Subreption der kritischen Reflexion (über den Unterschied von Bestimmung und Reflexion) als Bestimmung kommen, bzw. zur metakritischen Unterscheidung des regulativen Gebrauchs der Reflexion (über den Unterschied von spekulativ gebrauchter und regulativ gebrauchter Vernunft) und des spekulativ-konstitutiven Gebrauchs. Auf dem kritischen Weg wird von der Voraussetzung der Verschiedenheit des im Namen des Teleologischen auftretenden Logischen (vom LogischBestimmenden) ausgegangen bzw. dieses Logische wird bloß als das Logische der Reflexion angesehen. „Es wird also die Ä s t h e t i k der reflektie-
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stimmung eines Gegenstandes ist so als Selbstbestimmung des Denkens gegenüber vorgestellten Möglichkeiten zu denken. (Vgl. a . a . O . , 214ff.). Vgl. K . U . , 11 (44) und Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 39. Vgl. a . a . O . , 27/8 und K . U . , Vorrede, VIII (4).
Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft
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renden Urteilskraft einen Teil der Kritik dieses Vermögens beschäftigen, so wie die L o g i k ebendesselben Vermögens, unter dem Namen der T e l e o l o g i e , den andern Teil derselben ausmacht." 1 9 9 Im Unterschied zum logischen und zum teleologischen ist das ästhetische Urteil kein Erkenntnisurteil. Bei ihm stimmen Einbildungskraft und Verstand in einer comprehensio aesthetica (ästhetische Urteilskraft) zur Möglichkeit eines Begriffs zusammen. 200 Im ästhetischen sowohl als auch im teleologischen Urteil urteilen wir über ein Objekt, indem wir zum hypothetischen Gebrauch eine transzendentale Zweckmäßigkeit als regulatives Prinzip präsumieren. Im logischen Urteil dagegen bestimmen wir Objekte, indem wir zum apodiktischen Gebrauch unter transzendentale Verstandesbegriffe subsumieren, die in bezug auf Erscheinungsgegenstände von konstitutivem Gebrauch sind. Ästhetische Reflexion und logische Bestimmung Zur Kritik der transzendentalen Subreption der comprehensio aesthetica als comprehensio logica Zusammenfassend kann man sagen: Die reflektierende Urteilskraft reflektiert als ästhetische Urteilskraft unter der Leitung der Vernunftidee eines intellectus archetypus über die ästhetische Zweckmäßigkeit des Objekts für die Zusammenfassung des Mannigfaltigen in die Einheit eines Bildes, das allen Gestalten, die die reproduktive Einbildungskraft in Erinnerung zurückruft, zum gemeinschaftlichen Maße dient und deshalb Urbild (Archetypon) oder ästhetische Idee genannt werden kann. 2 0 1 Anders ausgedrückt: Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft reflektiert unter der Leitung einer unbestimmten Vernunftidee (d.h. eines indemonstrablen Vernunftbegriffs) über die Natur, insofern sie zweckmäßig ohne Zweck, gesetzmäßig ohne Gesetz 2 0 2 , begriffsmäßig ohne Begriff ist, d.h. insofern das Mannigfaltige von der produktiven Einbildungskraft in einem Augenblick in eine Anschauung als Maß 2 0 3 , in eine ästhetische Idee, d.h. in eine inexponible Vorstellung der Einbildungskraft zusammengefaßt werden kann. 199 200
201 202 203
Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, 58. Uber das Zusammenspiel von Einbildungskraft und Verstand in der comprehensio aesthetica vgl. den vierten Teil meiner Dissertation. Vgl. K . U . , 207 (178). Vgl. a . a . O . , 69 (82/3). Vgl. a . a . O . , 101 (105).
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Eine in diesem Zusammenhang stehende Äußerung Kants bezüglich des Erhabenen scheint mir eine über die Untersuchung des Gefühls des Erhabenen hinausgehende Bedeutung zu haben. „. . . die Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit nicht des Gedankens, sondern der Anschauung, mithin des Sukzessiv-Aufgefaßten in einen Augenblick, ist dagegen ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progessus der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Z u g l e i c h s e i n anschaulich macht." 2 0 4 Das Zugleichsein ist das Verstandesschema der Kategorie der Wechselwirkung 205 , die, erweitert man sie bis zum Unbedingten, zur Idee des Ideals wird 2 0 6 , das als Vernunftschema des Begriffs der transzendentalen Zweckmäßigkeit zu betrachten ist, der als Prinzip der ästhetischen Reflexion (über das Schöne wie über das Erhabene) dient. 2063 Geht man davon aus, daß die Verstandesbestimmung nur nach Maßgabe der Vernunftreflexion über die Zweckmäßigkeit oder Angemessenheit der Natur für den menschlichen Verstand stattfinden kann, und betrachtet nun diese transzendentale Zweckmäßigkeit in Gestalt der transzendentalen ästhetischen Zweckmäßigkeit, so wird man mithin davon ausgehen müssen, daß die logische, intellektuelle Zusammenfassung bzw. Z u s a m m e n s e t z u n g des Mannigfaltigen der A n s c h a u u n g in der Einheit eines bestimmten B e g r i f f s , d.h. eines bestimmten S p r a c h a u s d r u c k s nur in dem Maße zustande kommen kann, in dem eine Ubereinstimmung und E n t s p r e c h u n g oder — Kantisch gesagt — eine Korrespondenz des V e r m ö g e n s der A n s c h a u u n g (der Einbildungskraft) und des V e r m ö g e n s der B e g r i f f e (des Verstandes) v o r a u s g e s e t z t ist, deren wir in der ästhetischen Reflexion inne werden, eine Korrespondenz, die der die Methode des Naturforschers nachahmende Verstand gleichsam abbricht, wenn er sich ans Bestimmen, d.h. ans Buchstabieren der Erscheinungen der Natur macht — um im Experiment das für den Wissenschaftler Brauchbare herauszulesen — und gezwungen ist, davon abzusehen, daß er als vernünftiger Verstand je schon über die ChiffrenK . U . , 99 (104); vgl. SW Bd. 1, 408 und 428, wo Hegel die Reihenfolge aus dem Spekulativen ausschließt. 2 0 5 Vgl. K.r.V., A 144/ В 183/4 (202). 2 0 6 Vgl. a . a . O . , А 321/ В 377 (355) ff. und А 409/ В 436 (440). 206iуg], den Aufsatz des Verfassers: Transzendentale Ästhetik und ästhetische Reflexion. Bemerkungen zum Verhältnis von vorkritischer und kritischer Ästhetik Kants, in dem die Simultaneität als .Reflexionsschema' der inneren Zweckmäßigkeit gefaßt und die These vertreten wird, daß der Zeitmodus der Simultaneität die Verbindung der vorkritischen Begründung der Geschmackslehre in der Lehre von Raum und Zeit und der kritischen Begründung der Geschmackslehre in der inneren Zweckmäßigkeit deutlich macht. 204
Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft
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schrift reflektiert hat, „wodurch die Natur in ihren schönen Formen figürlich zu uns spricht." 2 0 7 Auch der Ausdruck ästhetischer Ideen in der Kunstschönheit geschieht nach Kant „nach der Analogie einer Sprache". 2 0 8 Der „cyklopische" Verstand aber — um hier einen von Kant in anderem Zusammenhang selbst verwendeten Ausdruck aufzunehmen 209 — der jederzeit „geschäftig" ist, „die Erscheinungen in der Absicht durchzuspähen, um an ihnen irgendeine Regel aufzufinden" 210 , hat kein Auge für die schönen Formen, keinen Sinn für die ästhetische Reflexion. Deshalb kann er von der spekulativen Vernunft, d.h. von der unter dem Namen der Bestimmung auftretenden Reflexion überlistet werden. Ist nicht im Stillschweigen beim Vernehmen der stummen Sprache(n) der Natur und der Kunst die gesprochene Sprache aufgehalten oder besser gesagt zurückgenommen und aufgehoben? 211 Mit anderen Worten: Enthält das A n g e s p r o c h e n s e i n vom Schönen beim ästhetischen synthetischen Reflexionsurteil a priori o h n e B e g r i f f e nicht die dialektische Gegenbewegung, sozusagen den Gegenstoß gegen das logische synthetische Urteil a priori d u r c h B e g r i f f e , den Gegenstoß im Moment der Konstitution der Anschauungsgegenstände, der uns allererst im B e g r i f f sein läßt, bei der Beurteilung, d.h. Bestimmung eines Gegenstandes zum Schluß zu kommen? 2 1 2 Auf diese Fragen erhalten wir bei Kant keine Antwort. Die Kritik der ästhetischen Urteilskraft klärt uns lediglich darüber auf, daß wir ästhetisch so reflektieren können, als ob in der übersinnlichen Vernunftidee eines intuitiven Verstandes der Grund der ästhetischen Zweckmäßigkeit des Objekts für die Zusammenstimmung unserer Einbildungskraft und unseres Verstandes in einer ästhetischen Komprehension zu einer sinnlichen ästhetischen Idee, d.h. zu einer Anschauung mit intuitiver (ästhetischer) Deutlichkeit zu suchen wäre. Ebenso unvermeidlich nun wie die reflektierende Urteilskraft überhaupt bestimmend zu sein schien, wird die ästhetische Komprehension der ästhetisch reflektierenden Urteilskraft logische Komprehension zu sein scheinen.
207 208 209 210 211 212
K . U . , 170 (153). A . a . O . , 209 (179), Anm., vgl. 204 (176) u. 211 (180). Vgl. Kants Schriften. Werke IX, 45. K.r.V., A 126 (185a). Vgl. Kap. I, 2 dieser Arbeit. Vgl. dazu B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein; Bd. 6/3, 472/3 und ders., Sprache und Kunst, in: bewußt sein, Gerhard Funke zu eigen, hrsg. von A. J. Bucher, H. Drüe und Th. M. Seebohm, Bonn 1975, 425.
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Dieser transzendentale Schein besteht darin, daß nicht mehr nur indirekt von einer ästhetischen Idee (bzw. dem ästhetischen Ideal) als Darstellung einer Vernunftidee (bzw. des Ideals der Vernunft) die Rede ist und umgekehrt nicht nur per analogiam von einer Vernunftidee (bzw. dem Ideal der Vernunft) als Exposition einer ästhetischen Idee (bzw. des ästhetischen Ideals) gesprochen wird. Die transzendentale Kritik hat zu verhindern, daß wir von diesem trüglichen Schein hintergangen werden. 2 1 3 Sie klärt uns darüber auf, daß eine ästhetische Idee unserer Einbildungskraft (als etwas Sinnlichem) uns nur die wirkliche Darstellung (die wirkliche Erscheinung) einer Vernunftidee (als etwas Ubersinnlichem) zu sein scheint (daß sie nur ein focus imaginarius ist), daß das Ideal der Einbildungskraft uns nur das wirkliche Bild des Ideals der Vernunft zu sein scheint, daß wir jedoch nicht dahinter kommen können, was dieses Ideal an sich ist, daß wir uns in Wirklichkeit kein Bild von ihm machen dürfen. Die Aufgabe der Kritik der Kritik der schlechten Spekulation ist es, diese Kritik in ihrem Geschäft der Aufklärung über sich selbst aufzuklären. Wenn es nun so ist, daß wir nur berechtigt sind, die ästhetische Idee als Demonstration der vernünftigen Idee zu denken — nicht dagegen berechtigt sind zu der Annahme, daß dadurch etwas erkannt würde — wenn wir also in der kritischen Reflexion nur so tun dürfen, als ob die sinnliche Idee die Demonstration der übersinnlichen Idee wäre, entspringt dann die Uberlegung, daß wir nur denken, daß wir die ästhetische Idee als Demonstration der vernünftigen Idee nur denken (bzw. daß die Erscheinung der übersinnlichen Idee im Sinnlichen nur ein bloßer Schein zu sein scheint) nicht wiederum bloß der List der spekulativen, die Kritik hintergehenden Vernunft, die — etwas umständlich ausgedrückt — darin bestehen könnte, nur so zu tun, als ob man nur so tue, als ob die ästhetische Idee die Demonstration der Vernunftidee wäre, um auf diesem Wege der Erschleichung dahinter zu kommen, d.h. erkennen zu können, ob der Vernunftbegriff in der Schönheit wirklich seine Darstellung in der Anschauung hat? Ist es nicht die Aufgabe der kritischen Reflexion, hier einen Gegenstoß zu unternehmen gegen die Anmaßung der spekulativen Bestimmung, die, nach der Art unseres Verstandes als eines diskursiven, auf den transzendenten Begriff von einem Gegenstand glaubt gehen zu können, zu der wir aber doch in keiner Erfahrung gelangen können, weil ihm niemals eine Anschauung angemessen gegeben werden kann, zur Idee eines Verstandes 213
Vgl. K.r.V., A 702/3 /В 730/1 (649).
Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft
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nämlich, den wir bloß negativ als einen Verstand denken können, der „nicht der unsrige" 214 ist? Es ist nun in der Tat so, daß wir von der Kritik durch die Reflexion über die Nichtidentität von diskursivem und intuitivem Verstand zurecht aufgeklärt und vor einem Rückfall in das Scheinwissen der dogmatischen spekulativen Metaphysik gewarnt werden, der dem reinen Vernunftglauben den Platz streitig machte. Ist es dann aber nicht die weitergehende Aufgabe der metakritischen Reflexion der Reflexion, zur Einsicht in diese Reflexion über die Nichtidentität des diskursiven und des (anderen) göttlichen Verstandes als Reflexion zu bringen, die in unseren Verstand als den menschlichen fällt, in dem - als vernünftigem, sich von sich u n t e r s c h e i d e n d e m , sich gleichsam von sich abstoßendem und zu dem von ihm v e r s c h i e d e n e n hinübersetzenden Verstand — der eine mit dem anderen Verstand zusammenfällt? Ist nicht in der wahrhaften Spekulation eingesehen, was hinter dem Spiegel steckt, in dem im Ubersinnlichen das Sinnliche erkannt wird, nämlich n i c h t s ? Vorgreifend kann zum Schluß dieser Ausführungen über die ästhetische Reflexion bemerkt werden, daß die absolute Identität der Menschen und der Götter in Gestalt der absolut selbständigen heroischen (göttergleichen) Ideale der griechischen K u n s t r e l i g i o n aus der ägyptischen n a t ü r l i c h e n R e l i g i o n der reinen Form des Verstandes hervorgeht. 215 Im Zusammenhang damit, daß keine sprachliche Ä u ß e r u n g die ästhetische Idee völlig erreiche, macht Kant eine interessante Bemerkung: „Vielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der Isis (der Mutter N a t u r ) : „Ich bin alles, was da ist, was da war und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt."" 2 1 6 Die wahrhafte Spekulation zerstört gleichsam diesen Schleier, sie läßt uns in das dunkle Innere des Tempels der Göttin in Sais gehen. Es wird sich zeigen, daß hinter dem Schleier, der das I n n e r e verdecken soll, nichts zu sehen ist, wenn wir nicht selbst dahintergehen, „ebensosehr damit gesehen werde, als daß etwas dahinter sei, das gesehen werden kann." 2 1 7 Es wird mit etwas 214 215
216 217
K . U . , XXVII (16), vgl. a . a . O . , § 77. Vgl. Phä., 486ff. und SW Bd. 12, 212ff. und SW Bd. 13, 6 6 f f „ 378ff. und dazu Kap. I, 2 dieser Arbeit. K.U., 197 (171). Phä., 129, vgl. a . a . O . , 488/9 und SW Bd. 9, 43, SW Bd. 11, 290ff„ SW Bd. 15, 471/2 und dazu Kap. I, 2 dieser Arbeit.
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anderen Worten gesagt - die Erfahrung gemacht, daß Helios bzw. Apoll, der Gott der K u n s t und des Lichtes der Selbsterkenntnis, der Sohn der Mutter N a t u r ist. Sind in der griechischen Religion die Menschen den Göttern mehr oder weniger gleich, so wird in der christlichen, o f f e n b a r e n R e l i g i o n dagegen Gott Mensch. In der Einsicht, die sich in der „harten" Antwort — auf die Frage, ob Gott ist — ausspricht, daß Gott selbst tot ist, wird der geistige Skeptizismus der vergangenen Religion vollbracht. In der dialektischen Bewegung des p h i l o s o p h i s c h e n B e g r i f f s (bzw. des Satzes) ist schließlich die r e l i g i ö s e V o r s t e l l u n g der Auferstehung des absoluten W e s e n s aufgehoben. 218
3. Die teleologisch reflektierende Urteilskraft und die Physikotheologie als mißverstandene physische Teleologie (Die „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft" (K.r.V., I, Zweiter Teil, Zweite Abteilung, Zweites Buch, 3. Hauptst., 7. Abschn., A 631 IB 659-A 642!В 670)) Kants Begriff des spekulativen
Satzes
Ich hatte bisher versucht, die spekulative Vernunft zu kennzeichnen als vergegenständlichende hypostasierende Vernunft, die durch die transzendentale Subreption der hypothetisch reflektierenden als bestimmende Urteilskraft (der transzendentalen Zweckmäßigkeit für den diskursiven Verstand als metaphysische Zwecktätigkeit eines intuitiven Verstandes) und insbesondere als Subreption der ästhetischen Komprehension der ä s t h e t i s c h r e f l e k t i e r e n d e n U r t e i l s k r a f t als logische Komprehension der bestimmenden Urteilskraft zustandekommt. Zum Abschluß möchte ich auf Kants Kritik der spekulativen Theologie als Subreption der t e l e o l o g i s c h r e f l e k t i e r e n d e n U r t e i l s k r a f t und auf Kants Kritik der Sätze dieser spekulativen Theologie zu sprechen kommen. Zwischen dem Gebiet des Naturbegriffs als dem Sinnlichen und dem Gebiet des Freiheitsbegriffs als dem Ubersinnlichen besteht nach Kant eine „unübersehbare Kluft". 2 1 9 Der Begriff, den wir uns vom Grund der Einheit des Ubersinnlichen, das der Natur zugrunde liegt, mit dem, das der Freiheitsbegriff praktisch 218 Vgl. Phä., 67, 523 und 546 und SW Bd. 1, 433; vgl. dazu die Betrachtung der Bewegung des Satzes „Das absolute Wesen ist das Selbst" in Kap. I, 2 dieser Arbeit. 219
K.U., XIX (11).
Die teleologisch reflektierende Urteilskraft
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enthält, machen, ist der Begriff der transzendentalen Zweckmäßigkeit. Er macht den Ubergang von der sinnlichen Natur (natura ectypa) zur Sittlichkeit, welche eine „zweite (übersinnliche) Natur" 2 2 0 (natura archetypa) ist, möglich. Dieser Begriff der transzendentalen Zweckmäßigkeit der Natur für unseren Verstand, den wir uns vom Grund der Einheit des übersinnlichen Substrats in uns sowohl als außer uns machen, 2 2 1 nötigt uns, des Verständnisses der Einheit dieses Grundes wegen, eine einfache intelligente Substanz (nach der Analogie einer wirklichen Substanz) als Vernunftschema der Zweckmäßigkeit anzunehmen, ohne jedoch behaupten zu können, daß ein übersinnliches intelligentes Wesen über uns wirklich der Grund des Übersinnlichen außer uns (d.h. Gründer des Reiches der Natur (Welturheber)) sowohl als auch des Ubersinnlichen in uns (d.h. Gründer des Reiches der Zwecke (moralischer Gesetzgeber)) ist. Das Schema (bzw. Symbol) des regulativen Prinzips der transzendentalen Zweckmäßigkeit ist also ein „ f e h l e r f r e i e s I d e a l , ein Begriff, welcher die ganze menschliche Erkenntnis schließt und krönt" 2 2 2 , dessen objektive Realität zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann. „Es ist aber zugleich unvermeidlich, sich, vermittelst einer transzendentalen Subreption, dieses formale Prinzip als konstitutiv vorzustellen, und sich diese Einheit hypostatisch zu denken." 2 2 3 Mit der gleichen Unvermeidlichkeit, mit der wir die reflektierende Urteilskraft in die bestimmende Urteilskraft, und mit der wir das transzendentale Prinzip dieser reflektierenden Urteilskraft in ein transzendentes verkehrten, verkehren wir auch das transzendentale Ideal als Schema (bzw. Symbol) dieses Prinzips der transzendentalen Zweckmäßigkeit, indem wir die suppositio relativa (die relative Hypothese) eines ens rationis ratiocinatae hypostasieren zur suppositio absoluta eines ens rationis ratiocinantis. Die spekulative Vernunft macht aus der Analogie als logischer Präsumtion einen Vernunftschluß 224 , und verkehrt durch eine ratiocinatio per analogiam die conceptus ratiocinati in conceptus ratiocinantes 225 , das vernünftige 220
221 222 223 224
225
A . a . O . , 126 (123) und vgl. K.pr.V., 75 (52). Diese zweite (übersinnliche) Natur entspricht der ersten übersinnlichen Welt Hegels. Vgl. Phä., 121 und Kap. I, 1 dieser Arbeit. Vgl. K . U . , 243 (203) ff., Anm. II. K.r.V., A 641/ В 669 (604). A . a . O . , А 619/ В 647 (587). Zum Begriff der Analogie vgl. Kants Schriften. Werke IX, § 84 und K.U., § 90, 448 (337/8) Anm.; vgl. ferner Prolegomena, § 58 und K.r.V., A 665/ В 693 (622) und im zweiten Teil des Anhangs zur transzendentalen Dialektik А 674/5 /В 702/3 (628/9), А 678 /В 706 (631) und А 696/ В 724 - А 700/ В 728 (645 - 647). Vgl. K.r.V., А 311/ В 368 (348) und K . U . , 330 (260).
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Urteil (iudicium ratiocinatum) in ein vernünftelndes Urteil (iudicium ratiocinans) 226 , d.h. in ein spekulatives Urteil. Im Anhang an die Einleitung in die „Logik" 2 2 7 unterscheidet Kant die theoretischen von den praktischen Erkenntnissen. Insofern die praktischen Erkenntnisse Imperative sind, sind sie den theoretischen Erkenntnissen, insofern sie die Gründe zu möglichen Imperativen enthalten, den spekulativen Erkenntnissen entgegengesetzt. Spekulative Erkenntnisse sind also Erkenntnisse, die nicht nur keine Imperative, sondern nicht einmal die Gründe zu Imperativen enthalten. „Unter speculativen Erkenntnissen nämlich verstehen wir solche, aus denen keine Regeln des Verhaltens können hergeleitet werden, oder die keine Gründe zu möglichen Imperativen enthalten. Solcher bloß speculativen Sätze (sie! G . W . ) giebt es z.B. in der T h e o l o g i e die Menge. Dergleichen speculative Erkenntnisse sind also immer theoretisch, aber nicht umgekehrt ist jede theoretische Erkenntniß speculativ; sie kann, in einer andern Rücksicht betrachtet, auch zugleich praktisch sein." 2 2 8 An dieser Stelle kann angemerkt werden, daß sich der Kantische Begriff des spekulativen Satzes ebenso vom Hegeischen Begriff des spekulativen Satzes unterscheidet, wie die Kantische Spekulation von der Hegeischen. Betrachtet man das reflektierende Urteilen, insbesondere insofern es sich von der heuristischen Fiktion der teleologischen Zweckmäßigkeit leiten läßt, gegenüber dem definitiven bestimmenden Urteilen als vorläufiges problematisches Urteilen, so zeigt sich in dem durch die unvernünftige V e r k eh r u n g des reflektierenden ins bestimmende Urteil zustandekommenden spekulativen Satz im Kantischen Sinn der Charakter des V o r u r t e i l s . 2 2 9 Im spekulativen Satz im Hegeischen Sinn dagegen geht es um die im reflektierenden Urteilen — insbesondere in der ästhetischen Reflexion — gemachte Erfahrung der U m k e h r u n g des logisch-bestimmenden Urteilens und mithin um die Erinnerung der Bewegung des Begriffs v o r dem U r t e i l als definitivem. Im Kantischen Begriff der Spekulation dürfte der Grund für unseren heutigen Sprachgebrauch dieses Begriffs zu suchen sein. Das, was Kant unter Spekulation versteht, möchte ich mit Hegel als schlechte Spekulation bezeichnen. Sie verhält sich zur wahrhaften Spekulation wie die schlechte
226 227 228 229
Vgl. K.U., 231 (195). Kants Schriften. Werke IX, 86/7. Ebenda. Vgl. a.a.O., 73ff.
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Unendlichkeit des Verstandes zur wahrhaften Unendlichkeit der Vernunft. 2 3 0 In der „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft" sagt Kant: „Eine theoretische Erkenntnis ist s p e k u l a t i v , wenn sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstande, geht, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann. Sie wird der N a t u r e r k e n n t n i s entgegengesetzt, welche auf keine anderen Gegenstände oder Prädikate derselben geht, als die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können." 2 3 1 Die kritische Untersuchung aller Sätze, welche unsere Erkenntnis über die wirkliche Erfahrung hinaus erweitern können, zeigt, daß sie niemals zu mehr als einer möglichen Erfahrung leiten können. 2 3 2 Unter einem spekulativen Satz 233 haben wir also mit Kant einen Satz zu verstehen, in dem etwas von einem Gegenstand prädiziert wird, zu dem man in keiner Erfahrung gelangen kann, der also auch durch die Erfahrung weder bestätigt noch widerlegt werden kann. Ein solch spekulativer Satz, der sich von einem sophistischen Satz dadurch unterscheidet, daß er nicht nur einen gekünstelten Schein bei sich führt, der sogleich verschwindet, wenn man ihn sieht, sondern einen natürlichen und unvermeidlichen Schein 234 , hat die gleichen notwendigen Gründe der Behauptung auf seiner Seite wie sein Gegensatz. Dadurch entsteht die A n t i n o m i e der Vernunft. Die Antinomie kann nach Kant bekanntlich dadurch aufgelöst werden, daß man die (kosmologischen) Ideen nicht als konstitutive, sondern als regulative Prinzipien ansieht. 235 Die kosmologischen Ideen geben die Regel, die Naturerscheinungen so zu verfolgen, als ob die Untersuchung unendlich sei. Die psychologischen Ideen geben die Regel, alle Bewußtseinszustände so zu verknüpfen, als ob das Gemüt eine einfache Substanz wäre. Das Ideal gibt die Regel, alles zu betrachten, als ob es aus einer obersten Ursache entsprungen wäre. 2 3 6 Das „als ob" erweist sich wieder als der Schlüssel zur transzendentalen Dialektik, dessen wir uns im regulativen Vernunftgebrauch zu bedienen haben. 230
231 232 233 234 235 236
Vgl. Log. I, Die Unendlichkeit, 125ff., insbes. Anm. 1, 142. Zur (wahrhaften) Unendlichkeit als dem „Innersten der Spekulation" vgl. SW Bd. 7, § 7. K.r.V., A 634/5 /В 662/3 (599). Vgl. a . a . O . , А 703/ В 731 (649). Zum vernünftelnden Lehrsatz vgl. a . a . O . , А 421/ В 449 (449). Vgl. K.r.V., А 421/2 /В 449 (449). Vgl. a . a . O . , А 684/5 /В 712/3 (636/7). Vgl. a . a . O . , А 672/3 /В 700/1 (627/8), Absatz 4 des zweiten Teils des Anhangs zur transzendentalen Dialektik; vgl. dazu ausführlicher А 682/ В 710 (634) ff. die Absätze 14-16.
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Bei näherem Zusehen erhebt sich aber die Frage, ob der Widerstreit der transzendentalen Ideen nicht in dem sich am spekulativen Satz zeigenden Gegensatz von regulativem Vernunftgebrauch und konstitutivem Verstandesgebrauch bzw. von reflektierender Urteilskraft und bestimmender Urteilskraft wiederkehrt. 237 Ein spekulativer Satz ist nach Kant ein Satz, in dem etwas über einen S a t z g e g e n s t a n d prädiziert wird, der ein bloß imaginärer, vorgespiegelter durch V e r g e g e n s t ä n d l i c h u n g erschlichener G e g e n s t a n d ist. (Als Beispiele könnten etwa die Sätze „Gott ist das Sein" oder auch „Das absolute Wesen ist das Selbst" genannt werden.) Ein Satz, dessen Satzgegenstand ein Nomen ist, das etwas b e z e i c h n e t , dessen B e d e u t u n g problematisch ist, 2 3 7 a darf höchstens betrachtet werden, als ob im Prädikat etwas über einen, dem Satzgegenstand entsprechenden realen Gegenstand ausgesagt würde, nicht jedoch, als werde realiter etwas prädiziert. Der logische, d.h. hier der n o m i n a l e Inhalt eines Begriffs, das, was in einem Begriff liegt, ist von seinem r e a l e n Inhalt (Sachgehalt), von dem, was ganz a u ß e r einem Begriff liegt und als zu ihm gehörig zu ihm hinzukommen muß, wenn er eine Beziehung auf ein Objekt haben soll, zu unterscheiden. Die Kritik unterscheidet mit anderen Worten den logischen (nominalen) Inhalt eines Begriffs, das was im B e g r i f f eines G e g e n s t a n d e s liegt, von dem transzendentalen (realen) Inhalt, der Materie eines Begriffs, von dem, was als G e g e n s t a n d eines B e g r i f f s außer diesem Begriff liegt. Findet die V e r s t a n d e s b e s t i m m u n g durch Begriffe, die synthetische Beurteilung des transzendentalen Inhalts, d.h. des Gegenstandes eines Begriffs nicht aber statt unter der Voraussetzung der V e r n u n f t r e f l e x i o n über den Unterschied des phänomenalen Dinges für uns von einem noumenalen Ding an sich, einem Ubersinnlichen außer uns, das zu gewährleisten hat, daß etwas überhaupt,dawider' ist, daß der Verstand nicht aufs Geratewohl die Anschauung eines Gegenstandes in Ansehung einer der logischen Funktionen als bestimmt ansieht, d.h. ihn synthetisch beurteilt und das mithin zu gewährleisten hat, daß der zu bestimmende außer dem Begriff des Verstandes liegende sinnliche Gegenstand zu diesem hinzukommen und ein angemessener Gegenstand für den Verstand werden kann?
237 237a
Vgl. auch Log. II, 3 8 8 / 9 . D i e B e z e i c h n u n g wird hier als rein formale (syntaktische) Beziehung, die B e d e u t u n g dagegen mit Kant als inhaltliche (semantische) „Beziehung aufs O b j e k t " ( K . r . V . , A 2 4 1 / В 3 0 0 u. А 55 / В 79) verstanden.
Die teleologisch reflektierende Urteilskraft
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Und ist nicht die Konsequenz aus der Einsicht, daß unsere Vernunft als regulative genötigt ist, über ein bei der V e r s t a n d e s b e s t i m m u n g vorausgesetztes, in transzendentaler Hinsicht als transzendent bzw. abs o l u t anzusehendes C o r r e l a t u m der Verstandeseinheit zu r e f l e k t i e r e n , die Einsicht in die Immanenz der Transzendenz dieses Dinges an-sich, die Einsicht, daß sein An-sich-Sein ein An-sich-Sein für unsere Vernunft ist, und als ein solches im Begriff der Vernunft liegt? Macht die U r t e i l u n g des logischen, analytisch zu verstehenden Inhalts eines Begriffs, dessen, was in einem Begriff liegt und des transzendentalen, synthetisch zu verstehenden Inhalts eines Begriffs, d.h. des außer diesem Begriff liegenden Sinnlichen — das zum Zwecke seiner Bestimmung durch den Verstand gewissermaßen als Pendant eines Übersinnlichen außer uns angesehen werden muß — nicht letztlich den Inhalt des Begriffs der E i n heit unserer V e r n u n f t aus, der der Begriff des so v e r s t a n d e n e n Begriffs ist, daß etwas e n t w e d e r in diesem o d e r außer diesem liegt, und ist dieser als philosophisch zu bezeichnende Inhalt nicht insofern als logischer (bzw. f o r m a l e r ) transzendental (bzw. material), als der philosphische, d. h. wahrhaft spekulative Begriff das außerhalb seiner selbst liegende als ein innerhalb seiner liegendes Außerhalb erinnert? Führen uns diese Fragen aber nicht über die Grenzen des Landes der Wahrheit hinaus und verflechten uns in die Abenteuer der überschwenglichen sich in spekulativen Sätzen artikulierenden Vernunft? Spekulativ im kritischen Verstand ist ein Satz zu nennen, in dem über einen bloßen Namen (einen S a t z g e g e n s t a n d ) g e s p r o c h e n wird als e n t s p r e c h e ihm eine Sache (ein G e g e n s t a n d ) , obgleich davon keine empirische Erkenntnis (d.h. hier Erfahrung) möglich ist. Der Satzgegenstand ist hier zunächst eine bloße Voraussetzung (Supposition), die als solche nur eine Aussage erlaubt, die nichts w e i t e r sein kann, als eine A u f l ö s u n g der im Satzsubjekt beinhalteten Teilbegriffe, eine bloße A u s e i n a n d e r s e t z u n g seiner Implikate zum Zwecke der Verdeutlichung. Einen solchen Satz darf ich nur der Analogie nach so betrachten, als ob er eine auf dem B o d e n des Gesetztseins (der Position) des Subjekts stattfindende Z u s a m m e n s e t z u n g von Subjekt und Prädikat wäre. Unerlaubt dagegen ist das Vorgehen der spekulativen Vernunft, die ihn als reale Aussage betrachtet. Als spekulative Sätze könnte man insofern mit Kant vielleicht solche i r r e a l e n (oder doch zumindest problematischen) A u s s a g e n bezeichnen, die als reale A u s s a g e n auftreten, d.h. von der spekulativen Vernunft
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als reale Aussagen betrachtet werden. Die Gefahr des äquivoken Gebrauchs der Kopula könnte demnach wohl beseitigt werden, wenn in solchen Sätzen wie „Gott ist das Sein" der I n d i k a t i v durch den (zweiten) K o n j u n k t i v ersetzt würde. Der regulativen Vernunft ist es erlaubt, Gott so zu betrachten als ob er alle Realität wäre. 2 3 8 Ist das Subjekt (der Satzgegenstand) eines solchen spekulativen Satzes das Ideal der Vernunft, so sind wir auf dem Feld der spekulativen Theologie. Die spekulative Vernunft macht aus dem Subjekt (dem transzendentalen Ideal) als einer bloßen Voraussetzung, einer relativen Supposition der reflektierenden Urteilskraft eine absolute Position für die bestimmende U r teilskraft, die davon ausgeht, daß dieses Übersinnliche über uns, dieser transzendentale Gegenstand 2 3 9 außer dem Gedanken an sich selbst gesetzt ist. 2 4 0 Man könnte also sagen, daß die reflektierende Urteilskraft ihre Aufgabe nur so lösen kann, daß sie sich selbst als reflektierende aufgibt und als bestimmende Urteilskraft von einer absoluten Position (nicht wie zuvor von einer nur relativ supponierten absoluten Position) als gegeben ausgeht. Die Spekulation verkehrt den intuitiven Verstand (das transzendentale 238
239 240
Grammatisch gesehen sind Vergleichssätze, die mit Hilfe der Konjunktion „als o b " gebildet werden, als irreale Aussagen (.irreale Vergleichssätze') anzusehen, d.h. als Aussagen, in denen nur die Denkmöglichkeit (logische Möglichkeit) eingeräumt ist, die reale Möglichkeit dagegen als ausgeschlossen zu betrachten ist. Dies ist der Fall in dem Satz „Wir tun, als ob Gott alle Realität wäre." Der Unterschied des Satzes „ G o t t w ä r e das Sein" zu dem Satz „Gott k ö n n t e das Sein sein" besteht wohl darin, daß in dem letzteren der Konjunktiv zum Ausdruck der (realen) Möglichkeit gebraucht wird. Wenn in der Hegeischen Philosophie von dem Urwesen, dem höchsten Wesen, bzw. dem Wesen aller Wesen (vgl. K . r . V . , A 578/9 / В 607/8 (557)) als dem absoluten Wesen zu beachten ist, daß das Absolute als Attribut des Wesens (als der Substanz) auftritt — im modus indicativus die Rede sein wird ( z . B . in den Sätzen: „Das absolute Wesen ist das Selbst" und „Das Selbst ist das absolute Wesen" (vgl. Phä., 521 ff. und dazu Kap. I, 2 dieser Arbeit), so ist darin kein Rückfall in die dogmatische Metaphysik zu sehen, sondern die Wahrheit über die Kantische Kritik des transzendentalen Scheins des absoluten Wesens, die es strenggenommen nicht erlaubte: „ E s i s t " zu sagen, und zwar weder: „ E s (das absolute Wesen) ist das Sein", noch: „ E s ist Schein". Diese Wahrheit besteht zunächst in der Einsicht, daß das Sein des absoluten Wesens Schein ist, daß das a b s o l u t e W e s e n ein im S c h e i n e n a u f g e h e n d e s W e s e n , ein sich als (substantielles, soz. .äußeres') Wesen selbst a u f l ö s e n d e s W e s e n ist. (Vgl. Log. II, 9ff. und Phä., 483ff.; vgl. ferner Kap. I, 2 dieser Arbeit.) In der Erfahrung des Bewußtseins wird sich das S e l b s t als das absolute Wesen ergeben, in dem dieses als Einheit des .äußeren' und des ,inneren' Wesens eingesehen wird. In der logischen Entwicklung der Denkbestimmungen wird sich der B e g r i f f als das wahrhafte Sein des absoluten Wesens ergeben. Vgl. K . r . V . , А 698/ В 726 (646) und А 682/ В 710 (634). Vgl. a . a . O . , А 639/ В 667 (602) und А 686/ В 714 (638).
Die teleologisch reflektierende Urteilskraft
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Objekt) als Correlatum des diskursiven Verstandes in ein Absolutum, verabsolutiert die relative Supposition der absoluten Position zur absoluten Supposition der absoluten Position. Die Kritik relativiert das Absolute wieder zur relativen Supposition der absoluten Position. Der Gedankengang geht so notwendig von der Reflexion auf die R e l a t i v i t ä t des Absoluten (genitivus objectivus) zur Bestimmung dieser Relativität als Relativität des A b s o l u t e n (genitivus subjectivus) und zurück und bleibt vor der Einsicht in die R e l a t i v i t ä t des A b s o l u t e n stehen. Im Genitiv in seiner doppelten Bedeutung ist hier das zu erkennen, was Hegel den spekulativen Geist der Sprache nennt, insofern nämlich, als der Genitiv den Gegenstoß in der Genesis des Begriffs des Absoluten in sich enthält, des Absoluten als des Sich-von-sich-Abstoßenden und sich in sich Rückübertragenden. (Formuliert als Gleichsetzung im Nominativ hieße das: „Das Absolute ist das Relative" und umgekehrt). Der Kantische Begriff des Absoluten unterscheidet sich von dem hier angedeuteten Hegeischen Begriff des Absoluten wie das An-sich-Sein vom Für-uns-Sein des Ansichseins bzw. wie das Subjekt des spekulativen Satzes im Kantischen Sinne vom Subjekt des spekulativen Satzes im Hegeischen Sinne. 241 Das Absolute ist hier nicht Kantisch zu verstehen als etwas, wozu man in keiner Erfahrung gelangen kann. Dieses ,schlechte* Absolute ist das Absolute des Raums der Vorstellung. Demgegenüber ist das Absolute im Hegeischen Sinne zu denken als die Gegenbewegung gegen die Abstraktion des Verstandes, gegen die Vergegenständlichung der natürlichen Vorstellung, als die ständige Bewegung des Sich-Abstoßens vom Standpunkt des natürlichen Bewußtseins und als die Aufhebung bzw. Ablösung von dessen notwendig immer erneut zustande gebrachten Vergegenständlichungen und Fixierungen. Deshalb werde ich bei der Verwendung des Hegeischen Begriffs des Absoluten zur Verdeutlichung des Unterschieds vom Kantischen Sprachgebrauch — der unserem gewöhnlichen Sprachgebrauch nahe zu kommen scheint — den Akzent auf seine Bedeutung von „Auflösung" bzw. „Ablösung" (Absolvenz) legen. 242 Das Absolute ist prozessual als Absolvenz zu denken. Diese Absolvenz im philosophischen Sinne ist der denkend erkannte — sozusagen säkularisierte' — Begriff der Absolution im religiösen Sinn. Es ist zu zeigen, daß der Hegeische Begriff des Spekulativen wie des Absoluten die „bestimmte Negation" des Kantischen Begriffs des Speku241 v g l . dazu (Jie Absätze 9ff. der Einleitung in die „Phänomenologie", 70ff. 242
Vgl. M. Heidegger, Holzwege, Frankfurt 19634, Hegels Begriff der Erfahrung, 124/25.
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
lativen wie des Absoluten ist. Er fällt nicht hinter die Kantische Kritik der spekulativen Theologie zurück, sondern geht aus deren Metakritik hervor. Hat uns die Kritik darüber aufgeklärt, daß wir aus dem ,Begriff', besser gesagt aus der Vorstellung des absoluten Wesens nicht dessen S e i n herausklauben dürfen, so klärt uns die Metakritik darüber auf, daß diese Vorstellung der Natur des absoluten W e s e n s selbst eine natürliche und einseitige Vorstellung des absoluten B e g r i f f s ist, daß, wenn man sich so ausdrücken wollte, ein ,Begriff' des absoluten Wesens, aus dem man das Sein herauszuklauben versuchte, ein selbst aus dem absoluten Begriff, d.h. dem Begriff des Begriffs bloß herausgeklaubtes Etwas ist. Anders gesagt: Ist nicht ein Mißtrauen in das kritische Mißtrauen zu setzen, der Gegenstand werde aus dem Begriff ausgeklaubt, das metakritische Mißtrauen nämlich, der Gegenstand werde als der nicht aus dem Begriff zu klaubende aus dem Begriff geklaubt? Oder sollte dies doppelte Mißtrauen bereits eine Verirrung der Spekulation sein? Bevor ich zum Schluß dieses Teils der Ausführungen kurz auf die Ontotheologie zu sprechen komme, sei noch an die Physikotheologie erinnert, in der das Problem der spekulativen Vernunft vielleicht am klarsten zu Tage tritt. „Wenn man nun vom Dasein der D i n g e in der Welt auf ihre Ursache schließt, so gehört dieses nicht zum n a t ü r l i c h e n , sondern zum s p e k u l a t i v e n Vernunftgebrauch; weil jener nicht die Dinge selbst (Substanzen), sondern nur das, was g e s c h i e h t , also ihre Z u s t ä n d e , als empirisch zufällig, auf irgendeine Ursache bezieht; daß die Substanz selbst (die Materie) dem Dasein nach zufällig sei, würde ein bloß spekulatives Vernunfterkenntnis sein m ü s s e n . " 2 4 3 Die spekulative Vernunft sieht die Ursache durch die Wirkung (causam per effectum). 2 4 4 Sie steigt von dieser Welt zur höchsten Intelligenz als dem Prinzip aller natürlichen (bzw. aller sittlichen) Ordnung und Vollkommenheit auf. Dies führt sie zur Physikotheologie (bzw. zur Moraltheologie). 2 4 5 Die Physikotheologie ist der Versuch, Gott im Spiegel seiner Werke zu erkennen, also der Versuch der Vernunft, aus den Naturzwecken auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften per analogiam zu schlie243
244
245
K.r.V., A 635/6 /В 663/4 (599/600). Zur Unterscheidung der Materie und der Form der Welt vgl. a . a . O . , А 627/ В 655 (593) Absatz 10 des 6. Abschnitts des 3. Hauptstücks, der von der Unmöglichkeit des physikotheologischen Beweises handelt. Anm. zu Th. v. Aquin, Summa Theologica II—II, Quaestio C L X X X , Articulus III, Ad Secundum: „Videre autem aliquid per speculum est videre causam per effectum . . . " . Vgl. Kap. I dieser Arbeit. Vgl. K.r.V., A 632/ В 660 (597).
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Die teleologisch reflektierende Urteilskraft
ßen (während die Ethikotheologie der Versuch ist, aus den moralischen Zwecken auf die oberste Ursache und ihre Eigenschaften zu schließen). 246 Dieser Versuch des physisch-theologischen Beweises, der die Spekulation mit der Anschauung verknüpft, 247 ist nach Kant gänzlich fruchtlos. 248 Die Physikotheologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft ist eine mißverstandene physische Teleologie. 249 Dieses Mißverständis der Spekulation wird durch die Kritik aufgeklärt. 250 Die Kantische Kritik des onto-theologischen
Arguments
Obgleich die Gottesbeweise nicht erst in unseren Tagen für etwas Antiquiertes, der vormaligen Metaphysik angehöriges gelten, möchte ich trotzdem zum Schluß dieser Betrachtung eine Bemerkung zu Kants Kritik des ontologischen Gottesbeweises machen. Die Namenerklärung eines absolut notwendigen Wesens, „daß es nämlich so etwas sei, dessen Nichtsein unmöglich ist" 2 5 1 , ist nach Kant ganz leicht und kann geschenkt werden. Vgl. K . U . , 400 (306). ' Vgl. K.r.V., A 637/ В 665 (601). Kant bezeichnet diesen Gottesbeweis als den ältesten, klarsten und der gemeinen Menschenvernunft am meisten angemessenen. (Vgl. а. а. О . , А 623/ В 651 (590); vgl. dazu SW Bd. 16, 517ff.) 2 4 8 Vgl. a . a . O . , А 636/ В 664 (600) und K . U . , 407 (310). 2 4 9 Vgl. a . a . O . , 409/10 (311/2). 2so Ygj K . r . V . , 6. Abschnitt des 3. Hauptstücks des 2. Buches der transzendentalen Dialektik (A 620/ В 648 (588) ff.). Um diese Ausführungen Kants über die dritte Idee der reinen Vernunft, „welche eine bloß relative Supposition eines Wesens enthält", („Den Gegenstand dieser Idee, haben wir nicht den mindesten Grund, schlechthin anzunehmen (an s i c h zu s u p p o n i e r e n ) " ) ( K . r . V . , A 685/6/ В 713/4 (637)), kritisieren zu können (vgl. insbes. J . Bennett, Kant's Dialectic, Cambridge 1974, 273/4), sollte freilich zunächst einmal ein Unterschied der Denkungsart peinlich genau beachtet werden, „der ziemlich subtil, aber gleichwohl in der Transzendentalphilosophie von großer Wichtigkeit ist. Ich kann genügsamen Grund haben, etwas relativ anzunehmen ( s u p p o s i t i o r e l a t i v a ) , ohne doch befugt zu sein, es scblechthin anzunehmen ( s u p p o s i t i o a b s o l u t a ) . " (K.r.V., A 676/ В 704 (630)). Zu Kants Erklärung, daß ich nicht allein befugt, sondern auch genötigt sein werde, die Idee der systematisch vollständigen Einheit zu realisieren, „ d . i . ihr einen wirklichen Gegenstand zu setzen, aber nur als ein Etwas überhaupt, das ich an sich selbst gar nicht kenne" ( a . a . O . , А 677/ В 705 (631)), sagt Bennett: „ T h e oddity of this is hardly lessened by Kant's adding that the posited object is only „a something which I do not at all know in itself". We should bury this, along with everything else Kant says about God in the Appendix." (J. Bennett, Kant's Dialectic, a . a . O . , 276). - Um Kant besser zu verstehen, als er sich selbst verstanden hat, wäre es wohl in der Tat besser gewesen, sich weniger für das zu interessieren, was Kant - nach der Meinung von Bennett - eigentlich hätte denken sollen, und mehr für das, was Kant tatsächlich gedacht hat. (Vgl. a . a . O . , Preface viii). 2 5 1 K . r . V . , A 592/ В 620 (567). 246 24
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
Diese Nominaldefinition „Gott ist nicht Nichtsein" oder „Gott ist das Sein (d.h. hier alle Realität)" - darf jedoch nicht als Realdefinition Gottes angesehen werden, denn die Sacherklärung hätte nicht nur den Begriff (d. h. hier den Namen) Gottes, sein „logisches Wesen", sondern zugleich dessen objektive Realität, dessen „Realwesen" zu verdeutlichen, 252 sie hätte zu zeigen, daß Gott ist (existiert). Nominaldefinitionen, in denen es bloß um die Verdeutlichung von Wörtern (Bezeichnungen), nicht aber um deren Bedeutung (d.h. deren Beziehung auf Objekte) geht, sind keine synthetischen Definitionen wie die mathematischen Erklärungen, die als Konstruktionen a priori gemachter Begriffe synthetisch Zustandekommen, sondern nur analytische Definitionen. Diese philosophischen ,Definitionen' kommen als Expositionen a priori gegebener (bzw. als Explikationen empirisch gegebener) Begriffe durch deren Zergliederung analytisch zustande. 2 5 3 (Ich muß mich im Rahmen dieses Zusammenhanges auf die Andeutung der engen Verwandtschaft der N o m i n a l d e f i n i t i o n
sowie der
analyti-
s c h e n D e f i n i n i t i o n und des a n a l y t i s c h e n U r t e i l s beschränken. 2 5 4 Die genaue Bestimmung des Verhältnisses, in dem sie stehen, könnte auch im Hinblick auf die noch andauernde Debatte über die klassische Unterscheidung der analytischen Urteile von den synthetischen 255 von Interesse sein). 2 5 6 Vgl. K . r . V . , A 242 Anm. (292) und Kants Schriften. Werke I X , Logik, § 106, 143f. Vgl. K . r . V . , A 718 / В 746 (661), А 727 / В 755 (668) und Kants Schriften. Werke I X , Logik, §§ 9 9 - 1 0 9 , 1 4 0 - 1 4 5 ; vgl. ferner Kants Schriften. Werke X X I V , Logik-Pölitz, 5 7 0 - 5 7 5 und Wiener Logik, a . a . O . , 9 1 2 - 9 2 5 . 2 5 4 Vgl. Kants Schriften. Werke X V I , Refl. 2 9 1 1 - 3 0 0 8 , vgl. insbes. Refl. 2918, 2936 und 2945, aber auch Refl. 2993 und 3007. 255 Vgl. den Artikel von H . Delius im Historischen Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1974ff., Bd. 1, „Analytisch/synthetisch", 2 5 1 - 2 6 0 . Vgl. Dazu den Aufsatz des Verfasssers: Zum Problem der Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile bei Kant, in: Kodikas/Code, An International Journal of Semiotics, Tübingen 1979, in dem die Frage erörtert wird, ob die Einteilung der Urteile in analytische und synthetische selbst analytisch ist bzw. ob die Unterscheidung des logischen Inhalts des Begriffs eines Gegenstandes und des realen Inhalts des Begriffs, d. h. des Gegenstands eines Begriffs selbst in den Begriff fällt. 252
253
Vgl. dazu auch den Aufsatz von W . Koppelmann, Kants Lehre vom analytischen Urteil, in: Philosophische Monatshefte, X X I . Bd., Heidelberg 1885. Zur neueren Diskussion um die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urteile vgl. u.A. K. G . Lucey, Kant's Analytic/Synthetic Distinction, in: Akten des 4. Internationalen Kant-Kongresses, Mainz 1974, hrsg. v. G . Funke, Berlin/New York 1974, Teil II, 115ff. sowie D . Palmer, Kant's Definition of Analyticity, A Reply to Professor Lucey, ebda., 135ff. und A. Zweig, Erläuterung und Erweiterung in Kant's Theories of Analyticity, ebda. 166 ff. 256 v g l . bereits H . Vaihinger, Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1881, 266 Anm. 1, wo Vaihinger darauf hinweist, daß zwischen Kants Ausführungen
Die teleologisch reflektierende Urteilskraft
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Die absolute (unbedingte) logische Notwendigkeit des Urteils ist nach Kant nicht die reale Notwendigkeit der Sache oder des Prädikats im Urteil. 257 Nur unter der Bedingung (Voraussetzung), daß das Subjekt (Gott) da ist (gesetzt ist), wäre auch das Prädikat (Sein) da. Gott aber ist nur ein problematischer Begriff, dessen formal-logische Möglichkeit mit dessen transzendentaler objektiv-realer Möglichkeit nicht verwechselt werden darf. 258 Sein (d.h. hier so viel wie Dasein) kann zwar ein logisches (sc. analytisches) Prädikat, eine Wortbestimmung, niemals aber ein reales Prädikat, eine tatsächliche Bestimmung sein. 259 Wird z.B. in einem explizit identischen Satz, d.h. in einer Tautologie das Subjekt von sich selbst prädiziert, so handelt es sich nicht um ein reales, sondern um ein logisches Prädikat.260 Betrachten wir nun in diesem Sinne „Sein" als logisches Prädikat, so wäre mit „Sein" bzw. „alle Realität" nichts weiter gesagt als mit „Gott", durch das Prädikat hätten wir zu dem Gedanken Gottes nichts hinzugetan, d.h. wir hätten den Satz „Gott ist das Sein" als analytischen Satz — und zwar nicht als explizit identischen, aber doch als implizit identischen Satz — betrachtet. (Das analytische Urteil und seine Unterscheidung vom synthe-
257
258 259 260
über die Nominal- und die Realdefinition und über das logische Wesen und das Realwesen und Kants Unterscheidung der analytischen und synthetischen Urteile ein historischer und sachlicher Zusammenhang bestehe, der noch nicht genügend aufgeklärt sei. Vgl. ferner K. Marc-Wogau, Kants Lehre vom analytischen Urteil, in: Theoria, Volume XVII, Lund 1951, 140—154, der auf einige Schwierigkeiten eingeht, die sich bei dem Versuch ergeben, Kants Lehre vom analytischen Urteil durch dessen Lehre von der Definition zu verdeutlichen, (vgl. a . a . O . , 147-154). Vgl. schließlich den instruktiven Aufsatz von L. W. Beck, Kant's Theory of Definition, in: The Philosophical Review, Volume L X V - 1 9 5 6 , 179—191, der vier spezifische Typen von Definitionen unterscheidet: Außer der analytischen Nominaldefinition und der synthetischen Realdefinition führt er noch eine analytische Realdefinition und eine synthetische Nominaldefinition auf! (vgl. 184ff.). Vgl. K.r.V., A 75/6 /В 101 (114/5), А 593/4 /В 621/2 (568) und А 679 /В 707 (633); vgl. ferner K.pr.V., 200 (128): „Zwei in einem Begriffe n o t w e n d i g verbundene Bestimmungen müssen als Grund und Folge verknüpft sein, und zwar entweder so, daß diese E i n h e i t als a n a l y t i s c h (logische Verknüpfung) oder als s y n t h e t i s c h (reale Verbindung), jene nach dem Gesetze der Identität, diese der Kausalität betrachtet w i r d . " Vgl. dazu H . Vaihinger, Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 270 Anm. 2). Vgl. K.r.V., А 596 /В 624 Anm. (570) und А 244 /В 302/3 Anm. (294). Vgl. a . a . O . , А 598 /В 626 (571/2). Vgl. Kants Schriften. Werke IX, Logik, § 37 und § 36, Anm. 1, 111. Dort führt Kant aus, daß synthetische Sätze Bestimmungen enthalten und die Erkenntnis materialiter vermehren, während analytische Sätze nur logische Prädikate enthalten und die Erkenntnis bloß formaliter vermehren.
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Einleitung. Kants Kritik der Spekulation
tischen kann in Zusammenhang mit der Problematik eines ontologischen Beweises vom Dasein Gottes nur erwähnt werden, obgleich hier der Ort wäre zu zeigen, inwieweit sich Kant der Notwendigkeit dieser Unterscheidung gerade im Laufe der Auseinandersetzung mit der Frage nach der Möglichkeit oder Unmöglichkeit eines Beweisgrundes zu einer Demonstration Gottes bewußt geworden ist). 261 Dazu wären wir nach Kant wohl berechtigt, solange wir uns dessen bewußt blieben, daß die angebliche Realdefinition bloß eine analytische Namenerklärung, letztlich also doch nicht viel mehr als eine „elende Tautologie" 262 ist, durch die wir um nichts klüger werden. Das Prädikat wäre dann als ein solches zu betrachten, das zusammen mit seinem Subjekt aufgehoben werden kann, ohne daß ein Widerspruch entspringt. Solange wir uns dessen bewußt wären, daß das Dasein (die absolute Position, das Gesetztsein an sich selbst außer dem Gedanken) des Gegenstandes eines Begriffs nicht analytisch in diesem Begriff gefunden werden kann, wären wir auch zur Analyse des Begriffs dieses ja bloß relativ als ens realissimum supponierten (vorausgesetzten) transzendentalen Gegenstandes berechtigt. 263 Anders gesagt: Solange wir uns dessen bewußt wären, daß die Materie der ,reale' Inhalt, d.h. der G e g e n s t a n d eines B e g r i f f e s , das, was zum Begriff hinzukommen muß, damit er eine reale Bedeutung bekommt, von dem logischen, d.h. hier , n o m i n a l e n ' Inhalt, von dem, was im Begriff eines G e g e n s t a n d e s liegt, streng zu unterscheiden ist, wären wir auch zur Erläuterung des Inbegriffs aller Realität, sozusagen als eines bloßen B e g r i f f s aller G e g e n s t ä n d e eines B e g r i f f s berechtigt und dürften diese Idee (d.h. diese relative Supposition einer absoluten Position) von dem Inbegriff aller Realität zergliedern. Bei dieser Zergliederung würden wir finden, daß sich die Idee der S y n t h e s i s aller Prädikate bis zu einem durchgängig a priori bestimmten Begriff läutert. 2 6 4 Nicht berechtigt dagegen sind wir, den Satz „Gott ist das Sein" einfach als synthetischen Satz a priori anzusehen — es ist offenbar, daß wir ihn noch weniger als Existenzsatz, d.h. als Erfahrungsurteil (synthetisches Urteil a
261 Vgl. dazu H . Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, 481/2 Anm. 120; vgl. ferner H . Vaihinger, Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, 269-278: E x k u r s . Entwicklung der K.'sehen Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urtheilen, insbes. 272. 262 263 264
K.r.V., A 597 /В 625 (571). Vgl. a . a . O . , А 639 /В 667 (602). Zur Verwendung dieses Ausdrucks in А 574 /В 602 (553) der K.r.V., vgl. a . a . O . , А 11 /В 25 (55).
Die teleologisch reflektierende Urteilskraft
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posteriori) ansehen dürfen 265 — denn auch synthetische Urteile a priori gelten nur für Objekte möglicher Erfahrung, nicht aber für Gegenstände, zu denen man in keiner Erfahrung gelangen kann, etwa für Dinge überhaupt, von denen sich die Ontologie anmaßt, synthetische Erkenntnisse a priori zu geben. 2 6 6 Spekulativ (im pejorativen Sinn) ist der Satz „Gott ist das Sein" nur insofern zu nennen, als er von der Ontotheologie als synthetischer Satz vorgestellt wird. (Die dogmatische Verstandes-Metaphysik überhaupt könnte wohl mit gewissem Recht als „analytische Philosophie" angesehen werden, die versucht, als synthetische aufzutreten). Unter einem spekulativen Satz (im Kantischen Sinn) könnte man so gesehen einen analytischen Satz (einen Satz, dessen Prädikat sich auf den Begriff des Subjekts bezieht) verstehen, der ein synthetischer Satz'(ein Satz, dessen Prädikat sich auf das Objekt des Begriffs des Subjekts bezieht) zu sein scheint. Eine andere Möglichkeit der Verdeutlichung wäre die: Ein spekulativer Satz ist ein Satz, der die Nominaldefinition einer Bezeichnung als Realdefinition einer Bedeutung ausgibt. Es wäre also ein Satz, der uns nicht nur veranlaßte, so zu t u n , als ob das Prädikat eine S a c h e r k l ä r u n g des Subjekts wäre — was uns höchstens noch erlaubt wäre — sondern der uns veranlaßte, t a t s ä c h lich das Prädikat als Sacherklärung des Subjekts anzusehen. Spekulativ wäre die Vorspiegelung syntaktischer Beziehungen als semantischer Beziehungen, der illegitime Gebrauch syntaktischer Beziehungen als semantischer Beziehungen. 267 Führt so der Versuch einer Kritik der Vernunft nicht letztlich zu der Frage, ob die Sprache der Mittelpunkt des Mißverstandes der Vernunft mit ihr selbst ist? 265 266 267
Vgl. a . a . O . , A 598 / В 626 (571). Vgl. a . a . O . , А 247 / В 303 (296), А 634/5 / В 662/3 (599) und А 670 / В 698 (626). Vgl. Kap. II.l dieser Arbeit. D . Henrich hat zurecht darauf hingewiesen, daß Hegels Apologie für die Wahrheit des ontologischen Beweises zugleich eine Kritik an den bisherigen Formen der Ontotheologie ist, und zwar eine so scharfe Kritik, daß man meinen könnte, sie übertreffe in ihrer Schärfe selbst noch die von Kant. Vgl. D . Henrich, Der ontologische Gottesbeweis, a . a . O . , 192. In der Tat ist Hegels Neubegründung der Ontotheologie keine bloße Rechtfertigung ihrer alten Formen, die auch nach Hegels Meinung durch Kant endgültig zerstört worden sind. ( a . a . O . , 196). Vgl. auch U . Guzzoni, Werden zu sich, Freiburg/München 1963, Erster Teil, B , Der ontologische Gottesbeweis und Hegels „Wissenschaft der L o g i k " . Vgl. ferner die Arbeit von W. Albrecht, Hegels Gottesbeweis, Eine Studie zur „Wissenschaft der L o g i k " , Berlin 1958, der in Hegels Lehre vom Urteil das logische Kernstück des Gottesbeweises erblickt. Albrecht verweist ferner auf die hier nicht berücksichtigten Arbeiten von K . D o m k e , Das Problem der metaphysischen Gottesbeweise in der Philosophie Hegels, Leipzig 1940 und von Η . A . Ogiermann, Hegels Gottesbeweise, R o m 1948.
I. Kapitel Überlegungen zu Hegels Begriff der Spekulation ausgehend von der Interpretation einzelner Abschnitte der „Phänomenologie des Geistes" 1. Die systematische Stellung der Sprache und das Verhältnis von Vernunft und Sprache In diesem Kapitel werde ich versuchen, mich der Problematik des spekulativen Satzes bzw. der sprachlichen Darstellung des Spekulativen von der „Phänomenologie des Geistes" her zu nähern. Bei der Erörterung der systematischen Stellung der Sprache in der Hegeischen Philosophie 1 soll versucht werden, das Verhältnis von (spekulativer) Vernunft und Sprache zu verdeutlichen und auf die Bedeutung von Hegels Ausführungen über die Religion — insbesondere über die KunstReligion — in der „Phänomenologie" 2 für die Interpretation der Absätze 58—66 der Vorrede zur „Phänomenologie" hinzuweisen, in denen Hegel ausdrücklich auf das Problem des spekulativen Satzes zu sprechen kommt. 3 Zunächst jedoch scheint es mir angebracht zu sein, zwei Vorbemerkungen zur h i s t o r i s c h e n und s y s t e m a t i s c h e n Stellung des Begriffs der Spekulation zu machen.
Vorbemerkung zur historischen Stellung des Begriffs der Spekulation Was zuerst die G e s c h i c h t e des Begriffs „Spekulation" anbetrifft, so ist daran zu erinnern, daß Hegel an die Bedeutung anknüpft, die dieser Begriff in der Scholastik und Mystik hatte. 4 1 2 3 4
Vgl. Kap. 1,1 dieser Arbeit. Vgl. Kap. 1,2 dieser Arbeit. Vgl. Kap. 1,3 dieser Arbeit. Hegel hat in den „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" die Mystik nur im Vorbeigehen behandelt und ist insbes. auf die spekulative Mystik des Dominikaners Eckart nicht eingegangen. Soweit ich sehe, ist dieser nur an einer Stelle der Vorlesungen über die Philosophie der Religion erwähnt. (Vgl. SW Bd. 15, 228). Angelus Silesius wird
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Im Zusatz zu § 82 s heißt es: „Im gemeinen Leben pflegt der Ausdruck S p e k u l a t i o n in einem sehr vagen und zugleich untergeordneten Sinn gebraucht zu werden, so z . B . wenn von Heiraths- oder Handelsspekulationen die Rede ist, worunter dann nur so viel verstanden wird, einerseits, daß über das unmittelbar Vorhandene hinausgegangen werden soll, und andererseits, daß dasjenige, was den Inhalt solcher Spekulationen bildet, zunächst nur ein Subjektives ist, jedoch nicht ein solches bleiben, sondern realisirt oder in Objektivität übersetzt werden soll. . . . Hinsichtlich der Bedeutung des Spekulativen ist hier noch zu erwähnen, daß man darunter dasselbe zu verstehen hat, was früher, zumal in Beziehung auf das religiöse Bewußtseyn und dessen Inhalt, als das M y s t i s c h e bezeichnet zu werden pflegte. Wenn heut zu Tage vom Mystischen die Rede ist, so gilt dieß in der Regel als gleichbedeutend mit dem Geheimnißvollen und Unbegreiflichen, und dieß Geheimnißvolle und Unbegreifliche wird dann, je nach Verschiedenheit der sonstigen Bildung und Sinnesweise, von den Einen als das Eigentliche und Wahrhafte, von den Andern aber als das dem Aberglauben und der Täuschung Angehörige betrachtet. Hierüber ist zunächst zu bemerken, daß das Mystische allerdings ein Geheimnißvolles ist, jedoch nur für den Verstand und zwar einfach um deswillen, weil die abstrakte Identität das Princip des Verstandes, das Mystische aber (als gleichbedeutend mit dem Spekulativen) die konkrete Einheit derjenigen Bestimmungen ist, welche dem Verstand nur in ihrer Trennung und Entgegensetzung für wahr gelten. . . . Alles Vernünftige ist somit zugleich als mystisch zu bezeichnen, 6 womit jedoch nur so viel gesagt ist, daß dasselbe über den Verstand hinausgeht, und keineswegs, daß dasselbe überhaupt als dem Denken unzugänglich und unbegreiflich zu betrachten sey." 7 In der Sprache der Mystiker bedeutete in den Vorlesungen über die Ästhetik einmal genannt. (Vgl. SW Bd. 12 , 493). Mit Jakob B ö h m e dagegen, (vgl. S W Bd. 19, 2 9 6 f f . ) dem „philosopho teutonico" hat sich Hegel recht ausführlich beschäftigt. Hegel kritisiert dessen Mystizismus als eine in die Tiefe, aber in eine trübe Tiefe gehende Philosophie (vgl. L o g . I, 101 und SW Bd. 19, 327), in der der spekulative Gedanke nicht zu seiner angemessenen Darstellung komme. (Vgl. a . a . O . , 303). Andererseits erkennt er aber das tiefe Bedürfnis des Spekulativen an und wehrt sich dagegen, Böhme als pietistischen Schwärmer abzuqualifizieren. „ I h n als Schwärmer zu qualificiren, heißt weiter nichts. Denn wenn man will, kann man jeden Philosophen so qualificiren . . . " ( a . a . O . , 297). 5 6
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SW Bd. 8, 1 9 6 - 1 9 8 . Bedenkt man, daß das Vernünftige als Sprache existiert (vgl. dazu weiter unten), so könnte man insofern vielleicht sogar I. Fetscher zustimmen, wenn er von einem „mystischem Denken verwandte(n) Verhältnis" spricht, das Hegel zur Sprache gehabt habe. (Vgl. I. Fetscher, Hegels Lehre vom Menschen, Stuttgart 1970, 7. Die Sprache, 170; vgl. a . a . O . , 175). Zum Spekulativen als dem μυστήριον, dem Unbegreiflichen, das der Begriff selbst ist, vgl.
Die systematische Stellung der Sprache
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„Spekulation" die sich bis zur Verzückung steigernde religiöse Betrachtung. Diese Bedeutung verlor der Begriff allerdings bereits bei den von der biblischen Uberlieferung ausgehenden Reformatoren und wurde zur Bezeichnung einer unwissenschaftlichen Art, über göttliche Dinge zu forschen. 8 Bei T h o m a s dagegen 9 heißt es noch: „2. P R A E T E R E A , Apostolus 2 Cor. 3 dicit: „ N o s autem, revelata facie gloriam Domini speculantes, transformamur in eandem claritatem." Sed hoc pertinet ad vitam contemplativam. Ergo, praeter tria praedicta, etiam „speculatio" ad vitam contemplativam pertinet." 1 0 „(2. Der Apostel sagt 2. Kor. 3, 18: „Wir aber schauen (forschend) mit enthülltem Antlitz die Herrlichkeit des Herrn und werden verwandelt in dieselbe Klarheit". Nun aber gehört dies zum beschaulichen Leben. Also gehört auch außer den drei genannten Akten „das schauende Forschen" zum beschaulichen Leben.)" (Luther übersetzt 2. Kor. 3, 18: „Nun aber spiegelt sich in uns allen des Herrn Klarheit mit aufgedecktem Angesicht, und wir werden verklärt in dasselbe Bild von einer Klarheit zu der andern, als vom Herrn, der der Geist ist." Wie das Zerreißen des Vorhangs vor dem Allerheiligsten 11 auf die vollbrachte VerSW Bd. 16, 233—235 und das Ende der „Vorlesungen über die Beweise vom Daseyn Gottes", a . a . O . , 553: „Wir haben die Idee rein speculativ zu betrachten und sie gegen den Verstand zu rechtfertigen, gegen ihn, der sich gegen allen Inhalt der Religion überhaupt empört. Dieser Inhalt heißt Mysterium, weil er dem Verstände ein Verborgenes ist, denn er kommt nicht zu dem Proceß, der diese Einheit ist: daher ist alles Speculative dem Verstände ein Mysterium." Vgl. auch Hegels Bemerkungen über das Spekulative im Zusammenhang mit der Erörterung des Verhältnisses der Philosophie zur Religion in der Einleitung in die Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (SW Bd. 17, 111/12). Vgl. auch das von Hegel in diesem Zusammenhang wiedergegebene Schillerzitat: „Freundlos war der große Weltenmeister,/ Fühlte Mangel, darum schuf er Geister,/ Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit./ Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches;/ Aus dem Kelch des ganzen Geisterreiches/ Schäumt ihm die Unendlichkeit." ( A . a . O . , 108, vgl. die letzten beiden Zeilen der „Phänomenologie", 564; vgl. Schillers Werke, Nationalausgabe, Weimar 1943, 1. Bd., Gedichte, hrsg. von J . Peterson und F. Beißner, „Die Freundschaft", 110/1; vgl. ferner SW Bd. 19, 72). 8
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Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, 10. Bd., 1. Abteilung, Leipzig 1905, 2 1 3 4 - 2 1 3 7 . Hegel ist in seinen „Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie" (vgl. SW Bd. 19, 173/4) nicht sehr ausführlich auf Thomas eingegangen, obgleich er in dessen „Summa Theologica" „gründliche metaphysische (spekulative) Gedanken" fand ( a . a . O . , 174). Eine Hauptquelle seiner Beschäftigung mit Thomas — wie auch mit den Mystikern Johann Charlier, Raimund von Sabunde, Roger Baco und Raimund Lullus (vgl. a . a . O . , 1 9 4 - 1 9 8 ) - war W. G. Tennemanns Geschichte der Philosophie (Leipzig 1 7 9 8 - 1 8 1 9 ) . (Vgl. SW Bd. 17, 148 und SW Bd. 19, 149). Thomas v. Aquin, Summa Theologica I I - I I , Quaestio 180, Articulus III. Vgl. Hebr. 9, 3 - 1 2 und 10, 1 9 - 2 0 mit 2. Mose 26, 3 1 - 3 3 .
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söhnung hinweist, darauf, daß der alttestamentliche Bund (der Gesetzesbund) abgetan ist, so ist hier zum Ausdruck gebracht, daß im neuen Bund (dem Gnadenbund) die Decke über dem Alten Testament durch Christus abgetan wird, d.h. die Wahrheit, wie sie ohne Hülle ist, offenbar wird. 1 2 „ A D S E C U N D U M dicendum quod, sicut dicit Glossa (ord. et Lomb.) Augustini ibidem, „speculantes dicuntur a speculo, non a specula." Videre autem aliquid per speculum est videre causam per effectum, in quo ejus similitudo relucet. Unde, ,speculatio' ad meditationem reduci videtur." 1 3 („Zu 2. Die Glosse Augustins sagt ebendort: „ E r spricht von Spekulierenden wegen speculum (Spiegel), nicht wegen specula (Hochwarte)". Etwas im Spiegel sehen heißt aber die Ursache durch die Wirkung sehen, in der ihre Ähnlichkeit aufleuchtet. Darum scheint das „schauende Forschen" auf die Betrachtung zurückgeführt werden zu können.") 1 4 Bei K a n t 1 5 , der sich der alten Bedeutung des Wortes noch bewußt ist, 1 6 läßt sich der Bedeutungswandel des Wortes „Spekulation" beobachten. 1 7 Einerseits werden die Ausdrücke „theoretisch" und „spekulativ" noch weitgehend synonym gebraucht, 1 8 andererseits wird bereits nur der illegitime Gebrauch der Vernunft, der Glaubenssachen als Tatsachen vorspiegelt, als spekulativ bezeichnet. 12 13 14
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Vgl. 2. Kor. 3, 7 - 1 8 mit 2. Mose 34, 2 9 - 3 5 . Thomas v. Aquin, Summa Theologica II—II, Quaestio 180, Articulus III. Bezüglich der Herleitung des lateinischen „speculatio", „Betrachtung, Ausschau" von „speculum", „Spiegel, Abbild" (vgl. A. Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1965 4 , 2. Bd., 570/1) hat u.a. H . - G . Gadamer auf Thomas v. Aquin (Summa Theologica I I - I I , 180, 3) hingewiesen. (Vgl. H . - G . Gadamer, Wahrheit und Methode, Tübingen 1965 2 , 441 Anm.; vgl. a . a . O . , 402. Vgl. auch M . Heidegger, Hegel und die Griechen, in: G A 9, 431 u. ferner R . Eisler, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Berlin 1910 3 , 3. Bd., 1402ff., Stichwort „Spekulation" und J . Hoffmeister, Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1955 2 , 570f., „Spekulation". Weil man unter „Spekulation" gewöhnlich nicht die denkende Betrachtung der Entsprechung des Subjektiven und des Objektiven, sondern etwas bloß Subjektives versteht (vgl. SW Bd. 8, § 82 Zusatz, 197), könnte man versucht sein, „Spekulation" durch „Widerspiegelung" zu übersetzen, was wohl auch der ursprünglichen Bedeutung des Wortes näher käme, wenn es nicht durch seinen objektivistisch verzerrten Gebrauch im Zusammenhang mit der sog. „Widerspiegelungstheorie" zu stark belastet wäre. (Vgl. z . B . G. Lukäcs, Hegels Ästhetik, in: G . W . F. Hegel, Ästhetik, Bd. II, Frankfurt/Main o.J. (1965), 602ff.). Vgl. das Einleitungskapitel dieser Arbeit. Vgl. etwa K . r . V . , Anhang zur transzendentalen Dialektik, Absatz 4, A 644/5 / В 672/3 (606), wo Kant zur Verdeutlichung des Unterschieds zwischen dem legitimen regulativen und dem illegitimen konstitutiven Vernunftgebrauch den Vergleich mit dem Spiegel anstellt. Vgl. das Einleitungskapitel dieser Arbeit. Vgl. z . B . K . r . V . , А 15/ В 29 (58).
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In der „Kritik aller Theologie aus spekulativen Prinzipien der Vernunft" sagt Kant: „Eine theoretische Erkenntnis ist s p e k u l a t i v , wenn sie auf einen Gegenstand, oder solche Begriffe von einem Gegenstande, geht, w o z u man in keiner Erfahrung gelangen kann. Sie wird der N a t u r e r k e n n t n i s entgegengesetzt, welche auf keine anderen Gegenstände oder Prädikate derselben geht, als die in einer möglichen Erfahrung gegeben werden können. . . . Wenn man nun vom Dasein der D i n g e in der,Welt auf ihre Ursache schließt, so gehört dieses nicht zum n a t ü r l i c h e n , sondern zum s p e k u l a t i v e n Vernunftgebrauch; . . ," 19 Es ist nun zu zeigen, daß in Hegels Begriff der Spekulation die vorkantische Bedeutung dieses Begriffs aufbewahrt ist, ohne daß deshalb hinter die Kantische Kritik in die Metaphysik zurückgefallen wird. Vielmehr geht Hegels Begriff der Spekulation aus der Metakritik der dogamtischen Metaphysik, insbesondere aus der Metakritik der spekulativen Theologie hervor.
Vorbemerkung zur systematischen Stellung des Begriffs der Spekulation Was zweitens die s y s t e m a t i s c h e S t e l l u n g des Begriffs der Spekulation anbetrifft, so möchte ich zunächst kurz auf Hegels „Einteilung der Logik" eingehen.20 „Das L o g i s c h e hat der Form nach drei Seiten: α) die a b s t r a k t e o d e r v e r s t ä n d i g e , ß) die d i a l e k t i s c h e oder n e g a t i v - v e r n ü n f t i g e , γ) die s p e k u l a t i v e oder p o s i t i v - v e r n ü n f t i g e . Diese drei Seiten machen nicht drei T h e i l e der Logik aus, sondern sind M o m e n t e jedes L o g i s c h - R e e l l e n , das ist jedes Begriffes oder jedes Wahren überhaupt. Sie können sämmtlich unter das erste Moment, das V e r s t ä n d i g e , gesetzt, und dadurch abgesondert auseinander gehalten werden, aber so werden sie nicht in Wahrheit betrachtet. — Die Angabe, die hier von den Bestimmungen des Logischen gemacht ist, so wie die Eintheilung, ist hier ebenfalls nur anticipirt und historisch." 21
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20 21
K.r.V., A 634/5 /В 662/3 (599/600). Die Physikotheologie, die von der Zweckmäßigkeit und Anordnung der Dinge der gegenwärtigen Welt auf das Dasein eines höchsten Wesens schließt (aus den Zwecken der Natur auf die oberste Ursache der Natur und ihre Eigenschaften) ist nach Kant eine mißverstandene physische Teleologie. Vgl. das Einleitungskapitel dieser Arbeit. Vgl. SW Bd. 8, §§ 7 9 - 8 3 , 184-200 und SW Bd. 6, §§ 1 3 - 1 6 , 3 4 - 3 6 . SW Bd. 8, § 79, 184/5; vgl. SW Bd. 6, § 13, 34 und Log. I, Vorrede zur ersten Ausgabe, Absatz 8, 6: „Der V e r s t a n d b e s t i m m t und hält die Bestimmungen fest; die V e r n u n f t
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Eine entsprechende Einteilung findet sich auch schon in der philosophischen Propädeutik: „Die Logik ist die Wissenschaft des reinen Verstandes und der reinen Vernunft, der eigenthümlichen Bestimmungen und Gesetze derselben. Das Logische hat demnach drei Seiten: 1) die abstracte oder verständige; 2) die dialektische oder negativ vernünftige; 3) die speculative oder positiv vernünftige. Das V e r s t ä n d i g e bleibt bei den Begriffen in ihrer festen Bestimmtheit und Unterschiedenheit von anderen stehen; das D i a l e k t i s c h e zeigt sie in ihrem Uebergehen und ihrer Auflösung auf; das S p e c u l a t i v e oder V e r n ü n f t i g e erfaßt ihre Einheit in ihrer Entgegensetzung oder das Positive in der Auflösung und im Uebergehen." 2 2 „Der philosophische Inhalt hat in seiner M e t h o d e und Seele drei Formen; 1) ist er a b s t r a k t , 2) d i a l e k t i s c h , 3) s p e k u l a t i v ; a b s t r a k t , in sofern er im Elemente des Denkens überhaupt ist; aber bloß abstrakt, dem Dialektischen und Speculativen gegenüber, ist er das sogannnte V e r s t ä n d i g e , das die Bestimmungen in ihren festen Unterschieden festhält und kennen lernt. Das D i a l e k t i s c h e ist die Bewegung und Verwirrung jener festen Bestimmtheiten; die n e g a t i v e Vernunft. Das S p e k u l a t i v e ist das positiv-Vernünftige, das G e i s t i g e , erst eigentlich Philosophische." 2 3 Wie in systematischer Hinsicht von einer — wenn auch vagen Analogie der drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität 24 zu den drei Teilen der Logik ausgegangen werden kann 2 5 , so können die drei Seiten des Logischen — obgleich sie strenggenommen nicht drei Teile der Logik ausmachen, sondern Momente eines jeden Begriffs der Logik sind — aus heuristischen Gründen als in einer gewissen Entsprechung zu den drei Teilen der Logik (sowie zu den drei Stellungen des Gedankens zur O b jektivität) befindlich angesehen werden. „Das S p e k u l a t i v e oder P o s i t i v - V e r n ü n f t i g e faßt die Einheit der Bestimmungen in ihrer Entgegensetzung auf, das A f f i r m a t i v e , das in ihrer Auflösung und ihrem Uebergehen enthalten ist." 2 6 In einem Brief vom 23. Oktober 1812 an den Königl. Bayerischen Oberschulrat Immanuel ist negativ und d i a l e k t i s c h , weif sie die Bestimmungen des Verstandes in Nichts auflöst; sie ist p o s i t i v , weil sie das A l l g e m e i n e erzeugt, und das Besondere darin begreift." 22 SW Bd. 3, § 12, 170/1. " A . a . O . , 313. 24 Vgl. SW Bd. 8, §§ 2 6 - 7 8 , 9 9 - 1 8 4 . 25 Vgl. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 6/1, 170. 26 SW Bd. 8, 82, 195; vgl. SW Bd. 6, § 16, 36. - Hier findet sich anstelle des Ausdrucks „das Affirmative" noch der Ausdruck „das Positive". Vgl. auch Log. I, Einleitung, 38, wo Hegel sagt, daß das Spekulative „in dem Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit oder des Positiven im Negativen besteht."
Die systematische Stellung der Sprache N i e t h a m m e r sagt H e g e l : „ D a s D r i t t e ist das eigentlich
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das h e i ß t , die E r k e n n t n i ß des E n t g e g e n g e s e t z t e n i n s e i n e r E i n h e i t — o d e r genauer, daß die Entgegengesetzten in ihrer W a h r h e i t Eins sind. Dieses S p e k u l a t i v e ist erst das eigentlich P h i l o s o p h i s c h e . Es ist n a t ü r l i c h das S c h w e r s t e ; es ist die W a h r h e i t . " 2 7 „ D a s B e g r i f f e n e , u n d dieß heißt das, aus d e r D i a l e k t i k h e r v o r g e h e n d e , S p e k u l a t i v e ist allein das P h i l o s o p h i sche in d e r F o r m d e s B e g r i f f s . . . . es w i r d ü b e r h a u p t v o n W e n i g e n gef a ß t u n d m a n k a n n z u m Theil auch nicht r e c h t w i s s e n , o b es v o n i h n e n gefaßt w i r d . " 2 8 I m Z u s a t z z u m § 4 3 6 d e r „ E n z y k l o p ä d i e " heißt es: „ D a s Speculative o d e r V e r n ü n f t i g e u n d W a h r e besteht in d e r Einheit des B e g r i f f s o d e r des Subjectiven u n d d e r O b j e c t i v i t ä t . " 2 9 In d e r Einleitung in die R e l i g i o n s p h i l o s o p h i e heißt es d e m e n t s p r e c h e n d : „ S p e c u l a t i v e P h i l o s o p h i e ist das B e w u ß t s e y n d e r Idee . . . " 3 0 D i e L o g i k als die spekulative P h i l o s o p h i e 3 1 ergibt sich am E n d e als die d e n k e n d e B e t r a c h t u n g 3 2 des s p e k u l a t i v e n B e g r i f f s u n d d e r s p e k u l a t i v e n Idee. „ . . . w a s die spekulative Idee selbst a n b e t r i f f t , so ist diese eben nicht ein B e s t i m m t e s , hat nicht die Einseitigkeit, w e l c h e i m Satze liegt, ist nicht e n d l i c h ; s o n d e r n
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SW Bd. 3, 315, vgl. SW Bd. 8, § 9, 53. SW Bd. 3, 316. SW Bd. 10, 290/1. Bereits der junge Hegel bezeichnete die (absolute) Identität des Subjekts und Objekts als „Princip der Spekulation". (SW Bd. 1, 34 und 53; vgl. die Ausführungen zum „Ich = Ich" als dem Ausdruck des Prinzips der Spekulation in Kap. II, 2 dieser Arbeit). Sie wäre das .Prinzip' dieser scheinbar untätigen Betrachtung des philosophischen Denkens, das „gleichsam nur zusieht" und „in sofern ganz passiv" ist. (SW Bd. 8, § 238 Zusatz, 449; vgl. Phä., Absatz 54, 46 und Absatz 58, 48). Diese in Wahrheit weder nur passive noch nur aktive spekulative Reflexion im Anderssein in sich könnte man vielleicht aushilfsweise als .mediale' Reflexion bezeichnen. Als solche fände sie — grammatisch gesehen — wohl einen ersten, unmittelbaren sprachlichen Ausdruck im Reflexivpronomen, das meistens dazu dient, das durch das Verb ausgedrückte Geschehen auf das Subjekt rückzubeziehen. Die Identität des Subjekts mit dem als (Genitiv-, Dativ-, bzw. Akkusativ-)Objekt (als Objekt in einem obliquen Kasus) auftretenden Reflexivpronomen könnte man als sich von sich abkehrende (ablösende) und wieder in sich zurückkehrende oder als verdoppelte Identität bezeichnen. Ist das reflexive Verb keine unlösliche Verbindung mit dem Reflexivpronomen eingegangen — denn diese sog. echten reflexiven Verben sind trotz des Reflexivpronomens intransitiv (z.B. ich entschließe mich) — sondern nur eine lose Verbindung, kann das (unechte reflexive) Verb also auch eine Verbindung mit dem Objekt eingehen, das nicht mit dem Subjekt identisch ist (ζ. B. ich erkenne ihn), so wird im Fall der Identität von Subjekt und Objekt (z.B. ich erkenne mich) die Transitivität des Verbs durch das Objekt gleichsam ins Subjekt umgebogen. SW Bd. 15, 39. Vgl. u.a. SW Bd. 6, § 17, 36ff. Vgl. SW Bd. 8, § 2, 42.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
sie hat das absolut Negative an ihr selbst, den Gegensatz in ihr selbst: sie ist in sich rund, enthält dieß Bestimmte und sein Entgegengesetztes an ihr, diese Idealität in ihr selbst." 3 3 Als bestimmte setzt sie sich wieder in Einheit mit dem entgegengesetzten Bestimmten. „Im Spekulativen ist das Andere schon selbst enthalten. Das ist andere Identität, als die des Verstandes. Der Gegenstand ist konkret in sich, sich selbst entgegengesetzt. Ebenso ist aber Auflösung dieses Gegensatzes selbst vorhanden. Das Spekulative kann so nicht als Satz ausgedrückt weden." 3 4 Die Identität in der Nichtidentität der als Subjekt bzw. Satzgegenstand und Satzaussage einander entgegengesetzten Gedanken kann nicht in einem Satz ausgedrückt werden. Besteht das Spekulative im allgemeinen in nichts anderem als darin, seine Gedanken zusammenzubringen 35 , so bestünde die spekulative Philosophie als metakritische Philosophie insbesondere darin, die Gedanken der kritischen bzw. diakritischen Philosophie Kants zusammenzubringen. 36 Anzuknüpfen wäre vor allem an die Kantische Kritik der so genannten spekulativen Sätze der Theologie.
Die systematische Stellung der Sprache Die Problematik einer Korrellation der Momente des theoretischen Geistes (Enzyklopädie, §445—468) und der Gestalten des erscheinenden Geistes (Phänomenologie des Geistes) Im Anschluß an die voranstehende Vorbemerkung zur systematischen Stellung des Begriffs der Spekulation möchte ich jedoch zunächst auf die systematische Stellung der Sprache in der Hegeischen Philosophie im allgemeinen zu sprechen kommen. Hegel hat die Sprache in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" in den Paragraphen behandelt, die unter der Uberschrift „Die Vorstellung" stehen. 37 „Die V o r s t e l l u n g ist als die erinnerte Anschauung die Mitte zwischen dem unmittelbaren Sich-bestimmt-finden der Intelligenz und zwischen derselben in ihrer Freiheit, dem Denken." 3 8 33 34 35 36 37 38
SW Bd. 18, 579. A . a . O . , 580, vgl. SW Bd. 8, § 82 Zusatz, 197. Vgl. SW Bd. 16, 467. Vgl. SW Bd. 8, § 60, 158. Vgl. SW Bd. 10, §§ 4 5 1 - 4 6 4 , 3 2 8 - 3 5 8 bzw. SW Bd. 6, §§ 373 - 3 8 3 , 265 - 2 7 1 . SW Bd. 10, § 451, 328.
Die systematische Stellung der Sprache
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Zu Anfang des § 459, in dem Hegel näher auf die Sprache eingeht, sagt er: „Die Anschauung, — als unmittelbar zunächst ein Gegebenes und Räumliches, - erhält, insofern sie zu einem Zeichen gebraucht wird, die wesentliche Bestimmung, nur als aufgehobene zu seyn. Die Intelligenz ist diese ihre Negativität; so ist die wahrhaftere Gestalt der Anschauung, die ein Zeichen ist, ein Daseyn in der Z e i t , — ein Verschwinden des Daseyns, indem es ist — und nach seiner weitern äußerlichen, psychischen Bestimmtheit ein von der Intelligenz aus ihrer (anthropologischen) eigenen Natürlichkeit hervorgehendes G e s e t z t s e y n , der T o n , die erfüllte Aeußerung der sich kund gebenden Innerlichkeit. Der für die bestimmten Vorstellungen sich weiter articulirende Ton, die R e d e und ihr System, die S p r a c h e , gibt den Empfindungen, Anschauungen, Vorstellungen ein zweites, höheres, als ihr unmittelbares Daseyn, überhaupt eine Existenz, die im R e i c h e des V o r s t e l l e n s gilt." 39 In § 78 seiner „Grundlinien der Philosophie des Rechts", in dem sich Hegel auf § 379f. der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" bezieht, bezeichnet er die Sprache als das der geistigen Vorstellungen würdigste Element. Die Vorstellung aber ist „die Mitte in dem Schlüsse der Erhebung der Intelligenz" 40 als des theoretischen Geistes, die Mitte zwischen Anschauung und Denken. Ausgehend von Hegels Ausführungen über die Sprache an verschiedenen Stellen der „Phänomenologie" 4 1 kann die Sprache als Mitte betrachtet werden, die sich als „Äußerung bestimmt, welche zugleich ins Innere zurückgenommen ist." 4 2 Versucht man nun zum Zwecke der Ermittlung der Stel39
A . a . O . , 345/6. Vgl. SW Bd. 6, § 380, 270. Der letzte Satz dieses Paragraphen lautet: „Der für die bestimmten Vorstellungen sich weiter articulirende Ton, die R e d e und ihr System, die Sprache giebt den Empfindungen, Anschauungen ein zweytes höheres, als ihr unmittelbares und den Vorstellungen überhaupt ein D a s e y n , das im R e i c h e des V o r s t e l l e n s gilt." Die im Hinblick auf die folgende Vorbetrachtung interessante Frage, ob der Tatsache, daß Hegel in der Fassung von 1830 eine Kategorie der Wesenslogik aufnimmt — vgl. dazu auch Hegels Bestimmung der Sprache in SW Bd. 18, 133 und SW Bd. 19, 314 — eine systematische Bedeutung zugemessen werden kann, möchte ich hier offenlassen.
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SW Bd. 10, § 455, 336; vgl. a . a . O . , § 445, 307ff. Vgl. insbes. Phä., 232f., 362ff. und 458f. A . a . O . , 232. Zu Hegels Charakterisierung der Sprache als Mitte in der „Phänomenologie" vgl. Th. Bodammer, Hegels Deutung der Sprache, Hamburg 1969, 92ff. Bodammer hat in seinen Ausführungen über Sprache und Bewußtsein in § 4 seines Buches Hegels Deutung der Sprache im Kapitel „Die Kunst-Religion" nicht gewürdigt. — In der „Wissenschaft der Logik" stellt Hegel im Abschnitt über den chemischen Prozeß einen Vergleich an, der geeignet ist, die Sprache als die „Flüssigkeit" des Begriffs zu veran-
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lung der Sprache in der „Phänomenologie des Geistes" eine Entsprechung der Dreiteilung der Momente des theoretischen Geistes (in der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften") in der Gliederung der Gestaltungen des erscheinenden Geistes zu entdecken, so erhält man einen ersten Hinweis in Hegels Behandlung der „Phänomenologie des Geistes" innerhalb der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" 4 3 , und zwar zunächst in § 418, in dem er das sinnliche Bewußtsein behandelt. Dort heißt es: „Die räumliche und zeitliche Einzelnheit, H i e r und J e t z t , wie ich in der P h ä n o m e n o l o g i e des G e i s t e s S.25ff. den Gegenstand des sinnlichen Bewußtseyns bestimmt habe, gehört eigentlich dem Anschauen an."44 Auch im Hinblick auf die weitere Entsprechung der konkreten Gestalten des erscheinenden Geistes und der abstrakten Momente der Logik ist m. E . davon auszugehen, daß - ohne damit die wesentlichen Unterschiede in Abrede stellen zu wollen — die Anschauung der sinnlichen Gewißheit entspricht, während die Vorstellung dem großen Teil der „Phänomenologie" entspricht, der von der Wahrnehmung 4 5 bis zur Religion reicht. Die Vorstellung ist nach Hegel die noch unüberwundene Seite der Religion. 4 6 schaulichen, in der die Gedanken in ihrem Element sind und sich frei bewegen können. „Da der reale Unterschied den Extremen angehört, so ist diese Mitte nur die abstrakte Neutralität, die reale Möglichkeit derselben, — gleichsam das t h e o r e t i s c h e E l e m e n t der Existenz von den chemischen Objekten, ihres Prozesses und seines Resultats; — im Körperlichen hat das W a s s e r die Funktion dieses Mediums; im Geistigen, insofern in ihm das Analogon eines solchen Verhältnisses stattfindet, ist das Z e i c h e n überhaupt, und näher die S p r a c h e dafür anzusehen." (Log. II, 379, vgl. Phä., 496). 43 44
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SW Bd. 10, § 413ff., 255ff. SW Bd. 10, § 418, 264, vgl. auch den Hinweis auf § 448 im Zusatz zum § 418. Vgl. aber auch die Einschränkung, die im Zusatz zum § 449 gemacht wird, in dem auf den wesentlichen Unterschied zwischen sinnlichem Bewußtsein und Anschauung aufmerksam gemacht wird. In § 420 der „Enzyklopädie" ( a . a . O . , 267) äußert Hegel die Auffassung, daß die Stufe, auf der die Kantische Philosophie — die Hegel in der zweiten Stellung des Gedankens zur Objektivität findet (vgl. SW Bd. 8, § 40ff., 123ff.) - den Geist auffasse, das W a h r n e h m e n sei. In § 415 sagt Hegel, daß die Kantische Philosophie am bestimmtesten so betrachtet werden könne, daß sie den Geist als Bewußtsein aufgefaßt hat, weshalb es „für einen richtigen Sinn dieser Philosophie anzusehen (ist, G . W . ) , daß sie von R e i n h o l d als eine Theorie des B e w u ß t s e y n s , unter dem Namen V o r s t e l l u n g s v e r m ö g e n , aufgefaßt worden ist." (SW Bd. 10, 259. Vgl. ferner die Kennzeichnung des wahrnehmenden Bewußtseins im letzten Satz des Zusatzes zu § 420, a . a . O . , 268). Ist die zweite Stellung des Gedankens zur Objektivität diejenige der Vorstellung, ist dann in Hegels Einordnung der Kantischen Philosophie nicht ein indirekter Hinweis darauf enthalten, daß das wahrnehmende Bewußtsein vorstellendes Bewußtsein ist, d. h. daß die Sphäre der Vorstellung in der „Phänomenologie" bereits bei der Wahrnehmung beginnt? Vgl. Phä., 480.
Die systematische Stellung der Sprache
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Selbst der Geist der offenbaren Religion hat sein Bewußtsein als solches noch nicht überwunden, d. h. „sein wirkliches Selbstbewußtsein ist nicht der Gegenstand seines Bewußtseins; er selbst überhaupt und die in ihm sich unterscheidenden Momente fallen in das Vorstellen und in die Form der Gegenständlichkeit." 47 Das religiöse Bewußtsein ist noch vorstellendes Bewußtsein. 48 Erst das Denken entspräche dann schießlich dem absoluten Wissen. 4 9 Ausgehend von der Arbeitshypothese einer Entsprechung zwischen den Momenten des theoretischen Geistes und den Gestalten des erscheinenden Geistes überhaupt ergäbe sich für die Stellung der Sprache in der Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins das vorstellende Bewußtsein als Mitte zwischen sinnlicher Gewißheit und begreifendem Wissen. So gesehen würde auch die Verbindung der sinnlichen Gewißheit des unmittelbaren Wissens mit dem absoluten Wissen deutlicher. „Denn der sich selbst wissende Geist ebendarum, daß er seinen Begriff erfaßt, ist er die unmittelbare Gleichheit mit sich selbst, welche in ihrem Unterschiede die G e w i ß h e i t vom U n m i t t e l b a r e n ist, oder das s i n n l i c h e B e w u ß t sein — der Anfang, von dem wir ausgegangen; dieses Entlassen seiner aus der Form seines Selbsts ist die höchste Freiheit und Sicherheit seines Wissens von sich." 5 0 Der „in sich zurückgehende Kreis" 5 1 der Erfahrung schließt sich an seinem Ende, im begreifenden Anschauen 52 , in diskursiver Intuition mit seinem Anfang, dem noch begrifflosen Anschauen zusammen. Diese erste sinnliche Gewißheit ist in jener ,zweiten' sinnlichen Gewißheit der Idee als des Gesehenhabens des Sinns aufgehoben. Die ,Untersprachlichkeit' der sinnlichen Anschauung in ihrer Unmittelbarkeit 53 — sollte diese ,Pränominalität' nicht besser als ,Pronominalität' des Meinens
47
48 49
Phä., 549; vgl. ferner a . a . O . , 532, 548 und 5 5 3 / 4 sowie den zweiten Teil dieses Kapitels dieser Arbeit. Vgl. SW Bd. 12, 148ff., insbes. 151. Verweist Hegel in der Anmerkung zum § 4 6 7 auf die Anmerkung des § 4 3 7 , so ist unter Vernunft im Sinne der §§ 438 und 4 3 9 wohl nicht die Vernunft im engeren Sinne (Kap. V der „Phänomenologie") zu verstehen, sondern die Vernunft im weiteren Sinne (Kap. V—VIII der „Phänomenologie"), deren Ziel und Vollendung die sich selbst erkennende Vernunft, die sich „wissende Wahrheit" (vgl. § 4 3 9 , SW Bd. 10, 293 und a . a . O . , § 4 6 7 Zusatz, 363), d. h. der Geist und zwar der auch die religöse Vorstellung seiner selbst als überwundene aufhebende und sich am Ende in „Geistsgestalt wissende Geist" ist. (Phä., 5 5 6 und 564).
50
A . a . O . , 563.
51
A . a . O . , 559. Vgl. a . a . O . , 558. Vgl. B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 9.
52 53
78
I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
bezeichnet werden? — ist in der begreifenden Anschauung des konkreten Allgemeinen der absoluten Idee als Moment ihrer Individualität bzw. Unmittelbarkeit (Ineffabilität) aufgehoben. Dem vorstellenden Denken erscheint dieses Moment erhöht als ,Übersprachlichkeit' und Ubersinnlichkeit. Vorgreifend kann gesagt werden, daß die absolute, sich selbst frei entlassende (absolvierende) Idee, die das absolute Wissen ihrer selbst ist, wenn sie von Hegel am Ende als Anschauen begriffen wird 54 , im Rückblick auf Kant zunächst als spekulative Einsicht in die Identität in der Nichtidentität von ästhetischer Idee und logischer Vernunftidee gefaßt werden muß. S 4 a Zurückkommend auf die zwischen Anschauen und Begreifen vermittelnde Sphäre stellt sich zunächst die Frage, in welchem Verhältnis nun Sprache und vorstellendes Bewußtsein in Anbetracht der Erfahrung stehen, die das vorstellende Bewußtsein im Entwicklungsgang vom wahrnehmenden und verständigen bis zum religiösen Bewußtsein macht. Hier kann in systematischer Hinsicht zunächst nur folgendes vorangeschickt werden: Die Sprache bzw. die in ihr wirkende Vernunft 55 hat die „göttliche Natur" 5 6 , die Meinung unseres natürlichen vorstellenden — und zwar hier unseres verständigen — Bewußtseins, nicht dahinter kommen zu können, was das An-Sich oder das Wesen seines Gegenstandes ist, im Allgemeinen unmittelbar zu verkehren und dieses Wesen in seinem „Für-dasBewußtsein-Sein" in Erscheinung treten zu lassen oder das vermeintliche Ansich als „Für-es-Sein dieses Ansich" zum Bewußtsein zu bringen. 57 Daß die Umkehrung des (verständigen) Bewußtseins zu sich selbst aber zunächst selbst noch unmittelbar und selbstverständlich vor sich geht — nur einem Instinkt der Vernunft folgend und ohne Wissen des Bewußtseins über das, was ihm geschieht und gleichsam hinter seinem Rücken vorgeht, indem etwas in die Sprache hereintritt — dieses Moment des „Ansich- oder Fürunsseins" zeigt sich darin, daß durch die dialektische Bewegung der Erfahrung des Bewußtseins, durch die das Für-das-Bewußtsein-Sein des Ansich-Seins als neuer Gegenstand entspringt, der Vorhang vor dem Innern 54 54a
55 56 57
Vgl. SW Bd. 8, § 244, 4 5 1 / 2 . V g l . dazu den Aufsatz des Verfassers: Die absolute Idee als begreifendes Anschauen, Bemerkungen zu Hegels Begriff der spekulativen Idee, in dem die These vertreten wird, daß die (Hegeische) absolute Idee als absolute Methode der Ubergang von der (Kantischen) ästhetischen Idee als inexponibler Anschauung zur (Kantischen) Vernunftidee aid indemonstrablem Begriff ist. Die Vernunft in der Sprache wird weiter unten betrachtet werden. Phä., 89. Vgl. a . a . O . , 7 0 - 7 5 und 8 8 / 9 .
Die systematische Stellung der Sprache
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oder dem Wesen 58 zwar weggezogen, mit dem Auftreten einer neuen Gestalt des Bewußtseins, d.h. mit dem Anfang der Vorstellung des neuen Gegenstands als Gegenstands aber sogleich auch wieder zugezogen wird. Das Moment des Ansich- oder Fürunsseins, das nicht nur ein Moment der Bewegung vom (verständigen) Bewußtsein zum Selbstbewußtsein, sondern ein Moment des Entwicklungsgangs aller Gestalten des vorstellenden Bewußtseins überhaupt ist, vergeht erst in dem Augenblick, in dem die Form des Vorstellens und der Gegenständlichkeit aufgehoben wird, in dem die Bewegung der Umkehrung des Bewußtseins als Bewegung ihrer an ihr selbst, als Selbstbewegung und Leben, d.h. indem die sich bewegende Sichselbstgleichheit 59 als absolute Sichselbstgleichheit in der absoluten Zerrissenheit und Verschiedenheit gewußt wird. 6 0 Die dialektische Bewegung, die Bewegung, die zugleich ihre Gegenbewegung ist, das Sichvon-sichselbst-Abstoßen, der Gegenstoß in sich, ist die Bewegung, mit der gleichsam der Vorhang, der das Innere verdeckt, endgültig zerstört oder zerrissen wird. 6 1 Das, was an sich mit der Wendung des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein momentan erreicht ist, wird in der Tat an und für sich erst in der offenbaren Religion vollbracht (die als absolute Religion im absoluten Wissen aufgelöst, aber auch eingelöst ist) und wird an dem Punkt zum Vorschein gebracht, an dem die natürliche Religion in der Kunstreligion untergeht. (An diesem Punkt erst, also mit der Kunst-Religion, beginnt übrigens in der „Phänomenologie" strenggenommen auch der Bereich, den man als denjenigen betrachten kann, der in Entsprechung steht zu demjenigen, den Hegel in der „Enzyklopädie" als absoluten Geist bezeichnet.) Μ. E. ist das Umspringen des geistigen Bewußtseins ins geistige Selbstbewußtsein 62 (d.h. der natürlichen Religion in die Kunst-Religion) das Resultat einer „umständlichen" 63 Erfahrung des Bewußtseins insgesamt, die ihren ersten entscheidenden Wendepunkt dort hat, wo das verständige Bewußtsein unmittelbar selbstbewußt wird. 6 4 58
59 60 61
62 63 64
Vgl. Phä., 128/9, SW Bd. 8, § 112, 262 und das Ende des zweiten Teils der Einleitung in diese Arbeit. Vgl. a . a . O . , 560. Vgl. a . a . O . , 30 und 370. Vgl. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 71 und dazu Matthäus 27, 51: „Und siehe da, der Vorhang im Tempel zerriß in zwei Stücke von obenan bis untenaus." (Vgl. 2. Moses 26, 3 1 - 3 3 ) . Vgl. Phä., Kapitel VII А/ VII B. A . a . O . , 129. Vgl. a . a . O . , Kapitel III/IV. Es wäre am Text im Einzelnen zu prüfen, inwiefern in dem „Spiel der beiden Kräfte" ( a . a . O . , 108), von dem im III. Kapitel der „Phänomenologie"
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Im letzten Absatz der Vorbetrachtung über die Religion sagt Hegel zusammenfassend, daß in der natürlichen Religion der Geist überhaupt in der Form des Bewußtseins, in der künstlichen Religion dagegen in der Form des Selbstbewußtseins ist. 6 5 Betrachtet man die Formen der natürlichen Religion im Einzelnen, so sieht man, daß Hegel demgemäß die Blumenund Tierreligion etwa als „Religion der geisten W a h r n e h m u n g " 6 6 bezeichnet. Entsprechend kann man von der Religion, in der das absolute Wesen unmittelbar als Lichtwesen bewußt wird, als von der Religion der geistigen G e w i ß h e i t sprechen 6 7 und die Religion des Werkmeisters der abstrakten Verstandesform als Religion des geistigen V e r s t a n d e s charakterisieren. 68 Dieser ägyptischen Religion gegenüber ist die griechische Kunst-Religion die Religion des geistigen Selbstbewußtseins. Vielleicht könnte man sich die beiden Punkte, an denen das geistige Bewußtsein ins geistige Selbstbewußtsein bzw. das Bewußtsein ins Selbstbewußtsein umschlägt, gleichsam vorstellen als die beiden ,Brennpunkte' eines Erfahrungsbereichs des Bewußtseins als vorstellenden Bewußtseins der von der Wahrnehmung 6 9 bis zur Religion reicht. 7 0 Zu der Umkehrung des Bewußtseins ins Selbstbewußtsein, von der am Ende des Kapitels „ K r a f t und Verstand" die Rede ist, sei hier mit Rücksicht auf die Kantische Philosophie nur kurz an Folgendes erinnert: Versteht man unter dem Äußeren die Erscheinung oder das sinnliche Diesseits, unter dem Inneren dagegen das Wesen oder das übersinnliche Jenseits (die erste übersinnliche Welt), so ist das gänzlich aus sich herausgegangene,
65 66 67 68
69 70
die Rede ist, auch das in der Sprache immer schon stattfindende Zusammenspiel von bestimmender und reflektierender Urteilskraft gesehen werden kann, auf deren Dialektik Hegel bei der Behandlung der Dialektik von setzender und äußerer Reflexion am Anfang der Wesenslogik zu sprechen gekommen ist. Bereits J . Simon hat darauf aufmerksam gemacht, daß Hegel der „ K r a f t " Merkmale zuschreibt, die er in anderen Zusammenhängen dem T o n , der Stimme und näher dem Wort zuschreibt. Vgl. J . Simon, Das Problem der Sprache bei Hegel, Stuttgart 1966, Kap. II, 3. „Sprachlichkeit des Bewußtseins und Transzendenzbewußtsein", 42—47. Vgl. auch Jenaer Realphilosophie, 183, w o Hegel die Sprache als namengebende Kraft bezeichnet. Vgl. Phä., 480. Phä., 485. Vgl. insbes. den 2. Absatz des Kapitels über das Lichtwesen, Phä., 483. Vgl. a . a . O . , 486ff. Zur Entsprechung der Gestalten des Bewußtseins und des geistigen Bewußtseins vgl. bereits J . Heinrichs, Die Logik der „Phänomenologie des Geistes", Bonn 1974, 425 , 430 —433 und Schema 2 im Anhang des Buches. Vgl. Phä., Kapitel II. Vgl. a . a . O . , Kapitel VII. Gedacht ist an einen Vergleich mit der Ellipse. Der Anfang der Wahrnehmung und das Ende der Religion stellten so gleichsam die beiden ,Hauptscheitelpunkte' dar.
Die systematische Stellung der Sprache
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in die Erscheinung getretene (eingelassene) und geäußerte Wesen, das in der Erscheinung aufgegangene und vollendete Wesen oder die vom Wesen völlig erfüllte, in sich gegangene und erinnerte Erscheinung. Dieses Jenseits im Diesseits, diese sinnliche-übersinnliche sichtbare-unsichtbare Welt, die Hegel als zweite übersinnliche oder verkehrte Welt bezeichnet 71 , kann als die spekulative Welt des gleichsam im Spiegel der Sprache zu sich selbst kommenden Bewußtseins betrachtet werden. 72 Die erste übersinnliche Welt verhält sich zur zweiten übersinnlichen Welt wie der erste Gegenstand des Bewußtseins (das Wesen oder das Ansich) zum zweiten Gegenstand (zum Für-das-Bewußtsein-Sein des Ansich) des Bewußtseins 73 bzw. wie das erste (gegenständliche) Subjekt zum zweiten Subjekt, dem wissenden Ich. 7 4 Die zweite übersinnliche (verkehrte) Welt, die als Vereinigung der sinnlichen und der (ersten) intellektuellen Welt zu betrachten ist, zeigt sich als geworden durch eine Umkehrung des Bewußtseins. Dementsprechend wird auch im spekulativen Satz das zweite wissende Subjekt als Einheit in der Unterschiedenheit von Prädikat und (gegenständlichem) Subjekt zu betrachten sein. Am Ende seines Entwicklungsganges — an dem es seinen Wendepunkt zum Selbstbewußtsein erreicht — ist das Bewußtsein „Bewußtsein des Unterschieds als eines u n m i t t e l b a r ebensosehr Aufgehobenen; es ist f ü r sich s e l b s t , es ist U n t e r s c h e i d e n des U n u n t e r s c h i e d e n e n , oder S e l b s t b e w u ß t s e i n . Ich u n t e r s c h e i d e m i c h von m i r s e l b s t , und es ist darin u n m i t t e l b a r f ü r m i c h , daß dies U n t e r s c h i e d e n e n i c h t u n t e r s c h i e d e n ist. Ich, das Gleichnamige, stoße mich von mir selbst ab; aber dies Unterschiedne, ungleich Gesetzte ist unmittelbar, indem es unterschieden ist, kein Unterschied für mich." 7 5 71 72
73
Vgl. a . a . O . , 121. B. Liebrucks hat die zweite übersinnliche Welt begriffen als die Welt, wie sie durch das Medium der Sprache erscheint. Vgl. B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 2, 4 1 6 , Bd. 5, 6 7 ; vgl. auch a . a . O . , 5 2 - 7 1 , 97 und 113. Vgl. Phä., Einleitung, Absätze 14 und 15, 7 3 / 4 .
74
Vgl. a . a . O . , Vorrede, Absatz 60, 50/1 und dazu weiter unten Kap. 1,3 dieser Arbeit.
75
Phä., 128. Das Ich, als das Gleichnamige, ist das Eine von sich selbst Unterschiedene, das die doppelte Bedeutung hat, einerseits Subjekt, andererseits Objekt zu sein. (Vgl. dazu auch Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Kants Schriften. Werke VII, 134 A n m . ) . Vielleicht entspräche es auch dem spekulativen Geist der Sprache, wenn man das Gleichnamige weiter im Sinne des griechischen όμώνυμον als H o m o n y m faßte, d . h . als das gleichnamige (gleichlautende), aber in seiner Bedeutung verschiedene und deshalb doppelsinnige bzw. mehrdeutige W o r t . Das doppeldeutige W o r t enthält an ihm selbst bereits eine Bewegung, die sich zunächst als ein Schwanken der Bedeutung bemerkbar
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Die Einheit des Selbstbewußtseins in ihrer Verdoppelung 76 , dies I c h = Ich ist eine sich selbst bewegende Sichselbstgleichheit 77 , die Einheit des Begriffs in ihrer Urteilung, um deren Darstellung es im spekulativen Satz geht, in welchem dem gewohnten Verhalten des Wissens gleichsam der Spiegel vorgehalten wird. Im Spiegel der Sprache, dem Dasein des Selbsts als Selbst 78 ist gleichsam das „Schauen des Selbsts in das Selbst" 7 9 möglich. Das Kapitel „Kraft und Verstand" endet mit den bekannten Worten, die ich mir, der Bedeutung für die Ausführungen des ersten Kapitels dieser Arbeit wegen erlaube, ausführlich in Erinnerung zu bringen: „Erhoben über die Wahrnehmung, stellt sich das Bewußtsein mit dem Ubersinnlichen durch die Mitte der Erscheinung zusammengeschlossen dar, durch welche es in diesen Hintergrund schaut. Die beiden Extreme, das eine des reinen Innern, das andere des in dies reine Innre schauende Innern, sind nun zusammengefallen, und wie sie als Extreme, so ist auch die Mitte als etwas anders als sie verschwunden. Dieser Vorhang ist also vor dem Innern weggezogen, und das Schauen des Innern in das Innere vorhanden; das Schauen des u n u n t e r s c h i e d e n e n Gleichnamigen, welches sich selbst abstößt, als u n t e r s c h i e d e n e s Innres setzt, aber f ü r w e l c h e s ebenso unmittelbar die U n u n t e r s c h i e d e n h e i t beider ist, das S e l b s t b e w u ß t s e i n . Es zeigt sich, daß hinter dem sogenannten Vorhange, welcher das Innre verdecken soll nichts zu sehen ist, wenn w i r nicht selbst dahintergehen, ebensosehr damit gesehen werde als daß etwas dahinter sei, das gesehen werden kann. Aber es ergibt sich zugleich, daß nicht ohne alle Umstände geradezu dahinter gegangen werden könne; denn dies Wissen, was die Wahrheit der V o r s t e l l u n g der Erscheinung und ihres Innern ist, ist selbst nur Resultat einer umständlichen Bewegung, wodurch die Weisen des Bewußtseins Meinen, Wahrnehmen und der Verstand verschwinden; und es wird sich ebenso ergeben, daß das Erkennen dessen, was das B e w u ß t s e i n w e i ß ,
macht, das das formale vorstellende Denken stört und ihm den festen Boden entzieht, eine Bewegung, die schließlich für die Zerstörung der Natur des Satzes verantwortlich zu machen sein wird. Der S a t z bzw. das Urteil wird zwar der Bestimmung des Begriffs näher kommen als das einzelne W o r t , als einzelner Satz aber wird er sich als ebenso ungeschickt erweisen, die dialektische Bewegung darzustellen. 76 77
78 79
Vgl. Phä., 141 ff. Vgl. a . a . O . , 5 6 0 / 1 . Der junge Hegel hat das „Ich = I c h " als Ausdruck des Prinzips der Spekulation, der Identität des Subjekts und des Objekts bezeichnet. Zu dem identischen Satz „Ich = I c h " vgl. die Ausführungen über das unendliche Urteil im zweiten Teil des zweiten Kapitels dieser Arbeit. Vgl. Phä., 3 6 2 , 4 5 8 und 488. A . a . O . , 414.
Die systematische Stellung der Sprache
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i n d e m es sich s e l b s t w e i ß , noch weiterer Umstände bedarf, deren Auseinanderlegung das Folgende ist." 8 0 Wenn im zweiten Teil dieses Kapitels dieser Arbeit nun der Teilbereich des vorstellenden Bewußtseins im Zentrum der Untersuchung stehen wird, als dessen ,Brennpunkt' — um mich hier noch einmal dieser Hilfsvorstellung zu bedienen — der Punkt des Übergangs der Naturreligion in die Kunst-Religion angesehen wurde, so geschieht das deshalb, weil Bewußtsein bzw. Selbstbewußtsein als im geistigen Bewußtsein bzw. Selbstbewußtsein aufgehobene betrachtet werden können. Als hilfreich für diese Untersuchung des Problems der sprachlichen Darstellung des spekulativen Denkens möchte ich die Tatsache ansehen, daß Hegel an verschiedenen Stellen des Kapitels über die Religion expressis verbis über die Sprache gehandelt hat, die — soweit ich sehe — in ihrem Zusammenhang bisher noch nicht genügend beachtet worden sind. Die Momente der religiösen Vorstellung des philosophischen Begriffs, die als höchste Vorstellung des spekulativen Begriffs den Gesamtbereich der Vorstellung repräsentiert, werden als Momente der sprachlichen Darstellung des philosophischen Begriffs betrachtet werden.
Die Problematik einer Entsprechung der Gestalten des erscheinenden Geistes (Phänomenologie des Geistes) und der abstrakten Momente der Wissenschaft (Wissenschaft der Logik) Zuvor soll jedoch im Anschluß an diese Vorüberlegungen zur Entsprechung der Momente des theoretischen Geistes — wie sie Hegel in der „Enzyklopädie" im ersten Teil der Psychologie abgehandelt hat — und der Gestalten des Bewußtseins noch die Entsprechung dieser Gestalten des erscheinenden Geistes und der abstrakten Momente der „Wissenschaft der Logik" kurz betrachtet werden. 81 Einen Anhaltspunkt, wie diese Entsprechung zu denken ist, gibt Hegel in der „Wissenschaft der Logik" an einer Stelle, an der vom Verhältnis „des V e r s t a n d s o d e r B e g r i f f s " zu den ihm vorausgesetzten Stufen spricht. 82 80 81
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Phä., 128/9. Vgl. Phä., 562: „. . . jedem abstrakten Momente der Wissenschaft (entspricht, G . W . ) eine Gestalt des erscheinenden Geistes überhaupt." Vgl. Log. II, 223. Aus dieser zunächst vielleicht etwas überraschenden Gleichsetzung des Verstandes und des Begriffs ergibt sich m.E. freilich nur dann eine systematische
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
„In unserer Wissenschaft, als der reinen Logik, sind diese Stufen Sein und W e s e n . In der P s y c h o l o g i e sind es das G e f ü h l und die A n s c h a u u n g , und dann die V o r s t e l l u n g überhaupt, welche dem Verstände vorausgeschickt werden. In der P h ä n o m e n o l o g i e des Geistes als der Lehre vom Bewußtsein wurde durch die Stufen des s i n n l i c h e n B e w u ß t s e i n s und dann des W a h r n e h m e n s zum Verstände aufgestiegen." 83 Geht man davon aus, daß eine Entsprechung gesehen werden kann zwischen der Stufe der Anschauung bzw. des Gefühls 8 4 , der Stufe des sinnlichen Bewußtseins 85 und der Stufe des Seins 86 — wobei bereits durch den unterschiedlichen Umfang der betreffenden Texte deutlich werden dürfte, daß man bei dem Versuch, Parallelen im Einzelnen zu konstruieren nicht zu weit gehen und die Entsprechung überstrapazieren sollte — so wird der Stufe der Vorstellung 87 die Sphäre des erscheinenden Geistes entsprechen, die von der Stufe des wahrnehmenden Bewußtseins bis zur Stufe des religiösen Bewußtseins reicht, 88 sowie die Sphäre der Logik, die zwischen Sein und Begriff steht und die „Mitte" 8 9 desselben ausmacht, d . h . die Sphäre des Wesens. 90 (Wollte man nur von drei,Stufen' in der „Phänomenologie" sprechen, und die mittleren Stufen sozusagen nur als Zwischenstufen ansehen, so würde sich der Geist als wahrnehmendes Bewußtsein auf die Stufe erheben, die der Stufe des Wesens entspricht, d. h. er würde diese Stufe zwar als wahrnehmendes Bewußtsein betreten, aber als religiöses Bewußtsein verlassen, um sich auf eine neue Stufe zu erheben.
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Schwierigkeit, wenn man den Verstand von der Vernunft absondert und trennt und nicht als Anfang der Erscheinung der Vernunft faßt. (Vgl. а. а. O . , 252 und ferner SW Bd. 8, § 79, 184/5). Zuerst, d . h . am Anfang des dritten Buches der „Wissenschaft der Logik" ist der Begriff selbst der formelle und die Vernunft ist als formelle nur eine verständige. (Vgl. Log. II, 238/9). Log. II, 223. Dächte man zuerst bloß an die Lehre vom Bewußtsein im engeren Sinne (das die ersten drei Kapitel umfaßt), so könnte man, wenn hier vom Verstände die Rede war, zunächst nur an das III. Kapitel der „Phänomenologie" denken, faßt man dagegen die „Phänomenologie des Geistes" als „Wissenschaft der E r f a h r u n g des B e w u ß t s e i n s " (Phä., 74), d . h . als Lehre vom Bewußtsein im weiteren Sinne (das alle Kapitel umfaßt), so ist der Verstand — als vernünftiger - am Ende als denkendes bzw. begreifendes Wissen zu betrachten. Vgl. SW Bd. 10, §§ 446-450, 314-328. In der Heidelberger Enzyklopädie gliedert Hegel den theoretischen Geist in: 1) Gefühl, 2) Vorstellung, 3) Denken. Vgl. SW Bd. 6, § 369ff. 263ff. Vgl. Phä., Kapitel I. Vgl. Log. I, 1. Buch. Vgl. SW Bd. 10, §§ 451-464, 328-358. Vgl. Phä., Kapitel I I - V I I . Log. II, 5. A . a . O . , 2. Buch.
Die systematische Stellung der Sprache
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„. . . der Geist als a n s c h a u e n d , ebenso als s i n n l i c h e s B e w u ß t s e i n ist in der Bestimmtheit des unmittelbaren Seins so wie der Geist als v o r s t e l l e n d , wie auch als w a h r n e h m e n d e s Bewußtsein sich vom Sein auf die Stufe des Wesens oder der Reflexion erhoben hat." 9 1 Der Stufe des Denkens schließlich 92 würde dann die Stufe des absoluten begreifenden Wissens 93 sowie die Stufe des Begriffs 94 entsprechen. Wenn es so sein sollte, daß Hegel die drei logischen Stufen (Sein, Wesen, Begriff) mit den drei Teilen der „Enzyklopädie" (Wissenschaft der Logik, Philosophie der Natur, Philosophie des Geistes) und — was die Binnengliederung der einzelnen Teile anbetrifft — ferner mit den drei Abteilungen der Naturphilosophie (mechanische, unorganische und organische Natur bzw. Mechanik, Physik 95 und Organik) und bezüglich der Philosophie des Geistes — noch weiter mit den drei Unterabteilungen des subjektiven Geistes (Seele, Bewußtsein, Geist bzw. Anthropologie, Phänomenologie des Geistes, Psychologie) parallelisiert hat, 96 spräche dies dann nicht auch für die Möglichkeit, in heuristischer Absicht eine noch weitergehende Entsprechung, z.B. zwischen den drei logischen Stufen und den drei Unterabteilungen der Psychologie (theoretischer, praktischer und freier Geist) und darüber hinaus schließlich auch zwischen den drei logischen Stufen und den drei Unterabteilungen des theoretischen Geistes (Anschauung, Vorstellung, Denken) anzunehmen? Es ergeben sich zweifellos zahlreiche Schwierigkeiten. Bedenkt man etwa die Korrelation von Organik und Begriffslogik und betrachtet ζ. B. das Ende der Naturphilosophie etwas näher, so könnte wohl darin eine architektonische Verwerfung gesehen
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92 93 94 95
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А . а. O . , 224. Diese Textstelle verdeutlicht zumindest die Berechtigung, bei dem Versuch einer Korrelation der Bewußtseinsgestalten und der Logikmomente nicht nur an die zeitlich näher liegende „Jenenser Logik" und an die propädeutische Logik, sondern auch an die große Nürnberger Logik zu denken. Vgl. S W Bd. 10, §§ 4 6 5 - 4 6 8 , 3 5 9 - 3 6 4 . Vgl. Phä., Kapitel VIII. Vgl. Log. II, 3. Buch. Eine der vielen sich hieraus ergebenden Fragen ist z . B . die, warum Hegel im Hinblick auf den Anfang der Physik der allgemeinen Individualität mit dem Licht (vgl. S W Bd. 9, § 275, 155 ff.) zu Beginn der enzyklopädischen Wesenslogik auf eine der Großen Logik entsprechende Behandlung des Scheins verzichtet hat. In § 112 kommt er nur kurz auf den Schein zu sprechen. (Vgl. S W Bd. 8, 261/2, vgl. insbes. den Anfang des Zusatzes, w o davon die Rede ist, daß der Ausdruck Reflexion zunächst vom Licht gebraucht werde.) Vgl. dritte Erläuterung zu § 37 der Heidelberger Enzyklopädie, Unveröffentlichte Diktate aus einer Enzyklopädie-Vorlesung Hegels, eingeleitet und hrsg. von F. Nicolin, in: Hegel-Studien Bd. 5, 21/2.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
werden, daß das Kapitel über den tierischen Organismus 9 7 nicht dem ganzen Kapitel über die Idee 9 8 entspricht, 99 sondern nur dem Kapitel über das Leben. 1 0 0 In der Vorbetrachtung über die Idee des Erkennens — die in der „Wissenschaft der L o g i k " an das Kapitel über das Leben anschließt — verweist Hegel auf die Anthropologie, die Phänomenologie des Geistes und die Psychologie, 1 0 1 d. h. auf die Unterabteilungen des subjektiven Geistes — der in der „Enzyklopädie" als erste Abteilung der Philosophie des Geistes an die Philosophie der Natur anschließt — und scheint so eine Entsprechung der Idee des Wahren 1 0 2 und des subjektiven Geistes 1 0 3 , der Idee des Guten 1 0 4 und des objektiven Geistes 1 0 5 sowie der absoluten Idee 1 0 6 und des absoluten Geistes 1 0 7 nahezulegen. Damit fände die gesamte Philosophie des Geistes ihre Entsprechung in den letzten beiden Kapiteln der „ L o g i k " , was nicht nur die Schwierigkeit machte, daß damit sowohl die Zuordnung von Organik und Begriffslogik als auch die Korrespondenz der Philosophie des Geistes und der Begriffslogik durchbrochen wäre. (Wäre — davon einmal abgesehen — nicht auch eine Korrelation der Idee des Wahren als der theoretischen Idee mit dem theoretischen Geist 1 0 8 , der Idee des Guten als der praktischen Idee mit dem praktischen Geist 1 0 9 und der absoluten Idee mit dem freien Geist 1 1 0 in Erwägung zu ziehen?) Dies mag hier genügen. 1 1 0 * SW Bd. 9, § 350—§ 376, 575-722. SW Bd. 8, § 213—§ 244, 423-452 bzw. Log. II, 407-506. 9 9 Schwierigkeiten macht übrigens auch die Entsprechung des Kapitels über den vegetabilischen Organismus (SW Bd. 9, § 3 4 3 - § 349, 496-575) und des Kapitels über das Objekt (SW Bd. 8, § 194—§ 212, 403-422 bzw. Log. II, 353-406). Hier scheint sich eher eine Parallelisierung der drei Abteilungen der Naturphilosophie und der drei Unterabteilungen des Kapitels über das Objekt (Mechanismus, Chemismus und Teleologie) anzubieten. 1 0 0 SW Bd. 8, § 216—§ 222, 429-434 bzw. Log. II, 413-429. 1 0 1 Vgl. a . a . O . , 435ff. 1 0 2 Vgl. a . a . O . , 439-477 bzw. SW Bd. 8, § 2 2 6 - § 232, 435-443. 1 0 3 Vgl. SW Bd. 10, § 387—§ 482, 4 6 - 3 8 2 . 1 0 4 Vgl. Log. II, 477-483 bzw. SW Bd. 8, § 2 3 3 - § 235, 443-446. 1 0 5 Vgl. SW Bd. 10, § 483—§ 552, 382-445. 1 0 6 Vgl. Log. II, 483-506 bzw. SW Bd. 8, § 2 3 6 - § 244, 446-452. 1 0 7 Vgl. SW Bd. 10, § 553—§ 577, 446-475. 1 0 8 Vgl. a . a . O . , § 445—§ 468, 307-364. 1 0 9 Vgl. a . a . O . , § 469—§ 480, 365-379. 1 1 0 Vgl. a . a . O . , §§ 481 und 482, 379-381. 1 1 0 1 So interessant und aufschlußreich die genaue Betrachtung der Hegeischen Einteilungen in systematischer Hinsicht auch sein mag, so darf doch nicht vergessen werden, daß Hegel diese Einteilungen als etwas Vorläufiges nnsnh CV«!. I oq. I, Allgemeine Einteilung der Logik, 41 u. Enzyklopädie (1830) § 18). Hegel erinnert daran, daß beim Einteilen das Verfahren einer Methode in Anspruch genommen wird, das seine Rechtfertigung selbst 97
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Es scheint mir die größten Schwierigkeiten mit sich zu bringen, wenn nicht sogar unmöglich zu sein, derlei Entsprechungen als genaue Korrespondenzen oder als strenge Kongruenzen zu betrachten. Dies gilt auch für die hier vorgetragene Korrelation der drei Bücher der „Logik", der drei Formen des theoretischen Geistes und der drei Stufen des sinnlichen, vorstellenden und absolut wissenden Bewußtseins. M . E . ist H . H . Ottmann darin zuzustimmen, daß sich keine LogikGliederung finden läßt, die mit den Stufen der „Phänomenologie" exakt zur Ubereinstimmung zu bringen ist. 1 1 1 Daß die Seinslogik mit dem ersten Kapitel der „Phänomenologie" zu tun hat, ist auch nach der Meinung von J . Heinrichs zu offensichtlich, als daß darüber ganz im allgemeinen eine Uneinigkeit bestünde. Er bemerkt ganz richtig, daß die Meinungsverschiedenheit jedoch schon einsetze, wenn gefragt wird, ob die ganze Seinslogik oder ein Teil von ihr die Logik der sinnlichen Gewißheit ausmache, ob also mit dem Wahrnehmungskapitel bereits die Wesenslogik aktuell sei, 1 1 2 — eine Frage, die im Hinblick auf Hegels eigenen Vergleich in der „Wissenschaft der Logik" 1 1 3 wohl als berechtigt anzusehen ist. Heinrichs versucht sich zu wappnen gegen die „Versuche und Versuchungen, uns mit irgendwelchen Zuordnungen ganzer Systemteile wie etwa der ganzen Seinslogik zur sinnlichen Gewißheit zufrieden zu geben." 1 1 4 Auch Ottmann möchte nur eine Entsprechung zwischen den logischen Begriffen und den Gestalten, nicht eine Parallele zwischen Systemteilen und Gestalten zulassen. 115 Ich bin nun durchaus auch der Auffassung, daß logische Analyse, bei der es um die Konkretion einzelner logischer Momente in einzelnen phänomenologischen Gestalten geht, Einzelanalyse bedeuten muß und insoinnerhalb der „Wissenschaft der L o g i k " erhält. (Vgl. L o g . I, a . a . O . , 42) Diese Methode ist die synthetische Methode des synthetischen Erkennens (vgl. auch Kant, Logik § 110 A n m . 1), in der nach Hegel vom Allgemeinen (der Definition) durch die Besonderung (in der Einteilung) zum Einzelnen (dem Theorem) fortgeschritten wird. (Vgl. Enzyklopädie, §§ 228ff. u. L o g . II, 450ff. u. dazu Kap. 11,3 dieser Arbeit). D a s endliche synthetische Erkennen erweist sich aber in seiner Einseitigkeit als ungenügend für die spekulative Philosophie, deren Methode sowohl analytisch als auch synthetisch ist. Wie das Urteil, so ist auch die Einteilung ungeschickt, das Spekulative auszudrücken. Sie ist letztlich nur eine in den Raum der Vorstellung gehörende ,Topologie' des Begriffs. Vgl. Η . H . Ottmann, Das Scheitern einer Einleitung in Hegels Philosophie, in: E P I M E L E I A , Beiträge zur Philosophie, München 1973, Bd. 20, S. 37 und 157, A n m . 236. и г Vgl. j Heinrichs, Die Logik der „Phänomenologie des Geistes", a . a . O . , 107. 1 1 3 L o g II, 223/4. 1 1 4 J . Heinrichs, Die Logik der „Phänomenologie des Geistes", 61. u s Vgl. Η . H . Ottmann, Das Scheitern einer Einleitung in Hegels Philosophie, а. а. O . , 157. 111
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fern über globale Strukturbetrachtungen und über die bloße Zuordnung logischer und phänomenologischer Ebenen, die unter diesem Aspekt freilich unfruchtbar bleiben muß, hinauszugehen ist, soll das Detail nicht übersehen werden. Unter einem anderen Aspekt dagegen — etwa unter einem solchen, unter dem es zunächst mehr auf die Übersicht des ganzen als auf das Ausarbeiten des Details ankommt — erscheint es umgekehrt als zweckmäßig, vom Einzelnen abzusehen. Uber die Fruchtbarkeit und Ergiebigkeit der Zuordnung von Sphären sollte im übrigen anhand ihres philosophischen Ertrags befunden werden. 1 1 6 Obgleich auch mir die von Heinrichs kritisierte Deutung Pöggelers, nach der die Gestalten des Bewußtseins (sinnliche Gewißheit, Wahrnehmung, Verstand) den Momenten der „objektiven Logik" und das Selbstbewußtsein der „subjektiven Logik" entspricht, 117 fraglich zu sein scheint, und ich die Auffassung von H . F. Fulda teile, nach der die von Hegel behauptete Entsprechung von Momenten der Wissenschaft und Gestalten des erscheinenden Geistes „sich nicht auf die Gliederung des ganzen Systems, sondern auf die Hauptmomente des Logischen beziehen soll" 1 1 8 , ist m . E . gegen einen solchen Versuch der Zuordnung von Sphären prinzipiell nichts einzuwenden. 119 Es scheint mir angemessen zu sein, solche Zuordnungen als heuristische Fiktionen in systematischer Absicht anzusehen. Die Hyothese einer Entsprechung soll lediglich solange als ,wahr' angesehen werden, wie sie sich hermeneutisch bewährt. Die in unserem Zusammenhang interessante Frage ist lediglich die, ob, ausgehend von der Hypothese einer Entsprechung zwischen der psychologischen bzw. phänomenologischen Stufe des Vorstellens und der logischen Stufe des Wesens weitere Einsichten in das Problem der Sprache bei Hegel und insbesondere in das Problem der sprachlichen Darstellung des spekulativen Denkens zu gewinnen sind. H . F. Fulda, Zur Logik der Phänomenologie von 1807, in: Hegel in der Sicht der neuVgl. insbes. J. Heinrichs, Die Logik der „Phänomenologie des Geistes", 93—96, Heinrichs Stellungnahme zu L. B. Puntels Arbeit „Darstellung, Methode und Struktur. Untersuchungen zur Einheit der systematischen Philosophie G. W. F. Hegels", Bonn 1973; vgl. dazu auch a . a . O . , Anm. 51, 73/4 und a . a . O . , 85—88, Heinrichs Stellungnahme zu den Arbeiten von O . Pöggeler. 117 Vgl. O. Pöggeler, Zur Deutung der Phänomenologie des Geistes, in: Hegel-Studien Bd. 1 (1961), 287. 118
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eren Forschung, Darmstadt 1973, 8; vgl. a . a . O . , 7; vgl. auch ders., Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, Frankfurt 1965, 1 4 0 - 1 4 5 . Durch diese Bedenken sollen Heinrichs' Verdienste nicht geschmälert werden, die er sich durch die große Anstrengung des Begriffs bei der Durchführung der logischen Analyse der „Phänomenologie" erworben hat.
Die systematische Stellung der Sprache
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Vernunft und Sprache Zum Begriff der Sprache als Wechselwirkung von Äußerung und Erinnerung Das a b s o l u t e W e s e n als das Wesen, das in der Kunst-Religion als Selbst erfahren werden wird, indem es als Übereinstimmung des ,inneren' und des ,äußeren' Wesens genommen wird 1 2 0 , bestimmt sich fort zur absoluten Wirklichkeit, (zur Einheit, besser gesagt zur Identität in der Nichtidentität, d.h. zur Entsprechung des Inneren und Äußeren) die als ansichseiende das Absolute ist. 1 2 1 (Das Absolute des W e s e n s als des an-sichseienden An- und Für-sichseins 122 könnte als noch an-sich seiendes Absolutes 123 , d.h. als Absolutes für uns bzw. als Absolutes der R e f l e x i o n (Vorstellung) oder als relatives Absolutes 124 gefaßt werden, das sich vom Absolut-Absoluten als dem Absoluten des B e g r i f f s dadurch unterscheidet, daß dieses der Begriff und damit die Absolvenz und die Aufhebung seiner selbst als des relativen Absoluten ist. Der absolute Begriff wäre der Begriff der absoluten Reflexion als der absoluten Reflexion des Begriffs, seine Absolutheit bestünde in der Einsicht in seine Relativität.) Der a b s o l u t e S c h e i n bestimmt sich als Einheit oder besser gesagt als Einsicht (Synopse) des inneren und des äußeren Scheins. 12S Die a b s o l u t e R e f l e x i o n bestimmt sich selbst weiter als bestimmende Reflexion, als „Einheit" der inneren und der äußeren Reflexion (bzw. der setzenden und der voraussetzenden Reflexion). Betrachtet man die Sprache als das Medium der Bewegung des Logischen, als die Mediation der sinnlichen Gewißheit bzw. der Anschauung und des begreifenden Wissens bzw. des Denkens, als Vermittlung des Begriffs und des Seins, als dasjenige, das uns allererst im Begriff sein läßt, einen Gedanken zu fassen, so könnte man logisch gesehen diese Mitte der Sprache — etwas umständlich ausgedrückt — als a b s o l u t e R e f l e x i o n (des a b s o l u t e n S c h e i n s ) des a b s o l u t e n W e s e n s nehmen, das als absolute Wirklichkeit zunächst das Absolute als solches ist. 1 2 6 120 V g l . den zweiten Teil dieses Kapitels dieser Arbeit. 121
Vgl. L o g . II, 169.
122
Vgl. a . a . O . , 5. Vgl. Phä., 4 8 0 , 532, 5 4 8 / 9 und 5 5 3 / 4 .
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Vgl. L o g . II, 161. 125 v g l . d ! e Bemerkung zum Begriff des Scheins in Kapitel 1,2 dieser Arbeit. 124
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Vgl. L o g . II, 157. G . R . G. Mure, der die Dialektik des Scheins wie die Dialektik des Wesens überhaupt im Paradox der Sprache veranschaulicht sieht, bemerkt: „Thinking posits language as its
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Erkennt man das Wesen im Hinblick auf den Begriff als das An- und Fürsichsein (das Denken) in der Bestimmung des Ansichseins und nimmt man das Sprechen als Wesen des Denkens, so könnte man das Sprechen als Vorstellen des Denkens — von der logischen Genesis dieser Vorstellung des Denkens kann man sich — grammatisch gesehen — freilich nur dann einen Begriff machen, wenn man den genitivus objectivus zugleich als genetivus subjectivus und damit die Sprache als Werk des Gedankens 127 faßt — oder als Denken an sich betrachten. Begreift man das Sprechen, insofern als die Denkbestimmungen gewöhnlich unbeachtet und unerkannt bleiben, indem sie — etwa in Form eines Urteils — in die Sprache hereintreten und so bekannt werden 128 , zunächst als bloß natürliches Vorstellen des Denkens bzw. des logischen Geschehens des Denkens, so könnte man — wollte man hier genauer unterscheiden — die Sprache dementsprechend zunächst als n a t ü r l i c h e Vorstellung des Gedachten, resp. der G e s c h i c h t e unserer Gedanken betrachten. Sprache als natürliche Vorstellung zu betrachten heißt aber auch, Sprache als ,Bekanntmachung' zu betrachten, die zu ungeschickt ist, um das Spekulative auf einmal ganz zu erkennen zu geben. H. Lauener, der in seiner 1962 erschienen Dissertation „Die Sprache in der Philosophie Hegels mit besonderer Berücksichtigung der Ästhetik" 1 2 9 die Ansicht Th. Litts, daß Hegel der Sprache in ihrer ganzen Bedeutung nicht gerecht geworden sei, zu widerlegen versucht 130 , bestimmt die Sprache zunächst als Denken an sich 1 3 1 , glaubt jedoch dann anhand einiger Textstellen aus der „Enzyklopädie" 1 3 2 zeigen zu können, „wie die Sprache, die man in der hegelschen Terminologie auch Denken an sich nennen möchte, zum Denken f ü r sich wird, wie sich also das Denken des Seins zum Denken des Denkens entwickelt, ohne daß diese Reflexion über die Sprache deren eigenen Bereich verlassen würde." 1 3 3 „Die Sprache ist, nachdem
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reflection and expression, but language is logically prior to thinking and is therefore posited as presupposed." (G. R. G. Mure, A Study of Hegel's Logic, Oxford 1950, 96, Anm. 2). Vgl. SW Bd. 8, § 20, 74. Vgl. Log. I, 11 und 19. Η. Lauener, Die Sprache in der Philosophie Hegels mit besonderer Berücksichtigung der Ästhetik, in: Sprache und Dichtung, Neue Folge, Bd. 10, Bern 1962. Vgl. a . a . O . , 7, 15 und 69. A . a . O . , 17 und 68. Lauener verweist insbes. ( a . a . O . , 69) auf § 465, auf den er sich — wenn ich recht sehe — im 1. Teil seiner Arbeit lediglich in einem Satz kurz bezieht ( a . a . O . , 15: „Auf der nun erreichten Stufe ist die Intelligenz w i e d e r e r k e n n e n d geworden . . ."). A . a . O . 17. vgl. 68/9.
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sich ihr Werdegang erfüllt hat, Wissen des Wissens — oder der wahre Ausdruck des absoluten Geistes." 1 3 4 Liest man das „besteht" in dem Satz: „Die hegelsche Philosophie ist die Philosophie des Absoluten, das als Logos nur in der Sprache besteht" 1 3 5 als ,wirklich ist', wozu der Kontext Anlaß zu geben scheint, (im übernächsten Satz heißt es: „Ihr eigentlicher Gegenstand ist die W i r k l i c h k e i t als d i e j e n i g e K a t e g o r i e der L o g i k , welche die konkrete Einheit von Wesen und Erscheinung herstellt — und nur ihre eigene Bewegung als Notwendigkeit erkennt, indem die Wirklichkeit sich selbst begreift und als menschliche Sprache ausdrückt." 1 3 6 ), so scheint es freilich Laueners eigener Darstellung am angemessensten zu sein, wenn man das Absolute, das in der Sprache bzw. im Sprechen wirklich ist — und sozusagen dessen „göttliche Natur" ausmacht — strenggenommen als das (relative) sich selbst widersprechende Absolute des Wesens betrachtet 137 und nicht einfach mit dem (absoluten) sich selbst gleichen Absoluten des Wissens bzw. des Begriffs ineinssetzt. (Ebensowenig dürften beide allerdings als gänzlich Verschiedene betrachtet werden, ist doch der absolute Begriff der Begriff des Absoluten (Spekulativen), das in der Sprache wirklich ist.) Die Betrachtung der Sprache als absolute Reflexion (des absoluten Scheins) des Absoluten enthält die Bestimmung des Schönen als des absoluten Scheins des Absoluten in sich 1 3 8 . Sprache wird so nicht eindimensional als etwas bloß Äußerliches verstanden, wie dies der .zyklopische' Verstand tut, sondern spekulativ (doppelt) betrachtet als ein Äußeres, das in sich gegangen, bzw. ein Inneres, das sich aus sich und an sich selbst äußert 139 , als das vollkommene Element, in dem die Äußerlichkeit innerlich bzw. die Innerlichkeit äußerlich ist, 1 4 0 oder als W e c h s e l w i r k u n g von Ä u ß e r u n g und E r i n n e r u n g . An einer bekannten Stelle des Kapitels über die Beobachtung der Beziehung des Selbstbewußtseins auf seine uinmittelbare Wirklichkeit sagt Hegel: „Das Individuum ist zu und bei seinem äußern Tun darum nicht 134
A . a . O . , 33.
135
H . Lauener, Die Sprache in der Philosophie Hegels . . a . a . O . , 10, vgl. 33 die Kennzeichnung der spekulativen Philosophie als „Philosophie des Absoluten, das als Logos nur in der Sprache existiert".
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A . a . O . , 10/1. Vgl. das erste Kap. des 3. Abschnitts der Wesenslogik, L o g . II, 157ff.
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Zu dieser zunächst problematisch erscheinenden Fassung des Schönen vgl. insbes. die Bemerkung zum Begriff des Scheins im zweiten Teil dieses Kapitels.
139
Vgl. Phä., 489. Vgl. a . a . O . , 505.
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stumm, weil es dabei zugleich in sich reflektiert ist, und es äußert dies in sich Reflektiertsein; dies theoretische Tun oder die Sprache des Individuums mit sich selbst darüber ist auch vernehmlich für andere, denn sie ist selbst eine Äußerung. An diesem Innern, welches in seiner Äußerung Inneres bleibt, wird also das Reflektiertsein des Individuums aus seiner Wirklichkeit beobachtet . . , " . 1 4 1 Wird die Sprache als Werk der (dialektischen) Vernunft und d . h . als absolutes Verhältnis und zwar als Wechselwirkung von Äußerung und Erinnerung betrachtet, (die Kategorie der Wechselwirkung ist die letzte, die vorangehenden Kategorien in sich begreifende Kategorie des letzten Abschnitts der Lehre vom Wesen, der von der Wirklichkeit handelt), so ist bei dieser Betrachtung von dem spekulativen Verhältnis nicht nur von Sprachlichkeit und Vernünftigkeit, sondern auch von Sprachlichkeit und Wirklichkeit auszugehen. (Bedenkt man in diesem Zusammenhang die Sätze aus der Vorrede zu Hegels Philosophie des Rechts: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist venünftig", die von dem mit dem spekulativen Denken nicht Vertrauten einige Anfeindung erfahren haben, und denkt daran, in welchem Sinn Hegel den Ausdruck „Wirklichkeit" gebraucht hat, wenn er von der Wirklichkeit des Vernünftigen sprach — wie er selbst erinnert hat 1 4 2 , nämlich im Sinne der Abhandlung dieser Kategorie in der „Wissenschaft der L o g i k " 1 4 3 und nicht im gewöhnlichen Sinn, in dem die Ausdrücke „ S e i n " , „ D a s e i n " , „Existenz" und „Wirklichkeit" synonym gebraucht werden 1 4 4 , denn, „wer wäre nicht so klug, um in seiner Umgebung vieles zu sehen, was in der That nicht so ist, wie es seyn s o l l ? " 1 4 5 — so werden diese Sätze eingedenk des spekulativen Verhältnisses von Wirklichkeit und Sprachlichkeit — wie von Sprachlichkeit und Vernünftigkeit 1 4 6 — vielleicht in einem etwas weniger paradoxen und bizarren Licht erscheinen und als Sätze gefaßt werden, die Hegel spekulative genannt hat. 1 4 7 In dieser Betrachtung ist unter Sprache nicht nur das geschriebene A . a . O . , 232/3. Vgl. SW Bd. 8, § 6, 48/9. 1 4 3 Darauf hat übrigens auch E. Bloch aufmerksam gemacht. Vgl. ders., Subjekt-Objekt, Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt 1962, 253f.; vgl. a . a . O . , 247/8 und 271 ff. 1 4 4 Vgl. Log. II, 356f. 1 4 5 SW Bd. 8, 49. 146 Ygj J a z u weiter unten. 1 4 7 Vgl. H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, Meisenheim 1976, 11, 66 und 68. Zum zweiten Teil des Diktums aus der Vorrede zur Rechtsphilosophie vgl. auch SW Bd. 18, 274/5: „ . . . was wirklich ist, ist vernünftig. Man muß aber wissen, unterscheiden, was in der That wirklich ist; im gemeinen Leben ist alles wirklich, aber es 141 142
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Wort und auch nicht nur das gesprochene Wort, d.h. hier das bloß geäußerte Wort zu v e r s t e h e n , sondern das gesprochene Wort, als ein seinem Sinnzusammenhang entsprechend v e r n o m m e n e s , gehörtes, das Wort, insofern sinngemäß zu ihm selbst als geäußertem die Erinnerung gehört. In einem Gespräch, etwa in einem Dialog, können beide Partner nur in dem Maße vernünftig miteinander reden, in dem der eine Teil das von dem anderen Teil Ausgesprochene rücksichtlich des damit Gemeinten seinem Sinn entsprechend aufnimmt. Ein vernünftiges Miteinander-Sprechen ist ohne dieses unausgesprochene Entsprechen nicht denkbar, das sich im Bestehen eines gewissen Einvernehmens bei gleichzeitigem Bestehen von Meinungsverschiedenheiten und Widersprüchen in der Ausdrucks- und der Auffassungsweise zeigt. In dieser Entsprechung, die als Identität in der Nichtidentität von Ausgedrücktem und Aufgefaßtem begriffen werden könnte, oder anders gesagt als absolute, sich von sich abstoßende, die entgegengesetzte Bewegung des Sich-Ubersetzens bzw. Ubertragens in sich bergende Vernunftidentität von Ausdruck und Eindruck, zeigt sich die Vernunftmäßigkeit (absolute Zweckmäßigkeit) oder besser gesagt die Vernünftigkeit der Sprache, die nicht nur einseitig als Mittel zum Zweck des Ausdrucks verstanden werden darf, sondern dialektisch zwar als Vermittlung, jederzeit zugleich aber auch als Unmittelbarkeit, genauer gesagt, als Vermittlung der Unmittelbarkeit zu nehmen ist. Wenn demgemäß hier von vermittelter (reflektierter) Unmittelbarkeit bzw. von Sprachlichkeit, d.h. von der Vernünftigkeit der Sprache die Rede ist, so ist nicht an Sprache als toten Buchstaben zu denken, sondern an das Sprachliche als Einheit seiner selbst und seines Anderen, das es in sich gegen sich hat. Ist das Formelle (die äußere Form) der Sprache das Werk des Verstandes 148 , so ist die innere Form, d.h. die absolute Zweck- bzw. Verist ein Unterschied zwischen Erscheinungswelt und Wirklichkeit. Das Wirkliche hat auch äußerliches Daseyn; das bietet Willkür, Zufälligkeit dar, wie in der Natur Baum, Haus, Pflanze zusammenkommen. Die Oberfläche im Sittlichen, das Handeln der Menschen hat viel Schlimmes; da könnte Vieles besser seyn. Erkennt man die Substanz, so muß man durch die Oberfläche hindurch sehen. Menschen werden immer lasterhaft, verderbt seyn; das ist nicht die Idee. An der Oberfläche balgen sich die Leidenschaften herum; das ist nicht die Wirklichkeit der Substanz. Das Zeitliche, Vergängliche existirt wohl, kann einem wohl Noth genug machen, aber dessen ungeachtet ist es keine wahrhafte Wirklichkeit, wie auch nicht die Partikularität des Subjekts, seine Wünsche, Neigungen." 148
Vgl. Log. I, 104 und SW Bd. 10, § 459, 347.
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nunftmäßigkeit der Sprache im Unterschied zur äußeren (relativen) Zweckmäßigkeit oder Nützlichkeit der Sprache, nach der sie als Mittel zum Zweck bloßer Äußerung verstanden wird (als Werkzeug zur Bezeichnung von Gedanken), 1483 das Werk der Vernunft oder besser gesagt: Vernünftigkeit der Sprache ist Wirklichkeit der Vernunft, Wirklichkeit der Vernunft aber ist Sprachlichkeit der Vernunft. Die Sprache ist mit Hegel als „das der Vernunft eigentümliche Bezeichnungsmittel" 149 zu betrachten; „das Vernünftige existirt nur als Sprache." 150 „Λόγος ist bestimmter als Wort. Es ist schöne Zweideutigkeit des griechischen Worts, — Vernunft und zugleich Sprache. Denn Sprache ist die reine Existenz des Geistes; es ist ein Ding, vernommen in sich zurückgekehrt." 1 5 1 Am 6. August 1784 schreibt Hamann an Herder: „Wenn ich auch so beredt wäre wie Demosthenes, so würde ich doch nicht mehr als ein einziges Wort dreymal wiederholen müssen: Vernunft ist Sprache, Λογος; an diesem Markknochen nag' ich und werde mich zu Tod drüber nagen." 1 5 2 Im Hinblick auf die folgenden Ausführungen kann vorgreifend bemerkt werden, daß der Satz ,Vernunft ist Sprache' nicht als Definition zu verstehen ist, sondern als spekulativer Satz zu nehmen ist, d. h. zunächst als ein s p r a c h l i c h e r Ausdruck, der (spekulativ) v e r n ü n f t i g aufzufassen ist — und zwar als Ausdruck der infiniten Reflexion der Vernunft in sich. Das — nicht sozusagen ,sprachvergessene' — philosophische Denken ist frei (unbedingt) als absolute Reflexion der Sprache als seiner Bedingung. 153 1481
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N a c h W. v. Humboldt ist die Sprache kein bloßes Verständigungsmittel, nicht eigentlich ein Mittel, die schon erkannte Wahrheit darzustellen, sondern weit mehr, die unerkannte zu entdecken. Sprache ist das bildende Organ des Gedankens. Vgl. W. v. Humboldt, Werke 3, Schriften zur Sprachphilosophie, Darmstadt 1963, 19, 135 u. 191. Log. II, 259. SW Bd. 18, 133. SW Bd. 19, 314, vgl. Log. I, 19. J. G. Hamann, Briefwechsel, 5. Bd., hrsg. von A . Henkel, Frankfurt 1965, 177. Vgl. dazu B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 1, 296ff., 3. Der Sprachgedanke Hamanns. Vernunft und Sprache, vgl. insbes. 302. Vgl. auch Hamanns „Metakritik über den Purismum der Vernunft", in: Sämtliche Werke, III. Band, Hist.-Kritische Ausgabe von J. Nadler, Wien 1951, 281 ff. („Der d r i t t e höchste und gleichsam e m p i r i s c h e Purismus betrifft also noch die S p r a c h e , das einzige erste und letzte Organon und Kriterion der Vernunft . . .", a . a . O . , 284) und dazu die Rezension Hegels, SW Bd. 20, 248ff.; vgl. auch J. G. Herder, Eine Metakritik zur Kritik der reinen Vernunft, a . a . O . , 184 und 227, w o Herder die Sprache als Organon und Kriterium der Vernunft bezeichnet. In diesem Sinn äußert sich auch J. Derbolav in seinem Aufsatz über „Hegel und die Sprache", in: Sprache, Schlüssel zur Welt, Festschrift für L. Weisgerber, hrsg. von H . Gipper, Düsseldorf 1959, 65.
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Anders sieht das offenbar K. Harlander in seiner Arbeit „Absolute Subjektivität und kategoriale Anschauung" 1 5 4 , der wohl konzediert, daß Hegel die Zusammengehörigkeit von Sprache und Denken faßt, der jedoch bestreitet, daß es sich bei der sprachlichen Existenz der Denkbestimmungen um etwas Fundamentales, den Kategorien als solchen Eigentümliches handelt. In Anmerkung 18 155 seiner Arbeit, in der er auch Hegels Ausführungen über den spekulativen Satz erwähnt 156 , sagt er: „Allein, Hegel zieht nicht die Konsequenz einer grundsätzlichen Sprachgebundenheit des philosophischen Denkens. Die Philosophie findet ihre sprachlichen Bedingungen so selbstverständlich vor, daß sie sich diesen nicht eigens als ihren Bedingungen verpflichtet weiß, sondern sich als das schlechthin Un-bedingte, Freie und nur an sich selbst Gebundene versteht: als Logos, der sich durchsichtig und von jeder Faktizität ungetrübt ist." 1 5 7 Demgegenüber ist mit Hegel daran zu erinnern, daß die Freiheit (Unbedingtheit) die Einsicht in die Bedingtheit ist, daß die menschliche Vernunft gerade in dem Maße aufhört, bedingt zu sein, in dem sie weiß, daß sie bedingt ist. 158 Die Sprache ist das Dasein, das an ihm selbst innerlich ist. „ I c h , das sich ausspricht, ist v e r n o m m e n ; es ist eine Ansteckung, worin es unmittelbar in die Einheit mit denen, für welche es da ist, übergegangen und allgemeines Selbstbewußtsein ist. — Daß es v e r n o m m e n wird, darin ist sein D a s e i n selbst unmittelbar v e r h a l l t ; dies sein Anderssein ist in sich zurückgenommen; und eben dies ist sein Dasein, als selbstbewußtes J e t z t , wie es da ist, nicht da zu sein, und durch dies Verschwinden da zu sein. Dies Verschwinden ist also selbst unmittelbar sein Bleiben; es ist sein eignes Wissen von sich, und sein Wissen von sich als einem, das in anderes Selbst übergegangen, das vernommen worden und allgemeines ist." 1 5 9 „Wir sehen hiemit wieder die S p r a c h e als das Dasein des Geistes. Sie ist das f ü r a n d r e seiende Selbstbewußtsein, welches unmittelbar als s o l c h e s v o r h a n d e n und als d i e s e s allgemeines ist. Sie ist das sich von sich selbst abtrennende Selbst, das als reines Ich = Ich sich gegenständlich wird, in dieser Gegenständlichkeit sich ebenso als d i e s e s Selbst erhält, 154 155 156 157 158 159
K. Harlander, Absolute Subjektivität und kategoriale Anschauung, Meisenheim 1969. Vgl. a . a . O . , 43/4. Zum spekulativen Satz vgl. auch a . a . O . , 52. A . a . O . , 44. Vgl. u.a. SW Bd. 12, 120. Phä., 362/3; vgl. a . a . O . , 496 Hegels Ausführung en über die Sprache im Zusammenhang mit der Betrachtung des abstrakten Kunstwerks. Vgl. auch Jenenser Realphilosophie, 183. Zum Begriff des Daseins als bestimmtem Sein, als Sein mit einem Nichtsein vgl. Log. I, 95ff.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
wie es unmittelbar mit den andern zusammenfließt und i h r Selbstbewußtsein ist; es vernimmt ebenso sich, als es von den Andern vernommen wird, und das Vernehmen ist eben das zum S e l b s t g e w o r d n e D a s e i n . " 1 6 0 „ . . . es ist das Wort, das ausgesprochen den Aussprechenden entäußert und ausgeleert zurückläßt, aber ebenso unmittelbar vernommen ist, und nur dieses sich selbst Vernehmen ist das Dasein des Wortes. So daß die Unterschiede, die gemacht sind, ebenso unmittelbar aufgelöst als sie gemacht, und ebenso unmittelbar gemacht als sie aufgelöst sind, und das Wahre und Wirkliche eben diese in sich kreisende Bewegung ist." 1 6 1 Wie nun der Verstand das dialektische oder negativ-vernünftige vom spekulativen oder positiv-vernünftigen Moment des Logischen absondert, 1 6 2 so sondert er das Vernünftige der Sprache vom Vernünftigen des Denkens. Die D i a l e k t i k (Antinomik) der S p r a c h e — sie wird hier auch beim Versuch ihrer Definition deutlich, bei der das Definitum immer schon zugrunde liegt — wird sich darin zeigen, daß das in der Sprache in Form von Sätzen (oder bestimmter von Urteilen) Geäußerte, Herausgesetzte und Niedergelegte und so vor das Denken (vernünftige B e w u ß t s e i n ) Gestellte den Gegenstoß des Unausgesprochenen in sich hat, sich in sich selbst widerspricht (entgegengesetzt ist) und auflöst. Insofern wird es sich als ungeschickt erweisen, das Konkrete und Spekulative auszudrücken. Das S p e k u l a t i v e des D e n k e n s — besteht man schon darauf, es gesondert zu behandeln — ist nun nicht als ein jenseits der Sprache liegendes Ubersprachliches zu verstehen, — wovon keine Rede sein kann — sondern als ein sprachliches Ubersprachliches, sozusagen als ein Jenseits im Diesseits. Die Welt des Spekulativen ist eine verkehrte Welt. Hegel nennt die Welt der Philosophie im Verhältnis zum Verstand — insbeondere zum sogenannten gesunden Menschenverstand — eine verkehrte Welt. 1 6 3 Die spekulative Vernunft zwingt das natürliche Bewußtsein, seine althergebrachten Vorstellungen aufzugeben und sich gleichsam auf den Kopf, d.h. auf den Gedanken zu stellen. 164 Die verkehrte Welt zeigt sich als geworden durch eine Umkehrung des Bewußtseins. - Der Verstand aber, der sich unter der spekulativen Welt des Begriffs etwas Mystisches (insofern es als gleichbePhä., 458. Zum Ich = Ich vgl. die Ausführungen über das unendliche Urteil im zweiten Kapitel dieser Arbeit. 1 6 1 Phä., 534/5. 1 6 2 Vgl. SW Bd. 8, § 79 ff. 184ff. 1 6 3 Vgl. SW Bd. 1, 185 und Phä., 25. 164 Vgl. SW Bd. 1, 544 und Hegels Äußerung bezüglich der Französischen Revolution, SW Bd. 11, 557. 160
Die systematische Stellung der Sprache
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deutend mit dem Geheimnisvollen und Unbegreiflichen gilt) vorstellt, hält sich für aufgeklärt, wenn er wieder in die vormalige gewohnte Stellung zurückfällt, in eine Stellung, die ihres Dogmatismus wegen in Wahrheit aber mit der, welche Hegel die erste Stellung des Gedankens zur Objektivität nannte, die größte Ähnlichkeit hat. Die Spekulation des Denkens ist das vernünftige S e l b s t b e w u ß t s e i n des Denkens in jener Dialektik der Sprache, gleichsam eine Selbstbetrachtung des Denkens im Spiegel der Sprache. Der Vergleich der Sprache mit dem Spiegel — ein Vergleich, der durch seine Vergegenständlichung zweifellos wieder die Gefahr des Mißverständnisses in sich birgt — soll veranschaulichen, daß es die Sprache ist, die es uns ermöglicht, etwas Vergangenes, Zurückliegendes bzw. hinter unserem Rücken Vorgehendes vorzustellen bzw. als etwas noch auf uns Zukommendes zu vergegenwärtigen und das natürliche Geschehen im geschichtlichen Zusammenhang zu sehen. Freilich verwendet das natürliche Bewußtsein diesen Spiegel, indem es eine Sprache benutzt, unreflektiert, sozusagen ohne dieses Spiegels als eines Spiegels überhaupt gewahr zu werden. Die Spekulation des Denkens ist — um es vielleicht etwas weniger mißverständlich auszudrücken — die Betrachtung des Denkens, das in Anbetracht des Widersinns des zur Sprache Gekommenen, Geäußerten zu sich selbst kommt, seiner selbst inne wird, d.h. sich seiner selbst bewußt wird. „Die „Anstrengung des Begriffs" bleibt daher an die „ A n s t r e n g u n g des W o r t e s " zurückgebunden." 165 Das Verhältnis von Sprache und Denken ist weder ein Verhältnis der Identität noch ein Verhältnis der Nichtidentität, sondern das absolute Verhältnis der Identität der Identität und der Nichtidentität beider. 166 Das Spekulative des Denkens, das Fassen der Einheit der Denkbestimmungen in ihrer Entgegensetzung, der spekulative Geist zeigt sich wohl zunächst am sinnfälligsten als spekulativer Geist bestimmter Wörter, die durch die Bewegung, die sie in sich haben, den Bestimmungen des Begriffs nahe zu kommen scheinen. Zu denken ist im weiteren Sinne an das — im Unterschied zum toten Buchstaben der sogenannten formalen (künstlichen) Sprachen — lebendige Wort der natürlichen Sprache bzw. dessen lebendigen Gebrauch, im engeren Sinne an das doppelsinnige Wort. 165 j 166
Derbolav, Hegel und die Sprache, a . a . O . , 64.
Zur „identity-in-difference of language and thought" vgl. auch J. P. Surber, Hegel's Speculative Sentence, in: Hegel-Studien, Bd. 10 (1975), 228ff., der den Begriff des spekulativen Satzes faßt als „the linguistic corollary of a d i a l e c t i c a l l y d e v e l o p e d u n d e r s t a n d i n g of l a n g u a g e in its r e l a t i o n t o t h o u g h t . ( A . a . O . , 229).
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Mit Hegel ist es als ein Vorzug der deutschen Sprache zu betrachten, daß manche ihrer Wörter von der Eigenheit sind, „verschiedene Bedeutungen nicht nur, sondern entgegengesetzte zu haben, so daß darin selbst ein spekulativer Geist der Sprache nicht zu verkennen ist: es kann dem Denken eine Freude gewähren, auf solche Wörter zu stoßen, und die Vereinigung Entgegengesetzter, welches Resultat der Spekulation für den Verstand aber widersinnig ist, auf naive Weise schon lexikalisch als Ein Wort von den entgegengesetzten Bedeutungen vorzufinden." 1 6 7 So hat Hegel bekanntlich mehrfach auf die doppelte Bedeutung des Wortes „Aufheben" (Negieren und Aufbewahren) aufmerksam gemacht. 168 „Die angegebenen zwei Bestimmungen des A u f h e b e n s können lexikalisch als zwei B e d e u t u n g e n dieses Wortes aufgeführt werden. Auffallend müßte es aber dabei sein, daß eine Sprache dazu gekommen ist, ein und dasselbe Wort für zwei entgegengesetzte Bestimmungen zu gebrauchen. Für das spekulative Denken ist es erfreulich, in der Sprache Wörter zu finden, welche eine spekulative Bedeutung an ihnen selbst haben; die deutsche Sprache hat mehrere dergleichen. Der Doppelsinn des lateinischen t o l l e r e (der durch den Ciceronianischen Witz: t o l l e n d u m esse O c t a v i u m berühmt geworden) geht nicht so weit; die affirmative Bestimmung geht nur bis zum Emporheben. Etwas ist nur insofern aufgehoben, als es in die Einheit mit seinem Entgegengesetzten getreten ist; in dieser nähern Bestimmung als ein Reflektiertes kann es passend M o m e n t genannt werden." 1 6 9 Das doppeldeutige Wort, das Homonym — welches wie das Synonym in der sogenannten idealen Sprache nicht seinen Platz hat — enthält an ihm selbst bereits eine entgegengesetzte Bewegung, die a u s g e s p r o c h e n und ausführlich dargestellt werden muß. 1 7 0 Was zunächst die spekulative A u f f a s s u n g anbetrifft, so ist sie eine Auffassung der Sprache, in der das Denken die dem inneren Widerspruch 167 168 169 170
L o g . I, 10. Vgl. Phä., 9 0 . L o g . I, 94, vgl. ferner SW Bd. 12, 182/3 und SW Bd. 19, 314. Zum Phänomen der H o m o n y m i e vgl. auch J . Simon, Verführt die Sprache das Denken?, in: Philosophisches Jahrbuch, 83. Jhrg. 1976, 1. Halbbd., 107ff. Eine der Zweideutigkeit verwandte Wirkung kann auch von der ungewohnten Stellung eines Wortes im Satz — z . B . von der ,ungeraden' Wortstellung, der Inversion oder Umkehrung - ausgehen. In seinen Ausführungen über „Sprachphilosophische Aspekte der neueren Philosophiegeschichte", in: J . Simon (Hrsg.), Aspekte und Probleme der Sprachphilosophie, Freiburg/München 1974, 39, sagt Simon: „Zusammenfassend könnte man sagen, nach Hegel bestehe die Bedeutung eines Wortes oder seine Begrifflichkeit gerade darin, daß es in einer der gewohnten Vorstellung des fürsichseienden Ich offensichtlich zuwiderlaufenden Weise gebraucht (und unter Umständen dennoch verstanden) werden kann und
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des Gesagten, Ausgesprochenen und Verfaßten entsprechende Bewegung seiner an ihm selbst wiedererkennt, eine Bewegung des Sich-von-sichAblösens, die das Denken in jedem Gedankengang jeweils schon vollzogen hat — die gewöhnlich aber, wenn es darum geht, bestimmte Gedanken festzuhalten, übergangen wird — indem es sich von einem Gedanken abstößt und zu einem anderen nicht übergeht, sondern übergegangen ist. (Der isolierenden Reflexion des Verstandes ist die Selbstbewegung des Denkens immer schon vergangen.) Der Verstand muß sich diese anhaltende Denkbewegung des Hinübersetzens (und Zurückversetzens) — ohne die auch die , Kluft' zwischen dem Gegenstand und der Aussage eines Satzes unüberwindlich wäre - vorstellen, indem er sie anhält und sie als Schwindel der sich ins Reich bloßer Spekulation versteigenden Vernunft darstellt. Ausgehend von der Hypothese einer Entsprechung der psychologischen Sphäre der Vorstellung, in der Hegel die Sprache in der „Enzyklopädie" systematisch behandelt hat, und der phänomenologischen Sphäre des vorstellenden Bewußtseins — das seine höchste, die anderen Formen in sich begreifende Form im r e l i g i ö s e n B e w u ß t s e i n erreicht — sowie der logischen Sphäre des Wesens — das letzte Kapitel des dritten Abschnitts über die Wirklichkeit, auf deren Zusammengehörigkeit mit der Sprachlichkeit wie der Vernünftigkeit aufmerksam gemacht wurde, behandelt bekanntlich das a b s o l u t e V e r h ä l t n i s — wäre nun zu sehen, inwieweit sich die logische Betrachtung der Sprache als absolutes Verhältnis oder konkreter gesagt als Wechselwirkung von Äußerung und Erinnerung durch die phänomenologische Betrachtung der Momente der religiösen Vorstellung des Begriffs als Momente der sprachlichen Darstellung des Begriffs bestätigen läßt. Daß sich eine Entsprechung der konkretesten Kategorie der Wesenslogik und der konkretesten Gestalt des vorstellenden religiösen Bewußtseins ergeben wird, ist übrigens zumindest insofern nicht ganz überraschend, als bereits bei Kant die Form des disjunktiven Urteils den Ursprung des V e r s t a n d e s b e g r i f f s der W e c h s e l w i r k u n g , so wie die Form des disjunktiven Vernunftschlusses den Ursprung des V e r n u n f t s b e g r i f f s von e i n e m W e s e n a l l e r W e s e n enthielt. 171 Dies ist in der Tat ein Gedanke, „der beim ersten Anblick äußerst paradox zu sein scheint." 1 7 2
171 172
dadurch dessen anfängliche Meinung verkehrt, es verfüge von sich aus über apriorische Begriffe der Bestimmung aller möglichen Erfahrung." Vgl. K.r.V., A 321/ В 378 (355) und А 335/6 /В 392/3 (365/6). Ebenda.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
2. Die Religion (Phä., Kap. VII) Der philosophische Begriff ist das absolute Wissen und der denkend erkannte Begriff der religiösen Vorstellung des absouten Wesens. Kann man — Kantisch gesprochen — die philosophisch-sprachliche Darstellung des absoluten Inhalts als ,Exposition' der künstlerisch-sprachlichen Darstellung des religiösen Inhalts ansehen, so kann umgekehrt diese als Remonstration' des spekulativen Inhalts betrachtet werden. Die Ausführungen Hegels über das absolute Wissen 173 wie über den spekulativen Satz in der danach entstandenen Vorrede zur „Phänomenologie" 174 sind aufgrund der Ausführungen über die Religion 175 zu verdeutlichen. Kunst und Religion sind gleichsam der Boden (das ,Territorium'), von dem ausgehend spekulativ-philosophische Erkenntnis möglich ist. Am Ende ist weder in ihm stehen zu bleiben, noch weniger aber v o r ihm. — Die absolute Reflexion des spekulativen Begriffs ist sozusagen die philosophische Revision des künstlerisch-religiösen Gehalts. Die Ausführungen über Kunst und Religion werden in ihrer Bedeutung für die Betrachtung des spekulativen Satzes so zum Teil auch erst in der Retrospektive — zunächst im Zusammenhang mit den Ausführungen in Kapitel 1,3 dieser Arbeit gesehen werden können. Erst in der Rückschau wird die Notwendigkeit der umständlichen Bewegung durch die Religion im allgemeinen und die Kunst-Religion im besonderen etwas deutlicher werden. Was in der Kunst-Religion noch die Sache selbst ist, wird beim philosophischen Gedankengang nur noch eine Spur sein. Diese Spur aber ist zurückzuverfolgen, um den Weg bzw. die Methode der Fortbestimmung des Begriffs ausführlich rekonstruieren zu können. Das Ziel dieses Fortgangs ist der spekulative Begriff selbst. Die Ungeduld — um mich der Worte Hegels zu bedienen — verlangt aber das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel. Als Mittel ist hier die sprachliche Darstellung in der Länge des Weges ihrer Entwicklung von der künstlerischen zur philosophischen zu betrachten. Der Leser wird gebeten, die Länge dieses Weges zu ertragen. In dem folgenden Teil der Arbeit ist nun — so interessant dies auch wäre - nicht der Platz für eine detaillierte Interpretation des ganzen VII. Kapitels der „Phänomenologie des Geistes". Pointiert werden sollen die 173 174
175
Phä., Kap. VIII. Über den Zusammenhang des absoluten Wissens bzw. der absoluten Idee und des spekulativen Satzes vgl. Kap. 11,3 dieser Arbeit. Phä., Kap. VII.
Die Religion
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Knotenpunkte im Entwicklungsgang der sprachlichen Darstellung des spekulativen Gehalts. Zuerst geht es um eine etwas genauere Kennzeichnung dessen, was man die geistige Wende im Erfahrungsbereich der Vorstellung innerhalb der Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins nennen könnte. Zur Verdeutlichung der Notwendigkeit dieses Ubergangs des geistigen Bewußtseins in das Selbstbewußtsein habe ich deshalb zunächst vor allem auf die Abschnitte VII A.c „Der Werkmeister" und VII B.a „Das abstrakte Kunstwerk" mein Augenmerk gelenkt. 176 Bahnte sich im Kapitel „Kraft und Verstand" die Wende des Bewußtseins zum Selbstbewußtsein an, so kommt es jetzt auf die Wende des geistigen Bewußtseins zum geistigen Selbstbewußtsein an. Dieser Wendepunkt ist mit der Umwandlung der geistigen Kraft des Verstandes des ägyptischen Werkmeisters 177 in das sich zunächst im abstrakten Kunstwerk 178 manifestierende freie geistige Selbstbewußtsein der griechischen Kunst-Religion erreicht. 179 Hegel hat keinen Zweifel daran gelassen, daß die Kunst-Religion die Religion der klassischen griechischen Kunst ist. 180 Dabei sollte jedoch nicht außer acht gelassen werden, daß die als abstraktes, lebendiges und geistiges Kunstwerk in Erscheinung tretende klassische Kunst-Religion selbst wieder symbolische, klassische und romantische Formen annehmen kann. Ausgehend davon, daß Hegel im Kapitel „Die Kunst-Religion" die klassische Kunstform behandelt, lassen sich so deutliche Entsprechungen zwischen der natürlichen Religion und der symbolischen Kunstform einerseits und der offenbaren Religion und der romantischen Kunstform andererseits aufzeigen, daß es als durchaus möglich angesehen werden könnte, daß das ganze Kapitel VII der „Phänomenologie" den Titel „Die Kunst" trüge. 176
In der Betrachtung des Ubergangs der Abschnitte VII А.с/ VII B.a rücksichtlich des Ubergangs der Kapitel III/IV ergeben sich Hinweise darauf, daß — systematisch gesehen — von einer Uberflüssigkeit des Religionskapitels überhaupt im Kontext der „Phänomenologie" m.E. nicht die Rede sein kann. Vgl. dagegen H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 164ff., insbes. 173. 177 Vgl. Phä., Kap. VII A.c, „Der Werkmeister", 486-489; vgl. SW Bd. 12, 463-481 und SW Bd. 15, 4 3 7 - 472. Auf die Kapitel VII A.a, „Das Lichtwesen" (Phä., 483-484, vgl. SW Bd. 11, 233-243, SW Bd. 12, 4 3 4 - 4 4 5 und SW Bd. 15, 422-434) und VII A.b, „Die Pflanze und das Tier" (Phä., 4 8 5 - 4 8 6 , vgl. SW Bd. 12, 4 4 5 - 4 6 3 und SW Bd. 15, 355—400) soll im Rahmen dieser Erörterung nicht eingegangen werden. 178 Vgl. Phä., Kap. VII B.a. 179 Vgl. Phä., 480. Vgl. SW Bd. 10, § 562, 451. 180 Vgl. u a SW Bd. 13, Die klassische Kunstform, Einleitung, Vom Klassischen überhaupt, 3—23, insbes. 13, 14 und 17.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Andererseits hat Hegel nicht zuletzt durch die nochmalige Dreiteilung des Unterkapitels VII В in das abstrakte, das lebendige und das geistige Kunstwerk, durch die nun innerhalb der klassischen Kunstform selbst wiederum eine Zuordnung zu den drei Kunstformen nahegelegt wird, darauf aufmerksam gemacht, daß er die Religion gegenüber der sich in ihr aufhebenden Kunst als das Umgreifende ansah.
Die natürliche Religion Der Werkmeister (Phä. Kap. VII A . c , 4 8 6 - 4 8 9 ) Die stumme Sprache der Steingebilde der Naturreligion des Rätsels Der Wendepunkt des geistigen Bewußtseins zum geistigen Selbstbewußtsein markiert den Beginn der E m a n z i p a t i o n der Kunst vom H a n d werk. Die Hand, die „nächst dem Organ der Sprache am meisten es ist, wodurch der Mensch sich zur Erscheinung und Verwirklichung bringt" 1 8 1 , ist noch das „ A n s i c h der Individualität" 182 . „Sie ist der beseelte Werkmeister seines Glücks." 1 8 3 Der noch unmündige Werkmeister, dessen Werk noch die Sprache fehlt, wird zum geistigen Arbeiter 1 8 4 , zum Künstler. Die „Ungeheuer an Gestalt, Rede und Tat lösen sich zur geistigen Gestaltung auf, — einem Äußern, das in sich gegangen, — einem Innern, das sich aus sich und an sich selbst äußert; zum Gedanken, der sich gebärendes und seine Gestalt ihm gemäß erhaltendes und klares Dasein ist. Der Geist ist K ü n s t l e r . " 1 8 5 Die Sphinx erscheint im griechischen Mythos als das Rätsel aufgebende Ungeheuer. Sie stellt die bekannte Rätselfrage, wer es ist, der morgens auf vier, mittags auf zwei und abends auf drei Beinen geht. Oedipus fand die Antwort, daß es der Mensch sei und stürzte die Sphinx vom Felsen. „Die
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Phä., 231. Ebenda. Ebenda. Ganz zu Beginn der Ausführungen über das, was Hegel in der „Phänomenologie" das geistige Kunstwerk nennt, d.h. über die Poesie und zwar über deren erste Form, die epische Poesie sagt Hegel vom Epigramm, daß es, insoweit es wirklich noch ein Epigramm, eine Aufschrift auf Säulen etc. bleibt, „gleichsam als eine geistige Hand nach etwas hindeutet, indem es mit dem Worte, das auf den Gegenstand hingeschrieben ist, etwas sonst Plastisches, Oertliches, außer der Rede Gegenwärtiges erklärt." (SW Bd. 14, 326). Phä., 489.
Die Religion
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Enträthslung des Symbols liegt in der an und für sich seyenden Bedeutung, dem Geist, wie die berühmte griechische Aufschrift dem Menschen zuruft: erkenne Dich selbst. Das Licht des Bewußtseyns ist die Klarheit, welche ihren konkreten Inhalt hell durch die ihm selbst angehörige gemäße Gestalt hindurchscheinen läßt, und in ihrem Daseyn nur sich selber offenbar macht." 1 8 6 Das zweideutige rätselhafte Wesen der Naturreligion ist zur freien, selbstbewußten Gestalt geworden. „Der Geist hat seine Gestalt, in welcher er für sein Bewußtsein ist, in die Form des Bewußtseins selbst erhoben, und bringt eine solche sich hervor. Der Werkmeister hat das s y n t h e t i s c h e Arbeiten, das V e r m i s c h e n der fremdartigen Formen des Gedankens und des Natürlichen aufgegeben; indem die Gestalt die Form der selbstbewußten Tätigkeit gewonnen, ist er geistiger Arbeiter geworden." 1 8 7 Die Sprachlichkeit der freien geistigen 188 , d. h. theoretisch-praktischen Arbeit zeigt sich — zunächst allgemein gesehen — darin, daß der Mensch in der Kunst das Bedürfnis der geistigen Freiheit befriedigt, das darin besteht, „daß der Mensch die innere und äußere Welt sich zum geistigen Bewußtseyn als einen Gegenstand zu erheben hat, in welchem er sein eigenes Selbst wiedererkennt" 189 , „indem er einerseits innerlich, was ist für sich macht, ebenso aber dies Fürsichseyn äußerlich realisirt, und somit was in ihm ist, für sich und Andere in dieser Verdoppelung seiner zur Anschauung und Erkenntniß bringt." 1 9 0 Das anfangs selbst noch abstrakte, d.h. hier gegenständliche Kunstwerk der griechischen Kunst-Religion vermittelt dem Menschen schon eine Begegnung mit sich selbst, durch die er — ohne zu wissen, wie ihm geschieht — ins Gespräch mit sich selbst kommt. Der sein Knie beugende und sich zur Andacht im Tempel unter das Götterbild — in dem er noch sein ihn beherrschendes Wesen zu erkennen glaubt — setzende Mensch begegnet sich selbst im Gebet, d.h. im andächtigen Gespräch mit dem ihn in seiner (seil, des Gottes) Sprache entgegnenden göttlichen Wesen. Der Anspruch, den das Kunstwerk erhebt, wird vernommen als stillschweigender Anspruch der Gottheit, dem zu entsprechen ist.
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S W Bd. 12, 481. Vgl. a . a . O . , 4 6 3 - 4 8 1 , „ D i e eigentliche Symbolik". Phä., 490. Zum freien Selbstbewußtsein des Geistes der Kunst-Religion vgl. insbes. a . a . O . , 491. SW Bd. 12, 58. SW Bd. 12, 59, vgl. a . a . O . , 57.
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Die Rede vom Anspruch der Gottheit mag heute insofern befremdlich klingen, als ein solches (subjektives) Angesprochenwerden bzw. -sein wohl nur aufgrund eines (substantiellen) In-Anspruch- bzw. In-Dienst-Genommen-Seins durch die Gottheit angemessen zu denken ist. Im Unterschied zu dem aus dem freien geistigen Selbstbewußtsein entspringenden Kunstwerk fehlt dem Werk des Werkmeisters der reinen Verstandesform noch „die Gestalt und Dasein, worin das Selbst als Selbst existiert; — es fehlt ihm noch dies, an ihm selbst es auszusprechen, daß es eine innre Bedeutung in sich schließt, es fehlt ihm die Sprache, das Element, worin der erfüllende Sinn selbst vorhanden ist." 1 9 1 Dem ,instinktartigen' Arbeiten des Werkmeisters der abstrakten Form des Verstandes fehlt noch die Sprache, „das der Vernunft eigentümliche Bezeichnungsmittel." 192 Die Innerlichkeit der „lautlose(n) Sprache" 1 9 3 der ägyptischen Bauwerke ist noch nicht die gewordene Innerlichkeit, die Erinnerung, die Mnemosyne. 194 Die Kunstwerke der Ägypter bleiben geheimnisvoll, „stumm" 1 9 5 und unbewegt, weil der Geist noch nicht sein eigenes Leben gefunden hat, und die klare und helle Sprache des Geistes noch nicht zu reden versteht. In dem unbefriedigten Triebe und Drange in so lautloser Weise sich durch die Kunst dies Ringen zur Anschauung zu bringen, das Innere zu gestalten und sich seines Inneren wie des Inneren überhaupt nur durch äußere verwandte Gestalten bewußt zu werden, dadurch ist nach Hegel Aegypten charakterisiert. 196 „Das Werk daher, wenn es sich von dem Tierischen auch ganz gereinigt, und die Gestalt des Selbstbewußtseins allein an ihm trägt, ist die noch tonlose Gestalt, die des Strahls der aufgehenden Sonne bedarf, um Phä., 488; vgl. a . a . O . , 362 und 458. Log. II, 259. 193 SW Bd. 13 , 273. W. Biemel hat zu Anfang seines Aufsatzes „Zum Problem der Wiederholung in der Kunst der Gegenwart" (in: Sprache und Begriff, Festschrift für B. Liebrucks, a . a . O . , 269—291), in dem er in Einzelanalysen aus den Bereichen der Literatur und der Malerei dem Phänomen der Wiederholung nachgeht, zu Recht darauf hingewiesen, daß die Meinung aufgegeben werden muß, Sprache reduziere sich auf worthafte Äußerung. „Die Sprache der Kunst ist, verglichen mit unserer alltäglichen Sprache, allerdings so etwas wie eine Hieroglyphensprache. Wir sind von ihr angesprochen und der Sinn des Gesprochenen ist doch keineswegs unmittelbar deutlich. Es ist eine Sprache, die auf Deutung angewiesen ist." (А. а. O . , 269, vgl. а. а. O . , 279, wo Biemel von der Hieroglyphenschrift der Kunst spricht.). 1 9 4 Vgl. Phä., 507. " 5 SW Bd. 12, 472. 1 9 6 Vgl. a . a . O . , 472. 191 192
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Ton zu haben, der vom Lichte erzeugt, auch nur Klang und nicht Sprache ist, nur ein äußeres Selbst, nicht das innre zeigt." 1 9 7 Da Hegels Ausführungen über die Memnonen (bzw. die Sphinxe) in den letzten Abschnitten des Kapitels über die natürliche Religion m.E. nicht nur für den Ubergang zum geistigen Selbstbewußtsein der griechischen Welt von Bedeutung sind, sondern im Zusammenhang damit auch für seine Deutung der Sprache als Dasein des Geistes, das unmittelbar selbstbewußte Existenz ist, möchte ich auch das, was sich in den „Vorlesungen" dazu findet, nicht unerwähnt lassen. 198 „Nächst den Obelisken müssen wir hauptsächlich der M e m n o n e n Erwähnung thun. Die großen MemnonsStatuen zu Thebe, von welchen noch Strabo die eine ganz erhalten und aus einem Steine sah, während die andere, welche beim Sonnenaufgang erklang, schon zu seiner Zeit verstümmelt war, hatten menschliche Gestalt. Es waren zwei sitzende kolossale menschliche Figuren, durch ihre Grandiosität und Massenhaftigkeit mehr unorganisch und architektonisch, als skulpturartig, wie denn auch Memnons-Säulen reihenweise vorkommen, und dadurch, daß sie nur in solcher gleichen Ordnung und Größe Gültigkeit haben, von dem Zwecke der Skulptur ganz zu dem der Baukunst heruntertreten. . . . Die Aegypter und Aethiopier verehrten den Memnon, den Sohn der Morgenröthe, und opferten ihm, wenn die Sonne ihre erste Strahlen sendet, wodurch das Bildniß mit seiner Stimme die Anbetenden begrüßte. So ist es als tönend und stimmegebend nicht bloß nach seiner Gestalt von Wichtigkeit und Interesse, sondern durch sein Seyn lebendig, bedeutsam, offenbarend, wenn auch zugleich nur symbolisch andeutend." 199 Wie der ägyptische Glaube auf der einen Seite in der Tiergestalt eine ge197 198
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Phä., 488. Demgegenüber vertritt Liebrucks — wohl insbesondere im Hinblick darauf, daß unser heutiges Wissen von der ägyptischen Religion detaillierter ist, als dies zu Lebzeiten Hegels der Fall war — die Auffassung: „Uns erscheint das heute als willkürlich herausgegriffene Einzelheit, der wir keine weitere Aufmerksamkeit zu schenken brauchen. Das Heranziehen einzelner Nachrichten, wie der von der tönenden Memnonssäule muß heute als längst überholt angesehen werden, ohne daß der Grundgedanke, daß die Religion die Erscheinung des absoluten Geistes ist, aufgegeben werden muß." (B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 269/70). Liebrucks hat die Ausführungen Hegels im Kapitel „Die Kunst-Religion" auch in Kapitel X V „Sprache und Kunst" des zweiten Bandes von „Sprache und Bewußtsein" auf sich beruhen lassen. Übrigens ist es insbesondere im Hinblick auf Hegels Ausführungen über die Sprache im Religions-Kapitel m.E. nicht gerechtfertigt, von einer wenig fruchtbaren Vermengung systematischer und geschichtlicher Betrachtungsweisen in diesem Kapitel zu sprechen. (Vgl. H. Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 173). S W Bd. 13, 282; vgl. a . a . O . , 2 7 2 - 3 0 2 .
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heime Innerlichkeit ahnt, so ist auf der andern Seite die Menschengestalt so dargestellt, daß sie das eigenste Innere der Subjektivität noch außerhalb ihrer hat, und sich deshalb nicht zur freien Schönheit zu entfalten vermag. „Besonders merkwürdig sind jene kolossalen M e m n o n e n , welche in sich beruhend, bewegungslos, die Arme an den Leib geschlossen, die Füße dicht aneinander, starr, steif und unlebendig der Sonne entgegengestellt sind, um von ihr den Strahl zu erwarten, der sie berühre, beseele und tönen mache. Herodot wenigstens erzählt, daß die Memnonen beim Sonnenaufgang einen Klang von sich gäben. . . . Die menschliche Stimme dagegen tönt aus der eigenen Empfindung und dem eigenen Geiste ohne äußeren Anstoß, wie die Höhe der Kunst überhaupt darin besteht, das Innere sich aus sich selber gestalten zu lassen. Das Innre aber der menschlichen Gestalt ist in Aegypten noch stumm, und in seiner Beseelung nur das natürliche Moment berücksichtigt." 2 0 0 Von der ägyptischen Mischform der natürlichen und der selbstbewußten Gestalt sagt Hegel zusammenfassend: „Die Seele der menschlich geformten "Bildsäule kommt noch nicht aus dem Innern, ist noch nicht die Sprache, das Dasein, das an ihm selbst innerlich ist — und das Innre des vielformigen Daseins ist noch das Tonlose, sich nicht in sich selbst Unterscheidende, und von seinem Äußern, dem alle Unterschiede gehören, noch Getrennte." 2 0 1 An dieser Stelle ist eine kurze Bemerkung zum Verhältnis der Gestalten des geistigen Bewußtseins und des geistigen Selbstbewußtseins vielleicht nicht ganz überflüssig. Th. Bodammer ist in seinem Buch „Hegels Deutung der Sprache" nur beiläufig auf das eingegangen, was Hegel im Kapitel „Die Kunst-Religion" über die Sprache gesagt hat. 2 0 2 In Paragraph 11 „Die Sprache der Dichtung" findet sich eine den hier behandelten Text betreffende Bemerkung: „Wie wenig nur äußerlich im Sinne eines lediglich zusätzlichen Sprachschmucks Hegel vor allem bei der ursprünglichen Poesie das dichterische H e r a u s t r e t e n g e i s t i g e r G e h a l t e in der S p r a c h e versteht, geht in besonders eindringlicher Weise aus einer Textstelle der Phänomenologie im Zusammenhang der Darstellung des Ubergangs von der natürlichen Religion zur Kunstreligion hervor. Der dichterische Prozeß des 200 201 202
SW Bd. 12, 477, vgl. SW Bd. 11, 265. Phä., 488/9. Soweit ich sehe, hat Bodammer die Kunst-Religion nicht nur in § 4 „Sprache und Bewußtsein (Die phänomenologische Betrachtungsart)" seines Buches ( a . a . O . , 94) übergangen, sondern auch in § 11 „Die Sprache der Dichtung" (vgl. a . a . O . , 188) nur kurz erwähnt. Das ist insofern erstaunlich, als Kapitel VII B- wohl das Kapitel der „Phänomenologie" ist, in dem sich Hegel am ausführlichsten mit der Sprache beschäftigt hat.
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Gestaltwerdens des Innern in der Sprache wird dort zunächst der Skulptur, dem „Grundtypus" der klassischen Kunstform, gegenübergestellt: „Die Seele der menschlich geformten Bildsäule kommt noch nicht aus dem Innern, ist noch nicht die Sprache, das Daseyn, das in ihm selbst innerlich ist" (63). Anders also als bei der Skulptur, deren Inneres „noch das Tonlose, sich nicht in sich selbst Unterscheidende" ist, besitzt das sprachliche Kunstwerk „ein Daseyn, das an ihm selbst innerlich ist". (64)" 203 Ich bin der Ansicht, daß das, was Hegel hier von der menschlich geformten Bildsäule der natürlichen Religion (etwa der Bildsäule des Memnon) sagt — schon ihres augenfällig mehr archaisch-tektonischen Charakters wegen — nicht ohne weiteres auf die Skulptur übertragen werden kann, wenn man unter Skulptur die eigentliche Kunst des klassischen Ideals versteht. 204 Was zunächst das Verhältnis von ägyptischer und griechischer Bildsäule anbetrifft, ist zu bemerken, daß gegenüber der vom Werkmeister schließlich zustande gebrachten äußerlichen Vermischung der Formen der Natur und des Gedankens nach Hegel die Inkommensurabilität des Runden in die geradlinige abstrakte Form des Verstandes erst wirklich aufgenommen wird in Form der S ä u l e , die den Tempel trägt, dessen Innres die Behausung des bisher im Freien stehenden Götterbildes ist. 205 Die schöne Säule bezeichnet den Punkt des Ubergangs der symbolischen in die klassische Architektur. Nach Hegel tritt in der Säule die eigentliche Baukunst aus dem bloß Organischen in die verständige Zweckmäßigkeit und aus dieser in die Annäherung an das Organische herüber. „Dieses gedoppelten Ausgangspunktes von dem eigentlichen Bedürfnisse und der zweckmäßigkeitslosen Selbstständigkeit der Architektur ist hier zu erwähnen nöthig gewesen, denn das Wahrhafte ist das Vereinen beider Principe. Die schöne Säule geht von der Naturform aus, die sodann zum Pfosten, zur Regelmäßigkeit und Verständigkeit der Form umgestaltet wird." 2 0 6 Selbst wenn man zugibt, daß die Bildsäule als das erste noch abstrakte Kunstwerk der griechischen Kunstreligion 207 noch Züge der bereits menschlich geformten Bildsäule der ägyptischen Naturreligion trägt, so muß darauf aufmerksam gemacht werden, daß das ideale Skulpturbild als Mittelpunkt der klassischen Kunst 203
Th. Bodammer, Hegels Deutung der Sprache, a.a.O., 187.
204
Vgl. auch J. Heinrichs, Die Logik der „Phänomenologie des Geistes", a.a.O., 435, der ebenfalls die Bildsäule kurzerhand mit der Skulptur gleichsetzt. Vgl. Phä., 493 mit SW Bd. 13, 2 9 6 - 3 0 2 und 3 1 0 - 3 1 3 . SW Bd. 13, 302. Vgl. Phä., 4 9 3 - 4 9 5 .
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wiederum nicht einfach identisch ist mit der abstrakten, noch symbolische Züge tragenden Bildsäule. (Ebensowenig ist wohl die völlige Identität der klassischen Skulpturen mit dem „lebendigen Kunstwerk" zu behaupten). 2 0 8 Vielmehr scheint es mir so zu sein, daß das lebendige plastische Ideal der klassischen Kunst 2 0 9 die Ineinsbildung nicht nur des abstrakten und des lebendigen, sondern auch des geistigen Kunstwerks darstellt. 2 1 0 Was zunächst wieder die Kunstwerke des ägyptischen Werkmeisters, die Pyramiden, Obeliske, Labyrinthe usw., schließlich die Memnonen und monströsen Sphinxe anbetrifft, so handelt es sich bei ihnen um „stumme Kunstwerke" 2 1 1 , die von einer todesähnlichen Starrheit sind. Unter s t u m mer Sprache' im engeren Sinn soll deshalb hier nicht die Sprache der Kunst im allgemeinen, sondern die Sprache der Werke der Naturreligion der geistigen Kraft des Verstandes verstanden werden. Die „stumme Sprache der Steingebilde" 2 1 2 der Naturreligion des Rätsels 2 1 3 ist als die Neigung zum Verstummen in den Sprachen der Kunst aufbewahrt. 2 1 4 Zum Ver208
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214
Vgl. a . a . O . , 502-506, „Das lebendige Kunstwerk" mit SW Bd. 11, 316-319, „ D a s subjektive Kunstwerk". Vgl. SW Bd. 13, 376/7. Zur Lebendigkeit der idealen Skulpturgestalt vgl. u.a. SW Bd. 12, 238 und SW Bd. 13, 381-386. In gewisser Hinsicht treten m.E. das Abstrakte und das lebendige Moment in den verschiedenen Darstellungsweisen der einzelnen Statue und der Gruppe wieder auseinander. Während die in der Tempelhalle aufgestellte einzelne Statue, die dife Göttergestalt in einfacher Ruhe darstellt, die „Skulptur in ihrer gemäßesten Reinheit" ( a . a . O . , 435) ist, geht die Skulptur mit der Gruppe zur Darstellung bewegter Situationen über, wodurch die „konkretere Lebendigkeit zum Vorschein" ( a . a . O . , 437) kommt. (Das Relief, die dritte Darstellungsweise, kennzeichnet Hegel als die Übergangsform in die romantische Kunst der Malerei.) SW Bd. 15, 470. Ebenda. Vgl. dazu die an Quellenhinweisen reiche Arbeit von R. Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, Göttingen 1975, Die Religion des Rätsels, 130—132. Vgl. Th. W. Adorno, Ästhetische Theorie, Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt 1970, 179—193. Adorno hat — insbesondere im Hinblick auf das Werk Becketts — von der Affinität der Sprache der Kunst zum Verstummen gesprochen. (Vgl. a . a . O . , 123 und 203). Der Rätselcharakter der Kunstwerke, von dem Adorno sprach, stellt sich als das Ägyptische der Kunst dar. „Alle Kunstwerke und Kunst insgesamt, sind Rätsel; das hat von altersher die Theorie der Kunst irritiert. Daß Kunstwerke etwas sagen und mit dem gleichen Atemzug es verbergen, nennt den Rätselcharakter unterm Aspekt der Sprache." ( A . a . O . , 182). „ . . . alle Kunstwerke sind Schriften, nicht erst die, die als solche auftreten, und zwar hieroglyphenhafte, zu denen der Code verloren ward und zu deren Gehalt nicht zuletzt beiträgt, daß er fehlt. Sprache sind Kunstwerke nur als Schrift." ( A . a . O . , 189) Vgl. dazu den Aufsatz des Verfassers, Anmerkungen zur ästhetischen Theorie Adornos, in: Philosophisches Jahrbuch, 83. Jhrg. (1976), 2. Halbbd., Sprache und Kunst, 385ff., insbes. 387, Anm. 107.
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stummen zwingt nicht das U n a u s g e s p r o c h e n e , sondern das von Natur aus U n a u s s p r e c h l i c h e , das keine Sprache völlig erreicht und das als Jenseitiges (schlechtes Unendliches) dem gegenübersteht, was noch sagbar (exponibel) ist. 2 1 5 In den Werken des klassischen Künstlers wird das über das ägyptische tote Kunstwerk verhängte Schweigen gebrochen, das Innere teilt sich mit und wird vernommen, der Vorhang, der das verborgene (jenseitige) Innere verdeckt, geht auf. In diesen klassischen Kunstwerken ist die Erhabenheit und Sprachlosigkeit aufgehoben. Das ist das Moment des Entsetzlichen und Verhängnisvollen an ihrer Schönheit. Im ägyptischen Kunstwerk des geistigen Verstandes jedoch ist das Innere noch nicht unverborgen, ist das Ding-an-sich bzw. das Wesen noch nicht in Erscheinung getreten. „Die in ihr Wesen zurückgehende Natur setzt ihre lebendige sich vereinzelnde und in ihrer Bewegung sich verwirrende Mannigfaltigkeit zu einem unwesentlichen Gehäuse herab, das die D e c k e des I n n e r n ist; und dieses Innre ist zunächst noch die einfache Finsternis, das Unbewegte, der schwarze formlose Stein." 2 1 6 Diese Darstellung Hegels gegen Ende der Ausführungen über den Werkmeister erinnert an seine Betrachtung der ägyptischen Tempelbezirke — etwa an das im heiligen Bezirk der Leto in Buto stehende, aus einem einzigen Stein gehauene „Gehäuse für die Gottheit" 2 1 7 , — die Labyrinthe, Höhlen und Totenbehausungen 218 , die als bloß dienende Hülle bzw. als Decke das Wesentliche, den Mittelpunkt der Verehrung, z.B. ein heiliges Tier umschließen. Bei dem „aus dem Tiergehäuse hervorgezogene(n) schwarze(n) Stein" 2 1 9 ist in diesem Zusammenhang wohl an den halbeiförmigen Stein in Delphi, den Omphalos zu denken, der als Mittelpunkt der Erde galt; 220 bei dem „innewohnende(n) Gott", der diesen Stein „mit dem Lichte des Bewußt-
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Vgl. Kap. 11,1 dieser Arbeit, w o das Unausgesprochene bzw. das Gemeinte als Moment der dialektischen Fortbestimmung des Begriffs als des bestimmten Allgemeinen betrachtet wird. Phä., 488. SW B d . 13, 285 und Herodot, Historien, Deutsche Gesamtausgabe, Stuttgart 1963, 168. Vgl. SW B d . 13, 287ff. Phä., 493. Hegel hat folgende etymologische Deutung gegeben, die ich bisher jedoch nicht bestätigt gefunden habe: „ D i e äußere Erscheinung, die dem Zwecke, die Bestimmung für das handeln zu finden, am nächsten liegt, ist ein T ö n e n , Klingen, eine Stimme, δμφη, woher Delphi wohl richtiger den Namen ομφαλος hat, als nach der andern Bedeutung: Nabel der E r d e . " (SW B d . 16, 145).
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seins" durchdringt, 2 2 1 an Apoll, das „Licht des Wissens" 2 2 2 , den Herrn des Delphischen Orakels 2 2 3 , dessen Tempel den Omphalos barg. Apoll, der neue Gott hat das Orakel von der Erdmutter übernommen. Entsprechungen dieses Naturprinzips 2 2 4 sind sowohl in der phrygischen Göttermutter Kybele 2 2 5 wie in der altitalienischen Ceres (und Proserpina) bzw. der griechischen Demeter 2 2 6 und in der ägyptischen Isis 2 2 7 — der Ceres wird ebenso wie Isis und Osiris die Einführung des Ackerbaus zugeschrieben 228 — zu sehen. Von ihr als dem personifizierten Naturprinzip sagt Hegel: „Die Inschrift des Schleiers der Isis: „Ich bin, was war, ist und sein wird; und meinen Schleier hat kein Sterblicher gelüftet," schmilzt vor dem Gedanken." 2 2 9 Phä., 493. SW Bd. 13, 62; vgl. Hegels Ausführungen über den Lykischen Apoll, SW Bd. 11, 321 und SW Bd. 16, 105/6. Zu Hegels Sicht des Gottes Apollo vgl. R . Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, a . a . O . , 212—214. 2 2 3 Vgl. Phä., 496f. und SW Bd. 13, 42f. 2 2 4 Vgl. SW Bd. 16, 106. 2 2 5 Vgl. SW Bd. 11, 257 und 308. 2 2 6 Vgl. a . a . O . , 324, SW Bd. 12, 471, SW Bd. 13, 87 und SW Bd. 16, 153. 2 2 7 Vgl. SW Bd. 12, 477/8, SW Bd. 15, 455. 2 2 8 Vgl. SW Bd. 13, 34, 49, 64 und 83 mit SW Bd. 11, 276ff. 229 SW Bd. 9, § 246 Zusatz, 43. Zur Verdeutlichung der unterschiedlichen Positionen Hegels und Goethes einerseits sowie Kants und Schillers andererseits vgl. zunächst G o e t h e s unwilligen Ausruf zur Naturwissenschaft, a . a . O . , 46/7: „ „ I n s Innere der Natur,"/ O ! Du Philister!/ „Dringt kein erschaffener Geist."/ . . ./ Das hör' ich sechzig Jahre wiederholen,/ Und fluche darauf, aber verstohlen;/ . . ./ Natur hat weder Kern/ noch Schaale,/ Alles ist sie mit einem Male./ . . . " (Vgl. auch SW Bd. 8, § 140, 314). In S c h i l l e r s Gedicht „Das verschleierte Bild zu Sais" wird von einem wissensdurstigen Jüngling, den es treibt, die Wahrheit zu schauen, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist, zwar der Schleier aufgedeckt, aber auf die Frage, was sich dem Beschauer zeigt, erhalten wir die - der natürlichen Vorstellung angemessene - Antwort: „Ich weiß es nicht. Besinnungslos und bleich/ So fanden ihn am andern Tag die Priester/ Am Fußgestell der Isis ausgestreckt." (Schillers Werke, a . a . O . , 1. Bd., 256). Ist es vielleicht so, daß dem Jüngling, der sich erfrecht hat, mit „schuldger Hand" ( a . a . O . , 254) das Heilige zu „berühren" ( a . a . O . , 256/7) in Wahrheit Hören und Sehen vergangen ist? (Vgl. dazu R . Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, a . a . O . , 132.) K a n t hat (in den Ausführungen im Anschluß an das Zitat einer Gedichtzeile von J . Ph. L. Withof: „die Sonne quoll hervor, wie Ruh' aus Tugend quillt" (vgl. K . U . , § 49, 197 (170) Anm. d)) angemerkt: „Vielleicht ist nie etwas Erhabeneres gesagt oder ein Gedanke erhabener ausgedrückt worden, als in jener Aufschrift über dem Tempel der I s i s (der Mutter N a t u r ) : „Ich bin alles, was da ist, was da war, und was da sein wird, und meinen Schleier hat kein Sterblicher aufgedeckt." " (А. а. O . , 197 (171), vgl. das Ende des zweiten Teils der Einleitung dieser Arbeit). 221
222
(Es ist übrigens anzunehmen, daß sich die in § 154 der „Propädeutik" (SW Bd. 3, 209) angefügten Gedankenbruchstücke Hegels, die sich mit dem Verhältnis von Poesie und Natur beschäftigen, u.a. auf Kants Ausführungen über die ästhetische Idee in § 49 der
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In dem Bilde der verschleiert dargestellten Göttin zu Sais ist nach Hegel die Hauptdarstellung zu finden, die das Wesen des Ringens mit der Natur verdeutlicht, das in der ägyptischen Kunst auf sprachlose Weise zur Anschauung gebracht wird. 2 3 0 „Daß aber vor dem Bewußtseyn der Aegypter ihr Geist selbst in Form einer A u f g a b e gewesen ist, darüber können wir uns auf die berühmte Inschrift des Allerheiligsten der Göttin Neith zu Sais berufen: „ I c h b i n , was da i s t , was w a r , und seyn w i r d : n i e m a n d hat m e i n e H ü l l e g e l ü f t e t . " Hierin ist ausgesprochen, was der ägyptische Geist sey, obgleich man oft die Meinung gehabt hat, es gelte dieser Satz für alle Zeiten. Vom Proklus wird hier noch der Zusatz angegeben: „die F r u c h t , die ich g e b a r , ist H e l i o s . " Das sich selbst Klare also ist das Resultat jener Aufgabe und die Lösung. Dieses Klare ist der Geist, der Sohn der Neith, der verborgenen nächtlichen Gottheit. In der ägyptischen Neith ist die Wahrheit noch verschlossen: der griechische Apoll ist die Lösung; sein Ausspruch ist: M e n s c h e r k e n n e dich s e l b s t . " 2 3 1 Die Lösung und Befreiung des orientalischen Geistes, der sich in Ägypten bis zur Aufgabe gesteigert hat, ist nach Hegel darin zu sehen, daß das Innere der Natur der Gedanke ist, der nur im menschlichen Bewußtsein seine Existenz hat. Die ägyptische Sphinx ist von einem Griechen getötet und das Rätsel der Naturreligion so gelöst worden: „der Inhalt sey der M e n s c h , der f r e i e , sich w i s s e n d e G e i s t . " 2 3 2 Festzuhalten bleibt, daß der Geist in der Sphäre der Natur-Religion zwar zu einem natürlichen Bewußtsein des absoluten Wesens gelangt ist, nicht aber zur Erfahrung der Zerstörung der Natur dieses Wesens. Der Geist ist noch nicht seiner selbst inne geworden, hat sich noch nicht aus seiner Äußerlichkeit erinnert und umgekehrt noch nicht sein verborgenes Inneres geäußert. So war auch die Sprache der Steingebilde des ägyptischen Werkmeisters eine unwirkliche, stumme, sozusagen kryptische Sprache geblieben.
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„Kritik der Urteilskraft" beziehen. Bei Hegel heißt es: „Die Pracht der Natur vereinigt der Dichter zu einem Ganzen als Attribut irgend eines Höheren: Aetherblau ist sein Gewand. Blüthen seine Boten u.s.f. - Ceres und Proserpina. Basis der Idee. — Sommer: Vergißmeinnicht. — Sonnenaufgang: „so quoll die Sonn' hervor, wie Ruh' aus Tugend quillt."") SW Bd. 15, 471/2. SW Bd. 11, 291. (Zum absoluten Geist des Γνώθι σεαυτόν vgl. SW Bd. 10, § 377, 9, SW Bd. 13, 82, SW Bd. 17, 61 und SW Bd. 18, 107.) SW Bd. 15, 472.
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Die Kunst-Religion 233 (Phä., Kap. V I I B , 4 9 0 - 5 2 0 ) Vorbetrachtung234
(Phä.,
490-492)
Das sich selbst allgemein m i t t e i l e n d e einzelne Selbst erkennt sich selbst in seiner V e r d o p p e l u n g , als „ I c h , das W i r , und W i r , das I c h ist."235 Das Bewußtsein hat erst im Selbstbewußtsein seinen Wendepunkt, in dem es „aus dem farbigen Scheine des sinnlichen Diesseits und aus der leeren Nacht des übersinnlichen Jenseits in den geistigen Tag der Gegenwart einschreitet." 2 3 6 Das geistige Bewußtsein, das sich seiner selbst sinnlich in Form eines äußerlichen, göttlichen Wesens — etwa des orientalischen Lichtwesens des Aufgangs — vergewissert, wendet sich um in der Epoche des ersten geistigen freien Selbstbewußtseins der abendländischen Welt, das seiner selbst als des absoluten Wesens inne wird. Erst die griechische Kunstreligion bewegt sich im Unterschied zu den orientalischen Naturreligionen nach Hegel auf dem Boden des sittlichen oder des wahren Geistes. Hegel bemerkt zu Anfang seiner Ausführungen über die griechische Welt: „Bei den Griechen fühlen wir uns sogleich heimathlich, denn wir sind auf dem Boden des Geistes. . . , " 2 3 7 Die Substanz der natürlichen Religion, 233
234
235 236 237
R . Kroner merkt an, daß Schleiermacher wohl der erste gewesen sei, der den Ausdruck „Kunstreligion" in diesem Zusammenhang gebraucht habe. Vgl. R . Kroner, Von Kant bis Hegel, Tübingen 1921, 2. Bd., 404 Anm.. Ich teile die Auffassung H . Glockners, daß „der ganze Abschnitt über die Kunst-Religion mit zum Schönsten, (gehört, G . W . ) , was Hegel jemals geschrieben hat." (SW Bd. 22, H . Glockner, Hegel, Bd. 2, 528). Insbesondere hat es mir viel Freude gemacht — die „Vorlesungen über die Ästhetik" als Kommentar verwendend — den vielen, im Text enthaltenen Allusionen und Winken nachzugehen und zu sehen, wie dadurch der zunächst dunkel erscheinende Text immer klarer wird. Vgl. auch K. Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre, 2. Teil, Nachdruck Darmstadt 1972, 417: „In keinem Felde seiner Phänomenologie hat Hegel aus so vollen und enthusiastisch bewegten Anschauungen geschöpft als hier, wo es sich um den Geist und die Religion des hellenischen Volks handelt; unwillkürlich gedenken wir der Einflüsse seiner Jugendfreundschaft mit Hölderlin in den tübinger und frankfurter Zeiten; von seinen früheren Schriften vergegenwärtigen wir uns den Aufsatz „über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts", insbesondere den Abschnitt über „die absolute Sittlichkeit". Die Ausführungen, welche „die Kunstreligion" behandeln, den Aufgang und Untergang einer Welt voller Ideen und Schönheit, enthalten auch die schönsten Stellen der Phänomenologie." Vgl. auch R . Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, a . a . O . , 221. Phä., 140. Ebenda. SW Bd. 11, 295, vgl. auch SW Bd. 17, 187.
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der das B e w u ß t s e i n entspricht, daß das a b s o l u t e W e s e n das Selbst ist, ist in sich niedergegangen, „ist zum Prädikate heruntergesunken" 238 ; dagegen erhebt sich in der Kunstreligion, die zu dem S e l b s t b e w u ß t s e i n führt, daß das S e l b s t das absolute Wesen ist, das Selbst zum Subjekt und das absolute, in sich versunkene Wesen ist die „aus dem Selbst geborne S u b s t a n z " . 2 3 9 (Vorgreifend kann bemerkt werden, daß in dieser religiösen Erfahrung der Umkehrung des geistigen Bewußtseins ins geistige Selbstbewußtsein die dialektische Bewegung des philosophischen Satzes vorgestellt wird, in der der neue Satzgegenstand entspringt. 240 ) Der absolute „Leichtsinn" 2 4 1 des sittlichen Geistes, der sich in dem Satz ausspricht: das S e l b s t ist das absolute Wesen, diese „Vollendung der Sittlichkeit zum freien Selbstbewußtsein" 242 ist schon das Zeichen dafür, „daß etwas anderes im Anzüge ist" 2 4 3 und zeigt sich bereits als das „Vergehen der Sittlichkeit" 244 . Die freie Bewegung des Selbstbewußtseins auf dem Boden des sittlichen Geistes ist bereits die „Erhebung über seine Wirklichkeit" 2 4 5 und die Kunstreligion tritt „in ihrer Vollendung erst im S c h e i d e n von seinem B e s t e h e n auf." 2 4 6 Die Wahrheit des Verhaltens des geistigen skeptischen Selbstbewußtseins ist das geistige unglückliche Selbstbewußtsein. 247 Die „absolute Freiheit" 2 4 8 der Welt der olympischen Götter verkehrt sich in den Schmerz, ihre „lachende Seligkeit" 2 4 9 in Unglückseligkeit.
Phä., 521. A . a . O . , 492. 240 Vgl. weiter unten die Ausführungen über die offenbare Religion und den dritten Teil dieses Kapitels dieser Arbeit. 2 4 1 Phä., 491, vgl. SW Bd. 1, 502. 2 4 2 Phä., 491. 2 4 3 Phä., 16. 2 4 4 A . a . O . , 491. Als das „Genie des Leichtsinns" sieht Hegel Alkibiades (vgl. SW Bd. 18, 120), den Schüler des Sokrates, der durch seinen Leichtsinn Athen fast an den Rand des Verderbens gebracht hat. (Vgl. a . a . O . , 171). - Im Anschluß an die Ausführungen über die Komödie des Aristophanes, die vom Verschwinden der göttlichen Wesenheiten handelt (vgl. auch a . a . O . , 86, wo Hegel in gleichem Zusammenhang wieder Alkibiades erwähnt), spricht Hegel davon, daß „die bestimmten Gesetze und Maximen des Handelns der Lust und dem Leichtsinne der — hiemit — verführten Jugend preisgegeben)" werden. (Phä., 519). 238 239
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A . a . O . , 490. A . a . O . , 491. Vgl. Phä., 523. SW Bd. 14, 560. A . a . O . , 561.
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Die S c h w e r m u t des unglücklichen Selbstbewußtseins resultiert aus dem Wissen um den tragischen Verlust der sittlichen Welt, die in den absoluten, d.h. vollendeten L e i c h t s i n n des „vollkommen glücklichen, des komischen Bewußtseins" 250 versunken ist. „Die Religion der Kunst gehört dem sittlichen Geiste an, den wir früher indem R e c h t s z u s t a n d e untergehen sahen, d . h . in dem Satze: das S e l b s t als s o l c h e s , d i e a b s t r a k t e P e r s o n ist a b s o l u t e s W e s e n . Im sittlichen Leben ist das Selbst in dem Geiste seines Volkes versenkt, es ist die e r f ü l l t e Allgemeinheit. Die e i n f a c h e E i n z e l h e i t aber erhebt sich aus diesem Inhalte, und ihr Leichtsinn reinigt sie zur Person, zur abstrakten Allgemeinheit des Rechts." 2 5 1 Bezeichnet Hegel in der „Wissenschaft der Logik" 2 5 2 den Schein als das Phänomen des Skeptizismus, so trifft das mutatis mutandis auch auf den schönen Schein zu. Das geistige freie Selbstbewußtsein der Kunstreligion kann als Bewegung des geistigen Skeptizismus vom geistigen Stoizismus zum geistigen unglücklichen Selbstbewußtsein verstanden werden. Die Epoche der absoluten Kunst ist die Epoche des geistigen Skeptizismus, des absoluten Leichtsinns. Dieses heitere glückliche Bewußtsein ist zugleich schon das unglückliche schwermütige, die Trauer über die eigene Seligkeit. Dem heiteren Bewußtsein als komischem Bewußtsein wird der Nimbus der Götter zum Gegenstand, die Götter werden zu Wolken. Doch diesem Sich-Wohlsein-lassen des Bewußtseins, wie es Aristophanes in seinen Komödien schildert, steht die Einsicht in die Verlassenheit der Menschen bevor. Der geistige Skeptizismus wird erst in der offenbaren Religion vollbracht. Das komische Bewußtsein ist zunächst das Bewußtsein der Auflösung der allgemeinen Wesenheit in ihrem Sich-Aufspreizen. 253 „Das Aufspreizen der allgemeinen Wesenheit ist an das Selbst verraten; es zeigt sich in einer Wirklichkeit gefangen und läßt die Maske fallen, eben indem es etwas Rechtes sein will. Das Selbst hier in seiner Bedeutung als Wirkliches auftretend, spielt es mit der Maske, die es einmal anlegt, um seine Person zu sein, — aber aus diesem Scheine tut es sich ebenso bald wieder in seiner eignen Nacktheit und Gewöhnlichkeit hervor, die es von
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Phä., 523. A . a . O . , 522. Log. II, 9/10. Vgl. Phä., 509, SW Bd. 14, 561 und SW Bd. 18, 86.
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dem eigentlichen Selbst, dem Schauspieler sowie von dem Zuschauer, nicht unterschieden zu sein zeigt." 2 5 4 Die a b g e z o g e n e M a s k e zeigt schließlich, daß das eigentliche Selbst des komischen Bewußtseins, in welchem sich auflöst, „was die Form von Wesenheit gegen es annimmt" 2 5 5 mit seiner a b s t r a k t e n P e r s o n zusammenfällt. Das unglückliche Selbstbewußtsein weiß, welche Bewandtnis es mit dem wirklichen Gelten der abstrakten Person wie mit dem Gelten derselben in dem reinen Gedanken hat. Es weiß dieses Gelten als den vollkommenen Verlust; „es selbst ist dieser seiner bewußte Verlust und die Entäußerung seines Wissens von sich." 2 5 6 Diese Trauer über den Verlust der sittlichen Welt ist das Symptom der Vollendung der Kunstreligion, des Erreichens ihres höchsten Bestimmungsziels und damit schon das Vorzeichen ihres Endes. „Indem also das Vertrauen gebrochen, die Substanz des Volks in sich geknickt ist, so ist der Geist, der die Mitte von bestandlosen Extremen war, nunmehr in das Extrem des sich als Wesen erfassenden Selbstbewußtseins herausgetreten. Dieses ist der in sich gewisse Geist, der über den Verlust seiner Welt trauert und sein Wesen, über die Wirklichkeit erhoben, nun aus der Reinheit des Selbsts hervorbringt. In solcher Epoche tritt die absolute Kunst hervor . . . " . 2 5 7 Diese Trauer kommt bereits im Epos zur Sprache, in dem sich das darstellt, was im lebendigen Kunstwerk an sich zustande kommt, die Beziehung des G ö t t l i c h e n auf das M e n s c h l i c h e , die Verbindung des A l l g e m e i nen und E i n z e l n e n . 2 5 8 „Die höchste Gestalt, die der griechischen Vorstellung vorgeschwebt hat, ist Achill, der Sohn des Dichters, der homerische Jüngling aus dem trojanischen Krieg." 2 5 9 Doch Achill, der Götterjüngling ist es auch, der — „ s o für kurze Zeit geboren" 2 6 0 — „in seiner Kraft und Schönheit sein Leben gebrochen fühlt und einem frühen Tod entgegensehend trauert." 2 6 1 „So schwebt ein Ton der Trauer über dem Ganzen; wir sehen das Herrlichste 254 255 256 257 258 259 260
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Phä., 518; vgl. a . a . O . , 511, und SW B d . 14, 519. Phä., 520. A . a . O . , 523. A . a . O . , 491/2. Vgl. a . a . O . , 508. SW Bd. 11, 296, vgl. SW Bd. 9, 82 und SW B d . 14, 363. Vgl. F. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, 1. B d . , München 1970, 846, Über Achill (1), vgl. a . a . O . , 847/ 8, Über Achill (2). Phä., 510.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
früh vergehn; schon im Leben trauert Achilles über seinen Tod . . , " . 2 6 2 Und auch die Götter erhalten „jenen stillen Zug der Trauer". 2 6 3 „Die seligen Götter trauren gleichsam über ihre Seligkeit oder Leiblichkeit . . , " . 2 6 4 Diese Trauer zeigt an, daß dieser ihrem Untergang entgegengehenden Welt der Götter und der Menschen, des Allgemeinen und des Einzelnen, etwas noch Höheres vorschwebt: „die E i n h e i t des B e g r i f f s " 2 6 5 , die Notwendigkeit, die Nemesis 2 6 6 , gegen die sie sich „selbstlos und trauernd verhalten." 267 Die Kunstreligion, in der das S e l b s t das absolute Wesen ist, ist der Gegensatz der Natur religion, in der das a b s o l u t e Wesen das Selbst ist. Die Vereinigung und gegenseitige Durchdringung beider Seiten, wodurch „der Geist ebenso B e w u ß t s e i n seiner als seiner g e g e n s t ä n d l i c h e n Substanz wie einfaches, in sich bleibendes S e l b s t b e w u ß t s e i n " 2 6 8 ist, wird an sich im Wissen der offenbaren Religion und an und für sich im absoluten Wissen, d.h. im begreifenden Denken des Spekulativen erreicht, das den philosophischen Inhalt des spekulativen Satzes ausmacht. Als spekulative Bestimmung dieses Satzes wird sich die Einheit des Begriffs in seiner Urteilung, d.h. die Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat ergeben. 269 „Später ist der Geist über die Kunst hinaus, um seine höhere Darstellung zu gewinnen . . . nicht nur aus seinem Begriffe sich zu gebären, sondern seinen Begriff selbst zur Gestalt zu haben, so daß der Begriff und das erzeugte Kunstwerk sich gegenseitig als ein und dasselbe wissen." 2 7 0 Das Problem des ,Endes der Kunst' Zum Schluß dieser Vorbetrachtung über die Kunst-Religion möchte ich es nicht versäumen, hier eine Bemerkung zu dem vieldiskutierten Problem des ,Endes der Kunst* anzufügen. Die soeben zitierten Sätze der „Phänomenologie" geben offenbar einen Hinweis auf die berühmten Sätze der „Vorlesungen über die Ästhetik": „Uns gilt die Kunst nicht mehr als die SW B d . 14, 366. SW Bd. 13, 101. 2 6 4 A . a . O . , 78; vgl. die Interpretation des ersten Satzes des § 561 der „ E n z y k l o p ä d i e " (SW Bd. 10, 449), die M. Theunissen in „ H e g e l s Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat", Berlin 1970, 193 — 198 gegeben hat. 2 6 5 Phä., 510; vgl. weiter unten. 2 6 6 Vgl. u.a. SW B d . 14, 366 und L o g . I, 339. 2 6 7 Phä., 510, vgl. SW Bd. 13, lOOff. 2 6 8 Phä., 522, vgl. a . a . O . , 480. 269 Yg] ( j e n dritten Teil dieses Kapitels dieser Arbeit. 2 7 0 Phä., 492. 262 263
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höchste Weise, in welcher die Wahrheit sich Existenz verschafft. Im Ganzen hat sich der Gedanke früh schon gegen die Kunst als versinnlichende Vorstellung des Göttlichen gerichtet . . , 2 7 1 „Man kann wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfniß des Geistes zu seyn." 2 7 2 Wir sind nach Hegel darüber hinaus, Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können. 2 7 3 „ . . . es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr." 2 7 4 Unser Tun im Genuß der Kunstwerke ist „nicht das gottesdienstliche". 275 „Aber wie das Mädchen 276 , das die gepflückten Früchte darreicht, mehr ist als die in ihre Bedingungen und Elemente, den Baum, Luft, Licht usf. ausgebreitete Natur derselben, welche sie unmittelbar darbot, indem es auf eine höhere Weise dies alles in den Strahl des selbstbewußten Auges und der darreichenden Gebärde zusammenfaßt, so ist der Geist des Schicksals, der uns jene Kunstwerke darbietet, mehr als das sittliche Leben und Wirklichkeit jenes Volkes, denn er ist die E r - I n n e r u n g des in ihnen noch v e r ä u ß e r t e n Geistes — er ist der Geist des tragischen Schicksals, das alle jene individuellen Götter und Attribute der Substanz in das Eine Pantheon versammelt, in den seiner als Geist selbst bewußten Geist." 2 7 7 Die Kunst ist in Anbetracht ihrer h ö c h s t e n Bestimmung, d.h. ihrer höchsten B l ü t e Kunst-Religion, aber die Kunst als Religion ist nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Die Anschauung — wie die Vorstellung — des Absoluten hebt sich im freien Denken des absoluten Wissens als des begreifenden Anschauens auf. Der philosophische Beriff ist der „denkend erkannte B e g r i f f der Kunst und der Religion". 2 7 8 Spekulative Philosophie versteht sich deshalb nicht etwa als eine der Religion bzw. der Kunst überhobene, vielmehr begreift sie diese in sich. Der Inhalt der Philosophie ist nach Hegel „spekulativ und damit religiös." 2 7 9 271
SW Bd. 12, 150. Vgl. J. Patocka, Zur Entwicklung der ästhetischen Auffassung Hegels, in: Hegel-Jahrbuch 1964, 4 9 - 5 9 ; vgl. insbes. 50—52. Vgl. vom gleichen Verfasser: Die Lehre von der Vergangenheit der Kunst, in: Festschrift für Eugen Fink, hrsg. von L. Landgrebe, DenHaag 1965, 4 6 - 6 1 .
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SW Bd. 12, 151. Vgl. a . a . O . , 30. A . a . O . , 151. Phä., 524. Glockner bemerkt (SW Bd. 22, H. Glockner, Hegel, 2. Bd. 529, Anm.), daß Hegel an Schillers „Mädchen aus der Fremde" denkt. Vgl. Schillers Werke, 1. Bd., a . a . O . , 275. Phä., 524. SW Bd. 10, § 572, 458; vgl. SW Bd. 6, § 472, 308 und Log. II, 484. SW Bd. 8, § 573.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Die im Namen der Aufklärung auftretende Überheblichkeit der Verstandesphilosophie, die die Religion bzw. die Kunst unter sich glaubt, ist nicht einmal emporgestiegen zur Bildungsstufe der Religion, in der die Aufklärung aufgehoben ist, geschweige denn zur Stufe des absoluten Wissens der spekulativen Philosophie. Die über sich selbst nicht aufgeklärte Aufklärung, die sich gegen Kunst und Religion empört und diese als etwas Überholtes außer sich bzw. unter sich wähnt, macht sich keinen philosophischen Begriff von der Kunst und der Religion. Deshalb muß ihr am Ende der spekulative Begriff selbst, insofern er der Begriff der Kunst und der Religion ist, ein Mysterium bleiben. Im ,Stufengang' der Erfahrung des Bewußtseins ist keine Stufe zu überspringen. Kunst ist nicht länger Kunstreligion, vielmehr kommt ihr die Auseinandersetzung mit sich als Kunstwissenschaft, d.h. als Philosophie der Kunst zu. Die Kunst ist in Anbetracht ihrer l e t z t e n Bestimmung, d.h. ihrer höchsten R e i f e — einer Reife, in welcher ihr Untergang beginnt — Kunstphilosophie. 280 „Was durch Kunstwerke jetzt in uns erregt wird, ist außer dem unmittelbaren Genuß zugleich unser Urtheil, indem wir den Inhalt, die Darstellungsmittel des Kunstwerks und die Angemessenheit und Unangemessenheit beider unserer denkenden Betrachtung unterwerfen. Die W i s s e n s c h a f t der Kunst ist darum in unserer Zeit noch viel mehr Bedürfniß, als zu den Zeiten, in welchen die Kunst für sich als Kunst schon volle Befriedigung gewährte. Die Kunst ladet uns zur denkenden Betrachtung ein, und zwar nicht zu dem Zwecke Kunst wieder hervorzurufen, sondern was Kunst sey wissenschaftlich zu erkennen." 281a " f 280
Jig Antizipation der weiteren .Stufen' des absoluten Geistes innerhalb der Fortbestimmung der Kunst als die Unterscheidung der h ö c h s t e n Bestimmung (in der KunstReligion) von der l e t z t e n Bestimmung (in der Kunstphilosophie) allerdings logisch auszuweisen ist, sehe ich bisher nicht. 2 8 1 ' S W Bd. 12, 3 2 . Th. W . Adorno hat von der prophetischen Wahrheit dieses Hegeischen Gedankens gesprochen. Vgl. Th. W . Adorno, Ästhetische Theorie, a . a . O . , 141. Z u r These, daß die Kunst der Philosophie bedürfte vgl. a . a . O . , 113, 193, 197, 2 2 6 , 507 und 508. Vgl. auch W . Koepsel, Die Rezeption der Hegeischen Ästhetik im 2 0 . Jahrhundert, Bonn 1975, III. Hegels Lehre vom Vergangenheitscharakter der Kunst in der Moderne und ihre Bedeutung in der Rezeption der Hegeischen Ästhetik im X X . Jahrhundert, 85—143, sowie V . Hegels Dialektik beim W o r t genommen (Adornos Ästhetische Theorie), 257—335. Peinlich ist m . E . übrigens das bis in die stilistische Eigenheit gehende Nachsprechen Adornoscher Tropen. 2 8 1 b Z u r Frage der Aktualität der Hegeischen Ästhetik vgl. die an interessanten Literaturhinweisen reichen Arbeiten von W . Henckmann, Was besagt die These von der Aktualität der Ästhetik Hegels, in: Hegel-Bilanz, 1973, 1 0 1 - 1 4 5 (vgl. vom gleichen Verfasser auch: Bibliographien zur Ästhetik Hegels, in: Hegel-Studien 5 (1969), 3 7 9 - 427), und von G .
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Wolandt, „Zur Aktualität der Hegeischen Ästhetik", in: Hegel-Studien 4 (1967), 219—234. (Vgl. vom selben Verfasser vor allem auch das letzte Kapitel seines Buches „Idealismus und Faktizität", Berlin 1971, 270ff., insbes. 276 und 277, Die Lehre von der Geschichtlichkeit der Künste (Zur Aktualität der Ästhetik Hegels). Auf dieses, nur in seinem Zusammenhang angemessen zu kritisierende Kapitel kann im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden). 28 lc Zu dem vieldiskustierten Thema ,Ende der Kunst' — erinnert sei an die zahlreichen Vorträge zu dem der Ästhetik Hegels gewidmeten Salzburger Kongress 1964 (vgl. HegelJahrbuch 1964 und Hegel-Jahrbuch 1965), sowie an die die Hegeische Ästhetik betreffenden Beiträge zu den Jubiläumskongressen in Stuttgart und Ost-Berlin 1970 (vgl. die Akten des Stuttgarter Hegel-Kongresses 1970, hrsg. von H . - G . Gadamer und Kunst und Literatur 18 (1970)) — vgl. insbes. den Aufsatz von J. Rüsen, Die Vernunft der Kunst - Hegels geschichtsphilosophische Analyse der Selbsttranszendierung des Ästhetischen in der modernen Welt, in: Philosophisches Jahrbuch, 80. Jhrg. (1973), 2. Halbbd., 294, wo Rüsen versucht, der Hegeischen Ästhetik gerade dort Einsichten auch in die zeitgenössische Kunst abzugewinnen, wo sie vom Ende der Kunst spricht. Vgl. insbes. Kap. IV, 306ff., wo Rüsen ausführt, daß nach Hegel die Kunst ihre Zukunft darin habe, daß sie durch Selbsttranszendierung eine transästhetische Vernunfttheorie, d . h . eine Philosophie legitimiere, die sich ihrerseits notwendig auf die Kunst rückbeziehe. 281d
Vgl. auch W. Oelmüller, Hegels Satz vom Ende der Kunst und das Problem der Philosophie der Kunst nach Hegel, in: Philosophisches Jahrbuch, 73. Jhrg. (1965/6), insbes. Kap. III, 87ff., wo Oelmüller von der Hegeischen Freisetzung der Kunst von allen religiösen und weltanschaulichen Themen spricht. 28ic Vgl. ferner D. Henrich, Kunst und Kunstphilosophie der Gegenwart (Überlegungen mit Rücksicht auf Hegel), in: Immanente Ästhetik, Ästhetische Reflexion, München 1966, insbes. Kap. ,VI> Reflexion im gegenwärtigen Kunstwerk, 27ff. (Nebenbei kann bemerkt werden, daß sich R. Bubner gegen Henrichs Umdeutung des Hegeischen Verdikts vom Ende der Kunst wendet, dagegen, daß Henrich gerade aus der Uberwindung der ästhetischen Unmittelbarkeit durch gedankliche Reflexion eine implizite Prognose Hegels über zukünftige Kunst herauszulesen versucht habe und demgegenüber die Meinung vertritt, daß Hegel der Kunst ein Fortleben, wenn überhaupt, so nur als permanentem Biedermaier zugestanden habe. (Vgl. R. Bubner, Uber einige Bedingungen gegenwärtiger Ästhetik, in: neue hefte für philosophie 5, Göttingen 1973 , 47 und vgl. G. W. F. Hegel, „Vorlesungen über die Ästhetik", reclam 7976-7984, Einführung von R. Bubner, 16). Liest man Hegels Ausführungen über das Ende der romantischen Kunstform (SW Bd. 13, 217ff., insbes. 222ff. und 239/40) im Zusammenhang mit seiner Unterscheidung der Auffassungsweisen der holländischen Genremalerei (vgl. SW Bd. 12, 232—235; vgl. insbes. 234, wo Hegel auf die Düsseldorfer Kunstausstellung von 1828 hinweist) und der Genrebilder der biedermaierlichen Düsseldorfer Schule, von denen er sagt, daß sie bei genauerem Ansehen „bald genug als süß und fade" (SW Bd. 12, 224) erscheinen, so scheint das allerdings gegen Bubners Vermutung zu sprechen). 281(
Vgl. nicht zuletzt die eindrucksvolle, bereits 1931 in Berlin erschienene Arbeit von H . Kuhn, Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel, in der Kuhn Hegels Ästhetik aus dem Zusammenhang der vergangenen dichterischen und philosophischen Epoche, und zwar als deren Vollendung, aber auch als deren Abschluß versteht. Kuhn hat gezeigt, daß Hegel dadurch zu seiner Wissenschaft der Kunst kommt, daß er über die Kunst selbst hinaus ist. Zum Vergangenheitscharakter der Kunst vgl. insbes. a . a . O . , 76ff. und abschließend Kap. IX. Vergangenheitscharakter und Gegenwärtigkeit der Kunst, a . a . O . , 112ff. (Was übrigens die oft wiederholte Rede vom Klassizismus Hegels anbetrifft, so hat m.E. Kuhn selbst unmißverständlich deutlich gemacht, worin die Grenze dieses Klassizismus zu sehen ist, nämlich darin, daß sich der
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Das abstrakte Kunstwerk (Phä., Kap. VII B.a.,
493-502)
Die Sprache des Orakels und die Sprache der Hymne Liest man den Text vornehmlich unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung der Sprachcharaktere der Kunstwerke, so scheinen im folgenden — wenn etwa die Zusammengehörigkeit der Ausführungen über das Orakel und über das Drama verdeutlicht werden soll — einige Vorgriffe unumgänglich zu sein. Der Werkmeister vermischte die natürliche mit der selbstbewußten Gestalt; die zweideutigen Wesen der ägyptischen Naturreligion, in denen das Bewußtlose mit dem Bewußten, das Sinnliche und Natürliche mit dem Geistigen ringt, „brechen in die Sprache tiefer schwerverständlicher Weisheit aus". 282 Die Zweideutigkeit dieser rätselhaften monströsen Wesen der symbolischen Kunst kehrt in der „fremden" Sprache des Orakels wieder. 283 Die Doppelsinnigkeit des dem Menschen weder offenbarenden noch etwas verbergenden, sondern etwas bezeichnenden Orakels, das die erste noch von der Naturreligion übernommene Sprache der Kunstreligion ist und uns im Drama, der letzten Sprache der Kunstreligion wiederbegegnet, ist als ein entscheidendes Moment der Sprachen der Kunst zu betrachten. Begreift man mit Hegel Philosophie als solche, die die Religion in sich aufgehoben hat und begreift man, daß Hegel die Überlegenheit der Prosa des Denkens gegenüber der Poesie der Vorstellung darin sieht, daß sie diese in sich aufhebt, begreift und schließt — nicht aber darin, daß sie aus Angst vor einer fallacia aequivocationis die pure Verschiedenheit von der Poesie auf den Schild erhebt und das lebendige, konkrete Wort durch den toten Buchstaben und das abstrakte Zeichen ersetzt — so wird deutlich, daß das Verhältnis zur Äquivokation bzw. zum Doppelsinn nahezu als ein Schibboleth der spekulativen Philosophie angesehen werden kann. Dies wird gewöhnlich so mißverstanden, daß spekulatives Denken eine Art .Begriffsdichtung', „poetisches Denken" sei.284
282 283 284
Begriff der künstlerischen Renaissance, die Nachahmung der Alten, in der Winckelmann den einzigen Weg für die Nachgeborenen sah, groß, womöglich sogar unnachahmlich zu werden, in der Ästhetik Hegels, der vielleicht am klarsten sah, daß die schönen Tage der griechischen Kunst unwiederbringlich vorüber sind, nicht findet. „Denn die Sache dieser Renaissance ist nicht mehr Hegels Sache." ( A . a . O . , 110, vgl. 108f.)). Phä., 489. Vgl. a . a . O . , 496-498. Vgl. Phä., 55 und Kap. 1,3 dieser Arbeit.
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Hier ist nur daran zu erinnern, daß es das Symbol ist, das „seinem eigenen Begriff nach wesentlich z w e i d e u t i g ist". 2 8 5 So kann auch die metaphorische Ausdrucksweise ihrer Zweideutigkeit wegen als eine bloß symbolische gekennzeichnet werden. Als Beispiele für symbolische Ausdrücke der Sprache führt Hegel Wörter wie „Begreifen" und „Schließen" an, die insofern doppelsinnig sind, als sie einerseits eine „uneigentliche" übertragene Bedeutung, andererseits aber auch eine — in diesem Fall unterbelichtete — eigentliche Bedeutung haben. 286 Wie z.B. auch bei dem Schlüsselwort „Sinn" 2 8 7 , dessen eigener Doppelsinn Mutmaßungen darüber aufkommen lassen könnte, ob das wahrhaft Sinnvolle nicht immer schon den Doppelsinn des Begrifflichen und des Anschaulichen in sich hat und ob die dialektische Bewegung der Doppelreflexion des begreifenden Anschauens der Idee nicht der (Grenz-)Ubergang vom Bereich des Diskursiven in den Bereich des Intuitiven und umgekehrt ist, werden wir uns jedoch bei solchen Wörtern meistens nur dann der übertragenen Bedeutung als einer — aus dem Bereich des Sinnlichen auf das Geistige — übertragenen Bedeutung und damit der Doppeldeutigkeit bewußt, wenn wir besonders darauf achten. Von der Metapher sagt Hegel dann im Abschnitt über die bewußte Symbolik, daß jede Sprache schon an sich selber eine Menge Metaphern habe, die dadurch entstehen, daß ein Wort, daß zunächst nur etwas ganz Sinnliches bedeutet, auf etwas Geistiges übertragen wird. „ „ F a s s e n , B e g r e i f e n " , überhaupt viele Wörter, die sich auf das Wissen beziehn, haben in Rücksicht auf ihre eigentliche Bedeutung einen ganz sinnlichen Inhalt, der sodann aber verlassen und mit einer geistigen Bedeutung vertauscht wird; der erste Sinn ist sinnlich, der zweite geistig." 2 8 8 Auf die Frage nach dem Zweck und Interesse des Metaphorischen antwortet Hegel, daß der Geist der metaphorischen Diktion als das Bedürfnis und die Macht des Geistes und Gemüts anzusehen sei, das sich nicht mit dem Einfachen, Gewohnten, Schlichten befriedigt, sondern sich darüber stellt, um zu Anderem fortzugehen, bei Verschiedenem zu verweilen und Zweifaches in Eins zu fügen. 2 8 9 Dieser spekulative Geist der metaphorischen Sprache sollte freilich nicht darüber hinwegtäuschen, daß die „plastische Strenge" 2 9 0 des 285 286 287 288 289 290
SW B d . 12, 411. Vgl. a . a . O . , 411. Vgl. a . a . O . , 182. SW B d . 12, 535. Vgl. a . a . O . , 537. A . a . O . , 539.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Klassischen, der es um die Deutlichkeit und Klarheit geht, erst erreicht wird, wenn die noch dem Symbolischen angehörige Prägnanz dem Denken vergangen ist, das es liebt, sich in vereinzelten bedeutungsschwangeren Metaphern zu ergehen und „sich hier und dort sogenannte Blumen des Ausdrucks aufzulesen." 2 9 1 Für das spekulative Denken ist es zwar erfreulich, schon lexikalisch Wörter mit verschiedenen oder sogar entgegengesetzten Bedeutungen zu finden, Wörter also, die eine spekulative Bedeutung an ihnen selbst haben, 292 für die Entwicklung spekulativer Gedanken aber kommt es darauf an, das, was die Sprache auf naive Weise enthält, auszusprechen und darzustellen, das, was mit einem Wort v o r a u s g e s e t z t wird, zunächst wenigstens in einem Satz auszuführen und zu t h e m a t i s i e r e n , um seiner spekulativen Bestimmung dann im Textzusammenhang weiter nachgehen zu können. Zur Explikation der spekulativen Bedeutung des Wortes „Sinn" etwa, der Bedeutung des Übergangs vom sinnlichen Anschauen zum sinnvollen Begreifen der Idee nämlich, wird es eines langen methodischen Entwicklungsganges bedürfen. In ihm erst kommt der Verstand zu seinem Recht, der das Konkrete in seiner Verschiedenheit betrachtet und dessen Kraft darin besteht, das Tote festzuhalten. Nur durch die Kraft und Arbeit des Verstandes ist zum Spekulativen der Vernunft fortzuschreiten. Der Versuch, sich diese Arbeit zu ersparen, führt am Ende dazu, daß aus der spekulativen Philosophie eine ,orakelnde' Philosophie wird. Doch zunächst wieder zurück zu Hegels Betrachtung der Sprache des Orakels im Rahmen der Ausführungen über das abstrakte Kunstwerk. Die private Orakel-Sprache des einzelnen Selbstbewußtseins, die einerseits schon zur künstlichen, andererseits aber noch zur natürlichen Religion gehört, ist von der öffentlichen andächtigen Sprache des allgemeinen Selbstbewußtseins, der Sprache der Hymne unterschieden. Phöbus Apollo, der aus der Finsternis hervorgegangene Gott des Lichtes des Bewußtseins, der das verborgene Innere an den Tag gebracht hat, ist vornehmlich der Gott, der ein anderes Element seines Daseins hat, als die noch nicht wirklich beseelte dingliche Bildsäule. 293 „Dies höhere Element ist die S p r a c h e , - ein Dasein, das unmittelbar selbstbewußte Existenz ist. Wie das e i n z e l n e Selbstbewußtsein in ihr da ist, ist es ebenso unmittelbar als eine a l l g e m e i n e Ansteckung; die vollkommne Besonderung des Fürsichseins ist zugleich die Flüssigkeit und 291 292 293
Ebenda. Vgl. L o g . I, 10 und 94. Vgl. Phä., 495.
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die allgemein mitgeteilte Einheit der vielen Selbst; sie ist die als Seele existierende Seele." 294 Als Gott der Musik und der Dichtung siegt der Musenführer Apollo über Marsyas, einen Anhänger der Kybele — der Natur, vorgestellt als die allgemeine Mutter 2 9 5 — indem er auf der Leier spielt und zugleich Hymnen zu Ehren der olympischen Götter singt. Diese seine Sprache ist bereits lyrisch. „Der Gott also, der die Sprache zum Elemente seiner Gestalt hat, ist das an ihm selbst beseelte Kunstwerk, das die reine Tätigkeit, die ihm, der als Ding existierte, gegenüber war, unmittelbar in seinem Dasein hat. Oder das Selbstbewußtsein bleibt in dem Gegenständlichwerden seines Wesens unmittelbar bei sich. Es ist, so in seinem Wesen bei sich selbst seiend, r e i n e s D e n k e n oder die Andacht, deren I n n e r l i c h k e i t in der Hymne zugleich D a s e i n hat. Sie behält die Einzelheit des Selbstbewußtseins in ihr, und vernommen ist diese Einzelheit zugleich als allgemeine da; die Andacht, in Allen angezündet, ist der geistige Strom, der in der Vielfachheit des Selbstbewußtseins, seiner als eines gleichen T u n s Aller, und als e i n f a c h e s Sein bewußt ist; der Geist hat als dieses allgemeine Selbstbewußtsein Aller seine reine Innerlichkeit ebensowohl, als das Sein für Andre und das Fürsichsein der Einzelnen in Einer Einheit." 2 9 6 Zugleich ist Apoll aber auch noch der Herr des Orakels in Delphi, das von der alten Naturgottheit an ihn übergegangen ist. In den Eumeniden des Äschylos spielen die ersten Szenen vor dem Tempel Apollos. Zu verehren ist zuerst die Orakelgeberin (die Γαία), das Naturprinzip, dann die Θέμις, die schon eine geistige Macht ist, aber, wie die Dike noch zu den alten Göttern gehört, dann kommt die Nacht, dann Phöbos. Das Orakel ist an die neuen Götter übergegangen. 297 Die hymnische Sprache unterscheidet sich von einer „andern Sprache des Gottes, die nicht die des allgemeinen Selbstbewußtseins ist. Das O r a k e l sowohl des Gottes der künstlerischen, als der vorhergehenden Religionen ist die notwendige erste Sprache desselben; denn in seinem B e g r i f f e liegt ebensowohl, daß er das Wesen der Natur als des Geistes ist, und daher nicht nur natürliches, sondern auch geistiges Dasein hat." 2 9 8 Die Sprache des Orakels gehört erst zum Gestaltungsprozeß des klassischen Ideals; der Kampf der alten und der neuen Götter spielt sich noch in ihr ab. Zwar ist die Sprache des Orakels nicht mehr k r y p t i s c h , denn 294 295 296 297 298
A . a . O . , 496. Vgl. SW Bd. 11, 308. Phä., 496. Vgl. SW Bd. 16, 105/6. Phä., 496.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
das Geheimnis der Sphinx ist verraten, das verborgene Innere der Totenbehausung aufgeschlossen, aber indem sich der Einzelne jetzt auf einmal an das äußerlich Bedeutende hält, verhält er sich noch unvernünftig — noch nicht,logisch' — und läßt das Zufällige auf eine unbesonnene und fremde Weise über sich bestimmen. Um seinen Entschluß zu handeln, wirklich zu fassen, fordert er eine äußere Bestätigung. In der Tat ist es das U n e r w a r t e t e , P l ö t z l i c h e , eine sinnlich bedeutende, unzusammenhängende Veränderung, ein Blitz am heiteren Himmel oder ein Vogel, was die Unbestimmtheit der inneren Unentschlossenheit unterbricht. „Das ist ein Aufruhr für das Innere, plötzlich zu handeln und z u f ä l l i g sich in sich f e s t z u s e t z e n ohne Bewußtseyn des Zusammenhanges und der Gründe, denn eben hier ist der Punkt, wo die Gründe abgebrochen werden, oder wo sie überhaupt mangeln." 2 " Das Plötzliche, A u g e n b l i c k l i c h e , Einmalige und Unvermittelte, das in dieser archaischen „Sprache des fremden und also zufälligen, nicht allgemeinen Selbstbewußtseins" 300 spricht, ist ein Moment, das jedes geglückte Kunstwerk vermittelt. Es wird noch im begreifenden Anschauen bzw. im sinnvollen Begreifen der spekulativen Idee als Moment aufgehoben sein. Besteht die Freiheit und Lebendigkeit des Kunstschönen oder des klassischen Ideals und die Lösung der ägyptischen Starrheit darin, daß das „Erscheinende an allen Punkten seiner Oberfläche zum Auge" 3 0 1 umgewandelt ist, so ist hier allerdings erst der Anfang eines Entstehungsprozesses des Ideals erreicht, in dem die Natur gleichsam die Augen aufgeschlagen hat, „damit die innere Seele und Geistigkeit an allen Punkten der Erscheinung gesehen werde." 3 0 2 Gerade deshalb kann die ideale Skulpturgestalt den B l i c k des A u g e s selbst entbehren. 303 „Die Skulptur hat die Totalität der äußerlichen Gestalt zum Zweck, in welche sie die Seele auseinanderschlagen und sie durch diese Mannigfaltigkeit darstellen muß, so daß ihr die Zurückführung auf den einfachen Seelenpunkt und die Augenblicklichkeit des Blicks nicht erlaubt ist." 3 0 4 Der Ausdruck im Blick findet seine Entsprechung im ganzen der Gestalt. An ihr ist keine Stelle, die uns nicht sieht. 305 Demgegenüber wäre SW Bd. 16, 145. Phä., 498. 3 0 1 SW Bd. 12, 213. 3 0 2 Ebenda. 3 0 3 Vgl. SW Bd. 13, 392-396. 3 0 4 A . a . O . , 393. 305 Vgl. Rilkes Gedicht,Archaischer Torso Apollos. Zur Übereinstimmung Rilkes mit Hegel in diesem Punkt vgl. J . König, Die Natur der ästhetischen Wirkung, in: Vorträge und 299
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der speziellere Ausdruck im Blick selbst nur eine zufällige Besonderheit. „Aus diesen Gründen entbehrt die Skulptur nicht nur nichts durch die Blicklosigkeit ihrer Gestalten, sondern sie muß ihrem ganzen Standpunkt nach diese Art des Seelenausdrucks fehlen lassen." 3 0 6 Die tragische Kollision der Mächte des Substantiellen (Eumeniden) und des Subjektiven (Apoll) als religiöse Vorstellung des Konfliktes von Form und Inhalt im spekulativen Satz Der Ausgang des Prozesses der Eumeniden als dramatische Vorstellung der harmonischen Einheit des formalen Unterschieds und der inhaltlichen Identität der Teile des spekulativen Satzes Was nun zunächst wieder das Wissen angeht, wie es in Form des Orakels erscheint, so ist in den Orakeln der Gott zwar als der Wissende angenommen, und daher dem wissenden Gott Apoll das vornehmste Orakel geweiht; die Form jedoch, in der er seinen Willen kundgibt, bleibt das ganz unbestimmt Natürliche, eine Naturstimme oder ein zusammenhangloses Tönen von Worten. In dieser Undeutlichkeit der Gestalt wird der geistige Inhalt selbst dunkel und bedarf deshalb der D e u t u n g und Erklärung. Diese Erklärung bleibt nach Hegel, ungeachtet dessen, daß sie die zunächst bloß in Form des Natürlichen vorliegende Verkündigung des Gottes vergeistigt ins Bewußtsein bringt, dunkel und doppelsinnig, denn der Gott ist in seinem Wissen und Wollen konkrete Allgemeinheit. Derselben Art muß deshalb auch sein Rat oder sein Befehl sein, den das Orakel offenbar macht. Das Allgemeine aber ist nicht einseitig und abstrakt, sondern enthält als konkretes die eine wie die andere Seite. 307 „Indem nun der Mensch dem wissenden Gott gegenüber als unwissend dasteht, nimmt er
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Aufsätze, hrsg. v. G. Patzig, Freiburg/München, 1978, 256ff. u. P. Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie, Frankfurt 1974, I. Hegels Lehre von der Dichtung, 360 u. 426/7. SW Bd. 13, 394. Vgl. dagegen S. Kierkegaard, GW, 11. u. 12. Abt., Der Begriff Angst, 89 Anm. (Autgrund einiger nach Hegels Lebzeiten gemachter Funde ist man in neuerer Zeit in diesem Punkt auch zu anderen Ansichten gelangt.) Erst gegen Ende des Prozesses der Auflösung des klassischen Ideals, an dem Punkt, an dem diese Auflösung als Auflösung vollkommen hervortritt, etwa in der Genremalerei der späten Holländer, kommt nach Hegel die vollendete Zufälligkeit und Äußerlichkeit des Stoffs selbst in Betracht. (Vgl. SW Bd. 13, 217ff.) Als die schwere Aufgabe der Stufe der Auflösung der romantischen Kunstform erkennt Hegel, das „Vergänglichste, Vorübereilendste zu ergreifen, und in seiner vollsten Lebendigkeit für die Anschauung dauernd zu machen", das „Augenblicklichste einer Gebehrde" festzuhalten. ( A . a . O . , 224) Vgl. SW Bd. 13, 42/3.
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den Orakelspruch selber unwissend auf; d.h. die konkrete Allgemeinheit desselben ist ihm nicht offenbar, und er kann sich aus dem doppelsinnigen Wort des Gottes, wenn er danach zu handeln sich entschließt, nur eine Seite herauswählen, da jede Handlung unter besondern Umständen immer b e s t i m m t , nur nach e i n e r Seite hin entscheidend, und die andere ausschließend sein muß." 3 0 8 Hat der Mensch sich aufgemacht und nach dem Orakelwort gehandelt, so gerät er in Kollision. Zu spät sieht er plötzlich, daß sich die andere ebenfalls im Orakelspruch enthaltene Seite notwendig gegen ihn kehrt. („Sagt das Orakel: gehe hin und der Feind wird überwunden, so sind Beide Feinde „der Feind"." 3 0 9 ). Er wird durch das, was der „schöne Gott" ihm offenbart „ins Verderben geschickt." 3 1 0 Insofern wird das Orakel in der dramatischen Poesie wichtig, als der Handelnde nur die eine Macht der Substanz weiß, nur „dem einen Attribute der Substanz ergeben" 3 1 1 ist und nur in eine der zwei extremen Mächte sein Bewußtsein setzt, entweder in das untere Recht, das unterirdische Recht der unsterblichen Götter 3 1 2 wie Antigone, die sittlich handelt, indem sie der letzten Pflicht der Pietät und Humanität 313 nachkommt, oder in das obere Recht, das Recht der „übertätigen Sterblichen" 314 wie Kreon, der Vertreter der Staatsmacht. 315 „ . . . das obere und das untere Recht erhalten in dieser Beziehung die Bedeutung der wissenden und dem Bewußtsein sich offenbarenden, und der sich verbergenden und im Hinterhalte lauernden Macht. Die eine ist die L i c h t s e i t e , der Gott des Orakels, der nach seinem natürlichen Mo-
308 309 310
311 312
A . a . O . , 43, vgl. SW Bd. 16, 1 4 5 - 1 4 7 . A . a . O . , 146. Phä., 514. Die etymologische Deutung des Wortes 'Απόλλων ist unsicher. Vgl. J . B . Hofmann, Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, Darmstadt 1966, Nachdruck der Ausgabe von 1950, 21, A . Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, a . a . O . , Bd. II, 2 1 6 und R . v. Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Hamburg 1955, Bd. I, 47. E s scheint so, als sei Hegel an dieser Stelle von einer Ableitung des Wortes von άπόλλυμι = verderben, zerstören ausgegangen. (Vgl. SW Bd. 11, 3 2 1 ; vgl. dagegen die von Plato im Kratylos (404d—406a, Stephanus-Numerierung) gegebene Deutung des Namens „Apollon"). Phä., 515. Vgl. a . a . O . , 311 und 497.
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Zur etymologischen Zusammengehörigkeit von „humanitas" und „ h u m a r e " , begraben vgl. bereits G . Vico. Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, Hamburg 1966, nach der Ausgabe von 1744 übersetzt von E . Auerbach, 11. Vgl. auch A . Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, a . a . O . , Bd. I, 6 6 3 / 4 , „ h u m a n u s " und a . a . O . , 664/5, „humus".
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Phä., 508. Vgl. a . a . O . , 512ff. und 318ff.
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mente aus der alles beleuchtenden Sonne entsprungen, alles weiß und offenbart, — P h ö b u s , und Z e u s , der dessen Vater ist. Aber die Befehle dieses wahrredenden Gottes, und seine Bekanntmachungen dessen, was ist, sind vielmehr trügerisch. Denn dies Wissen ist in seinem Begriffe unmittelbar das Nichtwissen, weil das B e w u ß t s e i n an sich selbst im Handeln dieser Gegensatz ist. Der, welcher die rätselhafte Sphinx selbst aufzuschließen vermochte, wie der kindlich Vertrauende, werden darum durch das, was der Gott ihnen offenbart, ins Verderben geschickt." 3 1 6 Das Bewußtsein macht die Erfahrung, „daß sein Wissen einseitig, sein Gesetz nur Gesetz seines Charakters ist, daß es nur die eine Macht der Substanz ergriff. Die Handlung selbst ist diese Verkehrung des G e w u ß t e n in sein G e g e n t e i l , das S e i n , ist das Umschlagen des Rechts des Charakters und des Wissens in das Recht des Entgegengesetzten, mit dem jenes im Wesen der Substanz verknüpft ist, — in die Erinnye der andern feindlich erregten Macht und Charakters. Dies u n t r e Recht sitzt mit Zeus auf dem Throne und genießt mit dem offenbaren und dem wissenden Gotte gleiches Ansehen." 3 1 7 „Keins von beiden ist allein an und für sich; das menschliche Gesetz geht in seiner lebendigen Bewegung von dem göttlichen, das auf Erden geltende von dem unterirdischen, das Bewußte vom Bewußtlosen, die Vermittlung von der Unmittelbarkeit aus und geht ebenso dahin zurück, wovon es ausging. Die unterirdische Macht dagegen hat auf der Erde ihre W i r k l i c h k e i t ; sie wird durch das Bewußtsein Dasein und Tätigkeit." 3 1 8 Beide Seiten des Bewußtseins, die berußte des offenbarenden Gottes Apoll wie die unbewußte der sich verborgen haltenden innerlich richtenden Erinnye 3 1 9 , die „die geheime listige Macht besitzt" 3 2 0 , d.h. der „Eumenide des a b g e s c h i e d n e n G e i s t e s " 3 2 1 „genießen teils gleicher Ehre, teils ist die G e s t a l t der S u b s t a n z , Zeus, die Notwendigkeit der B e z i e h u n g
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A . a . O . , 5 1 3 / 4 ; zu dem von Hgel angedeuteten Zusammenhang zwischen Oedipus und Orest vgl. SW Bd. 16, 135 und 156.
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Phä., 514. A . a . O . , 328.
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Vgl. SW Bd. 16, 103.
320
Phä., 500. A . a . O . , 4 7 4 , vgl. SW Bd. 16, 1 2 7 / 8 : „Die E r i n n y e ist nicht nur äußerliche Furie, die den Muttermörder Orestes verfolgt, sondern der Geist des Muttermords schwingt über ihm seine Fackel. Die E r i n n y e n sind die Gerechten und eben darum die Wohlmeinenden, E u m e n i d e n ; das ist nicht ein Euphemismus, sondern sie sind, die das Recht wollen, und wer es verletzt, hat die E u m e n i d e n in ihm selbst: es ist das, was wir Gewissen nennen."
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beider aufeinander." 322 Die „sich klare V e r s i c h e r u n g der G e w i ß h e i t " hat „ihre Bestätigung an der V e r g e s s e n h e i t . " 3 2 3 „Der offenbare Geist hat die Wurzel seiner Kraft in der Unterwelt; die ihrer selbst sichere und sich versichernde G e w i ß h e i t des Volks hat die W a h r h e i t ihres Alle in Eins bindenden Eides nur in der bewußtlosen und stummen Substanz Aller, in den Wassern der Vergessenheit. Hiedurch verwandelt sich die Vollbringung des offenbaren Geistes in das Gegenteil, und er erfährt, daß sein höchstes Recht das höchste Unrecht, sein Sieg vielmehr sein eigener Untergang ist." 3 2 4 Versöhnung des Gegensatzes mit sich gewährt die Lethe (λήθη) die Lesmosyne (Vergessenheit), „die L e t h e der U n t e r w e l t im Tode, - oder die L e t h e der O b e r w e l t , als Freisprechung". 325 Die „Eumeniden" des Äschylos enden so, daß die Stimmen des Areopags, der den Kampf zwischen Apoll und den Eumeniden schlichten soll, gleich sind. Die aus dem Geist des Vaters Zeus geborene Athene, das lebendige Athen, der konkrete und wirkliche, dem einzelnen Individuum immanente Geist des Volkes 3 2 6 entscheidet durch den weißen Stein für Apoll und gibt Orest wieder frei, beschwichtigt aber zugleich die Erinnyen, indem sie ihnen ebenso wie dem Apoll Verehrung und Altäre zusagt. 3 2 7 Das Bild des Trauerspiels, welches „das Absolute ewig mit sich selbst spielt" 3 2 8 „ist der Ausgang jenes Processes der Eumeniden, als der Mächte des Rechts, das in der Differenz ist, und Apollo's, des Gottes des indifferenten Lichtes, über Orest, vor der sittlichen Organisation, dem Volke Athens; — welches menschlicher Weise als Areopagus Athens in die Urne beider Mächte gleiche Stimmen legt, das Nebeneinanderbestehen beider anerkennt; allein so den Streit nicht schlichtet, und keine Beziehung und Verhältniß derselben bestimmt: aber göttlicher Weise als die Athene Athens, den durch den Gott selbst in die Differenz Verwickelten diesem ganz wiedergiebt, und mit der Scheidung der Mächte, die an dem Verbrecher beide Theil hatten, auch die Versöhnung so vornimmt, daß die Eumeniden von diesem Volke als göttliche Mächte geehrt würden, und ihren Sitz jetzt in der Stadt hätten, so daß ihre wilde Natur des Anschauens der ihrem 322 323 324 325 326 327 328
Phä., 515. Ebenda. Phä., 339. A . a . O . , 516. Vgl. SW Bd. 11, 87, 329 und 521; SW Bd. 16,. 127 und 142. Vgl. SW Bd. 13, 59/60 und SW Bd. 14, 557. SW Bd. 1, 500.
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unten in der Stadt errichteten Altare gegenüber auf der Burg hoch thronenden Athene genösse, und hierdurch beruhigt wäre." 3 2 9 Das Resultat des Kampfes des Unbewußten mit dem Bewußten ist das ruhige Gleichgewicht, das gleiche Gelten des Rechts (bzw. des Unrechts) beider Mächte, die gleiche Ehre beider Seiten und damit ihr Rückgang in die geistige Einheit des Zeus und in die Notwendigkeit, eine Rückkehr, die die „Entvölkerung des Himmels" 3 3 0 vollendet. Vorgreifend kann bemerkt werden, daß die tragische Kollision der Mächte des U n b e w u ß t e n , S u b s t a n t i e l l e n und des B e w u ß t e n , S u b j e k t i v e n dem im spekulativen Satz stattfindenden Konflikt von F o r m und I n h a l t entspricht. Als spekulative Bestimmung des Satzes wird sich ergeben, das Wahre nicht nur als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken. So kann im Ausgang des Prozesses der Eumeniden die dramatische Vorstellung der Einheit des formalen Unterschieds und der inhaltlichen Identität der beiden Satzteile gesehen werden, die im philosophischen Satz als Harmonie hervorgehen soll. 3 3 1 Die der Bewegung des Begriffs entsprechende 332 Bewegung der göttlichen Gestalten geht hier auf dem Boden der Vorstellung der im geistigen Kunstwerk zunächst epischen und dann dramatischen Sprache vor sich. Stellt das Aufstreben der zwei extremen Mächte des Apollo und der Erinnye der Rachegöttin, des Übertägigen und des Unterirdischen, des Bewußten und des Bewußtlosen, des Vermittelten und des Unmittelbaren, des Subjektiven und des Substantiellen die ursprüngliche Teilung und „Entzweiung des Begriffes" 3 3 3 vor, so entspricht der Notwendigkeit — zunächst noch vorgestellt als die abstrakte Gleichheit, als epische Nemesis 3 3 4 , als die alte Göttin des Neides, die das Emporgehobene erniedrigt, das Hohe und Große zertrümmert 3 3 5 und zerstört und Gleichheit herstellt 336 , dann vorgestellt als die höhere tragische Versöhnung der zusammenstoßenden Mächte — schließlich die „ E i n h e i t des B e g r i f f e s " . 3 3 7 Diese, die Form eines Satzes, die 329 SW Bd. 1, 501. Zu Hegels Betrachtung der Tragödie im Naturrechtsaufsatz von 1802/3 vgl. O. Pöggeler, Hegel und die griechische Tragödie, in: Hegel-Studien Beiheft 1, insbes. 2 8 9 - 2 9 2 . Zu Hegels Deutung der Versöhnung am Ende der Orestie vgl. а. а. O . , 298 ff. 330 331 332 333 334 335 336 337
Phä., 516. Vgl. a . a . O . , 51 und dazu den dritten Teil dieses Kapitels dieser Arbeit. Vgl. Phä., 516. A . a . O . , 512. Vgl. SW Bd. 14, 555. Vgl. Phä., 511 und SW Bd. 10, 453. Vgl. SW Bd. 13, 49/50, SW Bd. 16, 103/4 und 109/10 und SW Bd. 18, 249. Phä., 510.
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nur den Unterschied von Subjekt und Prädikat ausdrückt, 338 zerstörende Einheit des Begriffs wird sich als erfüllte Einheit des Subjekts und des Prädikats im einseitigen Urteil selbst noch nicht darstellen und erst im Schluß vollständig gesetzt sein. 339 „Im Urtheil ist sie nur die C o p u l a : Ist, ein Bewußtlöses; und das Urtheil selbst ist nur die überwiegende Erscheinung der Differenz." 3 4 0 N u r diese Differenz von Subjekt und Prädikat kommt zunächst zum Vorschein und ist im Bewußtsein. Deshalb ist diese vernünftige Einheit des Besonderen und Allgemeinen „das Bewußtlose im Urtheil" 341 . Der einseitige Satz: „Das S e l b s t ist das absolute Wesen" etwa, in dem die Einheit in der Verschiedenheit von Selbst und absolutem Wesen nur bewußtlos vorausgesetzt ist, gehört der Welt der Vorstellung der zufällig unterschiedenen göttlichen Wesen der Kunst an, über der die Einheit des Begriffs noch bewußtlos als Notwendigkeit schwebt, oder der diese Einheit bewußtlos zugrunde liegt. Die zur Auflösung führende tragische Kollision ergibt sich als die dramatische Vorstellung des absoluten Gegenstoßes der dialektischen Bewegung des Satzes. Die Gedankenhandlung kann als Begriff der dramatischen Handlung, der spekulative Gedankengang als Aufhebung des dramatischen Handlungsganges betrachtet werden. In dem einseitig-positiven Verständnis eines Satzes verriete sich so noch die zur tragischen Kollision führende Einseitigkeit des Wissens desjenigen, dem die konkrete Allgemeinheit des Gegensinns des Orakelspruchs nicht offenbar ist. Im spekulativen Sinn des Satzes, der den Gegensinn von Form und Inhalt in sich hat, wäre — so sehr dies auch aus der Position des Verstandes die Vorurteile gegen die spekulative Vernunft zu bestätigen scheint — jener Gegensinn aufgehoben — im Hegeischen Sinn dieses Wortes. Dies mag hier überraschen, doch nicht die den spekulativen Sinn erfassende wahrhafte Spekulation der Vernunft, sondern der Positivismus des z y k l o pischen' Verstandes 342 fällt in der Tat dem Orakel anheim. Nicht der seine Geschichte erinnernde und das ihm Zugrundeliegende in sich begreifende Begriff, sondern die sich aufgeklärt dünkende Vorstellung, die auf ihre Geschichte als auf etwas unter ihr Liegendes herabsieht, ist in der Gefahr, in den ,Mythos' zurückzufallen. 338 339 340 341 342
Vgl. a . a . O . , 51. Vgl. Log. II, 271 und 308. Vgl. dazu Kap. 11,2 dieser Arbeit. SW Bd. 1, 300. Ebenda. Im homerischen Epos ist die Einseitigkeit des Verstandes ausgesprochen in der Geschichte des (einäugigen) Zyklopen Polyphem, des Vielgerühmten, der sich blenden läßt durch den listenreichen Odysseus, einen Mann, der vorgibt, ein Niemand zu sein. Er durchschaut nicht den Doppelsinn seiner Worte.
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Die verschiedenen Gestalten der Kunst gehen zugrunde und erheben sich als denkend erkannte wieder in der Welt der spekulativen Begriffe der Philosophie. Der Versuch der spekulativen Darstellung der dialektischen Bewegung des Satzes könnte so als Versuch der bewußten Setzung der konkreten Allgemeinheit betrachtet werden, die im einzelnen Orakelspruch nur erst bewußtlos vorausgesetzt ist. Die Problematik des spekulativen Satzes könnte gesehen werden als die Problematik der sprachlichen Äußerung und Vermittlung des philosphischen Inhalts, d . h . der spekulativen Bestimmung des Gedankens in Erinnerung an die Form bzw. Gestalt, in der dieser unmittelbar auftritt. Die spekulative Bestimmung des Gedankens ergäbe sich als die absolute Reflexion seiner Genese. In der auf der Menschen Worte angewiesenen Sprache der Philosophie ist, insofern sie noch nicht ganz vom spekulativen Geist der Sprache verlassen ist, die weder ,kryptische' noch ,logische', sondern ,semantische' Sprache des Gottes aufgehoben. 3 4 3 Diese primitivere Sprache ist in den spekulativen Geist der Sprache der Philosophie e i n g e g a n g e n . Im spekulativen Satz ist so der Gegensinn des Orakelspruchs - wie gesagt — a u f g e h o b e n , oder wenn man diesen ,orakelnden' Ausdruck lieber vermeiden will, zum Moment herabgesunken. Deshalb ist die spekulative Philosophie nicht „orakelnde Philosophie". 344 Der in der Welt der Vorstellung stattfindende Prozeß der Auseinandersetzung des Bewußten mit dem Bewußtlosen nimmt — wie anhand jenes Prozesses der Eumeniden verdeutlicht werden sollte — seine Wende, indem der wirkliche Geist des Volkes in Gestalt der Athene sich für die Seite des Bewußtseins entscheidet und zugleich die andere Seite beruhigt. Die der noch in Vorstellungen befangenen Welt der Kunst und ihrer in sich versunkenen Gestalten bewußtlos zugrunde liegende Einheit des Begriffs wird an sich in der offenbaren Religion der Liebe, an und für sich aber erst in der philosophischen Spekulation des Begriffs selbst ins Bewußtsein gehoben. Die unsterblichen Götter sind sozusagen die Vorstellungsbestimmungen der Begriffe in ihrer Unendlichkeit; Gott ist die höchste Vorstellung des spekulativen Begriffs. Der spekulative Begriff ist das Bewußt-
343 vgl. Parmenides und Herakleitos, hrsg. von W. Weischedel Tübingen 1948, 37, Heraklit Fragment 93.: ό άναξ, ου τό μαντείόν έστι το έν Δελφοϊς, οϋτε λεγει οϋτε κρύπτει άλλα σημαίνει. 344 Vgl. Κ. Popper, Falsche Propheten, Hegel, Marx und die Folgen, Bern 1958, 15. Dieses Pamphlet Poppers dürfte — zumindest philosophisch gesehen - wohl kaum von Interesse sein.
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sein und der Begriff dessen. Vielleicht ist es nicht ganz überflüssig, an dieser Stelle kurz an die Differenzschrift zu erinnern. Unter Spekulation verstand der junge Hegel die absolute Identität des Bewußten und des Bewußtlosen. 345 Die „Anschauung des sich selbst gestaltenden oder sich objektiv findenden Absoluten kann gleichfalls wieder in einer Polarität betrachtet werden, insofern die Faktoren dieses Gleichgewichts, auf einer Seite das Bewußtseyn, auf der anderen das Bewußtlose überwiegend gesetzt wird. Jene Anschauung erscheint in der K u n s t mehr in einem Punkt koncentrirt und das Bewußtseyn niederschlagend; . . . " 3 4 6 Bleibt man im Bild der Waage, so müßte man sagen, daß der absolute Leichtsinn zwar zur Niedergeschlagenheit des unglücklichen Bewußtseins führt, daß aber in der Kunst in dem Maße noch das Bewußtlose überwiegt — worauf es Hegel hier ankommt — als das glückliche Bewußtsein seinen Leichtsinn zunächst als etwas „Erhebendes" erfährt. Jene Anschauung erscheint also in der Kunst mehr in einen Punkt konzentriert und das Bewußtsein niederschlagend, „— entweder in der eigentlich sogenannten Kunst, als Werk, das als objektiv theils dauernd ist, theils mit Verstand als ein todtes Aeußeres genommen werden kann: ein Produkt des Individuums, des Genies, aber der Menschheit angehörend; — oder in der Religion, als ein lebendiges Bewegen, das als subjektiv, nur Momente erfüllend, yom Verstand als ein bloß Inneres gesetzt werden kann: das Produkt einer Menge, einer allgemeinen Genialität, aber auch jedem Einzelnen angehörend. In der S p e k u l a t i o n erscheint jene Anschauung mehr als Bewußtseyn und im Bewußtseyn Ausgebreitetes, als ein Thun subjektiver Vernunft, welche die Objektivität und das Bewußtlose aufhebt." 3 4 7 Hegel setzt aber hinzu, daß die Spekulation es wisse, sich „das Uebergewicht, welches das Bewußtseyn in ihr hat, selbst zu nehmen; — ein Uebergewicht, das ohnehin ein Außerwesentliches ist." 3 4 8 Denn die Spekulation fordert in ihrer höchsten Synthese des Bewußten und Bewußtlosen nach der Auffassung des jungen Hegel auch die „Vernichtung des Bewußtseyns selbst; und die Vernunft versenkt damit ihr Reflektiren der absoluten Identität und ihr Wissen und sich selbst in ihren eigenen Abgrund. Und in dieser Nacht der bloßen Reflexion und des raison-
345
Vgl. SW Bd. 1, 7 1 / 2 .
346
A.a.O., A.a.O.,
347 348
141. 141/2.
A . a . O . , 142, vgl. 120/1.
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nirenden Verstandes, die der Mittag des Lebens ist, können sich beide begegnen." 349 Dem jungen Hegel erscheint das Übergewicht des Bewußtseins noch als ein Außerwesentliches, denn „Beides, Kunst und Spekulation sind in ihrem Wesen der Gottesdienst; — Beides ein lebendiges Anschauen des absoluten Lebens, und somit ein Einsseyn mit ihm." 350 Nach den Worten des Hegel der Rechtsphilosophie beginnt die spekulative Philosophie des a b s o l u t e n Begriffs erst, wenn „eine Gestalt des Lebens alt geworden" 351 ist, erst zu der Zeit des geistigen Tages der Gegenwart, zu der die Dämmerung hereinbricht. 352 Diese Dämmerung beginnt als die Dämmerung und Vollendung des freien geistigen Selbstbewußtseins bereits gegen Ende der Kunstreligion mit dem Ausgang des Auseinandersetzungsprozesses des Bewußten mit dem Bewußtlosen, Instinktartigen, sie beginnt mit der Lossp.rechung des Orest, mit Athenes Entscheidung für Apoll, durch die die Seite des Substantiellen, wenigtens ebensosehr aber auch die Seite des Subjektiven und Bewußten zu Ehren kommt. Am Ende der Kunst-Religion stehen wir vor der Offenbarung, daß das im spekulativen Sinn Wahre nicht nur als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken ist. Die beiden ersten abstrakten Kunstwerke: Bildsäule und Hymne und deren Vermittlung im Kultus des Opferns in den offenbaren Mysterien Das Mystische und das Spekulative Die primäre Sprache der klassischen Kunstreligion — die fremde göttliche Sprache des Orakels — stammte aus der symbolischen Naturreligion, deren Werke noch stumm waren. Sie war vor allem deshalb interessant, weil mit ihr die Notwendigkeit des Fortgangs vom geistigen Bewußtsein zum freien geistigen Selbstbewußtsein zur Sprache kam und sie sogar letztlich 349 350
351 352
SW Bd. 1, 60. A . a . O . , 142. Vgl. H. Glockner, Beiträge zum Verständnis und zur Kritik Hegels, Die Aesthetik in Hegels System, Hegel-Studien Beiheft 2 (1965), 425ff.; vgl. auch a . a . O . , Hegels Aesthetik-Vorlesungen in ihrem Verhältnis zur Phänomenologie des Geistes, 34 ff. Die von Glockner vorgetragenen Thesen über die Bedeutung der Kunst für die Philosophie Hegels kommen m.E. am ehesten zu ihrem Recht, wenn man sie zusammen mit der Einsicht in die Bedeutung der Religion für die spekulative Philosophie — insbesondere auf die Philosophie des jungen Hegel bezieht. SW Bd. 7, Vorrede 36/7. Vgl. a . a . O . , 37.
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noch von Bedeutung war für den Ausgang des sich als Kampf der alten und der neuen Götter darstellenden Vermittlungsprozesses beider und damit für den Ubergang in das, was die geistige Vernunft der romantischen offenbaren Religion genannt werden könnte. Von dieser der Natur- wie der Kunstreligion angehörenden Primärsprache des Orakels 353 wurde die erste, ganz zur Kunstreligion gehörende hymnische Sprache des lyrischen Gesangs unterschieden, 354 die sich als diejenige, in der die Innerlichkeit und Innigkeit der Einzelnen in e i n s geb i l d e t wird, gegenüber der noch selbstbewußtlosen dinglichen äußerlich anzuschauenden Bildsäule 355 als das höhere Element des Daseins des Kunstwerks erwies. Die Tatsache, daß Hegel in Absatz 6 des Kapitels über das abstrakte Kunstwerk von der Hymne spricht, und sich dann in Absatz 7 und 8 mit dem Orakel auseinandersetzt, darf übrigens nicht zu der Ansicht führen, Hegel habe die Orakelsprache als die höhere Sprache betrachtet. J. Loewenberg vertritt in „Hegel's Phenomenology" 356 die Meinung: „From the language of the hymn we are thus compelled to pass to a language more commensurable with the religious object. This language, curiously enough, turns out to be the oracle. The transition to it seems quite arbitrary. In every natural religion, and not only in the religion of art, the oracle, as Hegel declares, is the first utterance supposed to issue from a divine being. If so, why should not the oracle have dialectically preceded the hymn?" 3 5 7 In Absatz 9 kommt Hegel wieder auf die Hymne zurück, um ihr die Bildsäule gegenüberzustellen. Hymne und Bildsäule, nicht Hymne und Orakel stellen als die ersten beiden abstrakten Kunstwerke die beiden Seiten dar, deren Bewegung den Kultus ausmacht. Loewenberg sagt dagegen: „The cult emerges as the process mediating between the inwardness of religious feeling contained in the hymn and the externality of the divine being involved in the oracle. It is in the practice of the cult that the two sides become mutually implicated." 358 353 354 355 356
357
358
Vgl. Phä., 4 9 6 f f . , die Absätze 7 und 8 des Kapitels VII B.a. Vgl. a . a . O . , 496, Absatz 6 des Kapitels VII B.a. Vgl. a . a . O . , 4 9 3 f f . , die Absätze 1 - 5 des Kapitels VII B.a. J. Loewenberg, Hegel's Phenomenology, La Salle, Illinois 1965, Dialogue 23, Religion of A r t , 316. In der von Hegel auf S. 523 der „Phänomenologie" gegebenen Aufzählung der G e stalten der Kunst-Religion erscheint das Orakel übrigens an erster Stelle. Vgl. auch a . a . O . , 505. J. Loewenberg, Hegel's Phenomenology, a . a . O . , 3 1 7 .
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Die Vermittlung dieser ersten beiden abstrakten Kunstwerke 3 5 9 , „in der die im reinen empfindenden Elemente des Selbstbewußtseins b e w e g t e , und die im Elemente der Dingheit r u h e n d e göttliche Gestalt gegenseitig ihre verschiedne Bestimmung aufgeben, und die Einheit zum Dasein kommt, die der Begriff ihres Wesens i s t " 3 6 0 sieht Hegel im zunächst selbst noch abstrakten geheimen Kultus der Reinigung 361 und schließlich im wirklichen Kultus des Opferns 3 6 2 in den offenbaren Mysterien durch die der Ubergang zum lebendigen Kunstwerk erreicht wird. 3 6 3 Die Mysterien gehören — wie die Orakel — erst zum Gestaltungsprozeß der klassischen Kunstform, zum Werden des klassischen Ideals. 3 6 4 Hegels besonderes Interesse gilt den Eleusischen Mysterien 3 6 5 , den „offenbaren Mysterien" 3 6 6 des Brotes und des Weines, den Mysterien der alten Götter Ceres und Bacchus, durch die er den Grund gelegt sieht für das christliche Mysterium des Fleisches und Blutes. 3 6 7 Die Mysterien der Demeter und des Bacchus, die „nicht das Wahrhafte, Höhere, Bessere, sondern das Geringere und Niedere zu ihrem Inhalt" 3 6 8 hatten und in denen nach Hegel keine große Weisheit oder tiefe Erkenntnis verborgen gewesen war, waren insofern offenbar und nichts Geheimnisvolles, als die meisten Athener in sie
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Vgl. Phä., 498/9, die Absätze 9 und 10 des Kapitels VII B.a. Bedenkt man, daß der Hymnus als abstraktes Kunstwerk in seiner Einseitigkeit der Einseitigkeit der Bildsäule entspricht, so muß es übrigens als zweifelhaft erscheinen, den Sänger des sicheren und ungeschriebenen Gesetzes der Götter, „das ewig l e b t , und v o n dem n i e m a n d w e i ß , v o n w a n n e n es e r s c h i e n " (Phä., 497) als Hymnensänger anzusehen (vgl. J . Heinrichs, Die Logik der „Phänomenologie des Geistes", a . a . O . , 435), war es doch Sophokles, der die Antigone sagen läßt: „Die ewigen Gesetze der Götter sind, und Niemand weiß, woher sie gekommen." (SW Bd. 18, 45, vgl. Phä., 311). (Heinrichs ist es allerdings nicht um den Kommentar und die Einzelinterpretation, sondern um das logische Bezugssystem der Hegeischen Religionsdarstellung zu tun. Vgl. J . Heinrichs, Die Logik der „Phänomenologie des Geistes", a . a . O . , 409 und 443.)
360
Phä., 498. Vgl. a . a . O . , 499, Absatz 11 des Kapitels VII B.a. Opfern hieß bei den Griechen zugleich ein Gastmahl anrichten. Vgl. SW Bd. 13, 28. Hegel verweist auf Homer, Odyssee 14, 414 und 24, 215. (Anstatt 215 muß es wohl 214 heißen). Vgl. auch R. Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, a . a . O . , 193/4. Vgl. Phä., 499ff., die Absätze 1 2 - 1 5 des Kap. VII B.a. Zur Etymologie des Wortes „Mysterium" vgl. J . B. Hofmann, Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, 209, μυω = sich schließen (von Lippen und Augen), vgl. auch A. Walde, lateinisches etymologisches Wörterbuch, a . a . O . , Bd., 139/40, mütus = stumm. Vgl. Hegels Gedicht „Eleusis" vom August 1796, in: Dokumente zu Hegels Entwicklung, Edition Hoffmeister, Stuttgart 1936, 80ff. Phä., 88. Vgl. a . a . O . , 504/5, die Absätze 5 und 6 des Kapitels VII B.b. SW Bd. 13, 58, vgl. SW Bd. 11, 324.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
eingeweiht waren. 3 6 9 Andererseits aber durften die Eingeweihten das Heiliggehaltene nicht klar aussprechen, wodurch die Mysterien den symbolischen Charakter des Unaufgeschlossenen und Unausgesprochenen annahmen. Das wahrhaft Mystische aber der kultischen Handlung des Essens des Brotes und des Trinkens des Weines besteht darin, daß das S e l b s t das Bewußtsein seiner Einheit mit dem g ö t t l i c h e n W e s e n hat. „Das Tier, das aufgeopfert wird, ist das Z e i c h e n eines Gottes, die Früchte die verzehrt werden, sind die l e b e n d i g e Ceres und Bacchus s e l b s t ; — in jenem sterben die Mächte des obern Rechts, welches Blut und wirkliches Leben hat; in diesem aber die Mächte des untern Rechts das blutlos die geheime listige Macht besitzt. — Die Aufopferung der göttlichen Substanz gehört, insofern sie T u n ist, der selbstbewußten Seite an; daß dieses wirkliche Tun möglich sei, muß das Wesen sich selbst schon an sich aufgeopfert haben. Dies hat es darin getan, daß es sich D a s e i n gegeben und zum e i n z e l n e n T i e r e und zur F r u c h t gemacht hat. Diese Verzichtleistung, die also das Wesen schon an sich vollbracht, stellt das handelnde Selbst im Dasein und für sein Bewußtsein dar, und ersetzt jene u n m i t t e l b a r e Wirklichkeit des Wesens durch die höhere, nämlich die s e i n e r s e l b s t . " 3 7 0 Das ist in gewisser Hinsicht bereits im sich vollbringenden Skeptizismus der sinnlichen Gewißheit antizipiert. Mit Hegel kann denjenigen, die die Wahrheit und Gewißheit der Realität der sinnlichen Gegenstände behaupten, gesagt werden, daß sie in die unterste Schule der Weisheit, nämlich in die alten Eleusischen Mysterien der Ceres und des Bacchus zurückzuweisen sind und das Geheimnis des Essens des Brotes und des Trinkens des Weines erst zu lernen haben, denn der in diese Geheimnisse Eingeweihte „gelangt nicht nur zum Zweifel an dem Sein der sinnlichen Dinge, sondern zur Verzweiflung an ihm, und vollbringt in ihnen teils selbst ihre Nichtigkeit, teils sieht er sie vollbringen." 3 7 1 Im Genuß des Opfermahls wird das „ g e g e n s t ä n d l i c h e Dasein des Wesens in s e l b s t b e w u ß t e s verwandelt," 372 das S e l b s t kommt zum Bewußtsein seiner Einheit mit dem a b s o l u t e n W e s e n . Das substantielle Wesen des Aufgangs der orientalischen natürlichen Religion geht unter, sinkt zum Prädikat herab, dagegen erhebt sich das Selbst zum Subjekt. 369
Vgl. SW Bd. 13, 5 7 / 8 , SW Bd. 16, 151 und SW Bd. 17, 112.
370 371
Phä., 500, vgl. die Absätze 14 und 15 des Kapitels VII B.a. A . a . O . , 87; vgl. die Interpretation von B . Liebrucks, in: ders., Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, a . a . O . , 3 4 / 5 .
372
Phä., 501.
Die Religion
137
„In diesem Genüsse ist also jenes aufgehende Lichtwesen verraten, was es ist; er ist das Mysterium desselben. Denn das Mystische ist nicht Verborgenheit eines Geheimnisses oder Unwissenheit, sondern besteht darin, daß das Selbst sich mit dem Wesen Eins weiß, und dieses also geoffenbart ist." 3 7 3 Im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Neuplatoniker sagt Hegel, daß auch die Mysterien im Christentum für den Verstand zwar unbegreiflich und ein Geheimnis seien, als spekulative aber von der Vernunft gefaßt werden könnten, denn sie sind nicht geheim, sondern geoffenbart. 3 7 4 „Die Mysterien sind ihrer Natur nach, als spekulativer Inhalt, geheim für den Verstand, nicht für die Vernunft; sie sind gerade das Vernünftige im Sinne des Spekulativen. Der Verstand faßt das Spekulative nicht, dieß Konkrete, der Verstand hält die Unterschiede schlechthin getrennt fest; ihren Widerspruch enthält das Mysterium auch, es ist aber zugleich auch die Auflösung desselben." 375 Das Mystische der Spekulation ist nicht das Obskure, sondern das Klare und Taghelle, die sich in der Urteilung in Selbst und göttliches Wesen, in Subjekt und Substanz, in Einzelnes und Allgemeines, in Anschauung und Begriff etc. wiederherstellende, die Extreme zusammenschließende Einheit des Begriffs in der Bestimmung der Unmittelbarkeit. Das Problem des spekulativen Satzes ist das Problem der Vermittlung dieses ,mystischen' oder unverfänglicher gesagt — dieses spekulativen Inhalts. Der sich selbst nicht begreifende, sich selbst gegenüber gleichsam die Augen verschließende Begriff allerdings versteht das Spekulative, den Begriff seiner selbst als etwas Mystisches im Sinne des Unbegreiflichen. Der gesunde Menschenverstand, der uns kraft seines Verstandes nötigt, ihm in seinen Handlungen zu folgen, muß die vernünftige Einsicht in die Wahrheit der Notwendigkeit, d. h. in den Begriff als die „freie Macht", die nach Hegel auch „freie Liebe" genannt werden könnte 3 7 6 , nicht nur mißverstehen, „sondern er muß sie auch hassen, wenn er von ihr erfährt; und, wenn er nicht in der völligen Indifferenz der Sicherheit ist, sie verabscheuen und verfolgen." 3 7 7
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Phä., 503; vgl. die Absätze 1 - 4 des Kapitels VII B.b. und a . a . O . , 518. Vgl. SW Bd. 19, 72. SW Bd. 17, 112; vgl. auch die bereits wiedergegebene Stelle aus dem Zusatz zu § 82 der ,,Enzyklopädie" (SW Bd. 8, 197/8). Vgl. Log. II, 242. SW Bd. 1, 56/7.
138
I. Kapitel. D i e „Phänomenologie des G e i s t e s "
Das lebendige Kunstwerk378 (Phä., Kap. VIIB.b,
502-$06)
Die rhythmische Bewegung des lebendigen Kunstwerks als Vorbild der dialektischen Bewegung des spekulativen Satzes Das Leben, die unmittelbare Idee 3 7 9 , kann nach Hegel „nur speculativ gefaßt werden; denn im Leben existirt eben das Speculative." 3 8 0 Im lebendigen Kunstwerk — mit dem die höchste Blüte der griechischen Kunst erreicht ist — beruhigt sich das hemmungslose, bacchantisch taumelnde Leben der Natur 3 8 1 in Gestalt der vom T h y r s u s 3 8 2 Begeisterten zu der heroischen Gestalt, die zur vollkommen selbständigen und freien Bewegung ausgearbeitet ist, die sich mitten im Reigen der bacchantischen Fackelträger 3 8 3 hervorhebt und die „gestaltete Bewegung, die glatte Ausarbeitung und flüssige Kraft aller Glieder i s t . " 3 8 4 378
D i e Interpretation dieses Kapitels scheint mir durch eine Vielzahl von V o r - und R ü c k v e r weisen besonders erschwert. — Das Ganze als eine schlechte Konstruktion abzutun hieße m . E . jedoch, die Sache nicht ernst genug zu nehmen. (Vgl. die Interpretation von B . Liebrucks in: Sprache und Bewußtsein, a . a . O . , B d . 5, 2 7 7 . Vgl. auch J . N . Findlay, „ H e g e l , A R e - E x a m i n a t i o n " , a . a . O . , 137. In Bezug auf das von ihm in einigen Sätzen kurz erwähnte lebendige Kunstwerk sagt Findlay, daß Hegel, anstatt von A b s a t z 5 des Kapitels über das lebendige Kunstwerk (Phä., 504) sogleich zur offenbaren Religion überzugehen, es vorziehe, „ t o linger longer among the forms o f the classical, Art-religion' though some of these have only minor relevance to the theme on h a n d . " ) . A u f den Absatz 6 dieses Kapitels (vgl. P h ä . , 5 0 4 / 5 ) , der mir für das „lebendige K u n s t w e r k " der zentrale zu sein scheint, m ö c h t e ich deshalb vor allem im H i n b l i c k auf die Bedeutung des „lebendigen K u n s t w e r k s " für das, was in den Ästhetik-Vorlesungen klassische Kunstform heißt, kurz eingehen.
Vgl. L o g . I I , 414 und S W B d . 8, § 2 1 6 , 4 2 9 / 3 0 , ferner S W B d . 3, § 105, 142. 380 gijjr g j 9 j ξ 3 3 7 Zusatz, 4 5 1 . Hegel nennt Heraklits Prinzip des Einen von sich selbst Verschiedenen (vgl. Heraklit, Fragment 51) insofern spekulativ, als in ihm die Veränderung des Lebendigen gedacht ist. Vgl. S W B d . 17, 3 5 2 / 3 . Vgl. ferner F . Hölderlin, H y p e r i o n , in: Sämtliche W e r k e , hrsg. von F . Beißner, Frankfurt 1961, 5 6 5 : „ D a s große W o r t , das εν δ ι α φ ε ρ ο ν εαυτω (das Eine in sich selbst unterschiedne) des Heraklit, das konnte nur ein Grieche finden, denn es ist das Wesen der Schönheit, und ehe das gefunden war, gabs keine P h i l o s o p h i e . "
379
381 38?
Vgl. P h ä . , 484 und 5 0 4 . Z u m Thyrsusstab als Attribut des Bacchus vgl. S W B d . 13, 4 2 0 . Z u r etymologischen Verwandtschaft von „ T h y r s u s " und „ T o r s o " vgl. D u d e n , E t y m o l o g i e , Mannheim 1963 712: „ T o r s o " .
383
Vgl. R . Leuze, D i e außerchristlichen Religionen bei Hegel, a . a . O . , 196: „ H e g e l denkt an Darstellungen von Fackelträgern, wie sie ihm wohl aus der Schrift Lessings , W i e die Alten den T o d gebildet' ( G . E . Lessing, Gesammelte W e r k e , hrsg. von W . Stammler, 2 . , München 1959, 963—1015) bekannt waren . . . " . Leuze macht ferner ganz richtig darauf aufmerksam, daß Hegel bei dem „schönen F e c h t e r " , von dem er im letzten Absatz der Ausführungen über das lebendige Kunstwerk spricht ( P h ä . , 506), an den B o r ghesischen Fechter gedacht hat. ( R . Leuze, D i e außerchristlichen Religionen bei Hegel, a . a . O . , 196.).
384
P h ä . , 505.
Die Religion
139
In diesem beseelten lebendigen Kunstwerk hat der bacchantische Taumel feste Gestalt angenommen, „an dem kein Glied nicht trunken ist", der aber, „weil jedes, indem es sich absondert, ebenso unmittelbar sich auflöst", ebenso „die durchsichtige und einfache Ruhe" ist, 3 8 5 eine Ruhe und Klarheit freilich wiederum, die vielleicht auch mit der des T o r s o verglichen werden kann, in dessen äußerer Gestalt noch die Erinnerung der flüssigen ungezwungenen Gelöstheit der Glieder aufbewahrt ist. Die freie Selbstbewegung des lebendigen körperlichen Kunstwerks ist eine ruhige Bewegung, wie die „reine achsendrehende Bewegung, die Ruhe ihrer selbst als absolut unruhiger Unendlichkeit; die S e l b s t ä n d i g k e i t , selbst, in welcher die Unterschiede der Bewegung aufgelöst sind . . . " , 3 8 6 (In der achsendrehenden Bewegung sind die E x t r e m i t ä t e n als Ideelle, Aufgehobene, als Momente.) Die freie, aufrechte Stellung, die „ a b s o l u t e Gebehrde" 3 8 7 der idealen Skulpturgestalt 388 kann als Entsprechung der durch Arsis und Thesis entstehenden, ständig gegenläufigen rhythmischbelebten Bewegung des Tanzes angesehen werden. 389 Eine vollkommen freie Bewegung des konkreten lebendigen, aus dem Kultus des abstrakten Kunstwerks hervorgehenden Kunstwerks ist nämlich die Bewegung des Tanzes, 3 9 0 dessen Verschlingungen, insofern sie z.B. die Bewegung der Planeten nachzubilden versuchen, einerseits noch einen symbolischen Charakter haben, 3 9 1 dessen Rhythmik aber andererseits mit der Rhythmik der Plastik verglichen werden kann. In den „Vorlesungen über die Ästhetik" wird auch die rhythmische Versifikation mit der Rhythmik der Plastik verglichen. 392 Vorgreifend kann ferner bemerkt werden, daß die ideale Plastizität des rhythmisch belebten Skulpturbildes für Hegel das Vorbild war für das plastische (bildsame) Verhalten, das zur spekulativen Betrachtung der Selbstbewegung des Begriffs erforderlich ist, um deren Darstellung es im spekulativen Satz gehen wird. Dem raisonnierenden Denken wird die Anstrengung zugemutet, sich „des eignen Einfallens in den immanenten Rhythmus der Begriffe" zu ent-
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A . a . O . , 39. Phä., 136. SW Bd. 10, § 411 Zusatz, 248. Vgl. SW Bd. 13 , 401-403. Vgl. SW Bd. 14, 163ff.; vgl. dazu weiter unten Kap. 1,3 dieser Arbeit. Der Reigentanz — besonders bei den Dionysosfesten - ist der χορός, der Chorreigen. Vgl. SW Bd. 12, 470 und SW Bd. 13, 91. Vgl. SW Bd. 14, 303.
140
I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
schlagen. 393 Im Zusammenhang mit der Erinnerung an die plastischen Jünglinge in den platonischen Dialogen, die geduldig bei der Sache blieben und präzise antworteten in Rücksicht auf das, was gefragt wird, sagt Hegel gegen das ungebildete Benehmen des sich auf die Sache selbst nicht einlassenden Raisonnierens, daß Bildung und Zucht des Denkens, durch die ein „plastisches Verhalten" 3 9 4 des Denkens bewirkt und die Ungeduld der einfallenden Reflexion überwunden würde, allein durch das Weitergehen, das Studium und die Produktion der ganzen Entwicklung verschafft werden könne. 3 9 5 Nicht nur die spekulative Auffassung, sondern auch der spekulative Ausdruck, die spekulative Fassung des Satzes wird respektive des plastischen Ideals gesehen. Das rhythmische Verhältnis der Identität und der Differenz von Subjekt und Prädikat im philosophischen Satz ist von dem gewöhnlichen Verhältnis der Teile eines Satzes zu unterscheiden. Eine Schwierigkeit, die vermieden werden sollte, macht nach Hegel die Vermischung der spekulativen und der raisonnierenden Weise aus, indem nämlich einmal das vom Subjekt Gesagte die Bedeutung seines Begriffes hat, das andere Mal aber auch nur die Bedeutung seines Prädikats oder seines Akzidens. „Die eine Weise stört die andere, und erst diejenige philosophische Exposition würde es erreichen, plastisch zu sein, welche strenge die Art des gewöhnlichen Verhältnisses der Teile eines Satzes ausschlösse." 396 Die Erklärung des jungen Hegel — der freilich noch einen anderen Begriff des Begriffs hat als der Hegel der „Phänomenologie" — über die Sätze am Anfang des Johannesevangeliums enthält eine erste Begründung der Notwendigkeit der Plastizität der philosophischen Exposition: „Aber diese Sätze haben nur den täuschenden Schein von Urteilen, denn die Prädikate sind nicht Begriffe, Allgemeines, wie der Ausdruck einer Reflexion in Urteilen notwendig enthält; sondern die Prädikate sind selbst wieder Seiendes, Lebendiges . . . " , 3 9 7 Das „spekulative Prädikat" 3 9 8 des philosophischen Satzes, das das Wesen und den Begriff (bzw. die Idee) ausdrücken soll, wird hier noch unmittelbar als lebendiges gefaßt, das als solches eine ,plastische' Exposition erfordert.
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Phä., 48. Log. I, 21. Vgl. SW Bd. 18, 65. Phä., 52. Frühe Schriften, a . a . O . , 373. Phä., 54.
Die Religion
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Zu verdeutlichen ist, daß die freie Bewegung des lebendigen Kunstwerks in der dialektischen Bewegung des Satzes aufgehoben ist, daß die Rhythmik der Plastik ein Moment der Rhythmik des spekulativen Begriffs ist. 3 9 9 Die Rhythmik der Plastik wurde ihrerseits mit der Rhythmik des Tanzes verglichen. Daran soll hier angeknüpft werden, um der Frage nachzugehen, ob in der ruhigen Bewegung des plastischen Ideals nicht die Einheit der Bewegung des Tanzes und der Klarheit und Ruhe der Skulpturgestalt (des Marmorbildes) als eine Harmonie hervorgeht. Im Zusammenhang mit der Schilderung des subjektiven Anfangs der griechischen Kunst, in der „der Mensch seine Körperlichkeit, in freier schöner Bewegung und in kräftiger Geschicklichkeit, zu einem Kunstwerke ausarbeitet", 400 noch bevor er solche schönen Gestalten objektiv in Marmor ausdrückt, sagt Hegel im Anschluß an eine kurze Charakterisierung der Festspiele (die gewissermaßen den Rahmen für Absatz 6 des Kapitels VII B . b abgeben): „Mit diesen Uebungen verbindet sich Tanz und Gesang zur Aeußerung und zum Genuß froher, geselliger Heiterkeit, welche Künste gleichfalls zur Schönheit erblühten. Auf dem Schilde des Achill wird von Hephästos unter Anderem vorgestellt, wie schöne Jünglinge und Mädchen sich mit gelehrigen Füßen so schnell bewegen, als der Töpfer seine Scheibe herumtreibt. Die Menge steht umher sich daran ergötzend, der göttliche Sänger begleitet den Gesang mit der Harfe und zwei Haupttänzer drehen sich in der Mitte des Reigens." 4 0 1 Ist nun bezüglich der klassischen griechischen Kunstform systematisch gesehen zwar im Allgemeinen davon auszugehen, daß das plastische Ideal der Skulptur Abstraktes, Lebendiges und Geistiges in sich hat, so hat doch insbesondere das Moment des Lebendigen eine zentrale Bedeutung. 402 In dem Abschnitt, in dem Hegel die Skulptur als die Kunst des klassischen Ideals kennzeichnet, führt er aus, daß der Sinn für die vollendete Plastik des Göttlichen und Menschlichen vornehmlich in Griechenland heimisch gewesen sei. In seinen Dichtern und Rednern, Geschichtsschreibern und Philosophen ist Griechenland nach Hegel noch nicht in seinem Mittelpunkt gefaßt, wenn man nicht als Schlüssel zum Verständnis die Einsicht in die Ideale der Skulptur mitbringt, und von diesem Standpunkt der Plastik aus sowohl die Gestalten der epischen und dramatischen Helden, als auch der wirklichen Staatsmänner und Philosophen betrachtet. 399 400 401 402
Vgl. Kap. 1,3 dieser Arbeit. SW B d . 11, 317. A . a . O . , 318. Vgl. u.a. SW B d . 12, 238/9.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
„Denn auch die handelnden Charaktere, wie die dichtenden und denkenden, haben in Griechenlands schönen Tagen diesen plastischen, allgemeinen und doch individuellen, nach Außen wie nach Innen gleichen Charakter. Sie sind groß und frei, selbstständig auf dem Boden ihrer in sich selber substantiellen Besonderheit erwachsen, sich aus sich erzeugend und zu dem bildend, was sie waren und seyn wollten. . . . Von gleicher Plastik sind die körperlichen Kunstwerke der Sieger in den olympischen Spielen . . , " . 4 0 3 Das klassische Ideal des Plastischen kann weder auf die objektive tote Bildsäule noch auf das subjektive lebendige körperliche Kunstwerk reduziert werden. Die Vermittlung und Vereinigung beider im plastischen Ideal könnte vielleicht so vorgestellt werden, daß die Skulpturgestalt, das Götterbild in seiner aboluten Ruhe 4 0 4 gleichsam die Mitte ist, um die sich das menschliche, lebendige Kunstwerk in freier, schöner Bewegung dreht. Die Entsprechung und Ubereinstimmung des abstrakten, objektiven und des lebendigen, subjektiven Kunstwerks im Ideal der Kunst ist im geistigen Kunstwerk ausgesprochen und aufgehoben. Dieses Geistige des Kunstwerks aber kommt im Ideal der Kunst selbst bereits zum Vorschein. Das Ideal der Kunst Nachdem das Verhältnis der Momente des Abstrakten und des Lebendigen im Hinblick auf das klassische Ideal schon im Zusammenhang mit der Erörterung der natürlichen Religion erwähnt wurde, sollte noch die Verbindung der Momente des Lebendigen und des Geistigen etwas verdeutlicht werden. Das Ideal ist die aus dem Selbst als dem Subjekt des geistigen Selbstbewußtseins geborne Substanz. Aus dem Geist wird die „Einheit seiner mit seiner lebendigen Körperlichkeit . . . zum I d e a l herausgeboren." 405 Diese Geburt des Ideals aus dem Geist ist es 4 0 6 , die sich in seiner Selbständigkeit als seiner absoluten 403 404
405 406
SW Bd. 13, 377. Diese absolute Ruhe könnte als eine Ruhe gefaßt werden, die eine Sammlung der Bewegung und damit höchste Bewegtheit ist. Vgl. M. Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerks, in: Holzwege, Frankfurt 19634, 37. Log. II, 415/6. Das Kunstwerk entspringt nach Hegel aus dem Geist. (Vgl. u.a. SW Bd. 12, 367). Insbesondere könnte an Pallas Athene, das „Kunstwerk aller Kunstwerke" (SW Bd. 11, 521) gedacht sein, die bekanntlich aus dem Geiste ihres Vaters Zeus entsprungen sein soll. In seinen Ausführungen über das Leben in der „Wissenschaft der Logik" versucht Hegel das logische Leben, als reine Idee von dem Naturleben, das in der Naturphilosophie betrachtet wird (zu denken ist hier insbes. an die Ausführungen über den tierischen
Die Religion
143
Gebärde zeigt. 407 Der Stillstand, zu dem das lebendige Kunstwerk im idealen Marmorbild kommt, ist eine Ruhe, die in sich gewissermaßen erzittert. 408 Im Ideal erscheint die selbständige, ruhige Sicherheit, der Frieden der ewig lebenden Götter schon gebrochen an der Angst der sterblichen Menschen. Hegel führt an, daß Schiller in seinem Gedicht „Das Ideal und das Leben" der Wirklichkeit und ihren Schmerzen und Kämpfen gegenüber von „der Schönheit stillem Schattenlande" spreche. Ein solches Schattenreich erblickt Hegel im Ideal, denn es sind die Geister, die in ihm erscheinen, abgeschieden von der Bedürftigkeit der natürlichen Existenz, befreit von den Banden der Abhängigkeit äußerer Einflüsse und aller Verkehrungen und Verzerrungen, die mit der Endlichkeit der Erscheinung zusammenhängen. „Ebenso sehr aber setzt das Ideal seinen Fuß in die Sinnlichkeit und deren Naturgestalt hinein, doch zieht ihn wie das Bereich des Aeußeren zugleich zu sich zurück." 409 Das Kunstschöne oder das Ideal geht vor allem insofern über das Naturschöne hinaus, als es den Tod in sich faßt. Wie das geistige freie Selbstbewußtsein der Kunstreligion die Aufhebung des geistigen natürlichen Bewußtseins ist, so bestimmt sich das Ideal der Kunst als Aufhebung des Lebens. Die Lebendigkeit des plastischen Ideals beruht darauf, daß das Kunstschöne nicht das Leben zum Vorschein bringt, „das sich vor dem Tode scheut und vor der Verwüstung rein bewahrt" 410 , sondern schon das Leben des Geistes, der „dem Negativen ins Angesicht schaut" 411 und geduldig bei ihm verweilt. Das Ideal der Kunstreligion ist die Darstellung Organismus, „Enzyklopädie", §§ 350ff.) und von dem Leben, insofern es mit dem Geiste in Verbindung steht (vgl. a . a . O . , §§ 556ff. sowie SW Bd. 3, § 105), ги unterscheiden (vgl. Log. II, 415). In dem Exkurs über das Leben des Geistes (vgl. a . a . O . , 415/6) kommt Hegel an der wiedergegebnen Stelle kurz auf das Ideal zu sprechen, versichert jedoch, daß die Beziehungen auf den Geist das logische Leben nichts angehe und dieses in der „Wissenschaft der Logik" nicht als Moment des Ideals und der Schönheit zu betrachten sei. O b Hegel die Trennung des logischen Lebens vom Leben des Geistes und vom Leben der Natur in der Durchführung wirklich geglückt ist, kann, was die Beziehungen auf die Natur noch mehr als die Beziehungen auf den Geist anbetrifft, angesichts eines Textvergleichs der Ausführungen über das Leben in der „Wissenschaft der Logik" und der Darstellung des tierischen Organismus in der „Enzyklopädie" als zweifelhaft angesehen werden. 407 vgl. dazu weiter unten. 408 Vgl. Phä., 125 und 148. 409 SW Bd. 12, 217. 410 Phä., 29. 411 A . a . O . , 30.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
des im göttlichen Wesen zu sich selbst kommenden und die Aufgabe seines Lebens erfüllenden Menschen, der in der Naturreligion im absoluten Wesen noch außer sich gewesen ist. Unter „ I d e a l " ist nach Hegel nicht eine abstrakte individualitätslose Vorstellung zu verstehen. Das Ideale besteht vielmehr strenggenommen in der Wirklichkeit der Vernunft, darin „daß die Idee 4 1 2 w i r k l i c h ist, und zu dieser Wirklichkeit gehört der Mensch als Subjekt und dadurch als in sich festes E i n s . " 4 1 3 Im idealen Kunstwerk soll die Vernünftigkeit - und das heißt so viel wie die Sprachlichkeit — des Wirklichen zur Erscheinung gelangen. „ D e n n die Idee als I d e a l , d.i. für die sinnliche Vorstellung und Anschauung gestaltet, und in ihrer Bethätigung handelnd und sich vollbringend ist in ihrer Bestimmtheit sich auf sich beziehende s u b j e k t i v e E i n z e l h e i t . " 4 1 4 Das Ideal ist nach Hegel die Wirklichkeit, zurückgenommen aus der Breite der Einzelheiten und Zufälligkeiten, „insofern das Innre in dieser der Allgemeinheit entgegengehobenen Aeußerlichkeit selbst als l e b e n d i g e I n d i v i d u a l i t ä t erscheint." 4 1 5 Hegels Begriff des Ideals scheint mir am besten von Kant her zu verdeutlichen zu sein. Kant versteht - wie bereits ausgeführt 4 1 6 — unter einem Ideal eine Idee in individuo 4 1 7 die Vorstellung eines einzelnen als einer Idee adäquaten Wesens. 4 1 8 Er unterscheidet das Ideal der Vernunft,
Unter „Idee" ist nach Hegel bekanntlich nicht eine unbestimmte Vorstellung zu verstehen (vgl. Hegels Kritik an der Polemik Karl v. Rumohrs gegen den Gebrauch der Begriffe „Idee" und „Ideal", insbes. SW Bd. 12, 154ff. Unser heutiger umgangssprachlicher Wortgebrauch der Begriffe „Idee" und „Ideal" unterscheidet sich - ähnlich wie der des Begriffs „Spekulation" — gänzlich von dem Hegeischen), sondern strenggenommen die Einheit oder besser gesagt das Entsprechen des Begriffs (d.h. hier der Subjektivität) und der Objektivität (vgl. u.a. Log. II, 408 und 486, SW Bd. 8, § 213, 423 und SW Bd. 12, 156). 4 1 3 SW Bd. 12, 329; vgl. a . a . O . , 112. Hegel bezeichnet das Ideal auch als die mit ihrer Realität identifizierte Idee (vgl. a . a . O . , 329), als die auf sinnliche Weise realisierte Idee. (SW Bd. 19, 583). Ein gewisses terminologisches Schwanken macht sich auch in Hegels Formulierung in der „Propädeutik" bemerkbar: „ D a s I d e a l ist die Idee nach der Seite der E x i s t e n z betrachtet, aber als eine solche, die dem Begriff gemäß ist. Es ist also das Wirkliche in seiner höchsten Wahrheit. - Im Unterschiede von dem Ausdruck Ideal nennt man Idee mehr das Wahre, nach der Seite des B e g r i f f s betrachtet." (SW Bd. 3, 163). 4 1 4 SW Bd. 12, 319. 4 1 5 A . a . O . , 217. 416 Vgl. den zweiten Teil der Einleitung dieser Arbeit. 4 1 7 Vgl. K.r.V., A 568/ В 596 (549). 4 1 8 Vgl. K . U . , § 17, 54 (73). 412
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d.i. G o t t , vom ästhetischen Ideal der Einbildungskraft, dessen allein der M e n s c h fähig ist. 419 Geht man nun mit dem jungen Hegel davon aus, in einer Vernunftidee die Exposition einer ästhetischen Idee und in einer ästhetischen Idee die Demonstration einer Vernunftidee zu sehen 420 und mithin auch die individuierte Vernunftidee als Exposition der individuierten ästhetischen Idee und diese als Demonstration jener anzusehen, das ästhetische Ideal also gleichsam als ,Widerspiegelung' des Ideals der Vernunft zu betrachten, so wird vielleicht etwas deutlicher, wie Hegel in den Ästhetik-Vorlesungen zu dem Ergebnis kommen kann, daß das ideale Verhältnis in der (absoluten) Identität der Götter als der allgemeinen Mächte und der einzelnen Menschen bestehe. 421 Dieses hier in Form künstlerischer Gestaltung als spekulative Identität des Göttlichen und des Menschlichen angeschaute konkrete Allgemeine wird in Form des philosophischen Satzes als dessen spekulativer Inhalt (als absolute Identität des Subjekts als des Einzelnen und des Prädikats als des Allgemeinen) zu denken bzw. zu begreifen sein. In dem, was Hegel als das Ideal der Kunst betrachtet hat, ist die spekulative Identität (der Identität und der Nichtidentität) dessen zur Darstellung gekommen, was Kant als das Ideal der Einbildungskraft vom Ideal der Vernunft geschieden hatte. Die Ineinssetzung des Göttlichen und des Menschlichen ist das Heroische. 422 Das klassische Ideal ist das Ideal des Heroischen, 423 der In-Einsbildung des Göttlichen und des Menschlichen. Der Boden der Wirklichkeit der idealen Kunstgestalten ist der heroische, mythische Weltzustand. 424 Herakles, „der höchste griechische Held" 425 , der den ,Ruhm der Kraft' hat, 426 ist das „Ideal ursprünglicher heroischer Tugend". 427 Vor allen anderen hebt er sich hervor als derjenige, „der die gestaltete Bewegung, die glatte Ausarbeitung und flüssige Kraft aller Glieder ist; — ein beseeltes lebendiges Kunstwerk, das mit seiner Schönheit die Stärke paart und dem der Schmuck, womit die Bildsäule geehrt wurde, als Preis seiner Kraft, und die Ehre, unter seinem Volke, statt des steinernen Gottes, die höchste leib419 420 421 422 423 424 425 426 427
Vgl. K.U., § 17, 53ff. (72ff.); vgl. auch K.r.V., A 570/ В 598 (550/1). Vgl. SW Bd. 1, 316. Vgl. SW Bd. 12, 307. Vgl. SW Bd. 16, 109. Vgl. SW Bd. 12, 288. Vgl. a . a . O . , 254ff. und 351 ff. SW Bd. 14, 33. Zur Etymologie des griechischen Ήρα-κλής vgl. ήρως und κλέος. SW Bd. 12, 255.
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liehe Darstellung ihres Wesens zu sein, zuteil wird." 428 In der Tat Herkules der einzige Mensch, der aus einem Sterblichen zum Gott geworden ist. 429 „Sind die Götter die geistige Besonderheit von Seiten der Substanz aus, welche in sie sich auseinanderreißt, so ist eben damit andererseits die Beschränktheit des Besondern der substantiellen Allgemeinheit entgegengehoben. Dadurch erhalten wir die Einheit von Beidem, den göttlichen Zweck vermenschlicht, den menschlichen zum göttlichen erhoben. Dieß giebt die H e r o e n , die Halbgötter. Besonders ausgezeichnet ist in dieser Rücksicht die Gestalt des H e r a k l e s . Er ist menschlicher Individualität, hat es sich sauer werden lassen; durch seine Tugend hat er den Himmel errungen. Die Heroen daher sind n i c h t u n m i t t e l b a r G ö t t e r ; sie müssen erst durch die Arbeit sich in das G ö t t l i c h e setzen. Denn die Götter geistiger Individualität, obgleich jetzt ruhend sind doch nur durch den Kampf mit den Titanen; dieß ihr A n s i c h ist in den Heroen gesetzt." 430 So steht die geistige Individualität der Heroen nach Hegel höher als die der Götter selbst; sie sind, was die Götter an sich sind, „ w i r k l i c h , die B e t h ä t i g u n g e n des A n s i c h " 4 3 1 und wenn sie auch in der Arbeit ringen müssen, so ist dies eine Abarbeitung der Natürlichkeit, welche die Götter noch an sich haben. Die Götter kommen nach Hegel von der Naturmacht her; die Heroen aber von den Göttern. Doch in Herakles, dem Sohn des Gottes Zeus, hat der Geist noch nicht die Gestalt des An- und Fürsichseins angenommen; die an- und fürsichseiende Einheit menschlicher und göttlicher Natur sieht Hegel erst in der christlichen Religion, in der Gott selbst Mensch geworden ist, erreicht. 432 (Dieses An- und Fürsichsein der Religion ist - im Hinblick auf das absolute Wissen der Philosophie — freilich selbst wiederum noch in der Bestimmung des An-sich-Seins.) K. Fischer hat treffend bemerkt: „Um nun den Hauptunterschied zwischen der Kunstreligion und der offenbaren Religion zwar nicht mit Hegels Worten, aber dem Sinn und Geist seiner Phänomenologie und seiner fortbeständigen Lehre gemäß sogleich in aller Kürze und Schärfe auszusprechen, so besteht in der Kunstreligion die Einheit des Göttlichen und Menschlichen in der G o t t w e r d u n g des M e n s c h e n , in der offenbaren 428
429 430 431 432
Phä., 505. Sich auf Winckelmann beziehend berichtet Hegel davon, daß Herkules in den, dem Pelops zu Ehren in Elis veranstalteten Spielen den Preis als Pankratiast errungen habe. (Vgl. SW Bd. 13, 396). Vgl. a . a . O . , 59. SW Bd. 16, 108. Ebenda. Vgl. SW Bd. 12, 119.
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Religion dagegen in der M e n s c h w e r d u n g G o t t e s . Jene ist A p o t h e o s e , diese ist I n k a r n a t i o n . " 4 3 3 Sagt Hegel im Hinblick auf das geistige Leben in der „Wissenschaft der Logik", daß aus dem Geist die Einheit seiner mit seiner lebendigen Körperlichkeit zum Ideal herausgeboren wurde, 4 3 4 so beginnt er seine Ausführungen über die Kunst in der „Enzyklopädie" 4 3 5 mit den Worten: „Die Gestalt dieses Wissens ist als u n m i t t e l b a r — (das Moment der Endlichkeit der Kunst) — einerseits ein Zerfallen in ein Werk von äußerlichem gemeinem Daseyn, in das dasselbe producirende und in das anschauende und verehrende Subject; andererseits ist sie die concrete A n s c h a u u n g und Vorstellung des an sich absoluten Geistes als des I d e a l s , — der aus dem subjectiven Geiste gebornen concreten Gestalt, in welcher die natürliche Unmittelbarkeit nur Z e i c h e n der Idee, zu deren Ausdruck durch den einbildenden Geist so verklärt ist, daß die Gestalt sonst nichts Anderes an ihr zeigt; — die Gestalt der S c h ö n h e i t . " 4 3 6 Im Unterschied zu §456 der „Enzyklopädie" von 1817 ist hier betont, daß es in der Kunst nur um die Anschauung und Vorstellung des an sich absoluten Geistes geht. In §456 der Heidelberger Enzyklopädie heißt es: „Die unmittelbare Gestalt dieses Wissens ist die der A n s c h a u u n g und V o r s t e l l u n g des absoluten Geistes als des I d e a l s . " 4 3 7 In Hegels Darstellung der Religion der Kunst in den Paragraphen 456— 464 der Heidelberger Enzyklopädie 438 ist die Verbindung mit dem Kapitel V I I В der „Phänomenologie" von 1807 vielleicht noch deutlicher erkennbar als in der „Enzyklopädie" von 1830. Der Ubergang von §458 zu §459 etwa zeigt deutliche Entsprechungen zur Entwicklung des abstrakten Kunstwerks in der „Phänomenologie des Geistes". Bevor Hegel in §464 zur offenbaren Religion überleitet, blickt er in §463 noch einmal auf die Religion der Kunst zurück, wobei wieder die Momente des Abstrakten, Lebendigen und Geistigen zu erkennen sind.
433 434 435 436 437
438
K. Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre, a . a . O . , 426. Vgl. Log. II, 415/6. SW Bd. 10, §§ 5 5 6 - 5 6 3 , 447ff. A . a . O . , § 556, 447. SW Bd. 6, 302. M. Theunissen hat in seiner Interpretation des § 556 in „Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat", a . a . O . , 148ff. in diesem Zusammenhang auf die Verbindungen zu Kap. VII В der „Phänomenologie" aufmerksam gemacht. (Vgl. insbes. a . a . O . , 152). Vgl. auch H . F. Fulda, Das Problem einer Einleitung in Hegels Wissenschaft der Logik, a . a . O . , II. Teil 1. Kap. C . Elemente einer Ausführung des enzyklopädischen Grundrisses, 232—271. SW Bd. 6, 3 0 2 - 3 0 5 .
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Dies scheint mir insofern interessant zu sein, als es die Zusammenhänge zwischen § 459 der „Enzyklopädie von 1817 (bzw. § 556 der „Enzyklopädie" von 1830) so wie der weiter oben betrachteten Bemerkung über das geistige Leben des Ideals der Schönheit in der „Wissenschaft der Logik" und Kapitel VII B . b der „Phänomenologie" erkennen läßt und so indirekt erneut einen Hinweis auf die Bedeutung enthält, die Hegels wenig beachtete Äußerungen über die Kunstreligion im allgemeinen und über das lebendige Kunstwerk im besonderen für sein Verständnis der Kunst des klassischen Ideals als Kulminationspunkt der Kunst haben. 4 3 9 Die stillschweigende Sprache der idealen
Skulpturgestalt
Die als Ideal der Kunst für die Anschauung und Vorstellung gestaltete Idee wird vom philosophischen Denken als spekulative Idee (bzw. als spekulativer Sinn) des philosophischen Satzes begriffen. Dieser spekulative Sinn wird aus der Dialektik des sinnlichen gewissen Einzelnen als des Vorstellungsinhalts und seiner sprachlichen Darstellungsform resultieren. 440 Die Sprache, die „höchste Macht unter den Menschen" 4 4 1 , kann mit Hegel dabei als „Ertödtung der sinnlichen Welt in ihrem unmittelbaren Dasein" gefaßt werden. 4 4 2 Die sinnliche Welt wird zu einem Dasein aufgehoben, „welches ein Aufruf ist, der in allen vorstellenden Wesen wieder-
439
H . - G . Gadamer hat ; n seinem Aufsatz „Hegel und die Heidelberger Romantik", in: Hegels Dialektik, Tübingen 1971, 71 ff. herausgearbeitet, wie sich innerhalb der Bildung der Hegeischen Anschauung von der Kunst der Einfluß der Heidelberger Romantik spiegelt und dabei auf die entscheidenden Impulse hingewiesen, die von Görres, insbes. von dessen „Mythengeschichte der asiatischen Welt" ausgingen und durch die Vermittlung Creuzers auf Hegel übergingen, auf den Creuzers Begriff der Symbolik entscheidend gewirkt hat. (Vgl. dazu auch R . Leuze, Die außerchristlichen Religionen bei Hegel, a . a . O . , Das Verhältnis zur Symbolik Creuzers 204—208). In diesem Zusammenhang sagt Gadamer: „Die Erscheinung der Kunst war bereits in Hegels „Phänomenologie des Geistes" vom Jahre 1807 als eine wichtige Gestalt des Geistes ausgezeichnet worden. Sie hieß dort die Kunstreligion, und noch ähnlich fungiert sie, was für unsere Feststellungen von besonderer Wichtigkeit ist, in der in Heidelberg erstmalig zum Druck gekommenen „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften". Die Frage ist also, wie sich von dieser Frühform seines Verständnisses der Kunst und seiner Perspektive auf das Phänomen der Kunst aus die Spätform, die wir in der Gestalt der redigierten Vorlesungen zur Ästhetik und in Gestalt der späteren Auflagen der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" kennen, abhebt." ( H . - G . Gadamer, Hegels Dialektik, a . a . O . , 73.).
440
Vgl. Kap. II dieser Arbeit. SW Bd. 3, 211. Ebenda.
441 442
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klingt." 4 4 3 Was zunächst wieder den sprachlichen Charakter des Kunstwerks anbetrifft, so ist dieses „wesentlich eine Frage, eine Anrede an die widerklingende Brust, ein Ruf an die Gemüther und Geister." 4 4 4 An den, der bei ihm verweilt, stellt es den Anspruch, sich selbst zu bestimmen. „Und so ist jedes Kunstwerk ein Zwiegespräch mit Jedem, welcher davorsteht." 4 4 5 Die erste und abstrakteste, der Kunstreligion selbst eigentlich fremde und in ihrer Zweideutigkeit der stummen Sprache der Gebilde der natürlichen Totenreligion des Rätsels verwandte Sprache war die Orakelsprache der noch einer Deutung und Erklärung bedürftigen äußeren Zeichen bzw. Vorzeichen 446 , durch die die Götter sich zeigten. (z.B. durch Himmelszeichen). Eine deutlichere Sprache ist demgegenüber die Sprache der konkreten bedeutenden Gestalt, in der die natürliche Unmittelbarkeit nur Zeichen der Idee ist und sonst nichts anderes an ihr zeigt, die sich gleichsam selbst auslegt und nur das Absolute durch sich hindurchblicken läßt, die durch sich selbst hindurchdeutet und von sich aus auf ein Geistiges zeigt. Die innere Form äußert nur sich selbst. 447 Die erste Stufe auf diesem neuen Gebiet ist nach Hegel nun aber noch kein Zurückgehen des Geistes in seine innerliche Subjektivität als solche, so daß die Darstellung des Innern einer selbst nur ideellen Äußerungsweise bedürfte, sondern der Geist erfaßt sich zunächst nur insoweit, als er sich noch im Körperlichen ausdrückt, und darin sein — wie Hegel sagt — homogenes Dasein hat. „Die Kunst, welche sich diesen Standpunkt der Geistigkeit zum Inhalt nimmt, wird die geistige Individualität daher als Erscheinung im Materiellen, und zwar im unmittelbaren eigentlich Materiellen, zu gestalten berufen seyn. Denn auch die Rede, Sprache ist ein Sichzeigen des Geistes in der Aeußerlichkeit, doch in einer Objektivität, die, statt als unmittelbares konkret Materielles Gültigkeit zu haben, nur als Ton, als Bewegung, Erzitterung eines totalen Körpers und des abstrakten Elementes, der Luft, eine Mittheilung des Geistes wird." 4 4 8 Die Kunst des klassischen Ideals gibt das Geistige in schöner leiblicher Gestalt zu erkennen, stellt die Einigung von Leib (äußerem Wesen) und 443 444 445 446
447 448
Ebenda. SW Bd. 12, 109. A . a . O . , 356. Zur Etymologie von οημα, Zeichen, Kennzeichen, Merkmal; Grabmal, Malzeichen, Schriftzeichen vgl. J . B. H o f m a n n , Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, a . a . O . , 310/1. Vgl. SW B d . 10, § 562, 451. SW B d . 13, 353/4.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Seele (innerem Wesen) dar. Das S p r e c h e n d e an der idealen Gestalt ist die vollständige Z u s a m m e n s t i m m u n g des Äußeren und Inneren, die E n t s p r e c h u n g der äußeren Form und der Seele. 449 Diese Zusammenstimmung und Entsprechung ist der über das Ganze gebreitete „geistige Hauch". 4 5 0 In § 558, in dem Hegel unter den Gestaltungen der Kunst die menschliche als höchste und wahrhafte hervorhebt, „weil nur in ihr der Geist seine Leiblichkeit und hiermit anschaubaren Ausdruck haben kann" 4 5 1 , verweist er auf §411. Im Verhältnis von Leib und Seele, die sich als Subjekt die natürliche Unmittelbarkeit und Leiblichkeit als eine solche, aus der nur sie spricht, unterworfen hat, wird am plastischen Ideal selbst jenes, das freie geistige Selbstbewußtsein der Kunstreligion kennzeichnende Verhältnis von absolutem göttlichem Wesen und Selbst sichtbar, das sich zum Subjekt erhoben und das aus ihm geborene substantielle Wesen zum Prädikat unterworfen hat. In §411 sagt Hegel: „Die Seele ist in ihrer durchgebildeten und sich zu eigen gemachten Leiblichkeit als e i n z e l n e s Subject für sich, und die Leiblichkeit ist so die A e u ß e r l i c h k e i t als Prädicat, in welchem das Subject sich nur auf sich bezieht. 452 Diese Aeußerlichkeit stellt nicht sich vor, sondern die Seele, und ist deren Z e i c h e n . Die Seele ist als diese Identität des Innern mit dem Aeußern, das jenem unterworfen ist, w i r k l i c h ; sie hat an ihrer Leiblichkeit ihre freie Gestalt, in der sie sich fühlt und sich zu fühlen giebt, die als das Kunstwerk der Seele m e n s c h l i c h e n , pathognomischen und physiognomischen Ausdruck hat." 4 S 3 Wie Hegel in § 411 weiter anführt, gehört zum menschlichen Ausdruck z.B. die aufrechte Gestalt überhaupt, insbesondere die Bildung der Hand, als „des absoluten Werkzeugs", 4 5 4 des Mundes, das Lachen und Weinen u.s.w. und „der über das Ganze ausgegossene geistige Ton, welcher den Körper unmittelbar als Aeußerlichkeit einer höhern Natur kund giebt." 4 5 5 Dieser Ton ist nach Hegel eine so leichte, unbestimmte und unsagbare Modifikation, weil die Gestalt nach ihrer Äußerlichkeit ein Unmittelbares und 449 450 451 452
453 454 455
Vgl. SW Bd. 12, 2 1 2 f f „ insbes. 215-217, und SW Bd. 13, 353ff., insbes. 375. A . a . O . , 385. SW Bd. 10, 448. Vgl. § 168 der enzyklopädischen Urteilslogik (SW Bd. 8, 368), wo Hegel umgekehrt auf einen Vergleich des Subjekts mit dem Leib und des Prädikats mit der Seele abzielt. (Vgl. dazu Kap. II, 2 dieser Arbeit). SW Bd. 10, 245. Ebenda. Ebenda.
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Natürliches ist, und darum nur ein unbestimmtes und ganz unvollkommenes Z e i c h e n für den Geist sein kann, und ihn nicht, wie er für sich selbst als a l l g e m e i n e s ist, vorzustellen vermag. „Für das Thier ist die menschliche Gestalt das Höchste, wie der Geist demselben erscheint. Aber für den Geist ist sie nur die e r s t e Erscheinung desselben, die S p r a c h e dagegen sein vollkommener Ausdruck." 4 5 6 Die im Vergleich mit der von Menschen gesprochenen Sprache noch unvollkommene ruhige ,mystische' Körpersprache des heroischen Ideals ist doch bereits von der Zeichensprache d.h. der ,semantischen' Sprache des Gottes darin unterschieden, daß die Gebärde der aus dem Geist geborenen idealen Gestalt keine zufällige, augenblickliche, sondern eine „ a b s o l u t e Gebehrde" ist. 4 5 7 (Darin ist übrigens auch der Unterschied der ruhigen Körpersprache der idealen Skulpturgestalt zur bewegten Gebärdensprache der Pantomime zu sehen, die sich in der römischen Kaiserzeit größter Beliebtheit erfreute 458 und seit dem 17. und 18. Jahrhundert vor allem im Ballett künstlerische Gestaltung fand. 4 5 9 In der Pantomine könnte vielleicht der Versuch einer Rückwendung zum lebendigen Kunstwerk gesehen werden.) Am Ende seiner Betrachtung der Gattungsunterschiede der Poesie im Anschluß an die Ausführungen über die dramatische Poesie kommt Hegel kurz auf die Pantomine zu sprechen: „Wird nun die Gebehrde künstlerisch bis zum Grade des Ausdrucks weiter geführt, daß sie der Sprache entbehren kann, so entsteht die Pantomime, welche sodann die rhythmische Bewegung der P o e s i e zu einer rhythmischen und malerischen Bewegung der G l i e d e r werden läßt, und in dieser plastischen Musik der Körperstellung und Bewegung das ruhende kalte Skulpturwerk seelenvoll zum Tanze belebt, um in dieser Weise Musik und Plastik in sich zu vereinigen." 460 Was die ideale Skulpturgestalt anbetrifft, so muß der Geist als Inneres die Glieder ganz durchdringen, und diese den Geist und seine Bestimmun456 457
458 459 460
A . a . O . , 246. SW Bd. 10, § 411 Zusatz, 248, vgl. SW Bd. 13, 401 ff. Was in diesem Zusammenhang Hegels Deutung der Gebärde des Kopfnickens anbetrifft, so ist es die Frage, ob dadurch nur „eine Art von Unterwerfung" (SW Bd. 10, § 411 Zusatz, 249) zu erkennen gegeben wird, ob also das Kopfnicken einseitig als eine Art des Sichverneigens oder Sichverbeugens gefaßt werden darf, oder ob es nicht ebensogut Geneigtheit und Gnade zum Ausdruck bringen kann. Zur etymologischen Zusammengehörigkeit von „numen" und „nuo" vgl. weiter unten Kap. 1,3 dieser Arbeit. Vgl. SW Bd. 16, 179. Vgl. SW Bd. 14, 524/5. A . a . O . , 325.
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gen als den eigenen Inhalt ihrer Seele in sich aufnehmen. Was die Art der Gebärde angeht, die die Stellung in der idealen Skulptur auszudrücken hat, so darf es nach Hegel — wie gesagt — nicht die schlechthin veränderliche, augenblickliche Gebärde sein. „Die Skulptur muß nicht so darstellen, wie wenn Menschen durch Hyon's Horn mitten in Bewegung und Handlung versteinert oder gefroren wären. Im Gegentheil muß die Gebehrde, obgleich sie auf ein charakteristisches Handeln allenfalls hindeuten kann, doch nur ein Beginnen und Zubereiten ausdrücken, eine Intention, oder sie muß ein Aufhören und Zurückkehren aus der Handlung zur Ruhe bezeichnen. Die Ruhe und Selbstständigkeit des Geistes, der die Möglichkeit einer ganzen Welt in sich schließt, ist das für die Skulpturgestalt Gemäßeste." 4 6 1 Die Kunst des klassischen Ideals gibt die Wirklichkeit in einer bedeutenden Gestalt, deren Äußeres und Inneres so übereinstimmen, daß diese harmonische Zusammenstimmung als geistiger Ton vernehmbar wird. Die absolute gelöste Selbständigkeit als absolute Gebärde der klassischen griechischen Skulpturgestalt (der Kontrapost) unterscheidet sie von der statuarischen Starrheit der ägyptischen Steingebilde. (Vorgreifend kann bemerkt werden, daß sich in Analogie dazu die Satzglieder im spekulativen Satz als absolut -selbständige, im gewöhnlichen Satz dagegen als abstrakt selbständige zueinander verhalten werden). 462 Aus dem heroischen Ideal spricht ruhige Entschlossenheit, die ihre Unselbständigkeit in der Tat aufhebende und auf-sich nehmende Selbständigkeit, die Selbstbestimmung des Menschen, der im Bewußtsein seiner Aufgabe handelt. Gegenüber der Verschlossenheit der Gestalten des abstrakten Verstandes ist in der idealen Kunstgestalt das selbstbewußte Sich-Aufmachen des Menschen ins Werk gesetzt. Die Kunst ist ,idealistisch', in deren Gestalten sich das I m - B e g r i f f - S e i n widerspiegelt. Die stille Sprache des lebendigen Kunstwerks, die in ihrer Unausgesprochenheit immer noch der stummen Sprache der toten Steingebilde der Naturreligion ähnlich ist, ist jedoch gegenüber der epischen Sprache des geistigen Kunstwerks, die das heroische Ideal zu ihrem klaren und allgemeinen Inhalt hat, noch unvollkommen. Die gesprochene Sprache erst ist die wirklich vernünftige Sprache, die man auch ,logische' Sprache nennen könnte, sie ist das „vollkommne Element, worin die Innerlichkeit ebenso äußerlich als die Äußerlichkeit innerlich ist." 4 6 3 461 462 463
SW B d . 13, 403. Vgl. Kap. 11,2 dieser Arbeit. Phä., 505.
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In ihr ist die wilde dionysische Innerlichkeit, die „Dumpfheit des Bewußtseins und ihr wildes Stammeln" 4 6 4 durch die Äußerlichkeit ausgeglichen, die substantielle Begeisterung der bacchantischen Raserei hat gleichsam im klaren Dasein der schönen Körperlichkeit ihr Gleichgewicht gefunden. 465 Der Schein Zum Schluß dieses zentralen Abschnitts über das lebendige Kunstwerk möchte ich noch eine B e m e r k u n g zur K a t e g o r i e des S c h e i n s machen, die von zentraler Bedeutung für die Bestimmung des Schönen ist. Der schöne Schein der Kunst, der „selbst durch sich hindurchdeutet, und auf ein Geistiges, welches durch ihn soll zur Vorstellung kommen, aus sich hinweist" 4 6 6 ist der absolute Schein, der als Schein durchsichtig werdende, sich als äußerer Schein auflösende Schein. Der absolute Schein könnte insofern als Doppelschein, d.h. hier als Schein des Scheins, als scheinbarer Schein bezeichnet werden. Er ist die absolute Reflexion, die Doppelreflexion, die Reflexion der Reflexion als unmittelbare. 467 Der schöne Schein ist ein Schein, in dem das Absolute (das absolute Wesen, das als Wesen des Wesens bezeichnet werden könnte) hervorscheint, ein Schein, der nur das Absolute durch sich hindurchblicken läßt. 4 6 8 Der Schein des Schönen, das „in sich selber u n e n d l i c h und frei" 4 6 9 ist, ist der absolute Schein als der freie Schein. 4 7 0 Der schöne Schein resultiert aus der Enttäuschung des äußeren Scheins. (Der absolute Schein der Kunst ist sozusagen an der Oberflächlichkeit des äußerlichen Scheins des Kitsches gebrochen und hat den Gegenstoß des Unscheinbaren in sich. Er könnte als ,Einheit' — um dieses unglückliche Wort hier aufzunehmen — des äußeren und des inneren Scheins gesehen werden.) Das Sinnliche des schönen Scheins ist insofern sinnvoll, als es ein sinnliches Unsinnliches ist, 4 7 1 als es die Gegenbewegung des Sich-Entsinnens in sich hat. „ „Sinn" nämlich ist dieß wunderbare Wort, welches selber in zwei entgegengesetzten Bedeutungen gebraucht wird. Einmal Ebenda. A . a . O . , 505/6, Absatz 7. 4 6 6 SW Bd. 12, 29/30. 4 6 7 Vgl. in anderem Zusammenhang, Log. II, 13/4 und 243. 468 Vgl. in anderem Zusammenhang a . a . O . , 159. 4 6 9 SW Bd. 12, 161. 4 7 0 Vgl. in anderem Zusammenhang Log. II, 219. 4 7 1 Vgl. SW Bd. 9, 79, wo Hegel die Zeit als das unsinnliche Sinnliche faßt. 464 465
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bezeichnet es die Organe der unmittelbaren Auffassung, das andremal aber heißen wir Sinn: die Bedeutung, den Gedanken, das Allgemeine der Sache. Und so bezieht sich der Sinn einer Seits auf das unmittelbar Aeußerliche der Existenz, andrer Seits auf das innre Wesen derselben. Eine sinnvolle Betrachtung nun s c h e i d e t die beiden Seiten nicht etwa, sondern in der einen Richtung enthält sie auch die entgegengesetzte, und faßt im sinnlichen unmittelbaren Anschaun zugleich das Wesen und den Begriff auf." 472 Die sinnvolle Betrachtung des Schönen ist Erinnerung sowohl im räumlichen (äußerlichen) als auch im zeitlichen (innerlichen) Sinne des Wortes, Erinnerung eines Anwesenden und eines Gewesenen auf einmal, Erinnerung eines Präsenten als eines Repräsenten. Im Augenblick der plötzlichen 4723 Koinzidenz des Anwesenden und des Gewesenen (dieser Augenblick, der ein Anhaltspunkt in der Ruhelosigkeit der Zeit ist, könnte — um hier einen unzeitgemäßen Ausdruck zu verwenden — als göttlicher Augenblick47211 bezeichnet werden) fällt die „ruhe- und haltlose Zeit" 473 gleichsam in sich selbst zusammen. 474 Darin, daß in einem Augenblick des Zugleichseins von Mittel und Zweck, von Vermittlung und Unmittelbarkeit anschaulich wird, ist — um diesen Kantischen Ausdruck aufzunehmen — die „innere Kausalität"475, d.h. die innere Zweck- bzw. Vernunftmäßigkeit, oder kurz gesagt, der Sinn des ,Weilens' 476 bei der Betrachtung des Schönen zu sehen. 472
SW Bd. 12, 182/3, vgl. a . a . O . , 67. Zur spekulativen Auffassung des Begriffs im sinnlichen Anschauen vgl. die Ausführungen über das begreifende Anschauen der spekulativen Idee in Kap. 11,3 dieser Arbeit. 4721 Zu dem Begriff der plötzlich (έξαίφνης) stattfindenden Einung von Zeit und Ewigkeit bei Plotin vgl. die interessanten Hinweise von W. Beierwaltes, in: Plotin, Über Ewigkeit und Zeit (Enneade III,7), übersetzt, eingeleitet u. kommentiert von W. Beierwaltes, Frankfurt 1967, Einleitung, VI, 75ff., insbes. 87. Zum Augenblick als Zusammenstoß bzw. Berührung von Zeit und Ewigkeit vgl. auch S. Kierkegaard, G W , 11. u. 12. Abt., Der Begriff Angst, 3. Kap., Vorbetrachtung, 82ff. u. G W , 34. Abt., Der Augenblick, 326f. 472b Zum Begriff des erfüllten Augenblicks bei Goethe vgl. W. Schadewaldt, Goethestudien, Zürich 1963, Anhang zu den Begriffen Augenblick - Moment — Stunde, 435ff. 473 Phä., 560. 474 Ich möchte hier auf das Hauptwerk von M. Proust wenigstens hinweisen. M. Proust, Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, Frankfurt 1964, Werkausgabe Edition Suhrkamp, insbes. Bd. 13. Die wiedergefundene Zeit 2, 274ff. Vgl. auch den Aufsatz des Verfassers: Der Augenblick. Zum Begriff der ekstatischen Einheit der Zeitlichkeit bei Heidegger, in dem das Problem der Sprachlichkeit des Augenblicks erörtert wird. (Zum Begriff des Augenblicks bei Heidegger vgl. insbes. „Sein und Zeit", 338, 385f. u. 391 sowie GA, Bd. 24, Die Grundprobleme der Phänomenologie, 407ff.) 475 K . U . , 37 (61). 476 Vgl. ebenda.
Die Religion
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Dieser Augenblick wird uns — sozusagen in profaner Gestalt — als Moment des Gegenstoßes der sowohl regressiven als auch progressiven Bewegung des Begriffs im philosophischen Satz wiederbegegnen, als Moment der Erfahrung des philosophischen Gehalts, oder besser gesagt, des philosophischen Sinns des Satzes. Die .ästhetische' Sinnerfahrung als eine der ,logischen' Sinnerfahrung nicht äußerliche, sondern vielmehr höchst innerliche zu kennzeichnen, oder schärfer gesagt, die ,logische' Erfahrung als Begriff und Inbegriff der .ästhetischen' aufzuzeigen, ist eine Hauptaufgabe dieser Arbeit. Es soll deutlich werden, daß in die denkende Betrachtung der Spekulation als freie geistige Betrachtung die sinnvolle Anschauung bzw. Betrachtung des Schönen eingegangen ist, die nach Hegel liberaler Art ist, „ein Gewährenlassen der Gegenstände als in sich freier und unendlicher, kein Besitzenwollen und Benutzen derselben als nützlicher zu endlichen Bedürfnissen und Absichten." 4 7 7 Die absolute Scheinbarkeit des Schönen ist die sinnliche Unsinnlichkeit, die „sichtbare Unsichtbarkeit" 4 7 8 des Schönen, die seine Sprachlichkeit ausmacht. (Die Welt des freien geistigen Selbstbewußtseins der Kunstreligion ist — durch die Umkehrung des geistigen Bewußtseins der Naturreligion — schon die zweite übersinnliche Welt, das Jenseits im Diesseits). Der Schein, das vermittelte Unmittelbare, in dem das Schöne sein Leben hat, 4 7 9 ist als der absolute Schein der totale Schein. Dieses Ganze des Scheins, dieser vollständige, entwickelte Schein ist die Erscheinung. 480 Das Wesen verbleibt nicht jenseits oder hinter der Erscheinung, wie hinter einem Vorhang, 4 8 1 sondern ist aus sich als dem Inneren herausgegangen und in Erscheinung getreten. Seine Erscheinung ist seine Existenz. 4 8 2 Unter dieser Erscheinung darf nicht mehr ein von dem Wesen oder dem (ersten) übersinnlichen, jenseitigen Ansich durch eine Kluft getrenntes (sinnliches) diesseitiges Für-das-Bewußtsein-Sein verstanden
477
478 479 480
SW Bd. 12, 164/5. Vgl. K . U . , 116 (115), Kants Ausführungen über die Lust am Schönen und die Liberalität der Denkungsart. Phä., 238, vgl. 233 ff. Vgl. SW Bd. 12, 23. Vgl. Phä., 110, Log. II, 101/2 und SW Bd. 8, § 131, 2 9 8 - 3 0 1 ; n.b.: Das Präfix „ e r - " bedeutet in unserer Sprache sowohl „heraus, hervor" als auch „zum Ende hin" und bezeichnet daher sowohl das Einsetzen eines Geschehens ( z . B . Blühen — erblühen) als auch das Erreichen eines Zwecks ( z . B . schöpfen — erschöpfen); vgl. ferner erinnern, erfahren, erkennen etc.
Vgl. Phä., 128, und SW Bd. 8, § 112 Zusatz, 262. 482 Vgl. L 0 g j ] j 123, wo Hegel die Erscheinung als Einheit des Scheins und der Existenz bestimmt.
481
156
I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
werden. Vielmehr ist sie als das Für-das-Bewußtsein-Sein des Ansich zu nehmen. Das „sinnliche S c h e i n e n der Idee" 4 8 3 , der schöne Schein (der Kunst) ist E r s c h e i n u n g . „Weit entfernt also bloßer Schein zu seyn, ist den Erscheinungen der Kunst, der gewöhnlichen Wirklichkeit gegenüber, die höhere Realität und das wahrhaftigere Daseyn zuzuschreiben." 4 8 4 „Die Form der s i n n l i c h e n A n s c h a u u n g nun gehört der K u n s t an, so daß die Kunst es ist, welche die Wahrheit in Weise sinnlicher Gestaltung für das Bewußtseyn hinstellt, und zwar einer sinnlichen Gestaltung, welche in dieser ihrer Erscheinung selbst einen höheren tieferen Sinn und Bedeutung hat, ohne jedoch durch das sinnliche Medium hindurch den Begriff als solchen in seiner Allgemeinheit erfaßbar machen zu wollen; denn gerade die E i n h e i t desselben mit der individuellen Erscheinung ist das Wesen des Schönen und dessen Produktion durch die Kunst." 4 8 5 Das Schöne bestimmt sich als absoluter (freier) Schein, d . h . als Erscheinung (Epiphanie) des Absoluten (Göttlichen). 486 Indem das freie geistige Selbstbewußtsein auf der Stufe seiner höchsten Reife, d . h . auf der Stufe seines beginnenden Untergangs das Selbst als das absolute (göttliche) Wesen erfaßt, enthebt es schon das absolute Wesen seiner zufälligen Gestalt und hebt es in den absoluten Begriff, in die Idee auf. 4 8 7 Versucht man, die Religion, insofern ihr Gegenstand das absolute Wesen ist, unter dem Gesichtspunkt des Scheins zu betrachten, so könnte man zu folgender Einteilung kommen: In der n a t ü r l i c h e n R e l i g i o n s c h e i n t das absolute Wesen. Der Schein ist zunächst das einfache Scheinen in sich, die abstrakte, reine Manifestation, das Aufgehen des natürlichen Lichts, der äußere Lichtschein des (persisch-orientalischen) Lichtwesens, der Schein der Sonne, das gleichmäßige L e u c h t e n der Sterne. In der K u n s t - R e l i g i o n e r s c h e i n t das absolute Wesen. Der Schein, die vermittelte oder reflektierte Unmittelbarkeit ist als unmittelbare Reflexion 4 8 8 ferner Reflex, Widerschein, Epiphanie des (griechisch-okzidenta-
483 484
485 486 487 488
SW Bd. 12, 160; vgl. a . a . O . , 28. A . a . O . , 29. Was die „Genauigkeit philosophischer Begriffsunterschiede" (Log. II, 356) angeht, so ist deutlich, daß nicht in allen Teilen der „Vorlesungen" die terminologische Strenge gewahrt ist. SW Bd. 12, 148; vgl. auch SW Bd. 13, 223/4. Vgl. SW Bd. 12, 148 und a . a . O . , 27. Vgl. Phä., 519/20. Vgl. Log. II, 11 und 13.
Die Religion
157
lischen) göttlichen Wesens, das plötzlich aus dem Innern H e r v o r l e u c h t e n d s t e 4 8 9 , der schöne Schein. In der o f f e n b a r e n R e l i g i o n o f f e n b a r t sich das absolute Wesen. Der Schein ist am Ende das e r l e u c h t e n d e Licht des Geistes, die Offenbarung des (christlichen) Gottes. 4 9 0 Das geistige Kunstwerk (Phä., Kap. VII B.c (506-520)) Die epische Sprache Die
Mnemosyne
Da es im Rahmen dieses Teils der Arbeit vor allem um die Durchsicht des Kapitels V I I В im Hinblick auf die Sprachlichkeit der Kunst geht, möchte ich mich bezüglich der epischen Sprache auf einige Bemerkungen zum Absatz 3 von Kapitel V I I B . c beschränken. Die einleitenden Absätze 1 und 2 machen deutlich, daß es die homerischen Gesänge sind, aus denen Hegel die Grundzüge des Epos entnommen hat 491 , wobei hier der Ilias die größere Bedeutung zuzukommen scheint. In der „gemeinschaftlichen Unternehmung" 4 9 2 , der „gemeinsamen Handlung" 4 9 3 , zu der sich die individuellen Volksgeister versammeln, ist der Kampf gegen Troja zu sehen. Der Eine, unter dessen Oberbefehl die heroischen Gestalten mehr als unter seiner Oberherrschaft stehen, ist Agamemnon 4 9 4 , der ,sehr Entschlossene' 495 , der den Zorn des Achill weckt, welcher den zusammenhaltenden Mittelpunkt des Ganzen bildet. 496 489
490
491 492 493 494 495
496
έκφανέστατον vgl. Plato, Phaidros, 250d (Stephanus-Numerierung). Dieser Ausdruck findet sich übrigens im Zusammenhang mit Ausführungen über den Unterschied der holländischen Genremalerei und Genrebildern der biedermeierlichen Düsseldorfer Schule (vgl. SW Bd. 12, 224) auch bei Hegel (vgl. a . a . O . , 234). Zu diesem Versuch einer Einteilung der Religion unter Zuhilfenahme des Begriffs des Scheins vgl. Log. II, 6. Rücksichtlich der im ersten Teil dieses Kapitels angestellten systematischen Überlegungen, in denen die logische Sphäre des Wesens mit der gesamten phänomenologischen Sphäre der Vorstellung verglichen wurde, in der die Religion nur ein — wenn auch das Ganze in sich begreifender — Teil ist, ergeben sich freilich einige architektonische Verschiebungen. Vgl. SW Bd. 14, 340. Phä., 506. A . a . O . , 507. Vgl. SW Bd. 11, 303ff. und a . a . O . , 450, SW Bd. 12, 255 und SW Bd. 14, 343. Vgl. J. B. Hofmann, Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, a . a . O . , 196, μέμνων und R. v. Ranke-Graves, Griechische Mythologie, Bd. 2, a.a.O., 310. Vgl. SW Bd. 14, 247 und 391; vgl. Phä., 510, Absatz 6.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Dem lebendigen Kunstwerk war das anzusehen (oder aus ihm herauszuhören), was — unausgesprochen — aus ihm spricht. In Gestalt des Ideals der Ineinsbildung des Göttlichen und Menschlichen schaut der Geist, noch unmittelbar sich selbst an. Das geistige Kunstwerk ist die Aufklärung über das lebendige wie über das tote Kunstwerk. Im geistigen Kunstwerk, in der Dichtung — mit der wir den Boden der Sprache, im engeren Sinn der gesprochenen Sprache — den „Tempel der Mnemosyne" 4 9 7 betreten, kommt dieses Stillschweigen selbst zur Sprache. (Wie die Buchstabenschrift, insofern sie Töne bezeichnet, die selbst bereits Zeichen sind, im Unterschied zur Hieroglyphenschrift aus Zeichen von Zeichen besteht 498 , so könnte die Sprache des geistigen Kunstwerks der Dichtung auch als Sprache von den ihr vorhergehenden Sprachen, angefangen von der stummen Sprache der Werke der natürlichen Religion der Ägypter gekennzeichnet werden. In jener Sprache wird die W a h r h e i t über diese unausgesprochenen Sprachen gesagt, das V e r b o r g e n e wird ausgesprochen.) In der Poesie, zuerst im Epos, der Behausung der besonderen schönen Volksgeister, im Gedicht, das den Geist der Helden a u f b e w a h r t , unv e r g e ß l i c h macht und „das W o r t für alles findet, was die Nation in ihren Thaten ist" 4 9 9 , fängt der Geist an, sich eine wirkliche Vorstellung von sich zu machen. Diese sich bereits auf dem Boden der Anschauung bewegende und erst in der Rückschau zustandekommende Vorstellung ist nicht mehr bloß räumlich. Das Tun des Geistes, der sein Dasein im Gedicht hat, ist nicht das Tun des Kultes des lebendigen Kunstwerks, bei dem das Selbst im Verzehr des Opfers die sinnliche Gewißheit seiner gegenwärtigen Einheit mit dem Wesen hat, des göttlichen Wesens also unmittelbar inne wird. Der Äußerungsweise des Geistes im Gedicht entspricht eine Erinnerung, die vergangene Zeiträume vergegenwärtigt. Die sinnliche Gestalt verschwindet, „so daß sie in die Erinnerung tritt, in die Mnemosyne aufgenommen wird, in das Reich der Vorstellung.·" 500 „Das Dasein dieser Vorstellung, die S p r a c h e , ist die erste Sprache, das E p o s als solches, das den allgemeinen Inhalt, wenigstens als V o l l s t ä n d i g k e i t der Welt, ob zwar nicht als A l l g e m e i n h e i t des G e d a n k e n s enthält. Der S ä n g e r ist der Einzelne und Wirkliche, aus dem als 497 498 499 500
SW Bd. 11, 26. Vgl. SW Bd. 10, § 459, 347/8. SW Bd. 14, 415. SW Bd. 19, 112; vgl. SW Bd. 10, § 459, 346.
Die Religion
159
Subjekt dieser Welt sie erzeugt und getragen wird. Sein Pathos ist nicht die betäubende Naturmacht, sondern die Mnemosyne, die Besinnung und gewordne Innerlichkeit, die Erinnerung des vorhin unmittelbaren Wesens." 501 Das Pathos des Sängers ist nicht die schwärmerische Leidenschaft und bacchische Begeisterung der Mänaden, sondern die Mnemosyne, 502 die Mutter der Musen, deren Wildheit Apoll zähmte. Das P a t h o s des Dichters, der die Muse fragt 503 , der als Subjekt in seinem Gegenstand verschwindet und in dem die substantiellen Momente des Geistes lebendig sind, 504 ist die Mentalität, die ihn begabt, leiden zu k ö n n e n , dieses Pathos ist das Glück oder vielmehr die U n g l ü c k s e l i g k e i t des Dichters. Die Mnemosyne, das Sichentsinnen des Sinnlichen gibt gleichsam die Knoten- bzw. Anhaltspunkte in der Bewegung des sinnlichen Sich-Vergewisserns, die sinnerfüllten Augenblicke des Sich-Umkehrens und Z u r ü c k b l i c k e n s . Sie sind als Momente in der spekulativen Methode, als Momente in der Bewegung des Ubergehens oder vielmehr des sich Ubersetzens des Begriffs in die Anschauung aufgehoben und werden sozusagen als die springenden Punkte in der absoluten R e f l e x i o n des Begriffs wieder erstehen. 505 Die Erinnerung und Besinnung selbst bestimmt sich nun in der Vorstellung des Dichters dazu, dieses Innehalten zu äußern und zu formulieren. Die Muse ist insofern die Wohlwollende und Gnädige, als sie es ist, die es dem Dichter erlaubt, frei aus sich zu sprechen. So ist sie es auch, die ihm Lesmosyne 506 , das Vergessen der Leiden schenkt. Die Vorstellung, die erinnerte Anschauung vermittelt die Unmittelbarkeit, sie ist die Mitte zwischen Anschauung und Denken. Durch die Mitte der Besonderheit, durch das Medium der Sprache (in der der Geist der Heroen lebt) ist die A l l g e m e i n h e i t des Göttlichen (Substantiellen) mit der E i n z e l h e i t des Menschlichen (Subjektiven) zusammengeschlossen. Der Zusammenschluß der Seite der Allgemeinheit und der Seite der Einzelheit zur konkreten
501
Phä., 507. Zur Etymologie von μνημοσύνη vgl. J. B. Hofmann, Etymologisches Wörterbuch des Griechischen, a.a.O., μαίνομαι,, μέμονα und μένος. 503 Zu denken ist hier zuerst an den Anfang der Odyssee. Vgl. u.a. SW Bd. 14, 337ff. und 409/10. 504 Vgl. SW Bd. 12, 313ff. und 375/6. 505 Vgl. Kap. 11,3 dieser Arbeit. 506 Vgl. Hesiodi Theogonia 50—55. Lesmosyne und Mnemosyne entspringen nahe beeinander. 502
160
I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Einheit des Begriffs wird sich in der Logik als spekulative Bestimmung des Satzes ergeben, die im Urteil noch nicht erreicht wird. 5 0 7 In der zunächst epischen Sprache stellt sich dem Bewußtsein dar, was im Kultus des abstrakten und des konkreten Kunstwerks an sich zustande kam. Die Mnemosyne ist gleichsam die Quelle der reinen Flüssigkeit und Lösung des Begriffs. In ihr kann das Denken dazu kommen, Gedanken zu haben. „Das höchste Werk des productiven Gedächtnisses ist die Sprache, welche theils Ton-, theils Schriftsprache ist. Indem das productive Gedächtniß oder die M n e m o s y n e der Ursprung derselben ist, so kann von einem weitern Ursprung nur in Rücksicht auf die Erfindung der bestimmten Zeichen die Rede sein." 5 0 8 In der „Enzyklopädie" von 1817 erklärt Hegel, was unter Gedächtnis — in dem er den Ubergang zum Denken sieht 509 — zu verstehen ist mit folgenden Worten: „Das G e d ä c h t n i ß (Mnemosyne, Muse) ist die Einheit s e l b s t s t ä n d i g e r V o r s t e l l u n g und der A n s c h a u u n g , zu welcher jene als freye Phantasie sich äussert." 5 1 0 Die Anschauung, die in dieser Identität nicht als positiv und sich selbst, sondern als etwas anderes vorstellend gilt, ist nach Hegel das Zeichen. „Das Z e i c h e n ist irgend eine unmittelbare Anschauung, aber die eine Vorstellung von ganz anderem Inhalt vorstellt, als sie für sich hat; — die P y r a m i d e , in welche eine fremde Seele versetzt und aufbewahrt ist. . . . Diese Zeichen erschaffende Thätigkeit wird mit Recht G e d ä c h t n i ß , und zwar das p r o d u c t i v e Gedächtniß genannt . . . " . 5 1 1 In der „Enzyklopädie" von 1830 heißt es an der entsprechenden Stelle: „Diese Zeichen erschaffende Thätigkeit kann das p r o d u c t i v e G e d ä c h t niß (die zunächst abstrakte Mnemosyne) vornehmlich genannt werden . . . " , 5 1 2 Der Vergleich des Zeichens mit der Pyramide in der „Enzyklopädie" von 1817 könnte möglicherweise einen Hinweis darauf enthalten, daß „die zunächst abstrakte Mnemosyne" — wollte man sie mit den hier behandelten Gestalten der „Phänomenologie" in Zusammenhang bringen — am ehesten wohl noch die Mnemosyne des Werkmeisters der abstrakten Verstandesform, nicht aber die Mnemosyne des Sängers ist. Beide ver507 508 509 510 511
512
Vgl. Kap. 11,2 dieser Arbeit. SW Bd. 3, § 158, 210. Vgl. SW Bd. 6, § 383, 271 und SW Bd. 10, § 464, 357/8. SW Bd. 6, § 379, 268. A . a . O . , 269. Zur Kennzeichnung des Unterschieds von Zeichen und Symbol vgl. auch SW Bd. 12, 408/9. SW Bd. 10, § 458, 345.
Die Religion
161
hielten sich etwa zueinander, wie die Hieroglyphenschrift, die die Vorstellungen durch räumliche Figuren bezeichnet, zur Buchstabenschrift, die Töne bezeichnet. 513 Die Absätze 4—6 von Kapitel VII B.c behandeln noch das Epos, wobei es Hegel zunächst auf die Darstellung der H a n d l u n g ankommt, die den Inhalt der epischen Poesie ausmacht. In Absatz 7 geht Hegel — ohne an dieser Stelle auf die lyrische Poesie einzugehen — zur Betrachtung der dramatischen Poesie über, deren Unterschied von der epischen er zunächst darin sieht, daß in der Tragödie (und in der Komödie), in der wirkliche Menschen als Darsteller auftreten, die Sprache in den Inhalt hereintritt und aufhört, erzählend zu sein, sodaß die Handlung in der dramatischen Poesie die Form und den Inhalt abgibt. 514 Einer der Gründe dafür, warum Hegel der Lyrik in Abschnitt VIIB.c im Unterschied zu den „Vorlesungen" nur die Bedeutung eines Moments innerhalb der dramatischen Poesie 515 zuerkennt, nachdem er der Hymne ihre Stelle bereits in Abschnitt VII В. a zugewiesen hat — in der Hymne hat erst die Innerlichkeit des reinen Denkens oder der Andacht Dasein, 516 noch nicht aber die Erinnerung oder das Andenken; der hymnische Gesang der Lyrik, der mit der Musik noch größere Verwandtschaft hat als das Epos oder das Drama, entspricht in seiner Abstraktheit und Reinheit noch der Abstraktheit der Bildsäule517 — könnte darin gesehen werden, daß Hegel in den Ausführungen über das geistige Kunstwerk versuchte, an der Poesie die Zusammengehörigkeit von Handlung und Sprache darzustellen. Die Lyrik nun unterscheidet sich sowohl vom Epos wie vom Drama darin, daß ihr Inhalt vornehmlich das empfindende Gemüt ist, „das statt zu Handlungen fortzugehen, vielmehr bei sich als Innerlichkeit stehn bleibt." 518
513 514 515 516 517 518
Vgl. a . a . O . , § 459, 347/8. Vgl. SW Bd. 14, 324. Zur chorischen Lyrik vgl. Absatz 8 und SW Bd. 14, 471, 498, 517 und 547ff. Vgl. Abschnitt VII B.a., Absatz 6. Vgl. Abschnitt VII B.a, Absätze 9 und 10. SW Bd. 14, 323, vgl. a . a . O . , 422.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Die dramatische Handlung als poetische Vorstellung der spekulativen Gedankenhandlung Die dramatische, dialogische Sprache und das dialektische Denken Da ich zu Anfang der Betrachtungen über die Kunst-Religion schon einige, mir im Hinblick auf die Entwicklung der Sprachcharaktere der Kunst wichtig erscheinende Punkte aus Hegels Darstellung der epischen und der dramatischen Poesie vorweggenommen habe, möchte ich abschliessend nur noch einige Bemerkungen zum Handlungsbegriff als Kategorie der Hegeischen Ästhetik hinzufügen. Die Darstellung der Handlung als einer in sich totalen Bewegung von Aktion, Reaktion und Lösung ihres Kampfes gehört nach Hegel vorzüglich der Poesie an, da es den übrigen Künsten nur vergönnt ist, ein Moment im Verlaufe der Handlung festzuhalten. Die Handlung ist die klarste Enthüllung des Individuums, sowohl hinsichtlich seiner Gesinnung, als auch seiner Zwecke. „ . . . was der Mensch im innersten Grunde seines Daseyns ist, bringt sich erst durch sein Handeln zur Wirklichkeit, und das Handeln, da es geistiger Art ist, gewinnt auch im geistigen Ausdruck, in der Rede allein, seine größte Klarheit und Bestimmtheit." 519 Erst am Ende der geistigen Kunstreligion tritt in Wahrheit der in Handlung und Sprache geistig seiner selbst bewußt werdende Mensch in den Vordergrund. Gegen Schluß seiner Ausführungen über Hegels Behandlung der Tragödie sagt Fischer: „Im Fortgange der Kunstreligion erweist sich immer eindringlicher und mächtiger der wirkliche Mensch als der schöpferische Grund, aus dem diese Religion mit ihrem ganzen Inhalte hervor- und in den sie zurückgeht." 520 Insofern nun die dramatische Poesie als die höchste Form der Kunst-Religion diejenige ist, in der es um die Handlung als Handlung geht — sie ist es, die das Drama dramatisch macht 521 — nimmt ihre Betrachtung innerhalb des geistigen Kunstwerks einen besonders breiten Raum ein. 522 Hegel sieht das Drama, „weil es seinem Inhalte wie seiner Form nach sich zur vollendetesten Totalität ausbildet, als die höchste Stufe der Poesie und der Kunst" an. 523
« SW Bd. 12, 297. K . Fischer, Hegels Leben, Werke und Lehre, a . a . O . , 423. 5 2 1 Vgl. SW Bd. 14, 515. 5 2 2 Vgl. Phä., Kap. VII B.c, Absätze 7 - 1 9 . 5 2 3 SW Bd. 14, 479.
S1
520
Die Religion
163
Während die epische Darstellung mehr beim Ausmalen verweilt und der Auflösung „Hemmungen" 5 2 4 entgegenstellt, (die Abenteuer in der Odyssee etwa sind Verzögerungen der Heimkehr) 525 , im Epischen also die ausschließliche Sorge um die Realisation des einen Zwecks wegfällt, kommt es im Dramatischen darauf an, daß das Individuum seine A u f g a b e durchführt. 526 Das dramatisch Wirkende ist nämlich nach Hegel die Handlung als Handlung und nicht die von dem bestimmten Zweck und dessen Durchführung unabhängigere Exposition des Charakters als solchen. 527 Die Form epischer Objektivität fordert ein „schilderndes Verweilen, das sich dann noch zu wirklichen Hemmungen schärfen darf" 5 2 8 , wohingegen der dramatische Verlauf in der steten Fortbewegung zur Endkatastrophe besteht. „Dieß erklärt sich einfach daraus, daß den hervorstechenden Angelpunkt die K o l l i s i o n ausmacht. Einer Seits strebt deshalb alles zum Ausbruche dieses Konfliktes hin, anderer Seits bedarf gerade der Zwist und Widerspruch entgegenstehender Gesinnungen, Zwecke und Thätigkeiten schlechthin einer Auflösung, und wird diesem Resultate zugetrieben." 529 Die dramatische Handlung ist die zur K o l l i s i o n , zum Zusammenstoß und zur Lösung des Konflikts der beiden Seiten führende Handlung, die Handlung als in sich totale Bewegung. Diese Handlung, die als Handlung gesetzt (thematisch) ist, könnte man in Hegelscher Sprache als absolute, sich selbst zuwiderlaufende und auflösende Handlung bezeichnen. Die dramatische Kunst — wobei hier insbesondere an die Tragödie gedacht ist — spiegelt nun insofern das Schöne und seinen Schein „in seiner vollständigsten und tiefsten Entwickelung" 530 wider, als aus der Darstellung der Auflösung und Zerstörung der Einseitigkeit der geistigen Mächte 531 die Harmonie der beiden Seiten — denen die gleiche Ehre zukommt — hervorgeht; als sich durch die „Lösung der Konflikte die Harmonie als Resultat" 5 3 2 ergibt. 524
525 526 527 528 529 530 531 532
A . a . O . , 386. Vgl. die Absätze der Vorrede zur „Phänomenologie", in denen vorn spekulativen Satz die Rede ist und in denen Hegel im Zusammenhang damit von der H e m m u n g des vorstellenden Denkens spricht. Vgl. dazu den dritten Teil dieses Kapitels. Vgl. SW Bd. 14, 386ff., 448/9 und 492/3. Vgl. a . a . O . , 363. Vgl. a . a . O . , 483 und 506. A . a . O . , 493. Ebenda. Zur Kollision vgl. SW Bd. 12, 278ff. SW B d . 12, 278. Vgl. SW B d . 14, 486. SW Bd. 12, 279.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Die Verhandlung über Orest, der „in einer Handlung . . . gefrevelt und ebenso vollkommene, wesentliche Notwendigkeit ausgeübt" hat 5 3 3 , endet — wie bereits ausgeführt — mit dessen Lossprechung. 534 In dieser Verhandlung, die am Ende des Auseinandersetzungsprozesses des Bewußten und des Unbewußten steht, agieren die gegnerischen Seiten nicht mehr gegeneinander, sondern entgegnen einander sprechend. Weiter oben wurde schon darauf hingewiesen, daß die tragische Kollision der Mächte des Bewußten, Subjektiven und des Unbewußten, Substantiellen dem im spekulativen Satz stattfindenden Konflikt von Inhalt und Form entspricht und daß die Lossprechung des Orest als dramatische Vorstellung der Gedankenhandlung der dialektischen Bewegung der Ablösung des Begriffs von sich als fixem Verstandesbegriff gesehen werden kann. 5 3 5 R.Wiehl hat in seinem Aufsatz „Uber den Handlungsbegriff als Kategorie der Hegeischen Ästhetik" 5 3 6 versucht, vor allem in Hinblick auf die Auszeichnung der dramatischen Kunst die Handlung als Grundkategorie der Ästhetik Hegels herauszuarbeiten und zu zeigen, daß ein immanenter Zusammenhang zwischen der Auszeichnung der sprachlichen Künste im allgemeinen und der der dramatischen Kunst im besonderen besteht. S37 „Die Begründung der Auszeichnung der dramatischen Kunst und ihrer Grundlage, die Begründung des Privilegs der sprachlichen gegenüber den nichtsprachlichen Künsten^ 538 ' ist aber nicht so evident, wie dies auf den ersten Blick erscheinen mag. So läßt sich die Auszeichnung der sprachlichen gegenüber den nichtsprachlichen Künsten eigentlich erst von der gewollten Konsequenz aus, von der Erhebung des Dramas zur höchsten Kunstform her und mit Hilfe der hierfür gelieferten Begründung plausibel machen." 5 3 9 Aus dieser Perspektive betrachtet finde die Privilegierung der sprachlichen Künste ihre Begründung darin, daß die Sprache in ihrem ästhetischen
533
SW Bd. 16, 135.
534
Vgl. a . a . O . , 104 und 156. Vgl. den dritten Teil dieses Kapitels. R . Wiehl, Über den Handlungsbegriff als Kategorie der Hegeischen Ästhetik, in: HegelStudien Bd. 6 (1971), 135ff. Vgl. a . a . O . , 153.
535 536
537 538
D a ich versucht habe, auf die Sprachlichkeit der Künste insgesamt aufmerksam zu machen, würde ich an dieser Stelle nicht nichtsprachliche von sprachlichen Künsten unterscheiden, sondern Künste, deren Sprache unausgesprochen und unbestimmt ist, von solchen, deren Sprache eine gesprochene und bestimmte (artikulierte) ist.
539
A.a.O.,
151.
Die Religion
165
Gebrauch dem menschlichen Handlungsbegriff näher stehe als die anderen Stoffe, die der Kunst als Mittel ihrer Produktion dienen. 540 Dieser Begründung ist m.E. insoweit zuzustimmen, als in ihr nicht ein einseitiger Primat des Handlungsbegriffs vor dem Sprachbegriff erkannt wird, sondern die grundlegende Affinität von Sprache und Handlung. Der Gang der Entwicklung der Kunst zur Mündigkeit kann nach Hegel als E m a n z i p a t i o n von der ungeistigen Bearbeitung und B e h a n d l u n g des natürlich vorhandenen Materials, vom reinen H a n d w e r k des Werkmeisters angesehen werden, als der Weg vom zu Anfang noch abstrakten Kunstwerk zum konkretesten geistigen Kunstwerk, in dem mehr noch als im Epos das Handeln als eine in sich totale Bewegung von „geistiger Art" ist und deshalb auch „im geistigen Ausdruck, in der Rede allein seine größte Klarheit und Bestimmtheit" 541 gewinnt. Das Drama, in dem die Handlung nicht nur den Inhalt, sondern auch die sprachliche Form bestimmt, in dem lebendige Menschen Gespräche — und V e r h a n d l u n gen' — führen, ist insofern ausgezeichnet, als es die höchste künstlerische Einigung von Sprache und Handlung darstellt. Die d r a m a t i s c h e Sprache ist die sprachliche H a n d l u n g . Als die vollständig dramatische Form sieht Hegel den Dialog an. „Denn in ihm allein können die handelnden Individuen ihren Charakter und Zweck sowohl nach Seiten ihrer Besonderheit als in Rücksicht auf das Substantielle ihres Pathos g e g e n e i n a n d e r aussprechen, in Kampf gerathen, und damit die Handlung in wirklicher Bewegung vorwärts bringen." 542 Der dramatischen Handlung entspricht in ihrer Wechselwirkung die dialogische Sprache, mit der die Stufe der höchsten Reife — nicht der höchsten Blüte - der Kunst erreicht ist. Die dramatische Kunstform geht nach Wiehl „in die Selbstdarstellung der reinen Gedankenhandlung über, in die Dramaturgie des dialektischen Denkens". 543 „Die inhaltliche These der Hegeischen Ästhetik vom Ende des Zeitalters der Kunst hängt an diesem Gedanken, daß . . . die dramatische Kunstform immer schon durch die dialektische Gedankenform explizit vorgeprägt ist." 544
540 541 542 543
544
Vgl. SW Bd. 14, 238. SW Bd. 12, 297. SW Bd. 14, 498/9. R. Wiehl, Über den Handlungsbegriff als Kategorie der Hegeischen Ästhetik, a . a . O . , 158. A . a . O . , 159.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Insofern ist der Handlungsbegriff in der Tat gut geeignet, die Verwandtschaft von Kunst und spekulativer Philosophie nachzuweisen. Dies gilt nicht nur für die tragische, sondern auch für die komische Handlung. Die komische Sprache Der Entwicklungsgang
der künstlerischen
Darstellung
als Fortgang über verschiedene Stufen der sprachlichen des spekulativen Begriffs
Vorstellung
Während in der tragischen Handlung die Auflösung durch den Zusammenstoß der beiden geistigen Mächte des Subjektiven und des Substantiellen zustande kommt, zeigen sich in der komischen Handlung, die der Auflösung „dringender fast als die tragische" 5 4 5 bedarf, diese Mächte „als sich an ihnen selbst unmittelbar auflösend" 546 , haben den absoluten Gegenstoß in sich selbst. Die Subjekte der Komödie, die den vollkommenen Genuß ihrer selbst im Verlust haben, handeln in komischer Verkehrtheit. 547 Die Welt der Komödie, mit der Aristophanes den Athenern gleichsam einen Spiegel vorhielt, ist eine absolut verkehrte Welt. 5 4 8 Die Sprache der verkehrten Welt der Komödie ist die konkreteste und reichste Sprache des durch die Umkehrung des geistigen Bewußtseins gewordenen freien geisti-
545 546 547 548
SW Bd. 14, 536. A . a . O . , 486. Vgl. a . a . O . , 538 und SW Bd. 18, 87. H . - G . Gadamer hat darauf aufmerksam gemacht, daß auch unser Sprachgebrauch zwischen .falsch' und ,verkehrt' unterscheide. (Vgl. H . - G . Gadamer, Hegel — die verkehrte Welt, in: Hegels Dialektik, a . a . O . , Anm. 16, 45/6, bzw. in: Materialien zu Hegels Phänomenologie des Geistes', hrsg. von H . F. Fulda, und D . Henrich, Frankfurt 1973, 130, Anm. 19). Die verkehrte Welt als absolut in sich reflektierte Welt ist die absolut verkehrte Welt, oder die verkehrte Welt ihrer selbst. Gadamer sagt: „Was in der verkehrten Welt vorliegt, ist nicht einfach das Gegenteil, der bloße abstrakte Gegensatz zur bestehenden Welt. Vielmehr läßt diese Umkehrung, in der alles anders ist, gerade die heimliche Verkehrtheit dessen, was bei uns ist, in einer Art Zerrspiegel sichtbar werden. Die verkehrte Welt wäre danach die Verkehrung der Verkehrtheit. Zu der Verkehrtheit der Welt die verkehrte Welt zu sein, hieße, die Verkehrtheit derselben e contrario darzustellen, und das ist gewiß der Sinn jeder Satire." ( A . a . O . , 43 bzw. 123. Vgl. auch 43, Anm. 13, bzw. 130, Anm. 13 — vgl. dagegen Hegels Ausführungen über die Verkehrtheit der Welt der Komödie, SW Bd. 14, 538 und 5 6 0 - 5 6 2 und SW Bd. 10, § 401 Zusatz, 144). Hegel hat das K o m i s c h e - als das Heitere (vgl. SW Bd. 14, 560) — vom S a t i r i s c h e n als dem bloß Lächerlichen geschieden. (Vgl. a . a . O . , 534). Der wirkliche Boden für das Satirische ist nach Hegel „nicht in Griechenland, als dem Lande der Schönheit, zu suchen", sondern in Rom, in dem wir „keine schöne, freie und große Kunst" finden. (SW Bd. 13, 116, vgl. SW Bd. 14, 404 und 472/3).
Die Religion
167
gen Selbstbewußtseins der Kunst-Religion, die als die konkreteste, d.h. als die höchste, oder besser gesagt, die am weitesten in die Tiefe gehende Sprache die weniger bestimmten Sprachen der Kunst in sich begreift und schließt und insofern als Repräsentantin der Sprachen der Kunst betrachtet werden kann. Die absolute Verkehrung der Welt der Sprache der Kunst ist als ein notwendiges Moment der Welt der Sprache der Philosophie zu begreifen, in der es um die spekulative Darstellung des philosophischen Inhalts geht. Im spekulativen Satz wird die natürliche Vorstellung vom Verhältnis von Subjekt und Prädikat zerstört und dem nur in einer Richtung fortlaufenden vorstellenden Denken in seiner Verkehrtheit gleichsam der Spiegel vorgehalten werden. 5 4 9 Die Komödie, die Stufe der Vollendung und des Untergangs der KunstReligion ist die Darstellung der Auflösung jener durchgängigen Verkehrtheit, in der die Subjekte der Komödie handeln. Die Welt der Komödie, in die uns Aristophanes einführt, ist die Welt der subjektiven Heiterkeit, die absolute Freiheit des Geistes, die an und für sich in allem, was der Mensch beginnt, von Anfang an getröstet ist. „Ohne ihn gelesen zu haben, läßt sich kaum wissen, wie dem Menschen sauwohl seyn kann." 5 5 0 „Es ist die lachende Seligkeit der olympischen Götter, ihr unbekümmerter Gleichmuth, der in die Menschen heimgekehrt und mit allem fertig i s t . " 5 5 1 Dabei zeigt sich Aristophanes nach Hegel nie als ein schlechter Spötter, sondern als ein Mann von geistreicher Bildung, als der vortrefflichste Bürger, dem es Ernst blieb mit dem Wohle Athens. Was Hegel daher in seinen Komödien in voller Auflösung dargestellt sieht, ist nicht das Göttliche und Sittliche, sondern „die durchgängige Verkehrtheit, die sich zu dem Schein dieser substantiellen Mächte aufspreizt, die Gestalt und individuelle Erscheinung, in welcher die eigentliche Sache schon von Hause aus nicht mehr vorhanden ist, so daß sie dem ungeheuchelten Spiele der Subjektivität offen kann bloß gegeben werden." 5 5 2 Indem aber Aristophanes den absoluten Widerspruch des wahren Wesens der s u b s t a n t i e l len Mächte des politischen und sittlichen Daseins und der S u b j e k t i v i t ä t der Bürger und Individuen vorführt, die diesen Gehalt verwirklichen sollen, liegt nach Hegel in diesem Sieg der Subjektivität, aller Einsicht zum 549 v g l . den dritten Teil dieses Kapitels. 550 s w Bd. 14, 560. Vgl. Phä., 520 das Ende der Ausführungen über die Kunstreligion. 551
"
2
SW Bd. 14, 561. A . a . O . , 561/2.
168
I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Trotz, eines der größten Symptome vom Verderben Griechenlands, „und so sind diese Gebilde eines unbefangenen Grundwohlseyns in der That die letzten großen Resultate, welche aus der Poesie des geistreichen, bildungsvollen, witzigen, griechischen Volkes hervorgehn." 553 Begreift man den Entwicklungsgang der Kunst-Religion zum g e i s t i gen Kunstwerk und schließlich zur Komödie als Resultat der Fortbestimmung der n a t ü r l i c h e n Religion, so kann die im Laufe der Entwicklung der Kunst-Religion immer deutlicher werdende Präponderanz der Seite der Subjektivität als Ergebnis eines Gegenstoßes gegen das Ubergewicht der Seite der Substantialität in der Naturreligion angesehen werden, der die Voraussetzung des Zustandekommens des wahrhaften Gleichgewichts beider Seiten in der offenbaren Religion und darüber hinaus schließlich des denkend erkannten Begriffs dieser Religion ist. Versucht man nun, diesen Entwicklungsgang der Kunst-Religion von seinem Ziel, dem absoluten Wissen, dem b e g r e i f e n d e n D e n k e n , dem Begriff her zurückblickend als Fortgang über verschiedene Stufen der s p r a c h l i c h e n V o r s t e l l u n g des Begriffs zu betrachten, so lassen sich folgende ,Sprachstufen' unterscheiden, die sicherlich durch weitere Zwischenstufen ergänzt werden könnten: die stumme ,kryptische' Sprache des natürlichen toten Kunstwerks; die den Ubergang zur Kunst-Religion ausmachende ,semantische' Zeichensprache des Orakels des G o t t e s der künstlerischen wie der vorhergehenden natürlichen Religion; die hymnische (lyrische) Sprache der Ineinsbildung des in Form der Bildsäule noch äußerlich angeschauten a b s t r a k t e n Kunstwerks; die bedeutende stillschweigende (mystische) Sprache der (apollinisch) klaren m e n s c h l i c h - g ö t t l i c h e n idealen Gestalt, um die sich in Wahrheit das (bacchantisch) taumelnde L e b e n gleichsam als um ihre stille Mitte dreht; die epische Sprache als die von M e n s c h e n gesprochene, artikulierte ,logische' Sprache des g e i s t i g e n Kunstwerks und die dramatische Sprache, die noch näher als die dialogische Sprache gekennzeichnet werden könnte. Insbesondere die komische Sprache der verkehrten Welt der Götter und Menschen stellt den Untergang der Kunst-Religion und damit bereits den Ubergang der poetischen Sprache in die prosaische Sprache SS4 der 553 554
SW Bd. 14, 562. Zum Verhältnis von Poesie der Vorstellung und Prosa des Denkens vgl. weiter unten Kapitel 1,3 dieser Arbeit.
Die Religion
169
spekulativen Philosophie dar, die das denkende Erkennen des menschgewordenen Gottes ist, der sich als das Wort (der Logos) offenbart hat. 5 5 5 Betrachtet man den Entwicklungsgang über diese Sprachbildungsstufen etwas näher, so zeigt sich, daß die Sprache bestimmter und konkreter wird, und zwar indem sie — um es so zu sagen — das geschichtliche Erbe erwirbt, in Besitz nimmt und aufhebt. Die dialektische Bewegung des Begriffs ist darin zu sehen, daß dieser sich gerade dadurch auf eine höhere Stufe erhebt, daß er sich in das zu Begreifende vertieft und dieses nicht u n t e r sich, sondern in sich begreift. 556 Mag der Nachweis dessen auf den einzelnen Stufen der Fortbestimmung des Begriffs wie auch des Fortgangs der Gestalten des Bewußtseins schwierig — wenn nicht sogar mitunter unmöglich — sein, nach Hegel erhebt das Allgemeine, insofern es nicht als abstraktes, sondern als konkretes begriffen wird, „auf jede Stufe weiterer Bestimmung die ganze Masse seines vorhergehenden Inhalts und verliert durch sein dialektisches Fortgehen nicht nur nichts, noch läßt es etwas dahinten, sondern trägt alles Erworbene mit sich und bereichert und verdichtet sich in sich." 5 5 7 In der dramatischen Sprache etwa als der tiefsten, konkretesten Sprache der Kunstreligion sind die abstrakteren, unbestimmteren Sprachen als die Momente des Orakels, der chorischen Lyrik und vor allem als das Moment des Schweigens im dramatischen Dialog Inbegriffen und beschlossen. In der d r a m a t i s c h e n Sprache bzw. in der sprachlichen H a n d l u n g , in der der Mensch in W i r k l i c h k e i t im Begriff ist, sich selbst zu bestimmen, zeigt sich am Ende am deutlichsten, daß die Sprache der Kunst reflektierter und weniger unwirklich wird, indem die ä u ß e r l i c h e , n a t ü r l i c h e VorBis hierher sollte jedoch schon deutlich geworden sein, daß man, betrachtet man Hegels Ausführungen über die Sprache in der Theorie des subjektiven Geistes (vgl. SW Bd. 10, § 4 5 8 f f . , 3 4 4 f f . ) zusammen mit den Ausführungen über die Kunst-Religion, nur schwerlich zu der Auffassung kommen kann, daß Hegel durch einen allzu engen Sprachbegriff die Möglichkeit verkürzt habe, daß das in theoretischer Reflexion nicht adäquat Aussagbare sich im dichterischen W o r t offenbaren könne. Vgl. J . Derbolav, Hegel und die Sprache, in: Sprache, Schlüssel zur Welt, a . a . O . , 75, vgl. 64. Vgl. ferner die m . E . an Hegel vorbeigehende Kritik auf den Seiten 76ff. Bei gründlicher Betrachtung als unzutreffend erweist sich wohl die Behauptung: „Hegel hat die Sprache nur als Tat der theoretischen Intelligenz begriffen und sich damit ihren praktischen Horizont verdunkelt; er hat sie zu sehr auf die wissenschaftliche Aussageform festgelegt und ist darum ihren übrigen Weisen der Sinnoffenbarung nicht gerecht geworden; die dichterische blieb in den vorsprachlichen Raum der Phantasie zurückverwiesen." ( A . a . O . , 78). 555 556 557
Darauf wird im Rahmen dieser Ausführungen nicht näher eingegangen werden können. Vgl. dazu Kap. 11,2 dieser Arbeit. L o g . II, 5 0 2 ; vgl. Kap. 11,3 dieser Arbeit.
170
I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Stellung um die E r i n n e r u n g ihrer G e s c h i c h t e reicher und durch diese erfüllt wird. Die Sprache der spekulativen Philosophie soll rücksichtlich dieses Sprachbildungsprozesses — gleichsam in deren Spiegel — betrachtet werden, der philosophische Begriff soll als der denkend erkannte Begriff der Wirklichkeit bzw. der Sprachlichkeit der vorgestellten Gestalten der Kunst und Religion gefaßt werden.
Die offenbare Religion 5 5 8 (Phä., Kap. V I I C , 5 2 1 - 5 2 6 )
Die Bewegung der Glieder des spekulativen Satzes der Kunst-Religion: Das Selbst (Subjekt) ist das absolute Wesen (Substanz)
Ist der Geist in der natürlichen Religion in der Form des Bewußtseins und in der künstlichen Religion in der Form des Selbstbewußtseins, 559 so ist er in der offenbaren Religion in der Form der Vernunft als spekulativer Vereinigung des Bewußtseins und des Selbstbewußtseins bzw. in der Form des Geistes. „Gott ist allein im reinen spekulativen Wissen erreichbar, und ist nur in ihm und ist nur es selbst, denn er ist der Geist; und dieses spekulative Wissen ist das Wissen der offenbaren Religion." 5 6 0 „Die Natur Gottes, reiner Geist zu seyn, wird dem Menschen in der c h r i s t l i c h e n R e l i g i o n o f f e n b a r . Was ist aber der Geist? Er ist das Eine, sich selbst gleiche Unendliche, die reine Identität, welche zweitens sich von sich trennt, als das Andere ihrer selbst, als das Fürsich- und Insichseyn gegen das Allgemeine. Diese Trennung ist aber dadurch aufgehoben, daß die atomistische Subjectivität, als die einfache Beziehung auf sich, selbst das Allgemeine, mit sich Identische ist. Sagen wir so, daß der Im Rahmen dieses Kapitels ist eine Würdigung von Hegels Ausführungen über die christliche Religion nicht möglich. Etwas näher betrachtet werden lediglich die ersten — insbesondere die ersten beiden — sich auf die vorangegangenen Ausführungen rückbeziehenden Absätze des Kapitels VII C . 559 Y g i phä., 480. 558
560
A . a . O . , 530.
Die Religion
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Geist die absolute Reflexion in sich selbst durch seine absolute Unterscheidung ist, die Liebe als Empfindung, das Wissen als der Geist, so ist er als der d r e i e i n i g e aufgefaßt: der Vater und der Sohn, und dieser Unterschied in seiner Einheit als der G e i s t . " 5 6 1 Vorgreifend wurde bereits mehrmals der Satz erwähnt, der den Leichtsinn des seiner vollkommen gewissen einzelnen Selbstbewußtseins ausspricht, in dem sich die Religion der Kunst vollendet hat: das Selbst ist das absolute Wesen. Auf diesen Satz kommt Hegel ausdrücklich erst zu Anfang des Kapitels über die offenbare Religion zu sprechen. Uberleitend zu den Ausführungen zum spekulativen Satz soll noch einmal versucht werden, durch eine kurze Betrachtung der Bewegung der Glieder dieses Satzes das Verhältnis von Natur-Religion, Kunst-Religion und absoluter Religion zu klären. 5 6 2 Der Satz (1), in dem das geistige Bewußtsein der natürlichen Religion ausgesprochen ist, lautet: Das absolute Wesen ist das Selbst. (Die göttliche Substanz ist das menschliche Subjekt). In diesem Satz, in dem der Akzent auf der Substanz (bzw. dem Wesen) liegt, ist die furchtbare göttliche Substanz — zunächst an sich oder für uns — zum Subjekt des Satzes, zum Satzgegenstand erhoben, und hat sich das zum Prädikat, zur Satzaussage heruntergesunkene menschliche Subjekt unterworfen. Der Satz (2), in dem das geistige Selbstbewußtsein der künstlichen Religion ausgesprochen ist, lautet u m g e k e h r t : Das Selbst ist das absolute Wesen. (Das menschliche Subjekt ist die göttliche Substanz). In diesem Satz, in dem der Akzent auf dem Subjekt (bzw. dem Selbst) liegt, ist umgekehrt das menschliche Subjekt zum Subjekt des Satzes erhoben 5 6 3 und „das Wesen, das Substanz und an dem das Selbst die Akzidentalität war, ist zum Prädikate heruntergesunken." 5 6 4 War es vorher das Selbst, das in der Wesenheit versunken war, so ist es jetzt die Wesenheit, die im Selbst versunken ist. Dieser Satz gehört „dem nichtreligiösen, dem wirklichen Geiste a n " 5 6 5 , der nicht mehr in der 561
S W Bd. 11, 415.
562 563
Vgl. Phä. Kap. VII C , Absätze 1 und 2, 5 2 1 / 2 ; vgl. auch Absatz 8, 5 2 5 / 6 . Zu Hegels Verwendung des H o m o n y m s „Subjekt" vgl. J . P. Surber, Hegel's Speculative Sentence, a . a . O . , 2 1 4 f . und 221 ff.
564
Phä., 521.
565
Ebenda.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
natürlichen Religion und noch nicht in der offenbaren Religion, sondern „der in der Kunstreligion das Bewußtsein seines absoluten Wesens h a t " . 5 6 6 Der Satz (3), in dem die geistige Vernunft der absoluten Religion ausgesprochen ist, lautet: Das absolute Wesen (die göttliche Substanz) ist das Selbst (das menschliche Subjekt). Der dritte Satz ist durch die Umkehrung der Umkehrung des ersten Satzes zunächst gleichlautend mit dem ersten Satz. Darin liegt die Gefahr, den dritten Satz einseitig mißzuverstehen und zu übersehen, daß der neue Satzgegenstand geworden ist durch eine spekulative Umkehrung des Bewußtseins. Gegenüber dem ersten Satz soll jedoch der Gegenstoß zwischen Form und Inhalt ins Bewußtsein gehoben werden, der zunächst einmal darin besteht, daß nicht das Subjekt (das Selbst), sondern die Substanz das Subjekt des Satzes ist. — In diesem dritten Satz liegt der Akzent sowohl auf der Substanz (dem Wesen), d.h. auf dem Satzgegenstand wie auf dem Subjekt (dem Selbst), d.h. auf der Satzaussage. In ihm soll das Wahre nicht nur als Substanz, sondern eben so sehr als Subjekt aufgefaßt und ausgedrückt werden. 567 (In diesem Gedanken erblickt H. Röttges das Zentrum der Hegeischen Philosophie. 568 Das Problem, die S u b s t a n z (das A l l g e m e i n e ) als S u b j e k t ( E i n z e l n e s ) zu bestimmen und umgekehrt ist das Problem des spekulativen Satzes, d.h. das Problem der Darstellung des Spekulativen. Nicht zuletzt diesem Problem ist die „Wissenschaft der Logik" gewidmet. 569 ) Zwar ist in dem dritten Satz auch die Substanz zum Satzsubjekt erhoben, aber so, daß dieser Satz „nicht an sich oder f ü r uns die Substanz zum Subjekte macht, oder was dasselbe ist, die Substanz so wiederherstellt, daß das Bewußtsein des Geistes zu seinem Anfange, der natürlichen Religion, zurückgeführt wird, sondern so, daß diese Umkehrung
566
A . a . O . , 490. B. Liebrucks erwähnt in seiner Interpretation (ders., Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, a . a . O . , 275) die Absätze 1 und 2 des Kapitels VII С nur kurz. E r knüpft dabei zunächst an den Satz der Kunstreligion an, um dann sogleich zum Satz der offenbaren Religion überzugehen. Bei Liebrucks heißt es: „Damit sind wir bei der Verwirklichung des spekulativen Satzes. W i r sind beim wirklichen Geist angelangt, der nicht mehr religiöser Geist ist. Das Herunterbringen der Substanz zum Prädikat ist zugleich die Erhebung der Substanz zum Subjekt. D i e s e E r h e b u n g w i r d j e t z t z u m e r s t e n Mal für das S e l b s t b e w u ß t s e i n und i n n e r h a l b seiner selbst v o l l b r a c h t .
5 6 7 Vgl. Phä., 19. 568 Yg] ders., Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 29. 5 6 9 Vgl. dazu D . Henrich, Hegels Logik der Reflexion, a . a . O . , 95ff. und 133ff.
Die Religion
173
f ü r und d u r c h das S e l b s t b e w u ß t s e i n selbst zustande gebracht wird." 5 7 0 Indem das Selbstbewußtsein sich mit Bewußtsein aufgibt, erhält es sich in seiner Entäußerung als Subjekt der Substanz, ohne jedoch wie das im zweiten Satz ausgesprochene Selbstbewußtsein, dem nichts mehr in der Form des "Wesens gegenübertritt, das Bewußtsein der Substanz zu verlieren. — Insofern wäre — trotz einiger Bedenken bezüglich der Einschätzung des Problems der Darstellung in der „Phänomenologie" — R. Heede zuzustimmen, wenn er sagt, daß das die Erfahrung der antiken Komödie resummierende Urteil „Das Selbst ist das absolute Wesen" kein spekulativer Satz ist. 5 7 1 Das gleiche wäre auch von dem Satz „Das absolute Wesen ist das Selbst" bzw. „Die Substanz ist Subjekt" zu sagen, insofern allerdings, als er nicht spekulativ als Resultat der doppelten (spekulativen) Umkehrung seiner selbst, sondern als gewöhnlicher Ausdruck des Bewußtseins der natürlichen Religion betrachtet wird. Im Hinblick auf Hegels Ausführungen über das Inhärenz- und das Subsumtionsverhältnis im Urteil 572 , auf das Heede kurz eingeht 573 , wäre vorgreifend anzudeuten, daß der Satz „Die Substanz ist Subjekt", spekulativ aufgefaßt, zum Ausdruck bringt, daß das Wahre die Substanz ist, der das Subjekt als Akzidenz inhäriert, e b e n s o s e h r aber umgekehrt das Subjekt ist, das die Substanz unter sich subsumiert, oder zunächst besser negativ gesagt, daß weder einseitig die Substanz als eine das Subjekt in sich befassende geglaubt werden kann — wie in der Naturreligion — noch einseitig das Subjekt als ein die Substanz unter sich befassendes — wie in der Kunstreligion —, weshalb die Spekulation in der offenbaren Religion gleichsam ein Gleichgewicht zwischen den Gliedern des Satzes als hergestellt betrachtet, vermittels dessen die Vereinigung beider als Harmonie hervorgeht. Insofern wird der Satz „Die Substanz ist Subjekt" als spekulativer Satz betrachtet. Das Subjekt der Substanz (genitivus objectivus) soll als Subjekt der Substanz (genitivus subjectivus) aufgefaßt werden. Durch die Aufgabe des Selbst (des menschlichen Subjekts) bringt das Selbstbewußtsein die göttliche Substanz als ein Subjekt hervor, das sein - des Selbstbewußtseins -
570 571 572 573
Phä., 521/2. Vgl. R. Heede, Die Dialektik des spekulativen Satzes, in: Hegel-Jahrbuch 1974, 288. Vgl. insbes. Log. II, 270/1 und dazu Kap. 11,2 dieser Arbeit. Vgl. R. Heede, Die Dialektik des spekulativen Satzes, a . a . O . , 282/3.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
eigenes Selbst bleibt. 5 7 4 Diese Selbstfindung in der Selbstaufgabe ist das Wesen der Liebe. Dieses besteht nämlich darin, „das Bewußtseyn seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und zu besitzen." S 7 S N u r in der Liebe allein ist man nach einem Wort des jungen Hegel eins mit dem Objekt, „es beherrscht nicht und wird nicht beherrscht. Diese Liebe, von der Einbildungskraft zum Wesen gemacht, ist die Gottheit "
576
Wenn in der christlichen Religion Gott als die Liebe gewußt wird, und zwar insofern, als er in seinem Sohn, der mit ihm Eines ist, als dieser einzelne Mensch sich den Menschen offenbart und diese dadurch erlöst hat, so ist nach Hegel damit auch ausgesprochen, daß der Gegensatz von Objektivität und Subjektivität an s i c h überwunden ist, und es unsere Sache ist, an dieser Erlösung dadurch teilzuhaben, daß wir von unserer unmittelbaren Subjektivität ablassen („den alten Adam auszuziehen") 5 7 7 und uns Gottes als unseres wahren und wesentlichen Selbst bewußt werden. — „ S o wie nun die Religion und der religiöse Kultus in der Ueberwindung des Gegensatzes von Subjektivität und Objektivität besteht, eben so hat auch die Wissenschaft und näher die Philosophie, keine andre Aufgabe als d i e , diesen Gegensatz durch das Denken zu überwinden." 5 7 8 In der christlichen Religion ist der Geist „ebenso B e w u ß t s e i n seiner als seiner g e g e n s t ä n d l i c h e n Substanz, wie einfaches, in sich bleibendes Selbst bewußt sein."579 Das Subjekt des dritten Satzes (das allgemeine Wesen) ist keines, dem das Prädikat (das einzelne Selbst) gewaltsam unterworfen wäre, es beherrscht nicht und wird nicht beherrscht; allgemeine Wesenheit und Selbst, die gleichwertig und gleichgewichtig sind, sind wechselseitig ineinander versunken. An sich ist damit das konkrete Allgemeine des Begriffs erreicht, von dem Hegel an einer bedeutenden Stelle in der Großen Logik sagt, daß es die „freie Macht" sei. „ . . . es ist es selbst und greift über sein Anderes über; aber nicht als ein G e w a l t s a m e s , sondern das vielmehr in demselben ruhig und bei s i c h s e l b s t ist. Wie es die freie Macht genannt worden, so könnte es auch die f r e i e L i e b e und s c h r a n k e n l o s e S e l i g k e i t genannt werden, denn es ist ein Verhalten seiner zu dem U n t e r 574 575 576 577 578 579
Vgl. Phä., 522. SW Bd. 13, 149. Frühe Schriften, 242. Vgl. u.a. SW Bd. 10, § 436 Zusatz, 290/1 und SW B d . 16, 227ff. SW Bd. 8, § 194 Zusatz 1, 404. Ebenda. Phä., 522.
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s c h i e d e n e n nur als zu sich s e l b s t ; in demselben ist es zu sich selbst zurückgekehrt." 580 Der Satz der offenbaren Religion ist als die Vereinigung und Durchdringung der ersten beiden Sätze aufzufassen. Der erste und der zweite Satz dürfen nicht in ihrer Einseitigkeit gegeneinander festgehalten werden; beide haben gleiches Recht und Unrecht. Ihre ganze Wahrheit aber besteht darin, daß beide w e c h s e l s e i t i g als Entgegnung aufeinander und gegenseitige Ergänzung anerkannt werden. Der reine Begriff, dessen Vorstellung nach Hegel Christus, der zum Menschen gewordene Gott ist, hat „die zwei Seiten an ihm, die oben als die beiden umgekehrten Sätze vorgestellt sind; die eine ist diese, daß die S u b s t a n z sich ihrer selbst entäußert und zum Selbstbewußtsein wird, die andre umgekehrt, daß das S e l b s t b e w u ß t s e i n sich seiner entäußert und zur Dingheit oder zum allgemeinen Selbst macht. Beide Seiten sind sich auf diese Weise entgegengekommen, und hiedurch (ist) ihre wahre Vereinigung entstanden. Die Entäußerung der Substanz, ihr Werden zum Selbstbewußtsein drückt den Übergang ins Entgegengesetzte, den bewußtlosen Ubergang der N o t w e n d i g k e i t oder dies aus, daß sie an sich Selbstbewußtsein ist. Umgekehrt die Entäußerung des Selbstbewußtseins dies, daß es an sich das allgemeine Wesen ist, oder — weil das Selbst das reine Fürsichsein ist, das in seinem Gegenteile bei sich bleibt, — dies, das f ü r es es ist, daß die Substanz Selbstbewußtsein, und ebendadurch Geist ist." 5 8 1 War also der Geist in der Naturreligion in der Form des Bewußtseins und in der Kunstreligion in der Form des Selbstbewußtseins, so ist er in der absoluten Religion in der Form der Einheit beider. Er hat die Gestalt des An- und Fürsichseins angenommen, und die Vorstellung dieses Anund Fürsichseins, oder dieses An- und Fürsichsein in der Form des Ansichseins ist die offenbare Religion. 582 Obwohl der Geist in der offenbaren Religion zu seiner wahren G e s t a l t gelangt, so ist nach Hegel eben die G e s t a l t selbst und die V o r s t e l l u n g noch die unüberwundene Seite, von der er in den B e g r i f f übergehen muß, um die Form der Gegenständlich580
Log. II, 242/3. Zum Begriff der freien Liebe vgl. den Aufsatz von E. Heintel, „Herr aller Dinge, Knecht aller Dinge" — Zum Begriff der Freiheit in philosophischer und theologischer Hinsicht, in: Sprache und Begriff, a . a . O . , 1 2 2 f f . , insbes. 140/1, w o Heintel auf den von Luther verwendeten Begriff der freien Liebe eingeht, ohne diesen Begriff allerdings ausdrücklich mit der hier wiedergegebenen Hegelstelle in Zusammenhang zu bringen. (Vgl. M. Luther, A n den christlichen Adel deutscher Nation und andere Schriften, hrsg. von E. Kahler, Stuttgart, 2. A u f l . 138f.).
581
Phä., 525.
582
Vgl. a . a . O . , 553, vgl. auch a . a . O . , 24.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
keit im spekulativen Begriff aufzulösen, der sich begreift, indem er sich in sich und in sein Gegenteil urteilt und dieses in sich schließt. „Alsdann hat der Geist den Begriff seiner selbst erfaßt, wie wir nur erst ihn erfaßt haben, und seine Gestalt oder das Element seines Daseins, indem sie der Begriff ist, ist er selbst." 583 Diese Form des Vorstellens macht die Bestimmtheit aus, in der der Geist in der christlichen Religion seiner bewußt wird. Sie ist noch nicht die Form des Denkens, des Begriffs als Begriffs. Der Inhalt ist schon der wahre, aber alle Momente haben als vorgestellte den Charakter, noch nicht begriffen zu sein. Daß der wahre Inhalt auch seine wahre Form für das Bewußtsein erhalte, dazu ist es notwendig, seine Anschauung bzw. Vorstellung der absoluten Substanz in den Begriff zu erheben „und f ü r es selbst sein Bewußtsein mit seinem Selbstbewußtsein auszugleichen, wie dies für uns oder an sich geschehen ist." 584 Kapitel VIII der „Phänomenologie" beginnt mit den Worten: „Der Geist der offenbaren Religion hat sein Bewußtsein als solches noch nicht überwunden, oder, was dasselbe ist, sein wirkliches Selbstbewußtsein ist nicht der Gegenstand seines Bewußtseins; er selbst überhaupt und die in ihm sich unterscheidenden Momente fallen in das Vorstellen und in die Form der Gegenständlichkeit." 585 Sind im Glauben der absoluten Religion die beiden Seiten der Naturreligion und der Kunstreligion in der Vorstellung vereinigt, so sind im absoluten Wissen der Philosophie die beiden Seiten der (absoluten) Religion und der Kunst im spekulativen Begriff vereinigt. In der spekulativen Philosophie sind gleichsam die beiden ,Stämme' unserer Erkenntnis, die christliche Religion und die griechische Kunst vereinigt. Es ist begrifflich zusammengebracht, daß die künstlerische Darstellung die ,Demonstration' der religiösen Vorstellung — und indirekt auch des philosophischen Begriffs — ist, und daß umgekehrt die religiöse Vorstellung — und indirekt auch der philosophische Begriff — die ,Exposition' der künstlerischen Darstellung ist. In der spekulativen Philosophie hat die Objektivität der Kunst die äußere Sinnlichkeit mit der höchsten Form des Objektiven, mit der Form des Gedankens vertauscht und die Subjektivität der Religion ist zur Subjektivität des Denkens gereinigt.586 Denken aber heißt Gedanken haben. 587 583 584 585 586 587
Phä., 480. A . a . O . , 532. A . a . O . , 549. Vgl. SW Bd. 12, 152. Vgl. SW Bd. 10, § 465, 359.
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
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3. Der spekulative Satz in der Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes" (Absätze 58-66, Phä., 48-54) Bemerkungen zu Hegels Begriff der Reflexion mit Rücksicht auf den Kantischen Begriff der reflektierenden Urteilskraft Das Hauptanliegen des einleitenden Kantkapitels bestand darin, durch den Versuch der immanenten Kritik einiger Kantischer Begriffe, die im Zusammenhang dieser Arbeit von entscheidender Bedeutung sind, zu einem Hegelverständnis hinzuführen, das nicht bei der bequemen Vorstellung stehenbleibt, die Kantische und die Hegeische Philosophie seien einfach gegensätzliche Positionen. S87a Hegels Anspruch ernst nehmen heißt, über den bloßen Buchstaben der von Hegel expressis verbis vorgetragenen Kritik an Kant hinaus, von der Arbeitshypothese auszugehen, daß beide Philosophien im Verhältnis von Kritik und Kritik der Kritik zueinander stehen. — Bei der Metakritik der Kantischen Position kam es darauf an, sich dieser nicht einfach ä u ß e r l i c h zu w i d e r s e t z e n , sondern sich vielmehr in diese zu v e r s e t z e n , um Hegels Dialektik als konsequente Weiterführung der Kantischen Kritik begreifen zu können. 588 Kant verstand unter spekulativen Sätzen 589 vernünftelnde Lehrsätze, in denen etwas von einem Gegenstand prädiziert wird, zu dem man in keiner Erfahrung gelangen kann, Sätze, in denen etwas über einen Gegenstand ausgesagt wird, ohne daß ausgemacht wäre, ob er ein t a t s ä c h l i c h bestehender, oder bloß ein vorgespiegelter, durch Vergegenständlichung erschlichener, n o m i n e l l bestehender Gegenstand ist. Genauer gesagt: Unter spekulativen Sätzen im Kantischen Sinn waren Sätze zu verstehen, deren Satzgegenstand eine bloße V o r a u s s e t z u n g (Supposition) ist, die als solche nur eine Aussage zuließe, die nichts weiter sein dürfte als eine A n a l y s e der im Satzsubjekt enthaltenen Teilbegriffe, eine bloße A u s e i n a n d e r s e t z u n g seiner Implikate zum Zwecke der V e r d e u t l i c h u n g . Solche Sätze dürften höchstens per analogiam so betrachtet werden, als ob es sich bei ihnen um eine auf dem Boden des tatsächlichen G e s e t z t s e i n s (der Posi587a Vgl. G. Maluschke, Kritik und absolute Methode in Hegels Dialektik, Bonn 1974, 206ff. see v g l . J. Simon, Das Problem der Sprache bei Hegel, a. a. Ο . , 201. Daß die Notwendigkeit und Wirklichkeit dialektischen Denkens nur auf dem Weg über die äußerste Konsequenz Kants zu gewinnen ist, ist eine für die Arbeit von B. Liebrucks entscheidende Einsicht. Vgl. u . a . ders., Sprache und Bewußtsein, Bd. 4, Vorwort, XII; vgl. insbes. die Schlußbemerkung zu den bisher in Bd. 4 und 5 behandelten Texten, in: Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 295-316. 589 Vgl. den dritten Teil der Einleitung dieser Arbeit.
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tion) des Subjekts stattfindene Z u s a m m e n s e t z u n g ( S y n t h e s e ) von Subjekt und Prädikat handelte, die eine objektive B e d e u t u n g hat, keinesfalls aber dürften — wie es im spekulativen Satzgebrauch freilich geschieht — N a m e n als S a c h e n erschlichen werden, dürfte bloß s y n t a k t i s c h e n B e z i e h u n g e n einfach eine r e a l e B e d e u t u n g unterstellt werden. Kants Kritik galt der spekulativen — sich in solchen „spekulativen Sätzen" 590 artikulierenden — Vernunft, um durch die Aufklärung unserer Vernunftbegriffe die auf dem Ozean des Scheins, „wo manche Nebelbank und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt" 5 9 1 , herumschwärmende spekulative Vernunft, die von ihren Begriffen hypostatischen Gebrauch macht, auf die Grenzen der verständigen Vernunft zu restringieren, die von ihren Begriffen nur hypothetischen, den Verstand regulierenden Gebrauch macht und auf dem einheimischen Boden empirischer Erkenntnis bleibt. Kritik der Vernunft in Hinsicht auf ihre Dialektik hieß vor allem Unterscheidung des konstitutiven (spekulativen) vom regulativen (verständigen) Vernunftgebrauch. Es zeigte sich nun, daß der Versuch, die regulativ gebrauchte Vernunft als reflektierende Urteilskraft, die spekulativ gebrauchte Vernunft dagegen als die fälschlicherweise als bestimmende Urteilskraft auftretende reflektierende Urteilskraft zu begreifen, insofern eine besondere Bedeutung für das Verständnis der spekulativen Philosophie Hegels als Metakritik der Transzendentalphilosphie Kants gewinnt, als Hegel die Dialektik der unter ein Allgemeines subsumierenden bestimmenden Urteilskraft und der ein Allgemeines präsumierenden ästhetisch bzw. teleologisch reflektierenden Urteilskraft, die ihr Prinzip nach Kant im Unterschied zur bestimmenden Urteilskraft nicht als Gesetz, sondern nur als notwendige Voraussetzung geltend machen kann, am Anfang der Wesenslogik als Dialektik von setzender und äußerer Reflexion durchgeführt hat. (Hegel hat bekanntlich das Wahrnehmen als die nähere Stufe des Bewußtseins bezeichnet, auf welcher die Kantische Philosophie den Geist auffasse. 592 Als wahrnehmendes Bewußtsein hat sich der Geist vom Sein auf die Stufe des Wesens oder der Reflexion erhoben. 593 Die Ausführungen über die Reflexion zu Anfang der Wesenslogik, in denen Hegel ausdrückVgl. Kants Schriften. W e r k e IX, Logik, 86. K . r . V . , A 235/ В 295 (287). 5 9 2 Vgl. S W Bd. 10, § 420, 267. 593 Vgl. Log. II, 223/4 und dazu die Bemerkungen über eine mögliche Korrelation der Momente der Wissenschaft der Logik und der Gestalten des erscheinenden Geistes in Kapitel I, 1 dieser Arbeit. 590 591
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lieh auf die Kantische Entgegensetzung der bestimmenden und der reflektierenden Urteilskraft eingegangen ist, können insofern als geeigneter logischer O r t angesehen werden, auf das kritische Geschäft zurückzukommen, das Kant mit seiner Kritik der Urteilskraft als beendet ansah. 594 ) Die Reflexion im allgemeinen ist nach Hegel der seiner Unmittelbarkeit entfremdete Schein. 595 Im Zusatz zu § 112 der „Enzyklopädie" von 1830 wird ausgeführt, daß der Ausdruck Reflexion zunächst vom Licht gebraucht wird, insofern es auf eine spiegelnde Fläche trifft und von ihr zurückgeworfen wird. „Wir haben somit hier ein Gedoppeltes, einmal ein Unmittelbares, ein Seyendes und dann zweitens dasselbe als ein Vermitteltes oder Gesetzes." 596 „Die Reflexion des Lichts besteht darin, daß seine Strahlen, die für sich in gerader Linie sich fortpflanzen würden, von dieser Richtung abgelenkt werden. — Der Geist hat Reflexion. Er ist nicht an das Unmittelbare gebunden, sondern vermag darüber zu etwas Anderem hinauszugehen; z.B. von einer Begebenheit zur Vorstellung ihrer Folge oder einer ähnlichen Begebenheit oder auch ihrer Ursache. Indem der Geist auf etwas Unmittelbares hinausgeht, hat er dasselbe von sich entfernt. Er hat sich in sich reflectirt. E r ist in s i c h g e g a n g e n . " 5 9 7 Von dieser Reflexion sagt Hegel in der „Propädeutik" weiter, daß sie „eigentlich nur eine r e l a t i v e " sei, da sie zwar über etwas Endliches hinausgehe, aber immer wieder zu etwas Endlichem komme, während sich die „ a b s o l u t e Reflexion" über diese ganze Sphäre des Endlichen erhebe. 598 Endlichkeit besteht nach Hegel überhaupt darin, daß etwas eine Grenze hat, d . h . daß hier sein Nichtsein gesetzt ist oder daß es hier aufhört, daß es sich hiermit also auf etwas Anderes bezieht. „Die u n e n d l i c h e Reflexion aber besteht darin, daß ich mich nicht mehr auf etwas Anderes, sondern auf mich selbst beziehe oder mir selbst Gegenstand bin. Diese r e i n e Beziehung auf mich selbst ist das I c h , die Wurzel des unendlichen Wesens selbst." 599 Mit der „absoluten Reflexion aus dem Endlichen in sich" befinden wir uns (an sich) „im Felde des Begriffes", „im Gebiete der freien Unendlich-
594
Vgl. Log. II, 18ff., Anm. 595 Vgl. а. а. O . , 13 und die Bemerkung zum Begriff des Scheins in Kapitel I, 2 dieser Arbeit. 596 SW Bd. 8, § 112 Zusatz, 262. 597 SW Bd. 3, § 11, 40/1. 598 Vgl. a . a . O . , § 12, 42. 599 A . a . O . , 42/3.
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keit und Wahrheit", 6 0 0 d.h. im Gebiet der Spekulation. Die absolute Reflexion ist die wahrhaft unendliche (infinite) Reflexion. Das „Ich = Ich" ist die sich in sich reflektierende, nur in sich selbst zurückgehende Bewegung des Begriffs. 6 0 1 Diese reflektierende Bewegung ist zu fassen als „ a b s o l u t e r G e g e n s t o ß " 6 0 2 der sich als (einseitige, isolierte) Reflexion auflösenden und selbst zerstörenden Reflexion. 6 0 3 Diese absolute Reflexion bestimmt sich nun folgendermaßen fort: „Sie ist e r s t l i c h s e t z e n d e R e f l e x i o n ; sie macht z w e i t e n s den A n f a n g von dem v o r a u s g e s e t z t e n U n m i t t e l b a r e n und ist so ä u ß e r l i c h e Reflexion. D r i t t e n s aber hebt sie diese Voraussetzung auf, und indem sie in dem Aufheben der Voraussetzung z u g l e i c h voraussetzend ist, ist sie b e s t i m m e n d e Reflexion." 6 0 4 Die Vollendung der absoluten Reflexion als totaler Reflexion 605 , als Doppelreflexion ist die bestimmende Reflexion, die Einheit der inneren und der äußeren Reflexion. 6 0 6 Die bestimmende Reflexion ist kein U n b e g r i f f , was sie zunächst von Kant aus gesehen zu sein scheint, sondern ist vielmehr zu b e g r e i f e n als diese contradictio in adjecto, als solche, die sich in sich selbst widerspricht und auflöst, als der „absolute Gegenstoß" des Begriffs in sich. 6 0 7 In der aus der Vereinigung der inneren und der äußeren Reflexion hervorgehenden sich selbst bestimmenden Doppelreflexion 608 ist das Begrifflose der reflektierenden Urteilskraft Kants — gedacht ist hier vor allem an die ästhetische Reflexion als besonderes Vermögen — als das Außersichsein und das Log. II, 318. Vgl. Phä., 458 und 560, vgl. auch die Ausführungen über das unendliche Urteil in Kap. II, 2 dieser Arbeit. 6 0 2 Log. II, 16. 6 0 3 Vgl. SW Bd. 1, Differenzschrift, „Reflexion als Instrument des Philosophirens", 50ff., wo der junge Hegel die Vernichtung und Selbstzerstörung als die Wahrheit der „isolirten Reflexion" bezeichnet. Vgl. insbes. 52 und 54. Die isolierte Reflexion kann als die negative, nur dialektische bzw. antinomische Seite der Spekulation angesehen werden. Vgl. SW Bd. 1, 66/7. 6 0 4 Log. II, 14. 605 Vgl. z u diesem Terminus a . a . O . , 243 und 392. 6 0 6 Vgl. a . a . O . , 20ff. 607 v g i . Hegels Ausführungen über die zugrundegehende Reflexionsbestimmung, a . a . O . , 63. бое Wollte man zur Hilfe für den Verstand die absolute Doppelreflexion des Wesens von der absoluten Doppelreflexion des Begriffs trennen — wobei es sich um eine Trennung handelte, die ebenso fiktiv wäre wie die Trennung von dialektischer und spekulativer Vernunft — so könnte man die Reflexion der Reflexion — hier verstanden als Vorstellung der Vorstellung — als Begriff des Begriffs in der Bestimmung der Unmittelbarkeit und des Ansichseins ansehen, oder anders gesagt: der Begriff des Begriffs wäre zu fassen als Einsicht in die Reflexion der Reflexion als Reflexion der Reflexion. 600
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Andere des Begriffs ein Moment der reflektierenden Bewegung des Begriffs. Die absolute Reflexion des Begriffs, d.h. die spekulative Komprehension könnte so — von Kant herkommend — auch als die aus der Dialektik von „comprehensio logica" und „comprehensio aesthetica" entspringende Bewegung des Begriffs gefaßt werden. Diese Dialektik wird als die Dialektik des Allgemeinen und des Einzelnen, sowie als die Dialektik von Begriff und Anschauung noch näher zu betrachten sein. 6 0 9 Zunächst sollte durch die umständliche Betrachtung der Sprachlichkeit der verschiedenen Gestalten der Kunst auf die Einsicht vorbereitet werden, daß die a n s c h a u e n d e Betrachtung des Schönen als Moment der d e n k e n d e n Betrachtung des Spekulativen zu fassen ist, als Moment des b e g r e i f e n d e n A n s c h a u e n s des im Einzelnen bestimmten, konkreten Allgemeinen als des spekulativen Sinnes oder der spekulativen Idee. Die Besonderung und Entgegensetzung des Allgemeinen und des Einzelnen wie auch die Ubersetzung des begreifenden Denkens in die Anschauung geschieht vermittels der Sprache. Im Unterschied zu Kant, für den die Sprache „Bezeichnung der Gedanken" ist, das größte „Mittel, sich selbst und andere zu verstehen" 6 1 0 , kann nach Hegel die Sprache nicht auf worthafte Äußerungen eines Allgemeinen reduziert werden, nicht einseitig als allgemeines Ausdrucks- oder Bezeichnungsmittel betrachtet werden, als ein bloß Akzidentelles und Äußerliches. Obgleich einige Stellen im Werk Hegels zunächst Anlaß zu der Vermutung geben mögen, Hegel habe die Sprache nur als Vehikel begriffen 611 , muß es nach einer systematischen Betrachtung als Mißverständis bezeichnet werden, Hegel eine „mechanistische Sprachtheorie" 612 unterstellen zu wollen. 6 1 3 In den vorangehenden Ausführungen des ersten Kapitels sollte vor allem deutlich gemacht werden, daß bei Hegel, der das Urteil bzw. den Satz 6 1 4 als „ A u f s c h l u ß " , als Entschluß des Allgemeinen zum gemeinten (vorausgesetzten) Einzelnen 615 , als Im-Begriff-Sein des Prädikats zum
609 610 611 612 6,3
614 615
Vgl. Kap. 11,2 und 11,3 dieser Arbeit. Kants Schriften. Werke VII, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 39, 192. Vgl. P. Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie, 1. Bd., a . a . O . , 396/7 und 4 7 3 - 4 8 8 . A . a . O . , 397. Der von Szondi erwähnten Korrektur der Hegeischen Sprachkonzeption durch Th. A. Meyer, Das Stilgesetz der Poesie, Leipzig 1901 bedarf es m.E. nicht. Vgl. P. Szondi, Poetik und Geschichtsphilosophie, 1. Bd., 485—488. Zur Unterscheidung von Urteil und Satz vgl. Kap. 11,2 dieser Arbeit. Vgl. Log. II, 275.
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Subjekt (und vice versa) begreift 616 , Sprache nicht bloß als Mittel zum Zweck nachträglicher Gedankenbezeichnung ist, daß Sprache nicht in verbaler Ä u ß e r u n g zum Zweck einer a l l g e m e i n e n M i t t e i l u n g , im wörtlich A u s g e s p r o c h e n e n aufgeht, sondern daß zu begreifen ist, daß durch die Sprache umgekehrt auch die e i n z e l n e E r i n n e r u n g des u n v e r m i t t e l t A n s p r e c h e n d e n möglich wird, daß Sprache insofern also auch als Vermittlerin der Aufgeschlossenheit für das Unausgesprochene, Unvermittelte und E i n z i g a r t i g e der Kunst gefaßt werden muß. Zur Betrachtung der Ausführungen Hegels zum spekulativen Satz in der Vorrede zur „Phänomenologie" übergehend zeigt sich rückblickend zunächst, daß der absolute Gegenstoß der reflektierenden Bewegung der absoluten, sich selbst zur i n n e r e n wie zu ä u ß e r e n Reflexion bestimmenden Reflexion der Gegenstoß ist, den das vorstellende Denken dadurch erleiden wird, daß das Prädikat substantielle Bedeutung annimmt, in der das Satzsubjekt zerfließt. Die reflektierende Bewegung der inneren (setzenden) bzw. der äußeren (voraussetzenden) Reflexion wird sich als die dialektische — sich um die Kopula gleichsam wie um eine Achse drehende — Bewegung des Prädikats bzw. des Subjekts des Satzes ergeben, als das wirkliche Spekulative. (Die Kopula könnte auch als schwebende Mitte oder als Anhaltspunkt betrachtet werden, in dem S und Ρ gleichsam v e r k n o t e t sind. 6 1 7 ) Die Erfahrung, die durch eine Umkehrung, eine zweite nachkantische Revolution der Denkart des natürlichen Bewußtseins gemacht wird, das an dem ruhenden Subjekt als der Substanz seinen festen Boden zu haben glaubte und an den Prädikaten oder Akzidenzen fortlief, ist die in der sich durch die Sprache selbst bestimmenden Reflexion des Begriffs gemachte Erfahrung des (Positiv-) Vernünftigen. 618 Diese Erfahrung der Ubersetzung des Satzgegenstandes in die Satzaussage ergab sich an sich schon in der offenbaren Religion als die Erfahrung der Verwandlung bzw. der ,Transsubstantiation' 619 der Substanz in das Subjekt. Die Anstrengung des Begriffs, auf die es beim Studium der Wissenschaft der Erfahrung des Bewußtseins ankommt, besteht darin, das Wahre nicht als Satzsubjekt, sondern ebensosehr als Prädikat aufzufassen und auszudrücken. 620 616 617 618
Vgl. dazu Kap. 11,2 dieser Arbeit. Vgl. dazu weiter unten. Vgl. Phä., 47, wo Hegel die logische Notwendigkeit allein als das Vernünftige oder das Spekulative bezeichnet.
V g l . ' B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 18/9, 71, 362 und 3 8 7 / 8 . его v g l . Vorrede zur „Phänomenologie", Absatz 17 und Absatz 58, 19 und 48. 619
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Weder ist bei der Unmittelbarkeit des Wissens stehenzubleiben, die das Denken als Denken, die Allgemeinheit als solche festhält (und ihr B e w u ß t s e i n verloren hat), noch bei der Unmittelbarkeit für das Wissen, die die Einzelheit festhält und in der das S e l b s t b e w u ß t s e i n untergegangen ist. D e r Geist ist weder nur das Zurückziehen des Selbstbewußtseins in seine reine Innerlichkeit, noch die bloße Versenkung desselben in die Substanz. E r ist vielmehr „ d i e s e B e w e g u n g des Selbsts, das sich seiner selbst entäußert und sich in seine Substanz versenkt, und ebenso als Subjekt aus ihr in sich gegangen ist, und sie zum Gegenstande und Inhalte macht, als es diesen Unterschied der Gegenständlichkeit und des Inhalts a u f h e b t . " 6 2 1 Das Ich hat weder nur an der sich von der Substanz unterscheidenden und über sie erhebenden Identität des geistigen S e l b s t b e w u ß t s e i n s festzuhalten — wie es in dem Satz: „Das S e l b s t ist das absolute Wesen" oder „Das absolute Wesen ist das S e l b s t " zum Ausdruck kam — noch an dem sich mit der Substanz identifizierenden in sie versenkenden und den Unterschied beider verwerfenden geistigen B e w u ß t s e i n — wie es in dem Satz: „Das a b s o l u t e W e s e n ist das Selbst" zum Ausdruck kam, „sondern das Wissen besteht vielmehr in dieser scheinbaren Untätigkeit, welche nur betrachtet, wie das Unterschiedne sich an ihm selbst bewegt, und in seine Einheit zurückkehrt." 6 2 2 — wie es in dem Satz: „Das a b s o l u t e W e s e n (die göttliche Substanz) ist das S e l b s t (das menschliche Subjekt)" zum Ausdruck kommen soll. Dabei kommt es jedoch noch darauf an, ob das Denken als spekulativ-begreifendes Denken in diesem dritten — ohne die Zutat der Betonung mit den beiden ersten Sätzen gleichlautenden -
Satz
die Substanz ebensosehr als Subjekt, wie das Subjekt als Substanz betrachtet und auffaßt, oder ob es in die träge Einfachheit und Einseitigkeit zurückfällt, d . h . es kommt noch darauf an, ob der Satz im spekulativen Sinne gebraucht wird bzw. ob der spekulative Geist des Satzes erfaßt wird — eine Bemerkung, die erst in der Folge ihre Aufklärung erwartet. Diese denkende Betrachtung,
die der Tätigkeit sich zu enthalten
scheinend die Bewegung des Begriffs betrachtet, ist die philosophische Spekulation, die weder gegenstandslose leere Anschauung, eitle Selbstbespiegelung ist, noch gegenstandsloser leerer Begriff, falsche Vorspiegelung eines durch Vergegenständlichung (Hypostasierung hier verstanden als Substantivierung) erschlichenen Satzgegenstandes, sondern begreifendes Phä., 561. « 2 Ebenda 621
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Anschauen, das hier — zunächst wiederum bildlich gesprochen — als Widerspiegelung des Satzsubjekts im Satzprädikat zu betrachten ist.
Die Absätze 58-66 der Vorrede (Phä., 48-54) Zu den Ausführungen Hegels über den spekulativen Satz in der Vorrede zur „Phänomenologie" kann man im engeren Sinn die Absätze 58 bis einschließlich 66 623 zählen. Sollte es richtig sein, daß die Vorrede „der philosophisch dichteste und zugleich für Hegels ganze Philosophie wichtigste programmatische Text ist" 624 , so gilt dies wohl insbesondere für die Absätze 58 bis 66. 625 So hat B. Liebrucks m.E. zu Recht im spekulativen Satz das Zentrum der Hegeischen Philosophie erblickt. 626 Ich möchte mich in meiner Interpretation vor allem auf Absatz 61 627 konzentrieren, der nicht nur einige Anknüpfungspunkte an die kunstphilosophischen Erörterungen des vorigen Teils dieser Arbeit enthält, sondern mir vor allem der beste Ausgangspunkt zu sein scheint für eine über die „Phänomenologie" hinausgehende Weiterführung der Betrachtungen zum spekulativen Satz durch die Heranziehung entsprechender Textstellen der „Wissenschaft der Logik". 628 Es soll gezeigt werden, daß das in der Vorrede expressis verbis thematisierte Problem des spekulativen Satzes sowohl im Rückgriff auf die Ausführungen der „Phänomenologie" wie auch im Vorgriff auf Ausführungen der „Logik" zu verdeutlichen ist. Das Verhältnis von Inhalt und Form wird in der Untersuchung dieses Problems der spekulativen Darstellung und Methode eine entscheidende Rolle spielen. Zunächst wird, ausgehend von den Absätzen 58ff. der Vorrede zur „Phänomenologie" das Verhältnis des Inhalts und der Form der U r t e i l e 623 624
625
626
627 628
A.a.O., 48-54. H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 7, vgl. bereits B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, a . a . O . , 319. Vgl. H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 39. Vgl. vor allem die erhellende Interpretation dieser Absätze, a . a . O . , Kapitel V, Die methodologische Bedeutung der Darstellungsproblematik: spekulativer Satz und absoluter Unterschied, 63—89. Vgl. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, a . a . O . , Bd. 5, 387. In Band 5 von Sprache und Bewußtsein geht es Liebrucks um „die Bestimmung des m e n s c h l i c h e n Denkens als existierender spekulativer Satz." ( A . a . O . , VII). Phä., 51. Vgl. Kap. II dieser Arbeit.
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bzw. S ä t z e beleuchtet, später dann, ausgehend von der Vorbetrachtung über das Urteil in der „Logik", das Verhältnis des Inhalts und des Umfanges der B e g r i f f e d e r S a t z t e i l e . 6 2 9 In A b s a t z 58 der Vorrede unterscheidet Hegel zunächst das f o r m a l e , r ä s o n n i e r e n d e D e n k e n einerseits, das in der Freiheit von dem Inhalt und der „Eitelkeit über ihn" 6 3 0 sein Bestehen hat und dem deshalb die Anstrengung zugemutet wird, diese Freiheit aufzugeben „und statt das willkürlich bewegende Prinzip des Inhalts zu sein, diese Freiheit in ihn zu versenken, ihn durch seine eigne Natur, d.h. durch das Selbst als das seinige, sich bewegen zu lassen und diese Bewegung zu betrachten" 6 3 1 und das m a t e r i e l l e D e n k e n andererseits, „das in den Stoff nur versenkt ist, welchem es daher sauer ankommt, aus der Materie zugleich sein Selbst rein herauszuheben und bei sich zu sein" 632 von dem begreifenden Denken, das sich des „eignen Einfallens in den immanenten Rhythmus der Begriffe" 633 entschlägt. 634 Dieses philosophische, begreifende Denken, die absolute Reflexion des Begriffs, wird also weder bloß f o r m a l e s D e n k e n , ä u ß e r e sich über den Inhalt erhebende R e f l e x i o n , noch bloß i n h a l t l i c h e s D e n k e n sein, i n n e r e , sich in den Inhalt versenkende R e f l e x i o n , sondern vielmehr ein Denken, dessen Rhythmus aus der Kollision der den Unterschied von Subjekt und Prädikat in sich schließenden Form des Satzes mit dem philosophischen Inhalt, der Einheit des Begriffs resultiert. Es wird sich zeigen, daß der spekulative Gehalt, der philosophische oder a b s o l u t e I n h a l t , der zugleich die a b s o l u t e F o r m ist, die vernünftige Identität, die Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat ist, während der von seiner Form i s o l i e r t e I n h a l t als bloße Identität von Subjekt und Prädikat verstanden wird, die i s o l i e r t e ( ä u ß e r e ) F o r m dagegen als solche, die die Verschiedenheit von Subjekt und Prädikat zeigt. Sie zeigt übrigens auf das Verhältnis der Verschiedenheit der Satzteile gerade vermittelst der Kopula, der Kopula nämlich, durch die als äußerliche, inhaltsleere nicht die ganze lebendige Einheit der Satzglieder zum Ausdruck gebracht werden kann. Das spekulative Wissen des begreifenden Denkens ist im Unterschied zum materiellen, in den Inhalt versenkten Denken einerseits, wie auch zum 629 630 631 632 633
634
Vgl. Kap. 11,2 dieser Arbeit. Phä., 48. Ebenda. Ebenda. Ebenda. Zum Rhythmus der wissenschaftlichen Methode vgl. auch a . a . O . , 47 und Log. I, 36. Vgl. Phä., Absatz 53, 45.
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formalen, über den Inhalt erhobenen Denken andererseits als das immanente Selbst des Inhalts in den Inhalt versenkt und als Sichselbstgleichheit im Anderssein bei diesem Zusammensein mit dem Selbst des Inhalts zugleich in sich zurückgekehrt. 6 3 5 Rückblickend auf die Ausführungen im zweiten Teil dieses Kapitels kann also davon ausgegangen werden, daß die Gestalt des g e i s t i g e n B e w u ß t s e i n s der i n n e r e n R e f l e x i o n des m a t e r i e l l e n D e n k e n s , die Gestalt des g e i s t i g e n S e l b s t b e w u ß t s e i n s
der ä u ß e r e n
Reflexion
des f o r m a l e n D e n k e n s und die Gestalt der g e i s t i g e n V e r n u n f t der sich b e s t i m m e n d e n
Reflexion
des b e g r e i f e n d e n
Denkens
ent-
spricht. Das räsonnierende Denken verhält sich nun teils negativ, teils positiv zu seinem Inhalt. In beiden Fällen reflektiert es äußerlich. In A b s a t z 59 wird das negative Verhalten des Räsonnierens charakterisiert als die Eitelkeit der (äußeren) Reflexion, die „überhaupt nicht in der Sache, sondern immer darüber hinaus" 6 3 6 ist, die „ihre Negativität selbst nicht zum Inhalte gewinnt" und so das Negative ist, „das nicht das Positive in sich e r b l i c k t " 6 3 7 , während im begreifenden Denken das Negative dem Inhalt selbst angehört und „sowohl als seine i m m a n e n t e Bewegung und Bestimmung, wie als G a n z e s desselben das P o s i t i v e " 6 3 8 ist. „Als Resultat aufgefaßt ist es das aus dieser Bewegung herkommende, das b e s t i m m t e Negative und hiemit ebenso ein positiver I n h a l t . " 6 3 9 Diese bestimmte Negation ist die negierte Negation, die absolute Negativität der reflektierenden Bewegung des begreifenden Denkens. Im positiven Verhalten des Räsonnierens, von dem Hegel in A b s a t z 60 handelt, ist „das Selbst ein vorgestelltes S u b j e k t , worauf sich der Inhalt als Akzidens und Prädikat bezieht. Dies Subjekt macht die Basis aus, an die er geknüpft wird und auf der die Bewegung hin und wieder l ä u f t . " 6 4 0
635
Vgl. Phä., Absatz 54, 46.
636
A . a . O . , 49.
637
Ebenda. Zum Spekulativen als dem Fassen des Positiven im Negativen vgl. L o g . I, 3 5 / 6 und 38. Vgl. auch L o g . II, 4 9 5 .
638
Phä., 49. Ebenda.
639 640
Ebenda. Auch in der „Wissenschaft der L o g i k " ( L o g . II, 4 9 4 ) beschreibt Hegel die begrifflose Betrachtung und führt aus, daß ein solches „äußerliches und fixes Subjekt der Vorstellung und des Verstandes", sowie die abstrakten Bestimmungen in F o r m von Prädikaten nicht als sicher zugrunde liegenbleibende angesehen werden können, sondern an und für sich selbst der Dialektik unterliegen müssen.
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Im begreifenden Denken dagegen hat sich das sonst als „fester Punkt" 6 4 1 vorausgesetzte Selbst in den Inhalt hineinversetzt, bzw. in ihn übersetzt, ist auf ihn übergesprungen und ist als dieses auf den Inhalt eingelassene, in ihn eingegangene und in ihm seine Basis findende Selbst das Selbst des Inhalts, das nicht als Satzgegenstand dem Prädikat gegenüber stehenbleibt. Dieses selbst als das sich zum Prädikat ,entschließende' und mit ihm vermittelnde und zusammenschließende Subjekt könnte die erfüllte Mitte von beiden genannt werden. 6 4 2 „Indem der Begriff das eigene Selbst des Gegenstandes ist, das sich als s e i n W e r d e n darstellt, ist es nicht ein ruhendes Subjekt, das unbewegt die Akzidenzen trägt, sondern der sich bewegende und seine Bestimmungen in sich zurücknehmende Begriff. In dieser Bewegung geht jenes ruhende Subjekt selbst zugrunde; es geht in die Unterschiede und den Inhalt ein und macht vielmehr die Bestimmtheit, d.h. den unterschiednen Inhalt wie die Bewegung desselben aus, statt ihr gegenüberstehen zu bleiben. Der feste Boden, den das Räsonnieren an dem ruhenden Subjekte hat, schwankt also, und nur diese Bewegung selbst wird der Gegenstand." 6 4 3 Das Subjekt, das seinen Inhalt erfüllt, kann hier verstanden werden als das Einzelne der Anschauung, das das Allgemeine des Begriffs erfüllt, das ohne Anschauung leer bliebe. Dieses Subjekt, das sich ganz in seinen Inhalt versenkt, bzw. in seinem Inhalt aufgeht, hört auf, substantielles (erstes) Subjekt zu sein, das nur pro forma eine äußerliche Verbindung mit dem Prädikat eingeht und noch andere Akzidenzen hat. Umgekehrt hört der von seinem Subjekt ganz erfüllte Inhalt auf, ein abstraktes Allgemeines zu sein, das mehreren Subjekten als Akzidenz zufällig zukommt. Als spekulatives Prädikat, als konkretes Allgemeines bekommt es vielmehr eine wesentliche, substantielle Bedeutung. Zumindest ebensosehr wie von einer Erfüllung des Prädikats durch das Subjekt könnte wohl davon gesprochen werden, daß die gegenstandslose leere Anschauung des formellen Subjekts durch den Inhalt erfüllt wird und das Subjekt als wissendes Subjekt von seinem Inhalt als dem konkreten Begriff erfüllt ist. In diesem Sinne kommentiert Liebrucks: „Das Subjekt ist in seinem Inhalt versenkt, er erfüllt es, und daher hat es nicht noch andere Prädikate als dieser Inhalt. Der Inhalt „ist nicht das Allgemeine, das frei
641 642 643
Phä., 23. Vgl. SW Bd. 22, H. Glockner, Hegel, 2. Bd., 466, Glockners Kommentar zu Absatz 60. Phä., 49/50.
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vom Subjekte mehrern zukäme". Das ist die Genese des spekulativen Satzes." 6 4 4 In A b s a t z 60 6 4 S heißt es weiter: „Das Subjekt, das seinen Inhalt erfüllt, hört auf, über diesen hinauszugehen, und kann nicht noch andere Prädikate oder Akzidenzen haben." R. Heede, der die Notwendigkeit erkannt hat, bei der Erörterung des spekulativen Satzes auf die Logik des Urteils einzugehen und in diesem Zusammenhang auch den Umschlag vom Aspekt der Urteils-Subsumtion zum Aspekt der Urteils-Inhärenz erwähnt — worauf in Kapitel 11,2 dieser Arbeit ausführlich eingegangen werden wird — sieht in diesem Satz der Vorrede bereits die Aufhebung der Inhärenz des Prädikats im Subjekt, in dem folgenden Satz dagegen die Aufhebung der Subsumtion des Subjekts unter das Prädikat angesprochen, 646 von denen ausdrücklich zuerst in der Vorbetrachtung über das Urteil in der „Wissenschaft der Logik" 6 4 7 die Rede ist. Die folgenden Sätze des Absatzes 60 lauten: „Die Zerstreutheit des Inhalts ist umgekehrt dadurch unter das Selbst gebunden; er 6 4 8 ist nicht das Allgemeine, das frei vom Subjekte mehrern zukäme. Der Inhalt ist somit in der Tat nicht mehr Prädikat des Subjekts, sondern ist die Substanz, ist das Wesen und der Begriff dessen, wovon die Rede ist." 6 4 9 Wäre man bereit, an dieser Stelle, an der vom Wesen und vom Begriff die Rede ist 6 5 0 , die Ausdrücke „Begriff" und „Wesen" als noch mehr oder weniger synonym anzusehen und anstelle des „ u n d " ein (nicht ausschließendes) „oder" zu lesen 651 , so könnte man wohl den spekulativen Satz auch als „ p h i l o s o B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 16. Phä., 50. — Da es in diesen Textpassagen auf jedes Wort ankommt, möchte ich der Einfachheit halber den jeweils näher betrachteten Passus wörtlich wiedergeben. 6 4 6 Vgl. R. Heede, Die Dialektik des spekulativen Satzes, a . a . O . , 283. In dem interessanten Aufsatz von R. Heede über den spekulativen Satz sind mehrere m.E. im Zusammenhang mit dem Problem des spekulativen Satzes zu sehende, bisher jedoch wenig beachtete Themenbereiche angesprochen, um deren Darstellung es auch in der hier vorliegenden Arbeit geht. Allerdings handelt es sich — was wohl im Rahmen eines kurzen Referats nicht anders möglich war — weniger um ausgeführte Theoreme als um aufschlußreiche Andeutungen. 6 4 7 Log. II, 270/1. 6 4 8 „ e r " ist m.E. insofern unmißverständlicher, als es sich eindeutig auf „Inhalt" (als das letzte maskuline Substantiv) bezieht, während man „ e s " (vgl. Hegel, Suhrkamp-Ausgabe, Bd. 3, 58) anstelle von „ e r " nicht auf „Prädikat", sondern irrtümlicherweise auf „Selbst" (als das letzte neutrale Substantiv) beziehen könnte. 6 4 9 Phä., 50. 650 Yg] auch Absatz 66 der Vorrede zur „Phänomenologie", wo Hegel das spekulative Prädikat als „Begriff und Wesen" faßt, sowie a . a . O . , Absatz 62. 6 5 1 Vgl. K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, in: Hegel-Studien, 644
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p h i s c h e n W e s e n s s a t z " bezeichnen, der eine „Wesenserkenntnis" liefert. 6 5 2 Unter einem „philosophischen Wesenssatz" wäre dann zugleich ein „philosophischer Begriffssatz" zu verstehen. Unterstellt man dagegen einen — im Sinne der „Wissenschaft der Logik" — terminologisch eher strengen Gebrauch der Ausdrücke „Wesen" und „Begriff" 6 5 3 , so wäre der spekulative Satz als „philosophischer Wesenssatz" nur unzureichend gekennzeichnet. 654 Sagt Düsing: „Der philosophische Wesenssatz ist also nach Hegels Theorie der s p e k u l a t i v e S a t z als Wesensbestimmung der S u b j e k t i v i t ä t " 6 5 5 und betrachtet die Subjektivität in logischer Hinsicht als den reinen Begriff 6 5 6 , so wird m . E . nicht ganz klar, ob hier strenggenommen vom spekulativen Satz als einer W e s e n s b e s t i m m u n g des reinen Begriffs die Rede sein soll, und wenn ja, was diese Rede genaugenommen bedeutet. — Das spekulative Satzsubjekt, das seinen Inhalt erfüllt, bzw. von ihm erfüllt ist, unterscheidet sich von dem ersten von sich selbst erfüllten Subjekt dadurch, daß es weiß, daß die volle Wahrheit dessen, was im Subjekt gemeint ist, durch das Prädikat gesagt wird. Dieses sagt das Wesen und den Begriff aus. In Absatz 23 der Vorrede sagt Hegel, daß in einem Satz der Art: ,Gott ist das Ewige' mit dem Wort: G o t t angefangen werde, „Dies für sich ist ein sinnloser Laut, ein bloßer Name; erst das Prädikat sagt, was er i s t , ist seine Erfüllung und Bedeutung; der leere Anfang wird nur in diesem Ende ein wirkliches Wissen." 6 5 7 Aus diesem Grunde kann es nach Hegel dienlich sein, den Namen G o t t zu vermeiden, weil dieses Wort nicht unmittelbar Begriff, sondern bloß Nam'e, „die feste Ruhe des zum Grunde liegenden Subjekts ist; dahingegen z . B . das Sein oder das Eine, die Einzelheit, das Subjekt usf. selbst Beiheft 15 (1976), Drittes Kapitel C.b) 1. Spekulativer Satz, Dialektik und Syllogistik, 198. 6 5 2 A . a . O . , 198ff., vgl. auch 253, wo Düsing vom Wesenssatz und (?) vom spekulativen Satz spricht. 653 Vgl. z . B . den in Kap. 11,2 dieser Arbeit näher erörterten Absatz 4 der Vorbetrachtung über das Urteil, Log. II, 265/6, wo Hegel sagt, daß das Prädikat den Begriff oder (wenigstens!) das Wesen ausdrücke, wobei das „oder" hier ja wohl eher als ausschließendes „oder" gelesen werden sollte. 654 Vgl. dazu auch die Unterscheidung von Reflexionsbestimmung und Begriffsbestimmung am Schluß der Betrachtung des unendlichen Urteils in Kap. 11,2 dieser Arbeit. 6 5 5 K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a . a . O . , 199. 6 5 6 A . a . O . , 202 und 204. 6 5 7 Phä., 22; vgl. SW Bd. 8, § 31, 104/5 und Absatz 4 der Vorbetrachtung über das Urteil, Log. II, 265/6.
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auch unmittelbar Begriffe andeuten. — Wenn auch von jenem Subjekt spekulative Wahrheiten gesagt werden, so entbehrt doch ihr Inhalt des immanenten Begriffs, weil er nur als ruhendes Subjekt vorhanden ist, und sie bekommen durch diesen Umstand leicht die Form der bloßen Erbaulichheit liegt, das spekulative Prädikat nach der Form des Satzes, nicht als Beheit liegt, des spekulative Prädikat nach der Form des Satzes, nicht als Begriff und Wesen zu fassen, durch die Schuld des philosophischen Vortrags selbst vermehrt und verringert werden können." 6 5 8 Von dem spekulativen, den Satzgegenstand (den ersten Gegenstand bzw. das erste Subjekt) gleichsam widerspiegelnden Prädikat geht ein Gegenstoß aus, der der neue wahre Gegenstand (der zweite Gegenstand) ist. 659 Dieser zweite, sich im Prädikat seiner selbst bewußt werdende Gegenstand, ist weder der be w u ß t e sich mit dem Prädikat einfach i d e n t i f i z i e r e n d e , noch der s e l b s t b e w u ß t e an der N i c h t i d e n t i t ä t mit dem Prädikat festhaltende, auf sich selbst fixierte (erste) Gegenstand, sondern das das Bewußtsein mit dem Selbstbewußtsein ausgleichende (zweite) Subjekt, das um die Identität der Identität und der Nichtidentität des (ersten) Subjekts mit dem Prädikat wissende Ich, die sich in sich selbstreflektierende Bewegung des Ich = Ich. 6 6 0 Das zweite Subjekt, die bestimmte Negation des positiven Subjekts, könnte auch als vernünftiges Subjekt bezeichnet werden, das gegenüber dem ersten Subjekt als verständigem Subjekt durch das Prädikat die Erfahrung des Für-es-Seins des An-sich-Seins des gegenständlichen Subjekts der natürlichen Vorstellung gemacht hat. Das zweite, wissende Subjekt ist sozusagen das sich an sich als Prädikat wendende und sich selbst entgegnende Subjekt. Die durch eine Umkehrung des Bewußtseins gemachte Erfahrung des sich von sich selbst abtrennenden Selbst, des Ich = Ich ist keine eitle Spiegelung, sondern die Erfahrung des Ich, das Wir und des Wir, das Ich ist, 6 6 1 die Erfahrung die das Ich als sich aussprechendes macht, d. h. als sich mitteilendes und teilnehmendes. In den weiteren Ausführungen des Absatzes 60 kommt Hegel zur besseren Unterscheidung vom spekulativ begreifenden Denken auf das vorstellende Denken zurück. „Das vorstellende Denken, da seine Natur ist, an 658 659
660 661
Phä., 53/4. Vgl. a . a . O . , 73/4. Zum Begriff des neuen wahren Gegenstandes vgl. die subtile Interpretation der entsprechenden Absätze der Einleitung in die „Phänomenologie" von H . Röttges in: ders., Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 104-119. Vgl. Phä., 22 und 560. Vgl. Phä., 140, 362 und 458.
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den Akzidenzen oder Prädikaten fortzulaufen und mit Recht, weil sie nicht mehr als Prädikate und Akzidenzen sind, über sie hinauszugehen, wird, indem das, was im Satze die Form eines Prädikats hat, die Substanz selbst ist, in seinem Fortlaufen gehemmt. Es erleidet, es so vorzustellen, einen Gegenstoß. Vom Subjekt anfangend, als ob dieses zum Grunde liegen bliebe, findet es, indem das Prädikat vielmehr die Substanz ist, das Subjekt zum Prädikat übergegangen und hiemit aufgehoben; und indem so das, was Prädikat zu sein scheint, zur ganzen und selbständigen Masse geworden, kann das Denken nicht frei herumirren, sondern ist durch diese Schwere aufgehalten." 662 Im Gegensatz zum räsonnierenden und vorstellenden Denken läuft das begreifende Denken, das als gehemmtes oder aufgehaltenes vorstellendendes Denken charakterisiert werden kann, nicht unaufhörlich an den Prädikaten fort, um sofort w e i t e r zu kommen, 6 6 3 sondern verweilt vorübergehend, hört bei der Satzaussage als E r l ä u t e r u n g des Subjekts auf, und begreift das Subjekt als Resultat des Prädikats. In Absatz 62 versucht Hegel seine Ausführungen durch Beispiele zu verdeutlichen und betrachtet zunächst den bekannten Satz: „ G o t t ist das Sein" 6 6 4 , der im zweiten Kapitel dieser Arbeit noch eingehend betrachtet werden wird. „Sein" soll in diesem Satz nicht bloß Prädikat, sondern „das Wesen" 6 6 5 sein, wodurch Gott aufzuhören scheint, das zu sein, was er durch die Stellung des Satzes ist, nämlich das „feste Subjekt" 666 . — Da dieses verlorengeht und vermißt wird, fühlt sich das Denken, anstatt im Ubergange vom Subjekt zum Prädikat „weiter zu kommen" 6 6 7 , vielmehr „gehemmt" 6 6 8 und zu dem Gedanken des Subjekts zurückgeworfen „oder es findet, da das Prädikat selbst als ein Subjekt als das Sein, als das W e s e n ausgesprochen ist, welches die Natur des Subjekts erschöpft, das Subjekt unmittelbar auch im Prädikate;. . ," 6 6 9 Dies wird am Ende des Absatzes 60 näher ausgeführt. „Sonst ist zuerst das Subjekt als das g e g e n s t ä n d l i c h e fixe Selbst zu Grunde gelegt; von hier aus geht die notwendige Bewegung zur Mannigfaltigkeit der Bestimmungen oder der Prädikate fort; hier tritt an die Stelle jenes Subjekts das wissende Ich selbst ein und ist das 662 A . a . O . , 50. без Vgl. d a z u weiter unten Kap. 11,3 dieser Arbeit. 664 Phä., 51. 665 Ebenda. 666 Ebenda. 667 Ebenda. 666 Ebenda. 669 Ebenda.
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Verknüpfen der Prädikate und das sie haltende Subjekt. Indem aber jenes erste Subjekt in die Bestimmungen selbst eingeht und ihre Seele ist, findet das zweite Subjekt, nämlich das wissende, jenes, mit dem es schon fertig sein und worüber hinaus es in sich zurückgehen will, noch im Prädikate vor, und statt in dem Bewegen des Prädikats das Tuende als Räsonnieren, ob jenem (erstem Subjekt, G.W.) dies oder jenes Prädikat beizulegen wäre, sein zu können, hat es (das zweite Subjekt, G.W.) vielmehr mit dem Selbst des Inhalts noch zu tun, soll nicht für sich, sondern mit diesem Zusammensein." 670 Das wissende Ich, das wahrhafte oder spekulative Subjekt des Satzes s o l l nicht für sich, sondern mit dem Selbst des Inhalts Zusammensein und „statt daß es im Prädikate in sich gegangen die freie Stellung des Räsonnierens erhielte, ist es in den Inhalt noch vertieft, oder wenigstens ist die Forderung vorhanden, in ihn vertieft zu sein." 6 7 1 So soll auch das Prädikat des spekulativen Satzes nicht Prädikat im Sinne des gewöhnlichen Verhältnisses von Subjekt und Prädikat 672 , sondern „spekulative(s) Prädikat", d. h. „Begriff und Wesen" 6 7 3 sein. In dem Satz: „Das W i r k l i c h e ist das A l l g e m e i n e " 6 7 4 soll z.B. das Allgemeine nicht nur die Bedeutung des Prädikats haben, sodaß der Satz aussagte, das Wirkliche sei allgemein, „sondern das Allgemeine soll das Wesen des Wirklichen ausdrücken" 675 . Das Denken verliert in dem Maße seinen festen gegenständlichen Boden, den es am Subjekt hatte, in dem es im Prädikat auf das Subjekt zurückgeworfen wird und im Prädikat nicht in sich, sondern in das Subjekt des Inhalts zurückgeht. De facto aber wird sich herausstellen, daß der Satz n a t u r g e m ä ß unvermögend ist, diese Forderung zu erfüllen. Das wissende Ich (Subjekt), von dem in den letzten beiden Sätzen des Absatzes 60 die Rede ist, ist nicht das willkürlich bewegende Prinzip des Inhalts, das hemmungslose, hybride Ich, das in äußerer Reflexion durch eine äußerliche, bloß ihm selbst angehörende Bewegung an ein als Haltepunkt vorausgesetztes (erstes) Subjekt Prädikate heftet oder knüpft. 6 7 6 Viel-
670 671 672 673 674 675 676
A . a . O . , 50/1. Zum Fürsichsein des Subjekts und Prädikats vgl. Jenenser Logik, 83ff. Phä., Absatz 62, 51. Vgl. a . a . O . , 51/2. A . a . O . , Absatz 66, 54. A . a . O . , 51. A . a . O . , 52. A . a . O . , 22/3.
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mehr muß es als das absolut wissende Ich aufgefaßt werden 677 , das sich umgekehrt zur inneren, das Subjekt ins Prädikat setzenden Reflexion bestimmt, sich selbst also nicht hinter dem, was verknüpft wird, als das, was verknüpft zurückhält und sich für sich behält, sondern als Verknüpfendes in das Verknüpfte eintritt und die reflektierende Bewegung der absoluten (unendlichen) Reflexion 678 dieses Verknüpfens selbst ist. Das wissende Ich ist nicht das sich erhaltende sondern das die Prädikate haltende Subjekt. Liebrucks kommentiert: „An die Stelle des Subjekts, das bei Kant auch als Synthesis der Einheit der transzendentalen Apperzeption unter ihr als Prinzip S u b s t a n z geblieben war, wenn auch nur noch „Substanz in der Idee", tritt nun „das wissende Ich". Dieses wissende Ich ist Apperzeption. Es steht nicht als Subjekt hinter dem, was es tut, es ist nicht Tätigung. Es verknüpft nicht die Prädikate, sondern „ist das Verknüpfen der Prädikate und das sie haltende Subjekt". Indem aber das Ich seinen Selbsterhaltungstrieb fahren läßt, sich selbst nicht mehr als ,Substanz' ansieht, findet es sich als Prädikat. Damit haben wir zwei Subjekte. Das eine ist das in dieser zweiten Revolution der Denkungsart als D e n k e n auferstandene Ich, nachdem es sich als Substanz aufgegeben hat, das zweite ist das Ich vor seiner Aufgabe, das nun im Prädikat gefunden wird." 6 7 9 Wenn ich recht sehe, ist mit dem Subjekt, das Liebrucks das „eine" nennt — das in der zweiten Revolution der Denkungsart als Denken auferstanden ist, nachdem es sich als Substanz aufgegeben hat — dasjenige Subjekt gemeint, das Hegel als das „zweite Subjekt" (das wissende Ich) bezeichnet, während mit dem Subjekt, das Liebrucks hier das „zweite" nennt — nämlich das Ich vor seiner Aufgabe — dasjenige gemeint ist, das Hegel als das gegenständliche fixe Selbst kennzeichnet. — „Die Struktur-Substanz-Akzidenz wird sich im Prädikat selbst finden. Das wissende Ich ist der bewußte Spiegel dieser Struktur, der existierende spekulative Satz. Dieser Spiegel spiegelt verkehrt, wovon die von uns erfundenen gegenständlichen Spiegel eine ansichseiende
677
Zur reflektierenden Bewegung des sich selbst Aufhebens des Ich als des absolut wissenden vgl. Absatz 12 des Kapitels über das absolute Wissen, a . a . O . , 5 5 6 / 7 .
678
Faßt man die unendliche Reflexion als Einheit der voraussetzenden und der setzenden Reflexion, oder anders gesagt als die reflektierende Bewegung des sich Uberkreuzens und Durchkreuzens der vom Subjekt zum Prädikat verlaufenden und der vom Prädikat zum Subjekt zurücklaufenden Reflexion in der Kopula als der Mitte, so wird bereits die Ungeschicklichkeit des Satzes deutlich, der aufgrund seiner F o r m auf finite Verbformen wie die Kopula angewiesen ist — infinite Verbformen allein sind zu keiner satzbildenden Aussage fähig —, das Spekulative auszudrücken.
679
B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, a . a . O . , Bd. 5, 17. Zu Absatz 60 der Vorrede zur „Phänomenologie" vgl. auch a . a . O . , 18 und 19.
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Erinnerung aufbewahrt haben. Die Erfindung des Spiegels war die gegenständliche Darstellung des spekulativen Satzes." 6 8 0
Der zentrale Absatz 61 der Vorrede (Phä., 51) Die Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat im spekulativen Satz Zu Anfang des A b s a t z e s 61, auf den es in dieser Betrachtung vor allem ankommt, sagt Hegel, „daß die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, die den Unterschied des Subjekts und Prädikats in sich schließt, durch den spekulativen Satz zerstört wird, und der identische Satz, zu dem der erstere wird, den Gegenstoß zu jenem Verhältnisse enthält." 6 8 1 Bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß dieser Anfang bereits Schwierigkeiten birgt, die sich erst in der Folge, im Rückgriff auf die „Ästhetik" sowie im Vorgriff auf die „ L o g i k " werden lösen lassen. Mit E. Heintel kann in dieser Zerstörung zunächst die Zerstörung der gewöhnlichen gegenständlichen Prädikation, der natürlichen ,linearen' Prädikation in intensione recta gesehen werden. 682 Die Natur des Urteils oder Satzes überhaupt, d.h. die „Form eines Satzes überhaupt" 6 8 3 , in der der Unterschied von Subjekt und Prädikat vorhanden (enthalten), genauer gesagt vorausgesetzt ist, wird durch den spekulativen Satz, oder anders gesagt durch den philosophischen Inhalt des philosophischen Satzes, d.h. durch die Einheit des Begriffs, die Identität des Subjekts und Prädikats „zerstört", bzw. die durch die Satzform entstehende Meinung der Nichtidentität s o l l durch die inhaltliche Aussage der Identität zerstört werden. Legte man die Betonung darauf, daß es der philosophische Inhalt des spekulativen Satzes, d.h. die vernünftige, von Hegel im Folgenden mit der Harmonie verglichene absolute Einheit des Begriffs ist, die die Natur des Urteils zerstört, so könnte „zerstört" insofern nicht einfach im Sinne von 680 681 682
683
A . a . O . , 17. Phä., 51. Vgl. E. Heintel, Hegel und die Analogia Entis, Bonn 1958, 6. Die Dialektik und der „spekulative Satz", 16—20. Vgl. auch K. Schrader-Klebert, Das Problem des Anfangs in Hegels Philosophie, Wien/München 1969, 58: „Der spekulative Satz stellt die Instanz dar, von der her die lineare Prädikation als philosophisch unzulänglich durchschaut und distanziert werden kann." Phä., 51.
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
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„vernichten", sondern bereits im Sinne des lateinischen „tollere", weiter aber noch im Sinne des deutschen „aufheben" gebraucht und als absolute Negation des Zerstörten genommen werden. 6 8 4 Legte man die Betonung darauf, daß es der Inhalt des sich zunächst zum identischen Satz bestimmenden spekulativen Satzes, d . h . die abstrakte verständige Einheit des Begriffs ist, die den Gegenstoß zum Verhältnis des Unterschiedenseins von Subjekt und Prädikat enthält, so könnte „zerstören" zunächst wohl im Sinne der einfachen Negation des Zerstörten verstanden werden. Weil der „philosophische Satz" 6 8 5 Satz ist, erweckt er die Meinung des gewöhnlichen Verhältnisses des Unterschieds des Subjekts und Prädikats. Sein „philosophischer Inhalt" 6 8 6 aber zerstört diese Meinung des gewohnten Verhaltens des Wissens, „die Meinung erfährt, daß es anders gemeint ist, als sie meinte; und diese Korrektion seiner Meinung nötigt das Wissen, auf den Satz zurückzukommen und ihn nun anders zu fassen." 6 8 7 Die natürliche Vorstellung der äußeren Reflexion des formalen Denkens, das sich über seinen Inhalt erhebt und bei der vermeintlichen Nichtidentität des Subjekts mit dem Prädikat stehen bleibt, wird durch die absolute Reflexion des Begriffs, oder besser gesagt durch die absolute Reflexion zerstört, insofern sie sich zur setzenden Reflexion des inhaltlichen Denkens bestimmt, das sich in seinen Inhalt vertieft und dem die Identität des Subjekts mit dem Prädikat zum Bewußtsein kommt. Demgemäß enthält der identische Satz, zu dem der gewöhnliche Satz überhaupt — man könnte ihn als nichtidentischen Satz bezeichnen — wird, insofern den Gegenstoß zu dem gewöhnlichen Verhältnis der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat, als in ihm Subjekt und Prädikat identisch sind. Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß m . E . der „erstere" Satz, der zum identischen Satz wird, nicht nur der spekulative Satz sein kann, sondern zumindest ebensogut auch der (gewöhnliche) Satz oder das gewöhnliche Urteil. (Urteil und Satz werden im ersten Satz des Absatzes 61 noch nicht unterschieden). Charakterisierte man zunächst kurz den gewöhnlichen Satz durch die Nichtidentität von Subjekt und Prädikat, den identischen Satz dagegen durch deren abstrakte Identität und den spekulativen Satz schließlich durch die absolute Identität (die Identität der Identität und der Nichtidentität) von Subjekt und Prädikat, so käme es in der ersten Lesart darauf an, daß der spekulative Satz sich zum identischen Satz be684 685 686 687
Vgl. Log. I, 94. Phä., 52. Ebenda. Ebenda.
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stimmte, um als identischer Satz den Gegenstoß zu dem Verhältnis der Nichtidentität auszulösen, während es in der zweiten Lesart darauf ankommt, daß der gewöhnliche Satz oder das abstrakte Urteil sich zum identischen Satz fortbestimmt. Zu klären ist dann freilich das Verhältnis der Fortbestimmung des U r t e i l s zur dialektischen Bewegung des S a t z e s . Von der Fortbestimmung des nichtidentischen positiven Urteils, das man auch als positiv endliches Urteil kennzeichnen könnte, zum positiv unendlichen Urteil d.h. zum identischen Urteil und vom Verhältnis dieses abstrakt identischen Urteils oder Satzes zum absolut identischen Urteil, d.h. zum spekulativen Satz wird im Zusammenhang mit der Erörterung von Hegels Ausführungen über das Urteil des Daseins in der „Wissenschaft der Logik" noch ausführlich die Rede sein. 688 Ohne an dieser Stelle schon genauer auf den identischen Satz eingehen zu können, wird jedoch bereits klar, daß der spekulative Satz keineswegs einfach der abstrakt identische Satz ist. 689 Unterstellte man, Hegel habe in Absatz 61 mit dem identischen Satz den absolut identischen Satz, mithin also doch den spekulativen Satz g e m e i n t , so wäre demgegenüber an dem festzuhalten, was Hegel hier g e s a g t hat und an die Textstellen zu erinnern, an denen Hegel vom identischen Satz bzw. Urteil ausschließlich im Sinne des positiv unendlichen Urteils, d.h. der Tautologie spricht. 690 Der durch die Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat zu kennzeichnende spekulative Satz 691 ist der Satz, insofern er sich der denkenden Betrachtung — die unsere ,Zutat' ist — darVgl. Kap. 11,2 dieser Arbeit. 689 Vgl. dagegen Th. Bodammer, Hegels Deutung der Sprache, a . a . O . , 2 2 5 f f . , dessen Ausführungen Anlaß zu Mißverständnissen geben könnten. Vgl. vor allem den oberflächlichen Aufsatz von Franz Schmidt, Hegels Philosophie der Sprache, in: Deutsche Zeitschrift f ü r Philosophie 12, 2. Halb)., 9. Jhrg., Berlin 1961, 1486. 6 9 0 Vgl. u . a . S W Bd. 3, § 1 9 f f „ 1 5 0 f f „ S W Bd. 6, § 121, 106 und S W Bd. 8, § 173, 3 7 3 f f . Die Ausdrücke „identischer Satz" und „identisches Urteil" tauchen in diesem Sinn übrigens bereits in den Jenenser Schriften auf. Vgl. S W Bd. 1, 471 und Jenenser Logik, 103. Vgl. E. Heintel, Der Begriff des Menschen und der „spekulative Satz", in: Hegel-Studien Bd. 1 (1961), 222/3 und dazu J. Simon, Die Kategorien im „gewöhnlichen" und im „spekulativen" Satz, in: Wiener Jahrbuch für Philosophie, Bd. 3 (1970), 35, A n m . 56. 6 9 1 Insofern es im spekulativen Satz um das Fassen der entgegengesetzten Satzglieder in ihrer Einheit geht, das Spekulative nach Hegel aber nichts anderes ist, als das Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit, so sollte man wohl doch - w i l l man die Ausdrücke „dialektisch" und „spekulativ" terminologisch streng genommen so auseinanderhalten, wie Hegel dies in der Unterscheidung der drei Momente des Logischen getan hat (vgl. S W Bd. 8, §§ 7 9 - 8 2 , 1 8 4 - 1 9 8 ) - dem Ausdruck „spekulativer Satz" v o r dem Ausdruck „dialektischer Satz" den Vorzug geben. (Vgl. H. Hülsmann, Der spekulative oder dialektische Satz, in: Salzburger Jahrbuch für Philosophie X/XI (1966/7), insbes. 75). 688
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stellt als solcher, der sich selbst zerstört, der die Bewegung hat, durch sich selbst als Satz zu verschwinden. Eine Möglichkeit, zu Anfang dieser Uberlegung bereits festzuhalten, was unter einem spekulativen Satz zu verstehen ist, wäre es, vorläufig zu sagen: Ein spekulativer Satz ist ein n i c h t i d e n t i s c h e r Satz — grammatisch gesehen ein Gleichsetzungssatz, in dem zwei verschiedene Nomina einander gleichgesetzt werden 6 9 2 — insofern er spekulativ als i d e n t i s c h e r Satz betrachtet wird, insofern also die Identität von Subjekt und Prädikat zu ihm ,hinzugedacht' wird. 6 9 3 Dieses spekulative Denken (Betrachten) ist die Fähigkeit, „spekulative Sätze zu fassen" 694 bzw. das Spekulative des Satzes zu fassen. Die Bezeichnung „spekulativer Satz" wird sich insofern als contradictio in adjecto erweisen, als das „ w i r k l i c h e Spekulative" 695 , das dargestellt werden soll, 696 die in einem Satz nicht auszusprechende dialektische Bewegung des Satzes ist. Deshalb wäre es wohl strenggenommen angebracht, von spekulativen „Sätzen" nur in Anführung zu sprechen, um dem Mißverständnis entgegenzuwirken, das von der Vorstellung geleitet ist, spekulative „Sätze" seien Sätze, die als s p r a c h l i c h e Gebilde schon ohne Zutun des spekulativen D e n k e n s an und für sich spekulativ sind. Vielmehr handelt es sich um Sätze, die einer Darstellung des Spekulativen nahe zu kommen scheinen und — insofern sie Entgegengesetztes in sich vereinigen — zwar eine spekulative Bedeutung an ihnen selbst haben, was aber heißt, daß sie diese Bedeutung nur an sich oder für das spekulative Denken haben. Die in einem Satz nicht auszusprechende dialektische Bewegung ist der absolute Gegenstoß des identischen und des nichtidentischen Satzes, die dialektische Bewegung von Satzinhalt und Satzform, die reflektierende Bewegung der setzenden (inneren) und der voraussetzenden (äußeren) Reflexion, kurzum, die absolute Reflexion des Begriffs (des spekulativ be-
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693
694 695 696
In Absatz 62 gibt Hegel — wie bereits angeführt — zwei Beispiele für solche Sätze: „ G o t t ist das Sein" und „das W i r k l i c h e ist das A l l g e m e i n e . " (Phä., 51). Es ist leicht, weitere Beispiele aus der „Phänomenologie" hinzuzufügen: „Das Wahre ist das Ganze" (a.a.O., 21) „das Selbst ist das a b s o l u t e Wesen" (a.a.O., 521) usw. Die kaum zu überschätzende Bedeutung von Sätzen dieser Struktur für die Philosophie Hegels ist insbes. anhand der „Wissenschaft der Logik" zu zeigen. (Vgl. Kap. II dieser Arbeit). Diese .Definition' des spekulativen Satzes wird sich in der Folge als unzulänglich erweisen. Sie wird durch andere zu ergänzen sein. SW Bd. 8, § 88, 211. Phä., 53. Vgl. Ebenda.
198
I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
greifenden Denkens), oder des um die Identität der Identität und der Nichtidentität seiner selbst wissenden Ich. 6 9 7 Die Unendlichkeit dieser absoluten Reflexion wird nicht die der Endlichkeit des positiven Urteils gegenüber stehenbleibende schlechte, selbst endliche Unendlichkeit des positiv unendlichen Urteils, d.h. die abstrakte Identität sein, sondern die sich bewegende Sichselbstgleichheit, die Bewegung des sich selbst Aufhebens des sich gleich werdenden Selbst. Der Vergleich von Satzform und Satzinhalt mit dem im Rhythmus stattfindenden Konflikt zwischen Akzent und Metrum Die rhythmische
Versifikation
Im zweiten Satz des Absatzes 61 vergleicht Hegel den Konflikt der den Unterschied von Subjekt und Prädikat ausdrückenden Satzform und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs mit dem im Rhythmus stattfindenden Konflikt zwischen Akzent und Metrum. (Die Beantwortung der Frage, ob die zerstörende Einheit des Begriffs die absolute, spekulativ-vernünftige Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat oder die abstrakte, verständige Identität von Subjekt und Prädikat ist, ist abhängig davon, ob man zu der Lesart tendiert, nach der „zerstören" so viel bedeutet wie „aufheben" (oder „auflösen") oder zu der anderen Lesart, nach der es so viel bedeutet wie „vernichten". 6 9 8 Obgleich m.E. mehr für die erste Lesart spricht, läßt der Hegeische Text wohl auch die letztere Lesart zu.) „Dieser Konflikt der Form eines Satzes überhaupt und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs ist dem ähnlich, der im Rhythmus zwischen dem Metrum und dem Akzente stattfindet. Der Rhythmus resultiert aus der schwebenden Mitte und Vereinigung beider. So soll auch im philosophischen Satze die Identität des Subjekts und Prädikats den Unterschied derselben, den die Form des Satzes ausdrückt, nicht vernichten, sondern ihre Einheit (soll) als eine Harmonie hervorgehen." 699 Rückblickend auf die Ausführungen über die Religion kann daran erinnert werden, daß dieser Konflikt im spekulativen Satz und dessen Lösung U m das zu erkennen, was der Begriff ist, erinnert Hegel auch in der „Wissenschaft der L o g i k " an die Natur des Ich. (Vgl. Log. II, 222. Vgl. auch a . a . O . , 2 2 0 und dazu Kap. 11,3 dieser Arbeit). Die Einheit des Begriffs kann - um die Auffassung dieser Einheit zu erleichtern — als Einheit des Ich gefaßt werden. Vgl. H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 75ff. 698 Yg] w e i t e r oben.
697
699
Phä., 51.
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
199
durch die denkende spekulative Betrachtung der tragischen Kollision der Mächte des Bewußtlosen (Substantiellen) und des Bewußten (Subjektiven) entspricht und der Lösung des Konflikts beider im Ausgang des Prozesses der Eumeniden als der Mächte des unteren Rechts, „das in der Differenz ist" und Apolls, „des Gottes des indifferenten Lichtes" 700 über Orest vor dem Volke Athens, vor dem sie nur als Momente erscheinen, „welche die volle harmonische Sittlichkeit zusammenbindet". 7 0 1 In diesem Prozeß, der mit der Stimmengleichheit, dem ruhigen Gleichgewicht beider Mächte endet, ist nach Hegel bekanntlich das Bild der Tragödie zu sehen, „welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt." 702 Auch H . Schmitz kommt am Ende der ersten Untersuchung seines Buches: Hegel als Denker der Individualität 7 0 3 zu dem bemerkenswerten Ergebnis, daß die Philosophie Hegels im tieferen Sinne eine Intention zeige, die der Orestie des Aischylos entspreche und diese gewissermaßen wiederhole. „Der reife Hegel glaubt also an eine Versöhnung von Substanz und Subjekt, so wie es dem Ausgang des Prozesses der Eumeniden bei Aischylos gemäß ist . . ,". 7 0 4 Die an diesem Ausgang des Prozesses der Eumeniden besonders deutlich werdende Analogie des Fortgangs der Gestalten der Kunst in der Sphäre der Anschauung bzw. Vorstellung und der Fortbestimmung des philosophischen Begriffs wurde im vorangehenden Teil dieses Kapitels im Einzelnen aufgezeigt. Ich bin in diesem Punkt nicht der Auffassung von H . Röttges, daß das ,Ausweichen' Hegels in Bilder bzw. Analogien auf prinzipielle methodologische Unsicherheiten deutet. 7 0 5 In dem Gebrauch von Metaphern bzw. Vergleichen sehe ich vielmehr hier — wie auch an anderen Stellen der Hegeischen Philosophie — den Versuch, das B e g r e i f e n des Spekulativen bzw. Absoluten durch die Übertragung auf eine Form, in der das Absolute zur A n s c h a u u n g kommt, mit Sinn zu erfüllen. Durch den von Hegel in Absatz 61 angestellten Vergleich von Satzform und Satzinhalt mit dem im Rhythmus stattfindenden Konflikt zwischen Akzent und Metrum läßt sich m . E . exemplarisch verdeutlichen, daß das 700 701 702 703
704 705
SW Bd. 1, 501. SW Bd. 14, 557. SW Bd. 1, 500. H . Schmitz, Hegel als Denker der Individualität, Meisenheim 1957, Die Symbolik und Begrifflichkeit der Bedrohung bei Kleist, Hölderlin und Hegel (mit besonderer Berücksichtigung Hegels), 87. A . a . O . , 86. Vgl. H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 68.
200
I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
spekulative Denken dasjenige Denken ist, das Kunst und Religion als seine Momente philosophisch begreift und aufhebt. Der philosophische Begriff bewegt sich gleichsam auf dem Boden von Kunst und Religion, ein Vergleich, der mißverstanden würde, wenn er so verstanden würde, daß wir insofern „darüber hinaus" sind, die „Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten zu können" 7 0 6 , als wir mit der Überheblichkeit des Verstandes wähnen, die Werke der Kunst als u n t e r uns liegende begreifen zu können und nicht sehen, daß der philosophische Begriff nur insofern über die Kunst hinaus ist, als er sich in sie als seinen Grund vertieft und diese in sich begreift und schließt. Religion und Kunst sind — wie gesagt — nach der Seite ihrer höchsten Bestimmung für uns ein Vergangenes. Die Philosophie ist der künstlerischen Darstellung wie der religiösen Vorstellung insofern überlegen, als sie Kunst und Religion in sich faßt und begreift. 707 Logisch gesehen sind Kunst und Religion zu M o m e n t e n der Bewegung des philosophischen Begriffs geworden. Phänomenologisch, d. h. auch in ihrer zeitlichen Erscheinung gesehen, enthält die Kunst (und ebensowohl auch die Religion) lediglich die M o t i v e auf dem Weg zum philosophischen Begriff. Insofern ist m . E . aber auch nicht zu sehen, wie ohne ästhetische (bzw. religiöse) Erfahrung zur philosophischen Erfahrung der dialektischen Bewegung des Begriffs zu kommen wäre, die hier als die dialektische Bewegung des Satzes betrachtet wird. Die Philosophie kann nach Hegel — horribile dictu — nicht ohne Kunst und Religion sein, sondern schließt diese vielmehr in sich. 7 0 8 So sehr dies auch der modernen philosophischen A r r o g a n z 7 0 9 , die insbesondere mit F r a g e n der R e l i g i o n verschont sein möchte, gegen den Strich gehen mag: Philosophie ohne Kunst bzw. ohne Religion ist bodenlos. Es ist ein Mißtrauen in das natürliche Mißtrauen gegenüber dem Hegeischen Begriff der Spekulation zu setzen, und zwar gerade dort, wo man die Spekulation durch ihre Affinität zur Kunst und zur Religion als ein Schwärmen mit Begriffen, als schlechtes Spekulieren im 706 707 708 709
SW B d . 12, 30. Vgl. L o g . II, 484. Vgl. SW B d . 8, Vorrede zur zweiten Ausgabe, 17/8 und SW B d . 10, § 572, 458. Sollte man das, was I. Fetscher am Ende seines Vortrags „ G . W. F. Hegel - Größe und Grenzen" gesagt hat, vielleicht doch ernst nehmen? „ Z u absurd mutet dem zeitgenössischen Denken der spekulative Uberschwang des Hegeischen Systems an, um noch ernstgenommen zu werden aber vielleicht fehlt es uns nur an Mut, um den Gedanken der Einheit der göttlichen und menschlichen N a t u r zu fassen, der Hegels Spekulation zugrunde lag. Was uns so deutlich als s e i n e Grenze erschien, könnte daher gerade u n s e r e G r e n z e sein; unsere falsche Bescheidenheit wäre dann A r r o g a n z . . . " . ( A . a . O . , in: I. Fetscher, Hegel - Größe und Grenzen, Stuttgart 1971, 33).
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
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unkritisch-metaphysischen Sinne dekuvriert sieht. Nach Hegel ist kein Weg zur Philosophie offen, der nicht d u r c h die Religion führte. Salopp ausgedrückt: Kunst und Religion sind in der Hegeischen Theorie so ,piaziert', daß der Versuch, um sie herumzukommen bzw. sie zu überspringen, mit einem Rückfall auf eine frühere Stufe des Geistes — in Anbetracht der Theorie des absoluten Geistes etwa auf die des objektiven Geistes — bezahlt werden muß. Die philosophische Komprehension, die nicht bodenlos ist, hat als begreifendes Anschauen den Gegenstoß der voraussetzenden gegen die setzende Reflexion und d.h. mutatis mutandis den Gegenstoß der reflektierenden gegen die bestimmende Urteilskraft Kants und mithin auch den Gegenstoß der „comprehensio aesthetica" gegen die „comprehensio logica" in sich. So wie die ästhetische Anschauung ohne den spekulativen Begriff — d.h. ohne den konkreten, nicht ohne den abstrakten Allgemeinbegriff — blind ist, so ist der philosophische Begriff ohne die ästhetische Anschauung leer und sinnlos. Zur Interpretation des von Hegel in Absatz 61 angestellten Vergleichs der dialektischen Bewegung des Satzes mit dem Rhythmus möchte ich nun zunächst etwas genauer auf das eingehen, was Hegel in den ÄsthetikVorlesungen zum Begriff des Rhythmus gesagt hat. Dabei werde ich mich mit der Musik nur im Vorübergehen beschäftigen, um mich bei der Poesie etwas länger aufzuhalten. Kapitel 2 a seiner Ausfürungen über die Musik, in dem Hegel vom Zeitmaß, vom Takt und vom Rhythmus handelt, leitet er ein mit den Worten: „Was nun z u n ä c h s t die rein z e i t l i c h e Seite des musikalischen Tönens betrifft, so haben wie e r s t e n s von der Nothwendigkeit zu sprechen, daß in der Musik die Zeit überhaupt das Herrschende sey; z w e i t e n s vom Takt als dem bloß verständig geregelten Zeitmaß; d r i t t e n s vom Rhythmus, welcher diese abstrakte Regel zu beleben anfängt, indem er bestimmte Takttheile hervorhebt, andere dagegen zurücktreten läßt." 710 Durch die Akzentuierung bestimmter Taktteile wird ein Gegenstoß gegen die abstrakte Gleichheit, gegen das abstrakt geregelte Metrum bewirkt und dadurch eine belebende Mannigfaltigkeit, ein „rhythmisches Leben" 711 hervorgebracht. Der Rhythmus bzw. der Gegenstoß im Rhythmus ist es, der zum Zeitmaß und zum Takt die eigentliche Belebung hinzu7,0
711
SW Bd. 14, 158. Vgl. H. Heimsoeth, Hegels Philosophie der Musik, insbes. II, Zeitlichkeit der Musik, in: Hegel-Studien Bd. 2 (1963), 175-180. SW Bd. 14, 166, vgl. a.a.O., 318.
202
I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
bringt und von der „Pedanterie des Metrums" 712 befreit. Der Rhythmus kann insofern auch als belebtes Maß oder beseeltes Metrum begriffen werden. 713 Durch den Gegenstoß im Rhythmus, d.h. durch den Gegenstoß der Betonung gegen das Zeitmaß unterbricht sich der unausgesetzte Fortgang an bloß gleichgültigen Zeitverhältnissen auf einmal, hört vorübergehend auf und in diesem ständig a n h a l t e n d e n (dauernden) Vergehen der Zeit tut sich auf einmal eine Rückkehr (Umkehr), eine überraschende Ubereinstimmung, eine momentane K o i n z i d e n z des Anwesenden und des Gewesenen hervor, in der die ruhe- und haltlose Zeit gleichsam in sich selbst z u s a m m e n f ä l l t . 7 1 4 „Die Melodie und deren verschiedene Perioden brauchen nicht streng mit dem Anheben eines Taktes zu beginnen und mit dem Ende eines anderen zu schließen, und können sich überhaupt in so weit emancipiren, daß die Haupt-Arsis der Melodie in den Theil eines Taktes fällt, welchem in Betreff auf seinen gewöhnlichen Rhythmus keine solche Hebung zukommt, während umgekehrt ein Ton, der im natürlichen Gange der Melodie keine markirte Heraushebung erhalten müßte, in dem guten Takttheil zu stehen vermag, der eine Arsis fordert, so daß also solch eine Ton in Bezug auf den Taktrhythmus verschieden von der Geltung wirkt, auf welche dieser Ton für sich in der Melodie Anspruch machen darf. Am schärfsten aber tritt der Gegenstoß im Rhythmus des Taktes und der Melodie in den sogenannten Synkopen heraus." 715 Der Begriff der Arsis stammt wie der Begriff der Thesis (Basis) aus der pantomimischen Tanzkunst, in der Thesis (Basis) aus der pantomimischen Tanzkunst, in der der Rhythmus durch den Schritt des Tanzenden dargestellt wird. Die Arsis(aQOig = ό ανω χρόνος) hebt den Fuß, die Thesis (θέσις = βάσις = ό κάτω χρόνος)
712 713
7,4 715
A . a . O . , 165, vgl. a . a . O . , 163. Ich bin nicht der Ansicht, daß Hegel deshalb hier die „These eines dem Metrum untergeordneten Rhythmus vertritt." (Musik in Geschichte und Gegenwart, Kassel 1949ff., Rhythmus, Metrum, Takt, 385, vgl. 386). Vielmehr scheint es mir so zu sein, daß nicht einfach das Metrum den Rhythmus unter sich begreift, sondern daß der Rhythmus als das Konkrete das Metrum in sich aufgehoben hat und in sich begreift. Der spekulative Begriff des Rhythmus ist es, ihn nicht nur als Unterbegriff des Maßes, sondern zugleich auch als Inbegriff des Maßes zu fassen, d. h. ihn nicht nur formal, sondern zugleich inhaltlich zu fassen. Zu der bereits mehrfach angeklungenen Unterscheidung von „Unterbegriff" und „Inbegriff" vgl. die Untersuchung über Umfang und Inhalt der Begriffe in Kap. II, 2 dieser Arbeit. Vgl. Log. I, 381/2 und Phä., 560. SW Bd. 14, 165.
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
203
senkt ihn. 7 1 6 Diese durch Arsis und Thesis entstehende rhythmische Bewegung entspricht der reflektierenden Bewegung der sich über den Inhalt erhebenden voraussetzenden und der sich in den Inhalt versenkenden setzenden Reflexion bzw. dem absoluten Gegenstoß der die Nichtidentität von Subjekt und Prädikat in sich schließenden Satzform und der Identität des Begriffs. Die plötzliche Gegenbewegung von Arsis und Basis, durch die es z . B beim Tanz zum S p r u n g kommen kann, zu einem zeitweiligen Abgelöstsein und Schweben, kann als Bild des Gegenstoßes von Voraussetzung und Setzung im spekulativen S a t z angesehen werden. Die Lebendigkeit des Rhythmus entspricht der L e b e n d i g k e i t des Prädikats, das für das sich ins Prädikat übersetzende Subjekt zur Basis wird, und die V e r s c h i e d e n h e i t von Subjekt und Prädikat aufhebt. Die absolute Selbständigkeit des lebendigen, plastischen Kunstwerks entspricht der für das natürliche Bewußtsein ungewohnten Stellung des lebendigen, zur ganzen und selbständigen Masse gewordenen spekulativen Prädikats, in dem das gegenständliche fixe Selbst aufgehoben ist. 7 1 7 Der „rhythmischen Hebung und Senkung", dem „rhythmischen Dahinschreiten" 718 entspricht die absolute Methode des logischen Fortschreitens durch das sich von sich als natürlichem Bewußtsein ständig abstoßende und seinen festen Standpunkt aufhebende Bewußtsein. Hegel war, wie er selbst eingestand, im Gebiet der Musik wenig bewandert. 7 1 9 In seinen Ausführungen über den Rhythmus in der Musik 7 2 0 kommt er sogleich auf den Rhythmus in der Poesie zu sprechen, um dann auf die musikalische Rhythmik insofern einzugehen, als sie der poetischen Rhythmik ähnelt. Wenn Hegel zu Ende des Absatzes 61 der Vorrede zur „Phänomenologie" davon spricht, daß der Akzent in der Einheit „verklingt", so ist m.E. bei dem Rhythmus zwischen Akzent und Metrum, den Hegel mit dem 716 717
718 719 720
Vgl. Musik in Geschichte und Gegenwart, a . a . O . , Die Theorie der Antike, 396ff. Beachte Hegels Vergleich des Prinzips der rhythmischen Versifikation mit der Plastik, SW Bd. 14, 303 und vgl. Kap. I, 2 dieser Arbeit. Hier kann nochmals an den dort bereits erwähnten Absatz 64 der Vorrede und an Hegels Bemerkung über die Plastizität der philosophischen Exposition erinnert werden, die nur dadurch erreicht werden kann, daß sich das räsonnierende Denken des Einfallens in den immanenten Rhythmus der Begriffe entschlägt. Die Spur führt vom Rhythmus der spekulativen Begriffe über die rhythmische Versifikation zurück zur Rhythmik der Musik und der Plastik und damit zu dem beide in sich vereinigenden lebendigen Kunstwerk. SW Bd. 14, 308. Vgl. SW Bd. 14, 131 und 181. A.a.O., 163-166.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Konflikt der Satzform und der Einheit des Begriffs vergleicht, insbesondere an den sprachlichen Rhythmus zu denken, um den es bei der „rhythmischen Versifikation" 7 2 1 geht. 7 2 2 Der Unterschied von Subjekt und Prädikat soll nicht durch deren Einheit vernichtet werden, sondern harmonisch mit ihr zusammenklingen, in ihr sich auflösen und verklingen. So ist auch das Dasein des an seiner Verschiedenheit vom Prädikat als stillschweigender Voraussetzung festhaltenden selbstbewußten Subjekts, das sich als wissendes vernünftiges Subjekt von sich löst und sich ausspricht, zwar verhallt, aber vernommen und in l e b e n d i g e r Einigung mit dem, dem es sich mitgeteilt hat. Bei der rhythmischen Versifikation, die „ihre schönste und reichhaltigste Entwicklungsstufe in der griechischen Poesie erreicht" 7 2 3 entsteht die rhythmische Belebung vor allem durch einen „Gegenstoß des Vers- und Wort-Accents" 7 2 4 , d.h. durch einen Gegenstoß von Versmaß und (Wort-) Akzent. Der Wortakzent entspricht demjenigen, was Hegel in Absatz 61 der Vorrede zur „Phänomenologie" als Akzent bezeichnet, der Versakzent — den er auch Versrhythmus nennt — dagegen dem Metrum. Hegel führt aus, daß zu dem Versakzent — und der Zäsur — noch ein weiterer Akzent hinzukomme, den die Wörter auch sonst schon außerhalb ihres metrischen Gebrauchs haben. Dieser Wortakzent kann nun entweder mit dem Versakzent — und der Zäsur — verbunden erscheinen und in dieser Verknüpfung beide verstärken; oder aber auch von ihnen unabhängig auf Silben stehen, die durch keine sonstige Hebung akzentuiert sind, „ u n d nun gleichsam, insofern sie ihres eigenthümlichen Werthes als Wortsylbe wegen dennoch eine Accentuirung forden, einen Gegenstoß gegen den Versrhythmus, (d.h. den Versakzent, G . W . ) hervorbringen, der dem Ganzen ein neues eigenthümliches Leben giebt." 7 2 5 (Zur Verdeutlichung sei hier ein nicht aus der griechischen Versifikation stammendes Beispiel gegeben. Bei dem Versanfang: „Anmutig T a l ! " in Goethes „Ilmenau" z . B . liegt der Wortakzent auf der ersten Silbe, der Versakzent — dem jambischen Metrum gemäß — auf der zweiten Silbe. 721 722
723 724 725
Vgl. a . a . O . , 292 - 3 0 3 . Auch W. Marx — dem die wohl ausführlichste und gründlichste Interpretation der Absätze 58—66 zu verdanken ist — ist der Ansicht, daß die von Hegel im zweiten Teil des Absatzes 61 verwendeten Begriffe der Prosodie und nicht der Musikwissenschaft entnommen seien. Vgl. W. Marx, Absolute Reflexion und Sprache, Frankfurt 1967, 16, Anm. 10. SW Bd. 14, 308. A . a . O . , 293. A . a . O . , 299.
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
205
Die gleichgewichtige Betonung beider Silben kann durch die sogenannte .schwebende Betonung' (!) erreicht werden. Der Wortakzent hebt hier die bestimmte, allgemeine (inhaltliche) B e d e u t u n g des Wortes hervor, indem er die Vorsilbe des Wortes betont, die gewissermaßen dessen Identität ausmacht und dadurch eine bessere Unterscheidung von anderen Wörtern ermöglicht (vgl. anmutig und unmutig), wohingegen der Versakzent maßgebend ist für die Z u s a m m e n o r d n u n g der einzelnen Wörter in einer Form.) Die Gegenläufigkeit von Wort- und Versakzent, die sich „beide zu doppelter Mannigfaltigkeit des ganzen ohne wechselseitige Störung oder Unterdrückung durcheinanderschlingen" 726 , ist eine harmonische. Der Knoten, ein Bild der einfachen Ruhe gegenläufiger Bewegung 727 , ist insofern ein „harmonischer Knoten" 728 , als sich zwei Linien „ohne wechselseitige Störung oder Unterdrückung durcheinanderschlingen." 729 Die bei der rhythmischen Versifikation auf dem Gegenstoß von Vers- und Wortakzent beruhende Verschlingung, wie die auf der Rhythmik von Arsis und Basis beruhenden „Verschlingungen des Tanzes" 730 können als Bild für die Einheit von Subjekt und Prädikat angesehen werden, die im spekulativen Satz als Harmonie hervorgehen soll. Ein Knoten hemmt das Fortlaufen an einer Linie und bewirkt einen vorübergehenden Rückgang, der für die spekulative Methode der Hegeischen Philosophie charakteristisch ist. 7 3 1 (Die Kategorien als die Momente des Begriffs könnten gleichsam als Knoten, als Anhalts- und Richtungspunkte eines Netzes betrachtet werden, in dem das natürliche um sein Tun nicht wissende Denken in dem Maße, in dem es dieses Netz instinktartig aus sich herausspinnt und es bewußtlos als Mittel gebraucht, auch eingesponnen und befangen ist.) Jeder Schritt des Fortgangs im Weiterbestimmen, d. h. des Sich-Entfernens von dem unbestimmten Anfang ist nach Hegel auch eine R ü c k a n n ä h e r u n g zu demselben. Das „ r ü c k w ä r t s g e h e n d e B e g r ü n d e n des Anfangs und das v o r w ä r t s g e h e n d e W e i t e r b e s t i m m e n desselben" 732 fallen ineinander und sind dasselbe, womit sich nach Hegel
726 727
728 729 730 731 732
A . a . O . , 309. Vgl. Log. I, 93, 3. Aufheben des Werdens. Uberlagern sich zwei gegenläufige ebene Wellen in bestimmter Weise, so entstehen stehende Wellen, bei denen bestimmte Punkte, die man als Knoten bezeichnet, dauernd in Ruhe bleiben. A . a . O . , 378. A . a . O . , 309, vgl. a . a . O . , 314. S W Bd. 13, 91. Vgl. Phä., 478, vgl. auch Log. I, 16. Log. II, 503.
206
I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
die philosophische Methode „in einen Kreis schlingt". 7 3 3 Am Ende seines Ganges ist der philosophische Gedanke in seinen Anfang zurückgeschlungen. 7 3 4 In der Poesie braucht die entgegengesetzte Bewegung der von Wortakzent und Versakzent (Metrum) vertretenen Seiten, die sich ohne wechselseitige Störung und Unterdrückung durcheinanderschlingen und gleiches Recht erhalten, nicht ausgesprochen werden. Beide Seiten, die — wie gesagt — an die Kräfte des unteren Rechts der Erinnyen als der W o h l m e i n e n d e n und des oberen Rechts des Gottes des M a ß e s , Apolls als des Z e r s t ö r e r s erinnern, entsprechen einander, wodurch es zu einer „schönen Schwebe" 7 3 5 des Einzelnen bzw. Besonderen und des Allgemeinen kommt, zu einem „schönen Gleichgewicht" zwischen Natur und Geist. 7 3 6 Hierbei ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, daß die Zerstörung bzw. der Gegenstoß gegen das Natürliche, wie in Absatz 61 der Vorrede zur „Phänomenologie", vom Metrum ausgeht, während bei der rhythmischen V e r i fikation der Gegenstoß nicht vom Metrum bzw. Versakzent, sondern vom Akzent bzw. Wortakzent hervorgebracht wird. 7 3 7 Auf diese Schwierigkeit soll im Zusammenhang mit der Erörterung des letzten Satzes von Absatz 61 zurückgekommen werden. Der Vergleich des Konflikts der F o r m eines S a t z e s und der sie zerstörenden E i n h e i t des B e g r i f f s im spekulativen Satz mit dem Konflikt bzw. der Lösung des Konflikts von A k z e n t und M e t r u m im Rhythmus, der in der vollen einigen Mitte zwischen beiden schwebt, sowie der Vergleich mit der Kollision bzw. der Auflösung des Konflikts der beiden Mächte der S u b s t a n t i a l i t ä t und der S u b j e k t i v i t ä t , wie sie in mythischer Gestalt als die E u m e n i d e n und der sich gegen die Naturreligion durchsetzende schöne Gott A p o l l in Erscheinung treten, zeigt m . E . nicht eine Ästhetisierung oder Mythologisierung des Begriffs an. Es scheint mir vielmehr umgekehrt zu verdeutlichen, daß Hegel gesehen hat, daß eine wahrhafte ,Entmythologisierung' des Begriffs — sit venia verbo — nicht dadurch zu erreichen ist, daß die Herkunft des Begriffs verleugnet wird, sondern daß der Begriff in dem Maße frei wird von der Gefahr eines
733 734
735 736 737
Ebenda. Vgl. a . a . O . , philosophie, SW Bd. 14, SW Bd. 14, Vgl. a . a . O . ,
504 und SW Bd. 8, § 15, 61 sowie Jenenser Logik, Metaphysik und Natur124ff. und 161. Zur philosophischen Methode vgl. Kap. 11,3 dieser Arbeit. 403; vgl. SW Bd. 13, 74 und 248. 403. 299 und 318.
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
207
Rückschritts und einer Wiederholung des .Mythos', in dem er seine mythische Geschichte durcharbeitet und erinnert. Dem unteren Recht als dem ungeschriebenen, göttlichen — Hegel ordnet ihm als dem Recht der Familie den weiblichen Charakter, dem oberen Recht als dem Recht der Staatsmacht dagegen den männlichen Charakter z u 7 3 8 -
entspricht die Sprache, die Hegel — mit Homer — die
„Sprache der Götter" nennt 7 3 9 und die — mit Vico 7 4 0 - als unausgesprochene, numinose Sprache der Winke und Gebärden 7 4 1 verstanden werden kann. Dem oberen Recht als dem geschriebenen (gesetzten) menschlichen entspricht die gesprochene „Sprache der übertägigen Menschen". 7 4 2 (Es ist hier übrigens die Frage, ob es nicht schief ist, die erste Sprache mit der Sprache „des Gefühls, der Vorstellung und des verständigen, in endlichen Kategorien und einseitigen Abstractionen nistenden Denkens" 7 4 3 zu vergleichen). In der Mitte zwischen der Sprache der Götter und der Sprache der Menschen steht die Sprache des heroischen Ideals.
Vgl. Phä., 318ff. und 512/3. Vgl. SW Bd. 8, 17 und Homer, Ilias I 403, X I V 291, X X 74 und Odyssee X 305 und X I I 61. Plato kommt im „Kratylos" ( 3 9 1 d - 3 9 2 b , Stephanus-Numerierung) auf die Homerische Unterscheidung der Sprache der Menschen und der Sprache der Götter zu sprechen. 740 Vgl. G. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, a . a . O . , 18/9, 31, 88, 91 und 181. Vico, der zwischen der (geheimen, hieroglyphischen) göttlichen Sprache in stummen Kultzeremonien und Gebärden, der heroischen Sprache durch Sinnbilder, Ähnlichkeiten, Vergleiche, Bilder und Metaphern und der menschlichen Sprache in artikulierten Worten unterscheidet, begreift freilich das, was Homer die Sprache der Götter nannte, als heroische Sprache. — 738
739
Es würde zu weit führen, im Rahmen dieser Ausführungen auf diese, in ihrer Bedeutung kaum zu überschätzende Unterscheidung Vicos detailliert einzugehen und sie in ihrem Verhältnis zu den im Durchgang durch Hegels Darstellung der Kunst-Religion unterschiedenen Sprachstufen näher zu betrachten. Es läge allerdings nahe, die g ö t t l i c h e Sprache als „ a b s t r a k t e " , die h e r o i s c h e als „ l e b e n d i g e " und die m e n s c h l i c h e als „ g e i s t i g e " Sprache — und vice versa — zu charakterisieren. (Nach der Aussage von H . Kuhn hat Hegel Vico nicht gekannt. Vgl. H . Kuhn, Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel. a . a . O . , 105. Vgl. auch G . Lukäcs, Hegels Ästhetik, a . a . O . , 589 und E. Bloch, Subjekt-Objekt, Erläuterungen zu Hegel, a . a . O . , 64). 741
742 743
Vgl. G. Vico, Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker, a . a . O . , 70. Zur etymologischen Ableitung von „numen" aus „ n u o " = „nicke, winke", vgl. A. Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, 2. Bd., 186 und 189. Vgl. ferner SW Bd. 13, 73, wo Hegel auf Homer, Odyssee VIII, 1 5 9 - 2 0 0 eingeht. Vgl. schließlich F. Hölderlin, „Rousseau", in: Sämtliche Werke und Briefe, 1. Bd., a . a . O . , 237/8. SW Bd. 8, 17. Ebenda.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
So gesehen würde deutlich, daß in den Konflikt der die Verschiedenheit von Subjekt und Prädikat beinhaltenden äußeren Form des Satzes und des die Einheit von Subjekt und Prädikat zum Ausdruck bringenden Inhalts des Satzes der Konflikt der unausgesprochenen Sprache — die man auch als meinende kennzeichnen könnte — und der allgemeinverständlichen, ausgesprochenen Sprache eingegangen ist. So wie nun der Rhythmus erst durch die schwebende Mitte und Vereinigung von Akzent und Metrum entsteht, so soll auch der Rhythmus des konkreten philosophischen Begriffs aus einer Vereinigung der unausgesprochenen und der gesprochenen Sprache hervorgehen. Eine solche Vereinigung findet nun aber ebenso bereits in der Sprache der Dichtung statt, insofern nämlich, als in ihr als ausgesprochener Sprache das Unausgesprochene zur Sprache kommt bzw. hinzukommt, wodurch sie sich von der prosaischen Sprache unterscheidet. Das dichterische Wort und der philosophische Satz Die Darstellung der dialektischen Bewegung des Satzes Es zeigt sich eine Verwandtschaft des philosophischen Denkens mit der poetischen Phantasie bzw. eine Verwandtschaft des p h i l o s o p h i s c h e n S a t z e s , in dem ja die Identität der Identität und der Nichtidentität des Subjekts und Prädikats „als eine Harmonie" hervorgehen soll, mit dem d i c h t e r i s c h e n W o r t , die den Verdacht bekräftigen könnte, daß die Hegeische Philosophie eine „Begriffsdichtung" ist, 7 4 4 daß das spekulative Denken eine Art „poetisches Denken" ist und spekulative Sätze sprachliche Gebilde sind, „die weder Fisch noch Fleisch, weder Poesie noch Philosophie sind." 7 4 5 Hegel selbst spricht von einer Verwandtschaft des spekulativen Denkens mit der poetischen Phantasie. 746 Wird es als die Aufgabe der Poesie angesehen, das spekulative Denken zu Phantasie zu verleiblichen, 747 so kann man umgekehrt davon ausgehen, daß die Philosophie die poetische Phantasie zum spekulativen Denken zu vergeistigen hat. Unter spekulativem Denken ist dabei eine Betrachtungsweise zu verstehen, durch die das S a t z s u b j e k t ebensosehr als P r ä d i k a t , bzw. durch die ein S a t z g e g e n s t a n d (als Einzelnes, Gemeintes bzw. Be-
744 Vgl. < j a z u J e n Hinweis von H . Kuhn, Die Vollendung der klassischen deutschen Ästhetik durch Hegel, a . a . O . , 8. 745 746 747
Phä., Vorrede, Absatz 68, 55. Vgl. SW Bd. 14, 242. Vgl. a . a . O . , 243.
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sonderes) ebensosehr als S a t z a u s s a g e (als Allgemeines) aufgefaßt und ausgedrückt wird. Vom spekulativen Denken sagt Hegel, daß es einerseits das Besondere aus der zunächst unbestimmten Allgemeinheit zur Selbständigkeit entwickeln müsse, andererseits aber zu zeigen habe, wie sich innerhalb dieser Totalität des Besonderen, in der sich nur das expliziert, was an sich im Allgemeinen liegt, eben deswegen die Einheit wieder herstellt, und nun erst wirklich konkrete, durch ihre eigenen Unterschiede und deren Vermittlung erwiesene Einheit ist. Die spekulative Philosophie bringt nach Hegel durch diese Betrachtungweise Werke zustande, die „hierin den poetischen ähnlich, eine durch den Inhalt selbst in sich abgeschlossene Identität und gegliederte Entfaltung haben; bei der Vergleichung beider Thätigkeiten aber müssen wir ausser dem Unterschiede der reinen Gedankenentwickelung und der darstellenden Kunst eine andere wesentliche Verschiedenheit herausheben. Die philosophische Deduktion nämlich thut wohl die N o t w e n d i g keit und Realität des Besonderen dar, durch das dialektische Aufheben desselben beweist sie jedoch ausdrücklich wieder an jedem Besonderen selbst, daß es nur in der konkreten Einheit erst seine Wahrheit und seinen Bestand finde. Die Poesie dagegen schreitet zu solch einem absichtlichen Aufzeigen nicht fort; die zusammenstimmende Einheit muß zwar vollständig in jedem ihrer Werke vorhanden und als das Beseelende des ganzen auch in allem Einzelnen thätig seyn, aber diese Gegenwärtigkeit bleibt das durch die Kunst nicht ausdrücklich hervorgehobene, sondern innerliche An-sich, wie die Seele unmittelbar in allen Gliedern lebendig ist, ohne denselben den Schein eines selbstständigen Daseyns zu nehmen." 7 4 8 Für das spekulative Denken wie für die poetische Phantasie ist es erfreulich, in der Sprache Wörter zu finden, die verschiedene oder sogar entgegengesetzte Bedeutungen in sich vereinigen und insofern eine spekulative Bedeutung an ihnen selbst haben. Die Vereinigung Entgegengesetzter wird so auf naive Weise schon lexikalisch vorgefunden. Poesie und Prosa des spekulativen Denkens sind auf den spekulativen Geist der Sprache angewiesen. H.-G. Gadamer hat die spekulative Struktur insbesondere der Sprache der Dichtung hervorgehoben. „Der .spekulative Satz', der so das Denken herausfordert und bewegt, hat somit auf eine unverkennbare Weise Bestand in sich selbst, wie das lyrische Wort und wie das Sein des Kunstwerks überhaupt. In dem Bestand des dichterischen Wortes und des Kunst748
SW Bd. 14, 253/4.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
werkes liegt eine Aussage vor, die in sich ,steht', und wie der spekulative Satz die dialektische ,Darstellung' fordert, so fordert das , Kunstwerk' Deutung, mag es auch von keiner Deutung voll ausgeschöpft werden." 7 4 9 Gadamer weist darauf hin, daß der spekulative Satz so wenig ein seinem Aussagegehalt nach abgrenzbares Urteil ist, wie ein zusammenhanglos einzelnes Wort oder eine aus ihrem Zusammenhang gerissene kommunikative Äußerung in sich selbst eine geschlossene Sinneinheit darstellt. „Wie das Wort, das einer sagt, auf das Kontinuum zwischenmenschlicher Verständigung bezogen ist, aus der es sich so sehr bestimmt, daß es sogar zurückgenommen' werden kann, so verweist auch der spekulative Satz auf ein Ganzes der Wahrheit, ohne selber dieses Ganze zu sein oder zu sagen. Dies Ganze, das nicht Seiendes ist, denkt Hegel als die Reflexion in sich, durch die es sich als die Wahrheit des Begriffs erweist. Indem der spekulative Satz das Denken auf den Weg des Begreifens nötigt, bringt das Denken ,das Logische' als die immanente Bewegung seines Inhalts zur Entfaltung." 7 5 0 Ist zwar nun die Prosa des spekulativen Begriffs wie die Poesie der Vorstellung auf den spekulativen Geist der Sprache angewiesen, so sind aber beide auch zu unterscheiden: Die Anstrengung des spekulativen Denkens ist etwa im Fall einer Homonymie darauf gerichtet, die durch die Gleichnamigkeit eines Wortes mit besonderer, entgegengesetzter inhaltlicher Bedeutung entstehende innerliche Bewegung des sich von sich Abstoßens, die sich zunächst gewöhnlich als ein S c h w a n k e n der Bedeutung bemerkbar macht, im Allgemeinen an und für sich auszusprechen (auszuformulieren) und ausdrücklich herauszukehren. Die Anstrengung der poetischen Phantasie dagegen geht dahin, eine der inhaltlichen Bedeutung so entsprechende (gemäße) Formulierung, d.h. Wortfügung zu finden, daß die Bedeutung durch diese, schon von sich aus durch sich hindurchdeutende und ein Anderes zu verstehen gebende Zusammenfügung unausgesprochen hindurchklingt oder hindurchscheint und das Gedicht für sich spricht. Das Wort insbesondere der lyrischen Dichtung ist äußerlichkeitslose Äußerung, es nimmt sich selbst gleichsam zurück und ist so gleich Erinnerung. Es ist die Aufhebung des Unausgesprochenen im Ausgesprochenen. Daß das Wort im Gedicht sich gleichsam selbst widerruft, unterscheidet es insofern auch vom Orakelspruch, als derjenige, der
749
750
H . - G . Gadamer, Hegels Dialektik, a . a . O . , Die Idee der Hegeischen Logik, 66. Vgl. auch ders., Wahrheit und Methode, Tübingen 1965 2 , 4 4 5 / 6 . H . - G . Gadamer, Hegels Dialektik, a . a . O . , 67.
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
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den Befehlen des wahrredenden Gottes folgt, die Erfahrung der trügerischen Doppelsinnigkeit des Spruches erst macht, wenn er — unwiderruflich — gehandelt hat und in Kollision gerät. Das Wort im Gedicht hat nicht den Charakter des Imperativs, der stummen Gehorsam verlangt. Vielmehr stellt es sich selbst in Frage und ist gewissermaßen offen für die Antwort des Hörers. In dieser Offenheit des Wortes gerade mag seine Affinität zum Schweigen liegen. Der Hörer (bzw. Leser), der sich im Einvernehmen befindet mit dem, was ihm das Gedicht zu verstehen gibt, nimmt es zugleich als Versprechen des Schweigens. Die Anstrengung und Entsagung des Dichters ist, im Gedicht nichts zu sagen über das, was das Gedicht sagt, sondern es für sich selbst sprechen zu lassen. Die sich selbst zur äußeren wie zur inneren Reflexion bestimmende absolute Reflexion des spekulativen Denkens bricht nun das im Wort der Dichtung über die entgegengesetzte Bewegung von Äußerungen und Erinnerung bewahrte Stillschweigen und soll das Wahre an und für sich in Sätzen ausdrücken, die insofern spekulativ heißen, als sie durch einen Gegenstoß des Inhalts gegen die Form, des Allgemeinen gegen das Gemeinte und Unausgesprochene gekennzeichnet sind. Die den Unterschied von Subjekt und Prädikat in sich schließende Natur des Satzes (Form des Satzes) wird durch den spekulativen Satz zerstört, insofern dieser die „göttliche" Natur hat, durch seinen philosophischen Inhalt die Meinung dieses Unterschieds unmittelbar zu verkehren und so die Form des Satzes auf unmittelbare Weise aufzuheben. Die Anstrengung des spekulativen Denkens ist es nun aber gerade, über die esoterische Unmittelbarkeit der Erfahrung der Hemmung des formalen Denkens infolge des vom Inhalt ausgehenden Gegenstoßes hinauszugelangen und der gerechten Forderung des Bewußtseins, durch den Verstand zum vernünftigen Wissen zu gelangen zu genügen, kurzum, exoterisch zu sein. Die Forderung des Verstandes an die Spekulation als positive Vernunft ist es, nichts unausgesprochen und vorausgesetzt sein zu lassen und im Satz selbst über den ihn als spekuativen Satz kennzeichnenden Gegensatz des Inhalts als des Gesetzten und der Form als des Vorausgesetzten und nicht zu Worte Kommenden zu sprechen, d.h. im Satz die ihn zum spekulativen Satz machende dialektische Bewegung des Ausgesprochenen und Unausgesprochenen auszusprechen. Es wird sich aber herausstellen, daß der Satz, insofern er bloß ein S a t z ist und jeweils bloß ein Satz ist, dieser Forderung naturgemäß nicht gerecht werden kann. Die g a n z e Wahrheit in einem Satz, in Form eines
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des G e i s t e s "
Urteils auszusprechen bleibt ein Versprechen, das er allein nicht erfüllen kann. Die einzelne Aussage bedarf der E r g ä n z u n g . Das spekulative Denken wird der Forderung, die entgegengesetzte Bewegung der sich zur äußeren Reflexion bestimmden inneren Reflexion auszusprechen, nicht dadurch begegnen, daß es einen Satz aufzustellen versucht, der die Bewegung des Begriffs nicht nur auf unmittelbare Weise in Erfahrung bringt (durch einen Gegenstoß der die Nichtidentität von Subjekt und Prädikat unausdrücklich in sich enthaltenden Satzform und des umgekehrt die Identität beider zum Ausdruck bringenden Satzinhalts), sondern der auf einmal und mit einem Satz das, was hier als Gegenstoß unmittelbar erfahren wird, sprachlich gänzlich vermittelte, d. h. ausdrücklich zur Sprache brächte und zum Inhalt hätte, und zwar in einer Form, die nicht eben dieser Form halber neuerlich eine Aussprache nötig machte. Ein solcher Satz wäre kein Satz mehr, dessen philosophischer Inhalt seine Form z e r s t ö r t e , und d.h. hier zunächst einmal vernichtete, 7 5 1 sondern ein Satz der seine g a n z e äußere Form zum Inhalt hätte, in dessen Inhalt also seine Form gänzlich aufgehoben wäre, oder anders gesagt, ein Satz, dessen Form in die Einheit mit seinem Entgegengesetzten, d. h. seinem Inhalt getreten wäre, in eine Einheit, die als Harmonie hervorginge. Der Inhalt dieses Satzes wäre nicht die einfache, unmittelbare Negation seiner Form, sondern deren bestimmte Negation. Die inhaltliche Aussage der Identität von Subjekt und Prädikat würde sich nicht bloß unausdrückich und unbestimmt negativ auf die Meinung der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat beziehen, sondern ein solcher Satz würde vielmehr die Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat zum Ausdruck bringen und die reflektierende Bewegung zwischen inhaltlich Gesetztem und Vorausgesetztem selbst sprachlich darstellen und festhalten. Dieses wirkliche Spekulative, das der spekulative Satz ausdrücken s o l l , kann aber de facto nicht in der Form eines Satzes ausgedrückt werden. Mißverständlich ist deshalb die Behauptung, im spekulativen Satz sei die absolute Vermittlung bzw. die total durchgeführte Adäquanz der Ex-
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Dieser Lesart wurde hier der Vorzug gegeben, obgleich sie im Widerspruch insbesondere zum vorletzten Satz des Absatzes 61 zu stehen scheint, um hervorzuheben, daß im spekulativen Satz zwar die spekulative Einheit des Begriffs als Harmonie hervorgehen soll, dies jedoch faktisch nur geschieht, indem der spekulative Satz als (natürlicher) Satz zugrundegeht. Bei genauem Zusehen zeigt sich, daß die Klarheit des Hegeischen Textes hier in einigen Punkten zu wünschen übrig läßt. Manches Mißverständnis des spekulativen Satzes hätte sich durch eine ausführlichere Darstellung wohl vermeiden lassen.
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
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treme des Urteils als „vollbracht" behauptet. 752 Strenger könnte wohl gesagt werden, daß die absolute Identität von Subjekt und Prädikat nicht so sehr in irgendeinem Satz vollbracht ist, als daß sie sich in der Fortbestimmung des Begriffs fortwährend vollbringt, indem sich durch die Zerstörung der N a t u r des Urteils bzw. des Satzes die spekulative Einheit des Begriffs als des F r e i e n 7 5 3 wiederherstellt. Die Resurrektion — wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck im Zusammenhang mit der Rede vom v o l l b r a c h t e n Spekulativen aufzunehmen — des s p e k u l a t i v e n Inhalts des Satzes ist als Resultat der Zerstörung der Natur bzw. der Form des S a t z e s zu fassen. Es ist u n v e r n ü n f t i g , zu fordern, daß die Sprache dem Denken das Spekulative in Form eines Satzes abnehmen soll, so wie es u n v e r v e r s t ä n dig wäre zu glauben, das spekulative Denken könne es sich deshalb leicht machen und sich die dialektische Darstellung des Spekulativen überhaupt ersparen. Puntel sagt ganz richtig: „Daß Hegel die Form des Satzes als inadäquaten und sogar falschen Ausdruck des Wahren betrachtet, kann für ihn nicht bedeuten, daß er die Unmöglichkeit oder auch Unfähigkeit der Darstellung der Wahrheit behauptet oder auch nur empfindet. Für ihn ist das Wahre nur in seiner Darstellung." 754 Zu Anfang des Absatzes 65 der Vorrede sagt Hegel: „In der Tat hat auch das nicht spekulative Denken sein Recht, das gültig aber in der Weise des spekulativen Satzes nicht beachtet ist. Daß die Form des Satzes aufgehoben wird, muß nicht nur auf u n m i t t e l b a r e Weise geschehen, nicht durch den bloßen Inhalt des Satzes. Sondern diese entgegengesetzte Bewe752 Yg| Wolfgang Marx wohl nur en passant gemachte Bemerkung über den von spekulativen Satz in: Hegels Theorie logischer Vermittlung, Stuttgart 1972, 56. — Soweit ich sehe, wird der spekulative Satz nur an dieser Stelle erwähnt. 7 5 3 Die Rede vom Begriff als dem Freien wiederum mag allerdings — wie auch diejenige von der Eröffnung eines Reichs der Freiheit im Begriff — manchem als „logischer Unsinn" vorkommen. Demgegenüber ist m.E. zu zeigen, daß die Idee keine unmögliche rationale Konstruktion Hegels ist. Vielmehr bin ich der Auffassung, daß f ü r die Logik des Begriffs und insbesondere f ü r die Logik der Idee das gilt, was D. Henrich im Hinblick auf die Logik der Reflexion gesagt hat, nämlich, daß die Sequenz der Gedanken und Argumente in der Logik — mag man auch mitunter Bedenken bezüglich der logischen Konsequenz haben — weder bloße Assoziation — weder bloß willkürliches Spiel der Reflexion - (vgl. z . B . H. Ulrici, Über Princip und Methode der Hegeischen Philosophie, Halle 1841, 112) noch Resultat einer persönlichen Divination ist. Vgl. D. Henrich, Hegels Logik der Reflexion, in: Hegel im Kontext, Frankfurt 1967, 132. 754
L. B. Puntel, Darstellung, Methode und Struktur, in: Hegel-Studien, Beiheft 10 (1973), 39; vgl. a . a . O . , 34.
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gung muß ausgesprochen werden; sie muß nicht nur jene innerliche Hemmung, sondern dies Zurückgehen des Begriffs in sich muß d a r g e s t e l l t sein." 7 5 5 E. Metzke kommentiert: „116. Zunächst zum Wortlaut: statt „sie" nach dem Semikolon drängt sich auf, ein „ s o " zu lesen, wenn das nicht eine zu einfache Glättung ist; sonst handelt es sich wohl um einen gebrochenen Satz: „sie (nämlich die entgegengesetzte Bewegung spekulativen Denkens) muß nicht nur jene innerliche Hemmung" (zu ergänzen: darstellen), „sondern dies Zurückgehen des Begriffes in sich muß dargestellt sein." Das Verständnis des philosophischen Sinns ergibt sich unmittelbar aus dem Anm. 115 Gesagten: Nicht nur die „Hemmung", sondern auch die Bewegung des Zurückgehens muß philosophisch dargestellt werden; sie gerade macht den spekulativen Charakter der Darstellung aus." 7 5 6 M . E . handelt es sich nicht um eine anakoluthische, sondern um eine elliptische Konstruktion, durch die zwei Sätze zusammengefaßt werden, in dem das beiden gemeinsame Hilfsverb nur im letzten Satz aufgenommen wird. Ersetzt man „sie" nicht willkürlich durch „so", so ist also hinter „innerliche Hemmung" nicht „darstellen" (bzw. „dargestellt sein"), sondern „sein" zu ergänzen. Der Satz hieße dann: „sie muß nicht nur jene innerliche Hemmung (sein), sondern dies Zurückgehen des Begriffs in sich muß d a r g e s t e l l t sein." In beiden Sätzen geht es nicht um eine Gegenüberstellung der Hemmung einerseits und der Bewegung des Zurückgehens andererseits, denn die Hemmung ist nichts anderes als „dies" Zurückgehen des Begriffs in sich. Vielmehr geht es um die Gegenüberstellung der Unmittelbarkeit und Innerlichkeit der Hemmung einerseits und der Äußerung und sprachlichen Darstellung dieser Hemmung andererseits. In der d i a l e k t i s c h e n Darstellung 757 geschieht dem V e r s t a n d sein Recht gegenüber dem P o s i t i v - V e r n ü n f t i g e n . Das spekulative Denken wird also das, was es in einem die ganze Wahrheit erfassenden Satz nicht erreichen kann, zunächst durch zwei einander entgegengesetzte Sätze zu erreichen suchen, von denen der eine die Identität 755 756 757
Phä., 52/3. E. Metzke, Hegels Vorreden, Heidelberg 19703, 204. Insofern als in der Darstellung vom Dogmatismus des Verstandes, der das Wahre in einem Satz zu fassen versucht, zu zwei einander entgegengesetzten Sätzen fortgegangen wird, die beide mit gleicher Notwendigkeit behauptet werden, d.h. insofern zur Antinomie fortgegangen wird, im Antinomischen nach Hegel aber das dialektische oder bloß negativ vernünftige Moment des Logischen zu sehen ist (vgl. u. a. „Enzyklopädie",. § 48) kann hier von einer d i a l e k t i s c h e n Darstellung des Spekulativen gesprochen werden.
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
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von Subjekt und Prädikat zu seinem Inhalt, der andere dagegen die in der Form des einen Satzes bloß unausgesprochen enthaltene Nichtidentität von Subjekt und Prädikat zu seinem Inhalt hat. Zunächst bleibt festzuhalten: Das Wahre oder die dialektische Bewegung wird nicht in einem Satz, der ein festes Resultat ist, bestehen, sondern als ganze Bewegung Sätze zu ihren Teilen haben, die einander ergänzen. „Der D o g m a t i s m u s der Denkungsart im Wissen und im Studium der Philosophie ist nichts anderes als die Meinung, daß das Wahre in einem Satze, der ein festes Resultat ist, oder auch der unmittelbar gewußt wird, bestehe." 7 5 8 — Eher wird das Wahre als eine Kette von Sätzen vorgestellt werden können, in der jedes einzelne Glied die Reflexion in sich ist, die, in den Anfang zurückkehrend, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist. 7 5 9 Der absolute Gegenstoß von Form und Inhalt, die reflektierende, in sich selbst entgegengesetzte Bewegung „ist die dialektische Bewegung des Satzes selbst. Sie allein ist das w i r k l i c h e Spekulative und nur das Aussprechen derselben ist spekulative Darstellung. Als Satz ist das Spekulative nur die i n n e r l i c h e Hemmung und die nicht d a s e i e n d e Rückkehr des Wesens in sich. Wir sehen uns daher oft von philosophischen Expositionen an dieses i n n r e Anschauen verwiesen und dadurch die Darstellung der dialektischen Bewegung des Satzes erspart, die wir verlangten. — Der S a t z soll ausdrücken, was das Wahre ist, aber wesentlich ist es Subjekt; als dieses ist es nur die dialektische Bewegung, dieser sich selbst erzeugende, fortleitende und in sich zurückgehende Gang." 7 6 0 Puntel bemerkt treffend, daß das, was Hegel hier zur Sprache zu bringen versucht habe „sozusagen das Gesetz oder die Formel seines ganzen Denkens" sei. 7 6 1 Hegels Äußerungen über die hier thematisierte Einheit von Sache, Methode und Darstellung, d.h. über die „Mitte seines Denkens finden sich zerstreut in allen seinen Werken; nirgends aber ist er auf diesen Sachverhalt in so klarer und für das Verständnis und die Einschätzung seiner Werke so aufschlußreicher Weise eingegangen wie bei der Behandlung des spekulativen Satzes am Ende der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes." 7 6 2 Was nun das Aussprechen der Innerlichkeit, die Darstellung der dialektischen Bewegung des Satzes angeht, so erinnert Hegel zu Anfang des
758 759 760 761 762
Phä., 34. Vgl. Log. II, 504. Phä., 53. L. B. Puntel, Darstellung, Methode und Struktur, 32. Ebenda.
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Absatzes 66 daran, „daß die dialektische Bewegung gleichfalls Sätze zu ihren Teilen oder Elementen habe; . . . " . 7 6 3 W . Marx sagt in „Absolute Reflexion und Sprache": „Der einzelne Satz kann allenfalls ein „festes Resultat" nennen. Bei der Darstellung des sich als ein ganzes vollendenden Lebens der Wahrheit wird er als einzelner gerade aufgehoben. Der einzelne Satz muß zu einem Glied innerhalb einer Kette von Sätzen werden. In dem Verkettetsein der einzelnen Sätze als voraussetzender und setzender liegt allein die Möglichkeit, darzustellen, wie sich die Totalität der Bestimmungen zu einem wahren Zusammenhang hervorbildet. Die spekulative Darstellung muß ein ganzes Gefüge von Sätzen in Anspruch nehmen. Als ein solches Gefüge hat die „dialektische Bewegung . . . Sätze zu ihren Teilen oder E l e m e n t e n " " . 7 6 4 Bereits R. Kroner hat darauf aufmerksam gemacht, daß sich das Wahre nicht in einem Satz aussprechen lasse, „sondern nur im System, d.h. in der Folge der Sätze, die in ihrem Zusammehang, der als solcher selbst kein Satz ist, sondern die durch alle Sätze hindurchgehende, sie setzende, sie entgegensetzende und sie zusammensetzende T ä t i g k e i t , i n der sich der Geist, das „Sein und Wesen" dessen, was in den Sätzen ausgeprochen wird, betätigt." 7 6 5 763 764
765
Phä., 53. W . Marx, Absolute Reflexion und Sprache, a . a . O . , 22. Vgl. J . Simon, Die Kategorien im „gewöhnlichen" und im „spekulativen" Satz, a . a . O . , 24 und Th. Bodammer, Hegels Deutung der Sprache, a . a . O . , 232, wo Bodammer darauf hinweist, daß die Bewegung des Begriffs in einem einzelnen Urteil, das eine bestimmte generelle Einseitigkeit behält, nicht hinreichend deutlich ausgesprochen werden könne, sich aber im Zusammenhang mehrerer Urteile sichtbar machen lasse. R . Kroner, Von Kant bis Hegel, 2. Bd., Die Dialektik, 282. Vgl. dazu wiederum J . Simon, Das Problem der Sprache bei Hegel, a . a . O . , 193, Anm. 66 sowie W. Krohn, Die formale Logik in Hegels „Wissenschaft der Logik" München 1972, 96, wo Krohn darlegt, daß es die übergreifende Einheit eines Urteilszusammenhangs sei, den man einen „spekulativen Satz" nennen könnte. Vgl. ferner K. Düsing, das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a . a . O . , 200ff. und K. Schräder-Kleben, Das Problem des Anfangs in Hegels Philosophie, II. Kapitel: Das Problem der Methode in Auseinandersetzung mit Hegels Theorie des spekulativen Satzes, wo ausgeführt wird, daß der spekulative Satz sich nur als ein ganzes System von Sätzen vollziehen könne, dessen Bewegung die dialektische Methode ist. (Vgl. a . a . O . , 61 und 53 ff.). Schrader-Klebert moniert, daß der absolute Begriff mit dem, als dem sich zur Methode machenden philosophischen Gegenstand, der spekulative Satz sinngemäß zusammenfällt (vgl. a . a . O . , 53), „keine Kriterien für seine Absolutheit" angeben könne. ( A . a . O . , 56f.). Wenn das Maß „immer nur das Absolute ist, welches selbst erst das ganze aller Bestimmungen sein soll, so kann sich die Methode nicht mehr explizit als Methode erweisen, sie ist selbst ins Absolute aufgehoben, und für das Sich-Wissen des Absoluten gibt es keine Kriterien." (А. а. O . , 62). „Daher müßte die methodische Ausgestaltung der
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
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Zur Problematik des Gegenstoßes in der dialektischen Bewegung des Satzes Bevor ich versuche, die Überlegungen zum spekulativen Satz mit Hilfe der „Wissenschaft der Logik" weiterzuführen — von zentraler Bedeutung wird die Betrachtung der Fortbestimmung des Urteils zur Verschiedenheit der Urteile sein — möchte ich meine Besprechung des Absatzes 61 der Vorrede zur „Phänomenologie" abschließen und auf den letzten Satz dieses Absatzes zu sprechen kommen. In diesem Satz, in dem Hegel den bereits ausführlicher behandelten Vergleich des Konflikts der Form eines Satzes und der sie zerstörenden Einheit des Begriffs mit dem im Rhythmus stattfindenden Konflikt zwischen Akzent und Metrum abschließt, ergibt sich eine Schwierigkeit, zu deren Klärung die Anmerkung 2 des ersten Kapitels der „Wissenschaft der Logik" beitragen kann. Der letzte Satz von Absatz 61 lautet: „Die Form des Satzes ist die Erscheinung des bestimmten Sinnes oder der Akzent, der seine Erfüllung unterscheidet; daß aber das Prädikat die Substanz ausdrückt und das Subjekt selbst ins Allgemeine fällt, ist die E i n h e i t , worin jener Akzent verklingt." 7 6 6 Glockner kommentiert: „Die Form des Satzes wird mit dem Akzent verglichen, welcher den „bestimmten Sinn" zum Ausdruck bringt; die
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„Bewegung des Begriffs" so vorgenommen werden, daß sich jede Bestimmtheit an sich selbst in bezug auf ihre andere relativiert und als gesetzte bereits zum Grund ihrer eigenen Aufhebung durch ihr notwendiges Gegenteil wird. Die fortschreitende systematische Aufhebung aller Bestimmtheiten kann nicht durch das Absolute geschehen, dann würde dieses nämlich selber zum je bestimmten Gegensatzglied eines Widerspruchs, das aber nur durch eine bloße Negation bestimmt sein kann; sondern die notwendige Aufhebung ist nur durch die bestimmt vermittelte Uberführung jeder Bestimmtheit aus sich in ihr wirkliches Gegenteil möglich. Dann müssen aber explizite Kriterien angegeben werden, die den Widerspruch zwischen zwei Bestimmtheiten notwendig machen und ihre Aufhebung zureichend begründen. Solche Kriterien können aber im System des absoluten Begriffs nicht mehr angegeben werden." ( A . a . O . , 56/7). Wenn ich recht sehe, können diese Bedenken zu einem großen Teil ausgeräumt werden. Ich habe mich durch die Erörterung des absoluten Verhältnisses des Inhalts und der Form im Zusammenhang mit der Erörterung der absoluten Methode als einer sowohl analytischen als auch synthetischen bemüht, solche Kriterien anzugeben. (Vgl. Kap. 11,3 dieser Arbeit). Mag man auch Bedenken bezüglich der Vollkommenheit der Durchführung im einzelnen haben: Hegels absolute Methode ist nichts so ,Unkontrollierbares' (vgl. K. Schrader-Klebert, Das Problem des Anfangs in Hegels Philosophie, a . a . O . , 57f.), wie man zunächst vielleicht geneigt ist, zu unterstellen. Vgl. etwa Η . H . Ottmann, Das Scheitern einer Einleitung in Hegels Philosophie, a . a . O . , 213 und 1 8 5 - 1 9 2 . Phä., 51.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
Sinngebung als solche (die „Erfüllung") wird von diesem Sinne selbst unterschieden." 767 Das sich über seinen Inhalt erhebende und von ihm als Prädikat unterscheidende Subjekt fällt ins Allgemeine; dieses Subjekt „zerfließt" 768 und „erfüllt" 769 seinen Inhalt. Strenggenommen ist allerdings auch hier zu sagen, daß die Konkretisierung und Erfüllung des abstrakten und leeren Allgemeinbegriffs geschehen soll, daß aber dieses Versprechen vom Satz, in Form eines fixen Urteils, in dem Subjekt und Prädikat nur durch eine inhaltsleere Kopula miteinander verbunden, nicht aber vollkommen zusammengeschlossen sind, nicht gehalten werden kann. Denkt man hier jedoch einmal weniger an ein schriftlich festgehaltenes Urteil als daran, was geschieht, wenn ein Urteil gefällt wird, bzw. wenn eine Mitteilung gemacht wird, an das, was geschieht, wenn ein Satz ausgesprochen und aufgefaßt wird, so ist, indem diese Mitteilung vernommen ist, der Unterschied von Subjekt und Prädikat „verhallt" 770 oder verklungen; Subjekt und Prädikat müssen als fest einander gegenüberstehende immer auch schon zusammengefallen sein, um als sinnvolle Einheit hervorgehen zu können. Demgemäß betrachtet das philosophische Denken den Unterschied von Subjekt und Prädikat im philosophischen Satz spekulativ als notwendige Erscheinung des Wesens der Einheit des Begriffs. Der Akzent liegt auf dem Unterschied, den die natürliche Form des Satzes in sich schließt, das Metrum gleicht dem Inhalt 771 , der zerstörenden Einheit des Begriffs, in der der Akzent verklingt. Der Gegenstoß geht hier offenbar vom Metrum, von der Identität von Subjekt und Prädikat aus. Dieser Gegenstoß soll den Unterschied nicht nur zerstören im Sinne von vernichten, sondern soll vielmehr auch zu seiner Aufhebung führen. Er soll nicht bloß verklingen und verschwinden, sondern dies Verschwinden soll, indem er im Einklang (in Harmonie) mit der Identität ist, unmittelbar sein Bleiben und Bewahren sein. Bei der rhythmischen Versifikation nun dagegen, von der Hegel sicherlich bei dem in Absatz 61 angestellten Vergleich ausging, bringt der Akzent (seil, der Wortakzent) den Gegenstoß gegen das Metrum (seil, den Vers767 768 769 770 771
SW Bd. 22, H . Glockner, Hegel, 2. Bd., 467/8. Phä., 51. A . a . O . , 50. A . a . O . , 363. Zur Unterscheidung des abstrakten Inhalts vom philosophischen Gehalt vgl. Kap. 11,1 dieser Arbeit.
absoluten
Inhalt,
d.h.
vom
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akzent bzw. den Versrhythmus) hervor. Hier ist es der Akzent, der das Naturmaß der Längen und Kürzen der Silben zerstört. 772 Auf diesen Sachverhalt hat bereits W. Marx in seiner Interpretation des Absatzes 61 aufmerksam gemacht: „Eine Schwierigkeit bietet die Tatsache, daß Hegel später in der „Ästhetik" zum einen nicht mehr zwischen Rhythmus und Metrum unterschied, sowohl bei der antiken („Ästhetik", S. 299) (SW Bd. 14, G.W.) wie bei der modernen Prosodie (ib. S. 318), und daß es hier immer der Akzent ist, von dem der Gegenstoß ausgeht, im ersten Fall der Wortakzent gegenüber dem Versrhythmus (sc. dem Metrum), im anderen der Sinnakzent gegenüber dem qualitativen Takt (sc. Metrum) — während im Falle des spekulativen Inhalts der Gegenstoß gerade nicht vom Unterschiedensein, sondern vom identischen Satz ausging." 773 An dieser Stelle scheint es mir hilfreich zu sein, die Anmerkung 2 des ersten Kapitels der „Wissenschaft der Logik", sowie den Zusatz zum § 82 der „Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften" heranzuziehen. Hier heißt es: „Ein spekulativer Inhalt kann deshalb auch nicht in einem einseitigen Satz ausgesprochen werden. Sagen wir ζ. B. das Absolute sey die Einheit des Subjektiven und des Objektiven, so ist dieß zwar richtig, jedoch insofern einseitig, als hier nur die E i n h e i t ausgesprochen und auf diese der Accent gelegt wird, während doch in der That des Subjektive und das Objektive nicht nur identisch, sondern auch unterschieden sind." 774 Auch hier legt Hegel, im Gegensatz zur „Phänomenologie" den Akzent nicht auf den Unterschied, sondern auf die Einheit. Das Gleiche geschieht in der „Wissenschaft der Logik". Zu Anfang der Anmerkung 2, deren erster Absatz seiner Bedeutung für den folgenden Teil dieser Arbeit wegen ganz wiedergegeben werden soll, heißt es: „Es ist weiter ein anderer Grund anzuführen, welcher zu dem Widerwillen gegen den Satz über Sein und Nichts behilflich ist; dieser Grund ist, daß der Ausdruck des Resultats, das sich aus der Betrachtung des Seins und des Nichts ergibt, durch den Satz: Sein u n d N i c h t s ist Eins u n d d a s s e l b e , unvollkommen ist. Der Akzent wird vorzugsweise auf das E i n s - u n d d a s s e l b e s e i n gelegt, wie im Urteile überhaupt, als in welchem das Prädikat erst es aussagt, was das Subjekt ist. Der Sinn scheint daher zu sein, daß der Unterschied geleugnet werde, der doch zugleich im Satze unmittelbar vorkommt; denn er spricht die beiden Bestimmungen, Sein und Nichts, aus und enthält sie als unterschiedne. — Es 772 773 774
Vgl. SW Bd. 14, 299, 303, 309 und 315. W. Marx, Absolute Reflexion und Sprache, a.a.O., Anm. 10, S. 17. SW Bd. 8, 197.
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
kann zugleich nicht gemeint sein, daß von ihnen abstrahiert und nur die Einheit festgehalten werden soll. Dieser Sinn gäbe sich selbst für einseitig, da das, wovon abstrahiert werden soll, gleichwohl im Satze vorhanden ist und genannt wird. — Insofern nun der Satz: Sein und N i c h t s ist d a s s e l b e , die Identität dieser Bestimmungen ausspricht, aber in der Tat ebenso sie beide als unterschieden enthält, widerspricht er sich in sich selbst und löst sich auf. Halten wir dies näher fest, so ist also hier ein Satz gesetzt, der, näher betrachtet, die Bewegung hat, durch sich selbst zu verschwinden. Damit aber geschieht an ihm selbst das, was seinen eigentlichen Inhalt ausmachen soll, nämlich das W e r d e n . " 7 7 5 Indem der Satz „das Sein und das Nichts ist dasselbe" die Identität ausspricht, widerspricht dieser Inhalt seiner Form, die die Nichtidentität enthält. Der Satz löst sich auf, er „zerstört sich". 7 7 6 Das Aussprechen und und Setzen der Identität bringt einen Gegenstoß gegen die vorausgesetzte, im Satz gleichfalls unmittelbar vorkommende Nichtidentität hervor. Diesen im Aussprechen vorhandenen Widerspruch, die Bewegung des Gegenstoßes gegen das bloß Vorausgesetzte erkennt aber zunächst bloß die äußere Reflexion in ihm. Das macht es notwendig, das, was in diesem Satz unausdrücklich (unthematisch) als bloß Vorausgesetztes vorhanden ist und bloß unmittelbar (natürlich) vorkommt, in einem diesem Satz entgegengesetzten Satz ausdrücklich zu setzen (thematisieren) und auszusprechen. Die Unmittelbarkeit der Erfahrung des Gegenstoßes im Satz wird sprachlich vermittelt durch das Hinzusetzen des aus ihm resultierenden Gegensatzes, d.h. des entgegengesetzten Satzes, der auf den ersten Satz zurückkommt Und ü b e r ihn spricht, und zwar über das, was dieser seiner Form nach als Voraussetzung in sich schließt. Der Gegenstoß der inneren Reflexion richtet sich also gegen das, was der Satz an sich enthält, d.h. was an ihm Gegenstand für die äußere Reflexion ist und macht die Ubersetzung dieses bloß Gegenständlichen in eine Aussage für die innere Reflexion notwendig, sobald über das Vorhandensein der Nichtidentität einem Anderen Mitteilung gemacht werden soll. Ähnlich wie in der „Phänomenologie" geht also der Gegenstoß gegen das vom Subjekt zum Prädikat verlaufende vorstellende (formale) Denken vom Inhalt, d. h. vom Prädikat aus, das erst aussagt, was das Subjekt ist. Für die Schwierigkeit nun, die sich durch den Vergleich des Konflikts der Satzform und des Satzinhalts mit dem Akzent und dem Metrum in der 775 776
L o g . I, 75/6. A . a . O . , 93.
Die Vorrede zur „Phänomenologie des Geistes"
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rhythmischen Versifikation ergeben hat, bedeutet das m . E . : Zwar liegt in der „Phänomenologie" der Akzent auf dem in der Form beschlossenen Unterschied, in der „Wissenschaft der Logik", der „Enzyklopädie" und auch in den „Vorlesungen über die Ästhetik" dagegen auf der Einheit des Begriffs bzw. auf der inhaltlichen Bedeutung, ungeachtet dessen aber, daß in der „Phänomenologie" der Akzent anders gesetzt ist, scheint mir deutlich geworden zu sein, daß der Gegenstoß in jedem Fall - also auch in der „Phänomenologie" — von der Seite des Inhalts, resp. des Allgemeinen und Gesagten ausgeht und sich gegen die Seite der natürlichen Form, resp. des Einzelnen und Gemeinten richtet. Auf die Frage allerdings, warum Hegel in der „Phänomenologie" den Akzent anders gesetzt hat, d.h. warum er im Gegensatz zu den aus den „Vorlesungen über die Ästhetik", der „Wissenschaft der Logik" und der „Enzyklopädie" herangezogenen Stellen im letzten Satz des Absatzes 61 der Vorrede zur „Phänomenologie" die Form des Satzes mit dem Akzent vergleicht, während die Anordnung der im zweiten Satz dieses Absatzes miteinander verglichenen Begriffspaare Satzform und Einheit des Begriffs einerseits, Metrum und Akzent andererseits zunächst eher vermuten ließe, daß die Einheit des Begriffs dem Akzent zugeordnet würde, habe ich· bisher noch keine befriedigende Antwort gefunden.
Die erfüllte Einheit des Begriffs und die leere Kopula des Urteils Bemerkungen im Hinblick auf den Anfang der Seinslogik Uberleitend zum zweiten Kapitel dieser Arbeit, insbesondere zu dem zu Beginn dieses Kapitels diskutierten Problem des Anfangs der Logik bleibt festzuhalten, daß der Gegenstoß des Allgemeinen gegen das Einzelne, d.h. die entgegengesetzte Bewegung des Begriffs in der Form eines einfachen Urteils nicht ausgesprochen weden kann, in dem die Satzteile nicht zur erfüllten Einheit des Begriffs als zum konkreten Allgemeinen zusammengeschlossen sind, sondern nur durch die leere K o p u l a in Verbindung stehen. Dieser Schwierigkeit beim Fassen des Entgegengesetzten in seiner Einheit wird — wie gesagt — zunächst dadurch begegnet, daß der entgegengesetzte Satz hinzugefügt wird, daß z . B . das Urteil „Das Sein und das Nichts ist dasselbe", das als ein aus dem logischen Zusammenhang herausgenommenes ungeschickt ist, die ganze spekulative Wahrheit auszudrücken durch das Urteil „das Sein und das Nichts ist nicht dasselbe"
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I. Kapitel. Die „Phänomenologie des Geistes"
ergänzt wird. (Es wird sich allerdings zeigen, daß die Schwierigkeit der spekulativen Komprehension der Satzteile dadurch noch nicht beseitigt ist, sondern in Gestalt der Schwierigkeit der spekulativen Komprehension der Teilsätze des Sinnzusammenhangs zurückkehrt). Die Notwendigkeit des Hinzusetzens des entgegengesetzten Urteils „Sein und Nichts ist nicht dasselbe" könnte auch dadurch verdeutlicht werden, daß in dem Urteil „Sein und Nichts ist dasselbe" das Sein nicht nur als es selbst, sondern auch noch in Form der Kopula des Urteils auftritt. 7 7 7 Diese Präponderanz des Seins wird durch Hinzufügung des Nichts in Form des Adverbs „nicht" zunächst ausgeglichen. Darin, daß nicht nur in dem Satz „Das reine Sein und das reine Nichts ist also dasselbe", sondern auch in den folgenden philosophischen Sätzen der „Wissenschaft der Logik" das Sein als Kopula auftritt 778 ist die Präsenz des Seins, und damit des Anfangs auch noch in der Begriffslogik zu sehen, so wie umgekehrt in der Kopula dieses Satzes bereits die Einheit des Begriffs in ihrer äußersten Unbetimmtheit und Unmittelbarkeit, d.h. in ihrer größten Leerheit und Abstraktheit gesehen werden kann. 7 7 9 D . Henrich verdanke ich den Hinweis darauf, daß bereits J . E. Erdmann und С. H . Weiße das Sein am Anfang der „Wissenschaft der Logik" als die Kopula des Urteils angesehen haben. (Bei Erdmann heißt es: „ S e y n ist wesentlich verschieden von Existenz oder gar Wirklichkeit. Die Chi-, märe, die nicht existirt, geschweige denn Wirklichkeit hat, ist — eine Chimäre nämlich. Seyn ist nur Infinitiv der Copula I s t . . , " . 7 8 0 Um der Gefahr der Hypostasierung des Seins zum S e i e n d e n zu begegnen, faßt Weiße dementsprechend „Sein" nicht als Substantiv, sondern als Infinitiv des Verbs „sein" auf 7 8 1 , das in konjugierter Form als Kopula des Urteils auftritt. 782 ) Mag es nun zwar leicht sein zu zeigen, daß im Falle der Betrachtung des Seins als Kopula eine Reflexionsbestimmung zuhilfe genom777 778 779
780 781
782
Vgl. auch R. Kroner, Von Kant bis Hegel, 2. Bd., 442f. Vgl. Log. I, 357. R. Kroner glaubt die Dreiteilung der Logik schon am ersten Satz „Das Sein ist Nichts" ablesen zu können: „Die Logik zerlegt sich in diese drei Bestandteile, indem sie vom Sein zum Wesen und vom Wesen zum Begriff fortschreitet. In diesem Fortschreiten enthüllt sich das Nichts des ersten Satzes als Wesen, und das „Ist" als Tätigkeit des Begreifens." (R. Kroner, Von Kant bis Hegel, 2. Bd., 441.). J. E. Erdmann, Grundriß der Logik und Metaphysik, Halle 1841, 17. С. H. Weiße, Grundzüge der Metaphysik, Hamburg 1835, 116, Anm. Entsprechend wäre das Substantiv „Nichts" durch das Adverb „nicht" zu substituieren. Vgl. a . a . O . , 120 und Log. I, 68. Vgl. С . H. Weiße, Grundzüge der Metaphysik, 111. Vgl. auch I. H. Fichte, Grundzüge zum Systeme der Philosophie, Heidelberg 1836, 2. Abteilung, 58 und 61/2.
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men wird — ist doch im Urteil in der Kopula die I d e n t i t ä t des Subjekts und Prädikats gesetzt — so ist es m.E. schwer einzusehen, inwiefern hier der Begriff, der vorgeblich unbestimmte Unmittelbarkeit denken soll als „konkrete Einheit von Subjekt und Prädikat" genommen wird, 783 ist doch die in der Kopula gesetzte Identität zunächst gerade nur als „abstraktes Ist" 7 8 4 und die Kopula bloß die „einfache inhaltlose Beziehung des Prädicates auf das Subject." 785 W. Albrecht hat in seiner Arbeit „Hegels Gottesbeweis, eine Studie zur „Wissenschaft der Logik" " 7 8 6 das Sein am Anfang der Logik als hypostasierte reine Unmittelbarkeit, als vergegenständlichte Kopula gefaßt. Er vertritt die Auffassung, daß die wichtigsten Bestimmungen, die das Sein im Laufe seiner Selbstentfaltung annimmt, bei der Kopula des sich fortentwickelnden Urteils wiederkehren und unternimmt den Versuch, von der Urteilslehre auf den Anfang der Logik zurückzuschließen, indem er die Selbstauslegung des Begriffs im Urteil sinngemäß auf die Entwicklung des Seins überträgt. 787
783 784 785 786
787
Vgl. D. Henrich, Anfang und Methode der Logik, in: Hegel im Kontext, a . a . O . , 84. SW Bd. 8, § 171, 370. SW Bd. 3, § 96, 140 und a . a . O . , § 11, 148. W. Albrecht, Hegels Gottesbeweis, eine Studie гиг „Wissenschaft der Logik", Berlin 1958 (vgl. insbes. Kap. V, Die hypostasierte Kopula). Vgl. Kap. 11,2 dieser Arbeit.
II. Kapitel Überlegungen zu Hegels Begriff der Spekulation ausgehend von der Interpretation einzelner Abschnitte der „Wissenschaft der L o g i k " 1. Die sprachliche Darstellung des Spekulativen Zum Problem des Anfangs der „Wissenschaft der Logik" In diesem Kapitel werde ich versuchen, mich der Problematik des spekulativen Satzes bzw. der sprachlichen Darstellung des Spekulativen von der „Wissenschaft der Logik" her zu nähern. Im Zentrum der Untersuchung werden bestimmte Abschnitte der Urteilslehre stehen, die m. E. im Zusammenhang dieser Problematik bisher zu wenig gewürdigt worden ist. Zu Anfang bzw. zu Ende dieser Untersuchung werde ich auf bestimmte Teile des ersten bzw. des letzten Kapitels der „Wissenschaft der Logik" näher eingehen. Bevor ich wieder auf die sich mit dem Problem der sprachlichen Darstellung des Anfangs der Logik beschäftigende Anmerkung 2 des ersten Kapitels der „Logik" zurückkomme, möchte ich jedoch eine Vorbemerkung zu dem häufig traktierten Anfang der „Wissenschaft der Logik" machen. Zu der Frage, warum Hegel den Anfang der „Wissenschaft der Logik" mit dem Sein gemacht hat, möchte ich zunächst an die §§ 11 — 16 von Kants Logik 1 erinnern.2 Am Ende muß es einen höchsten Begriff (conceptum summum) geben „von dem sich, als solchem nichts weiter abstrahieren läßt, ohne daß der ganze Begriff verschwindet." 3 „Die größte mögliche Abstraction giebt den höchsten oder abstractesten Begriff — den, von dem sich keine Bestimmung weiter wegdenken läßt." 4 1 2
3 4
Kants Schriften. Werke I X , 9 7 - 1 0 0 . Vgl. Kants Schriften. Werke X X I V , Logik Pölitz, 569/70 und a . a . O . , Wiener Logik, 911/2, sowie Absatz 22 des ersten Teils des Anhangs zur transzendentalen Dialektik, K . r . V . , A 658/9/ В 686/7 (616/7). Kants Schriften. Werke I X , Logik, § 11, 97. A . a . O . , § 15, 99.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
„Der a b s t r a c t e s t e Begriff ist der, welcher mit keinem von ihm verschiedenen etwas gemein hat. Dieses ist der Begriff von E t w a s , denn das von ihm Verschiedene ist N i c h t s und hat also mit dem Etwas nichts gemein." 5 „Den conceptum summum kann ich angeben, weil es doch einen Begriff geben muß, in dem ich Alles weglassen kann. Denn wenn ich einen höhern Begriff machen will: muß ich immer abstrahiren. Kann ich aber nicht abstrahiren: so läßt sich kein höherer Begriff mehr machen. z . B . von Etwas." 6 „Da ich nun beym höchsten Begriffe so viel weglaßen muß, daß mir nur das übrig bleibt, was allen Dingen gemein ist: so enthält dieser eben darum das Allerwenigste in sich." 7 „. . . der Begrif von Etwas geht auf alles, hat aber keinen Inhalt." 8 Im Zusatz zu § 87 der „Enzyklopädie", zu dessen Anfang Hegel das reine Sein als reine Abstraktion faßt — in diesem Zusatz geht es um den vermeintlichen Unterschied von Sein und Nichts — heißt es: „Bei allem sonstigen Unterscheiden haben wir immer auch ein Gemeinsames, welches die Unterschiedenen unter sich befaßt. Sprechen wir ζ. B. von zwei verschiedenen Gattungen, so ist die Gattung das beiden Gemeinschaftliche. Eben so sagen wir: Es giebt natürliche und geistige Wesen, hier ist das Wesen ein beiden Zukommendes. Beim Seyn und Nichts dagegen ist der Unterschied in seiner Bodenlosigkeit, und eben darum ist es keiner, denn beide Bestimmungen sind dieselbe Bodenlosigkeit." 9 Klar und deutlich ist die Interpretation des Anfangs der „Logik" von K. Rosenkranz: „Der Begriff des Seins überhaupt ist der einfachste, weil er als solcher keine weitere Bestimmtheit hat. E r ist der an I n h a l t ä r m s t e , an U m f a n g w e i t e s t e . (Sperrung des Verfassers, G. W.) . . . . 1.) Der Begriff dieses Anfangs ist, wie wir schon vorhin gesehen haben (vgl. 112, G. W.), ein durch die totale Abstraction vermittelter . . , " . 1 0 „Das Denken kann daher zwar von aller besondern Bestimmtheit des Seins, die es etwa sonst schon im Bewußtsein trägt, abstrahiren, aber es kann die Abstraction des Seins selber nicht aus sich wegdenken." 1 1 5 6 7 8 9
10 11
A . a . O . , § 6 Anm. 2, 95. Kants Schriften. Werke X X I V , Wiener Logik, 911. A . a . O . , 912. A . a . O . , Logik Pölitz, 570. SW Bd. 8, § 87 Zusatz, 208/9. Vgl. auch Log. I, 85ff., wo das Sein als Resultat der vollkommenen Abstraktion erörtert wird. K. Rosenkranz, Wissenschaft der logischen Idee, Königsberg 1885, 1. Theil, 118. A . a . O . , 120.
Die sprachliche Darstellung des Spekulativen
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Geht man zunächst einmal von der Hypothese aus, daß das, was bei Kant „Etwas" heißt, von Hegel „Sein" genannt wird - d. h. mithin auch davon, daß das Kantische „Etwas" nicht das Hegeische „Etwas" und das Hegeische „Sein" nicht das Kantische „Sein" ist —, so macht die Kategorie des Seins als die abstrakteste (allgemeinste) lla d. h. am wenigsten determinierte (bestimmte) den Anfang einer Reihe sich durch ihre logische Determination unterscheidender Kategorien. 12 Entsprechend wäre die am Ende dieser Reihe stehende Kategorie als die konkreteste, durchgängig bestimmte zu betrachten. (Die Fortbestimmung der Kategorie führte, so gesehen, von der abstrakten Allgemeinheit des Seins zur konkreten (bestimmten) Allgemeinheit (d. h. zur Einzelheit) der absoluten Idee.) Hier wird sich freilich deutlicher vielleicht noch als bei der Kategorie des Seins die unübersehbare Kluft zwischen den sich in größter Nähe befindenden Positionen Kants und Hegels zeigen. 13 So sehr sich nun gerade die Rücksicht auf die Kantische Logik einerseits als geeignet erweisen mag, die Problematik des Anfangs wie auch insbesondere des Endes der Hegeischen Logik deutlich zu machen, so sehr zeigt sich im Hinblick auf die Hegeische Logik selbst doch andererseits auch die Notwendigkeit, die beiden Gedanken des Anfangs und des Endes der Logik zusammenzubringen. Vor allem in Hinblick auf die ersten Paragraphen der enzyklopädischen Logik 1 4 , in denen Hegel das reine Sein als reine, leere Abstraktion faßt und im Zusammenhang der Erörterung der Möglichkeit, das Sein, wie alle folgenden Kategorien als Definitionen des Absoluten anzusehen 15 , wo von Hegel die anfängliche Definition: „Das Absolute ist das Sein" als die abstrakteste und dürftigste angesehen wird, alle folgenden dagegen als nähere Bestimmungen und wahrere, d. i. konkretere Definitionen des Absoluten angesehen werden, bestätigt sich m. E. die These von
111 12
13
14 15
Vgl. auch M. Heidegger, Sein und Zeit § 1,1., 3. Auch W . Albrecht hat ganz richtig die i n h a l t l i c h e Bestimmungslosigkeit des Seins als Kehrseite seiner f o r m e l l e n Allgemeinheit begriffen. Vgl. W. Albrecht, Hegels Gottesbeweis, a.a.O., 106. Anlaß zu Mißverständnissen könnte m . E . insofern die Auffassung von E . Coreth geben, daß der Begriff des reinen Seins den „ K o n t a k t der L o g i k mit der E r f a h r u n g " (E. Coreth, Das dialektische Sein in Hegels Logik, Wien 1952, 122) darstelle, die auch W. Albrecht teilt, obgleich er deren Begründung durch die Herleitung des Seins (und des Nichts) aus der „Phänomenologie" mittels der Aufhebung ablehnt. Vgl. W . Albrecht, Hegels Gottesbeweis, a.a.O., 55ff. Zur Problematik des konkretesten Begriffs, d.h. des conceptus infimus als conceptus omni modo determinatus vgl. weiter unten. Vgl. SW Bd. 8, § 8 5 - 8 7 , 2 0 1 - 2 0 9 . Vgl. dazu weiter unten.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
der Notwendigkeit des rückwärts gehenden Begründens des Anfangs aus dem Ende der Logik. 1 6 D . Henrich, der in seinem an interessanten Literaturhinweisen reichen Aufsatz „ A n f a n g und Methode der Logik" die Auffassung vertreten hat, daß die Interpretation des Anfangs nur gelingen könne, „ w e n n man den Gesamtzusammenhang u n d die Methode der Entwicklung reiner Gedankenbestimmungen überschaut und sich nicht auf die bekannte These von der rückläufigen Begründung des Anfangs aus dem Schluß der Logik beschränkt" 1 7 , hat die These aufgestellt: „ D i e Logik des reinen Seins läßt sich überhaupt nur via negationis explizieren, in der Unterscheidung von der Logik der Reflexion." 1 8 Geht man auch davon aus, daß die N a t u r des reinen Seins in der Tat nur via negationis in den Blick gebracht werden kann — wobei allerdings einschränkend hinzuzufügen wäre, daß dieser Weg strenggenommen verlassen wird, sobald es darum geht, weitere konkrete Einsichten in die N a t u r des Seins in Form eines Urteils zu explizieren, wie dies im Unterschied zu den Ausdrücken zu Anfang der Abschnitte A . „Sein" und B. „ N i c h t s " im ersten Satz des Abschnitts C . „ W e r d e n " geschieht — so frage ich mich, wieso man nicht mit gleichem — wenn nicht mit größerem Recht auch die These aufstellen kann: Die Logik des reinen Seins läßt sich überhaupt nur via negationis explizieren, in der Unterscheidung von der Logik der absoluten Idee. W a r u m sollte es nicht auch gelingen, die Struktur des Anfangs der Logik im Unterschied zu der Logik des Begriffs und insbesondere zur Logik der konkreten Idee zu interpretieren und ihr gemäß den Begriff der reinen Abstraktion zu entwickeln, der m. E. nicht weniger gut geeignet ist, den Gedanken „Sein" in anderer Weise auszudrücken als die Ausdrücke „unbestimmte Unmittelbarkeit" und „Gleichheit nur mit sich"? 1 9 Die Anmerkung 2 des 1. Kapitels der Seinslogik (Log. I, 75—79) Der Satz: Das Sein ist Nichts als spekulativer Satz Die bereits weiter oben herangezogene A n m e r k u n g 2 des ersten Kapitels der Logik, die sich — wie gesagt - mit dem Problem der sprachlichen Darstellung des Anfangs der Logik beschäftigt, ist nun m . E. besonders 16 17 18 19
Vgl. Log. II, 502 ff. D. Henrich, Hegel im Kontext, a.a.O., 75. A.a.O., 79/80. A . a . O . , 85f.
Die sprachliche Darstellung des Spekulativen
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dann, wenn man sie mit den Ausführungen über die spekulative Methode am Ende der Logik in Zusammenhang bringt, von der größten Bedeutung für die Problematik des spekulativen Satzes 20 und gut geeignet, den Gedankengang, der uns bis zum ersten Satz des Absatzes 66 der Vorrede führte, aufzunehmen und in die Analyse des Urteils im dritten Buch der „Logik" einzuleiten. (Was die Einschätzung der Bedeutung der Anmerkung 2 anbetrifft, so teile ich die Meinung von H. Röttges. Bezugnehmend auf Hegels Ausführungen über das Werden sagt Röttges: „Auffallend ist zunächst, daß auf den lakonisch knappen Haupttext vier ausführliche Anmerkungen folgen, von denen die erste und dritte historische Ausführungen darstellen, die vierte einen Hinweis auf die Relevanz des Themas im Zusammenhang der Mathematik, nämlich des Differentials gibt, während die zweite Anmerkung sich mit der Problematik der sprachlichen Darstellung der Beziehungen von Sein, Nichts und Werden befaßt. Während die übrigen an sich nicht unentbehrlich sind, gehört die zweite Anmerkung m. E. in den Haupttext; sie beschäftigt sich nämlich mit dem Darstellungsproblem und damit mit der Methode die jedoch in der „Logik" nicht Gegenstand äußerlicher Reflexionen in Gestalt von für den Haupttext an sich überflüssiger Bemerkungen sein kann." 2 1 ) Absatz 2 2 2 der Anmerkung 2 lautet: „Der Satz (seil. „Sein und Nichts ist dasselbe" 23 ) e n t h ä l t somit das Resultat, er ist dieses an sich selbst. Der Umstand aber, auf den hier aufmerksam zu machen ist, ist der Mangel, daß das Resultat nicht selbst im Satze a u s g e d r ü c k t ist; es ist eine äußere 20
Ein erster äußerer Hinweis darauf, daß Hegel in Anmerkung 2 das Problem der sprachlichen Darstellung des Spekulativen, d . h . das Vermittlungsproblem wieder aufnimmt, ist bereits darin zu sehen, daß Hegel gerade an der dieser Anmerkung wiederum entsprechenden Stelle seiner Ausführungen über die Wissenschaft der Logik in der „Enzyklopädie" (vgl. SW Bd. 8, § 88, 211) expressis verbis von „spekulative(n) Sätze(n)" spricht.
21
H . Röttges, Zur Methodenfrage bei Hegel, in: Sprache und Begriff, a . a . O . , 90. Vgl. gleichfalls ders., Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 207f. und 214. Vgl. die lehrreiche Interpretation der Anmerkung 2, a . a . O . , 220ff. und 247ff.. Ein Hinweis auf die Bedeutung, die Hegel der Anmerkung 2 zumaß, könnte vielleicht auch darin gesehen werden, daß er die der Anmerkung 2 in der 1832 erschienenen Neufassung entsprechenden Abschnitte 12—15 aus der Anmerkung 1 der Urfassung von 1812 (vgl. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1812, Göttingen 1966, 3 0 - 3 3 ) ausgegliedert hat und in veränderter und erweiterter Fassung — die dem Absatz 3 und der ersten Hälfte des Absatzes 6 der Neufassung entsprechenden Textstücke fehlen in der Urfassung — zu einer eigenen zweiten Anmerkung gemacht hat.
22
Vgl. die Betrachtung von Absatz 1 am Ende des I. Kap. dieser Arbeit. H . Röttges hat in seinem Buch „ D e r Begriff der Methode in der Philosophie Hegels" an mehreren Stellen darauf aufmerksam gemacht, daß dieser Satz als spekulativer Satz zu betrachten ist. Vgl. a . a . O . , u . a . 11, 66 und 196.
23
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Reflexion, welche es in ihm erkennt. — Es muß hierüber sogleich im Anfange diese allgemeine Bemerkung gemacht werden, daß der Satz, in F o r m eines U r t e i l s , nicht geschickt ist, spekulative Wahrheiten auszudrücken; die Bekanntschaft mit diesem Umstände wäre geeignet, viele Mißverständnisse spekulativer Wahrheiten zu beseitigen. Das Urteil ist eine i d e n t i s c h e Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat, es wird dabei davon abstrahiert, daß das Subjekt noch mehrere Bestimmtheiten hat als die des Prädikats, so wie davon, daß das Prädikat weiter ist als das Subjekt(24). Ist nun aber der Inhalt spekulativ, so ist auch das N i c h t i d e n t i s c h e des Subjekts und Prädikats wesentliches Moment, aber dies ist im Urteile nicht ausgedrückt. Das paradoxe und bizarre Licht, in dem vieles der neuern Philosophie den mit dem spekulativen Denken nicht Vertrauten erscheint, fällt vielfältig in die Form des einfachen Urteils, wenn sie für den Ausdruck spekulativer Resultate gebraucht wird." 25 Bringt man das Urteil „Sein und Nichts ist Eins und dasselbe" in Analogie zur syntaktischen Struktur des Satzes „Gott ist das Sein" in dem Satz „Das Sein ist (das) Nichts" 26 zum Ausdruck 27 , so wird vielleicht deutlicher, daß das Denken im Ubergang vom Subjekt zum Prädikat zunächst w e i t e r zu kommen scheint, dann aber das Prädikat als bloße E r l ä u t e rung des Subjekts erfaßt und zu dem Gedanken des Subjekts zurückgeworfen wird, 28 sich also gleichsam im Kreis bewegt. Indem aber das sich 24
In der Urfassung von 1812 hieß es — m . E . weniger streng —: „ D a s Urtheil ist eine i d e n t i s c h e Beziehung zwischen Subject und Prädicat; wenn auch das Subject noch mehrere Bestimmtheiten hat als die des Prädicats, und insofern etwas anderes ist, als dieses, so kommen sie nur addirt hinzu, und heben die identische Beziehung dieses Prädicats mit seinem Subjecte nicht auf, das sein Grund und Träger bleibt." (Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1812, a.a.O., 31). 25 Log. I, 76. 26 Vgl. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1812, a.a.O., 38/9, Anm. 3: „ D a s S e y n ist N i c h t s , d a s N i c h t s ist S e y n . Es ist schon bemerkt worden, daß der Ausdruck speculativer Wahrheit durch die Form von einfachen Sätzen, unvollkommen ist. Hier müßten noch die Sätze hinzugefügt werden: D a s S e y n ist n i c h t N i c h t s , d a s N i c h t s ist n i c h t S e y n ; damit auch der Unterschied a u s g e d r ü c k t sey, der in jenen Sätzen nur v o r h a n d e n ist. — Diese Sätze geben das, was gesagt werden soll, vollständig, aber nicht wie es zusammengefaßt werden soll, und im Werden zusammengefaßt ist." 27 Ein formaler Unterschied beider Ausdrücke besteht genaugenommen darin, daß in dem U r t e i l „Sein und Nichts ist Eins und dasselbe" das Prädikat weiter ist als das Subjekt und zu ihm im Verhältnis der Allgemeinheit steht, während in dem S a t z „Das Sein ist Nichts" das Prädikat nicht weiter ist als das Subjekt. Vgl. dazu die Interpretation von B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 6/1, 281 f. Zur Unterscheidung von Urteil •und Satz vgl. weiter unten. 28 Zum Problem des spekulativen Erkennens im Verhältnis zum analytischen und synthetischen Erkennen vgl. weiter unten den dritten Teil dieses Kapitels.
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um die Identität von Sein und Nichts drehende Denken versucht, den Gedanken der Identität beider wirklich zu fassen und zu formulieren, so führt es sich z . B . durch das Aufschreiben eines Satzes vor Augen, daß dafür Sein und Nichts als Anhaltspunkte notwendig sind, daß es insofern also auf der Nichtidentität beider b e r u h t . Durch das Zusammenbringen und Zusammenhalten beider Gedanken b e w e g t sich das Denken ihrer Identität. Die Nichtidentität ist dem Satz zwar anzusehen aber sie ist nicht ausgesprochen. Im Satz ist sie übersprungen bzw. ü b e r g a n g e n , indem immer schon vom Sein zum Nichts, oder vom Nichts zum Sein ü b e r g e gangen ist. Betrachten wir wieder das Urteil „Sein und Nichts ist Eins und dasselbe", so zeigt sich bei der spekulativen Betrachtung dieses Ausdrucks, daß nicht bei der Vorstellung der Identität im Prädikat stehengeblieben werden soll, sondern daß vielmehr noch einmal umgekehrt und auf das Subjekt, d. h. auf Sein und Nichts als nichtidentische zurückgekommen werden soll. Dieses Resultat, diese Bewegung aber ist im Satz in Form eines Urteils nicht ausgesprochen. 29 Liebrucks sagt in seinem Kommentar der Anmerkung 2: „Der Satz „Sein und Nichts ist dasselbe" zeigt nicht, daß das „ist" in ihm niemals ohne das „nichtist" ist. Er hat die Einheit beider nur in seinem Werdensmoment an ihm. Im innersemantischen Zeigen deutet er an, aber er tritt nicht auf. So ist er immer noch wie der Herr des Orakels, der Gott Apollon, der nicht ausspricht, nicht verbirgt, sondern σημαίνει." 3 0 In der Tat könnte darin, daß die Ausdrücke „Das Sein ist das Nichts" und „Sein und Nichts ist dasselbe" nicht an und für sich, sondern nur an sich oder für uns, die wir den Wink verstehen, den sie uns gleichsam geben, die Bedeutung der Identität der Identität und der Nichidentität von Subjekt und Prädikat haben, ein — wenn dieses Wort erlaubt ist, ohne sogleich den Verdacht einer Ästhetisierung zu wecken — .ästhetisches' Moment gesehen 29
Wollte man die Kopula in dem Satz „ S ist P " als t r a n s i t i v e s Verb (und damit Ρ als Akkusativobjekt) ansehen (vgl. den Hinweis von W . Schulz auf Schelling, Das Verhältnis des späten Schelling zu Hegel, Schellings Spekulation über den Satz, in: Zeitschrift für philosophische Forschung, Bd. 8, 3 4 8 / 9 ) , so wäre es, um zum Begriff der Einheit von Subjekt und Objekt als absoluter Einheit zu kommen — als einer Einheit, in der das O b j e k t als ein ins Subjekt als in den A n f a n g z u r ü c k g e w o r f e n e s gefaßt wird - notwendig, nicht nur einseitig v o m Subjekt zum Prädikat ü b e r z u g e h e n , sondern wechselseitig auch umgekehrt vom Prädikat zum Subjekt ( „ P ist S " ) . Subjekt und Prädikat sind in Wahrheit ineinander übergegangen, sie sind spekulativ als ineinander übergehende zu betrachten. Vgl. dazu auch J . Simon, Das Problem der Sprache bei Hegel, a . a . O . , 193 und ders., Philosophie und linguistische Theorie, Berlin 1971, 63.
30
B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 6 / 1 , 286. Vgl. Heraklit, Fragment 93. Vgl. dazu weiter oben, Kap. I, 2 Das abstrakte Kunstwerk.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
werden. Genauer gesagt: Daß diese Ausdrücke die Identität von Subjekt und Prädikat aussprechen und setzen, könnte man ihr ,logisches' bzw. ihr inhaltliches Moment nennen. Daß diese Ausdrücke die Nichtidentität von Subjekt und Prädikat unausgesprochen voraussetzen und nur an sich, d. h. für unsere äußere Reflexion haben, könnte man — mit gewissen Einschränkungen — ihr .ästhetisches' bzw. ihr formales Moment nennen. Dies ,ästhetische' Moment ist der Augenblick, in dem sich das den Satz in Wahrheit begreifende spekulative Denken von ihm als inhaltlicher Aussage oder Äußerung abstößt und auf seine Form reflektierend sich erinnert, was gemeint ist. Dieser Augenblick des Gelöstseins von dem abstrakten Allgemein-Begriff, dem das Einzelne der Anschauung unterlegen bzw. unterworfen ist — man könnte diesen Augenblick des spekulativen Begreifens als den Augenblick des Ü b erspringens oder besser des Z u r ü c k s p r i n g e n s des Gedankens vom Prädikat zum Subjekt kennzeichnen — ist ein unabdingbares Moment des absoluten, sich selbst begreifenden Begriffs. (Der sich begreifende Begriff begreift die G e s c h i c h t e seiner Entwicklung vom Sein zum Begriff als Aufhebung seiner N a t u r , um sich schließlich frei aus sich zu entlassen. Insofern könnte die Methode des absoluten Begriffs vielleicht als ein I m - B e g r i f f - S e i n - L a s s e n der S a c h e gefaßt werden.) Daß ζ. B. der Satz „Das Sein ist das Nichts" nicht nur inhaltlich zu verstehen ist — d. h. im Sinne der Identität, die er ausspricht — sondern daß er — im Sinne der Nichtidentität von Sein und Nichts, die er als gesonderte enthält — auch formal zu nehmen ist, bzw. daß ins Bewußtsein zu heben ist, daß er unwissentlich, indem er gehört oder gelesen wird, immer schon auf diese Weise genommen worden ist, diese Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat — um hier wieder diese abstrakteste Definition der absoluten Einheit des Begriffs aufzunehmen — erkennt aber nur die absolute Reflexion, d. h. die sich zur äußeren Reflexion fortbestimmende innere Reflexion des spekulativen Denkens. Nur durch die spekulative Betrachtung des Inhalts wird die Erfahrung der spekulativen Wahrheit dieses Satzes gemacht, daß nämlich seine Bewegung, durch sich selbst zu verschwinden und sich aufzulösen, als sein wahrer Gegenstand e n t s p r i n g t und sein eigentlicher spekulativer Inhalt ist, daß sein wahres R e s u l t a t also das Werden ist. 3 1 31
Insofern könnte der spekulative Satz als „der vom Satz abspringende Satz" begriffen werden. Vgl. B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 97.
Die sprachliche Darstellung des Spekulativen
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Form und spekulativer (philosophischer) Inhalt des Satzes Grundsatz und spekulativer Satz Vorgreifend kann bemerkt werden, daß der spekulative Satz z u n ä c h s t nur als ein Satz im Sinne des Gesetzten (Positiven) unter bestimmten Voraussetzungen Stehenden v o r g e s t e l l t wird, indem — bis hin zum Lehrsatz etwa — die auf dem Wege der Entwicklung des Begriffs jeweils fortgeschrittenere Stufe als nähere Darstellung des Spekulativen aufgefaßt wird. Z u l e t z t aber muß der spekulative Satz auch als Satz im Sinne der dialektischen Bewegung der Ubersetzung (bzw. Übertragung) von Subjekt und Prädikat als absolute Methode b e g r i f f e n werden.31® Indem aber der s p e k u l a t i v e Satz als dialektische Bewegung des Satzes, als das wirkliche S p e k u l a t i v e , als absoluter Gegenstoß des Gesetzten und des Vorausgesetzten genommen wird, ist doch wieder daran zu erinnern, daß er sich anfangs notwendig als Satz — im äußerlichen Sinne einer Feststellung — gibt, daß insofern im Satz sozusagen das Schicksal des Spekulativen zu sehen ist, als es der Zerstörung dieser äußeren Form des Satzes — und so indirekt dieser Form des Satzes selbst — bedarf, damit er sich seiner inneren Form nach ergibt, d. h. damit am Ende sein philosophischer Inhalt hervorgeht. Die F i x i e r u n g des S a t z e s ist ein notwendiger Anhaltspunkt in der dialektischen B e w e g u n g des Satzes, die das wirkliche Spekulative ist. Der äquivoke Ausdruck „spekulativer Satz" hat — so gesehen — eine spekulative Bedeutung an ihm selbst, ist eine Vereinigung entgegengesetzter Bedeutungen, die nur um den Preis der Einseitigkeit isoliert werden können. Die Sätze der Logik: Das Sein ist das Nichts etc. können insofern als spekulative betrachtet werden, als sie in ihrem systematischen Zusammenhang, d. h. als auseinander r e s u l t i e r e n d e genommen werden. — Mit anderen Worten: Der spekulative Satz ist kein Satz. 32 Er ist kein Satz, der sich als f e s t g e s c h r i e b e n e r v e r s t e h t , sondern ein Satz, der als a u s g e s p r o c h e n e r v e r n o m m e n ist, dessen Dasein darin, daß er vernommen wird, selbst unmittelbar verhallt bzw. verklingt, ein Satz, dessen Dasein es ist, wie er „da ist, nicht da zu sein, und durch dies 31a
32
Heidegger hat mit seiner Unterscheidung von Satz als Aussage und Satz als Sprung (vgl. Identität und Differenz, 32 u. Der Satz vom Grund, insbes. 151) offenbar der Hegeischen Unterscheidung von gewöhnlichem und spekulativem Satz nachgedacht, den er in anderem Zusammenhang mehrfach erwähnt hat. (Vgl. Die Onto-Theo-Logische Verfassung der Metaphysik in: Identität und Differenz, 49/50 u. 72). Zu diesem Satz selbst könnte man wiederum spitzfindig bemerken, daß er insofern ein Beispiel für einen spekulativen Satz ist, als er einen Gegensatz in sich enthält und sich selbst — als antinomischer — auflöst bzw. zerstört.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Verschwinden da zu sein." 3 3 Das philosophisch begreifende Denken nimmt nun das formale Moment des Satzes als Anstoß, nicht bei der Unvermitteltheit des Gegenstoßes der ,logisch-inhaltlichen' gegen die hier sogenannte ,ästhetisch-formale' Komprehension stehenzubleiben, sondern über den einzelnen Satz hinauszugehen und zu ihm zunächst einen Satz hinzuzufügen, in dem das, was im ersten Satz Gegenstand der formalen Auffassung war, nun zum Gegenstand inhaltlicher Auffassung wird. Der einzelne spekulative Satz ist ein Satz, der sich an uns wendet, d. h. an die absolute (unendliche, totale) Reflexion als äußere Reflexion mit der Forderung wendet, ihn spekulativ aufzufassen und das Wort oder das Versprechen, das er als einzelner, endlicher Satz nicht halten kann, nämlich die spekulative Wahrheit auszudrücken, einzulösen und das, was in Form dieses Satzes noch offen und ungesagt (logisch unbestimmt) bleibt, in einem anderen Satz inhaltlich auszudrücken, der die Entgegnung auf den einen Satz, dessen Ergänzung und die Wahrheit über ihn ist. Der einzelne Satz ist endlich und darauf b e s c h r ä n k t , entweder nur die Identität von Subjekt und Prädikat, oder nur die Nichtidentität von Subjekt und Prädikat setzen zu können. Die Forderung, die ganze spekulative Wahrheit darzustellen und auszudrücken ist jeweils nur zur Hälfte erfüllt. 34 Im Satz soll die Einheit in der Verschiedenheit gefaßt werden. Diese Forderung ist an sich zwar erfüllt, insofern diese Einheit für die sie erfassende äußere Reflexion aus dem Satz hevorgeht und von ihr aufgefaßt werden kann, an und für sich aber nicht, denn sie ist nicht ausgedrückt. Der Satz in Form des Satzes ist, diesem seinem Auftreten nach, thetisch, positiv und bedarf der Fassung dessen, was er voraussetzt. Der spekulative Satz hat zwar das Anliegen, einen spekulativen Gehalt (eine spekulative Bestimmung) darzustellen, dennoch aber liegt es an der sich zur äußeren Reflexion bestimmenden absoluten Reflexion des spekulativen Denkens, ob sich ihr der Satz spekulativ darstellt, d. h. ob sie ihn in der Form eines Urteils als identischen Satz betrachtet oder interpretiert, und zwar ohne als innere Reflexion der Identität des Begriffs die in der äußeren Form enthaltene Nichtidentität aus dem Auge zu verlieren. 33
34
Phä., 363. Vgl. a.a.O., 496. Der Einfachheit halber wurde, dem Hegeischen Sprachgebrauch folgend, darauf verzichtet, den Ausdruck „spekulativer Satz" (bzw. spekulativer „Satz" oder „spekulativer" Satz) in Anführungszeichen zu setzen. Das wirkliche Spekulative ist nicht bloß ein „Bestimmtes, hat nicht die Einseitigkeit, welche im Satze liegt, ist nicht endlich . . . Das Spekulative kann so nicht als Satz ausgedrückt werden." (SW Bd. 188, 579/80).
Die sprachliche Darstellung des Spekulativen
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Ein Satz ist insofern spekulativ, als er uns zu verstehen gibt, daß sein eigentlicher spekulativer Gehalt, sein philosophischer Inhalt nicht sein bloßer Inhalt ist, d. h. nicht der seine Form vergessende, sondern der seine Form erinnernde und aufhebende absolute Inhalt. Insofern der Satz ein spekulatives Resultat enthält, insofern er, mit anderen Worten, eine Bewegung gegen sich in sich hat, eine negative, ihn in dieser Form aufhebende Rückbeziehung auf sich als Schranke, d. h. auf seine ihn beschränkende Form, ist er spekulativ, oder besser gesagt: soll er spekulativ sein. An der der Anmerkung 2 entsprechenden Stelle in § 88 der „Enzyklopädie" sagt Hegel: „4) Es ist aber noch zu bemerken, daß der Ausdruck: Seyn und Nichts ist d a s s e l b e , oder: d i e E i n h e i t des Seyns und Nichts, — ebenso alle andere solche E i n h e i t e n , des Subjekts und Objekts u.s.f. mit Recht anstößig sind, weil das Schiefe und Unrichtige darin liegt, daß die E i n h e i t herausgehoben, und die Verschiedenheit zwar darin liegt (weil es ζ. B. Seyn und Nichts ist, deren Einheit gesetzt ist), aber diese Verschiedenheit nicht zugleich ausgesprochen und anerkannt ist, von ihr also nur ungehörigerweise abstrahirt, sie nicht bedacht zu seyn scheint. In der That läßt sich eine spekulative Bestimmung nicht in Form eines solchen Satzes richtig ausdrücken; es soll die Einheit in der zugleich v o r h a n d e n e n und g e s e t z t e n Verschiedenheit gefaßt werden. W e r d e n ist der wahre Ausdruck des Resultats von Seyn und Nichts, als die Einheit derselben; es ist nicht nur die E i n h e i t des Seyns und Nichts, sondern ist die U n r u h e in sich, — die Einheit, die nicht bloß als Beziehung auf sich bewegungslos, sondern durch die Verschiedenheit des Seyns und Nichts, die in ihm ist, in sich gegen sich selbst ist." 3 5 Absatz 13 der weiter unten näher erörterten Vorbetrachtung Hegels über das Urteil lautet: „Diese I d e n t i t ä t des Begriffs wieder herzustellen oder vielmehr zu s e t z e n ist das Ziel der B e w e g u n g des Urteils. Was im Urteil schon v o r h a n d e n ist, ist teils die Selbständigkeit, aber auch die Bestimmtheit des Subjekts und Prädikats gegeneinander, teils aber ihre, jedoch a b s t r a k t e Beziehung. D a s S u b j e k t ist das P r ä d i k a t , ist zunächst das, was das Urteil aussagt; aber da das Prädikat n i c h t das sein soll, was das Subjekt ist, so ist ein W i d e r s p r u c h vorhanden, der sich a u f l ö s e n , in ein Resultat ü b e r g e h e n muß. Vielmehr aber, da an u n d f ü r sich Subjekt und Prädikat die Totalität des Begriffes sind und das Urteil die Realität des Begriffes ist, so ist seine Fortbewegung nur E n t w i c k l u n g ; es 35
SW Bd. 8, 212/3.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
ist in ihm dasjenige schon vorhanden, was in ihm hervortritt, und die D e m o n s t r a t i o n ist insofern nur eine M o n s t r a t i o n , eine Reflexion als S e t z e n desjenigen, was in den Extremen des Urteils schon v o r h a n d e n ist; aber auch dies Setzen selbst ist schon vorhanden; es ist die B e z i e h u n g der Extreme." 3 6 Indem der Satz in Form des Urteils auf ein Gemeintes z e i g t , ist er gleichsam nur die Monstranz eines spekulativen Inhalts, der sich als spekulativer in Wahrheit aber erst z e i g t , indem er sich als etwas in einer ihm äußerlichen Form Vorkommendes aufhebt, seine Nichtigkeit vollbringt und aus der Vernichtung seiner äußeren Form als innere, d. h. absolute Form des Satzes hervorgeht. Der spekulative, absolute Inhalt, der sich als absolute Form ergibt, indem die Satzglieder als Zweck und wechselseitig auch als Mittel gebraucht werden, der ,innere Gliederbau' des Satzes — um diesen Kantischen Ausdruck in diesem Zusammenhang aufzunehmen — könnte auch als Einheit des Unvermittelten und des Vermittelten, oder etwas anders gesagt, als Einheit des Unmitgeteilten (Individuellen) und des (allgemein) Mitgeteilten betrachtet werden. Im spekulativen Satz soll die Form im Inhalt a u f g e h o b e n sein, in der Tat aber wird sie zunächst nur durch den Inhalt z e r s t ö r t und vernichtet, und erst im folgenden, auf den ersten Satz als Basis aufbauenden Satz aufgenommen und zum Inhalt e r h o b e n . 3 7 Das Werden „soll" den spekulativen Inhalt des Satzes „Sein und Nichts ist dasselbe" „ausmachen", doch letztlich ist es der sich selbst bewegende Begriff, der dieses Werden, diese Bewegung in ihm ausmacht. Es soll die Einheit in der Verschiedenheit gefaßt werden, die nicht nur vorhanden oder vorausgesetzt ist, die nicht nur unbestimmt in der Form des Satzes enthalten ist und unmittelbar vorkommt, sondern zugleich bestimmt und gesetzt ist. Gesetzt aber ist die Verschiedenheit erst in dem dem positiven Urteil entgegengesetzten negativen Urteil, das nicht mehr die unausgesprochene Negation seiner selbst, sondern die ausgesprochene Negation seines Gegensatzes ist. Dem, was mit dem Ausdruck „spekulativer Inhalt" gemeint ist, scheint mir der Ausdruck „spekulative Bestimmung" 38 insofern näher zu kommen, als durch ihn deutlicher wird, daß der einzelne Satz seine spekulative Bestimmung (die Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt 36 37
38
Log. II, 271/2. Das spricht übrigens dafür, „zerstört" im ersten Satz des Absatzes 61 der Vorrede zur „Phänomenologie" (S. 51) zunächst nicht im Sinne von .aufgehoben' zu nehmen. Vgl. dazu Kap. I, 3 dieser Arbeit. SW Bd. 8, § 88, Anm. 4, 213.
Die sprachliche Darstellung des Spekulativen
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und Prädikat) insofern nicht erreichen kann, als jeweils entweder die Identität von Subjekt und Prädikat bestimmt ist und die Nichtidentität beider unbestimmt bleibt, oder umgekehrt. Die philosophische B e s t i m m u n g geht in der jeweiligen B e s t i m m t h e i t des Satzes nicht auf. Die Forderung des Verstandes, die Bewegung des spekulativen Begriffs s c h a r f zu fassen ist nicht erfüllbar, da ja die bestimmte inhaltliche Erörterung selbst die Unbestimmtheit — gleichsam als ihre Kehrseite — voraussetzt. Diese U n b e s t i m m t h e i t wird als immer wiederkehrende Unbestimmtheit gerade an den logisch e l e m e n t a r e n Gleichsetzungssätzen der Form: S ist Ρ sichtbar, die von größter Einfachheit und Bestimmtheit sind. Man könnte sich vielleicht so ausdrücken, daß bezüglich der Bestimmung des sich bewegenden Begriffs, dieser Begriff nicht genau erörtert und bestimmt und zugleich seine Bewegung und Bestimmung angemessen dargestellt werden kann. An Sätzen, die eine spekulative Bestimmung haben, ist die Erfahrung zu machen, daß es keine störungsfreie' Bestimmbarkeit spekulativer Gedanken gibt, sondern daß die Bestimmung auch den E f f e k t hat, das Bestimmte zu s t ö r e n oder zu zerstören. Sätze, die eine spekulative Bedeutung an ihnen selbst haben, Sätze also, in denen das Subjekt mit dem Selbst des Inhalts (seil. Prädikats) Zusammensein soll 39 , in denen das Prädikat nicht nur die Bedeutung des Prädikats haben soll 40 , sollen nicht als G r u n d s ä t z e ( P r i n z i p i e n ) , sondern — um den etwas schiefen Ausdruck zu verwenden — ebensosehr als , V o r s ä t z e ' gefaßt werden. Der spekulative Inhalt, die spekulative Wahrheit des Satzes soll nicht als Substanz, d. h. als vermeintlich zum Grunde liegendes S a t z s u b j e k t , sondern ebensosehr als Subjekt, d. h. als Satzaussage oder P r ä d i k a t aufgefaßt und ausgedrückt werden. 41 39 40 41
Vgl. Phä., Absatz 60, 4 9 - 5 1 . Vgl. a . a . O . , Absatz 62, 5 1 / 2 . Der Sachverhalt, daß das Prädikat nicht nur die Bedeutung des Prädikats haben, sondern erst noch zur ganzen und s e l b s t ä n d i g e n M a s s e werden s o l l , in der das einzelne Subjekt sich gleich wäre, könnte auch in dem Satz zum Ausdruck gebracht werden: „ S ist noch nicht P . " (E. Bloch, Subjekt-Objekt, Erläuterungen zu Hegel, a . a . O . , 517). S wird - wie gesagt - erst als Ρ aufgefaßt durch eine Umkehrung des natürlichen Bewußtseins, durch eine Revolution der Denkart des Räsonnierens, das gewissermaßen in dem A b s o l u t i s m u s besteht, sich nicht zu seinen Prädikaten und Inhalten herabzulassen, sondern über sie hinwegzugehen. ( O b tatsächlich ein Zusammenhang besteht zwischen Hegels despektierlicher Verwendung des Wortes „ R ä s o n n e m e n t " und seiner Einschätzung des Grundsatzes der Staatsräson, der die politische Praxis der von der Französischen Revolution abgelösten F o r m des Absolutismus beherrschte, kann hier nicht näher untersucht werden.)
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Hegel bezeichnet die Form von Sätzen als allgemeinen Denkgesetzen, als Grund- bzw. Lehrsätzen und Definitionen als etwas Uberflüssiges. 42 Das Sein und die folgenden Denkbestimmungen können als Definitionen des Absoluten angesehen werden. Die erste und abstrakteste Definition des Aboluten lautete dann: „ D a s A b s o l u t e ist das S e y n " 4 3 , die zweite: Das Absolute ist das Nichts 4 4 , die konkreteste und wahrste schließlich: Das Absolute ist die Idee 4 5 bzw. Das Abolute ist die absolute Idee. Diese Definition ist aber insofern eine ungeschickte Bestimmung des Absoluten, als das Absolute im Satzsubjekt als Substanz und im Prädikat als Akzidenz bzw. als Attribut ausgedrückt ist. Worauf es jedoch ankommt ist, das Abolute nicht nur als S u b s t a n z bzw. als Akzidenz, sondern ebensosehr als S u b j e k t auszudrücken, als ein In dieser Umkehrung kommt die Nichtidentität von Subjekt und Prädikat zum Bewußtsein und kann in einem negativen Urteil ausgesprochen werden. Das, was am Gesetzten noch ungesetzt war, setzt sich ihm jetzt entgegen. An dieser reinen Negation wird jedoch ebensowenig festzuhalten sein wie an der Affirmation. In der reinen Negation, die das Urteil der Verschiedenheit ausspricht, kommt der dialektische Prozeß zu kurz. Die reine Negation ist das „nackte Resultat" (Phä., Vorrede, 11), nicht die ganze Ausführung dieser Umkehrung, durch die das natürliche Bewußtsein gezwungen wurde, eine „ungewohnte Stellung anzunehmen" (a.a.O., 25), nämlich „sich auf den Kopf, das ist auf den Gedanken" zu stellen. (SW Bd. 11, 557). Erst in der Zusammensetzung oder besser gesagt im Zusammenschluß des negativen Satzes ,,S ist (noch) n i c h t P " mit dem positiven Satz ,,S ist (schon) P " ist der Entschluß und das Im-Begriff-Sein von S zu dem nur ihm zukommenden Ρ gefaßt (S w i r d P), ist der Anfang gemacht, denn das, was anfängt, ist „ebensosehr aber i s t es auch noch n i c h t " . (Log. I, 59): Daß S Ρ wird, heißt nicht nur, daß S noch Ρ werden wird, sondern auch, daß S schon Ρ geworden ist. — Dem positiven Satz ,,S ist P " könnte anstelle des negativen Satzes „S ist (noch) nicht P " auch der negative Satz „S ist nicht (mehr) P " oder „ S war P " entgegengesetzt werden. Diese negativen Sätze aber sind als dem positiven Satz bloß entgegengesetzte und ihn voraussetzende allein ebenso „thetisch" wie jener und deshalb ungeschickt, das Geistige, das der „lebendige P r o c e ß " (SW Bd. 16, 210) ist, auszudrükken. Der junge Hegel sagt an einer bereits herangezogenen Stelle, (auf deren Bezug zur Problematik des spekulativen Satzes übrigens auch E. Heintel in seinem Aufsatz „ D e r Begriff des Menschen und der spekulative Satz" (a.a.O., 226) hingewiesen hat, in dem er die Motive des spekulativen Satzes vor dem Erscheinen der „Phänomenologie des Geistes" behandelt): „ D e r Anfang des Evangeliums des Johannes enthält eine Reihe thetischer Sätze, die in eigentlicherer Sprache über Gott und Göttliches sich ausdrücken; es ist die einfachste Reflexionssprache zu sagen: Im Anfang w a r der Logos, der Logos w a r b e i Gott, und Gott w a r der Logos; in ihm w a r Leben. Aber diese Sätze haben nur den täuschenden Schein von Urteilen, denn die Prädikate sind nicht Begriffe, Allgemeines, wie der Ausdruck einer Reflexion in Urteilen notwendig enthält; sondern die Prädikate sind selbst wieder Seiendes, Lebendiges, auch diese einfache Reflexion ist nicht geschickt, das Geistige mit Geist auszudrücken." (Frühe Schriften, Bd. 1, 373). 42 43 44 45
Vgl. Log. II, 25; zu Log. II, 451 ff., die Definition, vgl. den dritten Teil dieses Kapitels. SW Bd. 8, § 86, 204. Vgl. a.a.O., § 87, 207. Vgl. a.a.O., § 213, 423.
Die sprachliche Darstellung des Spekulativen
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Subjekt nämlich, das sich selbst in seinem Prädikat ausgeführt hat und in ihm w e i ß . Die der Idee als dem unendlichen Urteil 46 angemessenere Form wäre eine Definition, die insofern selbst absolut ist, als sie sich auflöst, sie wäre ein Urteil, das seine Form aufhebt: „Das Absolute ist das Absolute". Diese nur noch ihrer Form nach finite, ihrem Inhalt nach jedoch infinite und dadurch sich als Definition widersprechende und auflösende Definition ist als Aufhebung aller vorhergehenden Definitionen des Absoluten anzusehen. Der Satz als Definition wird zum unendlichen Satz, der den Gegenstoß gegen die S c h r a n k e des endlichen ( d e f i n i e r e n d e n ) Satzes enthält. Zum nichtspekulativen abstrakten Gebrauch von Sätzen als Definitionen sagt Hegel: „Wenn aber die Form von Definitionen gebraucht würde, so würde sie dieß enthalten, daß ein Substrat der Vorstellung vorschwebt; denn auch das A b s o l u t e , als welches Gott im Sinne und in der Form des Gedankens ausdrücken soll, bleibt im Verhältnisse zu seinem Prädikate, dem bestimmten und wirklichen Ausdruck in Gedanken, nur ein g e m e i n t e r Gedanke, ein für sich unbestimmtes Substrat. Weil der Gedanke, die Sache, um die es hier allein zu thun ist, nur im Prädikate enthalten ist, so ist die Form eines Satzes, wie jenes Subjekt, etwas völlig Ueberflüssiges (vergl. § 31. u. unten Kap. vom Urtheile)." 4 7 „In dem Satze: Gott ist ewig u.s.f. wird mit der Vorstellung: Gott angefangen; aber was er ist, wird noch nicht g e w u ß t ; erst das Prädikat sagt aus, was er ist. Es ist deswegen im Logischen, wo der Inhalt ganz allein in der Form des Gedankens bestimmt wird, nicht nur überflüssig diese Bestimmungen zu Prädikaten von Sätzen, deren S u b j e k t Gott oder das vagere Absolute wäre, zu machen, sondern es würde auch den Nachtheil haben an einen andern Maaßstab als die Natur des Gedankens selbst ist, zu erinnern. - Ohnehin ist die Form des Satzes oder bestimmter des Urtheils ungeschickt, das Konkrete, — und das Wahre ist konkret, — und Spekulative auszudrücken; das Urtheil ist durch seine Form einseitig und insofern falsch." 4 8 Der einzelne, sich selbst zerstörende Satz ist nicht die ganze Wahrheit. In dem Abschnitt der Differenzschrift, der die Überschrift trägt: Princip einer Philosophie in der Form eines absoluten Grundsatzes, schreibt Hegel: „Dieser Wahn, daß ein nur für die Reflexion Gesetztes nothwendig an der Spitze eines Systems als oberster absoluter Grundsatz 46 47 48
Vgl. SW Bd. 8, § 214, 428 und dazu den zweiten Teil dieses Kapitels dieser Arbeit. A . a . O . , § 85, 201/2. SW Bd. 8, § 31, 104/5; vgl. a.a.O., § 169, 368 und Phä., Vorrede, Absatz 23, 23/4.
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stehen müsse, oder daß das Wesen eines jeden Systems in einem Satze, der fürs Denken absolut sey, sich ausdrücken lasse, — macht sich mit einem System, auf das er seine Beurtheilung anwendet, ein leichtes Geschäft." 4 9 Das Wahre (das wirkliche Spekulative) hat Sätze zu seinen Teilen, bei denen zunächst — wie im geglückten Dialog — der andere den einen ergänzt, indem er nicht nur das aufnimmt, was dieser wörtlich sagt, sondern sich auch auf das einläßt, was der eine meint, nämlich um das zu sagen, was dieser zwar auch gemeint, aber ungeschickt oder schief ausgedrückt hat. So kann er ihn dazu bewegen, seine Meinung zu ändern und mit anderen Worten zu sagen, was er meint. Erst dann, wenn dieser schließlich bereit ist, wirklich zu sagen, was er meint, und umgekehrt auch zu meinen, was er sagt, wird man ihn beim Wort nehmen können, d. h. wird man sich in diesem Punkt auf ihn verlassen und zu etwas anderem übergehen können. Konstituiert die Aussprache erst die Meinung, gibt ihr die logische V e r f a s s u n g und Zusammenfassung, so reguliert die Meinung, die A u f f a s s u n g (Konzeption) umgekehrt die Aussprache und stellt sie in Frage. Der nicht auf einmal darzustellende spekulative oder absolute Inhalt des Satzes ist die reflektierende Bewegung der absoluten, sich selbst bestimmenden Reflexion des Begriffs, der absolute Gegenstoß der setzenden und der voraussetzenden Reflexion. (Respektive der Kantischen Philosophie könnte diese Bewegung auch als die dialektische Bewegung der logischen Bestimmung und der ästhetischen Reflexion genommen werden, als die logische Notwendigkeit, die in der Umkehrung der ästhetischen, d. h. hier b e g r i f f l o s e n Zusammenstimmung zur Möglichkeit eines Begriffs in die logische Bestimmung durch die wirkliche Zusammenfassung in die Einheit des B e g r i f f s besteht. Diese Einheit ist kein abstraktes Allgemeines, sondern ein Allgemeines, in dem das, was insbesondere gemeint ist, aufgehoben, d. h. als Moment enthalten ist). H . Röttges kritisiert zu Recht das „Mißverständliche, um nicht zu sagen Unwahre des Hegeischen Terminus eines „spekulativen Inhalts" . . . " . 5 0 Er betont die zentrale methodologische Bedeutung der sprach49
SW Bd. 1, 61. D e r konstruierte Satz: „ E i n Grundsatz ist kein philosophischer Satz" könnte insofern übrigens als philosophischer Satz betrachtet werden, als mit der einseitigen Betrachtung dieses Satzes als Grundsatzes (mit der Betrachtung des Satzsubjekts) zwar begonnen werden muß, aber nicht dabei stehengeblieben werden kann. (Vgl. dazu weiter unten).
50
H . Röttges, Zur Methodenfrage bei Hegel, a . a . O . , 93. Vgl. auch ders, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 70: „ D i e Wendung .philosophischer Inhalt'
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liehen Darstellung für die Selbstbewegung des Begriffs, die Untrennbarkeit der inhaltlichen von der formalen Entwicklung. „. . . an die Stelle der Ubersetzung eines an sich seienden spekulativen Inhalts in die adäquate philosophische Sprache tritt die schrittweise vorgehende Explikation des Inhalts durch die gleichzeitige Entwicklung der Form, angetrieben durch die nicht zu eliminierende, sondern zu explizierende Diskrepanz zwischen Inhalt und Form: die Selbstbewegung des Inhalts ist dann nicht nur der sprachlichen nicht entgegengesetzt, sie wird sogar nur durch diese ermöglicht: das unwahre Meinen wird nur durch die Unmöglichkeit, sich sprachlich zu artikulieren, immanent widerlegt; — aber nicht so, als sei es nur das Falsche, das zu beseitigen wäre; es bedingt ja zugleich die Diskrepanz zwischen Intention und Darstellung, die wiederum das Prinzip der Selbstbewegung des Inhalts ausmacht." 51 Damit ist bereits das gesagt, was Röttges in seinem Buch „Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels" seine ,Generalthesis' von der logisch-sprachlichen Natur der Selbstbewegung des Begriffs durch die Spannung zwischen ansichseiender und gesetzter Bestimmtheit nennt. 52 „Weder überläßt sich Hegel kritiklos den durch die Sprache vorgegebenen Denkstrukturen bzw. -bahnen, noch versucht er sie zu substituieren, sondern die schrittweise Explikation des Inhalts wird zu dessen Selbstbewegung durch die Reflexion des Zusammenhanges von Inhalt und Form in der Darstellung." 53 Für die immanente Genese der Begriffe der Logik heißt das: „. . . nicht werden verschiedene Kategorien als gegeben vorausgesetzt und durch die äußere Reflexion dann in eine systematische Beziehung zueinander gebracht, sondern die jeweils höhere ,Kategorie', besser logische Gestalt zu nennen, ist nichts anderes als der sprachliche Ausdruck des Widerspruchs, an dem die niedrigere logische Gestalt inhaltlich wie formal zerbricht;". 54 Ohne auf das Verhältnis von Form und Inhalt explizit näher einzugehen, erkennt R. Bubner in der schrittweise erfolgenden Reflexion auf die Unangemessenheit einer jeden fixierten Aussage das Movens des Fortgangs der Begriffe in der „Wissenschaft der Logik". hat das Mißverständliche an sich, daß die Vorstellung eines an sich philosophischen Inhalts hervorgerufen wird, der unabhängig von der spekulativen Darstellungsform existiere 51 52 53 54
H . Röttges, Zur Methodenfrage bei Hegel, a.a.O., 93. Vgl. H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a.a.O., 236f. A . a . O . , 81. A . a . O . , 225.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
„Der Inhalt der Logik, als das, was in ihr geschieht, ist die Bewegung der Begriffe. Die Art und Weise, wie diese Bewegung sich jeweils vollzieht, ist die Auflösung von Widersprüchen durch Reflexion darauf, was man wirklich sagt oder gesagt hat und sagen wollte. Die Widersprüche stellen sich dadurch, daß zwischen der Aussage und der Intention eine Diskrepanz aufbricht. Was man begrifflich hat fassen wollen, zeigt sich, nicht wirklich oder vollständig oder angemessen erfaßt zu sein." 5 5 „Nachdem zwischen dem in Wahrheit Auszusagenden und dem jeweils gerade Ausgesagten Unstimmigkeiten aufgebrochen sind und so der an einer bestimmten Stelle der Logik entwickelte Begriff sich widersprüchlich präsentiert, tritt eine Reflexion ins Mittel, die nicht etwas Neues sagt oder irgendeine Verbesserung des ungenügenden Begriffs vorschlägt. Die eingesetzte Reflexion hat vielmehr im je vorliegenden Falle die methodische Funktion der Klärung dessen, was der Anspruch des Begriffs behauptet hatte und was an Aussage tatsächlich erreicht ist. Die Reflexion heißt methodisch, weil sie hinsichtlich der wissenschaftlichen Prätention der Logik Überlegungen über das je Erreichte anstellt und damit weniger die ausgesagte Sache selbst betrifft, als vielmehr das Verfahren, sie auszusagen. Die Reflexion gilt nicht der absoluten Wahrheit in einem direkten und unmittelbaren Sinne, sondern der wieder und wieder auftretenden Diskrepanz beim Versuch von deren Erfassung." 5 6 Das spekulative
Verhältnis von Syntax und Semantik
Der Inhalt, den der Satz d e f a c t o hat (in unserem Beispiel die Einheit des Seins und des Nichts) ist nicht der spekulative Inhalt, den der Satz als spekulativer d e j u r e haben soll (die Einsicht in die Identität und die Nichtidentität des Seins und des Nichts). Dieser spekulative Gehalt, diese spekulative Wahrheit, die den philosophischen Inhalt des Satzes ausmachen und ihn erst zum sogenannten spekulativen Satz machen soll, ist die Einsicht in die .Widerspiegelung' der Form im Inhalt, oder besser gesagt, die Einsicht in das spekulative Verhältnis von syntaktischer Form und Semantik. 5 7 Diese Einsicht aber ist im Satz nicht ausgesprochen, - weshalb sich m . E . 55 56 57
R. Bubner, Zur Struktur dialektischer Logik, in: Hegel-Jahrbuch 1974, 140. A . a . O . , 140/1. Vgl. H . Röttges, Zur Methodenfrage bei Hegel, a.a.O., 97, wo Röttges zu dem Ergebnis kommt, daß die philosophische Logik nach der Vereinbarkeit der Bedeutungsimplikationen einer Theorie mit den Implikationen ihrer sprachlichen Darstellung, oder anders ausgedrückt, nach der Ubereinstimmung von Semantik und Syntax frage. Vgl. auch ders., Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a.a.O., 222.
Die sprachliche Darstellung des Spekulativen
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die Kritik nicht nur gegen den Terminus „spekulativer Inhalt" 5 8 , sondern auch gegen.den Terminus „spekulativer Satz" selbst richten könnte. 5 9 Der Vorstellung, daß es spekulative Sätze ,gibt', daß spekulative Sätze etwas G e g e b e n e s seien, wäre entgegenzusetzen, daß es die A u f g a b e des spekulativen Denkens ist, Sätze im spekulativen Sinn zu gebrauchen, d.h. in einem Zusammenhang, in dem das zur Sprache kommt, über das wir uns im gewöhnlichen Sprachgebrauch hinwegsetzen. Kein einzelner Satz kann das, was er dadurch, daß er einen Inhalt setzt, schon voraussetzt, zugleich auch setzen und die ganze spekulative Wahrheit fassen. Insofern ist er unabgeschlossen und offen für unsere Auffassung. Daß kein einzelner Satz die dialektische Bewegung darstellen, die spekulative Wahrheit a u s s p r e chen kann, daß er nicht an und für sich spekulativ ist, sondern daß er sich an das spekulative Denken wendet und sich nur dem spekulativen Denken spekulativ darstellt, darf nun aber nicht andererseits zu dem Mißverständnis führen, daß eigentlich nichts am Satz, alles aber an unserer Einsicht liege, daß also jeder Satz gleichermaßen als spekulativer Satz interpretiert und a n g e s p r o c h e n werden könne, wobei übersehen würde, daß die Philosophie aus der Sprache des gewöhnlichen Lebens zu Recht solche Ausdrücke auswählt, die den philosophischen Bestimmungen „nahe zu k o m m e n s c h e i n e n " . 6 0 Vielmehr scheint es mir so zu sein, daß die spekulative Wahrheit sozusagen weder eine rein objektive noch eine rein subjektive Angelegenheit ist, weder etwas bloß A u s g e s p r o c h e n e s noch etwas bloß Hinein- bzw. H i n z u g e d a c h t e s , sondern die E n t s p r e c h u n g der sprachlichen Äußerung und der denkenden Betrachtung. Zuzustimmen ist J . P. Surber, wenn er sagt: „Put most radically, it would seem that there simply is no „speculative sentence" which can actually be articulated in ordinary language. This is, in fact correct, if one assumes that what is in
58
Zum Begriff des „philosophischen Inhalts" vgl. J . Simon, Aspekte und Probleme der Sprachphilosophie, a . a . O . , 39 und ders., Die Kategorien im „gewöhnlichen" und im „spekulativen" Satz, a . a . O . , 25ff. und 31 f. Simon führt aus, daß es sich bei philosophischen Inhalten „nicht um echte Inhalte von Sätzen handeln kann, die mit diesen Sätzen schlicht behauptet werden sollten, so daß die Satzform, in der Intention dieser Inhalte, dienend hinter sie zurückzutreten hätte. Im Gegenteil, sie resultieren aus der Reflexion der „ g e w o h n t e n " , aber der wirklichen Sprachbewegung gegenüber abstrakten Vorstellung v o m Wesen des Satzes und zeigen in ihrer Befremdlichkeit auf den wirklichen Satz als verschwindendes Element eines randlosen sprachlichen Prozesses z u r ü c k . " ( A . a . O . , 32).' Vgl. dazu auch a . a . O . , 24, wo davon die Rede ist, daß der Satz als Moment in einem prinzipiell „randlosen K o n t e x t " des Bestimmens erscheine. Vgl. ferner a . a . O . , 2 7 und 35, A n m . 56.
59
Vgl. weiter oben. L o g . II, 357.
60
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
question is a distinct class of sentences which can be called „speculative", as opposed to others which cannot be so characterized." 61 Die Gefahr eines einseitig-subjektivistischen Mißverständnisses besteht allerdings, wenn Surber ausdrücklich hervorhebt: „ T h e same s e n t e n c e b e c o m e s s p e c u l a t i v e by v i r t u e o f the v e r y m a n n e r in w h i c h we c o m p r e h e n d and r e f l e c t u p o n i t . " 6 2 Anscheinend ist er jedoch dieser Gefahr begegnet, wenn er wenig später sagt: „Thus, when Hegel speaks of the „speculative sentence", he refers not to any particular sentence, distinguished on the basis of some special content or extra-ordinary form, but to the comprehended concrete unity of objective articulation and subjective comprehension which lies at the basis of any occurence of language." 63 Spekulatives Betrachten ist Begreifen des spekulativen (absoluten) Geistes der Sprache, dementsprechend sich der spekulative Begriff in dieser Sprache als seinem Medium bewegt. Der p h i l o s o p h i s c h e (absolute) I n h a l t , d.h. die aus der Auflösung der äußeren Form hervorgehende absolute oder i n n e r e F o r m des Satzes, die Einheit seiner Unmittelbarkeit und seiner Vermitteitheit ist die a b s o l u t e Z w e c k m ä ß i g k e i t (Angemessenheit) des Satzes für den vernünftigen Gebrauch, seine V e r n u n f t m ä ß i g k e i t , seine A f f i n i t ä t zu dem ihn spekulativ fassenden Begriff. Unter einem spekulativen Satz wäre ein Satz zu verstehen, dessen Gegenstoß von S e m a n t i k und S y n t a x der U r s p r u n g und Anstoß einer Denkbewegung ist, die, weil sie in einem Satz als festem Resultat nicht festgehalten ist, über den einzelnen Satz als zusammenhangslosen hinausführt zu seinem sprachlichen und darüber hinaus zu seinem pragmatischen' K o n t e x t , zum Kontext der gesamten Erfahrung, in dem sich erst zeigen kann, in welchem Sinn der Satz geb r a u c h t ist. 6 4 Unter einem spekulativen Satz werde ich also im Unterschied zum gewöhnlichen Satz zunächst einen Satz verstehen, der der spekulativen Betrachtung insofern angemessen ist, als er durch die Kollision 61
J . P . Surber, Hegel's Speculative Sentence, a . a . O . , 2 2 7 . Vgl. auch H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 67, wo er darauf hinweist, daß das Mißverständnis abzuwehren ist, daß der spekulative Satz eine andere statische F o r m , gleich der des Urteils sei.
62
J . P. Surber, Hegel's Speculative Sentence, a . a . O . , 228. Ebenda.
63 64
„ I n Wirklichkeit ist die abstrakte Trennung zwischen Semantik und syntaktischer F o r m praktisch undurchführbar, wie gerade moderne linguistische Theorien aufweisen. Sie erweist sich als abstrakte Verstandesbestimmung. Die zentrale Hegeische Kategorie des „spekulativen Satzes" weist ebenfalls in diese R i c h t u n g . " (J. Simon, Philosophie und linguistische Theorie, a . a . O . , 63. Vgl. dazu ders., Die Kategorien im „gewöhnlichen" und im „spekulativen" Satz, a . a . O . , insbes. Kap. III und IV.)
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dessen, was in ihm gesetzt und dessen, was an ihm vorausgesetzt ist, das Denken von dem sprachlichen Boden, auf dem es sich gewöhnlich bewegt, gewissermaßen ablöst und dazu anhält, zugleich innerlich und äußerlich über diesen Satz zu reflektieren, d . h . ihn nicht nur als Äußerung eines Gedankens (als Aussage) zu fassen, sondern auch anders zu fassen, insofern er an sich die Erinnerung bewahrt hat an das von diesem Gedanken Vorausgesetzte. Anders gesagt: Unter einem spekulativen Satz ist — zunächst — ein Satz zu verstehen, der es uns nahelegt, die gewöhnlich unbewußt fortlaufende Bewegung des Ubersetzens des Subjekts ins Prädikat bewußt zu vollziehen, ein Satz, der sich durch den Widerspruch dessen, was er einerseits ausspricht, und dessen, was in ihm andererseits unausgesprochen gemeint ist, an uns wendet und eine seiner Forderung, die ganze Wahrheit in sich zu begreifen entsprechende reflektierende Denkbewegung hervorruft. Widerspricht nun aber der Versuch dieser Interpretation, das Unausgesprochene, Ungesagte, Gemeinte und Begrifflose zu fassen als notwendiges Moment des Hegeischen Begriffs, d. h. des sich von sich als festem lösenden und die Sache im Begriff sein lassenden Begriffs nicht gerade Hegels eigener Einschätzung der Bedeutung der „wahrheitslosen Meinung" 6 5 ? Kommt es nicht einer Uberschätzung der „Meinung" gleich, das Gemeinte als das Einzelne bzw. Besondere dem Allgemeinen, Gesetzten gegenüberzusetzen und den Hegeischen Begriff als Vermittlung zu begreifen im sprachlichen Zusammenspiel der reflektierenden und der bestimmenden Urteilskraft Kants? Gemeintes und Gesagtes In Anmerkung 2 sagt Hegel im Anschluß an seine Ausführungen über das Ungeschickte des Ausdrucks der Einheit des Seins und des Nichts, über das Ungeschickte, das hier darin besteht, daß Sein und Nichts in der Einheit nicht als das gemeint sind, was ihr Ausdruck sagt, 66 sondern sich, je mehr sie als Einheit a u s g e s p r o c h e n werden, als unterschieden z e i g e n : „So ist das ganze, wahre Resultat, das sich hier ergeben hat, das W e r d e n , welches nicht bloß die einseitige oder abstrakte Einheit des Seins und Nichts ist. Sondern es besteht in dieser Bewegung, daß das reine Sein unmittelbar und einfach ist, daß es darum ebensosehr das reine Nichts ist, daß der Unterschied derselben i s t , aber ebensosehr s i c h a u f h e b t und n i c h t i s t . Das 65 66
Log. II, 232. Vgl. Phä., Absatz 39, 34.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Resultat behauptet also den Unterschied des Seins und des Nichts ebensosehr, aber als einen nur g e m e i n t e n . " 6 7 In Anmerkung 1 zu § 88 der „Enzyklopädie" sagt Hegel: „1) Der Satz: S e y n u n d N i c h t s ist D a s s e l b e , erscheint für die V o r s t e l l u n g oder den Verstand als ein so paradoxer Satz, daß sie ihn vielleicht nicht für ernstlich gemeint hält. In der That ist er auch von dem härtesten, was das Denken sich zumuthet, denn Seyn und Nichts sind der Gegensatz in seiner ganzen U n m i t t e l b a r k e i t , d . h . ohne daß in dem einen schon eine Bestimmung g e s e t z t wäre, welche dessen Beziehung auf das Andere enthielte. Sie e n t h a l t e n aber diese Bestimmung, wie in dem vorhergehenden §. aufgezeigt ist, die Bestimmung, welche eben in beiden dieselbe ist. Die Deduktion ihrer Einheit ist insofern ganz a n a l y t i s c h ; wie überhaupt der ganze Fortgang des Philosophirens, als methodischer, d.h. als n o t h w e n d i g e r nichts anders ist, als blos das S e t z e n desjenigen, was in einem Begriffe schon enthalten ist. 68 — Ebenso richtig, als die Einheit des Seyns und.Nichts, ist es aber a u c h , daß sie s c h l e c h t h i n v e r s c h i e d e n sind, — das Eine n i c h t ist, was das Andere ist. Allein weil der Unterschied hier sich nocht nicht bestimmt hat, denn eben Seyn und Nichts sind noch das Unmittelbare, — so ist er, wie er an denselben ist, das U n s a g b a r e , die bloße M e i n u n g . " 6 9 Wir hatten bereits gesehen, „daß der Satz, in F o r m e i n e s U r t e i l s , nicht geschickt ist spekulative Wahrheiten auszudrücken" 7 0 und hatten dies zunächst einmal so verstanden, daß das Wahre nicht in e i n e m Urteil bzw. Satz besteht. Die Annahme übrigens, daß die Form eines Urteils ungeschickt, die Form eines Satzes, nämlich eines sogenannten spekulativen Satzes, dagegen durchaus geschickt sein könnte, spekulative Wahrheiten auszudrücken, so daß zum Zwecke der Darstellung des Spekulativen das gewöhnliche, den Unterschied von Subjekt Und Prädikat enthaltende Urteil lediglich durch einen spekulativen Satz, der die absolute Einheit von Subjekt und Prädikat darstellen soll, zu ersetzen wäre, beruht auf einem MißVerständnis, zu dem es wohl auch beiträgt, den spekulativen Satz mit dem identischen Satz zu identifizieren, der, insofern sich sein Prädikat zu seinem Subjekt nicht als ein Allgemeines zu einem Besonderen oder Einzelnen verhält, in der Tat nicht als identisches U r t e i l , sondern genauer als identischer S a t z zu 67 6e
69 70
Log. I, 77. Zum analytischen — wie zum synthetischen — Moment der Methode vgl. weiter unten, den dritten Teil dieses Kapitels dieser Arbeit. SW Bd. 8, 209/10. Vgl. wiederum Log. II, 271/2. Log. I, 76.
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kennzeichnen wäre. 7 1 Das Urteil und der Satz überhaupt sind ihrer F o r m wegen von Natur aus ungeschickt, das Spekulative darzustellen. Offen blieb dabei vorerst, ob der spekulative Gehalt, wenn auch nicht in einem Satz, so doch vielleicht in zwei (insbesondere in zwei einander entgegengesetzten Sätzen), oder drei (insbesondere in zwei, sich zu einem dritten zusammenschließenden Sätzen 72 ) Sätzen ausgedrückt werden kann, und inwiefern es auch dann wieder auf den v e r n ü n f t i g e n G e b r a u c h dieser Ausdrücke durch das wahrhaft begreifende, spekulative Denken ankommt. Im Zusatz zu § 462 der „Enzyklopädie" heißt es: „Wir wissen von unseren Gedanken nur dann, — haben nur dann bestimmte, wirkliche Gedanken, wenn wir ihnen die Form der G e g e n s t ä n d l i c h k e i t , des U n t e r s c h i e d e n s e y n s von unserer I n n e r l i c h k e i t , — also die Gestalt der A e u ß e r l i c h k e i t geben, — und zwar einer s o l c h e n Aeußerlichkeit, die zugleich das Gepräge der höchsten I n n e r l i c h k e i t trägt. Ein so innerliches Aeußerliches ist allein der a r t i c u l i r t e T o n , das W o r t . Ohne Worte denken zu wollen, — wie M e s m e r einmal versucht hat, — erscheint daher als eine Unvernunft, die jenen Mann, seiner Versicherung nach, beinahe zum Wahnsinn geführt hätte. Es ist aber auch lächerlich, das Gebundenseyn des Gedankens an das Wort für einen Mangel des Ersteren und für ein Unglück anzusehen; denn, obgleich man gewöhnlich meint, das U n a u s s p r e c h l i c h e sey gerade das Vortrefflichste, so hat diese von der Eitelkeit gehegte Meinung doch gar keinen Grund, da das Unaussprechliche in Wahrheit nur etwas Trübes, Gährendes ist, das erst, wenn es zu Worte zu kommen vermag, Klarheit gewinnt. Das Wort giebt demnach den Gedanken ihr würdigstes und wahrhaftestes Daseyn. Allerdings kann man sich auch, — ohne die Sache zu erfassen, — mit Worten herumschlagen. Dies ist aber nicht die Schuld des Wortes, sondern die eines mangelhaften, unbestimmten, gehaltlosen Denkens. Wie der wahrhafte G e d a n k e die
71
Vgl. SW Bd. 8, § 173 , 3 7 3 / 4 , wo Hegel beide Ausdrücke verwendet.
72
Vgl. dazu R . Kroner, Von Denkens ist nicht der Satz, wickelt sich aus Setzen und setzten in sich selbst." Vgl.
Kant bis Hegel, 2. B d . , 2 8 3 : „ D i e Urzelle des spekulativen sondern ein System von drei Sätzen, . . . dieses System entEntgegen-setzen zum Sich-Setzen oder zur Reflexion des Gedazu ferner a . a . O . , 284.
Vgl. auch H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 71, wo Röttges von der „Überlegenheit des Schlusses über den spekulativen Satz" spricht. Zwar ist der Schluß der vollständig gesetzte Begriff, die Rückkehr des Begriffs in sich selbst, nicht vergessen werden sollte freilich aber, daß nicht nur das abstrakte Urteil bzw. der abstrakte Satz, sondern auch der Schluß als formaler und abstrakter ungeschickt ist, das Spekulative auszudrücken. (Vgl. a . a . O . , 359, A n m . 7).
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S a c h e ist, so auch das Wort, wenn es vom wahrhaften Denken gebraucht wird." 7 3 Das Motiv jedenfalls, das uns dazu bewegt, dem einseitigen Satz auch nur einen weiteren Satz hinzuzusetzen, liegt darin, daß der Satz als „wesentliches Moment" das Nichtidentische enthält, dies aber im Urteil nicht ausgedrückt ist, darin also, daß noch etwas anderes gemeint ist als gesagt. Die spekulative Wahrheit des Gemeinten ist das Gesagte, so wie nach Hegel die Wahrheit der Absicht — auch der guten Absicht oder des gut Gemeinten — die Tat ist; im Gesagten, das dem Gemeinten gleichsam den Spiegel vorhält, kann dieses sich erkennen. Die Sprache ist das „Wahrhaftere", in der wir selbst unmittelbar unsere Meinung widerlegen bzw. verkehren. 74 Dies kann nicht heißen, daß die wahrhaft unendliche Reflexion des sich bewegenden und seine Bestimmungen in sich zurücknehmenden Begriffs allein auf das in einem einzelnen endlichen Satz Gesagte (Ausgeführte) festzulegen ist, ohne damit bestreiten zu wollen, daß dieser einzelne Satz als Anhaltspunkt für die weitere Beurteilung notwendig ist. Ebensowenig freilich ist an der Meinung als Meinung festzuhalten, d.h. aus dem Ungesagten und Unausgesprochenen (Unausgeführten) ein Unsagbares und Unaussprechliches (Unausführbares) zu machen, denn dieses der Endlichkeit des Gesagten j e n s e i t i g e ist, insofern es in dieser Jenseitigkeit festgehalten wird, das e i n s e i t i g e schlechte Unendliche. Die wahrhaft unendliche Reflexion des spekulativen Denkens besteht beiden einseitigen Verhaltensweisen gegenüber in dem Zusammenbringen des Gesagten und des Gemeinten. Indem z.B. die Aussage des positiven, endlichen Urteils spekulativ als positiv unendliches Urteil, d.h. als identischer Satz betrachtet wird, wird die Erfahrung des Gegenstoßes zu dem mit dieser Aussage auch gemeinten Verhältnis der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat gemacht. Diese Erfahrung des Gegenstoßes gegen den Satz als nichtidentischen macht es notwendig, die in ihm implizierte Nichtidentität in einem dem positiven Urteil entgegengesetzten negativen Urteil zu explizieren.
73
74
SW Bd. 10, 355. Dieses einprägsame Zitat findet sich übrigens bereits in dem Aufsatz von J . Derbolav, Hegel und die Sprache, a . a . O . , 63/4 als Beleg für das gegenseitige Aufeinander-Angewiesensein von Denken und Sprache. Derbolav hat in einigen Punkten dieses Aufsatzes auch das Problem des spekulativen Satzes gestreift. Vgl. a . a . O . , 68f. und 83ff. Vgl. Phä., 82 und 89.
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Die Bereitschaft zuzugeben, daß das überhaupt Unaussprechliche und Unsagbare das „Unwahre, Unvernünftige, bloß Gemeinte" 75 ist 76 , ist also nicht schon die Bereitschaft zuzugeben, daß das noch Ungesagte, Unausgesprochene das Unwahre ist. Letzteres käme strenggenommen auch der Ansicht gleich, Kunst sei etwas Unwahres und Unvernünftiges. Der Anspruch der Poesie, von Hegel begriffen als die höchste Stufe der Kunst, ist ja die Darstellung des Unausgesprochenen, Stillschweigenden im Ausgesprochenen. Dies Gemeinte, Nicht-Beurteilte, Unvermittelte im allgemein Ausgesprochenen, Mitgeteilten ist es, was die Einbildungskraft des Hörers (bzw. Lesers) produktiv macht. 77 Nach Hegel ist die Kunst uns ihrer höchsten Bestimmung nach vergangen, wenn wir zum philosophischen Gedanken gekommen sind, zu einem Begriff freilich, bei dem das stillschweigend Vorausgesetzte nicht zerstört, sondern aufgehoben, d. h. Moment seiner Fortbestimmung, oder anders ausgedrückt das — gewöhnlich in Vergessenheit geratende — Moment seines Fortschreitens oder Ubersetzens von einer Setzung zu einer, dieser gegenüber neuen, anderen Setzung ist. Die Zerstörung der Natur des Satzes als Erfahrung des spekulativen des Satzes
Geistes
Worum es bei dem geht, was Hegel absolute oder spekulative Methode nennt, ist die Aufmerksamkeit auf den Rhythmus der Begriffe, d.h. die Bewegung des Begriffs im Medium der Sprache, auf das, was g e s c h i e h t , wenn etwas begriffen wird, auf diesen Fortgang von einem Gedanken zum anderen, diesen Ubergang selbst, der im n a t ü r l i c h e n Bewußtsein jeweils übergangen ist. Unter einem spekulativen Satz könnte man so einen Satz 75
A . a . O . , 88.
76
Das Unaussprechliche könnte man vielleicht als das Vermeintliche bezeichnen, um es v o m Unausgesprochenen als dem Gemeinten besser unterscheiden zu können. Das Unwahre ist nicht das Unausgesprochene, Unerreichte, sondern das Unaussprechliche, Unerreichbare.
77
Zugestimmt werden kann Hegel, wenn er sagt: „ D e n n das Höchste und Vortrefflichste ist nicht etwa das Unaussprechbare, so daß der Dichter in sich noch von größerer Tiefe wäre, als das Werk darthut, sondern seine Werke sind das Beste des Künstlers, und das Wahre, was er ist, das ist er, was aber nur im Innern bleibt, das ist er nicht." (SW Bd. 12, 390). Der Polemik gegen den von ihm in die Reihe der „ N a c h b e t e r " Schellings eingeordneten F . v. Schlegel dagegen könnte — wollte man das, was Hegel sagt ohne Rücksicht auf das, was er meint, wörtlich nehmen — nicht zugestimmt werden: „ S o wurde z . B . in Friedrich von Schlegel's Gedichten, zur Zeit, als er sich einbildete ein Dichter zu seyn, dieß Nichtgesagte als das Beste ausgegeben, doch diese Poesie der Poesie ergab sich grade als die platteste P r o s a . " ( A . a . O . , 3 9 8 ; vgl. S W Bd. 19, 6 8 0 - 6 8 2 ) .
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
verstehen, in dem durch die Zerstörung der gewöhnlichen N a t u r des Satzes — bzw. durch die Erinnerung der Geschichte des Satzes — der spekulative G e i s t des Satzes erfahren wird. Im spekulativen Satz wird — um es bildlich zu vereinfachen — dem gewöhnlichen Satz gleichsam der Spiegel vorgehalten. 78 J. P. Surber bemerkt ganz richtig: „Hegel means nothing occult by the notion of the „speculative sentence". He is by no means calling for the abolition of the usual way in which we speak per se . . . If an extra-ordinary way of speaking philosophically is to arise from Hegel's concept of philosophical reflection, it is not such that it opposes itself to ordinary language, but rather can arise only when we take in its full complexity the ordinary form of language itself." 7 9 Das natürliche Bewußtsein, das nicht weiß, was es tut und erst durch das spekulative Denken auf sich selbst zurückgeworfen wird, ist jeweils schon zu etwas anderem übergegangen; es f i n d e t sich bei bestimmten Vorstellungen, inzwischen ist das vorstellende Denken vorübergehend in Gedanken v e r l o r e n , es macht — anders gesagt — Gedankensprünge zu Prädikaten. Die philosophische Reflexion dagegen kommt noch einmal zurück auf deren ursprünglichen Ausgangspunkt, auf das ihnen Zugrundeliegende, es nimmt noch einmal die Aussage zurück und geht zurück in das Einzelne, das dieser Äußerung als allgemeiner entgangen ist. Die Erinnerung ist also ein wesentliches Moment der reflektierenden Bewegung des Begriffs, der auf das Fortlaufen des natürlichen Vorstellens aufmerkt, das in Gedanken an seinen Gegenstand verloren ist und nicht dazu kommt, sich selbst in diesem Gegenstand zu finden. Die dialektische Bewegung bzw. Gegenbewegung des Begriffs ist nicht die haltlose, hemmungslose Bewegung des Räsonnierens, das ein unaufhörliches Monologisieren ist, vielmehr hat sie als Anhaltspunkte — bildlich gesprochen als Knotenpunkte — das innehaltende Stillsein, das Zuhören (und Zusehen), ohne das auch ein Dialog nicht glückt. Für die Arroganz des Verstandes steht es außer Frage, daß man sich unter einer „Bewegung des Begriffs" nichts vorstellen kann.
78
Vgl. H . Hülsmann, Der spekulative oder dialektische Satz, a.a.O., 71: „ D e r Satz liegt als ein g e k o n n t e s Kunststück vor, ein unmittelbar vollbrachtes, dem seine Möglichkeit nicht von der Stirne abzulesen ist. Nun soll eben diese Möglichkeit erschlossen werden
79
J. P. Surber, Hegel's Speculative Sentence, a.a.O., 224.
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Das natürliche Vorstellen aber, das das übergeht, was zwischen seinen Vorstellungen geschieht, ist — wie gesagt — daran zu erinnern, daß sich in diesem Geschehen fortlaufenden Übergehens von einer festen gesetzten Vorstellung zur anderen seine Geschichte (als seine Voraussetzung) verbirgt. Durch die Aufmerksamkeit auf dieses Geschehen kann sich das vorstellende Denken darauf besinnen, was inzwischen gewesen ist, bzw. es kann darauf zurückgeworfen werden, daß die Idee als der Begriff aus dem absoluten göttlichen Wesen, als dem Wesen 80 resultiert81, oder — wenn man sich so ausdrücken dürfte — daß sich im spekulativen Begriff die Sehnsucht der seligen Götter, zu Ideen zu werden, erfüllt, der Götter, die „gleichsam über ihre Seligkeit oder Leiblichkeit" trauern. 82 Bevor ich mit meinen Bemerkungen über das, was Hegel in Anmerkung 2 über das Verhältnis von Sagen und Meinen ausführt, zu Ende komme, möchte ich noch daran erinnern, daß er vom philosophischen Begriff sagt, er sei er selbst und sein Anderes. Das Andere des Begriffs nun ist das Begrifflose. Das Allgemeine des philosophischen Begriffs ist konkret, es „greift über sein Anderes über" 83 , d.h. über das Einzelne oder Besondere, das Gemeinte, und schließt dieses in sich. Doch dieser Ubergriff des Begriffs auf das Gemeinte, auf die A n s c h a u u n g ist nichts „Gewaltsames". Das Individuelle soll durch die Allgemeinheit nicht verschlossen, sondern aufgeschlossen werden für ein Allgemeines, in dem es als Besonderes wirklich aufgehen, d.h. seine eigene Aufgabe erfüllen kann. Das philosophisch begreifende Denken ist nicht die bloße Zerstörung oder Vernichtung - die reine Negation — der natürlichen Form bzw. des in 80
81
82 83
Vgl. SW Bd. 8, § 112, 264 und SW Bd. 17, 107/8. Zur Identität des göttlichen Wesens mit dem Wesen der Dinge vgl. SW Bd. 18, 244f. Das religiöse Bewußtsein ist noch nicht begreifendes (absolut wissendes) Bewußtsein, sondern noch vorstellendes Bewußtsein. Die Religion hat den absoluten Inhalt noch in der Form der Vorstellung bzw. der Reflexion (vgl. Phä., 480, 532, 548/9 und 553/4), sie hat das An-und-Fürsichsein noch in der Bestimmung des Ansichseins (vgl. Log. II, 5). Im religiösen Bewußtsein wird der a b s o l u t e B e g r i f f noch als a b s o l u t e s W e s e n vorgestellt. Ist der absolute Begriff der Begriff des absoluten Wesens, so ist das absolute Wesen die Vorstellung des absoluten Begriffs. Vgl. SW Bd. 13, 78/9 und 100-102 und Kapitel 1,2 dieser Arbeit. Log. II, 242. Vgl. dazu § 20 der „Enzyklopädie", SW Bd. 8, 74/5: „ . . . in der Logik wird es sich zeigen, daß der Gedanke und das Allgemeine eben dieß ist, daß er Er selbst und sein Anderes ist, über dieses übergreift und daß Nichts ihm entflieht. Indem die S p r a c h e das Werk des Gedankens ist, so kann auch in ihr nichts gesagt werden, was nicht allgemein ist. Was ich nur m e i n e , ist m e i n , gehört mir als diesem besondern Individuum an; wenn aber die Sprache nur Allgemeines ausdrückt, so kann ich nicht sagen, was ich nur m e i n e . Und das U n s a g b a r e , Gefühl, Empfindung, ist nicht das Vortrefflichste, Wahrste, sondern das Unbedeutendste, Unwahrste."
252
II. Kapitel. Die „Wissenschaf: der Logik"
dieser Form Vorhandenen. (Noch weniger freilich ist es die philosophische Überhöhung dessen als des Ineffablen). Vielmehr ist es die Aufhebung die bestimmte Negation — des Natürlichen als des Außersichseins, des Anderen des Begriffs. 84 Indem das Denken die Bewegung des Aufhebens der Natur des Gedankens vollzieht, erfährt es seine Geschichte. Die Unmöglichkeit des Ausdrucks des wirklichen in einem einzelnen Satz
Spekulativen
Bereits zu Anfang des Absatzes 66 der Vorrede zur „Phänomenologie", mit dem Hegel seine Erörterung des spekulativen Satzes zunächst abschließt und gewissermaßen schon vorverweist auf seine Betrachtung der Entwicklung des Urteils im dritten Buch der „Wissenschaft der Logik", erinnert er uns bezüglich der Problematik der spekulativen Darstellung der dialektischen Bewegung daran, „daß die dialektische Bewegung gleichfalls Sätze zu ihren Teilen oder Elementen habe." 8 5 An dieser Stelle hatte ich meine Überlegungen zu den in unserem Zusammenhang besonders interessanten Absätzen 58—66 der Vorrede abgebrochen, 86 war jedoch nicht sofort auf Hegels Untersuchung des Urteils im dritten Buch der Logik, sondern zunächst auf die Anmerkung 2 im ersten Buch der Logik eingegangen, in der Hegel sich näher auf das Problem der sprachlichen Darstellung des wirklichen Spekulativen einläßt und — paradigmatisch für die folgenden philosophischen Sätze der „Wissenschaft der Logik" — die Mangelhaftigkeit des Ausdrucks der Einheit des Seins und des Nichts kritisiert. Was über den Satz ,Das Sein ist das Nichts' ausgeführt wurde, gilt auch für die Sätze: Das Endliche ist das Unendliche 87 , Eins ist Vieles usw. Zum Satz der Einheit des Eins und des Vielen etwa sagt Hegel im dritten Kapitel in einer Anmerkung, die der Anmerkung 2 des ersten Kapitels entspricht: „Es ist ein alter Satz, daß das E i n e Vieles, und insbesondere, daß das Viele E i n e s ist. Es ist hierüber die Bemerkung zu wiederholen, daß die Wahrheit des Eins und des Vielen in Sätzen ausgedrückt in einer unangemessenen Form erscheint, daß diese Wahrheit nur als ein Werden, als ein 84 85 86 87
Vgl. Log. I, 105, Log. II, 247. Phä., 53. Vgl. Kap. 1,3 dieser Arbeit. Vgl. Log. I, 132, wo Hegel das Schiefe des Ausdrucks der Einheit des Endlichen und des Unendlichen rügt.
Die sprachliche Darstellung des Spekulativen
253
Prozeß, Repulsion und Attraktion, nicht als das Sein, wie es in einem Satze als ruhige Einheit gesetzt ist, zu fassen und auszudrücken ist." 8 8 In § 115 der „Heidelberger Enzyklopädie", mit dem Hegel zur Besprechung des Urteils übergeht, schreibt er: „Die philosophische Wahrheit läßt sich eben deswegen nicht in einem einzelnen Urtheile ausdrücken; der Geist, Leben, der Begriff überhaupt, ist nur Bewegung in sich, die gerade in dem Urtheil getödtet ist. Es ist darum allein schon um d e r F o r m des Urtheils willen, daß solcher Inhalt n i c h t die W a h r h e i t hat." 8 9 Das wirkliche Spekulative ist ein lebendiger Prozeß. 90 In diesem Prozeß ist m.E. der Auseinandersetzungsprozeß des Begriffs mit sich zu sehen, insofern er sich in die Sprache hinausgesetzt und damit der Kritik der Sprache ausgesetzt hat. Dadurch, daß Denken sich selbst objektiviert, in Form des Satzes zum Gegenstand macht, hat es allerdings sowohl die Möglichkeit, diesen Gegenstand geistig, d. h. spekulativ zu betrachten und sich in ihm als wissendes Subjekt wiederzufinden und wiederzuerkennen, als auch sich selbst zu verlieren und nur noch den toten Buchstaben zu sehen. Bezüglich der Mangelhaftigkeit des Ausdrucks der Einheit des Seins und des Nichts kommt Hegel vorläufig zu dem Ergebnis: „Der Mangel wird, zum Behuf, die spekulative Wahrheit auszudrücken, zunächst so ergänzt, daß der entgegengesetzte Satz hinzugefügt wird, der Satz: Sein u n d N i c h t s ist n i c h t d a s s e l b e , der oben gleichfalls ausgesprochen ist. (91) Allein so entsteht der weitere Mangel, daß diese Sätze unverbunden sind, somit den Inhalt nur in der Antinomie^92) darstellen, während doch ihr 88 89 90 91
92
A . a . O . , 163. S W Bd. 6, § 115, 102. Vgl. Frühe Schriften, 373, ferner S W Bd. 19, 109/10. Vgl. S W Bd. 15, 2 1 0 und S W Bd. 16, 208 und 2 1 0 . Will man das Verschiedene als das Konträre vom Entgegengesetzten bzw. sich Ausschließenden als dem Kontradiktorischen trennen (vgl. Log. II, 256/7 und 298/9), so kann man den ,Sprung' vom positiven Urteil „Subjekt und Prädikat ist dasselbe" zum negativen Urteil „Subjekt und Prädikat ist nicht dasselbe" m. E. gerade dann verständlicher machen, wenn man das negative Urteil als Kontradiktion des positiven Urteils betrachtet. Diese Betrachtung ermöglichte nämlich die Lesart des negativen Urteils: „Subjekt und Prädikat ist nicht (ganz) dasselbe", wobei der verschwindende Unterschied freilich der absolute Unterschied ums G a n z e ist. (Denkt man an eine Farbskala, so kann die in dieser Skala an eine Farbe S grenzende Farbe Ρ bereits als deren kontradiktorisches Gegenteil bezeichnet werden.) Diese Lesart kann insofern als Vorstellungsbrücke zum Begreifen der u n e n d l i c h e n Reflexion des Begriffs angesehen werden, als sie es nahelegt, sich die dialektische Bewegung des Begriffs als Bewegung des Verschwindens eines i n f i n i t e s i m a l e n Unterschieds oder als Kontinuation vorzustellen. Gedacht wird diese Bewegung allerdings erst, wenn die verschwindende, sich auflösende Differenz als absolute Differenz begriffen wird, d. h. als ein Unterschied, der zugleich ist und nicht ist. Zur Antinomie vgl. S W Bd. 1, 60 ff.
254
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Inhalt sich auf ein und dasselbe bezieht und die Bestimmungen, die in den zwei Sätzen ausgedrückt sind, schlechthin vereinigt sein sollen, — eine Vereinigung, welche dann nur als eine U n r u h e zugleich U n v e r t r ä g l i c h e r , als eine B e w e g u n g ausgesprochen werden kann. Das gewöhnlichste Unrecht, welches spekulativem Gehalte angetan wird, ist, ihn einseitig zu machen, d.i. den einen der Sätze nur, in die er aufgelöst werden kann, heraus zu heben. Es kann dann nicht geleugnet werden, daß dieser Satz behauptet wird; so r i c h t i g die A n g a b e ist, so f a l s c h ist sie, denn wenn einmal Ein Satz aus dem Spekulativen genommen ist, so müßte wenigstens ebensosehr der andere gleichfalls beachtet und angegeben werden." 9 3 „Die inadäquate Form solcher Sätze und Urteile (das Endliche ist unendlich, Eins ist Vieles, das Einzelne ist das Allgemeine, G . W . ) aber fällt von selbst in die Augen. Bei dem U r t e i l e ist gezeigt worden, daß seine Form überhaupt, und am meisten die unmittelbare des p o s i t i v e n Urteils unfähig ist, das Spekulative und die Wahrheit in sich zu fassen. Die nächste Ergänzung desselben, das n e g a t i v e Urteil, müßte wenigstens ebensosehr beigefügt werden. Im Urteile hat das Erste als Subjekt den Schein eines selbständigen Bestehens, da es vielmehr in seinem Prädikate als seinem Andern aufgehoben ist; diese Negation ist in dem Inhalte jener Sätze wohl enthalten, aber ihre positive Form widerspricht demselben; es wird somit das nicht gesetzt, was darin enthalten ist; was gerade die Absicht, einen Satz zu gebrauchen, wäre." 9 4 Bezugnehmend auf Kant, der in der Einleitung zur transzendentalen Logik ausführt, daß es „ganz unmöglich und ungereimt sei" 9 S , nach einem allgemeinen Kriterium der Wahrheit des I n h a l t s der Erkenntnisse zu fragen, ein allgemeines und zugleich hinreichendes Kennzeichen der Wahrheit angeben zu wollen, sondern daß die Logik vielmehr die a l l g e m e i n e n und n o t w e n d i g e n Regeln des Verstandes vortrage und in diesen Regeln auch Kriterien der Wahrheit darlege, logische Kriterien aber, die nur die bloße F o r m der Wahrheit, d.h. des Denkens überhaupt betreffen, und insofern zwar ganz richtig, aber nicht hinreichend seien, sagt Hegel am Ende seiner in die Begriffslogik einleitenden Ausführungen über den Begriff im allgemeinen, wo er der Kantischen Philosophie vorwirft, die Formen des Begriffs selbst nicht der Kritik unterworfen zu haben: „So gilt ζ. B. die Form des positiven Urteils für etwas an sich völlig Richtiges, wobei es ganz allein auf den Inhalt ankomme, ob ein 93 94 95
Log. I, 76/7. Log. II, 495. K . r . V . , A 59/ В 83, 101.
Die sprachliche Darstellung des Spekulativen
255
solches Urteil wahr sei. Ob diese Form an und f ü r sich eine Form der Wahrheit, ob der Satz, den sie ausspricht, das E i n z e l n e ist ein A l l g e m e i n e s , nicht in sich dialektisch sei, an diese Untersuchung wird nicht gedacht. Es wird geradezu dafür gehalten, daß dies Urteil für sich fähig, Wahrheit zu enthalten, und jener Satz, den jedes positive Urteil ausspricht, ein wahrer sei, obschon unmittelbar erhellt, daß ihm dasjenige fehlt, was die Definition der Wahrheit fordert, nämlich die Ubereinstimmung des Begriffs und seines Gegenstandes; das Prädikat, welches hier das Allgemeine ist, als den Begriff, das Subjekt, welches das Einzelne ist, als den Gegenstand genommen, so stimmt das eine mit dem andern nicht überein. Wenn aber das a b s t r a k t e A l l g e m e i n e , welches das Prädikat ist, noch nicht einen Begriff ausmacht, als zu welchem allerdings mehr gehört, — so wie auch solches Subjekt noch nicht viel weiter als ein grammatisches ist, — wie sollte das Urteil Wahrheit enthalten können, da sein Begriff und Gegenstand nicht übereinstimmen, oder ihm der Begriff, wohl auch der Gegenstand, gar fehlt? - Dies ist daher vielmehr das U n m ö g l i c h e und U n g e r e i m t e , in der gleichen Form, wie ein positives Urteil und wie das Urteil überhaupt ist, die Wahrheit fassen zu wollen." 9 6 Hegel geht es darum, über die bloße Bekanntschaft innerlich unzusammenhängender logischer Formen hinauszugehen und ihren systematischen Zusammenhang zu erkennen. An dieser Stelle wäre in die Untersuchung wenigstens des gesamten ersten Abschnitts des dritten Buches der Logik einzutreten. So interessant diese Aufgabe ist, so sehr scheint im Rahmen dieser Arbeit eine Beschränkung geraten. Zu zeigen ist hier, daß Hegels Bemerkungen über den spekulativen Satz nicht eine Episode innerhalb der Vorrede zur „Phänomenologie" bleibt, sondern daß er sich — obgleich meines Wissens in der „Wissenschaft der Logik" expressis verbis nicht vom spekulativen Satz die Rede ist — vom Anfang der Logik an der Problematik des spekulativen Satzes als der Darstellungsproblematik bewußt ist — wofür mir bereits die 96
Log. II, 233/4. Die Einheit des in seine selbständigen Momente verlorenen Begriffs ist im Urteil wohl enthalten, aber nicht gesetzt. (Vgl. a.a.O., 238). Im Urteil ist der Begriff außer sich gekommen. Das Urteil ist das Anderssein des Begriffs. „Daß er sich im Urteil erhalte, müßten das Subjekt und Prädikat sich in ihrem Gegensatze selbst gleichsetzen, beide den bestimmten Begriff, ein Einfaches in Einssein des Allgemeinen und Besondern an sich ausdrücken; es ist die Frage, wie das Urteil dies an sich vermag, und wie diese Notwendigkeit an ihm sich selbst darstellt, und es in der Unvermögenheit, den Begriff an ihm selbst zu haben, aus sich selbst treibt." (Jenenser Logik, 82).
256
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Anmerkung 2 des ersten Kapitels der Seinslogik ein Beleg zu sein scheint, und zwar ohne daß es des Hinzuziehens der dritten Anmerkung zum entsprechenden § 88 der enzyklopädischen Logik von 1830 9 7 bzw. der dritten Anmerkung zum § 41 der enzyklopädischen Logik von 1817 9 8 bedürfte. Thematisch im engeren Sinn wird diese Problematik — die sich am Ende als die Methodenproblematik erweisen wird — im ersten Abschnitt, insbesondere im zweiten Kapitel des ersten Abschnitts der Begriffslogik, in Hegels Lehre vom Urteil. Innerhalb dieser Urteilslehre nun möchte ich mich auf eine genauere Untersuchung der Hegeischen Vorbetrachtung über das Urteil im Allgem e i n e n 9 9 4 9 ^ und der Darstellung der unmittelbaren Form des Urteils, der Darstellung des Urteils des Daseins 1 0 0 beschränken. Vermittels dieses Anfangs der Urteilslehre bereits scheint es mir möglich zu sein zu zeigen, daß die zu den Absätzen 58ff. der Vorrede der „Phänomenologie" können,
101
angestellten
Überlegungen
weitergeführt
werden
und daß das Nachdenken über den s p e k u l a t i v e n S a t z über
die Urteilslehre (und auch über die Schlußlehre) hinaus zur s p e k u l a t i v e n I d e e oder absoluten Idee führt — die Hegel am Ende der „ L o g i k " behandelt — und damit zur Bestimmung der s p e k u l a t i v e n oder der absoluten Methode.
Methode
102
Vgl. SW Bd. 8, 211. Vgl. SW Bd. 6, 56. 9 9 Vgl. Log. II, 2 6 4 - 2 7 2 . Besondere Beachtung wird Absatz 11 (a.a.O., 270/1) geschenkt werden. B. Liebrucks vertritt die Auffassung, daß in den Absätzen, die den Ausführungen über das Urteil des Daseins vorangesetzt sind „das Urteil des Daseins, das der Reflexion, das der Notwendigkeit und das des Begriffs enthalten" sind. (B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 6/3, a.a.O., 253). In der Tat scheint mir der Fortgang des Urteils in die Verschiedenheit der Urteile eine Entwicklung der insbesondere in Absatz 11 gegebenen objektiven Bestimmung der Urteilsbedeutung (vgl. Absätze 8 - 1 1 ) zu sein. 9 9 1 W . Albrecht, der in seiner Arbeit „Hegels Gottesbeweis, Eine Studie zur „Wissenschaft der L o g i k " " den interessanten Versuch unternommen hat, Hegels Urteilslehre für die Interpretation des Anfangs der Logik fruchtbar zu machen, ist bedauerlicherweise im Einzelnen nicht auf Hegels Vorbetrachtung über das Urteil eingegangen und hat auch der Betrachtung des Urteils der Qualität nur wenig Raum gegeben. (Vgl. a.a.O., Kap. IV. Die Selbstauslegung des Begriffs im Urteil, insbes. 73/4). 97
98
100
101
102
Vgl. Kap. 2 A , Log. II, 272 —286. Das Augenmerk wird insbesondere auf Kap. 2 A c „Unendliches Urteil" (a.a.O., 2 8 4 - 2 8 6 ) gelenkt werden. K. Düsing sagt, daß Hegel hinsichtlich der Identität, die in der Fortbestimmung des Urteils erreicht werden soll, zu Beginn der Urteilslogik der Sache nach seine früheren Überlegungen zum spekulativen Satz wiederhole. (Vgl. K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a.a.O., 253). Vgl. Log. II, 483ff. und SW Bd. 8, § 236ff., 446ff.
Das Urteil
257
2. Das Urteil Vorbetrachtung (Log. II, 264-272) Begriff - Urteil -
Schluß
Das Urteil ist die „gesetzte Bestimmtheit des Begriffs". 103 Die B e s t i m m t h e i t des Begriffs ist die Bestimmtheit des B e g r i f f s . Das Setzen der bestimmten Begriffe geschieht durch den Begriff selbst, die Bestimmung des Begriffs ist Selbstbestimmung. Der Begriff selbst bestimmt sich dazu, seine Individualität aufzugeben und sich allgemein mitzuteilen. Gegenüber der Unbestimmtheit der vorausgesetzten Bedeutung des Begriffs ist das Urteil das bestimmte Sein des Begriffs, „das D a s e i n oder das A n d e r s s e i n des Begriffs." 104 So könnte das Urteil wohl nicht nur als die „Realität des Begriffes" 105 , sondern ebensosehr als Negation und als Limitation des Begriffs gefaßt werden. Am unmittelbaren, qualitativen Urteil, am Urteil des Daseins, zunächst am positiven und am negativen Urteil, zeigt sich so unmittelbar die Natur des Urteils überhaupt, das Andere des Begriffs zu sein. Diese Natur bzw. Form des Urteils, sein Standpunkt der Endlichkeit, wird im Urteil des Daseins bereits durch das unendliche Urteil zerstört, oder besser gesagt aufgehoben. Das Urteil überhaupt — nicht bloß das Urteil des Daseins — ist aber nur die „nächste R e a l i s i e r u n g des Begriffs" 106 , nur der unvollständig gesetzte Begriff, noch nicht das wahrhafte Dasein des Begriffs als Begriff, der Schluß. Im Schluß erst ergibt sich die vollständige Wiederherstellung des Begriffs im Urteil und die Aufhebung der Form des Urteils als der Erscheinung der Differenz von Subjekt und Prädikat. Der Schluß erst ist der Begriff dessen, was das Urteil in Wahrheit ist, der Entschluß und das Im-Begriff-Sein des Subjekts zum Prädikat (bzw. zu dem durch das Prädikat vermittelten Objekt). Im „formellen U r t e i l e " 1 0 7 — das ungeschickt ist, das Spekulative auszudrücken — sind Subjekt und Prädikat als Selbständige gegeneinander 103
104 105 106
107
Log. II, 268, Absatz 8, vgl. a.a.O., 264, Absatz 1, ferner 273, wo Hegel das Urteil als den gesetzten bestimmten Begriff faßt. A . a . O . , Absatz 8, 268. A . a . O . , Absatz 13 , 272. A . a . O . , Absatz 3, 264; vgl. auch Jenenser Logik, 81, wo Hegel das Urteil als die „(schlechte) Realität" des Begriffs bezeichnet. Log. II, 392.
258
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
bestimmt, wobei ihre Selbständigkeit jedoch zuerst abstrakte Allgemeinheit ist. — Im Schluß nun als dem Vernünftigen, als dem vollständig gesetzten Begriff sind zwar ebensowohl die Momente des Begriffs als selbständige Extreme, wie auch deren erfüllte oder inhaltsvolle vermittelnde Einheit gesetzt. 108 Insofern ist der Schluß die Wahrheit des Urteils. 1 0 9 Ebenso wie das Urteil ist aber der Schluß als Formales nur ein Verständiges. 110 Zwar ist die Form des Schlusses die Form der Vernünftigkeit, aber als abstrakte, begrifflose ist sie ungeschickt, das Spekulativ-Vernünftige auszudrücken; das formelle Schließen ist das Vernünftige in vernunftloser Weise, der formelle Verstandesschluß hat mit einem vernünftigen Gehalt nichts zu tun, das Subjekt schließt sich durch die Vermittlung nicht mit sich selbst zusammen. 1 1 1 „So sehr es daher für nichts mehr als Roheit anzusehen ist, die Kenntnisse der Vernunftsformen überhaupt zu verachten, so sehr ist zuzugeben, daß die gewöhnliche Darstellung des Schlusses und seiner besondern Gestaltungen nicht eine v e r n ü n f t i g e Erkenntnis, nicht eine Darstellung derselben als V e r n u n f t f o r m e n ist und die syllogistische Weisheit sich durch ihren Unwert die Geringschätzung zugezogen hat, die sie erfuhr. Ihr Mangel besteht darin, daß sie schlechterdings bei der V e r s t a n d e s f o r m des Schlusses stehen bleibt, nach welcher die Begriffsbestimmungen als a b s t r a k t e formelle Bestimmungen genommen werden. Es ist um so inkonsequenter, sie als abstrakte Qualitäten festzuhalten, da im Schlüsse die B e z i e h u n g e n derselben das Wesentliche ausmachen und die Inhärenz und Subsumtion es schon enthält, daß das Einzelne, weil ihm das Allgemeine inhäriert, selbst Allgemeines, und das Allgemeine, weil es das Einzelne subsumiert, selbst Einzelnes ist, und näher der Schluß eben diese E i n h e i t als M i t t e ausdrücklich setzt und seine Bestimmung gerade die V e r m i t t l u n g ist, d.i. daß die Begriffsbestimmungen nicht mehr wie im Urteile ihre Äußerlichkeit gegeneinander, sondern vielmehr ihre Einheit zur Grundlage haben. — Es ist somit durch den Begriff des Schlusses die Unvollkommenheit des formalen Schlusses ausgesprochen, in welchem die Mitte nicht als Einheit der Extreme, sondern als eine formale, von ihnen qualitativ verschiedene, abstrakte Bestimmung festgehalten werden soll." 1 1 2
108 109 110 111 112
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Log.
a . a . O . , 238 a . a . O . , 314 a . a . O . , 239 a . a . O . , 330 II, 329/30.
und und und und
308. 318. 310. SW Bd. 8, §§ 181 und 182, 3 8 2 - 3 8 6 .
Das Urteil
259
Insofern nun zunächst das Urteil als gesetzte Bestimmtheit des Begriffs nur das Dasein oder Anderssein, das Außersich-Sein des Begriffs ist, „welcher sich noch nicht zu der Einheit, wodurch er als Begriff ist, wieder hergestellt hat, so tritt auch die Bestimmtheit hervor, welche begrifflos ist". 113 Die begrifflose Bestimmtheit des Begriffs tritt am Urteil in Erscheinung als Nichtidentität von Subjekt und Prädikat als selbständigen Extremen, als Gegensatz des Seins und der Reflexion bzw. als Gegensatz des Seins oder Fürsichseins und des Wesens oder Ansichseins. Das Urteil kann so als Erscheinung der Differenz der s e l b s t ä n d i g e n Glieder v e r s t a n d e n werden. V e r n ü n f t i g dagegen ist die Einsicht, daß die Selbständigen als einander gleichgültig Gegenüberstehende nur aufgrund der Einheit und Ganzheit des Begriffs auftreten können. Die Einheit des Begriffs, die im Urteil als Erscheinung ist 114 , macht den „wesentlichen G r u n d des Urteils" 115 aus. Die totale Reflexion der Fortbestimmung des Begriffs vollzieht sich als Fortgang des Urteils durch die ständig wechselnde Aufhebung der Extreme (der Satzglieder). (Will man das Fortschreiten als Bild des Fortbestimmens noch weiter ausführen, so könnte man die Bewegung des Ubersetzens vom Subjekt zum Prädikat im Urteilen so beschreiben, daß das Gesetztsein des Subjekts und das Vorausgesetztsein des Prädikats übergeht in das Gesetztsein des Prädikats und das Vorausgesetztsein des Subjekts usf. — wobei es gleichgültig ist, an welcher Stelle mit der Beschreibung angefangen wird.) Subjekt und Prädikat sind dabei notwendige Anhaltspunkte der reflektierenden Selbstbewegung des Begriffs, Momente des Bestimmens, das insofern die Totalität ist, als es Subjekt und Prädikat als Selbständige und deren Beziehung enthält. In dem Abschnitt, in dem Hegel den besonderen Begriff behandelt, sagt er: „Indem daher der Verstand die unendliche Kraft darstellt, welche das Allgemeine bestimmt oder umgekehrt dem an und für sich Haltungslosen der Bestimmtheit durch die Form der Allgemeinheit das fixe Bestehen erteilt, so ist es nun nicht Schuld des Verstandes, wenn nicht weiter gegangen wird. Es ist eine subjektive O h n m a c h t der V e r n u n f t , welche diese Bestimmtheiten so gelten läßt und sie nicht durch die jener abstrakten 113 114 115
A.a.O., Absatz 8, 268. Vgl. a.a.O., 267, Absatz 5. A.a.O., 268, Absatz 8, vgl. a.a.O., Absatz 5, 266.
260
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
Allgemeinheit entgegengesetzte dialektische Kraft, d.h. durch die eigentümliche Natur, nämlich durch den Begriff jener Bestimmtheiten, zur Einheit zurückzuführen vermag. Der Verstand gibt ihnen zwar durch die Form der abstrakten Allgemeinheit, sozusagen, eine solche H ä r t e des Seins, als sie in der qualitativen Sphäre und in der Sphäre der Reflexion nicht haben; aber durch diese Vereinfachung b e g e i s t e t er sich zugleich und schärft sie so zu, daß sie eben nur auf dieser Spitze die Fähigkeit erhalten, sich aufzulösen und in ihr Entgegengesetztes überzugehen." 1 1 6 Die Selbständigkeit, mit der Subjekt und Prädikat in Form des Urteils zunächst auftreten, verdankt sich der Vergessenheit des Grundes aus dem sie zustande kommt, einer Gedankenlosigkeit, die sich in der Vergegenständlichung von Subjekt und Prädikat als fest und unvergänglich einander gegenüber stehenbleibenden Größen zeigt. Diese Selbständigkeit ist nicht diejenige, die man die wahrhafte, vollständige (totale), sich selbst aufhebende Selbständigkeit des sich durch seine Momente dialektisch bewegenden Begriffs nennen könnte. 1 1 7 Das Prädikat kann dem Subjekt nur in dem Maße wirklich zukommen, in dem das Subjekt sich nicht in seinem äußeren Bestehen rein erhält, sondern im Prädikat vergeht und in ihm — als wissendes Subjekt — aufgeht. So ist das Prädikat zu begreifen als Vergegenwärtigung oder Präsentation des Subjekts. Im Urteil als einem Werk des Verstandes — dessen Kraft die Tätigkeit des Scheidens ist — ist die absolute Selbständigkeit des sich im Zusammenschließen oder Z u s a m m e n h a l t e n des Subjekts und des Prädikats, des in der K o n t i n u a t i o n des Subjekts ins Prädikat total reflektierenden Begriffs noch nicht erreicht. Die Beziehung der Gegenteile im Urteil ist eine 116
117
L o g . II, 251/2; vgl. SW Bd. 8, § 80 Zusatz, 1 8 5 - 1 8 9 . Vgl. femer W. Krohn, „ D i e formale Logik in Hegels „Wissenschaft der L o g i k " " , a . a . O . , 95 und E . Heintel, Der Begriff des Menschen und der „spekulative S a t z " , a . a . O . , 221. Findet die Starrheit der schlechten Selbständigkeit in den Statuen der ägyptischen Naturreligion ihren Ausdruck, so die Gelöstheit der absoluten, ihrer Relativität inne gewordenen wahren Selbständigkeit in der freien Stellung der idealen Skulpturgestalt der griechischen Kunstreligion. Die absolute Selbständigkeit der absoluten Gestalt ist in dem sich Aufheben und Ubergehen oder vielmehr in dem sich Ubersetzen der selbständigen Extreme zu sehen. (Vgl. Kap. I, 2 dieser Arbeit). N a c h der Erörterung der Zweideutigkeit des Ausdrucks „Selbständigkeit" (SW Bd. 12, 247) kommt Hegel im Zusammenhang seiner Ausführungen über die Bestimmtheit des Ideals zu dem Ergebnis: „ D i e wahre Selbstständigkeit daher besteht allein in der Einheit und Durchdringung der Individualität und Allgemeinheit, indem das Allgemeine durch die Einzelheit sich ebensosehr ein konkretes Daseyn gewinnt, als die Subjektivität des Einzelnen und Besondern im Allgemeinen erst die unerschütterliche Basis und den ächten Gehalt für seine Wirklichkeit findet." ( A . a . O . , 247).
Das Urteil
261
Beziehung von Diskreten, Gesonderten, oder anders gesagt: die Einheit des Begriffs ist nur erst eine Beziehung, ein Verhältnis von abstrakten Selbständigen. Das Vernünftige und Spekulative dagegen bestünde im Zusammenbringen und Zusammenhalten der Gedanken des Subjekts und des Prädikats, im Fassen der kontradiktorisch Entgegengesetzten in ihrer konkreten Einheit. Das Verhältnis von Subjekt und, Prädikat im Urteil des Daseins als Verhältnis des selbständigen Einzelnen zum unselbständigen Allgemeinen Der Vergleich des Verhältnisses der Selbständigkeit des Subjekts zur Unselbständigkeit des Prädikats mit dem Verhältnis von Gedanke und Sprache Von der Natur des Urteils als der nächsten Realisierung des Begriffs sagt Hegel: „Näher hat sich die Natur dieser Realisierung so ergeben, daß v o r s e r s t e die Momente des Begriffs durch seine Reflexion-in-sich oder seine Einzelheit selbständige Totalitäten sind, v o r s a n d e r e aber die Einheit des Begriffes als d e r e n B e z i e h u n g ist. Die in sich reflektierten Bestimmungen sind b e s t i m m t e T o t a l i t ä t e n , ebenso wesentlich in gleichgültigem beziehungslosem Bestehen, als durch die gegenseitige Vermittlung miteinander. Das Bestimmen selbst ist nur die Totalität, indem es diese Totalitäten und deren Beziehung enthält. Diese Totalität ist das Urteil." 1 1 8 Daraufhin geht Hegel in der zweiten Hälfte von Absatz 3 und in Absatz 4 zuerst auf die Betrachtung der Momente des Begriffs als selbständiger Totalitäten ein, 119 um dann in Absatz 5 zweitens auf die Einheit des Begriffs als Beziehung des Subjekts und Prädikats im Urteil zu sprechen zu kommen. 1 2 0 Die Natur des Urteils enthält Subjekt und Prädikat als Nichtidentische, als Fürsichseiende, die nur als mit sich selbst, nicht als miteinander identische gesetzt sind, 121 als die beiden Selbständigen. 122 Im Urteilen treten sie jedoch nicht naturgemäß als Selbständige gegeneinander auf, sondern in der Fortbestimmung des Urteils ergibt sich, daß beide sich abwechselnd so verhalten, daß das eine Mal das Subjekt als das Selbständige, das Prädikat dagegen als das Unselbständige wirkt und das andere Mal umgekehrt. Doch auch diese Beziehung Fürsichseiender ist noch eine bloß wesentliche, ein 118 119 120 121 122
Log. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
II, Absatz 3, 265. a.a.O., 265, Zeile 11 ff. a.a.O. 266, Zeile 28ff. SW Bd. 8, § 166, 364 und SW Bd. 6, § 115, 101. Log. II, Absatz 3, 265.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
natürliches Verhältnis. Die Identität des Subjekts und des Prädikats als Beziehung ist noch eine an sich seiende. Die Freiheit des sich selbst vollständig bestimmenden Begriffs, das An-und-Für-sich-Sein der Identität der Identität und der Nichtidentität ist noch nicht erreicht. 123 Dem Fortgang des Urteils in die Verschiedenheit der Urteile nach kann das Subjekt „zunächst gegen das Prädikat als das Einzelne gegen das Allgemeine oder auch als das Besondere genommen werden". 1 2 4 („Das abstrakte Urtheil ist der Satz: das E i n z e l n e ist das A l l g e m e i n e . Dieß sind die Bestimmungen, die das S u b j e k t und P r ä d i k a t zunächst gegen einander haben, indem die Momente des Begriffs in ihrer unmittelbaren Bestimmtheit oder ersten Abstraktion genommen werden." 1 2 5 ) „Das Urteil, wie es u n m i t t e l b a r ist, ist es z u n ä c h s t das Urteil des D a s e i n s ; unmittelbar ist sein Subjekt ein a b s t r a k t e s , s e i e n d e s E i n z e l n e s , das Prädikat eine u n m i t t e l b a r e B e s t i m m t h e i t oder Eigenschaft desselben, ein abstrakt Allgemeines." 126 „Das Subjekt ist seinem Gedanken nach zunächst das Einzelne und das Prädikat das Allgemeine. In der weiteren Entwickelung des Urtheils geschieht es dann, daß das Subjekt nicht bloß das unmittelbar Einzelne und das Prädikat nicht bloß das abstrakt Allgemeine bleibt; Subjekt und Prädikat erhalten demnächst auch die Bedeutung jenes, des Besonderen und des Allgemeinen und dieses, des Besonderen und des Einzelnen. Dieser Wechsel in der Bedeutung der beiden Seiten des Urtheils ist es, welcher unter den beiden Benennungen Subjekt und Prädikat statt findet." 1 2 7 Im Urteil des Daseins als dem Urteil der Inhärenz ist das Subjekt das Unmittelbare und Erste, das Prädikat dagegen hat „die Form eines Unselbständigen, das am Subjekte seine Grundlage hat." 1 2 8 Dieses gewöhnliche Verhältnis, nach dem sich das Subjekt zum Prädikat verhält wie das selbständige Einzelne zum unselbständigen Allgemeinen, wird aber bereits im unendlichen Urteil aufgehoben und ist im Urteil der Reflexion als dem 123
124 125 126 127 128
U m an die entsprechenden Gestalten des erscheinenden Geistes zu erinnern, so ist das natürliche Selbstbewußtsein der Selbständigkeit oder aber Unselbständigkeit in der Freiheit des Selbstbewußtseins als der Einheit von Herrschaft und Knechtschaft aufgehoben. Diese Freiheit des Selbstbewußtseins erscheint als Freiheit des geistigen Selbstbewußtseins, als freier Genuß der geistigen Arbeit in der griechischen Kunstreligion und offenbart sich nach Hegel in der christlichen Religion als Liebe. (Vgl. Kap. I, 2 dieser Arbeit). Log. II, Absatz 3, 265. Vgl. SW Bd. 3, § 11, 147/8. SW Bd. 8, § 166, 364. Vgl. SW Bd. 6, §115, 101. Log. II, 272. SW Bd. 8, § 169 Zusatz, 369. Log. II, 273.
Das Urteil
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Urteil der Subsumtion umgekehrt. 129 — Insofern das Urteil als das Dasein des Begriffs aufgefaßt wird, kann mit gewissem Recht davon ausgegangen werden, daß das Verhältnis von Begriff und Urteil dem Verhältnis von Gedanke und Sprache vergleichbar ist. Da nun das Verhältnis von Begriff und Urteil als Verhältnis von Subjekt und Prädikat im Urteil selbst vorkommt und zwar im Urteil des Daseins zunächst als Verhältnis der Selbständigkeit des Subjekts und der Unselbständigkeit des Prädikats, könnte man durch die Generalisierung dieses Verhältnisses zu der Annahme kommen, daß die Sprache (die in diesem Vergleich dem unselbständigen Prädikat entspricht) die Dienerin des Gedankens, sein Mittel und Werkzeug sei, in einem Knechtschaftsverhältnis zum Denken stehe. 1 3 0 Dazu ist m . E . zunächst zu sagen, daß bei der Betrachtung des Urteils als Daseins des Begriffs zwar mit dem Urteil des Daseins angefangen werden muß, und daß die Sprache im abstrakten Urteil zunächst auch durchaus in einem Knechtschaftsverhältnis zum Denken steht bzw. zu stehen scheint, daß dann aber wenigstens bis zum Ende des Urteils des Daseins, nämlich zum unendlichen Urteil und damit bis zum Wendepunkt des Urteils der Inhärenz zum Urteil der Subsumtion fortgegangen werden muß. 1 3 1 Dann zeigt sich bereits, daß die Sprache im Urteil keineswegs nur die Rolle einer Dienerin spielt, sondern daß ein Rollenwechsel zwischen Sprache und Gedanken stattfindet. Darüberhinaus zeigt sich jedoch im Durchgang durch die Verschiedenheit der Urteile, daß im Urteil die erfüllte Einheit und Harmonie des Subjekts und des Prädikats, die lediglich als selbständige Extreme auftreten, nicht hervorgeht, daß das Allgemeine nicht gewaltlos über sein Anderes übergreift und daß damit auch das HerrschaftKnechtschaft-Verhältnis bzw. die Zweck-Mittel-Relation im Urteil nicht aufgehoben wird. Wird nun begriffen, daß im Verhältnis von Denken und Sprechen die Sprache nicht nur nicht bloß die Rolle einer Dienerin hat, sondern in WirkInsofern das unendliche Urteil diesen Punkt des Übergangs, oder besser gesagt der Umkehrung des Urteils der Inhärenz ins Urteil der Subsumtion beschreibt, wird es in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse sein. 130 v g i w M a r X ; Absolute Reflexion und Sprache, a.a.O., 18, 25 und 31. 1 3 1 Der Fortgang bis zur Vollendung des Urteils der Inhärenz im unendlichen Urteil scheint mir auch zum Verständnis der Hegeischen Ausführungen über den spekulativen Satz in den Absätzen 58ff. - insbes. aber in Absatz 61 — der Vorrede zur „Phänomenologie" notwendig zu sein. Dort geht es nämlich darum, wie das gewöhnliche Verhältnis der Satzteile im formalen, räsonnierenden Denken, in dem der Inhalt als Akzidenz äußerlich an das selbständige Subjekt als Basis oder Grundlage geheftet wird, bzw. ihm inhäriert, durch den i d e n t i s c h e n S a t z , d.h. durch das p o s i t i v u n e n d l i c h e U r t e i l , zu dem der gewöhnliche abstrakte Satz wird, zerstört wird. 129
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
lichkeit auch nicht bloß das komische Schauspiel gibt, einmal die Dienerin, ein andermal aber die Herrin zu spielen, vielmehr aber in Wahrheit weder nur Herrin noch nur Dienerin des Denkens 132 ist, so wird deutlich, daß in dem Vergleich der Sprache mit dem Urteil die innere Form, die absolute Zweckmäßigkeit der Sprache nicht erfaßt ist. Dazu müßte letztlich wohl bis zu dem Entschluß des seiner selbst bewußt gewordenen spekulativ wissenden Subjekts, sich frei aus sich zu entlassen fortgeschritten werden. Die Urteile als Momente der dialektischen
Bewegung des Urteils
Die dialektische Bewegung des spekulativen Satzes als die sich in der Bewegung der Fortbestimmung des Urteils in die Verschiedenheit der Urteile vollziehende begriffliche Vereinigung von Subjekt und Prädikat In den in Kapitel 1,3 dieser Arbeit besprochenen Absätzen der Vorrede zur „Phänomenologie" wurde die Erfahrung der Umkehrung des Bewußtseins beschrieben, die vom formalen, vorstellenden Denken zum begreifenden Denken führt, das den sich im abstrakten (positiven) Urteil am deutlichsten zeigenden Formalismus des Urteils überhaupt (und dessen Positivität) begreift und die Form des Urteils spekulativ betrachtet. Zu dem im Folgenden zu untersuchenden Verhältnis des spekulativen Satzes zum Urteil sei zunächst daran erinnert, daß Hegel mit dem spekulativen Satz — der auch absoluter oder konkreter genannt werden könnte — nicht eines der in der Urteilslogik abgehandelten Urteile beschreibt, noch weniger aber eine zusätzlich neu entdeckte Form der Aussage. Vielmehr scheint es mir so zu sein, daß mit dem sogenannten spekulativen Satz die in der Fortbestimmung des Urteils, in der Bewegung des Urteils durch die Verschiedenheit der Urteile jeweils von neuem gemachte Erfahrung beschrieben ist. D i e U r t e i l e sind die Momente der dialektischen Bewegung des U r t e i l s , um deren Beschreibung es sich auch im spekulativen Satz dreht. Diese Bewegung kann als Bewegung des Zusammenschließens oder Zusammenhaltens des Subjekts und des Prädikats als Geteilter und einander Entgegengesetzter zur konkreten Einheit der Begriffs genommen werden. 133 132
Umgekehrt ist auch das Denken, welches frei ist, H e r r wie Knecht, d. h. H e r r und zugleich Knecht der Sprache. Allein im Beherrschen einer Sprache gibt sich noch nicht ihr spekulativer Geist zu erkennen. Eine Freude kann die Sprache in Wahrheit nur dem Denken gewähren, das sich an ihr abarbeitet.
133
Vgl. H . Röttges, Zum Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 80, w o dieser ausführt, daß der spekulative Satz durch seine Identifizierung von Subjekt und
265
Das Urteil
Das vorstellende Denken, in dem „das Subjekt als das g e g e n s t ä n d l i c h e fixe Selbst zu Grunde gelegt" ist, das Räsonnieren, das an dem ruhenden
Subjekt
Reflektieren,
seinen
festen
Boden
hat 1 3 4 ,
ist
ein
das von einer festen Vorstellung ausgeht,
äußerliches „welche die
vorausgesetzte Bedeutung des Subjekts ausmacht." 1 3 5 Das vorstellende Denken, das zunächst mit dem Subjekt anfängt, „als ob dieses zum Grunde liegen bliebe" findet nun aber, daß das Subjekt zum Prädikat übergegangen und hiermit aufgehoben ist, daß das, „was Prädikat zu sein scheint, zur ganzen und selbständigen Masse geworden" ist, daß es „das Wesen und der Begriff" 1 3 6 dessen ist, wovon die Rede ist. Damit ist an die Stelle des vorgestellten Subjekts (des abstrakten Satzes) das wissende,
sich im
Prädikat selbst aufhebende — und darin seine wahre Selbständigkeit erreichende — Subjekt (des konkreten, spekulativen Satzes) getreten. Dieses sich im Abstoßen von sich als bloßer Voraussetzung selbst bestimmende Subjekt hat die Erfahrung gemacht, daß das vermeintlich
„zugrunde
Liegende (subjectum, ύποκείμενον)" zunächst „noch nichts weiter als der Name" ist.137 Wird also in einem Satz etwa mit dem Wort „ G o t t " angefangen, so ist dies für sich „ein sinnloser Laut, ein bloßer Name; erst das Prädikat sagt, w a s er ist, ist seine Erfüllung und Bedeutung". 1 3 8
134 135 136 137 138
Prädikat den absoluten Unterschied, der zugleich absolute Identität ist, und damit die Selbstbewegung der Momente des Urteils hervortreibe. Vgl. Phä., Absatz 60, 50. Log. II, Absatz 4, 266. Phä., Absatz 60,.50. Log. II, Absatz 4, 266. Phä., Absatz 23, 22. In den dem Absatz 4 (Log. II, 265/6) entsprechenden Paragraphen der „Enzyklopädie" sagt Hegel: „Das Subjekt hat erst im Prädikate seine ausdrückliche Bestimmtheit und Inhalt; für sich ist es deswegen eine bloße Vorstellung oder ein leerer Name. In den Urtheilen: G o t t ist das Allerrealste u . s . f . oder das A b s o l u t e ist identisch mit sich u . f . — ist G o t t , das A b s o l u t e ein bloßer Name; was das Subjekt i s t , ist erst im Prädikate gesagt. Was es als Konkretes sonst noch wäre, geht d i e s e s Urtheil nicht an (vgl. §. 3 1 . ) . " (SW Bd. 8, § 169, 368, vgl. SW Bd. 6, § 119, 104/5). Hier ist an den weiter oben behandelten § 85 der „Enzyklopädie" (SW Bd. 8, 201/2) zu erinnern, in dem Hegel ebenfalls auf den § 31 und auf das Kapitel vom Urteil — insbesondere wird wohl der hier wiedergegebene Teil des § 169 gemeint sein — verweist. In § 85, wie bereits in § 31 ging es Hegel darum zu zeigen, daß der Satz in Form einer Definition, bei der ein unbestimmtes Substrat der Vorstellung vorschwebt, insofern ungeschickt ist, das Konkrete und Spekulative auszudrücken, als „der Gedanke, die Sache, um die es hier allein zu thun ist, nur im Prädikate enthalten ist" (a.a.O., § 85, 202) und erst das Prädikat aussagt, was das Subjekt ist.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
So kann übrigens auch „das Hindernis, daß in der Gewohnheit liegt, das spekulative Prädikat nach der Form des Satzes, nicht als Begriff und Wesen zu fassen" 1 3 9 durch die philosophische Exposition nach Hegel insofern verringert werden, als ζ. B. der Name „ G o t t " vermieden wird, „weil dies Wort nicht unmittelbar zugleich Begriff, sondern der eigentliche Name, die feste Ruhe des zum Grunde liegenden Subjekts ist". 1 4 0 Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, daß durch die bloße Substitution des Wortes „ G o t t " durch das „Absolute" auch das Absolute, das Gott in der Form des Gedankens ausdrücken soll, im Verhältnis zu seinem Prädikat zunächst nur ein gemeinter Gedanke, eine Vorstellung bleibt. Der sich im unmittelbaren, abstrakten Urteil zeigende äußerliche Formalismus des Urteils, der dem formalen, vorstellenden Denken korrespondiert, besteht darin, daß sich das Subjekt als der Name und das Prädikat als die Sache oder der Gedanke einander als Verschiedene gegenüberstehen. „Der Name aber steht der Sache oder dem Begriffe gegenüber; diese Unterscheidung kommt an dem Urteile als solchem selbst vor; indem das Subjekt überhaupt das Bestimmte, und daher mehr das unmittelbar S e i e n d e , das Prädikat aber das A l l g e m e i n e , das Wesen oder den Begriff ausdrückt, so ist das Subjekt als solches zunächst nur eine Art von N a m e ; denn was es ist, drückt erst das Prädikat aus, welches das Sein im Sinne des Begriffs enthält. Was ist dies, oder was ist dies für eine Pflanze usf.? unter dem Sein, nach welchem gefragt wird, wird oft bloß der N a m e verstanden, und wenn man denselben erfahren, ist man befriedigt und weiß nun, was die Sache ist. Dies ist das Sein im Sinne des Subjekts. Aber der B e g r i f f , oder wenigstens das Wesen und das Allgemeine überhaupt gibt erst das Prädikat, und nach diesem wird im Sinne des Urteils gefragt/ 1 4 1 ' — G o t t , G e i s t , N a t u r oder was es sei, ist daher als das 139 140 141
Phä., Absatz 66, 54. Ebenda. Das Sein, nicht im Sinne des Subjektes, sondern im Sinne des Begriffs enthält erst das Prädikat, was das Subjekt dem Begriff nach ist, ist erst im Prädikat vorhanden (gegeben). Es drückt das Allgemeine, das Wesen oder den Begriff aus. Der Begriff liegt bei der Beurteilung nicht schon zugrunde, sondern er ergibt sich erst im Urteilen, im Fortschreiten vom leeren Subjekt zum Prädikat, welches erst den Begriff ergibt, oder wenigstens ergeben soll. In dem Satz „Aber der Begriff . . . " tritt der Begriff bloß als „Geber des Prädikats" (vgl. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 6/3, 255) auf. Zumindest ebensosehr berechtigt scheint mir an dieser Stelle eine Lesart zu sein, nach der der „Begriff" nicht im Nominativ steht, d.h. Satzsubjekt ist, sondern besser im Akkusativ stünde, zumal andernfalls nicht allein der Begriff, sondern der Begriff oder wenigstens das Wesen (und das Allgemeine) als Geber des Prädikats anzusehen wäre. Strenggenommen ist wohl zu sagen, daß der sich im Urteilen selbst bestimmende Begriff weder bloß als aktiver noch als passiver gesehen werden kann.
Das Urteil
267
Subjekt eines Urteils nur erst der Name; was ein solches Subjekt ist, dem Begriffe nach, ist erst im Prädikate vorhanden. Wenn gesucht wird, was solchem Subjekte für ein Prädikat zukomme, so müßte für die Beurteilung schon ein B e g r i f f zum Grunde liegen; aber diesen spricht erst das Prädikat selbst aus." 142 Aus den Ausführungen Hegels über den spekulativen Satz in der Vorrede zur „Phänomenologie" geht hervor, daß das Prädikat nicht mehr bloß Prädikat des Subjekts sein soll, sondern daß das Prädikat in dem Maße, in dem es substantielle Bedeutung annimmt, das Wesen — und der Begriff — des Subjekts ist. Das Prädikat ist spekulativ als Begriff und Wesen zu fassen. Dementsprechend ist es hier so, daß das Prädikat das Wesen oder den Begriff ausdrückt bzw. ausdrücken soll, genauer gesagt, daß im Prädikat der Begriff oder wenigstens das Wesen angegeben ist, bzw. angegeben sein soll. Diese deutlichere Unterscheidung zwischen Wesen und Begriff enthält m.E. bereits einen Hinweis darauf, daß es die Bestimmung des Begriffs ist, in seiner Fortbestimmung vom Urteil des Daseins über die Urteile der Reflexion und der Notwendigkeit zum Urteil des Begriffs zunächst die Sphären des Seins und des Wesens „in begriffsmäßiger Umbildung zu reproduciren" 143 um dann im Urteil des Begriffs vorläufig 144 seine wahrhafte Bestimmung zu erreichen. In § 171 der „Enzyklopädie" sagt Hegel, die Vorbemerkungen über das Urteil 142 143 144
Log. II, 265/6, Absatz 4. SW Bd. 8, § 171 Zusatz, 371. Bildete man die Sphären des Seins, Wesens und Begriffs auf das Kapitel über das Urteil ab, so entspräche wie gesagt dem Urteil des Daseins das Sein, den Urteilen der Reflexion und der Notwendigkeit das Wesen und dem Urteil des Begriffs der Begriff — wobei bezüglich der jeweils drei unter diesen vier Titeln stehenden Urteile wiederum von einer solchen Zuordnung ausgegangen werden könnte. Mit gleichem Recht erschiene dann jedoch eine Abbildung der drei Sphären auf den Abschnitt über die Subjektivität und schließlich auf die Begriffslehre selbst als möglich, wobei der Begriff dann erst dem Schluß bzw. der Idee entspräche. Insofern also der Begriff seine Bestimmung zunächst im Urteil des Begriffs erreicht, ja bereits im unendlichen Urteil erreicht hat — ferner jedoch erst im Schluß und in der Idee — und dort wiederum erst in der absoluten Idee erreicht, kann zunächst jeweils nur von einem vorläufigen Erreichen gesprochen werden. Diese äußerliche Reflexion und Komparation ist vielleicht in Anbetracht der Systematik insofern interessant, als sich zunächst zeigt, daß die Syntax der Kategorien nicht nur — gleichsam vertikal gesehen - als H y p o t a x e , als Subordination der Kategorien verstanden werden darf, sondern — gleichsam horizontal gesehen — ebensosehr als P a r a t a x e , als Koordination der Kategorien verstanden werden muß, wobei es — spekulativ gesehen — freilich darauf ankäme, beide Gedanken zusammenzusehen, um nicht bei der äußerlichen Reflexion über das Verhältnis von Allgemeinem und Besonderem stehenzubleiben (vgl. Log. II, 257f. und SW Bd. 8, § 165, 363), sondern zur Betrachtung der Verhältnisse der Subsumtion und der Inhärenz fortzuschreiten. (Vgl. SW Bd. 3, § 7, 146: „... die einzelnen, welche unter dieselbe Besonderheit oder Allgemeinheit subsumirt
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
abschließend: „Die verschiedenen Urtheile sind als nothwendig aus einander folgend und als ein F o r t b e s t i m m e n des B e g r i f f s zu betrachten, denn das Urtheil selbst ist nichts als der b e s t i m m t e Begriff. In Beziehung auf die beiden vorhergegangenen Sphären des S e y n s und W e s e n s , sind die b e s t i m m t e n B e g r i f f e als Urtheile Reproduktionen dieser Sphären, aber in der einfachen Beziehung des Begriffs gesetzt." 1 4 5 Im Zusatz heißt es: „Wir erhalten demgemäß zunächst drey Hauptarten des Urtheils, welche den Stufen des Seyns, des Wesens und des Begriffs entsprechen. Die zweite dieser Hauptarten ist dann dem Charakter des Wesens, als der Stufe der Differenz, entsprechend, noch wieder in sich gedoppelt. Der innere Grund dieser Systematik des Urtheils ist darin zu suchen, daß da der Begriff die ideelle Einheit des Seyns und des Wesens ist, seine im Urtheil zu Stande kommende Entfaltung auch zunächst diese beiden Stufen in begriffsmäßiger Umbildung zu reproduciren hat, während er selbst, der Begriff, sich dann als das wahrhafte Urtheil bestimmend erweist." 1 4 6 Demgemäß drückte also das Prädikat des Urteils des Daseins weder den Begriff noch das Wesen, sondern zunächst nur das Sein, bzw. das Dasein des Subjekts aus, während die Prädikate der Urteile des Wesens das Wesen und erst das Prädikat des Urteils des Begriffs den Begriff ausspräche. Den Begriff auszudrücken ist aber die Forderung, die das Urteil erfüllen soll, die aber erst im spekulativen Satz erfüllt wäre. Heißt das nun nicht, daß das Urteil des Begriffs, das, entsprechend der Einheit des Seins und des Wesens im Begriff als Einheit des Urteils des Daseins und der Urteile der Reflexion und der Notwendigkeit aufzufassen sein müßte, der spekulative Satz selbst ist? sind, sind einander k o o r d i n i r t , so wie das Subsumirte demjenigen s u b o r d i n i r t ir,t, von dem es subsumirt ist." Vgl. a.a.O., § 5, 146). Die Genese des unendlichen Urteils bzw. der Unendlichkeit (vgl. Log. I, 1 2 5 f f . ) , d . h . die Entwicklung v o m positiven zum unendlichen Urteil kann als kurzer Abriß der gesamten bis dahin stattgefundenen Entwicklung vom Sein zum Begriff betrachtet werden. Jene Entwicklung p r ä s e n t i e r t also nicht nur einen Teil der Gesamtentwicklung, die diesen Teil neben anderen, differenten u n t e r s i c h begreift, sondern r e p r ä s e n t i e r t ebensosehr auch diese ganze in ihr aufgehobene Entwicklung, begreift das Ganze integrierend in s i c h . - A u f diesen Sachverhalt wird hier nicht so sehr deshalb aufmerksam gemacht, weil in ihm eine Rechtfertigung f ü r die Beschränkung der Interpretation auf bestimmte Teile gesehen werden könnte, sondern v o r allem in Hinblick auf den A b satz 11 der Vorbetrachtungen über das Urteil im allgemeinen, auf den es hier hauptsächlich ankommen soll. (Vgl. weiter unten). 145 146
S W Bd. 8, 370. A . a . O . , 371.
Das Urteil
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Das Urteil des Begriffs, und näher das apodiktische Urteil, das Urteil, in dem Subjekt und Prädikat einander entsprechen, ist das konkreteste Urteil. Angefangen mit dem abstraktesten Urteil, dem positiven Urteil des Daseins, in dem das Prinzip des Urteilens überhaupt ausgesprochen ist, hat das apodiktische Urteil, die in der Tafel der Urteile weiter ,oben' stehenden abstrakteren Urteile — die Urteile also, in denen die Bestimmung des Subjekts durch das Prädikat noch nicht so konkret ist wie im apodiktischen — in sich aufgehoben und begreift sie in sich. Es ist das Urteil, das am weitesten ins Einzelne geht, umgekehrt aber das Einzelne, zu dem es heruntersteigt, in die Allgemeinheit erhebt. Das Urteil des Begriffs ist insofern als das ,höhere', oder besser gesagt ,tiefere' und reichere Urteil zu betrachten als das Urteil des Daseins, als erst die Erhebung in die Allgemeinheit des Begriffs in Wahrheit die Vertiefung ins Einzelne, das Heruntersteigen ins Dasein ist. Insofern nun, als das apodiktische Urteil des Begriffs am Ende der Geschichte des Fortschreitens des Urteils in die Verschiedenheit der Urteile steht, und die anfängliche Natur des Urteils in sich aufgehoben hat, zeigt es deutlicher als andere Urteile diese Geschichte der Urteile als ausführliche Darstellung dessen, was im Urteilen geschieht, als Darstellung der Bewegung des Begriffs zur Wiederherstellung seiner Einheit. 1 4 7 Obgleich die sich im Fortgang des Urteils in die Verschiedenheit der Urteile zunächst als Fortbestimmung des Urteils des Daseins bzw. der Inhärenz zum Urteil der Reflexion bzw. der Subsumtion darstellende Bewegung des Begriffs im Urteilen m . E . tatsächlich die dialektische Bewegung der begrifflichen Vereinigung des Subjekts und des Prädikats ist, die das Spekulative des spekulativen Satzes ausmacht, zeigt sich doch sogleich, daß jene Schlußfolgerung, durch die das Urteil des Begriffs dem spekulativen Satz gleichgesetzt wird, insofern voreilig ist, als man aufgrund der gleichen äußeren Reflexion über die systematische Zuordnung der ,Stufen' der Logik genausogut zu dem Ergebnis kommen kann, daß die Bestimmung des Begriffs — um mit dem Urteil zu beginnen — einerseits bereits im unendlichen Urteil, andererseits aber erst im Schluß und letztlich erst in der Idee erreicht ist und deshalb das Spekulative des spekulativen Satzes im unendlichen Urteil 1 4 8 , im Schluß und in der Idee zu suchen sei. 147
H . Röttges hat darauf hingewiesen, daß das apodiktische Urteil („das Haus soundso beschaffen ist g u t " , L o g . II, 306) sich selbst in zwei Urteile teilt (das Haus ist so und so beschaffen und das Haus ist gut), sich also als ein Urteil aufhebt, womit der Ubergang zum Schluß als eingeleitet angesehen werden kann. Vgl. H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a . a . O . , 333.
148
W u r d e weiter oben vorgreifend gesagt, der spekulative Satz sei ein (positiv) endliches Urteil, insofern es spekulativ als (positiv) unendliches Urteil betrachtet wurde, so hat dies
270
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Wollte man, festhaltend an der Vorstellung, daß Hegel mit dem spekulativen Satz eine bestimmte Satz- bzw. Urteilsart beschrieben habe, dagegen einwenden, daß es nicht um das Spekulative überhaupt gehe, das ja nicht nur im Schluß und in der Idee, sondern zumindest in allen an dritter Stelle stehenden Bestimmungen der Logik 1 4 9 , eigentlich aber in allen Kategorien anzutreffen ist, sondern um spekulative Sätze, also um S ä t z e , oder doch wenigstens um das Spekulative des S a t z e s und daß deshalb Hegels Ausführungen über die Idee nicht in Betracht zu ziehen seien, so wäre doch gerade in diesem Punkt zu bedenken zu geben, daß Hegel am Ende seiner Ausführungen über die Idee des Wahren im Anschluß an die Definition und die Einteilung den Lehrsatz behandelt. 150 Wollte man also auf der Frage bestehen, welcher Urteils- bzw. Satzart die von Hegel in Absatz 62 der Vorrede zur „Phänomenologie" gegebenen Beispiele für spekulative Sätze — oder besser gesagt vielleicht für spekulativ zu betrachtende Sätze — am gemäßesten sind, so käme — auch seiner exponierten Stellung wegen — am Ende auch der Lehrsatz in Frage. Es wird sich aber zeigen, daß auch der Lehrsatz in seiner Einseitigkeit als synthetischer Satz — bevorzugtes Hegelsches Beispiel ist der Pythagoreische Lehrsatz — ganz ungenügend ist, das Spekulative auszudrücken. 151 Da ich nun aber nicht sofort über das Urteil hinaus zur Idee, zum analytischen und zum synthetischen Erkennen und schließlich zur absoluten Idee gehen, sondern mich zunächst einmal auf die Betrachtung des Urteils beschränken — und damit auch wieder auf die Hegeischen Vorbetrachtungen zum Urteil zurückkommen — möchte, sollen die hier vorgetragenen äußerlichen Reflexionen über die Verschiedenheit der Urteile, zu der das Urteil sich bestimmt, mit dem Hinweis auf die Einheit des Urteils vorläufig abgeschlossen werden. insoweit Gültigkeit, als das unendliche Urteil — vor dem apodiktischen Urteil — insofern eine besondere Stellung hat, als es den Gegenstoß zu dem im positiven Urteil sich zeigenden Standpunkt der Endlichkeit des Urteils überhaupt enthält, den Gegenstoß zu der im negativen (endlichen) Urteil dann ausgesprochenen Verschiedenheit von Subjekt und Prädikat. Insofern das unendliche Urteil nun aber auch als Vollendung und Wahrheit des Urteils des Daseins angesehen werden kann, ist von der spekulativen Betrachtung des positiven Urteils zur spekulativen Betrachtung dieses gesamten Urteils der Inhärenz weiterzugehen. Vgl. SW Bd. 8, § 85, 201. Vgl. Log. II, 464 ff. In der Jenenser Logik schließt die Erörterung der Definition, der Einteilung und des Erkennens übrigens noch unmittelbar an die Erörterung des Schlusses an. ist Vgl weiter unten. 149 150
Das Urteil
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In jedem Urteil ist der Satz ausgesprochen: Das Subjekt ist das Prädikat. Die dialektische Bewegung zwischen Subjekt und Prädikat im Urteilen — sie allein ist das wirkliche Spekulative des Satzes — ist in einem Urteil nicht ganz darzustellen. Sie hat Urteile zu ihren Teilen, in denen sie sich verschieden darstellt. Die spekulative Betrachtung des Urteils ist die Betrachtung der Einheit des Urteils in der Verschiedenheit der Urteile. Sie ist die Betrachtung der Bewegung des Zusammenschlusses von Subjekt und Prädikat zur Einheit des Begriffs. Die Einheit des Begriffs als Beziehung von Subjekt und Prädikat im Urteil Urteil und Satz War Hegel zuerst auf Subjekt und Prädikat als selbständige Totalitäten eingegangen, so geht er in Absatz 5 zur Betrachtung der Einheit des Begriffs als deren Beziehung über. „Das Urteil hat zu seinen Seiten überhaupt Totalitäten, welche zunächst als wesentlich selbständig sind. Die Einheit des Begriffes ist daher nur erst eine B e z i e h u n g von Selbständigen; noch nicht die k o n k r e t e , aus dieser Realität in sich zurückgekehrte, e r f ü l l t e Einheit, sondern a u ß e r der sie als n i c h t in i h r a u f g e h o b e n e E x t r e m e bestehen." 1 5 2 Die bestimmte und erfüllte Einheit des Subjekts und Prädikats, die inhaltsvolle Kopula, die nicht nur eine äußerliche Verbindung (Kopula), eine abstrakte Beziehung, sondern die wahrhafte, konkrete Beziehung ist, ist — als der Terminus Medius — erst im Schluß als dem Vernünftigen gesetzt. 153 ,,Es kann nun die Betrachtung des Urteils von der ursprünglichen Einheit des Begriffes oder von der Selbständigkeit der Extreme ausgehen. Das Urteil ist die Diremtion des Begriffs durch sich selbst; diese E i n h e i t ist daher der Grund, von welchem aus es nach seiner wahrhaften O b j e k t i v i t ä t betrachtet wird. Es ist insofern die u r s p r ü n g l i c h e T e i l u n g des ursprünglich Einen; das Wort U r t e i l bezieht sich hiemit auf das, was es an und für sich ist. (1S4) Daß aber der Begriff im Urteil als E r s c h e i n u n g ist, indem seine Momente darin Selbständigkeit erlangt
152 153 154
Log. II, 266, Absatz 5. Vgl. Log. II, 271, Absatz 12/3, ferner a.a.O., 308ff. Zur etymologischen Bedeutung des Urteils vgl. SW Bd. 8, § 166, 364, bzw. SW Bd. 6, § 115, 101. Vgl. ferner, F. Hölderlin, Sämtliche Werke und Briefe, hrsg. von F. Beißner und J. Schmidt, Frankfurt 1969, Bd. 2, Urteil und Sein, 591/2.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
haben, — an diese Seite der Ä u ß e r l i c h k e i t hält sich mehr die Vorstellung."155 Der Begriff erscheint in Form des Urteils oder Satzes in Form des Unterschieds seiner Momente als selbständiger Extreme. Das Urteil ist so die „überwiegende Erscheinung der Differenz". 1 5 6 „Die Copula ist nicht ein Gedachtes, Erkanntes, sondern drückt gerade das Nichterkanntseyn des Vernünftigen aus. Was zum Vorschein kommt und im Bewußtseyn ist, ist nur das Produkt, als Glieder des Gegensatzes: Subjekt und Prädikat; und nur sie sind in der Form des Urtheils, nicht ihr Einsseyn als Gegenstand des Denkens gesetzt." 1 5 7 Subjekt und Prädikat, Einzelnes (bzw. Besonderes) und Allgemeines als die Seiten des Seins und der Reflexion werden als gesonderte, verschiedene verstanden. Die vernünftige Identität des Subjekts und des Prädikats kommt in Form des Urteils nicht zum Bewußtsein. Das Bewußtsein ist noch nicht zum Bewußtsein seiner selbst und zur Vernunft gekommen, es begreift sich noch nicht als sich im Urteilen von sich unterscheidende Einheit des Seins und der Reflexion (bzw. des Wesens) und ist demgemäß noch in der bloßen Vorstellung der Selbständigkeit der Teile des Urteils verloren. Es bleibt dem als für sich seienden Gegenstand vorgestellten Subjekt gegenüber als äußerliche Reflexion, als natürliche Vorstellung stehen, ohne zur ganzen Reflexion des begreifenden Denkens zu kommen. Die Beurteilung eines Gegenstandes ist in Wahrheit aber kein bloß subjektives Tun, kein Räsonnieren darüber, ob dem Subjekt „dies oder jenes Prädikat beizulegen wäre" 1 5 8 , sondern die Betrachtung des Gegenstandes in der durch seinen Begriff gesetzten Bestimmtheit (die Betrachtung des G e g e n s t a n d s des Begriffs als Gegenstands des B e g r i f f s ) . So ist das Satzsubjekt — wie gesagt — in Wahrheit nicht als gegenständliches fixes Selbst zu betrachten, dessen vorausgesetzte Bedeutung zugrunde liegenbleibt, sondern vielmehr ist es zu betrachten in der durch sein Prädikat gesetzten Bestimmtheit. In der subjektiven Betrachtung des Urteils erscheint das Subjekt als fester für sich seiender Gegenstand, der mit seinem Begriff, besser gesagt mit einer Vorstellungsbestimmung, einer über ihn angestellten Reflexion nur äußerlich verbunden ist. Der im Urteil als Satzgegenstand, als Subjekt auftretende Gegenstand der Beurteilung ist aber nach seiner wahrhaften Objektivität spekulativ als 155 156 157 158
Log. II, 266/7, Absatz 5. SW Bd. 1, 300. Ebenda. Phä., 50, Absatz 60; vgl. SW Bd. 8, § 166 Zusatz, 365ff.
Das Urteil
273
immer schon im Begriff Seiender zu betrachten. Der Gegenstand des Begriffs soll nicht so, wie er in Form des Urteils unmittelbar auftritt, als das dem sogenannten Begriff gegenüber Begrifflose und mit ihm Nichtidentische stehenbleiben, sondern ist als das Andere, das Außer-sich-Sein des Begriffs — als Natur des Begriffs - und als Moment der dialektischen Bewegung des Begriffs zu begreifen. Das Subjekt bzw. der Gegenstand ist von dem, was von ihm prädiziert wird, nicht zu isolieren. Dies geschieht in der isolierten Reflexion des formalen, vorstellenden Denkens. In der philosophischen Reflexion des begreifenden Denkens wird das Subjekt betrachtet als ein solches, in dem erinnert ist, (dem das innewohnt), was im Prädikat ausgesprochen wird und das Prädikat als etwas, in dem geäußert ist, was dem Subjekt zukommt. Das Denken, das der Sprache als bloßer Äußerung eines Inhalts gegenüber stehenbleibt, ist ein bloß äußerliches Reflektieren, nicht die absolute oder spekulative Reflexion der Einheit des Begriffs als der vernünftigen Einheit von Äußerung und Erinnerung. Das philosophische Denken begreift Sprache spekulativ als Einheit von Äußerung und Erinnerung, eine Einheit, die im philosophischen Satz als Einheit von Prädikat und Subjekt hervorgehen soll. ,,Das Prädikat, welches dem Subjekte beigelegt wird, soll ihm aber auch z u k o m m e n , d.h. an und für sich identisch mit demselben sein. Durch diese Bedeutung des В eile gen s wird der s u b j e k t i v e Sinn des Urteilens und das gleichgültige äußere Bestehen des Subjekts und Prädikats wieder aufgehoben: diese Handlung ist gut; die C o p u l a zeigt an, daß das Prädikat zum Sein des Subjekts gehört und nicht bloß äußerlich damit verbunden wird." 1 5 9 159
L o g . II, 2 6 7 , Absatz 6 ; vgl. SW Bd. 8, §§ 166 und 167, 3 6 4 f f . - Die subjektive Betrachtung des vorstellenden Denkens geht von der gleichgültigen Äußerlichkeit und Verschiedenheit des Subjekts und des Prädikats aus, wie sie in der äußeren F o r m des Urteils zur Geltung kommt, die objektive Betrachtung, das begreifende Denken geht im Satz von der Einheit des Begriffs aus, der gleichsam als das „punctum saliens aller Lebendigkeit" sich von sich selbst unterscheidet. Im subjektiven Sinn des Urteilens wird dem Subjekt ein Prädikat bloß „beigelegt", der objektive Sinn des Urteils aber, auf den das Verhältniswörtchen „ i s t " zielt, ist die K o p u l a t i o n des Subjekts und Prädikats. Im Zusatz zu § 172 (SW Bd. 8, 3 7 3 ) ist das so ausgedrückt: „Subjekt und Prädikat im unmittelbaren Urtheil berühren so einander gleichsam nur an e i n e m Punkt aber sie decken einander nicht. Anders verhält es sich mit dem Urtheil des Begriffs. Wenn wir sagen: diese Handlung ist gut, so ist dieß ein Urtheil des Begriffs. Man bemerkt sogleich, daß hier zwischen Subjekt und Prädikat nicht dieses lose und äußerliche Verhältniß statt findet wie in dem unmittelbaren Urtheil. Während bey diesem das Prädikat in irgend einer abstrakten Q u a lität besteht, welche dem Subjekt zukommen oder auch nicht zukommen kann, so ist dagegen in dem Urtheil des Begriffs das Prädikat gleichsam die Seele des Subjekts, durch welche dieses, als der Leib dieser Seele, durch und durch bestimmt i s t . " — E s scheint mir
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
Bei dieser Gelegenheit unterscheidet Hegel das Urteil vom Satz. Er führt an, „daß ein S a t z zwar im grammatischen Sinne ein Subjekt und Prädikat hat, aber darum noch kein U r t e i l ist. Zu letzterem gehört, daß das Prädikat sich zum Subjekt nach dem Verhältnis von Begriffsbestimmungen, also als ein Allgemeines zu einem Besondern oder Einzelnen verhalte. Drückt das, was vom einzelnen Subjekte gesagt wird, selbst nur etwas Einzelnes aus, so ist dies ein bloßer Satz." 1 6 0 Im Unterschied zu Kant, der davon ausgeht, daß im Urteil das Verhältnis verschiedener Vorstellungen zur Einheit des Bewußtseins bloß als problematisch, in einem Satz hingegen als assertorisch gedacht werde 161 , scheint Hegel unter einem Satz offenbar etwas eher Pejoratives zu verstehen. Interessant scheint mir jedoch eine Stelle zu sein, an der Hegel nicht nur auf die Sätze eingeht, in denen vom Subjekt etwas Einzelnes prädiziert wird, sondern auch auf die „allgemeinen Sätze": „Vom Urtheil ist der S a t z zu unterscheiden, in welchem von einem Subjecte etwas ganz Einzelnes, Geschehenes ausgesagt wird, oder auch wie in den allgemeinen Sätzen etwas, mit welchem es nach der Nothwendigkeit zusammenhängt, zu dem es wird und sich wesentlich als Entgegengesetztes verhält." 1 6 2 An dieser Stelle kann darauf aufmerksam gemacht werden, daß Hegel nicht vom spekulativen Urteil, sondern vom spekulativen Satz bzw. von spekulativen Sätzen spricht. In den Sätzen der „ L o g i k " — z.B. in dem Satz: „das Sein ist das Nichts" — ist der erst im Untergang der Form des Urteils hervorgehende absolute Gegenstoß des Subjekts und des Prädikats zu betrachten. In diesen Sätzen, die eine spekulative Bestimmung haben, ist das Prädikat spekulativ zu betrachten, nicht aber als eine „allgemeine Bestimmtheit, die für sich, und von ihrer Beziehung, der einfachen C o p u l a , unterschieden i s t " 1 6 3 , nicht als das Allgemeine, das frei vom Subjekt mehreren Subjekten zukäme. Die Tatsache, daß es zuerst das positiv-unendliche Urteil, das identische Urteil, das Hegel ja auch strenger als identischen Satz bezeichnet, 164 ist, das den Gegenstoß zu diesem abstrakten Verhältnis der Inhärenz des Prädikats und der Subsistenz des
160 161 162 163 164
übrigens keineswegs unabsichtlich geschehen zu sein, daß die Begriffe hier nicht rein gehalten sind von erotischen Allusionen. L o g . II, 267, Absatz 6; vgl. a . a . O . , 274 und SW Bd. 8, § 167, 367/8. Vgl. Kants Schriften. Werke. B d . I X , Logik, § 30, A n m . 3, 109. SW Bd. 3, § 12, 148. L o g . II, 24/5. Vgl. u . a . SW Bd. 8, § 173 , 373 - 375.
Das Urteil
275
Subjekts enthält, läßt die Betrachtung des unendlichen Urteils, in dem das Prädikat nicht im Verhältnis der Allgemeinheit zum Subjekt steht, in diesem Zusammenhang interessant erscheinen. Wird das Urteil z u n ä c h s t im subjektiven Sinn genommen, so wird über das gewöhnliche Verhältnis bloßer „ V o r s t e l l u n g s b e s t i m m u n g e n " 1 6 5 r ä s o n n i e r t . In diesem Sinn kann das Subjekt z u n ä c h s t gegen das Prädikat als das Einzelne gegen das Allgemeine oder auch als das Besondere festgehalten werden. 166 So erscheint das Subjekt als das Einzelne z u n ä c h s t als das Seiende oder Fürsichseiende, als ein wirklicher Gegenstand, über den geurteilt wird, das Prädikat als das Allgemeine dagegen erscheint als die Reflexion über ihn, als sein Ansichsein. 167 Wird nun aber der objektive Sinn des Urteils erfaßt, so wird das Verhältnis von Subjekt und Prädikat als ein objektives Verhältnis von B e g r i f f s b e s t i m m u n g e n b e g r i f f e n , die nicht ein A b s t r a k t e s und Festes sind und als S e l b s t ä n d i g e einander gegenüber stehenbleiben. Vielmehr bleibt das Subjekt nicht bloß das u n m i t t e l b a r Einzelne und das Prädikat nicht bloß das a b s t r a k t Allgemeine, sondern es findet ein Wechsel in der Bedeutung der beiden Seiten des Urteils statt. 168 „Insofern wird vom Einzelnen als dem Ersten, Unmittelbaren ausgegangen und dasselbe durch das Urteil in die A l l g e m e i n h e i t e r h o b e n , so wie umgekehrt das nur an sich seiende Allgemeine im Einzelnen ins Dasein heruntersteigt oder ein F ü r - s i c h - s e i e n d e s wird." 169 Die Fortbestimmung des Urteils des Daseins bzw. der Inhärenz zum Urteil der Reflexion bzw. der Subsumtion Die dialektische Bewegung des Begriffs — die sich zunächst in der Fortbestimmung des Urteils der Inhärenz zum Urteil der Subsumtion darstellt — ist der absolute Gegenstoß, der Konflikt des Subjekts als des Einzelnen, das zum Allgemeinen ,aufsteigt' und des Prädikats als des Allgemeinen, das zum Einzelnen ,niedersteigt' — ein Konflikt, der sich schließlich löst, indem die Bestimmung des Urteils erreicht ist, indem das
165 166 167 168 169
Log. Vgl. Vgl. Vgl. Log.
II, 268, Absatz 7. a.a.O., 265, Absatz 3. a.a.O., 269, Absatz 8. SW Bd. 8, § 169 Zusatz, 369. II, 269, Absatz 8.
276
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
Gleichgewicht beider Teile des Urteils hergestellt ist, 1 7 0 oder weniger bildhaft ausgedrückt, indem Subjekt und Prädikat einander entsprechen. Das spekulative Denken bleibt nicht stehen bei der natürlichen Vorstellung eines substantiellen Subjekts, dem äußerlich Attribute beigelegt werden, bzw. Prädikate i n h ä r i e r e n , sondern begreift, daß der objektive Sinn des Urteils darin besteht, daß dieses als Grundlage v o r a u s g e s e t z t e Subjekt in der Allgemeinheit aufgehoben wird, aus der verschlossenen Tiefe seiner vermeintlichen Bedeutung an die O b e r f l ä c h e tritt, ohne daß nun umgekehrt an der Vorstellung der Erhabenheit der Ordnung des Allgemeinen (der Regel, des Prinzips, des G e s e t z e s ) festgehalten wird, dem das Individuelle u n t e r w o r f e n ist bzw. unter das das Einzelne s u b s u m i e r t wird, sondern der objektive Sinn ist vielmehr darin zu sehen, daß dieses Allgemeine das Einzelne nicht verschmäht, sondern auf es eingeht und in es v e r t i e f t ist. Wird das Urteil nach seiner wahrhaften Objektivität als das ursprüngliche Teilen des B e g r i f f e s 1 7 1 betrachtet, so wird also begriffen, daß es zu seiner objektiven Bedeutung gehört, daß die Unterschiede des Einzelnen, des Seins bzw. Daseins und Fürsichseins einesteils und des Allgemeinen des W e s e n s bzw. der Reflexion und des Ansichseins andernteils nichts Fixes sind, sondern dem Subjekt ebensogut zukommen wie dem Prädikat. Mit der Fortbestimmung des Urteils des D a s e i n s zum Urteil der R e f l e x i o n kehrt sich das zunächst subjektive Verhältnis des Subjekts als des D a s e i e n d e n zum Prädikat als der R e f l e x i o n über dieses Daseiende um. 1 7 2 170
171 172
An dieser Stelle kann wieder an den Ausgang des Prozesses der „ E u m e n i d e n " des Aischylos erinnert werden. Vgl. L o g . II, 269, Absatz 9. Will man mit Hegel das Verhältnis der beiden Seiten des Urteils mit dem von Leib und Seele vergleichen — wobei etwa beim positiv- bzw. negativ-unendlichen Urteil von einem gänzlichen Zusammen- bzw. Auseinanderfallen beider (vgl. SW Bd. 8, § 173, Zusatz, 375) und beim Urteil des Begriffs von der gänzlichen Bestimmung des Leibes durch die Seele gesprochen werden könnte (vgl. SW Bd. 8, § 172 Zusatz, 373) - so ist es strenggenommen auch hier irreführend, an der Vorstellung festzuhalten, Subjekt und Prädikat verhielten sich durchgängig zueinander wie Dasein und allgemeine Natur, d . h . hier wie Leib und Seele. (Vgl. dazu a . a . O . , § 168, 368 bzw. SW Bd. 6, § 117, 104). Ebensogut kann umgekehrt das Subjekt als Seele und das Prädikat als Leib genommen werden. In der sich in der Fortbestimmung des Urteils des Daseins vollziehenden Erhebung des Einzelnen zum Allgemeinen könnte so vielleicht auch eine Entsprechung zu der Erhebung des freien geistigen Selbstbewußtseins der Kunstreligion über die göttliche Substanz der Naturreligion gesehen werden, zu einer Erhebung, die ihre höchste Bestimmung erreicht in der klassischen Kunst des plastischen Ideals, bei dem die natürliche Unmittelbarkeit, Äußerlichkeit und Leiblichkeit als Prädikat nur Zeichen der Seele ist, bei dem die Form
Das Urteil
277
„Das Subjekt ist daher ebensowohl als das A n s i c h s e i n , das Prädikat dagegen als das D a s e i n zu nehmen. Das Subjekt o h n e Prädikat ist, was in der Erscheinung das D i n g o h n e E i g e n s c h a f t e n , das D i n g - a n - s i c h ist, ein leerer unbestimmter Grund; es ist so der B e g r i f f in sich selbst, welcher erst im Prädikate eine Unterscheidung und Bestimmtheit erhält; dieses macht hiemit die Seite des D a s e i n s des Subjekts aus." 173 Die Bestimmung des Urteils, die sich hier als Fortgang des Urteils durch die Verschiedenheit der Urteile zum wahrhaft objektiven Urteil darstellt, in dem das Allgemeine sich konkretisiert, „es s e l b s t ist und durch sein G e g e n t e i l sich k o n t i n u i e r t (Sperrung von mir G. W.) und als Einheit mit diesem erst Allgemeines ist" 174 , ist das Z u s a m m e n h a l t e n (Zusammensetzen) der beiden unter den Benennungen Subjekt und Prädikat vorkommenden Gedanken, die Vereinigung und Durchdringung des zum Allgemeinen, zur Gattung (Genus) sich e r h e b e n d e n (aufsteigenden) Einzelnen und des ins Einzelne, in die Art (Spezies) bzw. das Gemeinte sich v e r s e n k e n d e n (herabsteigenden) Allgemeinen. Die absolute Kontinuität des Begriffs ist die Kontinuation der Extreme des Urteils ineinander.175
173 174 175
der Unmittelbarkeit zugleich Inhaltsbestimmtheit ist, F o r m u n d I n h a l t einander adäquat sind. (Vgl. SW Bd. 10, §§ 556-558, 447/8, § 411, 245/6 und SW Bd. 12, 524, SW Bd. 13, 3 und 10, und Kap. I, 2 dieser Arbeit.) Log. II, 269/70, Absatz 10. A . a . O . , 306. Vgl. Log. II, 280ff. Wollte man hier nochmals an die in der „Logik" zu Begriffen gewordenen Gestalten der „Phänomenologie" erinnern und im Einzelnen das Menschliche, im Allgemeinen dagegen das Göttliche sehen, so ist in der griechischen Kunst mit H e r a k l e s , dem Menschen, der aus einem Sterblichen zu Gott geworden ist, das heroische Ideal der Ineinsbildung des Göttlichen und des Menschlichen erreicht, während umgekehrt die wahrhafte Menschwerdung Gottes in der c h r i s t l i c h e n Religion vollbracht wird. Ich möchte hier hinzufügen, daß uns Vergleiche dieser Art heute befremden müssen und vielleicht als etwas zu weit hergeholt erscheinen mögen. Dies mag seinen Grund darin haben, daß wir uns daran gewöhnt haben, von der n a t ü r l i c h e n Vorstellung auszugehen, Begriffe seien leere Formen. Die Inhaltslosigkeit der Logik gilt weithin immer noch als eine ausgemachte Sache. Demgegenüber wird hier die Anstrengung unternommen, Begriffe philosophisch nicht nur als etwas n a t ü r l i c h - G e g e b e n e s , sondern zugleich als etwas g e s c h i c h t l i c h - G e w o r d e n e s , d . h . zusammen als etwas Sprachliches zu betrachten. Künstlerische und religiöse Vorstellungen sind die im Begriff nicht mehr voll zum Bewußtsein kommenden Momente der Bewegung des Begriffs. Die Bestimmung des Begriffs ist mit Hegel zu begreifen als das wissende Absolvieren der vom Begriff gemachten Vorstellungen.
278
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Der zentrale Absatz 11 der Vorbetrachtung
(Log.II,
270/1)
Die Verhältnisse der Inhärenz des Prädikats im Subjekt und der Subsumtion des Subjekts unter das
Prädikat
Die I d e n t i t ä t des B e g r i f f s , von der die objektive Betrachtung des Urteils ausgeht, besteht darin, daß die Bestimmung des Subjekts umgekehrt ebensosehr auch dem Prädikat zukommt. 176 Da die E i n h e i t des B e g r i f f s im Urteil noch nicht die bestimmte und erfüllte E i n h e i t des S u b j e k t s und P r ä d i k a t s ist, sondern nur erst eine unbestimmte Beziehung von Selbständigen, die außer der Einheit als nicht in ihr aufgehobene Extreme bestehen 177 , so wird die Identität des Subjekts und Prädikats in dem hier etwas gründlicher untersuchten Absatz 11 so betrachtet, „daß das eine Mal jenem die eine Begriffsbestimmung zukommt und diesem die andere, aber das andere Mal ebensosehr umgekehrt". 178 Wird die Identität des Begriffs so verstanden, daß e n t w e d e r das Subjekt das Selbständige und Allgemeine ist oder das Prädikat, so ist sie noch nicht die an und für sich seiende spekulative Identität der Identität und der Nichtidentität, zu deren Darstellung sich das Urteil jedesmal als unvermögend erweist. Gegen die Notwendigkeit, die beiden Gedanken zusammenbringen zu müssen sträubt sich der Verstand durch die Stützen des „Insofern" und der verschiedenen Rücksichten. „Insofern nun aber das Subjekt das Selbständige ist, so hat jene Identität das Verhältnis, daß das Prädikat nicht ein selbständiges Bestehen für sich, sondern sein Bestehen nur in dem Subjekte hat; es i n h ä r i e r t diesem. Insofern hiernach das Prädikat vom Subjekte unterschieden wird, so ist es nur eine v e r e i n z e l t e Bestimmtheit desselben, nur E i n e seiner Eigenschaften; das Subjekt selbst aber ist das K o n k r e t e , die Totalität von mannigfaltigen Bestimmtheiten, wie das Prädikat Eine enthält; es ist das Allgemeine. — Aber anderseits ist auch das Prädikat selbständige Allgemeinheit und das Subjekt umgekehrt nur eine Bestimmung desselben. Das Prädikat s u b s u m i e r t insofern das Subjekt; die Einzelheit und Besonderheit (ist) nicht für sich, sondern hat ihr Wesen und ihre Substanz im Allgemeinen. Das Prädikat drückt das Subjekt in seinem Begriffe aus; das Einzelne und Besondere sind zufällige Bestimmungen an demselben; es ist deren absolute Möglichkeit." 1 7 9 176 177
178
Vgl. a.a.O., 270, Absatz 11. Vgl. dazu den bereits weiter oben betrachteten Absatz 13, vgl. ferner SW Bd. 8, § 166, 364/5 und § 171, 369/70. 1 7 9 A . a . O . , 270, Absatz 11. Log. II, 271, Absatz 12.
Das Urteil
279
Die Verschiedenheit der Verhältnisse der I n h ä r e n z und der S u b s u m t i o n (bzw. der Quantität). 1 8 0 Im Urteil der Subsumtion, in dem heit der U r t e i l e der I n h ä r e n z (bzw. der Qualität) und der S u b s u m t i o n (bzw. der Quantität). 1 8 0 Im Urteil der Subsumtion in dem von der Selbständigkeit des Prädikats ausgegangen wird, inhäriert das Prädikat nicht mehr dem Subjekt, sondern ist vielmehr das Ansichseiende, u n t e r das das Einzelne als ein Akzidentelles subsumiert wird. 1 8 1 Wird beim Subsumieren an eine äußerliche Beziehung des Subjekts und Prädikats gedacht, an das „äußerliche, subjektive S u b s u m i r e n " 1 8 2 und das Subjekt als ein Selbständiges vorgestellt, so bezieht sich das Subsumieren auf das von Hegel in Absatz 6 1 8 3 erwähnte subjektive Urteilen, worin von der Selbständigkeit des Subjekts und des Prädikats ausgegangen wird und die Subsumtion als bloße Anwendung des Allgemeinen auf ein Besonderes oder Einzelnes -verstanden wird, „das u n t e r dasselbe nach einer unbestimmten Vorstellung als von minderer Qualität gesetzt wird." 1 8 4 Wird beim Subsumieren dagegen an die Beziehung des Subjekts und Prädikats im Urteil der Subsumtion als einem Moment der Bewegung des Urteils gedacht, so wird das Verhältnis der Subsumtion nicht als endgültiges und festes Verhältnis vorgestellt. Im Hinblick auf die Fortbestimmung des Urteils ist das von Subjekt und Prädikat eingegangene Verhältnis der Subsumtion — wie bereits das Verhältnis der Inhärenz — als'etwas T r a n s i t o r i s c h e s zu betrachten. Es wäre nun aber u n v e r n ü n f t i g , anzunehmen, daß deshalb das Urteil nicht v o r ü b e r g e h e n d in j e w e i l s verschiedener Hinsicht v e s t a n d e n werden dürfe. Vielmehr ist beim Fortgang des Urteils vom vorläufigen Bestehen auf einem Extrem auszugehen. Das Verhältnis der Subsumtion ist also nicht mehr und nicht weniger als ein A n h a l t s p u n k t in der Bewegung des Urteils. 1 8 5 180
181 182 183 184 185
L. Eley hat in seiner recht eingehenden Erörterung der Lehre vom Urteil (vgl. L. Eley, Hegels Wissenschaft der Logik, München 1976, 161 — 185) die Verhältnisse der Inhärenz und der Subsumtion nur im Zusammenhang mit der Aufnahme der Hegeischen Kennzeichnung der Urteile des Daseins als Urteile der Inhärenz und der Urteile der Reflexion als Urteile der Subsumtion (vgl. Log. II, 288) kurz gestreift. (Vgl. L. Eley, Hegels Wissenschaft der Logik, 172). Vgl. Log. II, 287/8. SW Bd. 8, § 166, 364. Log. II, 267/8. A.a.O., 271, Absatz 11. Genauso steht es mit dem Verhältnis der Subordination (bzw. der Koordination) das — wie bereits bemerkt - mit dem der Subsumtion insofern verbunden ist, als die einzelnen, welche unter dieselbe Besonderheit oder Allgemeinheit subsumiert sind, einander koor-
280
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
Insofern nun im Urteil der Subsumtion das Prädikat allgemeine Wesen ist, unter welches das Einzelne und das Besondere, die nur zufällige Bestimmungen an demselben sind und deren absolute Möglichkeit das Prädikat ist, als ein Akzidentelles subsumiert sind und insofern also in diesem Urteil die Einzelheit ihr Wesen und ihre Substanz im Allgemeinen hat, insofern ist diese Einzelheit auch diesem Allgemeinen bzw. dieser Allgemeinheit 186 subordiniert. 187 Gerade insofern, als es nun darauf a n k o m m t , die sich in der F o r t b e s t i m m u n g des Urteils der Inhärenz zum Urteil der Subsumtion darstellende dialektische Bewegung des Begriffs als Umkehrung des Verhältnisses der Inhärenz ins Verhältnis der Subsumtion spekulativ zu betrachten, ist zunächst von der abstrakten B e s t i m m t h e i t und Verschiedenheit der Verhältnisse der Inhärenz und der Subsumtion a u s z u g e h e n . Zur Beantwortung der Frage nach der Wechselseitigkeit dieser Verhältnisse ist eine Verwechslung zu vermeiden. 188 Rückblickend zeigt sich m. E. übrigens, daß das gewöhnliche Verhältnis des Subjekts und Prädikats, von dem das Räsonnieren darüber, ob dem als fixem Selbst zu Grunde gelegten Subjekt dies oder jenes Prädikat beizulegen wäre, ausgeht, nicht ein vom begreifenden, s p e k u l a t i v e n Denken im Verhältnis der Subsumtion als seiner U m k e h r u n g e r k a n n t e s Verhältnis der Inhärenz ist, sondern ein vom vorstellenden Denken als Verhältnis der Subsumtion v e r k e h r t vorgestelltes, v e r k a n n t e s Verhältnis der Inhärenz, gewissermaßen die fälschlicherweise eine Subsumtion diniert sind, „ s o wie das Subsumirte demjenigen s u b o r d i n i r t ist, von dem es subsumirt i s t . " (SW Bd. 3, 146, § 7). 1 8 6 H . Glockner vermerkt im Hegel-Lexikon m . E . zu Recht, daß „Allgemeines" und „Allgemeinheit" wie auch „ E i n z e l n e s " und „Einzelheit" von Hegel oft unterschiedslos gebraucht werden. (Vgl. H . Glockner, Hegel-Lexikon, Stuttgart 1957 2 , 52 und 470). Diesem laxen Gebrauch habe ich mich hier weitgehend angeschlossen. Ein Hinweis darauf, wie insbesondere der Terminus „ E i n z e l n e s " streng zu gebrauchen wäre, könnte in der Abweichung der Titelgebung der Unterkapitel des Kapitels über den Begriff gesehen werden: „ A . Der allgemeine B e g r i f f " , ( L o g . II, 240), „ B . Der besondere Begriff" ( a . a . O . , 245), „ C . Das Einzelne" ( a . a . O . , 259). 187 Vgl. d a g e g e n die Interpretation von B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, B d . 6/3, 262/3, in der, wenn ich recht sehe, das S u b s u m t i o n s v e r h ä l t n i s nicht nach seiner N o t wendigkeit in der Bestimmung des Urteils als U m k e h r u n g d e s I n h ä r e n z v e r h ä l t n i s s e s s p e k u l a t i v betrachtet wird, sondern beim Subsumieren bloß an das .schlechte' äußerliche, subjektive Subsumieren subjektiven Urteilens gedacht wird, zu dem Subsumtion und Inhärenz erst in der Isolation voneinander werden. 188
Zur Vermeidung von Verwechslungen wird die Geduld aufgebracht werden müssen, den Hegeischen Begriff durch die Kantischen Unterscheidungen des Begriffs hindurchzuführen.
Das Urteil
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v o r s p i e g e l n d e und als Subsumtion auftretende Inhärenz, die man auch als ,schlechte', äußerliche, subjektive Subsumtion bezeichnen könnte. 189 Es wird klar, daß im Hinblick auf das Verhältnis von Subjekt und Prädikat im spekulativen Satz näher auf die Verhältnisse der Inhärenz und der Subsumtion eingegangen werden sollte. 190 Insofern nun e i n e r s e i t s das Subjekt das Selbständige ist, das Prädikat dagegen das Unselbständige und Zufällige, das seine Substanz nur im Subjekt hat, so inhäriert das Prädikat dem Subjekt. Insofern a n d e r e r s e i t s das Prädikat selbständige Allgemeinheit ist, das Subjekt dagegen nur eine leere zufällige Bestimmung desselben, so subsumiert das Prädikat das Subjekt. Inhäriert dagegen das Prädikat dem Subjekt, so ist das Prädikat ,,nur eine v e r e i n z e l t e Bestimmtheit desselben", aber das Allgemeine, und zwar „das K o n k r e t e , die Totalität von mannigfaltigen Bestimmtheiten". 191 Das Subjekt als bestimmtes konkretes Allgemeines (Einzelnes), als konkrete Totalität ist insofern reicher als das Prädikat, denn es enthält nicht nur dieses eine als das ärmere, d. h. abstraktere, sondern mehr als es. 1 9 2 Der konkretere, reichere, bestimmtere Begriff enthält mehr in sich als einen ihm inhärierenden Begriff und könnte, insofern er diesen Begriff in sich aufgehoben hat, als der ,höhere' Begriff vorgestellt werden. 193 Zumindest ebensogut aber kann man ihn als den „tieferen" Begriff bezeichnen, und zwar um ihn als einen solchen, der aufs Einzelne eingegangen und in es versenkt ist, von dem abstrakteren als dem ,oberflächlichen', das Einzelne übersehenden Begriff zu unterscheiden, aber auch, um zu verstehen zu geben, daß der konkretere Begriff wohl mehr beinhaltet als der abstraktere, formal gesehen aber als unter ihm stehend vorgestellt werden kann.
189
1,0
191 192 193
Vgl. dazu auch das Einleitungskapitel dieser Arbeit, wo die im schlechten Sinne spekulative Vernunft als die fälschlicherweise als bestimmende (d.h. subsumierende) Urteilskraft auftretende reflektierende (d.h. präsumierende) Urteilskraft bezeichnet wurde. Es ist zu erörtern, ob die Dialektik des Inhärenz- und des Subsumtionsverhältnisses der Teile des Urteils der Dialektik der voraussetzenden und der setzenden Urteilskraft entspricht. Dies ist — soweit ich sehe — in der Literatur zum spekulativen Satz bisher nicht geschehen. Log. II, 270, Absatz 11. Vgl. Log. I, 36. „ H ö h e r " und „tiefer" sind strenggenommen ganz unbestimmte Ausdrücke, die die Begriffe noch als im Räume der Vorstellung über- bzw. untereinander stehend bezeichnen und so nur einen äußerlichen Unterschied angeben; vgl. SW Bd. 12, 20/1.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Die Kategorie des Daseins etwa ist reicher und konkreter als die des Seins und befaßt mehr in sich als diese, wohingegen die Kategorie des Seins weiter und abstrakter ist und die Kategorie des bestimmten Seins, d. h. des Daseins, insofern diese als in der Begriffspyramide unter der des Seins stehende vorgestellt wird, unter sich befaßt. Entsprechend verhält es sich hier auch mit den Kategorien des Allgemeinen und des bestimmten Allgemeinen, d. h. des Einzelnen. Einerseits inhäriert das Allgemeine dem Einzelnen, andererseits subsumiert das Allgemeine das Einzelne. Das (abstrakte) Allgemeine kann insofern als der „höhere" (d. h. hier unbestimmtere) Begriff angesehen werden. In seiner Bestimmtheit aber steigt das Allgemeine zur Einzelheit herunter. „Hier geht der Abweg ab, auf welchem die Abstraktion vom Wege des Begriffs abkommt und die Wahrheit verläßt. Ihr höheres und höchstes Allgemeines, zu dem sie sich erhebt, ist nur die immer inhaltsloser werdende Oberfläche; die von ihr verschmähte Einzelheit ist die Tiefe, in der der Begriff sich selbst erfaßt, und als Begriff gesetzt ist." 1 9 4 Diese Beispiele könnten bereits Anlaß zu der Vermutung geben, daß die Entwicklung des Begriffs nach Hegel gefaßt werden kann als Fortbestimmung des jeweils abstrakteren zum konkreteren Begriff, insofern dieser nicht nur als der U n t e r b e g r i f f , sondern zugleich auch als der I n b e g r i f f von jenem vorzustellen ist. 195 In dem dem hier behandelten Absatz 11 entsprechenden Paragraphen der „Enzyklopädie" sagt Hegel nun, daß, insofern das Prädikat dem Subjekt inhäriert, dieses „reicher und weiter" sei als das Prädikat und daß, insofern das Prädikat das Subjekt unter sich subsumiert, das Prädikat „weiter" ist als das Subjekt. „Was die nähere Bestimmtheit des Subjekts und Prädikats betrifft, so ist das e r s t e r e , als die negative Beziehung auf sich selbst (§. 163. 166. Anm.) das zu Grunde liegende Feste, in welchem das Prädikat sein Bestehen hat und ideell ist, (es i n h ä r i r t dem Subjekte); und indem das Subjekt überhaupt und u n m i t t e l b a r konkret ist, ist der bestimmte Inhalt des 194 195
Log. II, 260. Vgl. weiter unten. Was die Fortbestimmung des Urteils anbetrifft, wäre es eine verfehlte Kritik der absoluten Methode in Hegels Dialektik und ein gründliches Mißverständnis dessen, was unter der Bewegung, d. h. hier Entwicklung des Begriffs zu verstehen ist, wollte man behaupten, daß in der Hegeischen Urteilstypologie die Wiederherstellung des absoluten Begriffs durch fortschreitende Abstraktion erfolge. (Vgl. G. Maluschke, Kritik und absolute Methode in Hegels Dialektik, 108.) Sie erfolgt vielmehr durch die fortschreitende Determination und Konkretion. Die abstrakteren Urteilsarten werden durch die konkreteren aufgehoben und nicht etwa umgekehrt.
Das Urteil
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Prädikats nur E i n e der vielen Bestimmtheiten des Subjekts, und dieses reicher und weiter als das Prädikat. Umgekehrt ist das P r ä d i k a t als das Allgemeine für sich bestehend und gleichgültig, ob dieß Subjekt ist oder nicht; es geht über das Subjekt hinaus, s u b s u m i r t dasselbe unter sich, und ist seinerseits weiter als das Subjekt." 1 9 6 Die Ausdrucksweise, daß das Subjekt nicht nur reicher, sondern auch w e i t e r sei als das dem Subjekt inhärierende Prädikat — so wie umgekehrt das das Subjekt subsumierende Prädikat weiter ist als das Subjekt — scheint mir insofern irreführend zu sein, als die Vorstellung nahegelegt wird, der Unterschied zwischen Subsumtions- und Inhärenzverhältnis von Subjekt und Prädikat bestehe darin, daß beim Inhärenzverhältnis das Subjekt, beim Subsumtionsverhältnis dagegen das Prädikat weiter sei, d. h. beide abwechselnd „von weiterem Umfang" 1 9 7 seien. Das kommt m . E . der Vorstellung gleich, daß es sich bei der Inhärenz um eine Art Subsumtion handele, und daß Subjekt und Prädikat in den Verhältnissen der Inhärenz und der Subsumtion e n t g e g e n g e s e t z t e S u b s u m t i o n e n gegeneinander ausübten. 198 Daß beim Subsumtionsverhältnis das Prädikat w e i t e r ist als das Subjekt bedeutet nun aber strenggenommen ebensowenig, daß das Prädikat deshalb auch mehr in sich befaßt, 199 wie umgekehrt beim Inhärenzverhältnis das Subjekt, weil es reicher ist, d. h. mehr in sich begreift auch als w e i t e r vorgestellt werden darf. 2 0 0 Schärfer als in der „Enzyklopädie" scheint mir deshalb der Unterschied zwischen Subsumtion und Inhärenz in der philosophischen Propädeutik herausgearbeitet zu sein. Auch die Zusammenhänge zur kritischen Philosophie Kants scheinen mir von hier aus besser sichtbar zu sein. SW Bd. 8, 369, § 170. Vgl. L o g . II, 277 und 283. 198 Vgl.. Jenenser Logik, 8 1 - 8 3 . Vgl. dazu K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a . a . O . , 165ff. 1 9 9 D i e Kritik, daß „ H e g e l ' s account of Judgement involves no clear account of the differing functions of Subject and Predicate" Q. N . Findlay, Hegel, A Re-Examination, a . a . O . , 230) mag zum Teil berechtigt sein. Ebenso muß dann aber kritisiert werden, daß Findlays Kommentar der Hegeischen Darstellung der verschiedenen Funktionen von Subjekt und Prädikat strenggenommen ungenau und unklar ist: „ W e tend likewise to start by regarding the Subject as what exists for self, whereas the Predicate merely inheres in it or illuminates it, but Hegel holds that these characterizations are all capable of a reversal, and that it is as possible to regard the Predicate as the focal point of the Judgement, and the Subject as what merely illustrates or embodies (sic.! G . W . ) i t . " ( A . a . O . , 231). 196 197
200
Vgl. dazu auch L o g . II, 258/9.
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„Das Allgemeine befaßt das Besondere und Einzelne, so wie das Besondere auch das Einzelne u n t e r s i c h ; dagegen das Einzelne die Besonderheit und Allgemeinheit und das Besondere die Allgemeinheit in sich befaßt. Das Allgemeine ist w e i t e r , als die Besonderheit und Einzelheit, dagegen die Besonderheit und Einzelheit m e h r in sich befaßt, als das Allgemeine, welches dadurch, daß es in der Einzelheit befaßt ist, wieder eine Bestimmtheit wird. Das Allgemeine i n h ä r i r t dem Besonderen und Einzelnen, dagegen es das Besondere und Einzelne unter sich s u b sumirt."201 Inhalt und Umfang der Begriffe; Inbegriff und Unterbegriff Da auch hier die Kantische Philosophie als Grundlage und Ausgangspunkt der Hegeischen Philosophie betrachtet werden soll 2 0 2 , scheint es mir hilfreich zu sein, an einige Kantische Unterscheidungen zu erinnern. Paragraph 13 der Kantischen Logik befaßt sich mit dem Verhältnis des niederen zum höheren, d. h. des engeren zum weiteren Begriff: ,,Der niedere Begriff ist nicht in dem höhern enthalten, denn er enthält m e h r in sich als der höhere; aber er ist doch u n t e r demselben enthalten, weil der höhere den Erkenntnißgrund des niederen enthält. F e r n e r ist ein Begriff nicht w e i t e r als der andre, darum weil er m e h r unter sich enthält — denn das kann man nicht wissen —, sondern sofern er den a n d e r n B e g r i f f , und a u ß e r d e m s e l b e n n o c h m e h r , unter sich enthält." 2 0 3 „Der höhere Begriff heißt in Rücksicht seines niederen G a t t u n g (genus), der niedere Begriff in Ansehung seines höheren A r t (species)." 2 0 4 In Absatz 17 des ersten Teils des Anhangs zur transzendentalen Dialektik 205 führt Kant aus, daß angesichts der Natur, — wobei Natur nicht als Natur überhaupt, als Dasein unter allgemeinen Verstandesgesetzen, sondern als Natur unter besonderen (empirischen) Gesetzen betrachtet wird — die Vernunft ein doppeltes, einander widerstreitendes Interesse
201
202
203 204 205
SW Bd. 3, 146, § 5; vgl. auch a.a.O., die §§ 88ff., 138f. Vgl. dazu Kants Schriften. Werke IX, Logik, § 13, 98. Auf Leibnizens Unterscheidung von Extension und Intension (vgl. insbes. Nouveaux Essais IV, § 8, in: G . W . Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand, Buch III—IV, Darmstadt 1961, 569— 573) kann trotz ihrer großen Bedeutung für die folgenden Ausführugen im Rahmen dieser Arbeit nicht eingegangen werden. Kants Schriften. Werke IX, Logik, 98. A . a . O . , § 10, 96. Vgl. K . r . V . , A 654/5/ В 682/3 (613/4).
Das Urteil
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zeige, „einerseits das Interesse des U m f a n g e s (der Allgemeinheit) in Ansehung der Gattungen, andererseits des I n h a l t s (der Bestimmtheit), in Absicht auf die Mannigfaltigkeit der Arten, weil der Verstand im ersteren Falle zwar viel u n t e r seinen Begriffen, im zweiten aber desto mehr in d e n s e l b e n denkt." 2 0 6 Der weitere Begriff kann auch als der höhere Begriff, der engere Begriff als der niedrigere Begriff bezeichnet werden. 2 0 7 Der seiner Bedeutung für die hier behandelte Problematik wegen bereits weiter oben herangezogene § 15, der von den Bedingungen der Entstehung höherer und niedrigerer Begriffe durch logische Abstraktion und logische Determination handelt, lautet: „Durch fortgesetzte logische Abstraction entstehen immer höhere, so wie dagegen durch fortgesetzte logische Determination immer niedrigere Begriffe. Die größte mögliche Abstraction giebt den höchsten oder abstractesten Begriff — den, von dem sich keine Bestimmung weiter wegdenken läßt, die höchste vollendete Determination würde einen d u r c h g ä n g i g b e s t i m m t e n Begriff (conceptum omnimode determinatum) d. i. einen solchen geben, zu dem sich keine weitere Bestimmung mehr hinzu denken ließe. Anmerkung. Da nur einzelne Dinge oder Individuen durchgängig bestimmt sind: so kann es auch nur durchgängig bestimmte Erkenntnisse als A n s c h a u u n g e n , nicht aber als B e g r i f f e , geben; in Ansehung der letztern kann die logische Bestimmung nie als vollendet angesehen werden (§.ll.Anm.)." 2 0 8 Ich möchte zunächst die terminologischen Unterscheidungen des § 13 der Kantischen Logik aufnehmen und die Ausdrücke „weiter" und „ m e h r " so gebrauchen, daß der Ausdruck „ w e i t e r " auf den U m f a n g (auf die ä u ß e r e F o r m ) , „die Breite" (die Extension), der Ausdruck , M e h r " dagegen auf den I n h a l t des Begriffs, auf die „Tiefe", (die Intension) bezogen wird. Insofern also einerseits das A l l g e m e i n e w e i t e r ist als das 206 207 208
A.a.O., A 654/5/ В 682/3 (614). Vgl. das Einleitungskapitel dieser Arbeit. Vgl. Kants Schriften. Werke IX, § 12, 98. A.a.O., § 15, 99. Zu § 11 und § 15 vgl. die Absätze 18ff. (K.r.V., А 655/ В 683ff. (614ff.)) des im Einleitungskapitel dieser Arbeit näher behandelten Anhangs zur transzendentalen Dialektik; vgl. insbes. das in Absatz 22 (A 658/9/ В 686/7 (616/7)) zur Veranschaulichung gegebene „Horizont"-Bild. Zum conceptum omnimode determinatum als dem conceptum infimum vgl. Logik Pölitz, a.a.O., 569/70. (Deutlich ist hier die Anspielung auf § 227 der Wölfischen Ontologie). Vgl. auch Wiener Logik, a.a.O., 911/2. Vgl. femer die Arbeit von R. Stuhlmann-Laeisz, Kants Logik, a.a.O., 5.1.1.2. „Conceptus singulares", 77—81. Vgl. schließlich den dritten Teil dieses Kapitels dieser Arbeit.
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Einzelne, u m f a ß t es dieses oder befaßt es u n t e r s i c h , s u b s u m i e r t es unter sich. 2 0 9 Insofern soll das Allgemeine als der „Oberbegriff" und das Einzelne als „Unterbegriff" verstanden werden. Insofern andererseits das Einzelne m e h r b e i n h a l t e t als das Allgemeine, befaßt es dieses in s i c h 2 1 0 und das Allgemeine i n h ä r i e r t ihm. 2 1 1 Insofern soll das Allgemeine als „Teilbegriff" 2 1 2 und das Einzelne als „ I n b e g r i f f " bezeichnet werden. 209 Vgl. d e n bereits 1931 entstandenen, interessanten Aufsatz von Hajime Tanabe „Zu Hegels Lehre vom Urteil", in: Hegel-Studien, Bd. 6, 1971, 211—229, der sich mit den beiden einander entgegengesetzten Verhältnissen des inhaltlichen und des umfänglichen Enthaltens auseinandersetzt. Tanabe behandelt das Problem, auf welche Weise diese beiden sich entgegengesetzten Verhältnisse des Enthaltens zur Übereinstimmung zu bringen sind, „nämlich einmal des Verhältnisses hinsichtlich des Inhalts, nach dem das Subjekt als Substanz das Prädikat als Akzidenz in sich enthält, und zum anderen des Verhältnisses hinsichtlich des Umfangs, nach dem das Prädikat als Gattung das Subjekt als Art in (Sperrung von mir, G . W . ) sich enthält." (A.a.O., 221, vgl. auch 214: „Das Prädikat, das hinsichtlich seines Umfangs als allgemeine Gattung das Subjekt, d. h. eine besondere Art in (Sperrung von mir, G . W . ) sich enthält, muß als Akzidenz umgekehrt im Subjekt als Substanz enthalten sein." Auch a.a.O., 222ff. wird das Umfangsverhältnis der Subsumtion als ein solches gekennzeichnet, in welchem das Allgemeine des Prädikats das Besondere des Subjekts in sich - nicht u n t e r sich — enthält. O b es sich bei dieser für den Zusammenhang nicht irrelevanten terminologischen Inkonzinnität letztlich nur um eine Schwierigkeit der Ubersetzung handelt, vermag ich nicht zu beurteilen.) — Der von Tanabe unternommene Versuch ?ur Lösung dieses Problems (vgl. a.a.O., 222ff.) — wie auch die abschließende Kritik an der Hegeischen Urteilslehre, vgl. a.a.O., 227ff. - scheint mir freilich nicht nur ungewöhnlich, sondern auch problematisch zu sein — z . B . insofern, als das „Urteil des Begriffs" als Werturteil mit dem reflektierenden Urteil im Kantischen Sinne einfach gleichgesetzt wird. Vgl. a.a.O., 224 und 218f. 210 Vgl. dazu die Ausführungen von L. Oeing-Hanhoff und T . Borsche unter dem Stichwort „Insein" in: Historisches Wönerbuch der Philosophie, a.a.O., Bd. 4, 394/5. 211
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Zur Klärung des Unterschieds in der Verwendung der Begriffe „Inhärenz" und „Subsumtion" bei Kant und Hegel sollte wenigstens daran erinnert werden, daß Kant von einer Gegenüberstellung der Begriffe „Subsumtion" und „Inhärenz" derart, daß unter einen Begriff größeren Umfangs Begriffe größeren Inhalts subsumiert werden, einem Begriff größeren Inhalts dagegen Begriffe größeren Umfangs inhärieren, natürlich nicht spricht. Bekanntlich ist unter I n h ä r e n z (und Subsistenz) bei Kant eine Kategorie der Relation zu verstehen. Neben ihr steht die Kategorie der D e p e n d e n z (und Kausalität), aus deren Verbindung die Kategorie der W e c h s e l w i r k u n g (der „Konkurrenz", vgl. K . r . V . , A 336/ В 393 (366)) entspringt. Unter S u b s u m t i o n dagegen ist ganz etwas anderes, nämlich die Handlung der bestimmenden Urteilskraft zu verstehen, unter gegebene Gesetze des Verstandes — u.a. auch unter das der Kausalität — zu subsumieren. Ihr steht die R e f l e x i o n als Handlung der reflektierenden Urteilskraft gegenüber, unter der Voraussetzung der Zweckmäßigkeit, d. h. der Vernunftmäßigkeit zu reflektieren. O b darin, daß Hegel das Urteil der Reflexion als Urteil der Subsumtion begreift (vgl. Log. II, 288) ein Anspruch gesehen werden kann, die beiden Gedanken der Reflexion und der Subsumtion zusammengebracht zu haben und inwiefern ein solcher Anspruch als berechtigt angesehen werden könnte, soll hier nicht näher erörtert werden. Zu Teilbegriffen kommt man — um zunächst wieder von der Kantischen Unterscheidung auszugehen — nicht durch E i n t e i l u n g , sondern durch T e i l u n g eines Begriffs.
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(Man könnte sich auch so ausdrücken, daß das Einzelne - formaliter spectata — unter einem Oberbegriff steht, während das Einzelne — materialiter spectata — der ,Inbegriff' des Allgemeinen ist und dieses in ihn fällt. Umfang und Inhalt eines Begriffs stehen in umgekehrtem Verhältnis zueinander. Je mehr ein Begriff unter sich enthält, desto weniger enthält er in sich und umgekehrt. 213 ) Zwischenbemerkung zum Kantischen Begriff des Inbegriffs Bevor nun die beiden Gedanken der Inhärenz und der Subsumtion mit Hegel spekulativ betrachtet werden, sei noch eine Zwischenbemerkung zum Kantischen Begriff des ,Inbegriffs' gestattet. Durch den Grundsatz der durchgängigen Bestimmung — man könnte ihn m . E . auch als Prinzip der kontinuierlichen Bestimmung bezeichnen, um einen Hinweis darauf zu geben, daß es sich bei ihm um das unter anderem Namen auftretende P r i n z i p der t r a n s z e n d e n t a l e n Z w e c k m ä ß i g k e i t handelt —, nach dem einem jeden Ding von allen möglichen Prädikaten, verglichen mit ihren Gegenteilen, eines zukommen muß, wird jedes Ding auf die gesamte Möglichkeit bezogen, die, würde sie in der Idee eines einzigen Dinges angetroffen, „eine Affinität alles Möglichen durch die Identität des Grundes der durchgängigen Bestimmung desselben beweisen würde." 2 1 4 Die der durchgängigen B e s t i m m u n g als Bedingung zugrundeliegende Idee vom Inbegriff aller Möglichkeit, d. h. vom Inbegriff aller möglichen Prädikate ist eine transzendentale V o r a u s s e t z u n g der Vernunft in ihrem regulativen Gebrauch, d. h. der r e f l e k t i e r e n d e n oder p r ä s u m i e r e n d e n U r t e i l s k r a f t . Diese Vernunftidee vom I n b e g r i f f a l l e r m ö g l i c h e n P r ä d i k a t e läutert sich nun nach Kant durch das Ausstoßen der Negation als bloßer Limitation des Alls der Realität zum
„Einen Begriff t h e i l e n und ihn e i n t h e i l e n ist also sehr verschieden. Bei der Theilung eines Begriffs sehe ich, was in ihm enthalten ist (durch Analyse), bei der Eintheilung betrachte ich, was u n t e r ihm enthalten ist." (Kants Schriften. Werke IX, Logik, § 110, Anm. 1, 146; vgl. dazu a.a.O., § 98, 140. Vgl. ferner Kants Schriften Werke X X I V , Wiener Logik, 925/6. (Im ersten Satz des zweiten Absatzes der Ausführungen über die logische Einteilung: „Je größer die sphaera eines Begriffes ist, desto weniger enthält er unter sich" muß es m . E . anstatt „unter" „in" heißen.))
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Es erhellt übrigens, daß unter einem analytischen Urteil ein Urteil zu verstehen ist, in dem es im Unterschied zum synthetischen Urteil um Teilung, um Zergliederung in Teilbegriffe, d.h. um eine Analyse des logischen Inhalts des Begriffs des Satzsubjekts geht. Vgl. Kants Schriften. Werke IX, Logik, § 7, 95. Zu Inhalt und Umfang der Begriffe vgl. a.a.O., Bd. X X I V , Logik Pölitz, 569/70 und Wiener Logik, 911/2. K . r . V . , A 572/ В 600 Anm. (552).
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transzendentalen Ideal als dem Inbegriff aller Realität. Auf eine Kritik dieses Begriffs vom Ideal möchte ich verzichten 2 1 5 , da es mir hier zunächst auf die von Kant in diesem Zusammenhang gegebene Erläuterung ankommt, der I n b e g r i f f a l l e r R e a l i t ä t sei „nicht bloß ein Begriff, der alle Prädikate ihrem transzendentalen Inhalte nach u n t e r sich, sondern der sie in s i c h begreift" 2 1 6 . Der Inbegriff aller Realität, eine Idee, die letzten Endes dazu dient, eine durchgängige, systematische und zweckmäßige Einheit im empirischen, regulativen, bloß hypothetischen Vernunftgebrauch zu erhalten, darf nicht als A g g r e g a t abgeleiteter Wesen, als Substanz, der Akzidenzen i n h ä r i e r e n , hypostasiert werden. 2 1 7 Die K a t e g o r i e d e r I n h ä r e n z wäre nach Kant höchstens per analogiam auf die I d e e e i n e s I n b e g r i f f s als eines Begriffs von einem Ding-an-sich anzuwenden. Zu beachten ist auch der von Kant angestellte Vergleich der höchsten Realität mit dem R a u m 2 1 8 in Hinblick auf die Erörterung des Begriffs vom Raum. „ D e r Raum wird als eine unendliche g e g e b e n e Größe vorgestellt. Nun muß man zwar einen jeden Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches Merkmal) enthalten ist, mithin diese u n t e r s i c h 215 216
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Vgl. dazu Log. I, 99/100. K . r . V . , A 577/ В 605 (556). Daß Kant im 13. Absatz dieses zweiten Abschnitts (A 579/ В 607 (557/8)) um „genau zu reden" die höchste Realität als „Grund" und nicht als „Inbegriff" bezeichnet — in den letzten Absätzen des Abschnitts nimmt er die Rede vom „Inbegriff" wieder auf — geschieht wohl hauptsächlich zur Abgrenzung vom Spinozismus. (Vgl. dazu die Anm. 26, 62 und 68 des Kommentars des dritten Teils der Transzendentalen Dialektik von H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, a.a.O., 422, 448 und 452). Vgl. dagegen M. Mendelssohn, Morgenstunden oder Vorlesungen über das Daseyn Gottes, 1968, Nachdruck der Ausgabe von 1786, 1, 227, der „Inbegriff" noch im Sinne von „Aggregat" verwendet. Den Hinweis darauf verdanke ich der Ausführung von A. Veraart unter dem Stichwort „Inbegriff" in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, a.a.O., Bd. 4, 277. Vgl. K . r . V . , А 578/ В 606 (557) und А 619/ В 647 (587/8). Zur Analogie des Raumes und der Idee des transzendentalen Ideals vgl. auch H. Heimsoeth, Der Kampf um den Raum in der Metaphysik der Neuzeit, in: Philosophischer Anzeiger, 1. Jhrg., Bonn 1926, 35f. und H. Vaihinger, Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, II, 220 sowie B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 4, 314ff. u. 349. Vgl. ferner M. Jammer, Das Problem des Raumes, Darmstadt 1960, II. Kap., Jüdisch-christliche Gedanken über den Raum, 27ff. Jammer sieht den ersten Hinweis für eine Verbindung zwischen Raum und Gott im Gebrauch des Wortes „Raum" (maköm) als Name für Gott im palästinensischen Judentum des 1. Jhds. Nach Jammer ist kein Zweifel daran möglich, daß vom 1. bis zum 18. Jhd. eine deutlich erkennbare und fortlaufende religiöse Tradition einen großen Einfluß auf die physikalische Raumtheorie ausübte. Zu Newtons Begriff des Raumes als sensorium dei vgl. a.a.O., 122ff.
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enthält; aber kein Begriff, als ein solcher, kann so gedacht werden, als ob er eine unendliche Menge von Vorstellungen in sich enthielte. Gleichwohl wird der Raum so gedacht (denn alle Teile des Raumes ins Unendliche sind zugleich). Also ist die ursprüngliche Vorstellung vom Räume A n s c h a u u n g a priori und nicht Begriff." 2 1 9 Bereits in Paragraph 15 В der Dissertation heißt es: „ C o n c e p t u s s p a t i i est s i n g u l a r i s r e p r a e s e n t a t i o omnia in se comprehendens, non s u b se continens notio abstracta et communis." 2 2 0 Zu beachten ist ferner, daß Kant die Z e i t als Inbegriff von allem Dasein bzw. Sein bezeichnet. 2203 In Paragraph 14,2. seiner Dissertation sagt Kant: „Praeterea omnia concipis actualia in tempore posita, non sub ipsius notione generali, tanquam nota communi, contenta." Von der reinen Anschauung überhaupt sagt Kant in § 12: „Intuitus autem purus (humanus) non est conceptus universalis s. logicus, s u b q u o , sed singularis, in q u o sensibilia quaelibet cogitantur ideoque continet conceptus spatii et temporis cc
Im Zusammenhang damit, daß die der durchgängigen B e s t i m m u n g der Dinge zugrundeliegende Vernunftidee vom Inbegriff aller möglichen Prädikate als transzendentale Voraussetzung der r e f l e k t i e r e n d e n U r t e i l s k r a f t bezeichnet wurde, woraus bereits auf die gleiche Abstammung der Vernunftidee und deren Gegenstück, der ästhetischen Idee zu schließen wäre, soll zur Metakritik des Begriffs vom transzendentalen Ideal ( P r o t o t y p o n transzendentale) nur noch daran erinnert werden, daß es sich mit diesem Ideal der Vernunft insofern doch nicht ganz anders verhält als mit den Idealen der Sinnlichkeit — sie entsprechen am ehesten noch dem, was Kant in der „Kritik der Urteilskraft" als ästhetische Normalidee des Schönen bezeichnet und vom eigentlichen Ideal der Schönheit doch noch unterscheidet 221 — als mit Hegel die ästhetische Idee ( A r c h e t y p o n ) nicht nur per analogiam, K . r . V . , В 39/40 (68/9). Vgl. J. Ebbinghaus, Kants Lehre von der Anschauung a priori, in: Kant, Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, hrsg. v. G. Prauss, Köln 1973, 44ff. u. M. Hossenfelder, Kants Konstitutionstheorie und die Transzendentale Deduktion, Berlin/New York, 1978, § 16. 2 2 0 Zum vierten Raumargument vgl. H. Cohen, Kants Theorie der Erfahrung, Berlin 1885, 125ff. sowie den gründlichen Kommentar von Vaihinger, H. Vaihinger, Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, II, 2 3 7 - 2 6 2 . Vgl. auch E. Henke, Zeit und Erfahrung, Meisenheim 1978, 2.2.1.2. und den Aufsatz des Verfassers, Ist der Raum eine Idee?, Kap. 3 u. 6. 2 2 0 1 Vgl. K . r . V . , А 216/ В 263 (264) u. А 242/ В 300 (292). 2 2 1 Vgl. K . r . V . , А 570/ В 598 (550/1) und K . U . , § 17, 53ff. (72ff.). 219
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sondern wirklich als D e m o n s t r a t i o n der Vernunftidee, als Darstellung des Vernunftbegriffs in der e i n z e l n e n A n s c h a u u n g der Einbildungskraft zu betrachten ist. 2 2 2 Die Vernunftidee eines intellectus archetypus, eines nicht diskursiven, sondern intuitiven, d. h. a n s c h a u e n d e n Verstandes ist das Urbild, das V e r n u n f t s c h e m a 2 2 3 des regulativen Prinzips der transzendentalen Zweckmäßigkeit oder Vernunftmäßigkeit, unter deren Voraussetzung allein es uns auch möglich ist zu reflektieren über die ästhetische Zusammenfassung des Mannigfaltigen in die Einheit nicht des Begriffs, sondern des Augenblicks, in eine Anschauung als Maß, in ein durch einen R e g r e s s u s der E i n b i l d u n g s k r a f t zustandekommendes, das Zugleichsein anschaulich machendes B i l d —, das nach Kant freilich als bloßes Analogon des reinen Bildes, des S c h e m a s der V e r s t a n d e s b e g r i f f e zu betrachten ist. 2 2 4 Dieses Bild ist die ästhetische Idee, die uns nach Kant veranlaßt, uns bei einer Anschauung mehr zu denken, als sich in einem Begriff, d. h. in einem bestimmten Sprachausdruck zusammenfassen läßt. Ich vermute nun, daß es sich im Unterschied zu den Begriffen als Produkten des Verstandes bei den .Begriffen' (besser gesagt vielleicht ,Schemata' oder auch ,Maßen') als Produkten der Einbildungskraft wie der Vernunft im Grunde um , I n b e g r i f f e ' handelt, oder anders gesagt, daß als Inbegriff das zu bezeichnen ist, was ein Produkt der Einbildungskraft oder der Vernunft ist. Diese Vermutung könnte sich aber erst in einer Untersuchung bestätigen, die mir zwar mehrerer interessante Nebenaspekte zu haben scheint, für die aber hier nicht der Raum ist. 2 2 4 a Die spekulative Betrachtung des Inhärenz- und des Subsumtionsverhältnisses Die beiden Gedanken der Inhärenz (bzw. Subsistenz) und der Subsumtion wurden in der vorausgehenden Betrachtung auseinandergehalten, um besser zu sehen, wie sie zusammenzubringen und in ihrer Einseitigkeit aufzuheben sind. Es ist nicht am Gegensatz des I n h a l t s (als des s e l b s t ä n Vgl. a . a . O . , 207 (178), 240 (201) und SW Bd. 1, 316 sowie das Einleitungskapitel dieser Arbeit. 2 2 3 Vgl. K . r . V . , A 682/ В 710ff. (634ff.). 2 2 4 Der subjektive Schematismus der Urteilskraft (vgl. K. U . 146 (137)) ist nach Kant vom objektiven Schematismus des Verstandes zu unterscheiden (vgl. a . a . O . , 56ff. (74ff.) und K . r . V . , А 141/ В 180f. (199f.)), der die Subsumtion der Anschauungen unter reine Verstandesbegriffe ermöglicht. 2 2 4 a V g l . dazu den Aufsatz des Verfassers, Ist der Raum eine Idee?, in dem die Auffassung vertreten wird, daß Kant der Beweis der Intuitivität der Vorstellungen des Raumes und 222
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digen Innerlichen) und der F o r m (als des u n s e l b s t ä n d i g e n Äußerlichen) festzuhalten. Vielmehr zeigt sich in der Betrachtung der dialektischen Bewegung, die sich hier zunächst als Fortbestimmung des Urteils der Inhärenz (des endlichen zum unendlichen Urteil) darstellt, daß das Urteil durch den Gegensatz seines Inhalts und seiner Form den „Gegenschlag" 225 in sich enthält, daß Inhalt und Form ineinander umschlagen. 226 Der absolute Inhalt ist die absolute Form. Die weiter oben durchgeführte Untersuchung des Konflikts des Satzinhalts und der Satzform sollte bereits deutlich machen, daß die dialektische Bewegung des B e g r i f f s sich über die Schranken des einzelnen U r t e i l s hinweg fortsetzt, also Urteile bzw. Sätze zu i h r e n T e i l e n haben kann; T e i l s ä t z e sozusagen, die einander ergänzen und deren voller Sinn erst aus dem Kontext zu e r s c h l i e ß e n ist. Hier soll in der dialektischen Bewegung der Ubersetzung des Satzsubjekts ins Prädikat der Gegenstoß des Inhalts und der Form der Satzteile betrachtet werden. Der absolute Inhalt des Subjekts ist seine Äußerung in einer bestimmten Form, so wie die absolute Form des Prädikats seine Erinnerung eines reflektierten Inhalts ist. Diese Bewegung der Satzteile ist die Bewegung des Satzes selbst, (sein spekulativer oder absoluter Inhalt bzw. seine absolute Form), die philosophisch nur als Bewegung von U r t e i l e n darzustellen ist. Dazu möchte ich zunächst wieder den Satz „ G o t t ist das Sein" 2 2 7 heranziehen. „Gott" soll dabei begriffen werden nicht nur als das A b s o l u t e im Sinne des absoluten Wesens, sondern als l e t z t e r , k o n k r e t e s t e r , b e s t i m m t e s t e r Begriff der „Wissenschaft der Logik", als „spekulative oder absolute Idee", „Sein" dagegen als der erste, abs t r a k t e s t e , u n b e s t i m m t e s t e Begriff. 2 2 8 + 2 2 8 a Insofern das Subjekt der Zeit nicht gelungen ist und in dem der Raum als unsinnlich-sinnliches ,Vernunftschema' betrachtet wird, das Vernunftidee und ästhetische Idee vermittelt. 225 S W B d . 16, 460. 226 Vgl. S W B d . 8, § 133, 301 ff. 227 Phä., 51. 228 Vgl. Log. II, 484: „die absolute Idee allein ist S e i n " . Faßte man im Unterschied zum endlichen Sein Gott als das unendliche Sein, so könnte der Satz: Gott ist das Sein auch in der Form: Das Unendliche ist endlich betrachtet werden. Vgl. dazu SW Bd. 16, 452ff. 228> So bemerkt auch J. P. Surber in seinem Aufsatz: Hegel's Speculative Sentence, a.a.O., 218: „In Hegel's example, „ G o d is Being", the subject term indicates the most universal representational content while the predicate indicates the „emptiest" and most „abstract" conceptual determination. . . . Hegel's example seems to be the most universal and comprehensive case of predication, which includes all other possible examples within it as more „abstract" version of itself, rather than an unfortunate choice which fails to make his case." Vgl. auch Η . Hülsmann, Der spekulative oder dialektische Satz, a.a.O., 73.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
dieses Satzes zunächst noch unter dem N a m e n „ G o t t " vorgestellt wird, gehört der Satz „ G o t t ist d a s S e i n " dem erscheinenden Geist an. Für die spekulative Betrachtung eines Satzes aber ist es dienlich, den — philosophisch ohnehin anstößig gewordenen — Namen „ G o t t " zu vermeiden 229 und den B e g r i f f der Sache, um die es geht, nämlich um den Begriff selbst, zu nennen. Der Satz soll deshalb in F o r m des S a t z e s der „Logik": Die absolute Idee ist das Sein, bzw.: Der Begriff ist das Sein betrachtet werden. Zuerst ist daran zu erinnern, daß das Wahre nach Hegel nicht als Substanz, sondern ebensosehr als Subjekt (d.h. als Substanz sowie als Subjekt) aufzufassen und auszudrücken ist. Der Satz ist in Wahrheit nicht als S a t z geg e n s t ä n d , als Satzsubjekt (d.h. hier als Einzelnes) aufzufassen, dem z u f ä l l i g Prädikate a n h ä n g e n können, sondern ebensowohl als S a t z a u s sage, als Satzprädikat (d.h. hier als Allgemeines), von dem dieser Satzgegenstand g e s e t z m ä ß i g a b h ä n g t . Worauf es dabei ankommt, ist, Subjekt und Prädikat nicht als sinnliches Nebeneinander oder Nacheinander zu nehmen, so, als ob sie das eine Mal in diesem Verhältnis zueinander stünden und das a n d e r e Mal im umgekehrten, sondern als vernünftige (was hier soviel heißen soll wie absolut zweckmäßige) Sinneinheit. Als Hilfe für die spekulative Auffassung des Satzes wurde weiter oben zu einer wechselnden Akzentuierung der Satzteile gegriffen, und zwar um deutlich zu machen, daß eine bloße Abwechslung in der Hervorhebung insofern noch unvernünftig und unwahr ist, als es darauf ankommt, daß Subjekt und Prädikat zugleich (auf einmal) betont werden. Der p h i l o s o p h i s c h e Sinn, der spekulative Gehalt des Satzes ist das, was sich ergibt, indem (während) die Erfahrung des Konflikts der im gleichen Maße auf beiden Teilen des Satzes liegenden Akzente gemacht wird, die Erfahrung jenes Konflikts, der dem Verstand als W i d e r s i n n vorkommt. Der Satz ist in Wahrheit als substantielles Subjekt zu fassen, dem Prädikate als Akzidenzen i n h ä r i e r e n können, die dieses Subjekt gleichsam bloß r e f l e k t i e r e n , sowie als Prädikat, in dem das unter es s u b s u m i e r t e Subjekt seine B e s t i m m t h e i t hat. Ausgehend von den Satzteilen ist das Satzsubjekt (zunächst als das Einzelne) seiner F o r m nach als , U n t e r b e g r i f f ' zu betrachten, der von dem Prädikat umfangen wird, zugleich aber seinem I n h a l t nach als ,Inb e g r i f f ' zu betrachten (als Einziges und Alleiniges, nicht als Vereinzeltes), in dem das Prädikat enthalten ist. Dementsprechend ist das Satzprädikat (als das Allgemeine) seiner F o r m nach als . O b e r b e g r i f f ' , der das Subjekt 229
Vgl. Phä., 54.
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unter sich befaßt, zugleich aber seinem I n h a l t nach als , T e i l b e g r i f f ' zu betrachten, der in dem Subjekt (als ,Inbegriff') befaßt ist. 2 3 0 Vorgreifend auf die Ausführungen über die absolute Idee im letzten Teil dieser Arbeit möchte ich hier eine Zwischenbemerkung zum Begriff des Individuums machen. Das Einzelne (Individuelle) im Sinne des Einzigen bzw. Alleinigen zu fassen, bedeutet bereits, daß das Einzelne in Wahrheit garnicht als ein bloß s i n n l i c h G e w i s s e s , Gemeintes, „Dieses" g e n o m m e n werden kann, das der allgemeinen Form isoliert gegenübersteht. Bereits in den Ausführungen über die innerhalb des theoretischen Geistes vor dem Denken bzw. Begreifen (und vor der Vorstellung) rangierende Anschauung, die vom begreifenden Anschauen strenggenommen noch zu unterscheiden ist, heißt es im Zusatz zum § 449: „In Bezug aber auf das Verhältniß der Anschauung zum B e w u ß t s e y n haben wir Folgendes zu bemerken. Im weitesten Sinne des Wortes könnte man allerdings schon dem §. 418 betrachteten unmittelbaren oder s i n n l i c h e n B e w u ß t s e y n den Namen der Anschauung geben. Soll aber dieser Name, - wie er es denn vernünftigerweise muß, — in seiner e i g e n t l i c h e n Bedeutung genommen werden; so hat man zwischen jenem Bewußtseyn und der Anschauung den wesentlichen Unterschied zu machen, daß das Erstere in u n v e r m i t t e l t e r , g a n z a b s t r a c t e r Gewißheit seiner selbst auf die u n m i t t e l b a r e , in mannigfache Seiten a u s e i n a n d e r f a l l e n d e E i n z e l n h e i t des Objectes sich bezieht, — die Anschauung dagegen ein von der Gewißheit der V e r n u n f t e r f ü l l t e s Bewußtseyn ist, dessen Gegenstand die Bestimmung hat, ein V e r n ü n f t i g e s , folglich nicht ein in verschiedene Seiten auseinandergerissenes E i n z e l n e s , sondern eine T o t a l i t ä t , e i n e z u s a m m e n g e h a l t e n e F ü l l e von Bestimmungen zu seyn. In diesem Sinne sprach S c h e l l i n g früherhin von i n t e l l e c t u e l l e r A n s c h a u u n g . Geistlose Anschauung ist bloß sinnliches, dem Gegenstande äußerlich bleibendes Bewußtseyn. Geistvolle, wahrhafte Anschauung dagegen erfaßt die g e d i e g e n e S u b s t a n z des Gegenstandes." 231 230
231
Die Termini ,Inbegriff', ,'Teilbegriff' und ,Oberbegriff', .Unterbegriff' werden hier in Anführungszeichen geschrieben, um insbesondere sie als Ausdrücke zu kennzeichnen, die — ebenso wie die Adjektive reich, arm, weit, eng etc. - nicht zum B e g r i f f d e s B e g r i f f s gehören, sondern nur leihweise verwendet werden, um die V o r s t e l l u n g e n d e s B e g r i f f s zu verdeutlichen, die der spekulativen Betrachtung der Bewegung des Begriffs als Anhaltspunkt dienen sollen. Ich habe mich bemüht, mich in der Terminologie nicht weiter von Hegel zu entfernen, als es mir — in kritischer Rücksicht — nötig schien, um gewisse Momente des Begriffs klarer sehen zu können. S W Bd. 10, 324/5.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Das , a n s c h a u l i c h e ' , d.h. das .ästhetische* oder besser gesagt vielleicht das q u a l i t a t i v e Moment der K o m p r e h e n s i o n läßt sich von dem , b e g r i f f l i c h e n ' , d.h. , l o g i s c h e n ' bzw. q u a n t i t a t i v e n Moment insofern nicht isolieren, als es um die einzelne Anschauung (der Einbildungskraft) geht, die dadurch m a ß g e b e n d ist, daß ihr Begriff von ihr e r f ü l l t wird (durch sie s i n n v o l l wird), um die Anschauung, der allein der v e r n ü n f t i g e Begriff g e m ä ß ist, um ein Anschauen also, das an und für sich schon b e g r e i f e n d e s A n s c h a u e n ist, d.h. a b s o l u t e s W i s s e n oder s p e k u l a t i v e B e t r a c h t u n g . 2 3 2 Der ,Inbegriff' als der , s i n n l i c h e B e g r i f f ' ist an und für sich schon der k o n k r e t e A l l g e m e i n b e g r i f f , die absolute (innere) Form, d.h. die Form der i n n e r e n S e l b s t b e w e g u n g des Inhalts. Insofern könnte — um unserem heutigen Sprachgefühl etwas entgegenzukommen, ohne dabei die Etymologie des Wortes „Idee" ganz in Vergessenheit geraten zu lassen — sowohl in Hinblick auf die von Hegel hervorgehobenen zwei entgegengesetzten Bedeutungen des Wortes „Sinn" 2 3 3 als auch im Hinblick darauf, daß der Begriff „Sinn" sinnvoll nicht hinterfragt und auf einen anderen Begriff zurückgeführt werden kann, anstatt von der (absoluten) „Idee" vielleicht auch vom „Sinn" gesprochen werden. 234 In Rücksicht auf Kants Ausführungen in den Absätzen 18—22 des Anhangs zur transzendentalen Dialektik 235 sowie den Paragraphen 11 — 15 seiner Logik 2 3 6 wäre zu prüfen, inwiefern zur Vergegenwärtigung des ganzen spekulativen Sinnes der Gleichsetzung von Subjekt und Prädikat einerseits das Prädikat des Satzes „Die absolute Idee allein ist das Sein" als „conceptum summum" verstanden werden kann, das Subjekt dagegen als „conceptum infimum", als „conceptum omnimode determinatum", — d.h. als „ A n s c h a u e n " 2 3 7 — insofern nämlich, als die absolute Idee, die alle 232 Yg]
we
i t e r oben, Kap. 1,2 dieser Arbeit.
SW Bd. 12, 182/3, vgl. die Bemerkung zum Begriff des Scheins im I. Kapitel dieser Arbeit. 234 yg] d a g e g e n Jen Deutungsversuch von W. Flach: „Das Denken besitzt zwei unterschiedliche Themata: Sinn und Sein. Sein ist das Thema des objektivierenden, d.h. gegenstandsbestimmenden Denkens (von Hegel abgehandelt im ersten Buch der L o g i k : in der Lehre vom Sein). Sinn ist das Thema des reflektierenden d.h. des sich selbst vergewissernden Denkens (von Hegel abgehandelt im zweiten Buch der L o g i k : in der Lehre vom Wesen)." W. Flach, Hegels dialektische Methode, in Hegel-Studien, Beiheft 1, 57/8. Zur Deutung der absoluten Idee als Sinn vgl. auch die Arbeit von K. Harlander, Absolute Subjektivität und kategoriale Anschauung, a.a.O., insbes. 19, 23—32, 58f. und 66f.
233
235 236 237
Vgl. K.r.V., A 655/ В 683 - А 659/ В 687 ( 6 1 4 - 6 1 7 ) . Vgl. Kants Schriften. Werke IX, 9 7 - 9 9 . Vgl. SW Bd. 8, § 214, 427 und § 244, 451/2.
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Wahrheit und das G a n z e ist, nach der Seite ihrer I n d i v i d u a l i t ä t als „atome Subjektivität" 238 , als „individuelle Persönlichkeit" 239 betrachtet werden kann. 2 4 0 Zurückkommend auf die Betrachtung des absoluten Verhältnisses der Satzteile bleibt festzuhalten: Die inhaltliche und zugleich formale, d.h. konspektive Betrachtung der Begriffe als ursprüngliche Teile des Satzes, die Betrachtung des Gegenstoßes ihres Inhalts zu ihrer Form ist die spekulative Betrachtung der dialektischen Bewegung des Begriffs. (Anstelle von spekulativer Betrachtung der B e w e g u n g des Begriffs kann auch von der spekulativen Betrachtung der M e t h o d e gesprochen werden. Es wird zu zeigen sein, daß die s p e k u l a t i v e M e t h o d e der spekulativen Idee die B e w e gung des Begriffs im s p e k u l a t i v e n S a t z ist. 2 4 1 ) Der i m m a n e n t e Rhythmus der absoluten Idee als der sich wissenden Wahrheit ist es, in sich zu gehen, indem sie sich als unmittelbares Subjekt eines z u f ä l l i g in i h m enthaltenen Prädikats ü b e r s c h r e i t e t und sich von sich aus der n o t w e n d i g e n Bestimmung und Vermittlung durch das Prädikat u n t e r w i r f t . Die absolute Idee als wissendes Subjekt ü b e r s e t z t (überträgt) sich in das ihr jeweils g e m ä ß e (entsprechende) Prädikat. In dem Satz „Die absolute Idee ist das Sein" ζ. B. ist die k o n k r e t e s t e , ihrem Inhalt nach r e i c h s t e oder t i e f s t e — ihrer Form nach aber e n g s t e — logische Bestimmung d e r a b s t r a k t e s t e n , ihrer Form nach w e i t e s t e n oder b r e i t e s t e n — ihrem Inhalt nach aber ä r m s t e n und oberflächlichsten Bestimmung gleichgesetzt. Der Meinung übrigens, die absolute Idee sei, weil sie alle anderen Kategorien der Logik in sich aufgehoben hat, die o b e r s t e K a t e g o r i e , wäre zunächst mit größerem Recht entgegenzuhalten, daß die konkreteste, bestimmteste Kategorie — wenn man schon meint, ihren Inhalt und ihre Log. II, 484. A . a . O . , 220, vgl. auch a.a.O., 260/1 und 502. 240 Vgl. weiter unten die Ausführungen in Kap. 11,3 dieser Arbeit. H . Schmitz hat in den Untersuchungen seines Buches „Hegel als Denker der Individualität" zu beweisen versucht, daß der u. A. von Th. Litt erhobene Vorwurf, Hegel habe den Anspruch des Individuellen nicht genügend berücksichtigt in solcher Allgemeinheit vorschnell und einseitig formuliert ist und daß Hegels Denken vielmehr gerade durch das Ringen um Anerkennung und Bewahrung der Individualität entscheidend bestimmt ist. (Vgl. a.a.O., 15). Hegel habe den heroischen Versuch unternommen, den alten Satz „Individuum est ineffabile" (vgl. auch den Brief Goethes an Lavater vom September 1780, J. W. Goethe, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hrsg. von E. Beutler, Bd. 18, Briefe der Jahre 1764—1786, 533) zu widerlegen und das logische Denken selbst so umzubilden, daß es auch Individuelles erfassen und ausdrücken könne. (Vgl. H . Schmitz, Hegel als Denker der Individualität, a.a.O., 16, vgl. auch 166). 238
239
241
Zu Log. II, 483 ff. vgl. weiter unten.
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Form trennen zu können — die tiefste, und das heißt in formaler Hinsicht aber auch die u n t e r s t e K a t e g o r i e ist. Ein Großteil der Mißverständnisse der absoluten Idee dürfte wohl daher rühren, daß die Spitze einer Begriffspyramide als ihr l o g i s c h e r O r t vorgestellt wird. In Wahrheit sind Inhalt und Form freilich nicht isoliert voneinander zu betrachten, es sei denn, es werden (soz. in heuristischer Absicht) vorübergehend verschiedene Hinsichten getrennt, wie es hier versucht wurde, um nicht — zu vornehm für Kritik - voreilig mit irgendwelchen Einsichten in die absolute Idee bei der Hand zu sein. Die absolute Idee geht in sich oder e r i n n e r t sich, indem sie heru n t e r s t e i g t oder sich äußert. Diese Äußerung ist eine solche, die als Äußerung unmittelbar wieder verschwunden ist, indem sie ist. Zur a b s o l u t e n I d e e soll hier nur noch soviel vorangeschickt werden, daß sie nicht als Endpunkt des Weges durch die Logik zu begreifen sein wird, sondern als a b s o l u t e M e t h o d e , als p r o g r e s s i v e o d e r a b s t e i g e n d e ( s y n t h e t i s c h e ) und zugleich als r e g r e s s i v e o d e r a u f s t e i g e n d e ( a n a l y t i s c h e ) Bewegung, d.h. als dialektische B e w e g u n g . 2 4 2 In den Ausführungen über die absolute Methode sagt Hegel: „Jede neue Stufe des A u ß e r s i c h g e h e n s , d.h. der w e i t e r n B e s t i m m u n g ist auch ein In-sich-gehen, und die größere A u s d e h n u n g ebensosehr h ö h e r e I n t e n s i t ä t . Das Reichste ist daher das Konkreteste und S u b j e k t i v s t e , und das sich in die einfachste Tiefe Zurücknehmende das Mächtigste und Ubergreifendste. " 2 4 3 Reflektieren wir nun nicht mehr nach Hinsichten trennend abwechselnd das eine Mal (einerseits) auf das Verhältnis des I n h a l t s des Subjekts zum Inhalt des Prädikats, demgemäß das Prädikat (als ,Teilbegriff') dem Subjekt (als , Inbegriff') i n h ä r i e r t und das andere Mal (andererseits) auf das Verhältnis der F o r m (des U m f a n g s ) des Subjekts zur Form des Prädikats, demgemäß das Prädikat (als .Oberbegriff') das Subjekt (als ,Unterbegriff') s u b s u m i e r t und dieses von jenem abhängt, sondern betrachten wir auf einmal 244 spekulativ das InhärenzVerhältnis, das den Inhalt des Urteils bzw. seiner Teile betrifft und das SubsumtionsVerhältnis, das die Form 242 243 244
Vgl. L o g . II, 503 und SW B d . 8, § 228 Zusatz, 438. L o g . II, 502. Zur absoluten Methode vgl. den dritten Teil dieses Kapitels. Die Reflexion, d . h . die e i n f a c h e R e f l e x i o n des vorstellenden Denkens könnte man insofern als eine c h r o n o l o g i s c h e B e t r a c h t u n g kennzeichnen, die Spekulation, d . h . die D o p p e l r e f l e x i o n oder absolute Reflexion des begreifenden Denkens dagegen als eine l o g i s c h e B e t r a c h t u n g .
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des Urteils bzw. seiner Teile betrifft, in ihrer Wechselbestimmung, so begreifen wir das Subsumtionsverhältnis als U m k e h r u n g des Inhärenzverhältnisses. Es kann versucht werden, diese spekulative Auffassung des Urteils bzw. Satzes auszudrücken durch die Umkehrung des Satzes. 245 Die spekulative Einsicht in die Wechselseitigkeit oder Gegenseitigkeit (zur besseren Unterscheidung von der Wesenskategorie der W e c h s e l w i r k u n g sollte genaugenommen von W e c h s e l b e s t i m m u n g gesprochen werden) von Satzform und Satzinhalt ist die Einsicht in den spekulativen Gehalt oder die absolute Form des Satzes. Faßt man nämlich das Subjekt unmittelbar als das Einzelne oder das Gemeinte und das Prädikat als das Allgemeine oder das Gesagte, so ist nicht zu übersehen, daß das G e m e i n t e , indem es f o r m u l i e r t und g e ä u ß e r t ( p r ä d i z i e r t ) wird, b e s t i m m t ist durch allgemeine G e s e t z e (z.B. der S y n t a x ) , denen es sich zu u n t e r w e r f e n hat, wenn gesagt werden soll, was gemeint ist, daß aber zugleich, wenn auch gemeint werden soll, was gesagt ist, aufs Gemeinte als V o r a u s s e t z u n g und Grundlage ( S u b j e k t ) , aufs Gemeinte insofern es das zu Sagende schon auf u n b e s t i m m t e Weise b e i n h a l t e t oder in sich begreift zurückzukommen (zu r e f l e k t i e r e n ) ist, um sich zu e r i n n e r n , was das Gesagte b e d e u t e t . Diese L o s l ö s u n g von dem W o r t als dem bloß Geäußerten (der ä u ß e r e n F o r m der Sache), die Lösung vom Wort als N a m e enthält den Gegenstoß, den zunächst nur in der Ergänzung des einzelnen Satzes durch den ihm e n t g e g e n g e s e t z t e n S a t z spekulativ darzustellenden G e g e n s a t z , der aus der f e s t e n Urteilsform des Satzes hinaus zurückversetzt in den entsprechenden Z u s a m m e n h a n g , in dem der Satz g e b r a u c h t wird. Die Betrachtung dieses inneren Zusammenhangs, des Sinnzusammenhangs als eines Kontinuums erst läßt uns im B e g r i f f sein, zur Sache zu kommen. Gewöhnlich werden Sätze n a t ü r l i c h so gebraucht, daß wir uns durch sie über das der Äußerung Widerstrebende hinwegsetzen, daß wir ihre G e s c h i c h t e (Genese) vergessen. Zum Schluß der Ausführungen über Hegels Vorbetrachtungen des Urteils möchte ich daran erinnern, daß die hier als Umkehrung des Begriffsverhältnisses der Inhärenz in das der Subsumtion a u f g e f a ß t e Bewegung des Begriffs ihre a u s d r ü c k l i c h e Darstellung findet in der Fortbestimmung des positiven Urteils durch das negative und unendliche Urteil zum Urteil der Reflexion. Das unendliche Urteil als das dialektische
245
Davon wird gleich weiter unten die Rede sein.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Resultat der vorausgehenden unmittelbaren Urteile markiert gleichsam den Wendepunkt in dieser Entwicklung. Dieses unendliche Urteil wurde bereits im ersten Kapitel dieser Arbeit im Zusammenhang mit der Erörterung des identischen Satzes erwähnt, von dem Hegel in Absatz 61 der Vorrede zur „Phänomenologie" spricht. Es wurde im Vorgriff auf die „Logik" in die Betrachtung einbezogen, weil es das unendliche Urteil ist, das als p o s i t i v - u n e n d l i c h e s U r t e i l , d.h. als i d e n t i s c h e r S a t z den G e g e n s t o ß zum p o s i t i v e n ( e n d l i c h e n ) U r t e i l enthält. Die im Zentrum der Hegeischen Besprechung des spekulativen Satzes in der „Phänomenologie" stehende Gegenüberstellung des in seiner Unmittelbarkeit in Form des positiven Urteils auftretenden gewöhnlichen Satzes und des identischen Satzes mußte freilich insofern noch als zufällig erscheinen, als weder der Fortgang in die Verschiedenheit der Urteile noch die verschiedenen Urteile als notwendig auseinander folgende dargestellt wurden. Diese Darstellung ist erst in der „Logik" geleistet. Nach dem Durchgang durch die Vorbetrachtung des Urteils und seiner Fortbestimmung ist der identische Satz nicht mehr einfach dem abstrakten positiven Urteil (dem Urteil, in dem der Formalismus des Urteils am unmittelbarsten in Erscheinung tritt) g e g e n ü b e r z u s e t z e n , sondern ist vielmehr zu erörtern als Moment des Ubergangs oder besser gesagt des U b e r s e t z e n s des Urteils der Inhärenz ins Urteil der Subsumtion. Der im positiv-unendlichen Urteil des Daseins enthaltene Gegenstoß zum positiven Urteil des Daseins wird betrachtet werden können als derjenige, der es notwendig macht, das Inhärenzverhältnis von Subjekt und Prädikat umgekehrt als Subsumtionsverhältnis zu betrachten, d. h. das Verhältnis des Inhalts und der Form der einander ergänzenden Satzteile spekulativ aufzufassen und auszudrücken. Ich möchte deshalb nun zur näheren Untersuchung des Urteils des Daseins, und zwar insbesondere des u n e n d l i c h e n U r t e i l s des Daseins kommen, das als die W a h r h e i t des e n d l i c h e n U r t e i l s (des positiven und des negativen Urteils) anzusehen ist. Was das positive und das negtive Urteil anbetrifft, so möchte ich mich, da von ihnen bereits bei der Interpretation der Anmerkung 2 des ersten Kapitels der „Logik" die Rede war, auf eine kurze Darstellung beschränken, die mir im Hinblick auf das Folgende notwendig zu sein scheint. — Ohnehin geht es mir um die Herausarbeitung von Schwerpunkten, nicht um die Vollständigkeit des Kommentars.
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Das positive und das negative Urteil (Log. II, 3. Buch, 1. Abschnitt, 2. Kapitel, A.a und A . b , 2 7 2 - 2 8 4 ) Der erste reine Ausdruck des positiven Urteils, der Satz: „Das Einzelne ist allgemein" drückt das Urteil seiner Form nach aus, der ebenso im positiven Urteil ausgesprochene „umgekehrte Satz" 2 4 6 dagegen drückt das Urteil seinem Inhalt nach aus. „Der Satz des Urteils lautet daher nach dieser Seite so: das A l l g e m e i n e ist e i n z e l n . " 2 4 7 „. . . und zwar gehört das, was der erste Satz: das Einzelne ist allgemein, enthält, zur Form, weil er die u n m i t t e l b a r e B e s t i m m t h e i t des Urteils ausdrückt. Das Verhältnis dagegen, das der andere Satz ausdrückt: das A l l g e m e i n e ist e i n z e l n , oder daß das Subjekt als allgemeines, das Prädikat dagegen als besonderes oder einzelnes bestimmt ist, betrifft den I n h a l t , weil sich seine Bestimmungen erst durch die Reflexion-in-sich erheben, wodurch die unmittelbaren Bestimmtheiten aufgehoben werden und hiemit die Form sich zu einer in sich gegangenen Identität, die gegen den Formunterschied besteht, zum Inhalte macht." 2 4 8 Zwar spricht das positive Urteil dies aus: „das E i n z e l n e ist a l l g e m e i n und u m g e k e h r t " 2 4 9 , aber das nicht-spekulative Denken hat dabei nacheinander entweder den einen oder den anderen Satz im Blick. Erst im Augenblick der Spekulation kann es den einen sowohl als auch den anderen für die jeweilige Vorstellung zurückliegenden sozusagen unverwandt im Auge haben. Zum Abschluß seiner Betrachtung über das positive Urteil faßt Hegel, überleitend zum negativen Urteil zusammen: „Das Urteil also e r s t e n s nach seiner F o r m betrachtet, heißt es: D a s E i n z e l n e ist a l l g e m e i n . Vielmehr aber ist ein solches u n m i t t e l b a r e s Einzelnes n i c h t allgemein; sein Prädikat ist von weiterem Umfang, es entspricht ihm also nicht. Das Subjekt ist ein u n m i t t e l b a r f ü r sich s e i e n d e s und daher das G e g e n teil jener Abstraktion, der durch Vermittlung gesetzten Allgemeinheit, die von ihm ausgesagt werden sollte. Z w e i t e n s das Urteil nach seinem I n h a l t betrachtet oder als der Satz: D a s A l l g e m e i n e ist e i n z e l n , so ist das Subjekt ein Allgemeines von 246 247
248 249
Log. II, 275. A . a . O . , 275. L. Eley hat übrigens darauf aufmerksam gemacht, daß Hegel hier nicht vom U r t e i l , sondern vom Satz des U r t e i l s spricht. Vgl. L. Eley, Hegels Wissenschaft der Logik, a.a.O., 169. Log. II, 276/7. A . a . O . , 278.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Qualitäten, ein Konkretes, das unendlich bestimmt ist, und indem seine Bestimmtheiten nur erst Qualitäten, Eigenschaften oder Akzidenzen sind, so ist seine Totalität die s c h l e c h t u n e n d l i c h e V i e l h e i t derselben. Ein solches Subjekt ist daher vielmehr nicht eine e i n z e l n e solche Eigenschaft, als sein Prädikat aussagt. Beide Sätze müssen daher v e r n e i n t werden und das positive Urteil vielmehr als n e g a t i v e s gesetzt werden." 2 5 0 Die Dialektik von Form und Inhalt, die sich bereits in der Interpretation der Absätze 58ff. der Vorrede zur „Phänomenologie" wie der Anmerkung 2 des ersten Kapitels der Seinslogik als das wesentliche Moment des Spekulativen des Satzes erwies, erscheint nun zu Anfang des Fortgangs des Urteils in die Verschiedenheit der Urteile bereits in der Gegenübersetzung der Ausdrucksweisen des positiven Urteils selbst, ferner in der Gegenübersetzung des positiven Urteils und des negativen Urteils, sowie in der der Urteile der Inhärenz und der Urteile der Subsumtion. Die einzelnen Ausdrücke sind, aus dem systematischen Zusammenhang ihrer Verwendung gerissen, jeweils einseitig und verkehrt (d.h. hier falsch) gebraucht. Bei ihrem spekulativen, vernünftigen Gebrauch aber vollzieht sich mit logischer Notwendigkeit ihre Umkehrung, d.h. die Ubersetzung des einen Ausdrucks in den anderen. Form und Inhalt des positiven Urteils widersprechen sich. Ihre D i a l e k t i k kommt in den einander w i d e r s p r e c h e n d e n Fassungen des positiven Urteils zum Ausdruck. In diesem Widerspruch besteht die Unwahrheit des positiven Urteils. 2 5 1 Weil Form und Inhalt sich nicht e n t s p r e c h e n , kann es wohl richtig aber nicht wahr sein. Es kann das S p e k u l a t i v e nicht fassen. Das positive Urteil hat seine Wahrheit zunächst im negativen Urteil. Vorgreifend könnte man auch sagen, daß das positive Urteil als negatives Urteil zu setzen ist, weil die absolute Kontinuität (die absolute Zweckmäßigkeit oder Affinität, die die innerlogische Form ausmacht, in der Subjekt und Prädikat nicht mehr als Unmittelbares und Vermitteltes, das als Mittel auf jenes ,abzweckt', gegenüberstehen) der Extreme des Urteils noch nicht ausgedrückt ist, sondern das positive Urteil bloß in der äußerlichen Form der Beziehung der Extreme die Trennung von Subjekt und Prädikat enthält, als bloße Voraussetzung die Sonderung von Subjekt und Prädikat an sich hat, die im negativen Urteil folglich zunächst einmal zu setzen (d.h. zu thematisieren) ist. Rückblickend auf die Unmittelbarkeit des Anfangs mit dem positiven 250 251
Log. II, 277/8. Vgl. SW Bd. 8, § 172, 372/3.
Das Urteil
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Urteil, in dem die Identität von Subjekt und Prädikat gesetzt war, von dem ebenso wesentlichen Moment der Nichtidentität und Geteiltheit aber abstrahiert wurde, kann die Kritik des positiven Urteils durch das negative Urteil deshalb als die nächste Wahrheit des Urteils — als der gesetzten Besonderheit des Begriffs 2 5 2 — betrachtet werden. „ D a s positive Urteil hat seine Wahrheit zunächst in dem negativen: D a s E i n z e l n e ist n i c h t abstrakt a l l g e m e i n , - s o n d e r n das Prädikat des Einzelnen ist darum, weil es solches Prädikat oder, für sich ohne Beziehung auf das Subjekt betrachtet, weil es a b s t r a k t — Allgemeines ist, selbst ein Bestimmtes; das E i n z e l n e ist daher z u n ä c h s t ein B e s o n d e r e s . Ferner nach dem andern Satze, der im positiven Urteile enthalten ist, heißt das negative Urteil das A l l g e m e i n e ist nicht abstrakt e i n z e l n , s o n d e r n dies Prädikat, schon weil es Prädikat ist, oder weil es in Beziehung auf ein allgemeines Subjekt steht, ist ein Weiteres als bloße Einzelheit, und das A l l g e m e i n e ist daher gleichfalls z u n ä c h s t ein B e s o n d e r e s . — Indem dies Allgemeine, als Subjekt, selbst in der Urteilsbestimmung der Einzelnheit ist, so reduzieren sich beide Sätze auf den einen: D a s E i n z e l n e i s t ein B e s o n d e r e s . " 2 5 3 Das ist der positive Ausdruck des negativen Urteils. 2 5 4 Dieser Ausdruck ist nicht nur als positives Urteil zu betrachten, 2 5 5 sondern auch als negatives. Die Bestimmung des Besonderen ist nicht nur als Moment des Extrems des Prädikats zu nehmen, das mit dem 252 253 254
255
Vgl. a.a.O., § 165 und § 166, 362ff. Log. II, 279. Die Ausdrücke „ D a s Einzelne ist nicht abstrakt allgemein" und „das Allgemeine ist nicht abstrakt einzeln" können als die negativen Ausdrücke des negativen Urteils angesehen werden. Insofern der positive Ausdruck des negativen Urteils betrachtet würde als positiver Ausdruck des negativen Urteils „Das Einzelne ist nicht abstrakt allgemein", des negativen Urteils also, das die Negation des positiven Urteils ist, das das positive Urteil seiner Form nach ausdrückt, würde die Seite betont, nach der das positive Urteil durch seine Form keine Wahrheit hat und deshalb zu negieren und als negatives Urteil zu setzen ist. — Man könnte ferner auch Betrachtungen der Art anstellen, daß das Urteil „das Einzelne ist ein Besonderes" der positive Ausdruck ist, der das negative Urteil seiner Form nach ausdrückt, während das umgekehrte Urteil „das Besondere ist ein Einzelnes" als der positive Ausdruck angesehen werden könnte, der das negative Urteil seinem Inhalt nach ausdrückt. Das wäre immerhin ein Versuch der Verdeutlichung dessen, daß nicht nur das positiv endliche, sondern auch das negativ endliche Urteil — das hier wieder als positives auftritt — seiner Form und seinem Inhalt nach noch zu unterscheiden ist, was sowohl beim positiv unendlichen als auch beim negativ unendlichen Urteil in dieser Weise nicht mehr der Fall ist. Die Umkehrung des positiven wie des negativen Ausdrucks des unendlichen Urteils ist jeweils mit dem Ausdruck selbst identisch. Die Betrachtung nach der Form fällt hier offenbar mit der Betrachtung nach dem Inhalt zusammen. Vgl. Log. II, 279/80 und SW Bd. 8, § 172, 372.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Subjekt i n e i n s g e s e t z t wird, sondern auch — „wie sie eigentlich zunächst ist" 2 5 6 — als Bestimmung der Beziehung, insofern sie ebenso wesentlich T r e n n u n g der Extreme ist. Ebenso wenig freilich darf das Besondere — als das zwischen Einzelnem und Allgemeinem Vermittelnde — nur als Abgrenzung des Subjekts vom Prädikat gesehen werden, sondern es müßte wenigstens ebensosehr als deren Angrenzung vorgestellt werden. Zusammen müßte aber vielmehr — wenn schon an die Seinsbestimmung der Grenze erinnert wird — die Grenze als dasjenige gefaßt werden, worin die Begrenzten ebensosehr sind als nicht sind. Rücksichtlich des negativen Ausdrucks des negativen Urteils „Das Einzelne ist nicht abstrakt allgemein" bedeutet das, daß dieser Ausdruck nicht unmittelbar positiv nur so aufzufassen ist, daß das „Nicht" zum Prädikat geschlagen wird (Das Einzelne ist das Nicht-Allgemeine bzw. Das Einzelne ist nicht-allgemein), sondern vielmehr negativ auch so, daß das „Nicht" zur Kopula gezogen wird (Das Einzelne ist-nicht das Allgemeine bzw. das Einzelne ist-nicht allgemein). Anders gesagt: Die Bestimmung des Extrems als eines sich in sein anderes Kontinuierendes ist ebensosehr bestimmte Beziehung, Kontinuation der Extreme des Urteils ineinander. Die positive Form des negativen Urteils nun, in der das Nicht-Allgemeine als das Besondere gefaßt ist, 2 5 7 drückt zwar aus, daß das Urteil in dieser Form noch positiv ist, ebensosehr aber auch, daß das in dieser Form auftretende Urteil nicht mehr nur das positive Urteil ist, das sein Ende und seine Vollendung im negativen Urteil fand. In Hinblick auf die Hegeische Unterscheidung eines positiven und eines negativen Ausdrucks des negativen Urteils kann es an dieser Stelle dienlich sein, an die Kantische Bestimmung des unendlichen Urteils zu erinnern. In § 22 der „Logik" 2 5 8 heißt es: „ Q u a l i t ä t der U r t h e i l e : B e j a h e n d e , V e r n e i n e n d e , U n e n d l i c h e . D e r Q u a l i t ä t n a c h sind die Urtheile entweder b e j a h e n d e oder v e r n e i n e n d e oder u n e n d l i c h e . Im b e j a h e n d e n Urtheile wird das Subject 256 257
Log. II, 280. Wird schon im Dasein das begrifflose Nichts zur „ G r e n z e " (Log. II, 281) und bezieht sich in der Reflexion das Negative wesentlich auf ein Positives, so ist in der „absolut flüssigen Kontinuität des Begriffs" (a.a.O., 282) das „ N i c h t " unmittelbar ein Positives, das Nicht-allgemeine sogleich das B e s o n d e r e . Vgl. dazu K . r . V . , A 574/ В 602 (553/4): „Die logische Verneinung, die lediglich durch das Wörtchen: Nicht, angezeigt wird, hängt eigentlich niemals einem Begriffe, sondern nur dem Verhältnisse desselben zu einem anderen im Urteile an, und kann also dazu bei weitem nicht hinreichend sein, einen Begriff in Ansehung seines Inhaltes zu bezeichnen. Der Ausdruck: Nichtsterblich, kann gar nicht zu erkennen geben, daß dadurch ein bloßes Nichtsein am Gegenstande vorgestellt werde, sondern läßt allen Inhalt unberührt."
258
Kants Schriften. Werke I X , Logik, 103/4.
Das Urteil
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u n t e r der Sphäre eines Prädicats gedacht, im v e r n e i n e n d e n wird es a u ß e r der Sphäre des letztern gesetzt, und im u n e n d l i c h e n wird es in die Sphäre eines Begriffs, die außerhalb der Sphäre eines andern liegt, gesetzt." Im unendlichen Urteil im Kantischen Sinne verhält es sich also nicht so, daß das Subjekt nicht unter der Sphäre eines Prädikats enthalten sondern daß das Subjekt außer der Sphäre des Prädikats irgendwo in unendlichen Sphäre liegt. Das unendliche Urteil stellt so die Sphäre Prädikats als beschränkt vor.
nur ist, der des
Das Urteil: Die menschliche Seele ist nichtsterblich ist z . B . ein unendliches Urteil im Sinne Kants, denn es wird durch dieses Urteil nicht bestimmt, unter welchen Begriff die Seele fällt, sondern nur, daß sie in die Sphäre gehört, die außerhalb der Sphäre des Sterblichen liegt. Erstere ist aber nach Kant eigentlich gar keine Sphäre, sondern nur die „ A n g r e n z u n g e i n e r S p h ä r e an das U n e n d l i c h e oder die B e g r e n z u n g selbst."2582 Interessant im Hinblick auf Hegels Begründung des Ubergangs vom negativen Ausdruck des negativen Urteils: Das Einzelne ist nicht (abstrakt) allgemein bzw.: Das Allgemeine ist nicht (abstrakt) einzeln zum positiven Ausdruck des negativen Urteils: Das Einzelne ist ein Besonderes25815 ist die dritte Anmerkung zum § 22 der Kantischen Logik, in dem ausgeführt wird, daß in den verneinenden Urteilen die Negation die K o p u l a affiziere, in den unendlichen Urteilen dagegen das P r ä d i k a t . Das von Kant wohl im Hinblick auf den Trugschluß auf die Immortalität der Seele an verschiedenen Stellen herangezogene Beispiel für ein unendliches Urteil: die Seele ist nichtsterblich 259 exemplifiziert, daß Kant unter einem unendlichen Urteil etwas anderes versteht als Hegel. 2 6 0 Von 2581 258b
Ebenda. V g l . insbes. die Absätze 5 und 6 des Kapitels über das negative Urteil, L o g . II, 2 8 0 - 2 8 2 . D e r Hegeischen Argumentation, nach der sich der formale und der inhaltliche negative Ausdruck des negativen Urteils auf den m. E . bloß formalen positiven Ausdruck des negativen Urteils reduziert und sich die Bestimmung der Besonderheit somit nur für das Prädikat ergibt, (vgl. a . a . O . , 2 7 9 ) vermag ich nicht zu folgen.
259 Vgl. vor allem K . r . V . , A 72/ В 9 7 (112) und A n m . 2, ebenda. Die Lesart von Erdmann scheint mir die richtige zu sein. 260
Insbesondere im Hinblick auf die Abweichung von der Kantischen Terminologie vertritt H . Schmitz die Auffassung, daß Hegel seinen Begriff des unendlichen Urteils in der Jenaer Zeit an seine Lehre vom Unendlichen überhaupt angelehnt und deshalb jenen Namen mit einem der Uberlieferung nicht geläufigen Begriff verbunden habe. (Vgl. H . Schmitz, Hegel als Denker der Individualität, a . a . O . , 115ff.) D e m ist m . E . mit dem kritischen Zusatz zuzustimmen, daß in der Unendlichkeit des vom endlichen Urteil wie auch v o m positiv unendlichen Urteil isolierten negativen unendlichen Urteil der A r t „die Rose ist kein Elefant" (Log. II, 2 8 4 ) nicht die wahrhafte, sondern zunächst bloß die schlechte Unendlich-
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Hegels Deutung ausgehend stellt sich der Unterschied so dar, daß Kant nicht nur nicht zum unendlichen Urteil, sondern allererst auch nicht zum positiven Ausdruck des negativen Urteils fortgegangen, sondern vielmehr an einer Auffassung festgehalten hat, die hier als positive Auffassung des negativen Ausdrucks des negativen Urteils bezeichnet wurde. Kant hat damit an der von Hegel sogenannten „schlechten", d.h. abgesonderten (diskreten) Unendlichkeit der Sphäre des der endlichen Bestimmtheit unvermittelt gegenübergesetzten unbestimmten Nicht-Allgemeinen festgehalten. Die Gedanken des bejahenden und des verneinenden Urteils, aus deren Verbindung das unendliche Urteil entspringen soll, sind nicht zusammengehalten, sondern lediglich äußerlich miteinander verbunden. (Das in Form des unendlichen Urteils als positives Urteil auftretende negative Urteil darf nach Kant nicht als positive Bestimmung des Begriffs der Seele in Ansehung seines realen Inhalts mißverstanden werden.) An dieser Stelle soll noch einmal an die Betrachtung dessen, was Hegel als den positiven Ausdruck des negativen Urteils aufgefaßt hat, angeknüpft werden. Der als positives wie als negatives Urteil zu betrachtende positive Ausdruck des negativen Urteils, in dem z . B . nicht einfach verneint wird, daß diese Rose eine rote Farbe hat, sondern ihr eine andere, die Eigenart (die Besonderheit) ihrer Farbe besser bestimmende Farbe zugesprochen wird, ist an und für sich schon — wenn auch noch in Form einer Voraussetzung (in der Bestimmung des bloßen An-Sich oder Fürunsseins), der Ausdruck der „unendliche(n) Rückkehr der Einzelheit in sich selbst" 2 6 1 , die im unendlichen Urteil — als der Reflexion des Urteils des Daseins in sich selbst — gesetzt ist, in dem z . B . die besondere Farbe d i e s e r Rose konkret als Rosenfarbe bestimmt wird. Die Wahrheit dieses Urteils ist darin zu sehen, daß es die Notwendigkeit der Umkehrung der Richtung des gewöhnlichen Satzverlaufs und der Erinnerung des Subjekts vor Augen führt. Zur Ver-
261
keit zu sehen ist. Dieses schlechte' unendliche Urteil, das Hegel in der „Wissenschaft der L o g i k " (vgl. a . a . O . , 2 8 4 f f . ) und in der „Enzyklopädie" (vgl. SW Bd. 8, § 173, 373 ff.) im Auge hat, ist nicht das .wahrhaft' unendliche Urteil, „dessen Seiten jede die selbstständige Totalität sind, und eben dadurch, daß jede sich dazu vollendet, in die andere eben so sehr übergegangen ist." ( A . a . O . , § 2 1 4 , 428. Vgl. H . Schmitz, Hegel als Denker der Individualität, a . a . O . , 110. Vgl. dazu weiter unten.) - Die Tatsache, daß Schmitz auch in dem Satz von der Einheit des Seins und des Nichts am Anfang der „ L o g i k " ein unendliches Urteil erblickt (vgl. a . a . O . , 164), scheint m . E . darauf hinzudeuten, daß er dem unendlichen Urteil eine Bedeutung zuerkannt hat, die in Wahrheit dem spekulativen Satz zukommt. L o g . II, 283. Vgl. a . a . O . , 285.
Das Urteil
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deutlichung der Fortbestimmung des Urteils vom positiven endlichen zum positiven unendlichen Urteil möchte ich versuchen, diese fortschreitende Bestimmung noch einmal mit Hilfe einiger Beispiele zu rekapitulieren. Nimmt man für das positive Urteil (das Einzelne ist allgemein) das Beispiel „die(se) Rose ist rot" 2 6 2 auf und für das negative Urteil (das Einzelne ist nicht (abstrakt) allgemein) das Beispiel „diese Rose ist nicht rot", so würde die positive Auffassung dieses negativen Ausdrucks des negativen Urteils (das Einzelne ist nicht-allgemein) durch das Beispiel „diese Rose ist nichtrot" verdeutlicht. Die Farbe der Rose ist so als das ganz unbestimmte Nicht-Rote bestimmt. Soll nun aber nicht an dem bloß unbestimmten Umfang dieses kontradiktorischen Gegenteils des positiven Begriffs festgehalten und das Subjekt nicht einfach in der (schlechten) unendlichen Sphäre des Nicht-Roten irgendwo liegengelassen werden, so ergibt sich als unmittelbare Konsequenz der Farbbestimmung der Rose, das Nicht-Allgemeine als Besonderes zu nehmen. Als Beispiel für den sich damit ergebenden positiven Ausdruck des negativen Urteils (das Einzelne ist ein Besonderes) scheint mir nun ein Urteil der Art,diese Rose ist weiß' zunächst schon deshalb schlecht geeignet, weil hier etwas ebenso abstrakt Allgemeines prädiziert wird wie zu Anfang im positiven Urteil. (Eine solche Korrektur der Farbbeurteilung wäre etwa im Fall einer grundlegenden anfänglichen Täuschung denkbar.) Es wäre ein Beispiel zu finden, in dem der Versuch zum Ausdruck käme, zu einer konkreteren Farbbestimmung zu kommen als zu Anfang. Die Besonderheit der Farbe der Rose könnte nun darin bestehen, daß sie ins Rote ü b e r g e h t , daß sie weder rot noch nicht-rot ist, daß der U n t e r s c h i e d dieser nicht ,ganz' roten Farbe zum Roten u.U. nur v e r s c h w i n d e n d gering ist. Diese Farbe läge gleichsam auf der Grenze zwischen dem Roten und dem Nicht-Roten, trennte also nicht nur beide Bereiche, sondern stellte zugleich deren V e r m i t t l u n g und K o n t i n u a t i o n dar. Vielleicht wäre als Beispiel hierfür das Urteil ,diese Rose ist rötlich' nicht ganz schief. Das der Identität seines Subjekts und seines Prädikats wegen als Urteil zerfallende positiv unendliche Urteil,diese Rose ist rosenfarbig' schließlich kann als Ergebnis des fortschreitenden Versuchs der Bestimmung bzw. Beurteilung der Individualität der Rose gesehen werden. Gerade der Widersinn dieses Urteils kann dazu führen, diese Rose nicht länger als Fall zu betrachten, sondern als Rose und als nichts weiter. (Das unendliche Urteil könnte so als Resultat einer ästhetischen Reflexion genommen 2
« Vgl. Log. II, 274 und SW Bd. 8, § 172, 372, aber auch a.a.O., 373 und SW Bd. 3, § 16,149.
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werden. In ihr wird die Rose nicht als etwas betrachtet, das zur Klasse der roten Gegenstände gehört, wie z.B. auch reife Tomaten.) So gesehen, als Resultat des zurückgelegten Weges positiven und negativen Bestimmens, als Reflexion der Einzelheit in sich, ist das unendliche Urteil wahrer, d. h. konkreter als ein endliches Urteil. Der nicht spekulative Verstand hält an der Vorstellung der Natur des Urteils oder Satzes fest, die spekulative Vernunft betrachtet diese Natur im Spiegel ihrer logischen Entwicklungsgeschichte; sie betrachtet den Bildungsprozeß des Urteils. Das unendliche Urteil ist die Wahrheit über das endliche Urteil, insofern es spekulativ als das ,wahrhafte' unendliche Urteil a u f g e f a ß t werden kann, in dem das endliche Urteil aufgehoben ist. (Die Identität des w a h r haften' positiv unendlichen Urteils wäre die absolute, spekulative Identität der Vernunft.) Man bedarf nur zu wissen, was man sagt, um im unendlichen Urteil — z.B. in dem Urteil ,diese Rose ist rosenrot' — das in ihm versteckte endliche Urteil zu finden. Die Unwahrheit des unendlichen Urteils jedoch besteht darin, daß es das verborgen in ihm steckende endliche Urteil nicht explizit a u s d r ü c k t , weshalb das unendliche Urteil — ,diese Rose ist rosig' — ebensogut nicht spekulativ als ein getrennt und zusammenhanglos neben bzw. außer dem endlichen Urteil — ,diese Rose ist rot' — stehendes schlechtes' unendliches Urteil und somit selbst wie ein endliches Urteil aufgefaßt werden kann und zunächst auch aufgefaßt werden wird. (Die Identität des schlechten' positiv unendlichen Urteils ist die abstrakte Identität des Verstandes.) Das endliche Urteil, das nicht wir (die äußere Reflexion) im unendlichen Urteil finden, sondern das sich selbst in diesem findet bzw. gefunden hat, ist nicht mehr das unreflektierte endliche Urteil, sondern bereits das Urteil, das die Wahrheit über das unendliche wie das endliche Urteil ist: das Urteil der Reflexion, das das revidierte Urteil des Daseins ist. — „ D a s E i n z e l n e ist B e s o n d e r e s , nachdem positiven Ausdrucke des negativen Urteils. Aber das Einzelne ist auch n i c h t Besonderes 263 ; denn die Besonderheit ist von weiterem Umfange als die Einzelheit; sie ist also ein Prädikat, das dem Subjekt nicht entspricht, in dem es also seine Wahrheit noch nicht hat. D a s E i n z e l n e ist n u r E i n z e l n e s , die sich nicht auf Anderes, sei es positiv oder negativ, sondern nur sich auf sich selbst beziehende Negativität. — Die Rose ist nicht i r g e n d e i n Farbigtes, sondern sie hat nur die bestimmte Farbe, welche Rosenfarbe ist. Das Einzelne ist nicht ein unbestimmt Bestimmtes, sondern das bestimmte Bestimmte." 2 6 4 263
Vgl. SW Bd. 3, § 60, 181.
264
Log. II, 283.
Das Urteil
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Erst indem das Subjekt sich als das sich selbst Gleiche ergeben hat, ist sein Prädikat nicht mehr von weiterem Umfang, sondern hat sich seinerseits mit dem Subjekt „ausgeglichen". 265 „Das Urteil heißt insofern: D a s E i n z e l n e ist e i n z e l n . - Von der andern Seite, indem das Subjekt ebensosehr als a l l g e m e i n e s anzunehmen war und sofern im negativen Urteile sich das Prädikat, das gegen jene Bestimmung des Subjekts das Einzelne ist, zur B e s o n d e r h e i t e r w e i t e r t e , und indem nun ferner die Negation dieser B e s t i m m t h e i t ebensosehr die R e i n i g u n g der Allgemeinheit ist, welches es enthält', so lautet dies Urteil auch so: D a s A l l g e m e i n e ist das A l l g e m e i n e . " 2 6 6 In diesen beiden voneinander unterschiedenen identischen Sätzen 267 , d.h. unendlichen Urteilen sind die beiden das positiv endliche Urteil seiner Form und seinem Inhalt nach ausdrückenden Sätze aufgehoben. 268 Die Urteile: „Das Einzelne ist Einzelnes" und „Das Allgemeine ist Allgemeines" sind die abstrakten Ausdrücke des positiv unendlichen Urteils. Als abstrakte Ausdrücke des negativ unendlichen Urteils sind wohl entsprechend die Urteile: Das Einzelne ist kein Einzelnes bzw. das Allgemeine ist kein Allgemeines anzusehen. Als konkrete Beispiele für die Urteile: Das Einzelne ist ein Einzelnes und Das Einzelne ist kein Einzelnes könnte man die richtigen Urteile: Die Rose ist eine Rose und: Die Rose ist keine Tomate nehmen. Zur weiteren Verdeutlichung des Zusammenhangs des positiven und des negativen Ausdrucks des unendlichen Urteils wären noch die entsprechenden falschen Urteile: Die Rose ist eine Tomate und: Die Rose ist keine Rose hinzuzufügen. Alle diese Feststellungen — die hier als falsch bezeichneten wie die als richtig bezeichneten — sind als einseitige, isolierte 2683 unwahr. 2 6 7 Vgl. L o g . II, 2 7 6 / 7 und 285. Ebenda. A . a . O . , 284. 268 M i r scheint, daß man nicht erst bei dem Vergleich der Hegeischen mit der Kantischen Darstellung des unendlichen Urteils auf Probleme stößt, sondern daß bereits der Vergleich der Darlegungen Hegels über diesen Gegenstand an den verschiedenen Stellen seines Werkes einige Schwierigkeiten in sich birgt. 265
So könnte man hier durch das Heranziehen des § 19 der „Propädeutik" (vgl. S W Bd. 3, 150) zu der Meinung kommen, daß die Fortbestimmung des Daseinsurteils seiner F o r m nach auf der einen Seite zum identischen Urteil, seinem Inhalt nach dagegen auf der anderen Seite zum unendlichen Urteil führe. Die genaueren Ausführungen in der „ W i s senschaft der L o g i k " über diese Fortbestimmung als Wechselbestimmung von F o r m und Inhalt scheinen mir aber deutlich zu machen, daß genaugenommen der negative Ausdruck des unendlichen Urteils (das negativ unendliche Urteil) nicht einseitig als dessen inhaltlicher Ausdruck angesehen, und dem positiven Ausdruck des unendlichen Urteils (dem identischen Urteil) als dessen formalem Ausdruck gegenübergestellt werden kann. 268a Ygl djg b e r e i t s erwähnten Ausführungen des jungen Hegel zur isolierten Reflexion, S W Bd. 1, 50 ff.
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Das unendliche Urteil (Log. II, 3. Buch, 1. Abschnitt, 2. Kapitel, A.c, 284-286) In den folgenden Ausführungen soll versucht werden, etwas deutlicher zu machen, was es mit dem unendlichen Urteil im Zusammenhang der Problematik des sogenannten spekulativen Satzes für eine Bewandtnis hat. In der Interpretation des Absatzes 61 der Vorrede zur „Phänomenologie" war ja bereits davon die Rede gewesen, daß der identische Satz den Gegenstoß zu dem gewöhnlichen Verhältnis der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat im endlichen Urteil enthält und so ein Moment im Rhythmus der dialektischen Bewegung des philosophischen Satzes ist, in dem — abstrakt ausgedrückt — die Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat hervorgehen soll. Der identische Satz ist nun näher zu betrachten. Als Resultat der Fortbestimmung des positiven und des negativen Urteils zerfällt das Urteil in sich „1) in die leere i d e n t i s c h e Beziehung; das Einzelne ist das Einzelne, — i d e n t i s c h e s Urtheil; und 2) in sich als die vorhandene völlige Unangemessenheit des Subjekts und Prädikats; sogenanntes u n e n d l i c h e s Urtheil. Beispiele von letzterem sind: der Geist ist kein Elephant, ein Löwe ist kein Tisch u.s.f. - Sätze die richtig aber widersinnig sind, gerade wie die identischen Sätze: ein Löwe ist ein Löwe, der Geist ist Geist. Diese Sätze sind zwar die Wahrheit des unmittelbaren, sogenannten qualitativen Urtheils, allein überhaupt keine Urtheile, und können nur in einem subjektiven Denken vorkommen, welches auch eine unwahre Abstraktion festhalten kann." 2 6 9 (Nimmt man als subjektives Beispiel für den identischen Satz die Feststellung „Ein Verbrecher ist ein Verbrecher", womit soviel gemeint ist wie „Ein Verbrecher ist nichts anderes als ein Verbrecher" oder „Ein Verbrecher ist und bleibt ein Verbrecher" — er verändert sich nicht —, so wird deutlich, daß dabei ausgeschlossen werden soll, daß der Verbrecher auch ein Mensch ist. Behauptet wird die abstrakte Identität des Subjekts, verleugnet wird dessen absolute Identität, die eine Identität der Identität und der Nichtidentität ist.) Das unendliche Urteil (im weiteren Sinn) zerfällt in das identische Urteil, das positiv unendliche Urteil, in dem Subjekt und Prädikat gänzlich zusammenfallen und in das unendliche Urteil (im engeren Sinn), das negativ 269
SW Bd. 8, § 173, 374.
Das Urteil
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unendliche Urteil, 2 7 0 in dem Subjekt und Prädikat gänzlich auseinanderfallen. Als objektives Beispiel für das negativ unendliche Urteil nennt Hegel das Verbrechen, da es — im Unterschied zum Rechtsstreit — nicht nur das besondere Recht, sondern die allgemeine Sphäre (sozusagen den ganzen Umfang) des Rechts und damit das Recht als Recht negiert. 271 Als weiteres Beispiel für das negativ unendliche Urteil findet sich im Zusatz zu § 173 der „Enzyklopädie" der Tod, in dem — im Unterschied zur Krankheit — „Leib und Seele sich scheiden, d. h. Subjekt und Prädikat gänzlich auseinanderfallen." 2 7 2 Nimmt man übrigens als objektives Beispiel für das negativ unendliche Urteil das Verbrechen, 273 so wäre als objektives Beispiel für das positiv unendliche Urteil vielleicht die Exekution des (menschlichen) Gesetzes zu nehmen — gedacht ist insbesondere an die Vollstreckung des Todesurteils —, deren Spitze die Inhumanität des Rechts 2 7 4 als des höchsten ist. Summum ius summa iniuria. 275 Das positiv unendliche Urteil ist der positive Ausdruck des unendlichen Urteils, das negativ unendliche Urteil der negative Ausdruck des unendlichen Urteils, 2 7 6 womit angedeutet werden soll, daß es nicht nur bei der Vorstellung der Verschiedenheit beider Ausdrücke zu belassen ist, sondern daß in der wahrhaft unendlichen Reflexion des Begriffs beide Ausdrücke zusammen in ihrer lebendigen konkreten Einheit zu fassen sind. (Betrachtet man die Urteile des Daseins insgesamt, so zeigt sich im Rückblick, daß die U r t e i l e des D a s e i n s in ihrer Einheit (bzw. in ihrer Versammlung) spekulativ als das U r t e i l des D a s e i n s begriffen werden, in dem die endlichen Urteile logisch als unendliche Urteile resp. als unendliches Urteil gefaßt werden und umgekehrt.) Zunächst wird jedoch das unendliche Urteil nicht eingesehen und ist nur der leere, d. h. äußere Schein des Urteils; 270
Die Untersuchung des unendlichen Urteils von H . Schmitz (vgl. ders., Hegel als Denker der Individualität, a . a . O . , Das unendliche Urteil und der Schluß als Prinzipien der Dialektik Hegels, § 2 Charakteristik des unendlichen Urteils bei Hegel, 104—118) bezieht sich auf das unendliche Urteil im engeren Sinne, d. h. also auf das negativ unendliche Urteil.
271
Vgl. L o g . II, 285 und SW Bd. 8, § 173, 3 7 4 / 5 ; vgl. dazu die Interpretation von B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 6/3., a . a . O . , 280ff.
272
SW Bd. 8, 375.
273
Ein weiteres objektives Beispiel für das unendliche Urteil aus der Sphäre des Rechts findet sich in § 53 der Rechtsphilosophie. Vgl. dazu die §§ 65 ff. der „Grundlinien der Philosophie des Rechts".
274
Vgl. dazu meine Bemerkungen zu Hegels Ausführungen über die sophokleische Antigone in Kap. 1,2 dieser Arbeit. Vgl. SW Bd. 8, § 81 Zusatz 1, 193 und Phä., 339. Vgl. L o g . II, 2 8 4 , vgl. bereits Jenenser Logik, 90.
275 276
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
erst in der absoluten Reflexion des spekulativen Begriffs kommt die Wahrheit des unendlichen Urteils zum Vorschein. Die beobachtende Vernunft, die im Element der Kategorie — der „Einheit des Ich und des Seins" 2 7 7 — die Bewegung des Bewußtseins wiederholte, sprach auf ihrer Spitze ihre Bestimmung in dem unendlichen Urteil aus, daß das „ S e i n des Ich ein D i n g i s t " 2 7 8 , daß das „ S e i n des G e i s t e s ein K n o c h e n i s t . " 2 7 9 Das „ u n e n d l i c h e U r t e i l , daß das Selbst ein Ding ist", ist ein Urteil, „das sich selbst aufhebt." 2 8 0 „Der Begriff dieser Vorstellung ist, daß die Vernunft sich alle D i n g h e i t , auch die rein g e g e n s t ä n d l i c h e s e l b s t ist; sie ist aber dies im B e g r i f f e , oder der Begriff nur ist ihre Wahrheit; und je reiner der Begriff selbst ist, zu einer desto albernem Vorstellung sinkt er herab, wenn sein Inhalt nicht als Begriff, sondern als Vorstellung ist, — wenn das sich selbst aufhebende Urteil nicht mit dem Bewußtsein dieser seiner Unendlichkeit genommen wird, sondern als ein bleibender Satz, und dessen Subjekt und Prädikat jedes für sich gelten, das Selbst als Selbst, das Ding als Ding fixiert und doch eins das andre sein soll." 2 8 1 Das „unendliche Urteil als unendliches" dagegen wäre „die Vollendung des sich selbst erfassenden Lebens" 2 8 2 , die erfüllte Kopulation des Subjekts und des Prädikats, es wäre das wahrhaft unendliche Urteil. Das unendliche Urteil wird als unendliches Urteil wahrhaft reflektiert, wenn es nicht als feststehenbleibender Satz genommen wird, nicht so, wie es als einzelnes unmittelbar lautet, sondern als eine sich im Vermittlungszusammenhang fortbestimmende Wendung. Die Feststellung z.B., daß das Selbst kein Ding ist, — sondern daß das Selbst vielmehr das Selbst und ein Ding ein Ding ist — ist schon richtig; wahr freilich ist dies negativ unendliche Urteil nicht überhaupt, sondern in der ganz bestimmten Rücksicht, in der in ihm die Wahrheit gesagt wird über die für falsch gehaltene Feststellung, gegen die es sich richtet. Das positiv unendliche Urteil „ I c h = I c h " — das, was der junge Hegel das Prinzip der Spekulation nannte, 283 ist zu Anfang nicht mehr als die 277 278 279
280 281 282 285
Phä. 252. A.a.O., 551, vgl. ebenda auch das umgekehrte Urteil: „ D a s D i n g ist I c h " . A.a.O., 252. Vgl. dazu H. Schmitz, Hegel als Denker der Individualität, a.a.O., 108ff., der diesen Satz in den verschiedenen Verkleidungen, in denen er in der Philosophie Hegels erscheint, näher betrachtet hat. Phä., 253. A.a.O., 254. Ebenda. Vgl. SW Bd. 1, 86 und 90.
Das Urteil
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Behauptung der abstrakten Identität des Subjekts mit sich. Dieses identische Urteil wäre erst dann als Ausdruck der absoluten Sichselbstgleichheit in der absoluten Zerrissenheit gefaßt, 284 als Ausdruck der sich in sich reflektierenden Bewegung des spekulativen Begriffs, wenn es zugleich als (negativ) unendliches Urteil begriffen würde. 2 8 5 Es ist zu bedenken, daß dieses positiv unendliche Urteil in Wahrheit das Resultat von Überlegungen zu einem negativ unendlichen Urteil sein kann — ζ. B. zu dem für falsch gehaltenen negativ unendlichen Urteil „Ich bin nicht (mehr) Ich (selbst)" — , auf das es sich rückbezieht und das es einbezieht und in sich aufbewahrt, insofern es nicht bloß die unbestimmte Negation dieses negativ unendlichen Urteils ist. Wahr ist das positiv unendliche Urteil („Ich bin Ich") in der bestimmten Rücksicht, in der in ihm die Wahrheit gesagt wird über das negativ unendliche Urteil („Ich bin nicht Ich"), bzw. in der es aus der Einsicht in die absolute Ich-Identität zur Bildung jenes Urteils kommt. Das unendliche Urteil ist kein Urteil. In ihm wird das Urteil ad absurdum geführt. Es hat sich aufgehoben. „. . . im negativ unendlichen Urteil ist der Unterschied sozusagen zu g r o ß , als daß es noch ein Urteil bliebe; Subjekt und Prädikat haben gar keine positive Beziehung aufeinander; im Gegenteil ist im positiv unendlichen nur die Identität vorhanden, und es ist wegen des ganz ermangelnden Unterschiedes kein Urteil mehr." 2 8 6 Umkehrbarkeit und Umfangsgleicbheit identischer Sätze Interessant für das Problem des spekulativen Satzes scheint mir die Frage nach der U m k e h r b a r k e i t identischer Sätze im Hinblick auf deren U m f a n g s g l e i c h h e i t zu sein. — „Im identischen und unendlichen Urtheil ist das Verhältniß von Subject und Prädicat aufgehoben. Dies ist zunächst als diejenige Seite des Urtheils zu nehmen, nach welcher Subject und Prädicat mit Abstraction von ihrem Unterschied durch die Copula, als in einer Beziehung der Gleichheit stehend, betrachtet werden können. In dieser Rücksicht kann das positive 284 285 286
Vgl. Phä., 370, ferner a.a.O., 458 und 560. Vgl. H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a.a.O., 78/9. Log. II, 285. K. Düsing hat darauf aufmerksam gemacht, daß eine ähnliche Kritik an den identischen Urteilen in der damaligen Zeit schon von S. Maimon vorgebracht wird in: ders., Versuch einer neuen Logik oder Theorie des Denkens, Berlin 1794, 55. (Vgl. K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a.a.O., 168, Anm. 47, vgl. auch a.a.O., 171, Anm. 58).
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Urtheil umgekehrt werden, insofern das Prädicat nur in der Bedeutung des mit dem Subject identischen Umfanges genommen wird." 2 8 7 Durch die formelle Identität des Umfangs von Subjekt und Prädikat wird es sinnfällig, daß jedes identische Urteil umkehrbar ist. 2 8 8 Das positive Urteil kann umgekehrt werden, insofern es als identisches Urteil genommen wird. Das positiv endliche Urteil kann umgekehrt werden, insofern es als positiv unendliches Urteil betrachtet wird, als ein Urteil, in dem das Prädikat nicht von weiterem Umfang ist als das Subjekt. Inwiefern ist diese Betrachtung spekulativ? Das positive Urteil soll im doppelten Sinne, nämlich als es selbst und zugleich — im gleichen Augenblick — als umgekehrtes genommen werden. Indem nun aber beide Urteile nicht mehr als Resultate einer Bewegung des sich Ausgleichens begriffen werden, durch die sie gleichsam zum Gleichgewicht kommen, sondern als aufeinanderfallend vorgestellt werden, werden auch Subjekt und Prädikat dieses einen Urteils als zusammenfallend vorgestellt. Die so entstandene Umfangsgleichheit des positiv unendlichen Urteils, in der die Umfangsungleichheit des positiven (endlichen) Urteils — die im negativen (endlichen) Urteil ausgesprochen ist — nicht als in ihr aufgehobene mitbedacht ist, kann gewissermaßen als räumliche Vorstellung der Gleichzeitigkeit der Betrachtung beider Sätze verstanden werden. So gesehen wird der identische Satz als unendlich im schlechten Sinn zunächst immer dann verstanden, wenn er nicht als zweite Negation des positiven Urteils genommen wird. Umkehrbarkeit und — strenger — Umfangsgleichheit sind keine formalen Kriterien, die es erlaubten, positiv oder negativ zu beurteilen, ob ein Satz spekulativ ist oder nicht. Das Spekulative eines Satzes ist nichts Objekt-Sprachliches, über das durch ein eine Stufe darüberstehendes Subjekt unbefangen zu urteilen wäre. Eher wäre zu vermuten, daß das Spekulative die Denkbewegung ist, die — unbemerkt vom Verstand — in eben diesem Sprachstufengang abläuft. Spekulativ ist also ein Satz strenggenommen nicht, weil sein Subjekt mit seinem Prädikat umfangsgleich ist und weil er insofern umkehrbar ist. Wäre das so, so wäre der formelle identische Satz, d.h. der leere tauto-
SW Bd. 3, § 2 1 , 151. 28β D i e s e s Urteil ist übrigens selbst nicht schlechthin umkehrbar, denn nicht jedes umkehrbare Urteil ist ein identisches (umfangsgleiches) Urteil. Vgl. SW Bd. 3, § 22, 151, Hegels Ausführungen über die Umkehrbarkeit des negativen Urteils.
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logische Satz 2 8 9 das augenfälligste Beispiel für den sogenannten spekulativen Satz. Der gewöhnlichen Vorstellung, die den Akzent auf den Unterschied des Subjekts und des Prädikats legt, mag der philosophische Satz auch als bloß (abstrakt) identischer oder tautologischer vorkommen. 2 8 9 a In Wahrheit aber dreht es sich im spekulativen Satz nicht um die formelle Umfangsgleichheit, sondern um die absolute sich bewegende Sichselbstgleichheit, 290 nicht um die abstrakte Identität, sondern — wiederum abstrakt ausgedrückt — um die Identität der Identität und der Nichtidentität. 291 Die Einseitigkeit, den zu nichts führenden tautologischen Satz für den spekulativen Satz zu halten, bestünde darin, nur die halbe Wahrheit zu sagen, d.h. doch wieder nur den einen der Sätze, in die der spekulative (philosophische) Inhalt aufgelöst werden kann, herauszuheben. Wenn einmal ein Satz aus dem Spekulativen genommen worden ist, so müßte aber — wie mit Hegel bereits weiter oben gezeigt werden sollte — wenigstens ebensosehr der entgegengesetzte hinzugefügt werden. Wie die Wahrheit des endlichen Urteils halbiert würde durch die Isolation des positiven Urteils vom negativen, so würde dadurch, daß der positive Ausdruck des unendlichen Urteils aus seinem Zusammenhang mit dem negativen Ausdruck des unendlichen Urteils genommen würde, nur eine Seite der Wahrheit wiedergegeben. Als spekulativer Satz wäre an dieser Stelle der Fortbestimmung des Urteils nicht das einseitige, ,schlechte' unendliche Urteil anzusehen, sondern das die beiden Formen des endlichen Urteils in sich aufhebende ,wahrhaft' unendliche Urteil, d.h. das spekulativ als negativ unendliches Urteil betrachtete positiv unendliche Urteil oder das spekulativ als positiv unendliches Urteil betrachtete negativ unendliche Urteil. 2 9 2 Es kommt offenbar alles darauf an, daß das Denken dazu kommt, Sätze spekulativ zu fassen (zu begreifen). Die spekulative F a s s u n g des Satzes — im Sinne seiner spekulativen Auffassung — aber ist nur wahrhaft spekulativ, wenn ihr die spekulative Fassung des S a t z e s — im Sinne der spekulativen Verfassung dieses Ausdrucks — entspricht und umgekehrt.
Vgl. L o g . II, 3 1 8 , vgl. Jenenser Logik, 103. 289» Y g j j j e Interpretation des Absatzes 61 der Vorrede zur „Phänomenologie" In Kap. 1,3 dieser Arbeit.
289
290
Darauf hat neuerdings auch K . Düsing hingewiesen. Vgl. ders., Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, 199.
Vgl. B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 97. 292 Vgl. dazu eine m. E . in diese Richtung gehende Bemerkung von H . - G . Gadamer, nach der der spekulative Satz zwischen Tautologie und Selbstaufhebung in der unendlichen Bestimmung seines Sinnes die Mitte halte. H . - G . Gadamer, Hegels Dialektik, a . a . O . , 66. Vgl. a . a . O . , 18. 291
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Die spekulative Betrachtung des Satzes ist die Betrachtung des Spekulativen dieses Satzes, was jedoch — wie gesagt — gerade nicht heißt, daß dieses Spekulative sozusagen fix und fertig im Satzgebilde liegt und nur „herausgelesen" zu werden braucht. (Ebensowenig heißt es, daß am Satz nichts liegt und das Spekulative nur „hineingedacht" (eingebildet) werden kann.) Es gibt keinen Satz, der an und für sich spekulativ ist. Der spekulative Sinn (die spekulative Bedeutung) ergibt sich aus dem Satz, genommen in seinem Zusammenhang. Das Spekulative des Satzes geht im Sinnzusammenhang auf. Das Spekulative bestimmt sich im Gedankengang durch den Satz, in einem methodischen Gang, der nicht nur in einer Richtung verläuft. Dem Spekulativen dieser dialektischen Bewegung des Satzes, die in der Fortbestimmung des Urteils als Wechselbestimmung von Inhalt und Form betrachtet wurde, sollte hier bis zu dem Punkt nachgegangen werden, an dem sich das Urteil der Inhärenz ins Urteil der Subsumtion umkehrt. 2 9 3 293
B. Liebrucks hat den spekulativen Satz zu Anfang seines Kommentars der „Phänomenologie des Geistes" in dem Abschnitt über die sinnliche Gewißheit interpretiert (vgl. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 5, 14ff., vgl. a.a.O., 387) und als „Spiegelsatz" gekennzeichnet. „In ihm ist das Prädikat nicht umfangsgrößer, sondern die genaue Spiegelung des Subjekts." (A.a.O., 15). Das Prädikat des spekulativen Satzes ist mit dem Subjekt umfangsgleich. (Vgl. a.a.O., vor allem 16, 17, 36, 175 und 361. Dieser Auffassung hat sich auch H . Röttges angeschlossen. Vgl. ders., Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, u.a. 11, 66, 126 und 359). Insofern ist der spekulative Satz umkehrbar. Als ein Beispiel gibt Liebrucks den Hegelschen Satz aus der Einleitung in die „Phänomenologie", „daß das Absolute allein wahr" ist. „Das ist ein spekulativer Satz, der also umkehrbar ist, so daß auch gesagt werden kann, daß „das Wahre allein absolut ist" (S. 65)." (A.a.O., 333; vgl. auch Liebrucks' Bemerkungen zu dem Satz aus der Vorrede zur „Phänomenologie": „Das Wahre ist das Ganze" (S. 21), der „in der F o r m des spekulativen Satzes auftritt." (A.a.O., 366). Die Wahl der drei — nicht von Hegel stammenden — Sätze auf S. 16 als Beispiele für spekulative Sätze scheint mir weniger glücklich zu sein.) Diese hier in knappen Zügen wiedergegebene Liebruckssche Charakterisierung des spekulativen Satzes legt m. E. das Mißverständnis nahe, es gebe eine bestimmte Art von Satzgebilden, nämlich sogenannte spekulative Sätze, die dem formalen Kriterium der Umfangsgleichheit, d.h. hier der ,extensionalen Identität' genügen und die dieser ,Isomorphie', dieser ,umkehrbaren Eindeutigkeit' wegen durch ein äußerliches, formales Verfahren umgekehrt werden können. Demgegenüber ist im Zusammenhang mit den Ausführungen über das unendliche Urteil nur daran zu erinnern, daß es bei dieser Umkehrung um die sich durch den Gegenstoß von Inhalt und Form bewegende Sichselbstgleichheit des (wissenden) Subjekts geht. Mit Liebrucks ist dem Mißverständnis zu begegnen, die Umkehrung sei eine formalistische .Konversion', dem Mißverständnis, die Bewegung des spekulativen Satzes verlaufe nach einem formalen Schema. An dieser Stelle möchte ich noch bemerken, daß ich wie Liebrucks der Auffassung bin, daß der am Ende des Fortgangs des Urteils im apodiktischen Urteil erreichte Untergang der Form des Urteils eine „innerlogische", „negative Zerstörung" bzw. Selbstaufhebung des Urteils ist, daß ich jedoch nicht die Meinung teile, daß demgegenüber die Zerstörung des Urteils durch den spekulativen Satz, von der in der „Phänomenologie" die Rede ist,
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Seiner Bedeutung für die Problematik des spekulativen Satzes wegen möchte ich auf das Problem der Umkehrung noch etwas näher eingehen. 2933 Im Zusammenhang mit der Erörterung der Religion 294 habe ich weiter oben bereits darauf hingewiesen, daß die der inneren setzenden Reflexion des m a t e r i e l l e n Denkens entsprechende Gestalt des geistigen Bewußtseins der natürlichen Religion sich in dem Satz artikuliert: Das a b s o l u t e W e s e n ist das Selbst — wobei das Satzsubjekt als selbständiges vorgestellt wird — , die der äußeren voraussetzenden Reflexion des f o r m e l l e n Denkens entsprechende Gestalt des geistigen Selbstbewußtseins der Kunst-Religion dagegen in dem aus der Negation des ersten Satzes hervorgehenden umgekehrten Satz: das S e l b s t ist das absolute Wesen — wobei das Prädikat als selbständiges vorgestellt wird. Die der wahrhaft unendlichen (Doppel-) Reflexion des begreifenden s p e k u l a t i v e n Denkens entsprechende Gestalt der geistigen Vernunft der offenbaren Religion nun spricht sich in dem Satz aus „das a b s o l u t e W e s e n ist das S e l b s t " — wobei die absolute Selbständigkeit des Begriffs zu denken ist — , der, im Unterschied zu dem Satz der Naturreligion, spekulativ so aufzufassen ist, als vereinigte er in sich den Satz der Naturreligion und den umgekehrten Satz der Kunstreligion. Insofern als der Satz unmittelbar wieder als Satz der Naturreligion auftritt, ist er spekulativ als er selbst und zugleich als umgekehrter zu betrachten. (Die doppelseitige Hervorhebung des Wesens und des Selbst soll diesen sich durch die wechselseitige Ergänzung ergebenden spekulativen Satzsinn veranschaulichen.) Der Satz (das absolute Wesen ist das Selbst) 295 ist spekulativ, insofern er spekulativ b e g r i f f e n ist. Der spekulative Satz ist der spekulativ be„ n o c h als eine positive Zerstörung des Urteils", das hieße als eine von einer äußerlichen Reflexion ausgehende Zerstörung angesehen werden kann. (Vgl. B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 6 / 3 , 3 1 3 / 1 4 , vgl. auch a . a . O . , 270). 293a Y g j M . Heidegger, Die Onto-theo-logische Verfassung der Metaphysik, in: Identität und Differenz, Pfullingen 1957, 4 9 / 5 0 . Heidegger nennt als Beispiel für einen spekulativen Satz den Satz: „ D e r Anfang ist das Resultat" bzw. „ D a s Resultat ist der Anfang". 294 v g l . insbes. die ersten beiden Absätze des Kapitels über die offenbare Religion, Phä., 521/2. 295
Als Beispiel wäre ebensogut der Satz: das Unendliche ist das Endliche geeignet. — Vgl. dazu SW Bd. 16, 452 ff. Hegel ist dem Problem der Umkehrbarkeit von Sätzen im Zusammenhang seiner Darstellung des kosmologischen Gottesbeweises nachgegangen. Vgl. a . a . O . , insbes. 460. Kant führt in Absatz 7 seiner Ausführungen über die Unmöglichkeit eines kosmologischen Beweises vom Dasein Gottes (vgl. K . r . V . , A 6 0 8 / 9 / В 6 3 6 / 7 (579)) „auf schulgerechte A r t " vor Augen, daß der kosmologische Gottesbeweis ein versteckter ontologischer Beweis ist. E r zeigt, daß sich der Satz „ein jedes schlechthin notwendiges Wesen ist
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griffene Satz. Er ist spekulativ begriffen, wenn nicht nur die natürliche Vorstellung davon, was der Gehalt dieses Satzes ist aufgegriffen wird, sondern wenn durch eine Umkehr des Bewußtseins zugleich zurückgegriffen wird auf die Gestalt des Geistes, deren Ausdruck er gewesen ist. Der Satz kommt uns wie etwas Festes und Gesetztes vor, umgekehrt ist aber zurückzugehen auf dem Weg, auf dem er zustandekam. Das natürlich gefällte Urteil kann sozusagen als kurzer Abriß der Vorgeschichte des Urteils begriffen werden, d.h. die logische ,Ontogenese' — sit venia verbo — eines Urteils könnte als kurzer Abriß der logischen Phylogenese' des Urteils betrachtet werden. In dem Maße, in dem es als Schluß und Aufhebung des Prozesses seiner Entstehung und Fortbestimmung unbedacht bleibt, in dem Maße, in dem seine Voraussetzungen unreflektiert bleiben, bleibt es strenggenommen Vorurteil. Spekulativ begriffen wird ein Urteil oder ein Satz dann, wenn die in ihm zustandegekommene Identifizierung bzw. Zusammensetzung von Subjekt und Prädikat durch eine Umkehrung des Bewußtseins zugleich als Resultat des Prozesses der Differenzierung bzw. Auseinandersetzung der Satzteile begriffen wird. 2 9 6 Es kann versucht werden, die Umkehrung des Bewußtseins des Satzes durch die Umkehrung des Satzes darzustellen, d.h. durch die Hinzufügung des umgekehrten Satzes, der mit dem aufhört, was im ersten Satz das Erste und Wesentliche war, wobei es dann freilich wieder auf die spekulative Einsicht in die Einheit oder Gemeinschaft ankommt, die beide Sätze bilden, auf die Einsicht in den spekulativen Gehalt, in das Umschlagen von Inhalt und Form, das in der Umkehrung des Verhältnisses der Satzteile zum Ausdruck kommen soll. Durch die Umkehrung des Satzes bzw. des Urteils — und zwar des zu Anfang als positives Daseinsurteil auftretenden Urteils — soll zum Ausdruck gebracht werden, daß der entsprechende Gegenstand eines Satzes nicht nur als selbständige, zugrundeliegende Substanz aufzufassen ist, dem das Prädikat als Akzidens inhäriert, sondern ebensosehr
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zugleich das allerrealste Wesen" nicht nur verändert (per accidens) umkehren läßt („einige allerrealste Wesen sind zugleich schlechthin notwendige Wesen"), sondern auch rein (schlechthin) („ein jedes allerrealstes Wesen ist ein notwendiges Wesen"). (Ebenda.) Letzteres war die Behauptung des ontologischen Beweises. Vgl. dazu Kants Schriften. Werke I X , 118/9, § 52 Reine und veränderte Umkehrung und § 53 Allgemeine Regeln der U m kehrung. Es wird zu untersuchen sein, inwiefern das zum Subjekt hinzukommende (ihm beigelegte) Prädikat nur in Rücksicht auf das, was bereits im Subjekt gelegen hat, als diesem wirklich zukommendes zu betrachten ist. Vgl. dazu den dritten Teil dieses Kapitels.
Das Urteil
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umgekehrt als abhängiges Subjekt, das in dem es subsumierenden Prädikat in seinen Grund geht. Vollzieht man die während des Urteilens im Aussprechen eines Urteils jeweils schon sich vollziehende Bewegung des Fortgangs des Urteils in aller Ausführlichkeit nach durch die Betrachtung der Auslegung dieser Bewegung in die verschiedenen Urteile als Momente des Urteilens, so ist es zuerst das unendliche Urteil, das den Knotenpunkt beschreibt, den Anhalts- und Richtungspunkt für die im Urteilen unausgesprochen schon vollzogene Bewegung des Rückgangs der Erinnerung. Das spekulative, d.h. hier das ,konspektive', zugleich .prospektive' und ,respektive' Denken sieht das im unmittelbaren Urteil Mitgeteilte in einem mit dem im Urteil Unausgeführten, noch nicht ausführlich Dargestellten und interpretiert es. Dieser wahrhaft unendlichen, d.h. absoluten Reflexion des Begriffs stellt sich das in seiner Umkehrung spekulativ betrachtete Daseinsurteil schon als ,wahrhaft' unendliches Urteil dar, als ein Urteil also, das den positiv und den negativ endlichen Urteilen nicht als verendlichtes unendliches Urteil — sozusagen als deren Kehrseite — einseitig gegenübertritt, sondern diese in sich aufgehoben hat. In diesem ,absoluten' Urteil wären Identität und Nichtidentität nicht mehr als abstrakte und leere voneinander isoliert (abgeschlossen), sondern in ihm wäre bereits die wirkliche Entsprechung, die erfüllte Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat ausgedrückt. Das unendliche Urteil, wie es nun in einer bestimmten Phase der Entwicklung des Urteils auftritt, ist nicht nur als Moment, gleichsam als Wendepunkt im Verlauf der Bewegung des Urteils vom Daseins- zum Reflexionsurteil zu betrachten, sondern vorübergehend auch als Resultat und Höhepunkt der Entwicklung des Urteils des Daseins festzuhalten, als das sozusagen auf die Spitze getriebene Daseinsurteil. Das Urteil des Daseins zieht dadurch in sein Gegenteil, daß im unendlichen Urteil die Konsequenzen aus dem Urteil des Daseins gezogen werden. Im unendlichen Urteil als dem Daseinsurteil in seiner reinsten Form erst ist gesagt, was das Urteil des Daseins bzw. der Inhärenz in Wahrheit ist, bzw. worin seine Unwahrheit besteht. 297 Die Unwahrheit der endlichen 297
Im Urteil des Daseins, wie es zunächst unmittelbar als positives Urteil auftritt, ist das Verhältnis von Subjekt und Prädikat noch nicht als absolutes begriffen. Das Inhärenzverhältnis wird nicht als ein solches s p e k u l a t i v gedacht, das sich auflöst und mit Notwendigkeit ins Subsumtionsverhältnis u m k e h r t , sondern es wird, diesen Werdegang übergehend, voreilig v e r k e h r t als Subsumtionsverhältnis vorgestellt. Das Subsumtionsverhältnis wird bloß v o r g e s p i e g e l t . Diese nichtspekulative Betrachtung, die das Subjekt als
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Urteile des Daseins besteht darin, daß Subjekt und Prädikat einander nicht entsprechen. Die Allgemeinheit und die Besonderheit sind von weiterem Umfang als die Einzelheit. Erst im positiv unendlichen Urteil ist der Umfang des Subjekts mit dem Umfang des Prädikats gänzlich — wenn auch noch abstrakt — identisch, im negativ unendlichen Urteil dagegen sind sie gänzlich unterschieden. Im positiven Ausdruck des unendlichen Urteils können Subjekt und Prädikat nicht nur dem Umfang nach, sondern auch dem Inhalt nach als zusammenfallend betrachtet werden, während sie im negativen Ausdruck des unendlichen Urteils dem Umfang und dem Inhalt nach als auseinanderfallend betrachtet werden können. Die am Ende des Urteils der Inhärenz im positiv unendlichen Urteil erreichte formale und inhaltliche Identität von Subjekt und Prädikat 298 ist insofern bloß abstrakte Verstandeseinheit, als sie von der formalen und inhaltlichen Nichtidentität von Subjekt und Prädikat im negativ unendlichen Urteil noch isoliert ist. In der d i a l e k t i s c h e n D a r s t e l l u n g der zwei einander w i d e r s p r e c h e n den Ausdrücke des unendlichen Urteils, in denen das positive und das negative endliche Urteil als verunendlichte unvereint einander gegenüberstehen, ist die s p e k u l a t i v e D a r s t e l l u n g der wahrhaft vernünftigen E n t s p r e c h u n g von Subjekt und Prädikat noch nicht erreicht, weshalb am Ende der Bewegung des Urteils der Inhärenz — gleichsam in umgekehrter Richtung — eine Fortsetzung zum Urteil der Subsumtion notwendig ist. Die Einseitigkeit und Unwahrheit der endlichen Daseinsurteile zeigt sich gerade in der zweifellosen Richtigkeit der unendlichen Daseinsurteile am reinsten. In Ansehung ihrer Umfangsidentität (bzw. Nichtidentität) sind die unendlichen Urteile umkehrbar, wobei es - im Unterschied zu den
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Substanz liegenläßt, um im Ubergang zum Prädikat ungehemmter weiterzukommen, muß Subjekt und Prädikat in ihrem Verhältnis zueinander als ungleiche, und zwar als umfangsungleiche vorstellen. Ist übrigens nicht zu befürchten, daß die Meinung, in der Hegeischen' Urteilstypologie seien die einzelnen Urteilsformen nach dem Grad der geringeren inhaltlichen Trennung von Subjekt und Prädikat angeordnet, zu dem Mißverständnis führen könnte, daß dann die Fortbestimmung des Urteils bereits im positiv unendlichen Urteil zu Ende sein müßte? Dürfte nicht schon deshalb in der Betrachtung der Arten des Urteils das identische Urteil keinesfalls übergangen werden? (Vgl. G. Maluschke, Kritik und absolute Methode in Hegels Dialektik, a.a.O., 108-111.) Auch J. N . Findlay, der - soweit ich sehe — das positiv unendliche Urteil in seinem Kommentar der Logik des Urteils nicht erwähnt, kommt zu der - strenggenommen ungenauen Feststellung: „Hegel holds . . . that Judgements will arrange themselves in a scale or series in which there will be an ever more perfect identification or overlap of the elements distinguished in them." (J. N . Findlay, Hegel A Re-Examination, a.a.O., 229).
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endlichen Urteilen — widersinnig wäre, den ursprünglichen Ausdruck und den umgekehrten auseinanderhalten zu wollen. Zur Einsicht in den Sinn des Ausdrucks ist hier nicht durch die Einsicht in den Sinnzusammenhang dieses Ausdrucks mit dem umgekehrten Ausdruck zu gelangen — die dialektische Bewegung der Satzteile, oder besser gesagt der Glieder eines Urteils ist beim unendlichen Urteil nicht durch die Umkehrung dieses Urteils und so durch die dialektische Bewegung zweier U r t e i l e zu verdeutlichen — was beim endlichen Urteil aber gerade die Absicht bei der Hinzufügung des umgekehrten Ausdrucks war. So wurde das positiv endliche Urteil durch das umgekehrte Urteil ergänzt, um das einseitige positiv endliche Urteil vereinigt mit seinem Gegenteil, sozusagen mit seiner Rückseite spekulativ zu denken, d.h. um im Zusammenhalt beider Urteile den philosophischen Gehalt dieses positiv endlichen Urteils zu sehen, die in Form eines endlichen Urteils nicht zum Ausdruck kommende absolute Kontinuität der Urteile bzw. der Satzteile. Verhält sich im positiv endlichen Urteil z.B. das Subjekt zum Prädikat zunächst als ein Einzelnes zu einem Allgemeinen, im umgekehrten Urteil dagegen umgekehrt, so soll die Ergänzung des Urteils durch das umgekehrte Urteil dazu führen, das Subjekt und das Prädikat des positiv endlichen Urteils spekulativ zu betrachten. Indem das vorstellende Denken über das erste Urteil hinausgehend bei dem umgekehrten ankommt, erfährt es einen Gegenstoß, der es auf das erste zurückwirft. Der notwendige Anhaltspunkt in dieser durch die Umkehrung des Urteils zu machenden Erfahrung der dialektischen Bewegung der Satzteile ist die Erfahrung des positiv endlichen Urteils als positiv unendlichen Urteils, des nichtidentischen Urteils als identischen Urteils, das, insofern sich in ihm die Satzteile nicht mehr als Einzelnes (oder Besonderes) und Allgemeines zueinander verhalten, - wie gesagt — besser identischer Satz genannt wird. (Das Analoge gilt von dem als negativ unendliches Urteil betrachteten negativ endlichen Urteil). Soll das endliche Urteil durch die Kontinuation in das aus ihm resultierende umgekehrte Urteil wahrhaft spekulativ als Satz begriffen werden, so kommt es noch darauf an, nicht wiederum einseitig bei der ausschließlichen Betrachtung der (schlechten) Unendlichkeit des Urteils stehenzubleiben und die in ihr aufbewahrte und beschlossene Endlichkeit aus dem Gedächtnis zu verlieren. Das kann vielleicht auch so ausgedrückt werden, daß nicht nur das endliche Urteil als unendliches, sondern ebensosehr das unendliche Urteil als endliches zu begreifen ist. Entscheidend für das spekulative Denken des endlichen Urteils war, daß die in diesem und dem umgekehrten Urteil zum Ausdruck kommenden
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Gedanken in Wahrheit nur als auseinandergehaltene zusammenzuhalten waren. Beim unendlichen Urteil nun, wie es — selbst zerfallend in eine positive und eine negative Ausdrucksform — als Extrem des (positiv und negativ) endlichen Daseinsurteils diesem schließlich gegenübertritt, ist die Unterscheidung wie der Vergleich von Subjekt und Prädikat widersinnig. Daß der identische Satz (bzw. das negativ unendliche Urteil) schlechthin umkehrbar ist, zeigt zunächst lediglich auf das Feststehen der abstrakten Verstandesidentität (bzw. Nichtidentität) von Subjekt und Prädikat. Absoluter und abstrakter identischer Satz Der Satz der
Identität
Würde der identische Satz zusammen mit dem nichtidentischen negativ unendlichen Satz als das (wahrhaft) unendliche Urteil begriffen, dessen absoluter Gegenstoß gegen das endliche Urteil der Ursprung der Umkehrung des Urteils der Inhärenz in das Urteil der Subsumtion ist, so würde der identische Satz spekulativ als ein Satz begriffen, in dem die Identität von Subjekt und Prädikat eine absolute Vernunftidentität ist, die als eine von sich gelöste ebensosehr Nichtidentität ist. Das unendliche Urteil, das, indem es als unendliches begriffen ist, zugleich als endliches Urteil begriffen ist, ist das wahrhaft unendliche Urteil. Das unendliche Urteil aber ist nicht das wahre unendliche Urteil. Das abstrakte unendliche Urteil ist nicht das absolute unendliche Urteil, das die Idee ist. „ D i e Idee ist das u n e n d l i c h e U r t h e i l , dessen Seiten jede die selbstständige Totalität sind, und eben dadurch, daß jede sich dazu vollendet, in die andere eben so sehr übergegangen ist. Keiner der sonst bestimmten Begriffe ist diese in ihren beiden Seiten vollendete Totalität, als der B e g r i f f selbst und die O b j e k t i v i t ä t . " 2 9 9 Die Idee, der absolute, spekulative Begriff kann als , , a b s o l u t e ( s ) U r t e i l " 3 0 0 gefaßt werden. Das spekulativ begriffene unendliche Urteil , , I c h = I c h " wäre ein „absolutes Urteil", ein Urteil, dessen Subjekt sich frei aus sich ins Prädikat entließe, ein spekulativer Satz. 3 0 1
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SW Bd. 8, § 214, 428. Vgl. u . a . Log. II, 306, 411 und SW Bd. 16, 249/50. 301 Vgl. phä., 458 im Zusammenhang mit der Bemerkung über das absolute Urteil in SW Bd. 17, 61/2. 300
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Das Urteil
Der abstrakte identische Satz aber ist nicht der absolute identische Satz. 3 0 2 Der abstrakte formelle identische Satz ( „ A = A " und , , — A = — A " ) ist der Satz der Identität. Er sagt aus, daß Α nur Α ist, nicht aber B . 3 0 3 „Der
S a t z d e r I d e n t i t ä t lautet demnach: A l l e s ist m i t
sich
i d e n t i s c h ; A = A ; und negativ: Α kann nicht z u g l e i c h Α u n d n i c h t A s e y n . - Dieser Satz, statt ein wahres Denkgesetz zu seyn, ist nichts als das Gesetz
des
abstrakten
Verstandes.
Die
Form
des
Satzes
widerspricht ihm schon selbst, da ein Satz auch einen Unterschied zwischen Subjekt und Prädikat verspricht, dieser aber das nicht leistet, was seine Form f o r d e r t . " 3 0 4 In der Differenzschrift sagt der junge Hegel: ,,Ιη A = A , als dem Satze der Identität, wird reflektirt auf das Bezogenseyn: und dieß Beziehen, dieß Einsseyn, die Gleichheit ist in dieser reinen Identität enthalten; es wird von aller Ungleichheit abstrahirt. A = A , der Ausdruck des absoluten Denkens, oder der Vernunft, hat für die formale, in verständigen Sätzen sprechende Reflexion nur die Bedeutung der Verstandes-Identität, der reinen Einheit, d.h. einer solchen, worin von der Entgegensetzung abstrahirt ist.
302
E. Heintel hat in seinem Aufsatz „Der Begriff des Menschen und der „Spekulative Satz" " unter besonderer Berücksichtigung der theologischen Jugendschriften und der Jenaer Schriften als erster die Vorgeschichte des spekulativen Satzes bis zur „Phänomenologie des Geistes" behandelt, wohingegen er von der Erörterung der späteren Schriften im Hinblick auf die Problematik des spekulativen Satzes weitgehend abgesehen hat. (Vgl. E. Heintel, Der Begriff des Menschen und der „Spekulative Satz", a.a.O., 220, Anm. 24.) Ich habe versucht, deutlich zu machen, daß bei dem Versuch einer Gesamtdarstellung dieser Problematik nicht darauf verzichtet werden kann, vor allem die „Wissenschaft der Logik" hinzuzuziehen. Die Betrachtung der unter dem Aspekt des spekulativen Satzes besonders wichtigen Darstellung des Urteils in der „Wissenschaft der Logik" — wobei an dieser Stelle vor allem an das unendliche Urteil gedacht ist — führt m. E. unter anderem auch zu einem anderen Verständnis des Zusammenhangs zwischen dem spekulativen und dem identischen Satz. — (Vgl. E. Heintel, a.a.O., 222/3). Erst das zugleich als (negativ) unendliches Urteil begriffene identische Urteil wäre das sich selbst auflösende absolut identische Urteil, der spekulative Satz, die absolute Sichselbstgleichheit oder Individualität des wissenden Ich (Subjekts) in der absoluten Zerrissenheit bzw. in der absoluten Gleichgültigkeit der Satzteile.
303 304
Das dem gewöhnlichen endlichen Urteil als umfangsgleiches gegenübergestellte — und damit dem negativ unendlichen Urteil gegenüber einseitig als positiv unendliches Urteil vorgestellte — unendliche Urteil ist zunächst bloß der abstrakte, identisch bleibende identische Satz und insofern noch nicht der spekulative Satz. (Darauf hat übrigens auch H . Röttges hingewiesen in: Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a.a.O., 67/8 und 72/3). Vgl. u.a. Log. II, 172 und 296 und SW Bd. 8, § 115, 267ff. SW Bd. 8, § 115, 268/9.
322
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Aber die Vernunft findet sich in dieser Einseitigkeit der abstrakten Einheit nicht ausgedrückt. Sie postulirt auch das Setzen desjenigen, wovon in der reinen Gleichheit abstrahirt wurde, das Setzen des Entgegengesetzten, der Ungleichheit; das eine Α ist Subjekt, das andere Objekt, und der Ausdruck für ihre Differenz ist Α nicht = A, oder А = B . " 3 0 S Zum Schluß der Betrachtung über das unendliche Urteil sei auf den Zusammenhang von i d e n t i s c h e m S a t z und Satz der I d e n t i t ä t noch etwas näher eingegangen. So wie das identische Urteil angemessener als identischer Satz bezeichnet wurde, weil es eine Bestimmung erhielt, die nicht im Verhältnis der Allgemeinheit zum Satzsubjekt stand, so naheliegend war der Identität als Reflexionsbestimmung die Form des Satzes gewesen. Den R e f l e x i o n s b e s t i m m u n g e n liegt die Form des S a t z e s nahe. Im U r t e i l dagegen — wie bereits ausgeführt — stehen Subjekt und Prädikat im Verhältnis von B e g r i f f s b e s t i m m u n g e n zueinander. 306 Insofern ist im Urteil in W a h r h e i t die Form des Satzes aufgehoben. Das Urteil, begriffen als ein solches, das die Form des Satzes in sich aufgehoben hat, das spekulativ als Satz betrachtete Urteil ist der spekulative Satz. Im abstrakten Urteil aber ist die Form des Satzes nur abstrakt negiert, nicht zugleich aufbewahrt. Daran wird das abstrakte Daseinsurteil durch das identische Urteil erinnert. 307 Die Annahme nun, der logische Ort des sogenannten spekulativen Satzes sei nicht die Begriffslogik, sondern die Wesenslogik, scheint mir wiederum insofern einseitig zu sein, als man nur dann unter einem spekulativen Satz eine ,Wesensaussage' verstehen kann, wenn man bereit wäre, das wirkliche Spekulative des Satzes, d.h. die Bewegung des Begriffs beim Begreifen des Satzes als etwas nicht zum Satz Gehörendes abzuhalten und sich unter einem spekulativen Satz bloß ein äußerliches sprachliches Gebilde vorzustellen. 308 Der Identität als Reflexionsbestimmung, die das Bestimmte ist, das sein „bloßes Gesetztsein sich unterworfen oder seine Reflexion in anderes in 305
SW Bd. 1, 62/3.
Vgl. Log. II, 267. Insofern von ihm als Satz, d.h. insofern vom Satz als identischem der Gegenstoß gegen das Verhältnis der Nichtidentität von Allgemeinem und Einzelnem im abstrakten Urteil ausgeht, könnte der Satz als dem begreifenden Denken näherstehend betrachtet werden. Vgl. H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, a.a.O., 66, der die Auffassung vertritt, daß der Terminus „spekulativer Satz" wohl an Stelle des Terminus „spekulatives Urteil" gewählt wurde, weil der Satz als solcher dem begreifenden Denken schon näherstehe. зов Vgl. weiter oben Kap. 1,3 dieser Arbeit. 306
307
Das Urteil
323
Reflexion in sich umgebogen hat" 3 0 9 , liegt die Form eines Satzes nahe, in dem das Subjekt nicht einem Prädikat unterworfen ist, sondern sich selbst. Die Reflexionsbestimmung hat ihr Anderssein in sich zurückgenommen, ist unendliche Beziehung auf sich, sich auf sich beziehende Bestimmung. Insofern die Reflexionsbestimmung eine Bestimmtheit ist, welche eine Beziehung an sich selbst ist, enthält sie die Form des Satzes schon in sich. „Denn der Satz unterscheidet sich vom Urteil vornehmlich dadurch, daß in jenem der I n h a l t die B e z i e h u n g selbst ausmacht, oder daß er eine b e s t i m m t e B e z i e h u n g ist. Das Urteil dagegen verlegt den Inhalt in das Prädikat als eine allgemeine Bestimmtheit, die für sich, und von ihrer Beziehung, der einfachen C o p u l a , unterschieden ist. Wenn ein Satz in ein Urteil verwandelt werden soll, so wird der bestimmte Inhalt, wenn er z.B. in einem Zeitworte liegt, in ein Partizip verwandelt, um auf diese Art die Bestimmung selbst und ihre Beziehung auf ein Subjekt zu trennen. Den Reflexionsbestimmungen dagegen als in sich reflektiertem Gesetztsein liegt die Form des Satzes selbst nahe. — Allein indem sie als a l l g e m e i n e D e n k g e s e t z e ausgesprochen werden, so bedürfen sie noch eines Subjekts ihrer Beziehung, und dies Subjekt ist: A l l e s , oder ein A, was ebensoviel als alles und jedes Sein bedeutet. Einerseits ist diese Form von Sätzen etwas Uberflüssiges, die Reflexionsbestimmungen sind an und für sich zu betrachten. Ferner haben diese Sätze die schiefe Seite, das S e i n , alles E t w a s , zum Subjekte zu haben. Sie erwecken damit das Sein wieder und sprechen die Reflexionsbestimmungen, die Identität usf. von dem Etwas als eine Qualität aus, die es an ihm habe, nicht in spekulativem Sinne, sondern daß Etwas als Subjekt in einer solchen Qualität bleibe als s e i e n d e s , nicht daß es in die Identität usf. als in seine Wahrheit und sein Wesen übergegangen sei." 3 1 0 Der Satz der Identität in seinem positiven Ausdruck „ A = A " „ist zunächst nichts weiter als der Ausdruck der leeren T a u t o l o g i e " 3 1 1 , einer formellen, abstrakten Wahrheit. Doch er enthält mehr, als zunächst mit ihm gemeint ist, nämlich den absoluten, sich selbst auflösenden Unterschied. In der Form des Satzes, in der die Identität ausgedrückt ist, liegt „ m e h r als die einfache, abstrakte Identität; es liegt diese reine Bewegung der Reflexion darin, in der das Andere nur als Schein, als 309 310 311
Log. II, 22. A . a . O . , 24/5, vgl. SW Bd. 8, § 31, 104/5 und § 85, 201/2. Log. II, 28.
324
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
unmittelbares Verschwinden auftritt; Α ist, ist ein Beginnen, dem ein Verschiedenes vorschwebt, zu dem hinausgegangen werden aber es kommt nicht zu dem Verschiedenen; Α ist — A; die Verschiedenheit ist nur ein Verschwinden; die Bewegung geht in sich selbst zurück. — Die Form des Satzes kann als die verborgene Notwendigkeit angesehen werden, noch das Mehr jener Bewegung zu der abstrakten Identität hinzuzufügen." 3 1 2 Insofern der Satz der Identität nun die Reflexionsbewegung — den absoluten Gegenstoß in sich selbst 313 — die Identität als Verschwinden des Andersseins enthält, ist er „nicht bloß a n a l y t i s c h e r , sondern s y n t h e t i s c h e r N a t u r . " 3 1 4 Dadurch widerspricht er sich und hebt sich auf. Die Reflexionsbestimmung der Identität erhält erst indem sie zugrunde geht, indem sie sich als in der Form eines identischen Satzes auftretende Bestimmung selbst zerstört, ihren spekulativen Sinn, ihre „wahrhafte Bedeutung, der absolute Gegenstoß ihrer in sich selbst zu sein." 3 1 5 Der abstrakte identische Satz, das abstrakte identische Urteil der Inhärenz, wie es dem Urteil der Subsumtion gegenübersteht, ist das analytische Urteil. 3 1 6 Vor allem deshalb galt ihm mein besonderes Interesse. Der absolute, konkrete identische Satz wäre der als a n a l y t i s c h e r und zugleich als s y n t h e t i s c h e r spekulativ begriffene Satz, 3 1 7 der Satz, vernommen in seiner dialektischen Bewegung der Ubersetzung des Gegenstandes des Satzes in die entsprechende Aussage des Satzes, das ,wahrhaft' unendliche Urteil, das die Idee ist. An dieser Stelle bleibt noch zu bemerken, daß ein Großteil der Mißverständnisse des spekulativen Satzes wohl daher kommt, daß man sich bei der Interpretation bisher weitgehend auf die Deutung der Absätze 58ff. 3 1 8 der Vorrede zur „Phänomenologie" beschränkt und das 312
A . a . O . , 31.
313
Vgl. a . a . O . , 16.
314
A . a . O . , 32, vgl. a.a.O., 2 9 / 3 0 .
315
A . a . O . , 63.
316
Vgl. S W B d . 1, 4 7 1 .
317
Vgl. a . a . O . , 61 ff. und dazu den dritten Teil dieses Kapitels.
318
W . M a r x hat in seinem Aufsatz „ A b s o l u t e Reflexion und Sprache" durch eine sorgfältige Interpretation der A b s ä t z e 5 8 - 6 6 der Vorrede zur „ P h ä n o m e n o l o g i e " einen erheblichen Beitrag zur Verdeutlichung der Problematik des spekulativen Satzes geleistet. — U n k l a r bleibt jedoch in der T a t „ w a r u m M a r x unter dem v o n ihm gewählten Gesichtspunkt auf eine Analyse v o n Hegels Urteilslehre wie gleichfalls der Lehre v o m Schluß v e r z i c h t e t . " (Th. B o d a m m e r , Hegels Deutung der Sprache, a . a . O . , 2 9 3 , A n m . 102. Vgl. dazu W . M a r x , Absolute Reflexion und Sprache, a . a . O . , 8, A n m . 8, w o M a r x die Meinung vertritt, daß zwar „ m a n c h e " der in der „Wissenschaft der L o g i k " und der „ E n z y k l o p ä d i e der philosophischen Wissenschaften" systematisch entwickelten Bestimmungen des Urteils
325
Die Idee
Hauptwerk Hegels - die „Wissenschaft der Logik" und zwar insbesondere Hegels Ausführungen über das Urteil — nicht hinzugezogen hat. 3 1 9 Dies hat vor allem den Blick verstellt auf den sich am Ende ergebenden Zusammenhang des spekulativen Satzes und der spekulativen Idee, bzw. der spekulativen Methode, die nach Hegel ebensosehr a n a l y t i s c h wie s y n t h e t i s c h ist. Von diesem Zusammenhang soll jetzt am Schluß dieser Arbeit die Rede sein. Eine Vorklärung dessen, was mit Hegel unter dem analytischen und dem synthetischen Erkennen zu verstehen ist, scheint mir — auch
zur
Verdeutlichung
des Unterschieds
von
der
Kantischen
Distinktion der analytischen von synthetischen Urteilen — nötig zu sein.
3. Die Idee Das analytische und das synthetische Erkennen (Log. II, 3. Buch, 3. Abschnitt, 2. Kapitel, A.a und A.b, 4 4 2 - 4 7 7 ) Am Ende dieses Kapitels, in dem ich versucht habe, mich der Problematik des spekulativen Satzes von der „Wissenschaft der Logik", insbesondere von der Urteilslehre her zu nähern, soll nun anknüpfend an zur Interpretation herangezogen werden dürfen, daß es „aber verfehlt (wäre, G . W.), die innerhalb des Systems entwickelten Bestimmungen schlechthin auf unsere Problematik anzuwenden.") Unklar bleibt übrigens auch, warum Marx, dem es in seinem Aufsatz ja um die Frage nach dem Verhältnis von absoluter Reflexion und Sprache geht, in keiner Weise auf Hegels Ausführungen über die absolute Reflexion — zunächst vor allem zu Anfang der Wesenslogik — eingegangen ist. Zum Begriff der absoluten Reflexion vgl. W. Marx, Hegels Phänomenologie des Geistes, Frankfurt 1971, IV Reflexionsphilosophie und absolute Reflexion, 59—66.
319
Auch J . Simon hat in seinem Aufsatz „Die Kategorien im „gewöhnlichen" und im „spekulativen" Satz" die Urteilsform in systematischer Hinsicht nur kurz betrachtet. (Vgl. insbes. a.a.O., 36f.). Zu der Meinung, in der Urteilslogik sei von Urteilen und nicht von Sätzen die Rede und daß schon deshalb hier - wie in der „Wissenschaft der Logik" überhaupt - spekulative Sätze gar nicht vorkommen, ist zunächst einmal zu bemerken, daß Hegel in der Urteilslogik nicht nur bezüglich des identischen Urteils von Sätzen spricht, sondern z . B . auch von den Urteilen der Reflexion sagt, sie seien „mehr S ä t z e " (Log. II, 301), oder auch beim hypothetischen Urteil betont, daß es „mehr die Gestalt eines Satzes" habe. (A.a.O., 296, vgl. 295). Die Fortbestimmung des Urteils ist als Wechselbestimmung von Urteil und Satz zu betrachten. — Gegenüber der Meinung, daß die in der Phänomenologie entwickelte Lehre vom spekulativen Satz in der „Wissenschaft der Logik" fallengelassen worden sei (vgl. F. Hogemann u. W. Jaeschke, Die Wissenschaft der Logik, in: Hegel, hrsg, von O . Pöggeler, 85), möchte ich R . Bubner voll und ganz zustimmen, wenn er sagt, Hegel habe keinen Zweifel daran gelassen, „daß das Modell des spekulativen Satzes die für die große Logik gültige Darstellungsform beschreibt." (R. Bubner, Zur Struktur dialektischer Logik, in: Hegel-Jahrbuch 1974, 142.)
326
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
die Ausführungen zu Beginn dieses Kapitels über die Anmerkung 2 am Anfang der „Wissenschaft der Logik" der Versuch einer Interpretation der Textpassagen am Ende der „Wissenschaft der Logik" gemacht werden, in denen Hegel die spekulative Methode näher kennzeichnet und dabei wieder auf das Urteil zu sprechen kommt. 3 2 0 Dabei soll übrigens auch deutlich werden, daß die Anfangsbetrachtungen über die sprachliche Darstellung des spekulativen Gedankens um dasselbe Problem kreisen wie die Schlußüberlegungen zur spekulativen Methode der Bewegung des Begriffs in den beiden Momenten des Urteils, 3 2 1 von dem — wenn auch unter anderem Namen — bereits in der Vorbetrachtung über das Urteil an zentraler Stelle die Rede war. 3 2 2 Das philosophische, „absolute" Erkennen, das auch unendliches Erkennen genannt werden kann, unterscheidet sich nach Hegel vom endlichen Erkennen völlig. 323 Das wahrhaft unendliche Erkennen wird sich als ein Erkennen ergeben, das analytisch, ebensosehr aber auch synthetisch ist, als ein Erkennen, das analytisch und synthetisch zugleich ist. Das endliche Erkennen dagegen — von dem hier zunächst die Rede sein muß — ist entweder analytisch oder synthetisch. Beide Momente werden im „Neben- und Nacheinander a u s e i n a n d e r gehalten" und treten ohne „gegenseitige Berührung" 3 2 4 vor das Bewußtsein. Dies aber wird mit Hegel als ein Mangel des um den wirklichen Gang des Denkens nicht wissenden, sozusagen unschuldigen Denkens zu betrachten sein, das seine Gedanken nicht zusammenbringt 325 , d.h. das sich nicht darüber aufgeklärt hat, daß die Berührung und das Zusammengehen beider Momente die Bedingung der Möglichkeit ihrer klaren Distinktion und ihres kritischen Diskurses ist. Vom endlichen, sich die ganze Wahrheit über sein Tun verstellenden Erkennen sagt Hegel in der „Propädeutik": „§ 74. Das Erkennen ist theils analytisch, theils synthetisch. § 75. Das a n a l y t i s c h e Erkennen geht von einem Begriffe oder einer concreten Bestimmung aus und entwickelt nur die Mannigfaltigkeit der unmittelbaren oder identisch darinnen enthaltenen einfachen Bestimmungen. Vgl. insbes. Log. II, 490/1, Absatz 8 und dazu SW Bd. 8, §§ 238 und 239, 448ff. Vgl. insbes. a.a.O., § 88 1), 209/10 und a.a.O., §§ 238 und 239, 448ff. 322 Vgl. weiter unten. 3 2 3 Vgl. Log. II, 491. 3 2 4 A.a.O., 496. 325 v g i . ebenda. 320 321
Die Idee
327
§ 76. Das s y n t h e t i s c h e Erkennen entwickelt dagegen die Bestimmungen eines Ganzen, die nicht unmittelbar darin enthalten sind, noch identisch aus einander herfließen, sondern die Gestalt der Verschiedenheit gegen einander haben, und zeigt die N o t w e n d i g k e i t ihres bestimmten Verhältnisses zu einander auf." 3 2 6 Zunächst sollen die analytische und die synthetische Methode des (endlichen) Erkennens mit Hilfe von Hegels Ausführungen über das analytische und das synthetische Erkennen etwas verdeutlicht werden. 3 2 7 „Das endliche Erkennen hat, indem es das U n t e r s c h i e d e n e als ein vorgefundenes ihm gegenüberstehendes Seyendes, — die mannigfaltigen T h a t s a c h e n der äußern Natur oder des Bewußtseyns, voraussetzt, 1) zunächst für die Form seiner Thätigkeit die f o r m e l l e I d e n t i t ä t oder die A b s t r a k t i o n der Allgemeinheit. Diese Thätigkeit besteht daher darin, das gegebene Concrete aufzulösen, dessen Unterschiede zu vereinzeln und ihnen die Form a b s t r a c t e r A l l g e m e i n h e i t zu geben; . . , " 3 2 8 ,,Das analytische Erkennen hat daher überhaupt diese Identität zu seinem Prinzip, und der Ubergang in anderes, die Verknüpfung Verschiedener ist aus ihm selbst, aus seiner Tätigkeit ausgeschlossen." 329 Die Erkenntnisweise der Arithmetik und der „allgemeinern W i s s e n s c h a f t e n d e r d i s k r e t e n G r ö ß e " , die Analysis genannt werden, bezeichnet Hegel als diejenige, die „am immanentesten analytisch" ist. 3 3 0 SW Bd. 3, §§ 7 4 - 7 6 , 165. Vgl. Log. II, 442-477 und SW Bd. 8, §§ 227-232, 436ff. зге Bd. 8, § 227, 436. Im Zusatz zu § 227 werden Locke und alle Empiriker als Vertreter des Standpunktes des analytischen Erkennens genannt, dessen Tätigkeit darauf gerichtet ist, das ihm vorliegende „Einzelne auf ein Allgemeines zurück zu führen." (SW Bd. 8, 437). 329 Log. II, 443. Die „analytische(n) Identität" (a.a.O., 446) als Prinzip des analytischen Erkennens ist nicht die absolute Identität der Vernunft, sondern die abstrakte Identität des Verstandes, „die in sich nicht den Unterschied hat." (B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 6/3, 526). Die ganz abstrakte analytische Identität ist die Identität von Subjekt und Prädikat im identischen Satz. 3 3 0 Log. II, 445/6. Was die Diskussion des Satzes 5+7=12 anbetrifft, auf den Hegel in diesem Zusammenhang eingeht (vgl. a.a.O., 447) — Kant hat diesen Satz bekanntlich als synthetischen Satz a priori angesehen (vgl. K.r.V., В 14 ff.) — muß auf Hegels Ausführungen über die Zahl im ersten Teil der Logik verwiesen werden. (Vgl. insbes. Log. I, 199ff., Anm. 1). Auch scheint mir hier nicht der richtige Platz zu sein, um auf Hegels Bemerkungen zur Natur der Analysis, die unendliche Differenzen veränderlicher Größen betrachtet, d. h. der Differential- und Integralrechnung näher einzugehen, da über sie, wie Hegel sagt, „im e r s t e n T e i l e dieser Logik ausführlicher gehandelt worden" ist. (Log. II, 449, vgl. Hegels Ausführungen über die Unendlichkeit des Quantums, Log. I, 236ff.). Zudem vermag ich nicht genau zu beurteilen, inwieweit einige Teile der Hegeischen Ausführungen heute als 326 327
328
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Hegel legt dar, daß die Analysis synthetisch wird, insofern sie auf Bestimmungen kommt, die nicht mehr durch die Aufgaben — die analytische Wissenschaft enthält nach Hegel eigentlich keine Lehrsätze, sondern nur Aufgaben, nur Forderungen einer Rechenoperation, d.h. nur die eine Seite der Gleichung, die den Lehrsatz ausmachen würde 331 — selbst gesetzt ist. „Der allgemeine Ubergang aber vom analytischen zum synthetischen Erkennen liegt in dem notwendigen Übergange von der Form der Unmittelbarkeit zur Vermittlung der abstrakten Identität zum Unterschiede." 3 3 2 Im Zusatz zum Paragraphen 228 der „Enzyklopädie" werden analytische und synthetische Methode des Erkennens auf eine Weise kontrastiert, die einige Anknüpfungspunkte an die Kantische Philosophie zu enthalten scheint. „Die Bewegung der synthetischen Methode ist das Umgekehrte der analytischen Methode. Während diese vom Einzelnen ausgehend zum Allgemeinen fortschreitet, so bildet dagegen bei jener das Allgemeine (als D e f i n i t i o n ) den Ausgangspunkt, von welchem durch die Besonderung (in der E i n t h e i l u n g ) zum Einzelnen (dem T h e o r e m ) fortgeschritten wird. Die synthetische Methode erweist sich hiermit als die Entwickelung der Momente des Begriffs am Gegenstande." 3 3 3 An dieser Stelle kann kurz an die Kantische Unterscheidung der analytischen von der synthetischen Methode erinnert werden. In einer Anmerkung zu Anfang des Paragraphen 5 der Prolegomena, wo Kant die Aufgabe der reinen Vernunft in die Frage faßt: Wie sind synthetische Sätze a priori möglich?, sagt er: „Analytische Methode, sofern sie der synthetischen entgegengesetzt ist. . . bedeutet nur, daß man von dem, was gesucht wird, als ob es gegeben sei, ausgeht und zu den Bedingungen aufsteigt, unter denen es allein möglich." Diese Lehrart „könnte besser die r e g r e s s i v e L e h r a r t zum Unterschiede von der synthetischen oder p r o g r e s s i v e n heißen." 3 3 4 Der Unterschied zu Hegels Gegenüberstellung der analytischen und der synthetischen Methode zeigt sich freilich schon darin, daß Kant unter der
331 332
333 334
überholt angesehen werden können. (Vgl. B. Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 6/3, 518). Vgl. Log. II, 447f. A . a . O . , 450. Vgl. den Ubergang von der Reflexionsbestimmung der Identität zu der des Unterschieds, a.a.O., 32. SW Bd. 8, 438. Prolegomena, 26.
Die Idee
329
analytischen Methode „ganz was anderes als ein Inbegriff analytischer Sätze" verstehen muß, da man sich in dieser Lehrart „öfters lauter synthetischer Sätze, wie die mathematische Analysis davon ein Beispiel gibt" bediene. 335 Da Hegel letztere Auffassung nicht teilt, obgleich er einräumt, daß in der höheren Analysis, wo mit dem Potenzverhältnis vornehmlich qualitative und von Begriffsbestimmtheiten abhängende Verhältnisse der diskreten Größen eintreten, „die Aufgaben und Lehrsätze allerdings wohl synthetische Bestimmungen" 3 3 6 enthalten, braucht er keine strenge Scheidung zwischen analytischer (bzw. synthetischer) Methode einerseits und analytischer (bzw. synthetischer) Erkenntnis in analytischen (bzw. synthetischen) Sätzen andererseits vorzunehmen. Daß Hegel in den Paragraphen 227ff. der „Enzyklopädie" vornehmlich von der analytischen bzw. synthetischen M e t h o d e spricht, sollte schon aus dem äußerlichen Grund keinen Anlaß zu Zweifeln geben, daß in den diesen Paragraphen entsprechenden Abschnitten der Logik 337 vom analytischen bzw. synthetischen E r k e n n e n die Rede ist, dessen Einteilung aber — wie übrigens auch bei Kant 338 — der Einteilung der U r t e i l e in analytische und synthetische gleichkommt. Die analytische (bzw. synthetische) Methode ist nach Hegel nichts anderes als die Methode des analytischen (bzw. synthetischen) Erkennens in Bezug auf die analytischen (bzw. synthetischen) Urteile. Im Hegeischen Begriff der Methode ist die Kantische Trennung zwischen Methode und Erkenntnis aufgehoben. Was im übrigen Kants Feststellung anbetrifft, die analytische Methode sei ganz etwas anderes als ein Inbegriff analytischer Sätze, so ist es noch die Frage, ob nicht die Reflexion der hypothetischen Vernunft, die (nach der analytischen Methode) von dem Gesuchten ausgeht, „als o b es gegeben sei", der Reflexion entspricht, die die hypothetische Vernunft auch im Hinblick auf die Notion des Subjekts eines analytischen Satzes — der Ausdruck „Notion des Subjekts" 3 3 9 soll bedeuten, daß diese Reflexion insbesondere bei solchen analytischen Sätzen notwendig wird, deren Subjektbegriff kein empirischer, sondern ein reiner Begriff ist, der lediglich im Verstand seinen Ursprung hat, ohne daß schon ausgemacht wäre, ob
335 336 337 338 339
Ebenda. Log. II, 448. Vgl. a.a.O., 442ff. und SW Bd. 3, 165. Vgl. u. a. Prolegomena, 26. Vgl. Kants Schriften. Werke IX, Logik, § 36, 111, ferner § 4, 93, und § 104, 143.
330
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
dieser Begriff die Möglichkeit der Erfahrung übersteigt 340 — anzustellen genötigt ist, um der Täuschung zu begegnen, dieser Satz sei synthetisch und die in ihm vorgenommene Verknüpfung von Subjekt und Prädikat sei eine reale und nicht bloß eine logische. Ist die hypothetische Vernunft nicht der Gefahr der zu spekulativen Sätzen — im Kantischen Sinn — führenden Hypostasierung logischer Verknüpfungen wegen gehalten, über reine Begriffe von Satzsubjekten analytischer Sätze als bloß logische (nominale) Voraussetzungen (Suppositionen) zu reflektieren, deren reale Bedeutung insofern problematisch ist, als von einer solchen Voraussetzung ausgehend nur eine Auseinandersetzung der im besonderen Begriff des Satzsubjekts als Inbegriff enthaltenen allgemeinen Teilbegriffe erreicht werden kann, eine Analyse des logischen Inhalts des Begriffs des Satzgegenstandes, nicht aber die Einsicht, ob dieser Begriff einem realen Gegenstand angemessen ist? Ist es nicht für die logische Analyse als Namenerklärung des Satzgegenstandes eines analytischen Satzes völlig ausreichend, im Ausgehen von diesem logischen Gegenstand so über ihn zu reflektieren, als ob er ein realer Gegenstand wäre? 3 4 1 Ferner ist zu überlegen, ob wir nicht gerade wegen der Problematik der Ausführlichkeit der Zergliederung eines Begriffs in einer analytischen Definition 3 4 2 , der wir durch mehrere analytische Urteile nahe zu kommen suchen, 343 ob wir nicht gerade wegen dieser nicht zu beseitigenden Unsicherheit bezüglich der Ausführlichkeit, die ja auch eine Unsicherheit bezüglich der Angemessenheit (Adäquatheit) des zu analysierenden Begriffs mit sich bringt 344 , bei dem Versuch der Deutlichmachung dieses Begriffs, die „Idee einer logischen Vollkommenheit" 3 4 5 zum Prinzip nehmend, über diesen Begriff so reflektieren müssen, bzw. immer schon reflektiert haben, als ob er angemessen wäre, indem wir seine Darstellung als „brauchb a r e " 3 4 6 ansehen. Sollte sich nun — um wieder auf Hegels Ausführungen über die Methode zurückzukommen — bestätigen, daß die s p e k u l a t i v e , ebenso a n a l y t i s c h e , vom Einzelnen zum Allgemeinen zurückgehende, wie Vgl. K.r.V., A 320/ В 377 (354). Vgl. dazu das Einleitungskapitel dieser Arbeit. 3 4 2 Vgl. K.r.V., А 728/9 / В 756/7 (669/70) und Kants Schriften. Werke IX, Logik, § 104, 142 sowie a.a.O., Werke X X I V , Logik Pölitz, 570/1 und Wiener Logik, 915ff. 343 Vgl Prolegomena, § 2, 20. 3 4 4 Vgl. Kants Schriften. Werke IX, Logik, Einleitung VIII, 63. 3 4 5 A . a . O . , § 105, Anm. 1, 143. 3 4 6 Ebenda. 340
341
331
Die Idee
s y n t h e t i s c h e , vom Allgemeinen zum Einzelnen vorgehende Methode des (unendlichen) Erkennens nur die dialektische, entgegengesetzte Bewegung des Begriffs, die a b s o l u t e (unendliche), ebenso v o r a u s s e t z e n d e wie s e t z e n d e Reflexion des Begriffs ist, so wäre, auf die Betrachtung der Momente des Erkennens in ihrer Isolation zurückkommend, angesichts dessen,
daß
konkreten
das
analytische
Gegenstand
Erkennen
anfängt 3 4 7
zu
mit
einem
vermuten,
vorausgesetzten,
daß
eine
gewisse
Entsprechung zwischen der Methode des a n a l y t i s c h e n E r k e n n e n s und der v o r a u s s e t z e n d e n R e f l e x i o n und mithin zwischen der Methode des s y n t h e t i s c h e n E r k e n n e n s und der s e t z e n d e n R e f l e x i o n besteht. 3 4 8 Was nun den Ubergang von der analytischen zur
synthetischen
Methode anbetrifft, so führt Hegel aus, daß Material und Begründung der Definition als des Ausgangspunktes der synthetischen Methode durch die analytische Methode herbeigeschafft wird, daß Definitionen also auf analytischem Wege entstehen. 3 4 9 347 348
349
Vgl. Log. II, 443 und SW Bd. 8, § 227, 436. Bedenkt man einerseits, daß der Hegeische Begriff der analytischen (bzw. synthetischen) Methode als isolierter zunächst dem Kantischen Begriff der analytischen (bzw. synthetischen) Methode entspricht — wenn auch nur insoweit, als unter ihm nicht ganz etwas anderes als der Inbegriff analytischer (bzw. synthetischer) Sätze verstanden wird — und andererseits, daß Hegels Begriff der voraussetzenden (bzw. setzenden) Reflexion Kants Begriff der reflektierenden (bzw. bestimmenden) Urteilskraft entspricht — wenn auch nur insoweit, als die reflektierende Urteilskraft als eine Urteilskraft gefaßt wird, die die bestimmende in sich enthält (vgl. das Einleitungskapitel dieser Arbeit) — so würde eine Entsprechung zwischen analytischer Methode des Erkennens und voraussetzender Reflexion, bzw. zwischen synthetischer Methode und setzender Reflexion rückbezüglich der Kantischen Philosophie einen Hinweis darauf enthalten, daß möglicherweise Kant auch dahingehend besser zu verstehen ist, als er sich selbst verstanden hat, als — mit bestimmten Einschränkungen — seine Einteilung der Urteile in analytische und synthetische seiner Einteilung der Urteile in reflektierende und bestimmende korrespondiert. Bei dem Versuch, eine solche Vermutung zur Arbeitshypothese für die Kantinterpretation zu machen, ergeben sich jedoch offenbar so viele Weiterungen, daß eine Diskussion des Für — hier wäre, was das Verhältnis von synthetischem Urteil und bestimmendem Urteil angeht, u. a. zunächst wieder auf § 36 der „Logik" (Werke I X ) zu verweisen, wo ausgeführt wird, daß synthetische Sätze im Unterschied zu analytischen nur logische Prädikate enthaltenden Sätzen Bestimmungen enthalten, sowie auf Kants Unterscheidung eines logischen und eines realen Prädikats in der „Kritik der reinen Vernunft", wo er ausführt, daß die Bestimmung ein (reales) Prädikat ist, das über den Begriff des Subjekts hinzukommt und ihn vergrößert (vgl. K.r.V., A 598/ В 626 (571) und N 5703 „Alle Bestimmung ist Synthesis") (zum Verhältnis von synthetischem Urteil und bestimmendem Urteil beachte auch die weiteren Hinweise, die bereits Vaihinger in seinem Kommentar zu Kants „Kritik der reinen Vernunft" gegeben hat, a.a.O., 262) — und Wider — hier wäre zur Klärung der Frage, ob auch alle Synthesis Bestimmung ist u.a. auf das Problem der reinen Geschmacksurteile als ästhetisch reflektierender synthetischer Urteile a priori zurückzukommen (vgl. K. U . , § 36) - den Rahmen dieser Erörterung sprengen würde. Vgl. SW Bd. 8, § 229, 438.
332
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
„Der Natur des Begriffes nach ist das Analysiren das Erste, indem es den gegebenen empirisch-concreten Stoff vorerst in die Form allgemeiner Abstractionen zu erheben hat, welche dann erst als Definitionen in der synthetischen Methode vorangestellt werden können." 3 5 0 Erkennt das analytische Erkennen die Bestimmung der Identität als die seinige und ist nur das Auffassen dessen, was ist, so geht das synthetische Erkennen auf das Begreifen dessen, was ist, d. h. darauf, die Mannigfaltigkeit von Bestimmungen zusammen in ihrer Einheit zu fassen. Es hat das Verschiedene zu seinem Prinzip und sein Ziel ist die Notwendigkeit, 351 die sich allerdings als eine der Freiheit des Begriffs gegenüberstehende Notwendigkeit ergibt, zu der das synthetische Erkennen es durch das Beweisen bringt. 352 Zu den drei Momenten des synthetischen Erkennens, der Definition, der Einteilung und dem Lehrsatz (Theorem), die Hegel in der „Wissenschaft der Logik" recht ausführlich behandelt, 353 möchte ich hier nur eine Bemerkung zum Lehrsatz machen, von dem weiter oben bereits kurz die Rede war. Nimmt man die Euklidische Geometrie als Repräsentantin der synthetischen Methode, für die sie nach Hegel das vollkommenste Muster liefert, 354 so kann der Pythagoreische Lehrsatz — der „Hauptsatz in der Geometrie" 3 5 5 — als hervorragendes Beispiel für einen Lehrsatz angesehen werden. 3 5 6 Die geometrische Wissenschaft mit ihren Lehrsätzen ist das „glänzende Beispiel der synthetischen Methode" 3 5 7 , für andere Wissenschaften 350 351 352
353 354 355 356 357
A.a.O., § 231, 441. Vgl. Log. II, 450. Als Hauptvertreter des Standpunkts des synthetischen Erkennens nennt Hegel Spinoza und Wolff. Vgl. SW Bd. 8, § 229, 439 und § 231, 441, ferner Log. II, 474/5. Vgl. Log. II, 4 5 1 - 4 7 7 und SW Bd. 8, §§ 2 2 9 - 2 3 1 . Vgl. Log. II, 467. SW Bd. 17, 294. Vgl. Log. II, 468f. A.a.O., 471. Wie Hegel die Erkenntnisweise der A r i t h m e t i k - der Wissenschaft des Quantums — die das Eins (nicht die Zeit, die als solche nicht fähig ist, vollständiges Schema des Quantums zu sein und in das Eins übergeht) zu ihrem Prinzip hat (vgl. Log. II, 446ff., Log. I, 199ff., SW Bd. 3, § 106, 193/4 und Phä., 38) - analytisch ist (vgl. Log. II, 445), so hat nach ihm die G e o m e t r i e — die Wissenschaft des Raums (vgl. Log. II, 453f., SW Bd. 3, § 105, 193 und SW Bd. 9, § 259, 83 ff.) - die „synthetische Methode des endlichen Erkennens in ihrer Vollkommenheit" (SW Bd. 8, § 231, 442). Das synthetische Erkennen ist in seiner strengsten Form das geometrische (vgl. SW Bd. 3, § 79, 165). Der Raum und das Eins sind der Stoff, „über den die Mathematik den erfreulichen Schatz von Wahrheiten gewährt" (Phä., 37). Mit der Unwirklichkeit der Dinge der Mathematik
Die Idee
333
dagegen ist diese Methode ungenügend, „am ungenügendsten aber bei der Philosophie." 3 5 8 „Unpassenderweise" 359 ist sie aber auch auf die Philosophie angewendet worden. Die Vermittlung der verschiedenen im Lehrsatz als verbunden ausgesprochenen Bestimmungen, aus der die Notwendigkeit der synthetischen Beziehung für das endliche Erkennen hervorgeht, ist der Beweis. 3 6 0 Der Lehrsatz muß demonstriert, d.h. bewiesen werden. „In der Tat, indem das Prinzip der Philosophie d e r u n e n d l i c h e f r e i e B e g r i f f ist und aller ihr Inhalt allein auf demselben beruht, so ist die Methode der begrifflosen Endlichkeit nicht auf jenen passend. Die Synthese und Vermittlung dieser Methode, das B e w e i s e n , bringt es nicht weiter als zu einer der Freiheit gegenüberstehenden N o t w e n d i g k e i t , — . . , " 3 6 1 Rückblickend auf die Methoden des endlichen Erkennens ist festzuhalten, daß sich die synthetische Methode so wenig wie die analytische für die Philosophie eignet. Beide sind „so wesentlich und von so glänzendem Erfolge in ihrem eigenthümlichen Felde, für das philosophische Erkennen unbrauchbar". 3 6 2 Die Methoden der Mathematik sind für die Philosophie unbrauchbar. Hatte sich als Prinzip des a n a l y t i s c h e n E r k e n n e n s die abstrakte analytische I d e n t i t ä t ergeben, eine Identität, die als Identität von Subjekt und Prädikat das a n a l y t i s c h e M o m e n t des U r t e i l s ausmacht, — das Analytische als „das ganz abstrakt Identische und Tautologische" 3 6 3 zeigt sich in seinem Extrem, in dem es den Namen des Analytischen strenggenommen nicht mehr tragen kann, im identischen Satz, im p o s i t i v
358 359 360 361
362 363
sich abzugeben ist aber nach Hegel nicht die Aufgabe der Philosophie. Im unwirklichen Element der Mathematik — d. h. hier im Element des analytischen und des synthetischen Erkennens — gibt es nur „unwirkliches Wahres, d.h. fixierte tote Sätze" (ebenda). Solche Sätze aber sind zum Ausdruck der dialektischen Bewegung des Begriffs, zum Ausdruck des Spekulativen ungenügend. (Vgl. Log. I, 211/2). Log. II, 473. A . a . O . , 471. Vgl. a.a.O., 470ff. und SW Bd. 8, § 231, 440ff. Log. II, 476. In Absatz 65 der Vorrede zur „Phänomenologie" führt Hegel aus, daß die dialektische Bewegung des Satzes das wirkliche Spekulative ist, und daß nur das Aussprechen dieser entgegengesetzten Bewegung, „welche das ausmacht, was sonst der Beweis leisten sollte" (Phä., 53) spekulative Darstellung ist. „Bei dem sonstigen Erkennen macht der Beweis diese Seite der ausgesprochnen Innerlichkeit aus. Nachdem aber die Dialektik vom Beweise getrennt worden, ist in der Tat der Begriff des philosophischen Beweisens verloren gegangen." (Ebenda). SW Bd. 8, § 231, 441. Log. II, 447.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
u n e n d l i c h e n U r t e i l - so hatte sich als Prinzip des s y n t h e t i s c h e n E r k e n n e n s der U n t e r s c h i e d ergeben, ein Unterschied, der als Nichtidentität von Subjekt und Prädikat das s y n t h e t i s c h e M o m e n t des U r t e i l s ausmacht — das Synthetische als das ganz abstrakt Nichtidentische und Verschiedene müßte sich dementsprechend in seinem Extrem, im n e g a t i v u n e n d l i c h e n U r t e i l zeigen, in einem Extrem, in dem es sich aber mit dem anderen Extrem berührt und ad absurdum geführt wird. Vom analytischen und vom synthetischen Moment des endlichen Erkennens bzw. Urteilens, wie sie einander — gleichsam auf die Spitze getrieben und deshalb auch fähig, in ihr Entgegengesetztes umzuschlagen — im positiven und im negativen (schlechten) unendlichen Urteil als dem sozusagen bloß verunendlichten positiven und negativen endlichen Urteil entgegengesetzt sind, gilt aber das Gleiche, was bereits von diesen Urteilen selbst gesagt wurde, nämlich daß sie als isolierte unfähig sind, das Spekulative und die Wahrheit in sich zu fassen. 364 Das analytische wie das synthetische Moment des Urteils sind in Wahrheit Momente einer und derselben dialektischen die Entgegensetzung in sich habenden Bewegung des Satzes, die das wirkliche Spekulative ist, das „nicht als Satz ausgedrückt werden k a n n . " 3 6 5 Im philosophischen, d.h. hier sowohl regressiven wie progressiven Gedankengang durch den Satz, wird dessen spekulative Wahrheit erfaßt und im Satz das wahrhafte (absolute, d.h. hier durch die Identität der Identität und der Nichtidentität von Subjekt und Prädikat 366 gekennzeichnete) unendliche Urteil erkannt, das die absolute spekulative Idee selbst ist, 3 6 7 die nicht die Einseitigkeit hat, „welche im Satze liegt" und deren Natur es ist, „sich selbst sofort zu bewegen, daß sie als bestimmte sich wieder in Einheit mit dem entgegengesetzten Bestimmten setzt . . , " 3 6 8 364 365
Vgl. L o g . I, 7 6 / 7 und Log. II, 4 9 5 . S W Bd. 18, 580.
366
Das spekulative Denken besteht — einfacher gesagt — auch hier in nichts anderem als darin, die beiden Gedanken des Subjekts und des Prädikats zusammenzubringen. Die Betrachtung der Identität der Identität und der Nichtidentität beider ist die Betrachtung des Urteils als eines sowohl· analytischen als auch synthetischen.
367
Vgl. SW Bd. 8, § 2 1 4 , 428.
368
SW Bd. 18, 579. B . Liebrucks hat in seiner Interpretation der letzten Kategorie der „Wissenschaft der L o g i k " die absolute, sich von sich lösende Idee — deren Identität mit sich nicht die Identität des Verstandes, sondern eine Identität in der Nichtidentität ist — als E n t sprechung gedeutet. (Vgl. B . Liebrucks, Sprache und Bewußtsein, Bd. 6 / 3 , 581 ff.; vgl. dazu insbes. L o g . II, 4 8 6 : „Die Methode ist daraus als d e r s i c h s e l b s t w i s s e n d e , s i c h als das Absolute, sowohl Subjektive als Objektive, z u m G e g e n s t a n d e h a b e n d e B e -
335
Die Idee
Diese absolute Idee, in der das Problem des spekulativen Satzes am Ende gipfelt, ist jetzt etwas näher zu betrachten. 369 " 1 " 370 Dazu soll hier insbesondere von den Textpassagen des letzten Kapitels der „Wissenschaft der Logik" ausgegangen werden, in denen Hegel auf die Distinktion des Analytischen und Synthetischen zurückkommt.
Die absolute Idee (Log. II, 3. Buch, 3. Abschnitt, 3. Kapitel, 4 8 3 - 5 0 6 ) Die spekulative Methode als eine sowohl analytische als auch synthetische Der
„einzige
Methode Gegenstand
und
Inhalt
der
Philosophie" 3 7 1 ,
die
„ s p e k u l a t i v e o d e r a b s o l u t e I d e e " 3 7 2 , ist „die sich selbst denkende Idee". 3 7 3 Sie ist das „ a b s o l u t e W i s s e n i h r e r s e l b s t " 3 7 4 , der Begriff des Begriffs. K. Harlander hat in seiner Arbeit „Absolute Subjektivität und kategoriale Anschauung" zurecht die These vertreten, daß die absolute Idee der innerste Kern der Logik, das Systematische des Systems in seiner
369
g r i f f , somit als das reine Entsprechen des Begriffs und seiner Realität, als eine Existenz, die er selbst ist, hervorgegangen.") Es sollte hier keine vollständige Interpretation der theoretischen Idee des Wahren (vgl. Log. II, 439 ff.) gegeben werden. Vielmehr sollten die beiden Momente des endlichen Erkennens auseinandergelegt werden, die im absoluten spekulativen Erkennen zusammengefaßt bzw. begriffen sind. Da es in diesem Zusammenhang vor allem auf diese Komprehension ankommt, kann auf eine Interpretation der praktischen Idee, der Idee des Guten (vgl. a.a.O., 477ff.) verzichtet werden.
370
Ist der freie Geist die Einheit des theoretischen und praktischen Geistes (vgl. SW Bd. 10, § 481, 379), so kann die absolute Idee als Identität der theoretischen und praktischen Idee (vgl. Log. II, 483 und SW Bd. 8, § 236 Zusatz, 446), als freie Idee bezeichnet werden. — Zu Anfang der Lehre vom Begriff, wo Hegel vom Begriff im allgemeinen handelt, sagt er, daß sich im Begriffe das „Reich der F r e i h e i t " eröffnet habe. (Log. II, 218). (Zur Begriffsgeschichte des Ausdrucks „Reich der Freiheit" vgl. L. Oeing-Hanhoff, Das Reich der Freiheit als absoluter Endzweck der Welt, in: Freiheit, hrsg. von J . Simon, Freiburg/München 1977, Abschnitt II und III, 57ff.).
371
Log. II, 484. SW Bd. 8, § 235, 446. A . a . O . , § 236, 446. „Bisher haben w i r die Idee in der Entwickelung durch ihre verschiedenen Stufen hindurch zu unserm Gegenstand gehabt; nunmehr aber ist die Idee sich selbst gegenständlich. Dieß ist die νόησις νοήσεως, welche schon Aristoteles als die höchste Form der Idee bezeichnet hat." (Ebenda, vgl. SW Bd. 18, 3 3 0 - 3 3 4 ) . Vgl. dazu die akribische Untersuchung über Hegels Interpretation von Aristoteles' Noesis Noeseos von K. Düsing, in: Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a.a.O., 3 0 5 - 3 1 3 .
372 373
374
Log. II, 413.
336
II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
Ausbreitung ist, daß in ihr das ganze System in seiner größten Verdichtung enthalten ist. 3 7 5 O b sich freilich in Anbetracht der Hegeischen Darstellung der logischen Fortbestimmung der Kategorien zur absoluten Idee Hegels Polemik gegen die Kantische Weise der Auffindung der Kategorien 376 mutatis mutandis gegen Hegel selbst richten läßt 3 7 7 — ob sich z . B . bezüglich der Begriffslogik in der Methode keine Notwendigkeit dafür erkennen läßt, daß der Begriff zunächst als Begriff als solcher, weiter als Urteil, Schluß, als Mechanismus, Chemismus, Teleologie, als Idee des Lebens, des endlichen Erkennens und des endlichen Wollens gesetzt werden muß, bevor er als Begriff des Begriffs auftreten kann 3 7 8 — ließe sich m . E . nur durch Einzeluntersuchungen innerhalb der logischen Fortbestimmung zeigen, und zwar ungeachtet dessen, daß Hegels Rede von der Unvollkommenheit der Bearbeitung der „Wissenschaft der Logik" in der Vorrede zur zweiten Ausgabe 379 in der Tat wohl nicht einer nur rhetorischen Bescheidenheit entsprang — m . E . bedarf es keiner Mikrologie, um auf Unklarheiten zu stoßen, die auch der geneigteste Leser nicht ausschließlich auf die eigene Rechnung zu setzen vermag — und deshalb bei der Untersuchung eines einzelnen Abschnitts unter Umständen nicht festgestellt werden kann, ,,ob das Resultat nicht etwa durch eine an dieser Stelle mangelhafte Durchführung der Entwicklung, also durch ein akzidentelles Ungenügen geprägt wurde." 3 8 0 — Ich sehe keine andere Möglichkeit, als diejenige, bei einer Prüfung von dem Text auszugehen, der auf uns gekommen ist. Was nun im Kapitel über die spekulative „Idee des absoluten Erkennens" 3 8 1 noch zu betrachten ist, ist die Bewegung des sich selbst wissenden, sich begreifenden, sich zum Gegenstand habenden Begriffs. 382 Diese Bewegung des Begriffs des Begriffs ist die spekulative oder absolute Methode. Was hier Methode genannt wird, ist aber nichts als der philosophische Gedankengang des spekulativen Erkennens selbst, in welchem von den logischen Bestimmungen selbst nicht sogleich abgesehen Vgl. K. Harlander, Absolute Subjektivität und kategoriale Anschauung, a.a.O., 1, 14, 55. 3 7 6 Vgl. u.a. Phä., 179. 377 vgl. K. Harlander, Absolute Subjektivität und kategoriale Anschauung, a.a.O., Kap. IX.4, 9 7 - 1 0 0 . 3 7 8 Vgl. a.a.O., 78. 3 7 9 Vgl. Log. I, 9. 3 8 0 K. Harlander, Absolute Subjektivität und kategoriale Anschauung, a.a.O., 103, Anm. 25. 3 8 1 Log. II, 505. 3 8 2 Vgl. a.a.O., 486 und 504/5 und SW Bd. 3, 166, § 94.
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Die Idee
337
wird, was im natürlichen Verhalten des Vorstellens gewöhnlich geschieht, sondern in welchem es um eine „Rekonstruktion" 383 der logischen Entwicklungsgeschichte der Prädikamente bzw. der Denkbestimmungen in ihrer Notwendigkeit geht, in welchem den Momenten des Begriffs nachgegangen wird, die alle unsere Vorstellungen zunächst instinktmäßig und bewußtlos durchziehen und selbst dann noch unbeachtet bleiben und nicht zum Bewußtsein kommen, wenn sie in die Sprache hereintreten. Die „absolute Methode des Erkennens" 384 ist nichts als das Nachgehen des immanenten Ganges der Entwicklung des Begriffs, 385 das Nachdenken über die innere Selbstbewegung des Gewordenseins des Begriffs, die Rekonstruktion dieses „sich selbst konstruierenden Wege(s)". 386 „Was hiemit als Methode hier zu betrachten ist, ist nur die Bewegung des B e g r i f f s selbst . . ." 3 8 7 „Die philosophische Methode ist sowohl analytisch als auch synthetisch, jedoch nicht in dem Sinn eines bloßen Nebeneinander oder einer bloßen Abwechselung dieser beiden Methoden des endlichen Erkennens, sondern vielmehr so, daß sie dieselben als aufgehoben in sich enthält und demgemäß in einer jeden ihrer Bewegungen sich als analytisch und synthetisch zugleich verhält. Analytisch verfährt das philosophische Denken, in sofern dasselbe seinen Gegenstand, die Idee, nur aufnimmt, dieselbe gewähren läßt und der Bewegung und Entwickelung derselben gleichsam nur zusieht. Das Philosophiren ist in sofern ganz passiv. Eben so ist dann aber das philosophische Denken synthetisch, und erweist sich als die Thätigkeit des Begriffs selbst. Dazu aber gehört die Anstrengung, die
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Log. I, 19. Zum Begriff der Rekonstruktion vgl. den Aufsatz von K. Hartmann, Hegel: A Non-Metaphysical View, in: Hegel, A Collection of Critical Essays, ed. by A Maclntyre, New York 1972, insbes. 103f. Log. I, 7. Vgl. a.a.O., 19 und dazu Phä., Vorrede, Absatz 58, 48. L. Eley hat in seiner Arbeit „Hegels Wissenschaft der Logik" zu zeigen versucht, daß die „Wissenschaft der Logik" eine „konstruktive Wissenschaft" ist, was dort so viel heißt wie daß sie die immanente Entwicklung des Begriffs, die Selbstbewegung der absoluten Idee ist. (Vgl. a.a.O., l l f . , 14, 17f., 23, 40, 58, 140 u. 188ff.). Log. II, 486. Erinnert man sich daran, daß die dialektische Bewegung das wirkliche Spekulative ist, das im spekulativen Satz dargestellt werden soll (vgl. Phä., 53) und erkennt nun in dieser entgegengesetzten Bewegung die absolute Methode bzw. die absolute Idee, so könnte man — wäre man bereit, für die „absolute Idee" den Namen „ G o t t " einzusetzen (vgl. a.a.O., 54) — zu dem Ergebnis kommen, daß die dialektische Bewegung des spekulativen Satzes, daß sein philosophischer Inhalt zuletzt Gott selber ist. Vgl. E. Heintel, Hegel und die Analogia Entis, a.a.O., 20 und ders., Der Begriff des Menschen und der „spekulative Satz", a.a.O., 223, Anm. 26.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der Logik"
eignen Einfälle und besondern Meinungen, welche sich immer hervorthun wollen, von sich abzuhalten." 3 8 8 а ~в. S W Bd. 8, § 238 Zusatz, 449, vgl. SW Bd. 3, § 85, 167, wo Hegel gleichfalls ausführt, daß der Gang oder die Methode des absoluten Wissens ebensosehr analytisch als synthetisch ist. Vgl. ferner Phä., Vorrede, Absatz 58, 48. 3 8 8 b D i e Begriffe „analytisch" und „synthetisch" können m . E . zumindest ebensosehr als Schlüsselbegriffe der Methode angesehen werden wie die Begriffe „Unmittelbarkeit" und „Negation". Vgl. D . Henrich, Hegels Logik der Reflexion, a.a.O., 101 — 105. — „Negation" ist unstreitig einer der bedeutendsten Grundoperationen der Logik Hegels. Dennoch bin ich nicht der Auffassung, daß sie die einzige Basis für die Entfaltung der Begriffsstruktur der „Idee" ist. Vgl. D . Henrich, Formen der Negation in Hegels Logik, in: Hegel-Jahrbuch 1974, 245. 3 8 8 c Auch W. Marx hat in seiner scharfsinnigen, sich in höchst komplizierten Gedankengängen bewegenden Analyse der Struktur der absoluten Idee als absoluter Vermittlung Hegels Kennzeichnung der spekulativen Methode als einer solchen, die analytisch und synthetisch zugleich ist, gerade im Hinblick auf das absolute Verhältnis des Inhalts und der Form nicht genügend Beachtung geschenkt. (Vgl. insbes. § 3 d ( 7 8 - 8 4 ) der Arbeit von W . Marx über „Hegels Theorie logischer Vermittlung", Stuttgart 1972, in der Marx zu zeigen versucht, daß es keine absolute Vermittlung von Form und Inhalt bzw. von Vermittlung und Unmittelbarkeit geben kann. Zu dieser Generalthese, die m . E . allerdings vom Hegeischen Text abgewiesen wird, vgl. auch a.a.O., 18ff.) 3 8 8 d K . Harlander, der sich in seiner Arbeit „Absolute Subjektivität und kategoriale Anschauung" recht ausführlich mit der absoluten Idee befaßt hat (vgl. vor allem a.a.O., Kap. VII und V I I I , 56—92), begreift das analytische Moment als „Sinnvernehmen" und das synthetische Moment als „Sinnproduzieren", (vgl. a.a.O., 67): „Die Methode als Synthesis ist so das voraussetzungslose P r o d u z i e r e n i h r e r s e l b s t als des S i n n e s . Als Analysis ist sie in Einheit mit diesem Produzieren das r e i n e A u f f a s s e n o d e r V e r n e h m e n i h r e r s e l b s t . Wir haben bereits erläutert, daß ein Vernehmen, das zugleich Produzieren ist, nur dann denkbar ist, wenn es sich hierbei um die Strukturen des reinen Sinnes als solchen handelt." ( A . a . O . , 66/7). 3 8 8 c U . Guzzoni hat in ihrer Arbeit „Werden zu sich, Eine Untersuchung zu Hegels „Wissenschaft der Logik" " die absolute Methode als das Werden des Absoluten zu sich gefaßt. (Vgl. a.a.O., 48). Dieses Werden des Absoluten zu sich — dessen Selbstbewegung — wird als „gegenläufige Einheit seines Sich-Gründens und Sich-Begründens" (a.a.O., 8, vgl. auch a.a.O., 52ff. und 101 ff., Dritter Teil, Das .logische' Werden zu sich als Zugleich von Gründen und Begründen) betrachtet — auf eine Betrachtung des Kapitels über den Grund in der „Wesenslogik" wird in diesem Zusammenhang übrigens verzichtet wobei das Verhältnis dessen, was Guzzoni als die beiden Sinnmomente im Werden zu sich bezeichnet, nämlich das von „Gründen" und „Begründen" als eine bestimmte Ausprägung des Verhältnisses von Sein und Denken verstanden wird. Obgleich nun das sogenannte Sich-Begründen auch als ein Sich-Synthetisieren (vgl. a.a.O., 66 - 7 2 ) und das sogenannte Sich-Gründen als ein Sich-Analysieren (vgl. a.a.O., 78—81) gefaßt wird, hat Guzzoni in ihrer Interpretation der absoluten Methode (vgl. a.a.O., 30—51, Erster Teil, C . Die Bewegungsweise des Absoluten in der „Logik") — wie auch im dritten Teil ihrer Arbeit, in dem die ,logische' Bewegung des Absoluten als das Zugleichsein seines Sich-Gründens und Sich-Begründens verstanden werden soll — Hegels Kennzeichnung der philosophischen Methode als einer sowohl synthetischen als auch analytischen nur kurz gestreift. (Vgl. a.a.O., 40, Anm. 49 und S. 44 sowie 110/1). 3 8 8 f K. Düsing moniert zurecht, daß die Beziehungen der Theorie der absoluten Methode auf die vorangehende Methodenlehre bisher kaum untersucht wurden. 3881
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Im Unterschied zu den Methoden des verständigen endlichen Erkennens verhält sich die spekulative vernünftige Methode des absoluten Erkennens „nicht als äußerliche Reflexion, sondern nimmt das Bestimmte aus ihrem Gegenstande selbst, da sie selbst dessen immanentes Prinzip und Seele ist. — Dies ist es, was P l a t o von dem Erkennen forderte, die D i n g e an und für sich s e l b s t zu b e t r a c h t e n , teils in ihrer Allgemeinheit, teils aber nicht von ihnen abzuirren und nach Umständen, Exempeln und Vergleichungen zu greifen, sondern sie allein vor sich zu haben und, was in ihnen immanent ist, zum Bewußtsein zu bringen. — Die Methode des absoluten Erkennens ist insofern a n a l y t i s c h . Daß sie die weitere Bestimmung ihres anfänglichen Allgemeinen ganz allein in ihm f i n d e t , ist die absolute Objektivität des Begriffs, deren Gewißheit sie ist. — Sie ist aber ebensosehr s y n t h e t i s c h , indem ihr Gegenstand, unmittelbar als e i n f a c h e s A l l g e m e i n e s bestimmt, durch die Bestimmtheit, die er in seiner Unmittelbarkeit und Allgemeinheit selbst hat, als ein A n d e r e s sich zeigt. Diese Beziehung eines Verschiedenen, die er so in sich ist, ist jedoch das nicht mehr, was als die Synthese beim endlichen Erkennen gemeint ist; schon durch seine ebensosehr analytische Bestimmung überhaupt, daß sie die Beziehung im B e g r i f f e ist, unterscheidet sie sich völlig von diesem Synthetischen. Dieses so sehr synthetische als analytische Moment des U r t e i l s ' 3 8 9 ) , wodurch das anfängliche Allgemeine aus ihm selbst als das A n d e r e s e i n e r sich bestimmt, ist das d i a l e k t i s c h e zu nennen." 3 9 0 Die spekulative, ihren Gegenstand begreifende Methode ist insofern analytisch, als sie „im
Er selbst aber hat m . E . trotz der recht eingehenden Erörterung der analytischen und der synthetischen Methode (vgl. K. Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik, a.a.O., 295—304) diese Untersuchung nicht sehr weit vorangetrieben. (Vgl. a.a.O., 314). 388 eLeider ist auch H. Röttges in seinem ausgezeichneten Buch „Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels" auf Hegels Kennzeichnung der synthetisch-analytischen Natur der dialektischen Methode nur en passant zu sprechen gekommen, (vgl. H . Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, insbes. 253) und im letzten Kapitel seines Buches (a.a.O., XI. Abschließende Bemerkungen zum Hegeischen Methodenbegriff im Zusammenhang des Schlußkapitels der Wissenschaft der Logik) nicht näher darauf eingegangen. 389
Sind es die - im Urteil gesetzten — Bestimmungen des Begriffs selbst und deren Beziehungen, die in der Bedeutung als Bestimmungen der Methode zu betrachten sind (vgl. Log. II, 487), so kann es in der Tat nicht überraschen, wenn im Zusammenhang der Ausführungen über die Methode wieder vom U r t e i l die Rede ist (Vgl. W. Albrecht, Hegels Gottesbeweis, a.a.O., 105).
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Log. II, Absatz 8/9, 491. Vgl. dazu a.a.O., Absatz 12ff„ 494ff.
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II. Kapitel. Die „Wissenschaft der L o g i k "
Begriffe bleibt". 3 9 1 Ebensosehr aber ist sie synthetisch, „denn durch den Begriff wird der Gegenstand dialektisch und als anderer bestimmt." 3 9 2 Lehrte uns die Aufklärung des Begriffs, kritisch zu unterscheiden zwischen dem (formalen) logischen Inhalt des Begriffs eines Gegenstandes und dem (materialen) realen Inhalt, d.h. dem Gegenstand eines Begriffs 393 , so werden wir durch die Aufklärung über diese Aufklärung hier daran erinnert, daß in dieser Unterscheidung als Auflösung (Absolvierung) der vorkritischen Identifikation des Logischen und Realen die absolute Identität des Begriffs bewußtlos vorausgesetzt ist, — oder anders gesagt — daß es nämlich das Nichtunterschiedene ist, was sich absolut trennt. 3 9 4 Diese Metakritik führt nicht dazu, die beiden Gedanken der Aufklärung über den Begriff bzw. das Urteil wieder durcheinander zu werfen, wohl aber dazu, diese beiden Gedanken zusammenzubringen in der Einsicht, daß wir um den Gegenstand des Begriffs nur im Begriff des Gegenstandes des Begriffs wissen, bzw. daß der G e g e n s t a n d des Begriffs der Gegenstand des B e g r i f f s ist, daß die Unterscheidung eines Innerhalb und eines Außerhalb des Begriffs im Begriff gemacht wird und daß die Unterscheidung des analytischen und des synthetischen Urteils in ein analytisches Urteil fällt. (Das Sein, das, wenn es nach dem Verstand geht, dem Begriff gegenüber stehen bleiben soll, hat sich der Vernunft so schon zu Anfang der Wissenschaft als Im-Begriff-Sein ergeben.) Der Gegenstand des Begriffs ist schon als ein dem Begriff entsprechender, als ein mit dem Begriff — in deren Nichtidentität — identischer angesehen, wenn von ihm überhaupt die Rede ist. 3 9 5 „Der Gegenstand, wie er ohne das Denken und den Begriff ist, ist eine Vorstellung oder auch ein Name; die Denk- und Begriffsbestimmungen sind es, in denen er ist, was er ist. In der Tat kommt es daher auf sie allein L o g . II, 4 9 9 / 5 0 0 . A . a . O . , 500. 393 Vgl.