Der Sozialwert der Religion: Aufsätze zur Religionssoziologie 9783110212693, 9783110203479

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German Pages 414 [415] Year 2009

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Inhaltsverzeichnis
Einleitung der Herausgeber
Zur sozial-kulturellen Bedeutung der Gruppe. Materialien zu einer sozialethischen Betrachtungsweise
Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft: Emile Durkheim und Georg Simmel
Religion und die Rationalisierung der modernen Welt: Max Weber (1864–1920)
Ethisierung der Religion im gesellschaftlichen Pluralismus, am Beispiel Amerikas: Will Herberg, Gerhard Lenski und Charles Y. Glock
Die Reprivatisierung des heiligen Kosmos: Peter L. Berger und Thomas Luckmann
Zum Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion
Kontinuität und Wandel der Religion. Die strukturell funktionale Analyse in der deutschen Religions- und Kirchensoziologie nach 1945. Versuch einer problemgeschichtlich und systematisch orientierten Bestandsaufnahme
Protestantische Frömmigkeit im neuzeitlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Einige soziologische Erwägungen zur Problemkonstitution wissenschaftlicher Frömmigkeitsforschung
Die „Normativität“ neuzeitlicher Frömmigkeitsgeschichte. Zur aktuellen Bedeutung der klassischen Religionssoziologie Ernst Troeltschs
Protestantische Religion und praktische Rationalität. Zur Konvergenz eines ethischen Themas in der Praktischen Theologie Otto Baumgartens und Soziologie Max Webers
Neue Religiosität aus der Sicht eines Soziologen. Aspekte homiletischer Prolegomena
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Der Sozialwert der Religion: Aufsätze zur Religionssoziologie
 9783110212693, 9783110203479

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Volker Drehsen Der Sozialwert der Religion

Volker Drehsen

Der Sozialwert der Religion Aufsätze zur Religionssoziologie

Herausgegeben von Christian Albrecht, Hans Martin Dober und Birgit Weyel

≥ Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020347-9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort der Herausgeber

Der Tübinger Praktische Theologe Volker Drehsen, geb. 1949, ist dem breiteren theologischen Fachpublikum vor allem mit seiner 1988 erschienenen, umfänglichen Monographie „Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie“ (Zwei Bände, Gütersloh 1988) präsent. In dieser Studie wird die Bedeutung der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung für die Entwicklung und die methodische Verfeinerung der Praktischen Theologie im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert erschlossen. Weniger stark im Bewußtsein ist der Umstand, daß der Theologe und Soziologe Drehsen dieser Monographie mit zahlreichen, seit 1970 vorgelegten religionssoziologischen Aufsätzen vorgearbeitet hat. Sie erschließen die religionssoziologische Theorietradition in ihrer gesamten historischen und thematischen Breite aus der Perspektive ihrer theologischen Bedeutung. Diese Aufsätze, die ebensosehr durch ein hohes Problembewußtsein wie durch minutiöse Detailinterpretation gekennzeichnet sind, sind damals von einem vergleichsweise kleinen Kreis zeitgenössischer theologischer Leser als Zugänge zu einer seinerzeit noch stärker verschlossenen Wissenschaftstradition wahrgenommen worden. Allerdings sind diese Aufsätze – vielfach mikromonographische Skizzen – teilweise an entlegenen Stellen gedruckt und schon für die Zeitgenossen nicht leicht greifbar gewesen. Die – im Zusammenhang der gegenwärtigen Konjunktur des Religionsthemas stehende – Wiederkehr klassischer religionssoziologischer Themenund Problemstellungen, sodann die stetige Bemühung um eine angemessene Theorie des Christentums in der Moderne und schließlich die zunehmende Aufmerksamkeit auf wissenschaftsgeschichtlich-transdisziplinäre Fragestellungen der Praktischen Theologie haben gezeigt, daß das Interesse an den frühen religionssoziologischen Aufsätzen Drehsens auch Jahrzehnte nach ihrem ersten Erscheinen ungebrochen ist. Als akademische Schüler und inzwischen akademische Kollegen von Volker Drehsen haben wir uns darum entschlossen, die wichtigsten dieser Aufsätze zu sammeln und neu herauszugeben. Wir grüßen ihren Verfasser damit zum 60. Geburtstag am 16. Februar 2009 in Respekt und Dankbarkeit. Unser Dank gilt auch zahlreichen am Zustandekommen dieser Sammlung Beteiligten. Zu danken ist zunächst dem Verlag Walter de Gruyter für

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Vorwort der Herausgeber

die bereitwillige Aufnahme des Bandes in sein Programm und für die verlegerische Betreuung. Zu danken ist sodann der Evangelischen Landeskirche in Württemberg für einen namhaften Beitrag zu den Satzkosten. Ohne die vielfache Hilfe der Mitarbeiter an den Lehrstühlen in München und Tübingen hätte der Band kaum in seiner jetzigen Gestalt entstehen können: Wir danken Ursula Heyrowsky M.A., Dr. Mareike Lachmann und stud. theol. Katharina Wörn in München sowie Clemens W. Bethge, Dr. Ruth Conrad, Ellen Deutschle, Dorothee Godel, stud. theol. Anna Görder und stud. theol. Lena Neupert in Tübingen. Dankbar sind wir nicht zuletzt Dr. Stefan Pautler, München, für seinen engagierten technischen und inhaltlichen Rat. Im Herbst 2008 Christian Albrecht, München Hans Martin Dober, Tuttlingen Birgit Weyel, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Vorwort der Herausgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung der Herausgeber. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zur sozial-kulturellen Bedeutung der Gruppe. Materialien zu einer sozialethischen Betrachtungsweise. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft: Emile Durkheim und Georg Simmel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Religion und die Rationalisierung der modernen Welt: Max Weber (1864–1920) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ethisierung der Religion im gesellschaftlichen Pluralismus, am Beispiel Amerikas: Will Herberg, Gerhard Lenski und Charles Y. Glock

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Die Reprivatisierung des heiligen Kosmos: Peter L. Berger und Thomas Luckmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zum Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion. .

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Kontinuität und Wandel der Religion. Die strukturell-funktionale Analyse in der deutschen Religions- und Kirchensoziologie nach 1945. Versuch einer problemgeschichtlich und systematisch orientierten Bestandsaufnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Protestantische Frömmigkeit im neuzeitlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Einige soziologische Erwägungen zur Problemkonstitution wissenschaftlicher Frömmigkeitsforschung . . . . . . . . . . . .

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Inhaltsverzeichnis

Die „Normativität“ neuzeitlicher Frömmigkeitsgeschichte. Zur aktuellen Bedeutung der klassischen Religionssoziologie Ernst Troeltschs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Protestantische Religion und praktische Rationalität. Zur Konvergenz eines ethischen Themas in der Praktischen Theologie Otto Baumgartens und Soziologie Max Webers . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Neue Religiosität aus der Sicht eines Soziologen. Aspekte homiletischer Prolegomena . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Einleitung der Herausgeber

Die bleibende Bedeutung von Volker Drehsens religionssoziologischen Aufsätzen liegt darin, daß sie unverändert gültige, differenzierte Problembeschreibungen liefern. Gerade aus dem wachsenden historischen Abstand zu ihrer Entstehung zeigt sich: die Aufsätze halten der Dynamik der rasanten Veränderungsschübe, denen die Wechselbeziehungen zwischen Religion und Gesellschaft in der Zwischenzeit ausgesetzt waren, deswegen stand, weil sie niemals für Lösungen tagesaktueller Probleme werben wollten, sondern weil sie bleibende Problemstellungen zu formulieren wußten. Wenn sie überhaupt für etwas warben, dann für das Bewußtsein der Komplexität der Sozialbedeutung der Religion, für die Multiperspektivität einer sozialwissenschaftlichen Analyse der Religion und für die Ambivalenzfähigkeit der religionssoziologischen Problemdiagnostik. Drehsens Aufsätze schließen sich damit einem religionssoziologischen Traditionsstrang an, der die Religionssoziologie versteht als analytische Theorie der sozialkulturellen Konstitutions- und Funktionsleistungen von Religion. Für diesen Traditionsstrang stehen etwa die Namen Max Weber, Ernst Troeltsch, Emile Durkheim, Georg Simmel, Talcott Parsons, Thomas Luckmann, Peter L. Berger, Trutz Rendtorff – soweit diese sich, vor allen Feindifferenzierungen, einem gemeinsamen Programm zurechnen lassen. Drehsens Aufsätze schließen sich dem Theorieprogramm dieser Autoren an – und sie schreiben dieses Theorieprogramm fort. Sie schreiben es fort in der werkerschließenden, Problemkontexte wie -kontinuitäten freilegenden Interpretation von Autoren, die selbst als Protagonisten oder gar Klassiker eben jener religionssoziologischen Theorietradition gelten müssen oder sollen gelten können. Wie die Religion auf vielfältigen gesellschaftlichen Ebenen ihre Funktion gerade als Religion erfüllt, ist die subtile Fragestellung dieses Typs von Religionssoziologie, der sich die interpretierten Autoren ebenso wie deren Interpret gemeinsam verpflichtet fühlen. Inhaltliche und methodische Aspekte sind dabei also eng miteinander verflochten. Vier grundsätzliche Kennzeichen sind es vor allem, die für das Programm dieses religionssoziologischen Traditionsstranges inhaltlich bestimmend sind und die hier sehr knapp zusammengefaßt werden sollen.

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Einleitung der Herausgeber

a) Kennzeichnend ist zunächst die – alte – Einsicht, daß die Religionssoziologie sich nicht auf eine Kirchensoziologie reduzieren lassen kann. Zwar können die Aussagen über das Verhältnis von Religion und Gesellschaft nur im Kontext der konkreten Erscheinungen der Religion formuliert werden, die in weiten Teilen durch die institutionelle Form der Kirchen bestimmt ist. Aber eine Religionssoziologie, die sich ausschließlich am Phänomenbestand der Kirchlichkeit orientierte, könnte die sozialkulturellen Begründungs- und Funktionsleistungen der Religion nur unzureichend in den Blick bekommen. b) Kennzeichnend ist sodann die Einsicht, daß Religion und Gesellschaft nicht schematisch zu trennen sind, etwa als gesellschaftsaparter Bereich der Kirche hier und profan religionslose Gesellschaft dort. Vielmehr zeigt die differenzierte Analyse, daß derartige Trennungsversuche stets von bestimmten Interessen geleitet sind – sei es dem religionskritischen Interesse an der Verdrängung der Religion aus dem Raum der Gesellschaft, sei es dem kirchenapologetischen Interesse an der Bestandssicherung der Religion. Tatsächlich aber zeigen Religion und Gesellschaft sich auf eine subtile Weise miteinander verflochten, die dem Selbstverständnis der Religion und ihren Sachwaltern den Rückzug in ein vermeintliches Jenseits der Gesellschaft ebenso verbietet wie umgekehrt der Gesellschaft und ihren Protagonisten den Rückzug in ein illusionäres Diesseits der Religion. Vielmehr zeigt und erkennt die Gesellschaft sich auch im Gewand der Religion, wie umgekehrt die Religion nicht einfach im Bestand empirisch sichtbarer religiöser Gemeinschaft oder Praxen aufgeht, sondern massive soziale Funktionen und Implikationen hat. c) Hinzu tritt die Einsicht in die Bedeutung der sozialwissenschaftlichen Kritik für das Selbstverständnis der Religion. Diese sozialwissenschaftliche Kritik zielt nicht einfach auf die Entzauberung der Religion, sondern sie kann nachgerade eine „soziologische Läuterung“ der Religion bewirken und Einsichten in die genuinen Funktionen wie auch in die Grenzen der Religion fördern. d) Zu nennen ist schließlich das Interesse der Religionssoziologie an dem Verhalten, das die Religion freisetzt; also an dem Einfluß, den die religiösen Deutekosmen auf die Lebensführung haben. Die Heilslehren einer Religion, auch in ihren ethischen Zuspitzungen, werden von der Religionssoziologie nicht im Blick auf ihre lehrmäßige oder lebensweltliche Plausibilität thematisiert, sondern sie beschäftigen die Religionssoziologie nur insoweit, wie sie sich in religiös erzeugte Handlungsenergien und Antriebskräfte umsetzen. Wie für diese inhaltlichen Kernkennzeichen des religionssoziologischen Theorieprogramms gilt auch für die nun zu beschreibenden methodischen Grundzüge: sie sind von Drehsen nicht erfunden worden, aber doch in

Einleitung der Herausgeber

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einer so entschlossenen Weise aufgenommen und fortgeschrieben worden, daß seine religionssoziologischen Aufsätze inzwischen selbst Anspruch auf einen klassischen Rang innerhalb dieser Theorietradition erheben können. Das Methodenprogramm, dem diese Aufsätze sich verdanken und das sie weiterschreiben, folgt einem grundsätzlichen Muster: Die Problembeschreibungen entziehen sich programmatisch schlichten und verkürzten Alternativen. Das zeigt sich im Blick auf einige zwar eingespielte und immer wieder anzutreffende Alternativen, die jedoch durchweg als Scheinalternativen zurückgewiesen werden: a) Zurückgewiesen wird die Scheinalternative zwischen einer Orientierung an klassischen Autoren und einem analytischen Interesse an der Gegenwart. Drehsens Aufsätze zeigen dagegen, daß die Religionssoziologie ihr Gegenwartsinteresse angemessen nur in einem historischen Bewußtsein wahrnehmen kann, in dem die Problemstellungen der Gegenwart diachron und synchron kontextualisiert werden. b) Abgelehnt wird auch die Scheinalternative zwischen einem empirischen Interesse an der Wirklichkeit des religiösen Lebens und einem abstrakt-apriorischen Religionsverständnis. Gezeigt wird vielmehr, daß eine angemessene empirische Analyse nur stattfinden kann auf dem Hintergrund eines theoriegesättigten Verständnisses der geschichtlichen Entwicklungen der Religion. c) Als verkürzend erweist sich auch die Scheinalternative zwischen Kritik und Konstruktion der Religion. Zu sehen ist dagegen, daß die soziologische Kritik der Religion zugleich die theologische Konstruktion der Religion bedeutet – und daß umgekehrt jede theologische Religionskritik immer auch Implikationen für die soziologische Konstruktion der Gesellschaft enthält. d) Verzichtet wird schließlich auch auf die Scheinalternative zwischen dem soziologischen und theologischen Charakter der Religionssoziologie. Drehsens religionssoziologische Aufsätze lassen vielmehr erkennen, daß das Thema der Religionssoziologie – die soziale Dimension der gelebten Religion – ein Thema ist, das die Herkunfts- und Entwicklungsgeschichte der Praktischen Theologie wie der Soziologie gleichermaßen bestimmt hat. Die Aufsätze halten diese Einsicht in den materialen Durchführungen aller religionssoziologischen Erwägungen als grundlegendes methodisches Selbstbewußtsein der Religionssoziologie dauerhaft im Hintergrund. Die hier versammelten elf Aufsätze aus den Jahren 1970 bis 1986 zeigen je einzeln, zugleich aber auch in dem Zusammenhang, in den sie hier erstmals gestellt sind, in welcher Weise Drehsen sich um den Anschluß und die Verfeinerung jener inhaltlichen und methodischen Grundzüge einer modernen Religionssoziologie bemüht hat, die eine analytische Theorie der sozi-

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Einleitung der Herausgeber

alkulturellen Konstitutions- und Funktionsleistungen von Religion zu sein beansprucht. Die Aufsätze markieren, im Zusammenhang gelesen, zugleich aber auch einen innertheologischen Interessensbogen, der von der Ethik in die Praktische Theologie führt. Entstammen die früheren Aufsätze aus den 1970er Jahren ersichtlich einem theologisch-sozialethischen Interesse, so verstärkt sich in den späteren Aufsätzen aus den 1980er Jahren das Interesse an der Theoriegeschichte der Praktischen Theologie – und der letzte Aufsatz vermag gar das Programm aller voranstehenden Aufsätze prägnant zusammenzufassen als Beitrag zu den Prolegomena der Homiletik. In theologischenzyklopädischer Hinsicht erweist sich die Religionssoziologie somit, ganz zu Recht, als eines der Verbindungsglieder, das die enge Verwandtschaft zwischen Ethik und Praktischer Theologie zum Ausdruck bringt. Ein Letztes kommt hinzu: die Aufsätze sind lehrreich. Sie informieren, sie begründen, sie erklären. Sie blenden den Leser nicht – sie führen ihn vielmehr in die Selbständigkeit der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit und der eigenen Urteilsfähigkeit. Es scheint, angesichts mancher Tendenzen in der gegenwärtigen praktisch-theologischen, aber auch soziologischen Literatur, nicht ganz überflüssig, dies eigens zu erwähnen – und als bleibenden Anspruch hervorzuheben.

Die Aufsätze werden hier unverändert wiederabgedruckt. Das Zeichen mit angeschlossener, hochgestellter Seitenzahl bezeichnet den Seitenumbruch im Original. Lediglich die in den Originalen unterschiedliche Fußnotenverwaltung ist behutsam angeglichen, in manchem auch vereinheitlicht worden. Auch die bibliographischen Nachweise von Belegstellen, die in den einzelnen Aufsätzen unterschiedlichen Mustern folgten, sind durchweg vereinheitlicht worden. Manche Aufsätze enthielten im Original neben Anmerkungen in den Fußnoten auch Belegstellennachweise im Haupttext. Diese Nachweise sind, um der leichteren Lesbarkeit des Haupttextes willen, in Fußnoten umgewandelt worden. Da überdies die Zählweise der Fußnoten in den Erstabdrucken teils durch Auslassungen, teils durch Ergänzungen unregelmäßig geworden war, entsprechen die Durchzählungen der Fußnoten in den hier vorliegenden Wiederabdrucken in kaum einem Aufsatz noch dem Original. Einigen Aufsätzen waren am ersten Druckort Skizzen oder Tabellen beigegeben. In ihnen waren, nach Art des Tafelschaubildes, Schlüsselbegriffe gelistet oder durch graphische Hilfsmittel (Pfeile, Striche, Kreise) einander

Einleitung der Herausgeber

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zugeordnet. Da diese Abbildungen keinen über den Text hinausgehenden Informations- oder Argumentationswert haben und da auf sie in den Texten auch niemals Bezug genommen worden ist, ist hier auf ihren Wiederabdruck verzichtet worden. Schreibversehen und Druckfehler wurden stillschweigend berichtigt. Die verwendeten Abkürzungen folgen dem Abkürzungsverzeichnis der Theologischen Realenzyklopädie.

Zur sozial-kulturellen Bedeutung der Gruppe. Materialien zu einer sozialethischen Betrachtungsweise

Die evangelische Sozialethik hat im Gegensatz zur Soziologie, Sozialpsychologie und Psychoanalyse das Problem der sozialen Gruppe bisher, wenn überhaupt, meines Erachtens nur ungenügend bearbeitet. Es fehlt ihr an Interesse, Sachkenntnis, begrifflichem Bezugsrahmen und Ansatzpunkten.1 Die Gründe hierzu mögen vielfältig sein und reichen vom Mangel an Kenntnissen des Gruppenverhaltens (Leopold v. Wiese) bis zur Schwierigkeit, „für die komplizierte Sozialsphäre Aussagen normativen Charakters zu machen“ (Klaus Lefringhausen).2 Darum erscheint es dringend geboten, auf die sozialethische Relevanz des sozio-kulturellen Gebildes der Gruppe hinzuweisen, soziologische Materialien bereitzustellen und auf notwendige neue Ansätze zur Betrachtung der sozialen Gruppe zu dringen. Es wird sich dabei zeigen, daß es sich die Sozialethik nicht länger leisten kann, Aussagen normativen Charakters für den Bereich der Gesellschaft zu machen, wenn sie weiterhin pauschal mit derartig kulturpessimistischen Kategorien wie „Massengesellschaft“, „Kollektivrahmen“, „potentiell autonomes Individuum“ hantiert.3 1

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Eine Ausnahme bilden die Arbeiten von Klaus Lefringhausen: Ethik der sozialen Gruppe?, in: ZEE 9 (1965), S. 164–176. – Klaus Lefringhausen: Ethik des Gruppenverhaltens?, in: Junge Kirche 26 (1965), S. 206–220. – Klaus Lefringhausen: Interessengruppen als Problem politischer Ethik, Stuttgart 1967. – Vgl. dazu auch den Beitrag von Hans Ulrich Jäger: Zum Begriff der Gruppe in der Ethik, in: ZEE 11 (1967), S. 108–117. Es ist hier nicht der Ort, sich mit der Ethik der sozialen Gruppe, wie Lefringhausen sie entfaltet, auseinanderzusetzen, jedoch möchte ich darauf hinweisen (und werde es später mehrmals andeuten), daß mir eine solche Auseinandersetzung vom Standpunkt des Soziologen aus dringend erforderlich scheint. Klaus Lefringhausen: Ethik der sozialen Gruppe? (s.o. Anm. 1), S. 168. Vgl. z. B. Hans Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, Stuttgart 1956. – Arthur Rich: Christliche Existenz in der industriellen Welt, Stuttgart 1964, S. 88–93. – Heinz Dietrich Wendland: Die Kirche in der modernen Gesellschaft. Entscheidungsfragen für das kirchliche Handeln im Zeitalter der Massenwelt, Hamburg 1956; aber auch Klaus Lefringhausen: Ethik der sozialen Gruppe? (s.o. Anm. 1).

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Zur sozial-kulturellen Bedeutung der Gruppe

I. Massenverachtung und Pathos der Distanz Infolge der Ausbreitung der Industrialisierung in Europa und der damit synchron laufenden Bevölkerungsvermehrung brach vor allem im Bewußtsein der bürgerlich Gebildeten „der Aufstand der Massen“ aus;4 der Massenmensch, „der nicht besonders Qualifizierte“, der „Durchschnittsmensch“5 war der Typus der neuen Epoche, vor dem die Eliten, „Individuen oder Individuengruppen von spezieller Qualifikation“6, „Fahnenflucht“7 begingen. Ortega y Gasset beschrieb in einem „psychischen Diagramm des Massenmenschen“ die „ungehemmte Ausdehnung seiner Lebenswünsche und darum sei 356ner Person; und die grundsätzliche Undankbarkeit gegen alles, was sein reibungsloses Dasein ermöglicht hat“8. Fortan war man eifrig bemüht, der Massenerscheinung Attribute zuzuschreiben, die der Verachtung anheimfielen: Strukturlosigkeit, Atomisierung, Unpersönlichkeit, Anonymität, Schwinden der Intelligenz und der persönlichen Verantwortung, hoher Grad von Emotionalität etc.9 Die so traditionell vorgeprägte Betrachtungsweise verhinderte lange Zeit eine affektlose Sicht des Kollektivverhaltens: noch Gustave Le Bons „Psychologie der Massen“10 und Sigmund Freuds „Massenpsychologie und Ichanalyse“11 enthalten Halbwahrheiten und Einseitigkeiten.12 – Die elitär-affektive 4 5 6 7 8 9

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José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, Reinbek 1956. Ebd., S. 9. Ebd., S. 9. Ebd., S. 32. Ebd., S. 41. Ernesto Grassi: Masse, in: José Ortega y Gasset (s.o. Anm. 4), S. 142–146; vgl. dazu: Theodor Geiger: Die Legende von der Massengesellschaft, in: ARSP 39 (1951), S. 305–323; wiederabgedruckt in: Theodor Geiger: Arbeiten zur Soziologie, Neuwied 1962, S. 171–185 (hiernach zitiert). Deutsch 1950. Zuerst 1921. Die Behauptung muß unbewiesen bleiben, da hier nicht der Raum ist, sich mit der Massenpsychologie auseinanderzusetzen. Vielmehr geht es lediglich darum, einen kurzen Abriß jener Tradition zu geben, aus der viele Sozialethiker noch heute reichlich befruchtet werden. Die Soziologie hat sich demgegenüber ausführlich mit der kulturkritischen Massenpsychologie befaßt, gelangte dabei aber zu einer differenzierteren Betrachtungsweise und erkannte Vermassung als ein Strukturmerkmal der modernen Gesellschaft. Vgl. dazu: René König: Masse, in: Soziologie, hg. von René König, Frankfurt a.M. 1967 (wenn nicht anders vermerkt, wird jeweils diese Auflage zitiert), S. 174–189. – René König: Soziologische Orientierungen. Vorträge und Aufsätze, Köln/Opladen 1965, S. 461–493. – Theodor Geiger: Die Masse und ih-

Zur sozial-kulturellen Bedeutung der Gruppe

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Massenverachtung war nur möglich bei gleichzeitiger Absetzung von der Masse; das „Pathos der Distanz“ (Friedrich Nietzsche), das dem Individuum huldigte, war die Voraussetzung, die erlaubte, sich abseits der Masse zu wähnen. Alexander Mitscherlich exemplifiziert jenen Distanzeffekt an einer erfundenen Skizze: „Politische Großversammlung, die Arena gefüllt bis zum letzten Platz, ein Teppich von Menschen und Gesichtern in den aufsteigenden Reihen, der Redner in vollem Zug. Er sagt: ‚Die Vermassung ist an allem schuld.‘ Orkanartiger Applaus.“13 Diese beiden Erscheinungen, Massenverachtung hier, Pathos der Distanz des potentiell autonomen Individuums14 dort, traten parallel auf.15 So entstand ideengeschichtlich die Symbiose von Massenpsychologie und Individualismus, aus der heraus das Individuum gegen das Kollektivgebilde ausgespielt werden konnte.16 357 Das geschieht auch weitgehend in der evangelischen Sozialethik. Klaus Lefringhausen beispielsweise bleibt einem individualethischen Ansatz verhaftet, den er lediglich „relativieren und je nach Größe u. U. minimalisieren“ will.17 Das Pathos der Distanz setzt sich auch bei der Betrachtung eng

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re Aktion. Ein Beitrag zur Soziologie der Revolutionen, Stuttgart 1926. – Theodor Geiger: Die Legende von der Massengesellschaft (s.o. Anm. 9). – Peter Robert Hofstätter: Gruppendynamik. Kritik der Massenpsychologie, Reinbek 1957. Alexander Mitscherlich: Massenpsychologie ohne Ressentiment, in: Die Neue Rundschau 64 (1953), S. 56; zitiert nach: René König: Soziologische Orientierungen (s.o. Anm. 12), S. 467. Urs Weissenfels: Moderne Sozialarbeit in der evangelischen Gemeinde?, in: PTh 57 (1968), S. 113. Vgl. auch Peter Robert Hofstätter: Gruppendynamik (s.o. Anm. 12), S. 10.20. Jene Extreme personifizieren sich in Wilhelm Dilthey: Einleitung in die Geisteswissenschaft, in: Gesammelte Schriften, Band 1, Leipzig/Berlin 1922, S. 420–423 einerseits und Ludwig Gumplowicz: Ausgewählte Werke, hg. von Gottfried Salomon, 4 Bände, Innsbruck 1926–28 andererseits. Dilthey kritisiert die global-synthetische Soziologie, deren Axiom – die Reduktion des Menschen auf die Gesellschaft – er als „metaphysische Hypothese“ desavouiert, der Soziologie als Proprium lediglich eine „bestimmte Richtung der Auffassung“, nicht aber ein eigenes wissenschaftliches Objekt zubilligt. Gumplowicz nimmt die Gegenposition ein und behauptet einen „Gruppenabsolutismus“. Klaus Lefringhausen: Ethik der sozialen Gruppe? (s.o. Anm. 1), S. 165. Gleichwohl hat er das Problem der Individualethik angedeutet: „Viele Bereiche des gesellschaftlichen Lebens (sind) kaum noch ethisch ansprechbar, weil der bisherige individualethische Anspruch eine hoffnungslose Überforderung der Gruppe darstellt.“ Seine „Ethik der sozialen Gruppe“ zielt m. E. jedoch nicht auf eine strukturelle Alternative zur Individualethik, sondern vielmehr auf einen graduellen Ausbau der traditionellen Ethik.

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Zur sozial-kulturellen Bedeutung der Gruppe

umgrenzter Sozialgebilde, zum Beispiel der sozialen Gruppe, durch. Das Sozialgebilde wird in seinem eigentlichen Sein ignoriert und dient lediglich als Folie für den sittlichen Appell an das Individuum, der berechtigt, ja notwendig sein mag, nicht aber Anspruch auf die Bezeichnung „Gruppenethik“ hat.18 So kann als eine erste These aufgestellt werden, die es wahrscheinlich zu machen gilt: Weder von der kulturkritischen Massenpsychologie, noch vom Individualismus, noch von der Polarisierung von Kollektiv und Individuum her läßt sich das Phänomen der sozialen Gruppe sozialethisch angehen. II. Gruppe als Strukturmerkmal Zwei Merkmale, die man dem Massenphänomen zuschrieb, seien hier herausgegriffen und ihre Unhaltbarkeit gezeigt: die Anonymität, die infolge des ,Massenaufstands’ die Sozialsphäre charakterisiere, und die Strukturlosigkeit, derzufolge Masse ein amorphes Gebilde darstelle. Theodor Geiger berichtete 1951 von einem interessanten Experiment:19 über einige Zeit hin protokollierte er sämtliche täglich erfahrenen Sozialkontakte und klassifizierte sie nach ihrem persönlichen (Briefe, Freundeskreis, Familienleben etc.) und anonymen (rein sachlich, ohne Interesse an der Kontaktperson) Charakter. Er stellte fest, daß die Zahl der unpersönlich-anonymen Kontakte lediglich 30% der Gesamtzahl ausmachten, nach der Dauer entsprach das 77% der im wachen Zustand verbrachten Zeit. Daraus zog er den Schluß: „Die in Wahrheit anonym-massenhafte Struktur solcher Großintegrate ist daher nur von untergeordneter Bedeutung für die gesellschaftliche Alltagsatmosphäre, in der der Einzelne lebt.“20 Neben dem quantitativen Überwiegen persönlicher Kontakte wird später noch zu zeigen sein, daß diese auch qualitativ bedeutsamer sind für die Einstellung, das Verhalten und das Bewußtsein der einzelnen als das, 358 was man notdürftig mit ‚Massenkontakt‘ bezeichnen könnte. Hinzu kommt, daß die im Vorwurf der Anonymität behauptete unvermittelte Beziehung zwischen Individuum und Großintegrat 18

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Bezeichnend ist, daß Lefringhausen, nachdem er nach dem sittlichen Subjekt der sozialen Gruppe gefragt hat, dieses nicht finden kann und infolgedessen die ethische Verantwortung denjenigen Gruppenmitgliedern zuschreibt, die er für das Kollektivbewußtsein und -handeln verantwortlich wähnt, dem Funktionär beispielsweise (Klaus Lefringhausen: Ethik der sozialen Gruppe? [s.o. Anm. 1], S. 165.172). Theodor Geiger: Die Legende von der Massengesellschaft (s.o. Anm. 9), S. 176. 177. Ebd., S. 179.

Zur sozial-kulturellen Bedeutung der Gruppe

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sowohl nach der Zahl als auch in der Bedeutung hinter die durch die soziale Gruppe vermittelten Beziehungen zurücktritt.21 In der Tat läßt sich sagen, daß der einzelne in einer Schnittfläche von mannigfaltigen, sich überschichtenden Gruppen steht, daß umgekehrt Gesellschaft beschrieben werden kann als das Aggregat einer Pluralität sich überschneidender sozialer Gruppen. Die Gruppe ist die Zwischeninstanz zwischen Öffentlichkeit und Privatleben. Friedrich H. Tenbruck schreibt: „Nicht Individuen, sondern Gruppen sind die sozialen Einheiten der Gesellschaft.“22 Die Gesellschaft beschreibt er als „ein Gemenge interdependenter Gruppen“23. Welche Gruppen sind das? Die Soziologie hat keine einheitliche Typologie von sozialen Gruppen entwickelt, angesichts der Vielzahl der Erscheinungsformen und Unterscheidungskriterien ist das auch in Zukunft kaum zu erwarten. Nach der im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts erarbeiteten grundlegenden Gruppentheorie, auf die heute noch zurückgegriffen wird, lassen sich grob zwei Unterscheidungsmerkmale nennen: 1. Differenziert man nach der Gruppenmentalität und dem Zusammengehörigkeitsgefühl der Gruppenmitglieder, so erhält man zwei Typen, die sich nach dem Freund-Feind-Schema verhalten. Ludwig Gumplowicz hatte bereits darauf hingewiesen, daß das Bild der Gruppe intern durch Sozialsympathie, das Bild äußerlich aber durch Sozialegoismus, der sich betont von anderen Gruppen absetzt, geprägt sei.24 William G. Sumner unterschied danach die in-group, die durch ein starkes Wir-Gefühl charakterisiert ist, und die outgroup, die man für minderwertig hält.25 Die moderne Sozialpsychologie hat dann gezeigt, wie die Gruppe für das Bild der eigenen Gruppe glorifizierende Autostereotypen und für das der fremden Gruppe diskriminierende Heterostereotypen bildet.26 Ein dritter Typ ist die Bezugsgruppe (reference21

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Vgl. Johann Friedrich Herbart: Allgemeine praktische Philosophie, Band 1, Göttingen 1808, S. 247–258: die Zugehörigkeit zum Großintegrat „Gesellschaft“ beispielsweise, so seine These, geschieht mittelbar auf dem Wege über die „in ihr verbundenen Systeme“; exakter könnte man hinzufügen: primär über die sozialen Gruppen. Auf den umgekehrten Prozeß werde ich zurückkommen, wenn es um die Frage nach dem Einfluß von Massenkommunikationsmitteln geht (Abschnitt III). Friedrich H. Tenbruck: Über soziale Gebilde, in: Wissenschaft und Gesellschaft. Einführung in das Studium von Politikwissenschaft, neuerer Geschichte, Volkswirtschaft, Recht, Soziologie, hg. von Gerd Kadelbach, Frankfurt a.M. 1967, S. 295. Friedrich H. Tenbruck: Über soziale Gebilde (s.o. Anm. 22), S. 306. Ludwig Gumplowicz (s.o. Anm. 16). William Graham Sumner: Folkways, Boston u.a. 1940. Peter Robert Hofstätter: Gruppendynamik (s.o. Anm. 12), S. 98–111. – Peter Robert Hofstätter: Sozialpsychologie, Berlin 1967, S. 179–181. – Peter Robert Hof-

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group), die für ein Gruppenmitglied zwar außerhalb der Eigengruppe steht, nicht jedoch jenen feindlichen Außengruppen zuzurechnen ist, die vielmehr wichtige Orientierungsschemata vermittelt.27 Das nach 359 Bezugsgruppen ausgerichtete Gruppenmitglied steht faktisch in der Eigengruppe, aber seine Meinung ist in einer anderen Gruppe verankert.28 – 2. Ein anderes Unterscheidungsmerkmal ist die Kontaktfrequenz der Individuen mit einer sozialen Gruppe und die Bedeutsamkeit der Gruppe für die Persönlichkeiten der in ihr verbundenen Individuen. Dabei unterscheidet Charles H. Cooley29 Primärgruppen, die man definieren kann als „eine Reihe von Personen, die in einer bestimmten Zeitspanne häufig miteinander Umgang haben und deren Anzahl so gering ist, daß jede Person mit allen anderen Personen in Verbindung treten kann, und zwar . . . von Angesicht zu Angesicht“30, und Sekundärgruppen, denen diese Merkmale fehlen.31 Einen besonderen Typus der Primärgruppe, den neben der Familie wohl bedeutsamsten, ‚entdeckte‘ Elton Mayo Anfang der dreißiger Jahre in einem amerikanischen Industriebetrieb.32 Unabhängig von der formal organisierten Arbeitsgruppe bildeten sich spontane, informelle Gruppen (Untergruppen, Cliquen), „deren gemeinsa-

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stätter: Gruppendynamik, in: Peter Robert Hofstätter: Psychologie, Frankfurt a.M. 1957, S. 155. Vgl. Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure, Glencoe (Ill.) 1961. – Maureen E. Cain: Some Suggested Developments for Role and Reference Group Analysis, in: BJS 19 (1968), S. 191–205 (hier findet sich eine ausgezeichnete Typologie der sozialen Bezugsgruppen). – Nicholas P. Pollis: Reference Group Reexamined, in: BJS 19 (1968), S. 300–307. (Pollis versucht, die Konflikte, die durch Orientierung von Gruppenmitgliedern an Bezugsgruppen entstehen können, zu systematisieren). Alexander Paul Hare: Handbook of Small Group Research, Glencoe (Ill.) 1962, S. 34. Charles H. Cooley: The Two Major Works of Ch. H. Cooley: Social Organization and Human Nature and the Social Order, Glencoe (Ill.), 1956. George Caspar Homans: Theorie der sozialen Gruppe, Köln/Opladen 1968, S. 29. Die Definition der Sekundärgruppe von Friedrich H. Tenbruck (s.o. Anm. 22), S. 299.300 ist unbefriedigend, da das unterscheidende Merkmal, das er herauskristallisiert, „funktionsspezifische Rollenzuweisung“, auch in der Primärgruppe zu finden ist; vgl. dazu: George Caspar Homans (s.o. Anm. 30), S. 164–177. Vielmehr muß darauf hingewiesen werden, daß bei Charles H. Cooley der Begriff der Sekundärgruppe eine Residualkategorie ist; vgl. dazu auch René König: Gruppe, in: Soziologie (s.o. Anm. 12), S. 114. Ein Bericht über Elton Mayos Hawthorne-Experiment findet sich in: Fritz J. Roethlisberger/William J. Dickson: Management and the Worker, Cambridge (Mass.) 1949.

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me Interessen von ihren offiziellen Beziehungen abweichen und die formelle Autoritäts- und andere Beziehungen überschneiden“.33 Ein besonderer Typ der Sekundärgruppe stellt die Gruppe der Gleichaltrigen peer group34 dar. Ein Großintegrat, derart aufgegliedert, erscheint nicht mehr strukturlos: Wenn sich die Sozialsphäre parzellieren läßt in eine Vielzahl sozialer Gruppen, dann erstarrt ‚Masse‘ zu einer Residualkategorie, in der alles eingeordnet wird, was nicht mehr unter den eng umrissenen Begriff der ‚sozialen Gruppe‘ subsumiert werden kann, so nach Theodor Geiger die zufällige Akkumulation von Individuen (beispielsweise auf der Einkaufsstraße), das Publikum im Theater, der Auflauf bei einem Unfall, die Zusammenrottung bei einer Demonstration und eine von Panik erfaßte Menschenmenge.35 Als zweite These wäre demnach zu erheben: Mehr als die Massenerscheinung, die marginal ist36, verdient die soziale Gruppe als Strukturmerkmal der Gesellschaft sozialethische Beachtung. Wenngleich es überspitzt ist, sie über 360haupt als das Fundament für „unser Nachdenken über den Menschen“37 zugrunde zu legen, so stellt sie doch eine „physische Basis der sozialen Erscheinungen“ dar.38 III. Gruppe als integratives Kulturgebilde Nachdem gezeigt wurde, daß die Massenpsychologie keine strukturadäquaten Kategorien für die Betrachtung der Gesellschaft liefert, daß vielmehr die soziale Gruppe als Strukturmerkmal anerkannt werden muß, stellt sich nun die Frage nach dem, was die Gruppe innerhalb des Rahmens ‚Kultur

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Delbert Charles Miller/William Humbert Form: Unternehmung, Betrieb und Umwelt. Soziologie des Industriebetriebes und der industriellen Gesellschaft, Köln/Opladen 1957, S. 88. Als Beispiel für eine Untersuchung über die peer group der Jugendlichen sei hier auf Friedrich H. Tenbruck: Jugend und Gesellschaft, Freiburg i.B. 1965, hingewiesen. Theodor Geiger: Die Masse und ihre Aktion (s.o. Anm. 12), S. 14–25. Damit soll keineswegs eine Massenbewegung wie der Nationalsozialismus verharmlost werden. Wir ziehen hierfür jedoch mit René König: Masse (s.o. Anm. 12), S. 180 und: René König: Soziologische Orientierungen (s.o. Anm. 12), S. 471, den Terminus „Kollektivverhalten“ vor, weil „Masse“ zu vorbelastet ist. Adam Ferguson: Abhandlung über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Jena 1904, S. 3. Franklin H. Giddings: Prinzipien der Soziologie, Leipzig 1911, S. 3.

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und Gesellschaft‘ leistet, genauer: welche Funktionen ihr in der Vermittlung zwischen Individuum und Großintegrat zukommen. 1. Familie. Das wohl wichtigste gruppenhafte Vermittlungsagentium zwischen dem Individuum einerseits und Kultur und Gesellschaft andererseits ist die Familie. Zwar hat sie den Charakter des allumfassenden sozialen Betätigungsfeldes verloren39 – sie ist nicht mehr Produktionsgemeinschaft, weder politisches Sprungbrett, noch exklusives Erziehungsnest, noch Kultgemeinschaft, noch Versicherungsanstalt –, wohl aber kommen ihr grundlegende Aufbaufunktionen von sozialer und kultureller Relevanz zu. So hat man die Familie häufig mit prägnanten Schlagworten zu charakterisieren versucht als „Kraftfeld seelischer Natur“ (René König) oder als „psychologische Agentur der Gesellschaftsnormen“ (Tobias Brocher).40 In der Tat hat die Familie, da der Mensch im Unterschied zum Tier mit nur wenigen, nahezu gar keinen angeborenen Verhaltensweisen zur Welt kommt, wesentliche Hilfestellung zu leisten bei jener „zweiten Geburt“ (René König) der sozio-kulturellen Person.41 Dabei geht es zunächst um die Vermittlung des „Urvertrauens“42 im Mutter-Kind-Verhältnis als „Grunderfahrung seines (i. e. des Kindes) Welterlebnisses“43, konkret: um die Vermittlung der Fähigkeit zu lieben.44 Erst 361 allmählich setzt die Familie dem Kleinkind Widerstand entgegen, legt ihm Normen auf, die internalisiert Bestandteile seines Gewissens bilden, schränkt seine Triebe ein und kontrolliert sie, orien39

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Vgl. Hans Paul Bahrdt: Wandlungen der Familie, in: Hans Paul Bahrdt: Wege zur Soziologie, München 1966, S. 80–95. – William J. Goode: Soziologie der Familie, Köln/Opladen 1967. – René König: Familie, in: Soziologie (s.o. Anm. 12), S. 69– 81. – René König: Sozialpsychologie der gegenwärtigen Familie, in: Soziologische Orientierungen (s.o. Anm. 12), S. 109–119. – Materialien zur Soziologie der Familie, hg. von René König, Bern 1946. – Helmut Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, 4. Auflage, Stuttgart 1960. Es kann hier nicht darum gehen, ausführlicher die Berechtigung derartiger Schlagworte zu diskutieren. Allenfalls mag eine thetische Darstellung dessen, was damit gemeint ist, herhalten, um später die Beziehung zu anderen sozialen Gruppen herzustellen. Ausführlicher sind die Aufbaufunktionen der Familie dargestellt bei Friedrich W. Bargheer: Religiöse Familienerziehung. Ein pädagogisches, soziologisches und theologisches Problem, in: PTh 58 (1969), S. 384–396.453–465. Hier auch ausführliche Literaturangaben! René König: Familie, in: Soziologie (s.o. Anm. 12), S. 69–81. Erik H. Erikson: Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit, Stuttgart 1952, S. 13. Alexander Mitscherlich: Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München 1963, S. 83. Ebd., S. 82.

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tiert seine Wertvorstellungen, bereitet es auf soziale Rollenerwartungen vor, weist ihm einen Status zu und übt mit ihm Verhaltensweisen, Gewohnheiten und Attitüden ein. Was in jenem Prozeß geschieht, ist Sozialisierung, soweit es formal um die Anpassung45 an die Spielregeln der jeweiligen Gesellschaft geht, ist Enkulturation, soweit es dabei substantiell um die Aktualisierung der jeweiligen Kulturgüter geht.46 Freilich, will die Familie nicht lediglich „Sozialautomaten“ produzieren, muß sie auch den Heranwachsenden gegen die Gesellschaft immunisieren,47 muß sie ebenso die Ichleistungen des Individuums stärken: kritische Distanz, „Transzendierung der angebotenen Bildungsinhalte“48, Lernbereitschaft, Triebsublimierung (statt Triebunterdrückung), Kreativität – Eigenschaften also, die bei der Bewältigung von Konflikten und Entscheidungen von höchster Wichtigkeit sind. Vorbedingung hierzu ist die „Abnabelung moralischer Natur“ (René König), die allmähliche Lösung der affektiven Bindung an die Familie. Erst damit ist die eigentliche Voraussetzung von Persönlichkeitsentwicklung erfüllt,49 wobei unter Person verstanden sei „ein solches Existierendes, das trotz der Vielheit der Teile eine reale, eigenartige und eigenwertige Einheit bildet und als solche trotz der Vielheit der Teilfunktionen eine einheitliche zielstrebige Selbsttätigkeit vollbringt“50. 2. Soziale Gruppe. Die Emanzipation des Heranwachsenden von seiner Familie erlaubt ihm, in andere Gruppen einzutreten. Für den Übergang spielen 45

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Hierunter sei nicht nur passiv-assimilative Anpassung verstanden, sondern auch aktiv-integrative. Vgl. dazu Alexander Mitscherlich: Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft (s.o. Anm. 43), S. 18. Peter Heintz: Person, in: Soziologie, hg. von René König, Frankfurt a.M. 1958, S. 220–225. – René König: Person, in: Soziologie (s.o. Anm. 12), S. 241–246. Auf diese dialektische Funktion von Erziehung, Einübung in gesellschaftliches Verhalten und Immunisierung gegen gesellschaftliche Verhaltenserwartungen hat besonders Mitscherlich hingewiesen (s.o. Anm. 43), S. 29. Alexander Mitscherlich: Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft (s.o. Anm. 43), S. 26. Vgl. René König: Sozialpsychologie der gegenwärtigen Familie, in: Soziologische Orientierungen (s.o. Anm. 12), S. 117; ähnlich auch Tobias Brocher: Das unbekannte Ich. Eine Einführung in die Psychologie des Alltags, Reinbek 1969, S. 65: „Durch die Lösung von der Primärgruppe und den Weg durch die Sekundärgruppe von Kindergarten und Schule werden wir allmählich zum einzelnen, zum Individuum.“ William Stern: Person und Sache, Band 1, Leipzig 1923, zitiert nach: James Drever/Werner D. Fröhlich: DTV-Wörterbuch zur Psychologie, München 1968, S. 169. – Am Schluß dieses kurzen Abschnitts über die Familie sei noch darauf hingewiesen, daß sich in ihr nicht nur die soziale Integration des Kleinkindes vollzieht, sondern daß die Familie auch wesentlich zur Stabilisierung der persönlichen Verhältnisse des

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zwei Prozesse eine wesentliche Rolle: Innerhalb der sozialen Gruppe ist erstens die Sozialisierungsstruktur der der Familie parallel. Auch hier hat sich das Individuum Normen zu unterwerfen, Ideen, Vorstellungen und Erwartung 362gen also, „die in die Form der Aussage darüber gebracht werden (können), was andere Menschen tun sollen und tun müssen, was man unter gewissen Umständen von ihnen erwartet“51, hat sich einer „Reihe von Rechten und Pflichten“52, einem Status also, unterzuordnen; andernfalls wird es durch den Prozeß der sozialen Kontrolle auf das „bestehende Ausmaß der Einhaltung einer Norm“53 zurückgebracht, indem man es mit Sanktionen und Strafen belegt. – Wie das Individuum damit fertig wird, wie es dabei auftretende Konflikte bewältigt, hängt zweitens weitgehend von den sozialen Orientierungsmaximen ab, die es in der Familie erfahren hat. Bewußt oder unbewußt versucht der Mensch, „in die gleiche Rolle hineinzuschlüpfen, die er in der ursprünglichen Gruppe hatte“54, so daß man sagen kann, die soziale Gruppe ist der Ort der Bewährung der in der Familie erfahrenen kulturellen Verhaltensmuster,55 der Sozialisierungsinhalte also. Worin liegt nun die Bedeutung der Gruppe für den einzelnen? Erstens hat die soziale Gruppe Stabilisierungsfunktionen für das affektive Bewußtsein des einzelnen, dessen Kontakt- und Prestigebedürfnisse in ihr erfüllt werden56. Dadurch daß das Individuum sich nach vertrauten Erwartungen richten kann und in seiner Umgebung als Person und nicht ausschließlich als Funktionsträger einer Rolle anerkannt ist, trägt die Gruppe wesentlich zum Selbstverständnis und zum Selbstbewußtsein des einzelnen bei. – Zweitens vermittelt die Gruppe wichtige Orientierungs- und Motivationsmaximen nicht nur für das Verhalten des einzelnen, sondern auch für dessen Einstellungen und Meinungen.57 Paul F. Lazarsfeld, Bernard Berelson und

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Erwachsenen beiträgt. Vgl. dazu Emile Durkheim: Selbstmord, Neuwied/Berlin 1967; ein Hinweis darauf findet sich auch bei Walter Rüegg: Soziologie, Frankfurt a.M. /Hamburg 1966, S. 122. George Caspar Homans: Theorie der sozialen Gruppe (s.o. Anm. 30), S. 136. Ralph Linton: The Study of Man, New York 1936, S. 113. George Caspar Homans: Theorie der sozialen Gruppe (s.o. Anm. 30), S. 288. Tobias Brocher: Das unbekannte Ich (s.o. Anm. 49), S. 55, vgl. auch S. 40. Ebd., S. 65. Vgl. dazu den Bericht von Helmut Schelsky über Elton Mayos HawthorneExperiment, in: Arnold Gehlen/Helmut Schelsky: Soziologie. Ein Lehr- und Handbuch zur modernen Gesellschaftskunde, Düsseldorf/Köln 1955, S. 181. Ebenso: Walter Rüegg: Soziologie (s.o. Anm. 50), S. 125. – Peter Robert Hofstätter: Gruppendynamik (s.o. Anm. 12), S. 158.159. Peter Robert Hofstätter: Gruppendynamik (s.o. Anm. 12), S. 158.

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Hazel Gaudet haben in einer Wahluntersuchung aus dem Jahre 1948 festgestellt, daß Wahlentscheidungen vornehmlich auf Grund des Einflusses informeller Gruppengespräche, in denen sogenannte „opinion-leaders“ dominierten, gefällt wurden, nicht so sehr also auf Grund von Propagandaoder Massenmedienwirkungen.58 Noch deutlicher wurde der Einfluß von sozialen Gruppen in einer Untersuchung aus dem Jahre 1949 von Samuel Stouffer über amerikanische Soldaten betont: Er stellte fest, daß für die Kampfbereitschaft der Soldaten weniger der Feindeshaß oder die Loyalität zum Vaterland wichtig sind als vielmehr die informelle Gruppenzugehörigkeit.59 – Drittens hat die Gruppe einen 363 weitreichenden Einfluß auf die Leistungssteigerung in zweierlei Richtung: Einmal vermag sie auf den einzelnen stimulierend zu wirken,60 indem sie ihm Leistungsnormen auferlegt und seine Fähigkeiten fördert (umgekehrt kann sie diese auch hemmen), sodann ist der sozialen Gruppe selbst ein Leistungsvorteil gegenüber dem Individuum zueigen, nicht nur bei der Leistung vom mechanischen Typus des Tragens und Hebens, wie Paul A. Hare noch behauptete,61 sondern auch, wie Peter R. Hofstätter überzeugend dargestellt hat, bei Leistungen vom statistischen Typus des Suchens und Beurteilens62 (zum Beispiel kommt bei Schätzungen in Gruppen der Durchschnittswert aller abgegebenen Wertungen dem Realwert um ein beträchtliches Maß näher, als wenn nur ein einzelner seinen Schätzwert angäbe) und bei Leistungen vom normativen Typus des Bestimmens63 (Herausbildung von Normen oder eines gruppenspezifischen Jargons). 3. Kultur. Kultur kann nun mit Alexander Mitscherlich beschrieben werden als ein Prozeß, in dem wirken: „die biologischen Anlagen und ihre individuellen Variationen, ferner die affektiven zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen der Triebanlage ein Schicksal, nämlich das ihrer Formung 58

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Paul Felix Lazarsfeld/Bernard R. Berelson/Hazel Gaudet: The People’s Choice, New York 1948; vgl. auch Elihu Katz/Paul Felix Lazarsfeld: Personal Influence, Glencoe (Ill.) 1955. – Auf die Bedeutung der Beziehungsgruppen wurde bereits oben hingewiesen (Abschnitt II). Samuel Andrew Stouffer u. a.: Studies in Social Psychology in World War II, 3 Bände, Princeton 1949/50; ähnliche Ergebnisse haben: Edward A. Shils/Morris Janowitz: Cohesion and Discrimination of the Wehrmacht in World War II, in: Public Opinion Quarterly 12 (1948). Vgl. dazu: Alexander Mitscherlich: Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft (s.o. Anm. 43), S. 127. – Helmut Schelsky (s.o. Anm. 56), S. 181. Alexander Paul Hare (s.o. Anm. 28), S. 363. Peter Robert Hofstätter: Gruppendynamik (s.o. Anm. 12), S. 28–33. Ebd., S. 58–63.

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im Charakter, (vornehmlich in der Familie, d. Vf.) zuteil wird; schließlich wird dieser Prozeß vom gruppenspezifischen Umgang mit dem Bestand der kulturellen Leistungen bestimmt“64. So können wir eine dritte These für die sozialethische Betrachtungsweise formulieren: Die Polarisierung von Individuum und Kollektiv (soziale Gruppe) ist insofern unzulässig, als das Verhältnis beider zueinander ein dialektisches ist: Die Entwicklung der sozio-kulturellen Person ist ohne das Wirken der Primärgruppe nicht denkbar; ebenso wenig ist die Existenz der Gruppe ohne das Mit- und Zusammenwirken ihrer Glieder vorstellbar. Einer Ethik der sozialen Gruppe kann es nur darum gehen, die dialektische Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gruppe anzuerkennen und als gestaltungswürdig zu erfahren. IV. Gruppe als desintegrierendes Kulturgebilde Die soziale Gruppe stellt nicht ausschließlich einen Integrationsfaktor dar, indem sie den einzelnen in seine soziale Umgebung und, stimmen ihre Normen mit denen der Gesamtgesellschaft überein, diesen in jene einbezieht. Vielmehr vollziehen sich viele Integrationsleistungen um den Preis desintegrierender Wirkungen, die vornehmlich in vier verschiedene Richtungen zielen: Erstens können Störungen in den sozialen Gruppen, besonders aber in der Familie, zu schweren psychischen Erkrankungen führen. So hat Theodor Lidz gezeigt, wie die Familienumwelt Schizophrenie ,züchten’ kann.65 Bereits in 364 den ersten Lebensjahren des Kindes können „irreparable Verödungen der Kontaktfähigkeit“ angelegt werden, wenn die Vermittlung des ,Urvertrauens’ und die Befriedigung des Liebesbedürfnisses mißlingt.66 Dabei kann die Vielzahl der psychosomatischen Erkrankungen (Neurosen, Psychosen etc.) hier nicht einmal aufgezählt werden.67 Hans Strotzka nennt die drei Hauptursachen der psychischen Erkrankungen: „1. Anwendung falscher Normen für Entwicklung und Verhalten, 2. Trennung von Mutter und Kind durch Spital- oder Heimaufenthalte, 3. emotionelle Störungen auf seiten der Eltern, die aus deren eigener Lebensgeschichte stammen 64

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Alexander Mitscherlich: Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft (s.o. Anm. 43), S. 186. Theodore Lidz: Zur Familienumwelt des Schizophrenen, Stuttgart 1959. Alexander Mitscherlich: Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft (s.o. Anm. 43), S. 84. Vgl. dazu den zusammenfassenden Abschnitt aus: Hans Strotzka: Einführung in die Sozialpsychiatrie, Reinbek 1965, S. 94–103.

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und in die die Kinder verwickelt werden.“68 – Eine zweite desintegrierende Wirkung geht von der Gruppe aus, deren Normen und Bewußtseinsinhalte von denen der Gesamtgesellschaft abweichen. So bilden Jugendbanden oft betont antigesellschaftliche Normen aus, während sie selbst durch die gleichen Sozialisierungsstrukturen zusammengehalten werden wie andere, gesellschaftskonforme Gruppen. Die Motivierung solcher kollektiven Gebots-, Tabu- und Gesetzesverletzungen sieht Alexander Mitscherlich in „Triebwünsche(n), die von den Lernvorgängen in der (konformen, d. Vf.) sozialen Gruppe nicht aufgefangen wurden, die also nicht in der Gruppe nutzbar gemacht worden sind“69. – Drittens treten Desintegrationserscheinungen auch bei abweichendem Verhalten innerhalb sozialer Gruppen auf, so, wenn sich ein Mitglied ‚anomal‘ (psychisch krank) verhält, wenn es sich an Bezugsgruppen stärker orientiert als an der Meinung der eigenen Gruppe, wenn die Verschiedenartigkeiten der Rollen, die ein einzelner als Mitglied mehrerer sozialer Gruppen zu spielen hat, ein Zusammenspiel unverträglich machen (Rollendiffusion), oder wenn in einer Gruppe keine Einheitlichkeit unter den Mitgliedern über die Erwartung für gegebene Rollen zu erzielen ist (Rollenkonfusion). Hierbei können die möglichen Konflikte gewaltsam unterdrückt werden, es kann sich also um eine versteckte Integration handeln, die der französische Kabarettist Henri Tisot einmal treffend so beschrieb: „Wenn ein Hai einen Hering frißt, dann ist das ebenfalls Integration.“70 – Die vierte Desintegrationserscheinung hängt mit dem Bedürfnis der sozialen Gruppe zusammen, sich nach außen, gegen das Fremdartige, abzugrenzen. Hierzu sind zwei Gründe motivierend: einmal sollen dadurch eventuelle Gleichgewichtsstörungen, die von außen in die Gruppe hineingetragen werden könnten, abgewehrt werden; sodann muß die Gruppe einen Ausgleich für die im Innern durch Normen eingeschränkten Triebbedürfnisse bieten, indem sie diese nicht selten aggressiv nach außen gegen andere Gruppen ableitet, eine Strategie, die in großem Ausmaß in der Zeit des ‚Kalten Krieges‘ erprobt wurde. Die Außengruppe wurde buchstäblich fremd gemacht, 365 ein Verfahren der „Dehumanisierung“, das jeder sozialen Gruppe eigen ist.71 In diesem letzten Abschnitt wurde angedeutet, wie wichtig Gruppenprozesse und -strukturen für die soziale und politische 68 69

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Ebd., S. 51. Alexander Mitscherlich: Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft (s.o. Anm. 43), S. 32. Zu den Techniken der „Normalisierung“ vgl. George Caspar Homans: Theorie der sozialen Gruppe (s.o. Anm. 30), S. 414. Alexander Mitscherlich: Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft (s.o. Anm. 43), S. 322. Vgl. dazu auch die oben ausgeführten Bemerkungen zur in- und out-group.

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Psychohygiene sind. Hieran anschließend ist für die Sozialethik, die sich mit der sozialen Gruppe beschäftigt, als vierte These zu postulieren: Bei der ethischen Betrachtung sozialer Gruppen kann es nur darum gehen, die einzelnen auf den sozialen Gruppenstrukuren beruhenden Konflikte sachgerecht, das heißt ohne affektives Vorwissen von sogenannten ‚Zerfallserscheinungen‘ der Gegenwart, zu erkennen und Entscheidungshilfen zur Beilegung oder Regelung der Konflikte auszuarbeiten und anzubieten.

Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft: Emile Durkheim und Georg Simmel

Zehn Jahre, nachdem das kommunistische Manifest von Marx und Engels erschienen war, im Jahre 1858, wurden Emile Durkheim und Georg Simmel geboren; der eine in der französischen Provinzhauptstadt Epinal, der andere in der deutschen Reichshauptstadt Berlin. Ihrem Temperament nach waren beide durchaus unterschiedlich geprägt. Durkheim war ein Forscher, der sich ganz in der kargen Atmosphäre eines Laboratoriums heimisch fühlte. Bei seinen Reden und Vorträgen waren ihm Klarheit, Strenge und Nüchternheit wichtiger als der rhetorische Schmuck. So repräsentiert er als Wissenschaftler den Typ des leidenschaftslosen, prosaischen, wenngleich nicht unpathetischen Verstandesmenschen. Simmel war gewissermaßen vollblütiger: gefühlsbetont, vital und schnell im eigenen Urteil; Wissenschaftler und Künstler, der gleichermaßen im Hörsaal wie in Festhallen glanzvolle und metaphernreiche Reden halten konnte. Doch hatten beide über ihre Verschiedenheit hinaus auch vieles gemeinsam; sie wurden in demselben Jahr geboren und starben fast zur gleichen Zeit, beim Ende des Ersten Weltkrieges. Die gemeinsame jüdische Herkunft sorgte dafür, daß die Parallelität ihrer Lebenslinien keine äußerliche blieb, sondern das zugrundeliegende Leitmotiv ihres gesamten wissenschaftlichen Werkes vorgab: Zu einer Zeit, in der Antisemitismus an der Tagesordnung war, mußte einem Juden – mochte er sich nun als solcher bewußt fühlen oder nicht – die gesellschaftliche Integration zum konkreten biographischen Problem werden. So war es kein Zufall, daß ausgerechnet Durkheim und Simmel die Analyse des gesellschaftlichen Zusammenhalts als Aufgabenbereich einer neuen, selbständigen Wissenschaft ausgrenzten; auf diese Weise wurden sie zu den eigentlichen Begründern der Soziologie. Beide waren Meisterchirurgen des sozialen Lebens, die es verstanden, die innere Anatomie, 58 die Struktur des Gesellschaftlichen offenzulegen. Dabei stießen sie auch auf die Religion. Sie rückte gar in den Mittelpunkt ihres sozialwissenschaftlichen Interesses; nicht zuletzt weil sie vermuteten, daß in ihr geheime Integrationsklammern der Gesellschaft getarnt und verborgen waren.

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1. Emile Durkheim (1858–1917) Daß Religion eine solche Schlüsselstellung gleich in den Anfängen der wissenschaftlichen Soziologie einnahm, war zumindest für das Werk Durkheims verwunderlich. Denn hält man Werk und Person dieses Mannes nebeneinander, so stößt man leicht auf äußere Widersprüche: Derselbe Mann, der sich gern als Agnostiker bezeichnete, der also nicht mit Sicherheit weiß, ob es einen Gott gibt und die Frage nach dessen Existenz konsequent offenläßt, – dieser Mann war Sohn eines Rabbiners und hat noch im hohen Alter Sehnsucht nach der Kanzel verspürt. Derselbe Mann, der die Religion und ihre offiziellen Vertreter von allen nicht unmittelbar religiösen, besonders aber von allen politischen Angelegenheiten fernhalten wollte, – dieser Mann betrachtete die Erneuerung „lebendiger Kulte“ als ein Anliegen, dem sich die ganze Nation – für ihn also Frankreich – verpflichtet fühlen sollte. Derselbe Mann, der Soziologie und nichts anderes als Soziologie zu betreiben im Sinne hatte und jeglichen Übergriff aus anderen Wissenschaften auf sein Gebiet energisch zurückwies, – dieser Mann hat seinerseits alle Wirklichkeitsbereiche fast ausschließlich nach dem Richtmaß der eigenen Wissenschaft behandelt. Durkheims Programm war es: Herrschaft und Macht, Kultur und Intelligenz, Recht und Religion, Wissen und Kunst, – all das als objektive, gleichsam „natürliche“ Dinge zu betrachten; und das heißt: sie als soziale, und eben nicht als psychologische, philosophische oder theologische Sachverhalte zu erklären. Auf diesen Grundsatz schwor er zunächst einen Jünger-Kreis ein: die sogenannte Durkheim-Schule1 mit ihrem Sprach 59organ „L’Année Sociologique“. Später folgte ihm eine ganze Wissenschaft: die positive empirische Soziologie. Durkheim war deren Begründer und er schrieb ihr Manifest: „Die Regeln der soziologischen Methode“2. Es erschien 1895 und seine Grundregel lautet: Gesellschaftliche Phänomene können nur gesellschaftlich erklärt werden und zwar völlig ohne Anleihen aus anderen Wissenschaften. Dieses Programm galt für die Religion im besonderen Maße, wie aus einem Brief Durkheims an die philosophische Zeitschrift „Revue Néo-Scolastique“ zu entnehmen ist: „Erst im Jahre 1895 hatte ich ein klares 1

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Die sog. Durkheim-Schule verbreitete ihren Einfluß bald über die Soziologie hinaus auch in anderen Wissenschaften, besonders in der Nationalökonomie, Geschichte, Rechtswissenschaft und Anthropologie. Zu ihren Vertretern gehören neben dem Neffen Durkheims, Marcel Mauss, so bedeutsame Gelehrte wie Georges Davy, Maurice Hariou, François Simiand, Henri Hubert und Maurice Halbwachs. Die deutsche Ausgabe wurde herausgegeben und eingeleitet von René König, 2. Auflage, Neuwied/Berlin 1965.

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Verständnis von der zentralen Rolle, die die Religion im gesellschaftlichen Leben spielt. In diesem Jahre entdeckte ich zum ersten Mal die Methode, das Studium der Religion soziologisch zu betreiben. Das war für mich wie eine Offenbarung. Dieser Verlauf des Jahres 1895 markiert eine Grenzlinie in der Entwicklung meines Denkens . . .“3. Das klingt nach einer Art Bekehrung Durkheims oder doch zumindest nach einer sensationellen Neuerfindung. 1.1 Primitive Religion als Erbschaft Wie konnte für Durkheim, der selbst ein so widersprüchliches persönliches Verhältnis zur Religion hatte, diese derart wichtig werden, und wie konnte sie eine solche prägende Kraft für sein wissenschaftliches Programm gewinnen? Schließlich war zu Durkheims Lebzeiten Religion bei den Anthropologen in England und Frankreich, die er eifrig studiert hatte, kein unbekanntes oder vergessenes, sondern ein durchaus geläufiges und obendrein beliebtes Untersuchungsobjekt. Die ethnologischen Religionsforscher des ausgehenden 19. Jahrhunderts – etwa Her 60bert Spencer, Edward Tylor und James Frazer4 – hatten sich noch einen Rest aufklärerischen Glaubens an den Fortschritt der Menschheit in ihrer Geschichte bewahrt. Fortschritt war für sie gleichzusetzen mit ständiger Anspeicherung von Kenntnissen und Wissen und dem allmählichen Schwinden der Angst, die schwierigsten Lebensprobleme nicht bewältigen zu können. Das Zeitalter der Wissenschaft und Technik zeigte in diesen Theorien sein erstarktes Selbstbewußtsein: Fortschritt ließ sich am Abstand der gegenwärtigen Zivilisation zum Primitivzustand der Naturvölker messen; und die Religion war eher dem letzteren zuzurechnen. Um das nachzuweisen, stand bei den sogenannten Evolutio3

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Es ist bemerkenswert, daß Durkheim die Entdeckung der Religion als sozialem Phänomen gerade auf das Jahr terminiert, in dem seine „Regeln“ erschienen: die soziologische Entdeckung der Religion und die Konzipierung der Soziologie als Wissenschaft fallen bei Durkheim zeitlich fast zusammen. Der Brief Durkheims wird hier zitiert nach: Joseph Sumpf: Durkheim et le problème de l’étude sociologique de la religion, in: ASRel 10 (1965), S. 63. Herbert Spencer (1820–1903) war englischer Philosoph, Soziologe und Journalist. Hauptwerk: The Principles of Sociology, 1876–1896. – James George Frazer (1854– 1941) war Professor für Sozialanthropologie an der Universität von Cambridge. Hauptwerk: The Golden Bough, 1922. – Edward Burnett Tylor (1832–1917) war Professor für Ethnologie an der Universität von Oxford. Hauptwerk: Primitive Culture, 1871.

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nisten die Frage nach Ursprung und Entwicklung von Religion im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzungen. Die Verlegenheit derartiger Unternehmungen wurde jedoch bald offenkundig: Denn was den Ethnologen ihrerseits an gesicherten Kenntnissen fehlte, versuchten sie, durch phantastische Spekulationen auszugleichen. So erstaunt es nicht, daß ihre Theorien zuweilen abenteuerlichen Märchenerzählungen ähnlicher waren als wissenschaftlichen Berichten. Der englische Religionsforscher Edward E. Evans-Pritchard hat einmal ironisch formuliert, daß die Frage der Evolutionisten: „Wie kam der Mensch zu seiner Religion?“ ebensogut hätte lauten können: „Wie kam der Leopard zu seinen Flecken?“ oder: „Wie kam Rotkäppchen von seinem Wege ab?“5 – Nach diesem Muster sahen die Ethnologen des 19. Jahrhunderts mal im Ahnenkult, mal im Geisterglauben, mal im Traum – in jedem Falle aber in der Unwissenheit des Primitiven und in seiner naiven Furcht vor unerklärlichen Naturgewalten und Erscheinungen wie dem Tod den Entstehungsgrund von Religion. Erst mit der Ausbildung rationalen und logischen Denkens würde nach Meinung der damaligen Forscher die Religion allmählich zurückweichen. Am Ende des 19. Jahrhunderts galt vorherrschend der Grundsatz: Die Wissenschaft begibt sich nur in schlechte Gesellschaft, wenn sie 61 sich mit der Religion auf gleiche Stufe stellt und diese nicht als ein unzeitgemäßes, inzwischen höchst überflüssiges Relikt aus grauer Vorzeit behandelt. Auf den ersten Blick scheint auch Durkheim zunächst fasziniert gewesen, sich mit der primitiven Religion zu beschäftigen. Jedenfalls bezieht sich seine Theorienbildung zentral auf den australischen Totemismus. Dahinter verbargen sich freilich andere Motive, als sie die Evolutionisten hatten. Sicher griff Durkheim auch darum auf die Religion einer primitiven Gesellschaft zurück, weil man zu seiner Zeit über diese mehr Material besaß als über die Religion der eigenen Kultur. Aber der Hauptgrund war wohl ein anderer: Durkheim lebte engagiert als Bürger der Dritten Französischen Republik, die im politischen Tageskampf ständig durch die Streitigkeiten sowohl zwischen den Konfessionen als auch zwischen Laizisten und Ultramontanen6 erschüttert wurde. Hätte Durkheim die religiöse Lage seines Landes zum Thema gewählt, wäre er früher oder später in die Gefahr geraten, eine vermeintlich „wissenschaftliche“ Stellungnahme zu diesen Auseinanderset5 6

Edward Evans-Pritchard: Theorien über primitive Religion, Frankfurt a.M. 1968. Laizismus ist die Bestrebung, den römischen Klerus von allen nicht unmittelbar kirchlichen Angelegenheiten fernzuhalten, ihn besonders durch eine strenge Trennung von Staat und Kirche an politischer Einflußnahme zu hindern. Ultramontanismus (lat. ultra montanis = jenseits der Berge = Rom) ist der an Rom orientierte politische Katholizismus.

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zungen abzugeben. Gerade das aber wollte er vermeiden. Sein Ziel war es, Wissenschaft objektiv, also losgelöst von jedem persönlichen Standpunkt zu betreiben. Er dachte, Distanz und Vorurteilsfreiheit bewahren zu können, wenn er seine Analyse strikt auf die ihm fernerliegende primitive Religion bezog. Trotz dieser Behutsamkeit verfing sich Durkheim zuweilen im Garn des Evolutionsgedankens; so konnte er nicht verhindern, daß er ungewollt in das Fahrwasser derjenigen geriet, die dem Phantom einer ursprünglichen Religion nachjagten. Hier zeigt sich, daß er weit mehr aus dem Erbe seines Zeitgeistes lebte, als er sich selbst eingestand. Grundsätzlich aber ging Durkheims Ausgangsfrage über den Evolutionismus des 19. Jahrhunderts hinaus. Es war nicht seine Absicht, am Podest des Zivilisierten zu zimmern, um von dort überheblich auf den Primitiven hinabzublicken. Seine Problemstellung lautete vielmehr: Mit welchem 62 Recht kann man Religion so leichtfertig wie die Evolutionisten als ein unzeitgemäßes Fossil abtun, wenn sie offensichtlich auch bei den fortschrittlichsten Zeitgenossen der Gegenwart noch hartnäckig vorhanden blieb und sogar lebensbedeutsam war? Wenn Religion sowohl den Primitiven wie auch den Aufgeklärten gleichermaßen zu fesseln vermag, dann muß etwas Konstantes an ihr sein, das vom jeweiligen geistigen Entwicklungsniveau der Menschen unabhängig ist, dann kann man Religion nicht schlichtweg als einen Irrtum der Menschheit betrachten. Auf dem Hintergrund dieser kritischen Überlegungen stieß Durkheim zu den „Elementarformen des religiösen Lebens“ vor – genauso lautet auch der Titel seines 1912 publizierten religionssoziologischen Hauptwerkes.7 Was Durkheim zustandebringen wollte, war eine soziologische Theorie der allgemeinen Religion. Vorrangig interessierte ihn nicht der Unterschied zwischen mehr oder weniger hoch entwickelten Religionstypen, sondern diejenigen Merkmale von Religion, die sich universal aufspüren ließen: die Struktur von Religion also. Erst wenn man darüber Be7

Emile Durkheim: Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie, Paris 1912. Außer diesem Hauptwerk wurden dieser Darstellung noch folgende Arbeiten Durkheims zugrundegelegt: Zur Definition religiöser Phänomene (1898), abgedruckt in: Joachim Matthes: Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 1, Reinbek 1967, S. 120–141. – Le sentiment religieux à l’heure actuelle (1913), abgedruckt in: ASRel 27 (1969), S. 73–78. – Soziologie und Philosophie, Frankfurt a.M. 1967. – Erziehung, Moral und Gesellschaft. Vorlesung an der Sorbonne 1902/1903, Neuwied/Darmstadt 1973. Über Durkheims Religionssoziologie: Robert Bierstedt: Emile Durkheim, New York 1966, S. 200–255. – René König: Über die Religionssoziologie bei Emile Durkheim, in: Probleme der Religionssoziologie, Sonderheft 6 der KZSS, hg. von Dietrich Goldschmidt/Joachim Matthes, Köln/Opladen 1962, S. 36–49.

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scheid wußte, konnte man zu einem Vergleich der verschiedenen Religionsarten übergehen. Da die Evolutionisten in ihren Untersuchungen methodisch zu voreilig waren, gewissermaßen den zweiten Schritt vor dem ersten gemacht hatten, mußte Durkheim zunächst die versäumte Vorarbeit nachholen: Er hoffte, durch eine Analyse der vermeintlich einfachsten und ursprünglichsten Totem-Religion der australischen Ureinwohner die strukturellen Elemente von Religion überhaupt herauskristallisieren zu können. 63 1.2 Das soziologische Modell des australischen Totemismus Konkret spielt sich das Leben der australischen Ureinwohner in zwei fast völlig getrennten Bereichen ab. Im profanen Alltag betreiben sie in kleineren Horden das Geschäft der Nahrungssuche: sie sammeln Früchte, jagen und fischen; sie leiden und schlagen sich mit trivialen Sorgen herum. Doch die Höhen und Tiefen des Alltags sind vergessen, wenn sich die verschiedenen Horden eines sogenannten Clans in regelmäßigen Abständen zu Festlichkeiten treffen. Diese stehen ganz im Zeichen der Verehrung ihres Gottes, von dem der Clan als eine große Verwandtschaftsgruppe seine Abstammung herleitet. Die Feste sind der Ort, wo die Clan-Mitglieder in die Nähe des Heiligen treten: Hier bitten sie ihren Gott um ertragreiche Beute und Ernte, stellen sich unter seinen Schutz und bringen ihm Dankopfer dar. Der Ablauf der Festlichkeiten ist genau vorgeschrieben: man ißt und trinkt, tanzt und betet nach Regeln, die schon die Ahnen kannten und die bei den Nachkommen nicht viel anders aussehen werden. Die Art und Weise, dem Gott des Clans entgegenzutreten, – das wird für zu wichtig gehalten, als daß man sie ins Belieben der einzelnen stellen und mehr oder minder zufällig neu erfinden könnte. Der Kult übernimmt traditionell festgelegte Formen, und die Ehrfurcht vor dem Heiligen verlangt von jedem ihre strenge Einhaltung. Bei solcher Gelegenheit erkennt der einzelne weder sich noch die anderen wieder: im Alltag umgänglich, nüchtern und besorgt, kurz: normal, sind die Clan-Mitglieder bei Festlichkeiten ausgelassen, erregt und überschwenglich. Zusammen glauben sie sich stärker als einzeln und fühlen sich miteinander solidarisch. Unter der Macht und dem Schutz der Clan-Gemeinschaft erfahren sie aktuell, daß es noch etwas anderes, Höheres, außerhalb ihres Bewußtseins Stehendes gibt, das ihrer Verfügbarkeit entzogen ist. Die Riten werden sozusagen zu den Schleusentoren, durch die das Clan-Mitglied in die Sphäre des höheren Heiligen eintritt und von dort in den Alltag wieder zurückkehrt. So besteht die Religion der australischen Ureinwohner aus bestimmten Glaubenssätzen über das Heilige, die alle Clan-Mitglieder gleichermaßen teilen: daß es einen Gott gibt, der für den Clan zuständig sei; daß dieser Gott

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über ihre Nahrung verfügt und die 64 Macht besitzt, sie zu gewähren oder zu versagen. Die Riten bestimmen, in welcher Weise sich die Clan-Mitglieder diesem Gott nähern dürfen. Die Verpflichtung zur religiösen Tradition und ihre regelmäßige Aktualisierung bindet sie zur Gemeinschaft zusammen. So definiert Durkheim die Religion als „ein gemeinschaftliches System von Glaubenssätzen und Handlungen (Riten), die auf heilige, daher abgesonderte . . . Dinge bezogen sind, Glaubenssätze und Handlungen, die alle Anhänger in derselben . . . Gemeinschaft . . . vereinigen“8. Der Zusammenhalt des Clans, der bei Festlichkeiten durch spontane Gefühlszwänge erzeugt wird, ist zu anderen Zeiten äußerst labil. Denn gehen die Clan-Mitglieder in kleinere Horden auseinander, um sich wieder dem Alltagsgeschäft zuzuwenden, dann droht auch der Zusammenhalt des Clans zu verkümmern, und es besteht die Gefahr, daß die einzelnen ihre Zugehörigkeit zum Clan überhaupt vergessen. Wie kommt es, daß trotz dieser Versuchung die Gruppe immer wieder regelmäßig zu Festen zusammentritt? Warum fühlt sich der einzelne auch dann als Mitglied des Clans, wenn er mit den anderen nicht ständig in Kontakt tritt? – Das war bei den Australiern damals nicht anders als irgendwo sonst in der Welt auch heute: Wie etwa zwei Verliebte, die für eine längere Zeit getrennt leben müssen, Freundschaftsringe tragen und dadurch jeder immerzu an den anderen erinnert wird, so hat auch der Clan ein faßliches Symbol, um seine Zusammengehörigkeit dauerhaft auszudrücken: jedes Mitglied des betreffenden Clans besitzt ein besonderes Zeichen, ein Totem: einen Stein oder ein Stück Holz, auf dem jeweils der Gott des Clans abgebildet ist. Dieser Gott ist freilich nicht als geistiges Gebilde oder als abstrakte Idee vorgestellt, sondern in einer bestimmten Tier- oder Pflanzengattung. Jeder Clan hat so seine eigene bildhaft festgehaltene Vorstellung von seinem Gott, so daß das Totem für den einzelnen Ureinwohner gleichsam ein Abzeichen ist, das ihn und andere daran erinnert, zu welchem Clan er gehört. Damit ist bereits die erste Funktion gegeben, die das Totem im Leben des Clans einnimmt: Es symbolisiert den Anschluß an eine bestimmte Gruppe, ist sichtbares Zeichen ihrer Integration. Ein zweiter Funktionsbereich betrifft die Art und Weise, wie die Clans ihre Erkenntnis von der Natur grobmaschig ordnen: Jeder 65 Clan hat eine enge Beziehung zu seinem Totem, aber jedes Mitglied kennt auch die Totems aller fremden Clans. Da so auf den Totems eine bestimmte, für jeden Clan jeweils andere Naturgattung symbolisiert ist, entspricht allgemein die Gesamtheit der Totems der Gesamtheit der in der Natur vorkommenden und erkannten Gattungen. Die Naturphänomene werden auf diese Weise 8

Emile Durkheim: Les formes élémentaires de la vie religieuse (s.o. Anm. 7), S. 65.

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sortiert nach dem Vorbild der Clangliederung in der australischen Gesellschaft; die Clans klassifizieren die Natur nach dem Muster der eigenen und fremden Götter. – Eng verknüpft mit dieser Aufgabe ist ein anderer Aspekt der Totem-Religion. Die Australier glaubten, daß jeder Clan ursprünglich direkt oder indirekt aus derjenigen Tiergattung hervorgegangen ist, die er auf seinem Totem symbolisiert. In diesem Glaubenssatz drückt sich das Geschichtsbewußtsein der australischen Einwohner aus; das Totem gibt Aufschluß über die geglaubte Abstammung eines Clans. So umfaßt die zweite Funktion des Totems einerseits für den einzelnen Clan die Erklärung seiner Abstammung und andererseits für die Gesamtgesellschaft Australiens ein Schema, nach dem die Natur im großen und ganzen systematisiert wird: das Totem fungiert als ein Hilfsmittel der Erkenntnis. Daneben haben die Totems im Leben der australischen Ureinwohner noch einen dritten Funktionskreis auszufüllen, der für Durkheim der wichtigste ist: Sie symbolisieren starre, über jeden Zweifel erhabene und besonders scharfe Verbote des Heiligen. Weder ist den Clan-Mitgliedern gestattet, den gemeinsamen Glauben zu verleugnen, noch aus den rituellen Festlichkeiten auszubrechen, wenn sie empfindlichen Strafen entgehen wollen. Darüber hinaus gibt es auch Verbote, die in ihrer Wirkung die Grenzen des einzelnen Clans überschreiten: So ist es den Trägern des gleichen Totems nicht erlaubt, untereinander Geschlechtsverkehr zu haben. Die Männer sind gezwungen, sich ihre Frauen aus fremden Clans zu suchen; dazu müssen sie mit den anderen Clans in Kontakt treten. So konstituiert sich durch Heirat jenseits der Clan-Grenzen ein übergreifender Zusammenhang, der die australische Gesamtgesellschaft ausmacht. – Ein anderes im Totem symbolisiertes Verbot erlaubt zwar den Mitgliedern eines Clans, die Pflanze oder das Tier des eigenen Totems zu sammeln oder zu jagen, aber es ist ihm bei strenger Strafe verwehrt, diese auch zu verspeisen. Was soll aber der Clan mit der Fülle der Totem-Tiere anfangen, die seine Mitglieder zu 66 den Feierlichkeiten zusammengetragen haben, wenn sie nicht gegessen werden dürfen? Er wird sie bei fremden Clans, die ähnliche Vorschriften haben, gegen andere Naturgüter eintauschen, um so indirekt doch noch Nutzen von den eigenen zu haben; denn die Verzehr-Verbote gelten nur für die eigenen, nicht aber für die fremden Totem-Tiere. Auch hier ist die Konsequenz, daß zwischen den einzelnen Clans zwangsläufig gegenseitige Beziehungen entstehen: in diesem Falle ein Austausch von Gütern. Durkheim hat also drei Funktionen von Religion am Beispiel des australischen Totemismus herausgeschält: Totems sind grundsätzlich Erkennungszeichen für religiöse und gesellschaftliche Tatbestände; sie vergegenwärtigen erstens für den einzelnen die überindividuelle Macht der Gruppe, zu der er jeweils gehört. Sie bieten zwei-

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tens in ihrer Gesamtheit ein grobes Raster für die Ordnung der Naturerkenntnisse und im einzelnen ein Erklärungsschema für die geschichtliche Herkunft des Clans. Drittens sind die Totems Chiffren für zentrale religiöse Verbote und Strafandrohungen; sie regeln ein Handeln, das so etwas wie Gesellschaft über die Reichweite des einzelnen Clans hinaus erst entstehen läßt, – und sie regeln es mit besonderer Strenge. Sie beziehen sich auf Prozesse, die sowohl für das Werden von Gesellschaft als auch für ihren Bestand konstitutiv sind. 1.3 Die Vergöttlichung der Gesellschaft Aus diesen Befunden hat Durkheim den zunächst überraschenden Schluß gezogen: Es ist nichts anderes als der allgemeine Zusammenhang der Gesellschaft, der sich in den religiösen Symbolen gegenständlich ausdrückt. Nicht das einzelne Individuum oder das Individuum als Gattung produziert Gott nach seinem Bilde, sondern die Gesellschaft nach dem ihrigen. Sie allein ruft Glaubensvorstellungen und Riten ins Leben, legt die Unterscheidung zwischen Heiligem und Profanem fest; ja: sie selbst ist das Heilige und macht sich in diesem zum Gegenstand der Verehrung und Unterwerfung. Das demütige Verhältnis des Gläubigen zu seinem Gott spiegelt getreu wider, wie sich das Individuum gegenüber der Gesellschaft empfindet: nämlich in respektvoller Unterordnung. Allein das ist also letztlich der Sinn der religiösen Verbote und Normen: die freie Entschei 67dung des einzelnen soweit einzuschränken und zu kanalisieren, daß sie der Gesellschaft nicht gefährlich werden kann, den einzelnen in die Schule der Gesellschaft zu zwingen. René König, Durkheim-Schüler in zweiter Generation, interpretiert: „Die Gesellschaft ist . . . das Medium, in dem sich der Mensch vollendet, weil er in ihr mit den sozialen Regelungen ein Maß . . . , eine Begrenzung . . . und eine Disziplinierung . . . erfährt.“9 Zu diesem Zwecke schlüpft die Gesellschaft in das Kleid der Religion, zieht sich deren Autorität an, um so die eigenen Ansprüche gegen ihre Mitglieder mit Nachdruck geltend zu machen. Was dabei an Individualität des Unterworfenen erhalten bleibt, ist überspitzt gesagt nur das, was die Gesellschaft freizugeben bereit ist. Das Verführerische dieser These liegt in der Allgemeinheit und Pauschalität, in der sie uns heute oft verkürzt wiedergegeben wird. Vergißt man nämlich die zugrundeliegenden Ableitungen Durkheims, so entzieht man ihr den Boden der Nachprüfbarkeit und die Elemente der Theorie purzeln durcheinander: Gott und Gesellschaft stehen bald nicht mehr in demsel9

René König: Emile Durkheim (1858–1917), in: KZSS 10 (1958), S. 573.

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ben festumrissenen Verhältnis, in das sie die strenge Logik Durkheims noch gefügt hatte. So wurde ihm besonders von seiten der Theologie oft leichtfertig der Makel eines atheistischen Soziologismus angehängt: Er habe die Gesellschaft an die Stelle Gottes gesetzt und wolle mit der Methodik soziologischer Betrachtung die Theologie aus dem Felde schlagen; das sei nichts anderes als der Frevel der Soziologie. – In Wahrheit trifft Durkheim dieses Verdikt nicht; für ihn ist Gott nicht, wie man ihm unterstellte, einfach mit der Gesellschaft gleichzusetzen. Durkheims Grundtenor verläuft in eine genau entgegengesetzte Richtung: Die Gesellschaft ist es, die in den Bereich religiöser Symbole, Verbote, Gefühle und Handlungen erhoben wird und dort ihren Ausdruck findet. Nicht Gott wird vergesellschaftet, sondern die Gesellschaft wird vergöttlicht. Sie erscheint bei Durkheim in der Gestalt einer allgegenwärtigen Übermacht, die im Jenseits unseres Lebens lauert und blitzschnell zuschlägt, wenn wir uns ihrem Willen widersetzen. Nur gelegentlich umarmt sie uns fast liebevoll: wenn wir Festlichkeiten zu ihrer Verehrung feiern, aus uns herausgehen und uns ekstatisch in dieses Jenseits hinein katapultieren, wo die Macht „Gesellschaft“ ihre Heimstätte hat. In diesem Zusammenhang an Durkheim die Frage zu stellen, 68 ob er sich damit nicht als Atheist entlarve, wäre sinnlos: Die Frage an den Religionssoziologen nach seinem persönlichen Glauben ist für Durkheim, den Agnostiker, ebenso absurd, wie etwa die Frage an einen Literaturkritiker, ob er selbst überhaupt Romane schreibe. Gleichwohl enthält die soziologische Religionstheorie Durkheims eine kritische Komponente. Sie läßt das Erscheinungsbild der Religion nicht unberührt. Religion, die als ein Phänomen erkannt ist, das zutiefst mit der Gesellschaft verwoben ist, ja das geradezu die Seele der Gesellschaft ausmacht, unterliegt auch der soziologischen Kritik, ohne daß dabei gleich ihre Substanz bedroht würde. Durkheim selbst sieht die Religion seiner Zeit in einem durchgreifenden Wandlungsprozeß, aus dem sie völlig geändert hervorgehen wird. Daß sie dabei Funktionen abzugeben hat, die sie früher für sich reklamierte, steht für ihn definitiv fest: Wissenschaft als die Art der kritisch-vernünftigen Erkenntnis von Wirklichkeit kann sie nicht länger betreiben; und zur Moral leiten nicht mehr Priester, sondern staatliche Lehrer an. Weniger klar sieht Durkheim dagegen die Zukunft der Religion: „Die früheren Götter altern und sterben und andere sind noch nicht entstanden.“ Ihre zukünftige Gestalt, ihre Ausprägung und ihr Charakter bleiben für Durkheim noch schattenhaft, aber ihre Konturen sind bereits umrissen: Zusammenhalt symbolisch demonstrieren, wo er nicht gegenständlich werden kann, dem einzelnen Anteil an Höherem geben, notfalls auch erzwingen, – diese Funktionen sind das Bleibende an der Religion, die in der Gesellschaft einen Platz beansprucht. Bei der Konkretisierung freilich

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gerinnt Durkheim, dem leidenschaftlichen Anhänger des französischen Patrioten Gambetta10, Gesellschaft unversehens zur Nation: Die Religion der Zukunft hat für Durkheim nur eine Chance in jenen Glaubensvorstellungen und kollektiv-nationalen Festen, die die französische Revolution von 1789 aus der Taufe gehoben hatte: in den Werten von Vaterland, Demokratie, Fortschritt und Gleichheit, im „Kultus der Vernunft“ und des „höchsten Wesens“. – So lassen sich an den Metamorphosen der Religion zugleich die Wandlungen der Gesellschaft registrieren. Die Religion selbst aber ist unter ihrem herkömmlichen Kleid enttarnt und muß in Zukunft im neuen Gewande ihren bleibenden gesellschaftlichen Aufgaben nachkommen. 70 2. Georg Simmel (1858–1918) Während Durkheims Platz in der Geschichte der Soziologie nie ernsthaft angezweifelt wurde und schon zu seinen Lebzeiten gesichert war, hatte Simmel um akademische Reputation erst zu ringen. Das zeigt folgende Episode aus seiner Biographie: Max Weber wollte ihn 1908 als Professor für Philosophie nach Heidelberg holen, aber die Berufung kam nicht zustande, weil der Berliner Historiker Dietrich Schäfer11 – als Gutachter – das ganze Erscheinungsbild Simmels als „durch und durch Israelit“ charakterisierte. Das reichte für die zuständige badische Regierung aus, seinen Namen von der Berufungsliste zu streichen. Eigentlich sind erst heute wissenschaftliches Verdienst und akademisches Renommee Simmels anerkannt. Ähnlich wie sein Altersgenosse Durkheim in Frankreich war er es in Deutschland, der die Soziologie aus den Fesseln anderer Wissenschaften befreite und die Grenzen des neuen selbständigen Fachgebietes absteckte. Ihn aber – wie ebenfalls Max Weber vorschlug – als den Begründer der Religionssoziologie in Deutschland anzuerkennen, hat sich bisher noch kaum durchgesetzt. Es erscheint in den religionssoziologischen Einführungsbänden häufig nicht mehr von ihm als sein Name. Die Beschäftigung mit seiner Religionstheorie wird hierzulande von seiten der Soziologen nahezu ganz den Philosophen und Theologen allein überlassen. 10

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Léon Gambetta (1838–1882) war französischer Staatsmann und während der Dritten Republik zeitweilig Ministerpräsident. Dietrich Schäfer (1845–1929) war deutscher Historiker und vertrat als Schüler Treitschkes (der den Berliner Antisemitismus-Streit entfacht hatte) eine nationalistische Geschichtsauffassung. Außer in Berlin lehrte er noch in Jena, Breslau, Tübingen und Heidelberg. Hauptwerke: Weltgeschichte der Neuzeit, 1907. – Deutsche Geschichte, 1910.

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Zur Verteidigung der heutigen Religionssoziologen muß freilich gesagt werden, daß es Simmel seiner Nachwelt nicht leicht gemacht hat. Anders als Durkheim, der seine Theorie systematisch gebündelt in einem stattlichen Werk vorstellte, kennen wir von Simmel nur eine Unmenge von ausgesprochen aphoristischen Bemerkungen zur Religion, die über sein ganzes Opus verstreut sind; außerdem hinterließ er auf diesem Gebiet nicht viel mehr als ein Dutzend kleinerer Essays, von denen der bekannteste und umfangreichste 71 wohl die erstmals 1906 veröffentlichte Schrift „Die Religion“ ist.12 Nur mühsam lassen sich die vereinzelten Brocken zu einer abgerundeten Theorie zusammenschmelzen. Daß die deutsche Religionssoziologie Simmel bis heute als ihren Urahnen verkannt hat, wird dadurch verständlicher: der Vaterschaftsnachweis ist eben schwierig zu führen. – Blickt man andererseits in die amerikanischen Lesebücher über Religion, so finden sich Texte von Simmel mit an erster Stelle; offensichtlich trifft auf ihn das Sprichwort zu, daß der Prophet im eigenen Vaterland nur wenig gilt. Allerdings war Simmel alles andere als ein Prophet: Sein Verhältnis zur Religion war nicht weniger zweideutig als das Durkheims. Auch Simmel stammt aus einer ursprünglich jüdischen Familie, doch waren seine Eltern bereits zum Protestantismus übergetreten, dem er dann selbst fast bis zu seinem Lebensende angehörte. Äußerungen über seine persönliche Haltung zur Religion sind nur spärlich überliefert. Daß er sich wie Durkheim als Agnostiker einschätzte, kann aus der folgenden Bemerkung nur vage geschlossen werden: „Ich weiß gar nicht, warum Nietzsche solches Aufheben davon macht, daß Gott tot ist – das wissen wir doch längst.“ Doch 12

Die zweite Auflage erschien 1912, seitdem wurde die Schrift in Deutschland nicht mehr verlegt; eine englische Ausgabe erschien noch 1959. Weitere Arbeiten Simmels, die hier zugrundegelegt wurden, sind unter der Kapitelüberschrift „Die Religion“ neu abgedruckt in: Brücke und Tür, hg. von Michael Landmann, Stuttgart 1957, S. 105–140. Im Zusammenhang seiner Religionstheorie ist noch auf drei weitere Bücher Simmels hinzuweisen: Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Auflage, Berlin 1968 (zuerst: Leipzig 1908). – Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Grundbegriffe, 2 Bände, 4. Auflage, Aalen 1964 (zuerst: Berlin 1892/93). – Philosophie des Geldes, 4. Auflage, München/Leipzig 1922 (zuerst: 1900). Bisher gibt es nur eine größere zusammenfassende Darstellung der Religionstheorie Simmels aus soziologischer Sicht: Gerhard Loose: Die Religionssoziologie Georg Simmels, Diss. Univ. Leipzig 1933 (!). Den „jüngsten“ Versuch, Simmels Bedeutung für die Religionssoziologie hervorzuheben, unternahm: Jean Séguy: Aux enfances de la sociologie des religions: Georg Simmel, in: ASRel 17 (1964), S. 5–11. Darüber hinaus ist noch hinzuweisen auf das nach wie vor wichtige Werk von: Wilhelm Knevels: Simmels Religionstheorie. Ein Beitrag zum religiösen Problem der Gegenwart, Leipzig 1920.

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ist dieser Ausspruch mißverständlich, in jedem Falle aber längst nicht so platt atheistisch gemeint, wie seine Gegner es Simmel unterstellen: Gott als eine wissenschaftlich oder metaphysisch 72 bewiesene Existenz – dieser Gottesgedanke war für Simmel gewiß nicht mehr zu retten: aber war damit jegliche Religiosität hinfällig? Simmels Philosophie-Schüler Bernhard Groethuysen13 berichtet von einer Äußerung, die sein Lehrer einmal auf die Frage nach seinem Glauben an das Absolute hin gemacht haben soll: „Ich habe es nicht gesehen, aber es war da.“ Diese Bemerkung deutet eher auf einen „Agnostiker mit Ehrfurcht“; man könnte fast sogar sagen: hier spricht ein heimlicher Theologe. Aber Simmel wollte und konnte kein Theologe sein. Sein Geschäft war das der Philosophie und Soziologie, die sich grundsätzlich von der Theologie unterscheiden. Das bedeutet allerdings nicht, daß sich Simmels Werk vorschnell in die Schubladen der historischen Wissenschaftsdisziplinen einzwängen ließe. Nicht in der institutionellen Abgrenzung, sondern in der jeweils besonderen Perspektive besteht für ihn die Verschiedenheit der Disziplinen. 2.1 Kontext der Religion: das individuelle Leben14 Schon Simmels Ansatz entzieht sich einer klaren Einordnung in das universitäre Fächersystem. Im Unterschied zu Durkheim war er nicht so vorrangig an der wissenschaftstheoretischen Frage interessiert, wie die Analyse gesellschaftlicher Tatbestände in einer eigenständigen Soziologie betrieben werden kann. Ihn faszinierte vielmehr das Phänomen „Leben“ in seiner antinomischen Erscheinung: Wie läßt sich die Allgemeinheit der kontinuierlichen und universalen Menschheitsgeschichte mit der Konkretheit des individuellen, höchst persönlichen, zuweilen recht sprunghaften Lebens des einzelnen auf einen Nenner bringen? Wie lassen sich Gesellschaft und Individuum sinnvoll zusammendenken? Und welche Rolle spielt in diesem Spannungsfeld die Religion? Der Unterschied zu Durkheims Ansatz liegt auf der Hand: Dessen Hauptinteresse galt den Fragen, wie Gesellschaft ihre Religion 73 hervorbringt und welche sozialen Zwecke sie ihr setzt. Simmel dagegen stellt das Problem in den Vordergrund, welchen Beitrag die Religion für das Individuum leistet, das seine Identität in Vergesellschaftungsprozessen erst herausbildet. Während Durkheim sich gleichsam zum Anwalt jenes über13

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Bernhard Groethuysen (1880–1949) war Professor für Philosophie in Paris. Hauptwerk: Philosophische Anthropologie, München 1931. Vgl. hierzu besonders: Georg Simmel: Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse, Frankfurt a.M. 1968.

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mächtigen Gebildes Gesellschaft macht, die alles in ihrem Einflußbereich überschattet, und selbst noch das Innerste und Persönlichste am Menschen zu ihrer Ausgeburt erklärt, – wendet sich Simmel genau umgekehrt dem Individuum zu und betont dieses übermächtig. Betrachtet man beide, Durkheim und Simmel, zusammen – wie sie abwägen und bewerten –, so sieht man die eine Waagschale mit der Aufschrift „Individuum“ bei Simmel an Gewicht gewinnen, nachdem Durkheim die andere – „Gesellschaft“ – überlastet zu haben schien. Dennoch wäre es ungerecht, Simmel die gleiche Einseitigkeit vorzurechnen, die bei Durkheim in anderer Richtung vielleicht vorhanden ist. Simmel setzt gegen Durkheims These vom Übergewicht der Gesellschaft nicht einfach die Antithese von der überragenden Bedeutung des Individuums. Zwar ist es richtig, daß er Durkheims Überpointierung wieder ins rechte Lot rückt, doch geht er auch seinerseits einen Schritt darüber hinaus: Individuum und Gesellschaft stehen bei Simmel nicht mehr so abstrakt wie zwei erratische Blöcke gegeneinander, sondern sind in dialektischer Weise miteinander vermittelt; darauf wird später noch hinzuweisen sein. Zunächst kann man jedoch festhalten: das einmalige, unverwechselbare Leben des einzelnen Individuums im übergreifenden Prozeß von Geschichte und Gesellschaft bildet für Simmel den entscheidenden Angelpunkt für die Frage nach Ort und Funktion von Religion. Nebenbei sei hier bemerkt, daß auch dieses in seinem Ansatz mehr philosophische als soziologische Hauptinteresse ein Grund dafür ist, warum die Religionssoziologie Simmels Bedeutung bisher weitgehend ignorierte: War es doch in Deutschland anfangs gerade die Philosophie, gegen deren expansiven und blockierenden Einfluß die Soziologie ihre akademische Eigenständigkeit behaupten mußte. Diese eifersüchtige Konkurrenz ist bis heute noch nicht ganz überwunden; nach wie vor achten einige professionelle Soziologen streng darüber, daß man ihre Wissenschaft nicht etwa mit Sozialphilosophie verwechselt. Daß innerhalb der heutigen, vorwiegend empirisch orientierten Religionssoziologie die Bedeutung Simmels 74 verdrängt wird, könnte auch damit zusammenhängen, daß man seine Beiträge eher als sozialphilosophische einschätzt. Tatsächlich ist seine Religionstheorie nicht ganz frei von spekulativen Überfrachtungen: Anders als Durkheim, der seine Theorie scheinbar ohne metaphysischen Ballast schrittweise am konkreten Modell der australischen Gesellschaft herausarbeitet, entfaltet Simmel seine Gedankengänge reichlich abstrakt in den uns heute nicht mehr ohne weiteres einsichtigen Denkfiguren einer antiken und spätmittelalterlichen Philosophie. Darum empfiehlt es sich, die Grundgedanken Simmels an einem einfachen Beispiel zu verdeutlichen. Menschliches Leben ist vergleichbar mit

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dem Aufbau und der Einrichtung eines zweistöckigen Hauses. Der Lebende ist Architekt, Baumeister, Innendekorateur und Hausherr in einer Person; er plant auf dem Reißbrett, hantiert mit Bausteinen und Stoffen und bringt sie in eine Ordnung. So entstehen Räume, die er nach Geschmack und Bedürfnis abwechslungsreich einrichten kann. – In dieser Skizze sind die Grundgedanken der Simmelschen „Lebensphilosophie“ enthalten, in die sein Konzept von Soziologie eingebettet ist und die somit auch den Rahmen für seine Religionstheorie abgibt. 2.2 Lebensphilosophie als Rahmen der formalen Soziologie Etwas vergröbert lassen sich diese Grundgedanken in folgenden vier Punkten darstellen: 1. Menschliches Leben besteht zuallererst aus einer ungeordneten Masse von Bedürfnissen. Wie die Errichtung eines Hauses aus dem Verlangen hervorgeht, vor Wettereinflüssen geschützt zu sein, so dienen auch alle anderen Lebensäußerungen der Erfüllung vitaler Grundbedürfnisse: So befriedigt das wirtschaftliche Handeln den elementaren Wunsch nach biologischer Lebenserhaltung, so dient beispielsweise das gesellschaftliche Leben dem Verlangen, die seelischen Gefühlsenergien des einzelnen Menschen zu entladen. – Wenn Simmel den Begriff des Lebensstoffes verwendet, so meint er damit zunächst den ungewobenen Stoff, gleichsam unbehauene Steinklötze und „krummes Holz“. Das Rohmaterial menschlichen Lebens besteht nach Simmel aus 75 einer amorphen Stoffmasse seelischer und materieller Bedürfnisse. 2. Diese Bedürfnisse sind menschliche Wunschtatbestände und streben nach Erfüllung. Ihre Befriedigung findet jede Bedürfnisart in bestimmten Formen: beispielsweise ist die Technik eine Form der Naturbeherrschung, die Mathematik eine Form der Zufallsberechnung, der wirtschaftliche Markt eine Form der Güterbeschaffung und des Güteraustausches oder die Gesellschaft eine Form, die zwischenmenschliche Beziehungen gestaltet. Formen sind für Simmel das, was die heutige Soziologie „Institutionsmuster“ nennt: gewissermaßen Schablonen, die Ziel und Mittel eines Prozesses menschlicher Bedürfniserfüllung festlegen. Mit Hilfe dieser Formen wird das seelische und physische Rohmaterial des Lebens bearbeitet: Wie beim Hausbau Stoffe und Bausteine zueinander in eine Ordnung gebracht werden, indem man sich dabei an der Form eines Hauses orientiert, genauso stellt auch das Leben insgesamt ein strukturierendes Handeln dar, das Formen mit Stoff sättigt. Menschliches Leben bedeutet also: Gegenstandsbereiche abstecken, wie man Grundstücke vermißt, objektive Gebilde schaffen, wie man Häuser errichtet – kurz: Stoff dem Formwillen unterwerfen.

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3. Wo sich menschliches Leben in der Wirklichkeit manifestiert, ist es stets eine Synthese von Form und Stoff; genauer gesagt: die Verwirklichung einer Form durch ihre Anreicherung mit Stoff. Wie die Form des Hauses erst dann plastisch greifbar wird, wenn sie durch Bausteine und Stoffe Gestalt gewinnt; wie die Form des Hauses in ihrer Reinheit nirgendwo anders als in den geometrischen Figuren auf dem Zeichenbrett des Architekten existiert, so kommen auch die Formen des Lebens unvermischt und rein nicht in der Wirklichkeit vor. Form und Stoff treten im konkreten Leben stets gemeinsam in einem bestimmten Mischungsverhältnis auf. Beispielsweise sind die Formen der Vergesellschaftung ohne den Stoff seelischer Vorgänge im Menschen unvorstellbar: ohne die Liebe gäbe es ebensowenig eine soziale Gemeinschaft, wie es ohne den Haß Krieg gäbe. Formen sind Idealgebilde und gewinnen ihre Plastizität erst, wenn sie sich durch Stoff materialisieren. Dabei verlieren sie aber etwas von ihrem idealen Anspruch. Das bedeutet: die konkreten Erscheinungen gesellschaftlicher Tatbestände sind 76 gleichsam nur Abklatsch der reinen sozialen Form, eine verzerrte, von Stoff verunreinigte Realisierung des idealen Konstruktes „Gesellschaft“. 4. Die Kategorien von Form und Stoff dienen Simmel zur Beschreibung der antinomischen Struktur des Daseins überhaupt. Formen repräsentieren für Simmel Allgemeinheit, Konstanz und Gleichartigkeit in der Geschichte und der Gesellschaft von Menschen. Im Begriff der Form faßt Simmel zusammen: die universalen Elemente in jedem konkreten und einzigartigen Handlungsablauf, das Gleichbleibende in der Besonderheit geschichtlicher Wandlungsprozesse, das Gleichförmige hinter aller Mannigfaltigkeit von sozialen Erscheinungen. Reine Formen sind also schließlich Regeln und Gesetze, die nicht zur Disposition des einzelnen Menschen stehen, die aber umgekehrt den einzelnen Menschen vorprägen, noch ehe er so etwas wie eine Persönlichkeit wird. Formen stecken den geschichtlich-sozialen Handlungsspielraum für das Individuum ab. Mit dieser These versperrt Simmel eine grobmaschige Gegenüberstellung von Individuum und Gesellschaft; beide Größen stehen vielmehr in einem dialektischen Wechselverhältnis zueinander: Das Individuum bildet seine Individualität nicht fernab aller sozialen Bedingungen, sondern ist im Reifungsprozeß immer schon durch geschichtlich-soziale Formen vorgeprägt. Individualität ist nicht die hemmungslose Entfaltung seelischer und materieller Bedürfnisse, sondern diese werden in die vorgegebenen Bahnen geschichtlich-gesellschaftlicher Formen in jeweils besonderer Weise eingefädelt. Soziale Identität konstituiert sich dadurch, daß der einzelne seine seelische Materie mit Hilfe der festgelegten gesellschaftlichen Handlungsund Ausdrucksmuster strukturiert. Simmel betont, daß Leben eine aktiv planende, formende Erfüllung vitaler Bedürfnisse darstellt, nicht deren passi-

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ves Erleiden oder hemmungsloses Ausleben. Sein Grundgedanke läßt sich auf die Formel bringen: Seelische Materie ist der Stoff des Lebens, soziale Handlungsmuster sind die Formen, Identität ist die aktiv-gestalterische individuelle Vermischung beider. Der Erkenntniswert der Simmelschen Begriffstrennung von Form und Stoff wird deutlich, wenn wir hier gleichsam in einer Fußnote einen kurzen Blick auf sein Konzept von Soziologie werfen: Es 77 ist die Aufgabe der wissenschaftlichen Soziologie, durch die Stofflichkeit des Lebens hindurchzustoßen und gewissermaßen dessen reine Formen herauszulösen, also hinter den vordergründigen Gegebenheiten und Erscheinungen der Gesellschaft die formalen Regeln und Gesetzlichkeit des Gesellschaftlichen zu erkennen. Wie ein Architekt bei der Besichtigung eines Hauses fähig ist, die geometrischen Figuren des Bauplanes gedanklich zu rekonstruieren, so muß auch der Soziologe bei der Beobachtung sozialer Prozesse die reinen Vergesellschaftungsformen analysieren können. Wenn Soziologie das Gleichartige der sozialen Formen hinter aller Mannigfaltigkeit der sozialen Erscheinungen aufspüren soll, kann sie nichts anderes als eine formale Wissenschaft sein. Das bedeutet: Soziologie ist eine analytische Wissenschaft, die soziale Verhältnisse nicht wie der Schriftsteller in ihren konkreten Erscheinungen getreu ablichtet, sondern allein deren formale Gesetzlichkeiten herauskristallisiert. Soziologie als eine formale Wissenschaft zielt also in ihrer Theorie auf gedanklich-abstrakte Reinheitsformen und hat es mit analytischen Destillaten zu tun. 2.3 Gott als transzendenter Ort der Gruppenkräfte Die Möglichkeit einer soziologischen Religionstheorie bemißt sich für Simmel daran, ob es ihr gelingt, ein solches analytisches Destillat von Religion aufzufinden. Die erste Frage muß daher lauten: Gibt es so etwas wie ein spezifisch religiöses Bedürfnis, das durch eine Form von Religion befriedigt wird? Tatsächlich arbeitet Simmel aus den vielgestaltigen Lebensschichten bestimmte Bedürfnisse heraus, die durch Religion erfüllt werden: der Wunsch nach Ergänzung des unvollkommenen Lebens, nach Versöhnung der Gegensätze zwischen den Menschen, nach einem festen Punkt im schwankenden Dasein, nach Gerechtigkeit und Einheit, Glück und Heil. Diese Bedürfnisse sind sozusagen psychologische Tatbestände, seelischer Stoff, aus dem Religion entstehen kann; zuweilen spricht Simmel selbst von „religiösen Trieben“, die allein genommen jedoch noch nicht Religion ausmachen: So heißt Sehnsucht nach Glück zu verspüren noch nicht, religiös zu sein, ebensowenig wie etwa der bloße Wunsch, ein Haus zu

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errichten, jemanden bereits zum Hausbesitzer werden läßt. 78 Der religiöse Trieb ist eine notwendige Bedingung der Religion aber er allein reicht nicht hin. Religion ist darüber hinaus mehr, nämlich „eine seelische Art zu leben und die Welt zu erleben“. Sie ist eine Form des Daseins, die auf das religiöse Bedürfnis zugeschnitten ist. Religion als Form ist das Vermögen des Menschen, fragmentarisches Dasein auf Einheit, Sinn und Vollkommenheit hin zu transzendieren. Um dies zu leisten, eignet sich Religiosität in gleicher Weise wie andere Daseinsformen Stoff an und macht sich so als Religion erst gegenständlich und sichtbar. Nun ist Religion ebensowenig wie die Kunst oder die Wissenschaft eine Daseinsform, die der Lebenserhaltung ähnlich unmittelbar dient, wie das etwa bei der wirtschaftlichen Alltagspraxis der Fall ist. Simmel unterscheidet darum zwei Ebenen des Daseins, gleichsam zwei Stockwerke des Lebens: Die untere Ebene ist die der Erfahrung und Praxis, die sich direkt auf die Wirklichkeit beziehen: die planmäßige Beherrschung der Natur durch die Technik oder die bewußte Gestaltung der seelischen Vorgänge und zwischenmenschlichen Beziehungen durch die Gesellschaft. Der Technik oder der Gesellschaft liegen Bedürfnisse gleichsam ersten Grades zugrunde, die unmittelbar lebensdienliche Erfüllungsformen verlangen. Über dieser „niedrigen“ Stufe der Wirklichkeit, dem Erdgeschoß des Lebens sozusagen, befindet sich ein zweites Stockwerk, in dem die sublimeren Bedürfnisse – also Bedürfnisse zweiten Grades – und deren Erfüllung ihren Platz haben: Hier sind Kunst und Spiel, Wissenschaft und Religion angesiedelt. Religion ist also für Simmel eine Art höherer Daseinsform. Von den Daseinsformen in der unmittelbaren Wirklichkeitsdimension unterscheidet sie sich durch zwei Merkmale: Erstens ist Religion auf Totalität gerichtet. Das heißt: Läßt sich die religiöse Form mit Stoff ein, dann gibt sie sich nicht mit einem Teilbereich des Lebens zufrieden. Während die Formen ersten Grades nur mit Ausschnitten des Daseins in Berührung kommen, strebt die Religion tendenziell danach, Wirklichkeit als Ganzes zu einer strukturierten Einheit zu verflechten. Religiosität richtet sich in einem besonderen Erlebniswinkel am Erfahrungshorizont des Lebens ein, dessen gesamten Stoff sie in die eigene Perspektive rückt. Sie reklamiert die Totalität der Welt für sich, indem sie diese in eigener Sprache zum Ausdruck bringt. Daneben unterscheidet sich die Religion zweitens von den Daseinsformen der unteren Wirklichkeits 79ebene dadurch, daß sie deren Stoff nicht unmittelbar verarbeitet, sondern sich bereits vorgeprägten Stoff zueigen macht. „Das religiöse Leben schafft die Welt noch einmal, es bedeutet das ganze Dasein in einer bestimmten Tonart . . . “. In dieser Formel faßt Simmel die Religion als eine höhere Daseinsform zusammen.

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In ihrem konkreten Auftreten vermag die Religion ihren auf Totalität zielenden Anspruch jedoch nur unvollkommen einzulösen: Sie will das ganze Leben in sich aufnehmen, kann es aber nur fragmentarisch leisten. Also tastet Religion gleichsam die gesamte Fülle des vorliegenden, bereits geformten Wirklichkeitsstoffes ab, erprobt ihn und wählt daraus, was für ihre Bedürfnisse geeignet erscheint. Grundsätzlich ist jeder Stoff der Wirklichkeit tauglich, die religiöse Form zu füllen: die Natur ebenso wie schicksalhafte Zufälle. Folgerichtig hat religiöse Mythologie gerade diese Themen immer wieder aufgenommen und verarbeitet. Es werden aber überwiegend besonders die gesellschaftlichen Tatbestände, die zwischenmenschlichen Wechselbeziehungen von der Religion ergriffen und zu einer eigenen religiösen Wirklichkeit verwoben. Simmel demonstriert an der Religion die Analogien, Parallelen und Korrelationen zwischen dem Verhalten des Individuums zu Gott und seinem Verhalten zur Gesellschaft: Wie sich etwa das pietätvolle Kind von seinen Eltern abhängig und geschützt weiß, so auch der Gläubige von seinem Gott; beide orientieren sich gewissermaßen an einer höheren Ordnung. Auf diese Weise erhält der einzelne seinen Stellenwert in einer geschichtlichen Allgemeinheit: das Individuum ist nichts – nicht einmal Individuum – ohne die Gesellschaft, der Gläubige ist nichts ohne Gott. In demselben Gefühl der Abhängigkeit wurzelt letztlich das Einheitsbewußtsein einerseits der Gesellschaftsglieder und andererseits der Gläubigen untereinander: das gleiche Schicksal, die gleiche Geschichte und das gleiche Streben nach dem Ziel der höchsten Güter schweißen die Menschen zusammen: religiös im Heil der Seele, gesellschaftlich im Recht auf freie Selbstverwirklichung. Damit wird Gott sozusagen zum „Namen für die soziologische Einheit“, zum sozial-integrativen Fixpunkt. Mit der Wissenschaft und Kunst hat die Religion als „Form zweiten Grades“ gemeinsam, daß sie gewissermaßen Auszüge der Vergesellschaftungsprozesse darstellt. Ihre Besonderheit als Religion besteht darin, daß sie deren Defizite ausgleicht und auf ein positives Saldo hin überhöht: Da es im menschlichen Dasein keinen 80 einzigen Punkt gibt, der die mannigfaltigen auseinanderstrebenden Kräfte der Gesellschaft auf sich vereinigen könnte, wird nach der Logik der Religion der Schnittpunkt der auf Einheit zielenden Energien ins Jenseits verlegt. Gott wird gleichsam zur Formel für den „transzendenten Ort der Gruppenkräfte.“ Gott ist – soziologisch gesehen – die kosmische Perfektion auf den Begriff gebracht: Bei ihm, also im Jenseits, liegt die reinste, die am höchsten gesteigerte, die vollendetste Verwirklichung dessen, was in der Gesellschaft nur bruchstückhaft bleibt. Es erscheint im Kleide der Vollkommenheit als religiöser Inhalt nunmehr das, was fragmentarischen, sozialen Ursprungs ist. Durch die Religion werden den Problemen ihre Widersprüchlichkeiten entzogen, die in der Ge-

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sellschaft zu ernsten Konflikten führen: Während die sozialen Güter für das Individuum in der Gesellschaft nur im Wettbewerb mit anderen erreichbar sind, kann der Gläubige das Heil seiner Seele erringen, ohne es damit zugleich anderen zu entziehen. Während das Individuum sich in der Gesellschaft nur verwirklichen kann, wenn es der Allgemeinheit seine Freiheit abtrotzt, erfüllt der Gläubige gerade dann den Willen Gottes, wenn er nach Unsterblichkeit und höchster Selbstvollendung strebt; unter Gottes Herrschaft fallen Freiheit und Bindung zusammen, die in der Gesellschaft noch weit auseinanderklaffen. 2.4 Das kritische Erbe der Simmelschen Religionstheorie Es wäre unangemessen, Simmel heute nach dem Maßstab einer modernen differenzierten Soziologie zu beurteilen; von Pionieren kann nicht erwartet werden, daß sie die komplexen Folgen jener Entwicklung vorwegsehen, die sie mit angestoßen haben. Daß die Soziologie heute vieles anders und wohl auch richtiger als Simmel sieht, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß eigentlich erst Simmel ihr dazu den Weg geebnet hat. Doch ist es nicht nur historische Dankbarkeit dem Ahnherrn gegenüber, die Simmel ins Gedächtnis der Religionssoziologie zurückrufen läßt. Sein Werk ist längst nicht überholt, sondern enthält nach wie vor Aufgabenstellungen, die bisher kaum oder nur in unzureichendem Maße wahrgenommen werden. In diesem Sinne schreibt der Soziologe Friedrich H. Tenbruck über Simmels Untersuchungen: Sie sind 81 „eine Fibel, eine Schule, in der man konkret soziologische Perspektive lernen kann . . . Sie sind aber überdies eine noch gar nicht ausgeschöpfte Fundgrube für Durchsichten durch Gesellschaft und Kultur . . . Sie bieten auch eine Unzahl von wichtigen Fingerzeigen, deren Bedeutung gerade erst aus der Entfernung zu verstehen und mittels des entwickelten Begriffsapparates moderner Soziologie zu deuten ist“15. Es kann hier nur andeutungsweise versucht werden, die Grundtendenzen einer möglichen Bilanz aus der Religionstheorie Simmels zu unterstreichen. Nach dem Simmelschen Konzept schält die Religionssoziologie aus den vielfältigen religiösen Erscheinungsweisen das Abstraktions 82modell der religiösen Form heraus: gleichsam den „reinen Typus“ von Religion. Der Soziologe analysiert die formalen Gesetzlichkeiten, nach denen sich so etwas wie Religion konstituiert. Für Simmel ist Religion eine Form, die bestimmte Bedürfnisse des Menschen erfüllt: Der Mensch bedient sich der religiösen Transzendierungskraft, um sein Integrationsverlangen zum Ausdruck zu bringen. Dieses Verlangen bildet sich dort, wo Einheit und Voll15

Friedrich H. Tenbruck: Georg Simmel (1858–1918), in: KZSS 10 (1958), S. 610.

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kommenheit am empfindlichsten bedroht sind: im gesellschaftlichen Leben. Der wirr zerklüftete Stoff der Gesellschaft sättigt die religiöse Form und erfährt durch sie eine Ausrichtung auf den integrativen Fluchtpunkt hin, der in allen Religionen mit dem Begriff Gottes bezeichnet wird. So entfaltet sich die Religion nicht im Jenseits des gesellschaftlichen Lebens, sondern bindet dessen auseinanderfallende Fäden zu einem transzendenten Knoten zusammen. Darin besteht die Paradoxie der Religion: Sie wurzelt zutiefst im sozialen Leben, geht aber gleichwohl nicht in ihm auf. Dies gilt besonders für die Sozialgestalt von Religion selbst. Inhalt und Erscheinung der Religion stellen die Vermischung von Lebensstoff und religiöser Form dar. Die objektiv-religiösen Gebilde – Kirche und Dogmatik – sind stets nur gewissermaßen ein schwacher Abglanz der reinen Form von Religion, eine verzerrte Materialisierung ihrer Idee. Form und Inhalt können in der Realität nie völlig übereinstimmen, weil es die reine Form der Religion konkret nicht gibt. Diese These Simmels hat weitreichende Konsequenzen, wenn man bedenkt, daß die religiöse Form eine Funktion des individuellen Lebens ist, also den religiösen Bedürfnissen des einzelnen Menschen zu genügen hat. Für die objektiv-sozialen Gebilde der Religion impliziert Simmels These der „ewigen“ Deckungsungleichheit von Form und Inhalt die Wandelbarkeit und Vorläufigkeit als Wesensmerkmal der Religion. Religion ist nicht mehr Religion, wenn sie sich als vollendete begreift. Vielmehr werden die verfestigten Formen der sozialen Institution Kirche ebenso wie die verkrusteten Bastionen der Dogmatik fortwährend von der individuellen Religiosität unterhöhlt; die sichtbaren Gebilde der Religion sind zu konservativ gefüllten Formen erstarrt, in denen der Stoff – die Dogmatik – zum Selbstzweck wird: sie bilden gleichsam Kanäle gefüllt mit abgestandenen Gewässern und nicht mehr durchflutet vom leben 83digen Strom religiöser Frömmigkeit. Es ist ein Irrtum anzunehmen, Religiosität ließe sich in ihren objektiv-sichtbaren Gebilden monopolisieren: weder die Dogmatik noch die Kirche stellen jeweils die Religion schlechthin dar; sie sind vielmehr verselbständigte Produkte, von denen sich die Form individueller Religiosität gerade um ihrer Entfaltung willen emanzipieren muß. Religion ist Streben, Sehnsucht und Verlangen, niemals aber fester Besitz. An dieser Stelle setzt die kritische Funktion ein, die Simmel der Religionssoziologie zurechnet: Indem sie die reine religiöse Form analysiert und zugleich die konkrete Erscheinung der Religion als Verunreinigung ihrer Form erkennt, weist sie die religiös produzierte Entfremdung des Menschen auf. In der Suche nach der wahren Form von Religion entlarvt sie deren pervertierte Erscheinung. Sozialwissenschaft, die der Religion ihre Widersprüchlichkeit von Form und Stoff, Ziel und Inhalt, Idee und Verwirklichung vor-

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rechnet, ist gewissermaßen Entwicklungshilfe zum Selbstverständnis der Religion, nicht aber deren Zerstörung. „Religion im Prozeß sozialwissenschaftlicher Kritik“ – dies kann für Simmel nur die Beschreibung eines Läuterungsvorganges sein: in ihm werden Wissenschaft und Religion, Glaube und Vernunft in einer Weise auseinandergetrennt, daß sie im Kern gegenseitig immun sind. Auf der einen Seite bleibt der theoretisch-wissenschaftliche Glaube der Vernunft als faktisches Nichtwissen bestehen, als vermutendes, hypothetisches Fürwahrhalten von Dingen, deren Existenz unbewiesen ist; auf der anderen Seite bleibt der religiöse Glaube, der Fakten schafft, indem er dem Stoff gesellschaftlicher Wirklichkeit seinen eigenen Stempel aufprägt. Der „wissenschaftliche“ Glaube steht zum religiösen Glauben nicht in einem ausschließenden Widerspruch, sondern im Ergänzungsverhältnis. Simmel selbst faßt den Sachverhalt folgendermaßen zusammen: „Ich glaube, daß die Kritik keinen einzigen Inhalt der historischen Religionen bestehen läßt, aber die Religion selbst nicht trifft; denn diese ist ein Sein der religiösen Seele . . . und deshalb so wenig zu widerlegen . . . , wie ein Sein überhaupt zu widerlegen ist.“16 Sozialwissenschaftliche Religionskritik ist für Simmel die Aufforderung an den Menschen, seine Frömmigkeit jenseits der Sphäre zu finden, wo sich Frömmigkeit in objektiven Gebilden verfestigt. 84 Denn der religiöse Glaube bleibt für den bedeutsam, der in ihm lebt: er bleibt das Sinnzentrum der individuellen Biographie, auch, ja gerade unter den kritischen Augen des Religionssoziologen. Darin also liegt für Simmel der unbestreitbare Realitätsgehalt der Religiosität, die durch soziologische Kritik nicht verschreckt werden kann: das selbständige und kontinuierliche Verhalten des Ichs in den zwischenmenschlichen Wechselbeziehungen experimentell zu erproben – die Suche des halbgelungenen Wesens Mensch nach seiner vollendeten Identität in widersprüchlichen Gesellschaftsprozessen. Die Religion ist nichts anderes als der verborgene, stets antreibende Katalysator dieses Prozesses.

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Zitiert nach: Horst Müller: Lebensphilosophie und Religion bei Georg Simmel, Berlin 1960, S. 158.

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3. Durkheim und Simmel – ein Vergleich17 3.1 Axiom der Religionssoziologie Gegensätze in den Ausgangsfragen, Unterschiede in der Analyse, Ähnlichkeiten in den Ergebnissen und Konsequenzen – so läßt sich ein Vergleich zwischen Durkheim und Simmel auf einen ersten Blick hin zusammenfassen. Beide Religionsmodelle sind freilich nicht leicht als Vorlagen für das gegenwärtige Verständnis von Religion zu gebrauchen. Eher wird es die heutige Aufgabe sein, die Grundmelodie ihrer Gedankengänge herauszuhören und zu einer neuen Komposition umzuarbeiten, deren endgültige Gestalt wohl noch schemenhaft bleiben muß. Durkheim und Simmel haben das Fundament der modernen Religionssoziologie in der gemeinsamen These festgelegt: Religion ist ein strukturell-funktionales Phänomen der Gesellschaft. Mit diesem religionssoziologischen Axiom haben sie den Blickwinkel für eine kritische Einschätzung der Religion methodisch verortet. Zugleich beinhaltet diese These zwei grundlegende neue Akzente gegenüber allen früheren Religionsmodellen. Die erste Akzentverschiebung besteht in der Aussage: Religion erschöpft sich bei weitem nicht in dem, was sie vordergründig ausdrückt und zu sein beansprucht, sondern schließt vor allem auch 85 das mit ein, was sie untergründig an bestimmenden gesellschaftlichen Einflüssen verbirgt. Religion ist schon in ihrer Erscheinung, mehr noch in ihrer Wirkung stärker gesellschaftlich eingefärbt, als sich ihre gläubigen Anhänger ausdrücklich vorstellen. Zwar hatte dies bereits Feuerbach vermutet, aber er veranschlagte den Funktionsbereich von Religion zu eng: Religion war für ihn nicht viel mehr als ein himmlisches Entschädigungsinstitut für die Seelenwünsche derjenigen Menschen, die Heil und Glück im Irdischen zu entbehren haben. Während seine These noch lautete: „Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde“, betonen nach ihm Marx, vor allem aber Durkheim und Simmel: Die Gesellschaft ist es, die Gott nach ihrem Bilde schafft. In beiden Behauptungen steckt die erste Grundthese der Religionssoziologie: Religion hat eine Funktion, einen bestimmten Zweck, und zwar nicht nur für den einzelnen oder

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Zur Gegenüberstellung von Durkheim und Simmel vgl. die beiden Jubiläumsbeiträge in „The American Journal of Sociology“ aus dem Jahre 1958: Peter H. Rossi: Emile Durkheim and Georg Simmel. – Kurt. H. Wolff: The Challenge of Durkheim and Simmel.

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gattungsmäßigen Menschen, sondern auch und gerade für die Gesamtgesellschaft. Die zweite Akzentverschiebung lautet: Religion ist nicht bloßes Beiwerk oder flüchtige Begleiterscheinung sozialer Zustände, sondern sie ist ein Strukturmerkmal jeder Gesellschaft. Noch für die Religionstheoretiker vor Durkheim und Simmel galt als Gewißheit, daß die Religion ihre Existenzberechtigung aus einer Mangelsituation im menschlichen Leben herleitet; sobald dieser Mangel aufgehoben sein würde, war es die notwendige Folge, daß damit die Religion ihren Grund verliert: so behaupteten die Evolutionisten, die Religion werde als ein Ersatzinstrument für fehlende gesicherte Erkenntnisse von Wirklichkeit überflüssig, sobald die Wissenschaft die Funktionen befriedigender erfüllt. Ähnlich nahm Feuerbach an, daß die Religion als eine fata morgana des defizitären Seelenlebens verschwinden werde, sobald sich der Mensch an die Verwirklichung seiner tatsächlichen Wunschvorstellungen begibt. So prophezeite schließlich Marx, daß die Religion als die kritische Paraphrase politökonomischer Verhältnisse einer Gesellschaft ihre Bedeutung verlöre, sobald die Kritik des Himmels durch die praktische Kritik der Zustände auf Erden ersetzt werde. Gegenüber all diesen Thesen vom mehr oder weniger heilbaren Illusionscharakter der Religion setzen Durkheim und Simmel den Akzent auf die Aussage: Religion ist eine grundlegende Form gesellschaftlichen Seins, ein unverzichtbares Strukturelement der Gesellschaft, gleichsam eine anthropologische Konstante. 86 3.2 Konsequenzen sozialwissenschaftlicher Religionskritik Die Beschreibung und Analyse des Charakters von Religion fallen bei Durkheim und Simmel andererseits sehr unterschiedlich aus. Für Durkheim ist die Religion der öffentliche Kultus der Gesellschaft; sie wirkt dahin, das Recht der Individuen auf freie Selbstverwirklichung durch symbolische Verbote und Strafandrohungen einzuschränken; das Individuum wird gewissermaßen zu einem Vollstreckungsbeamten des Kollektivwillens. Für Simmel dagegen ist Religion eine individuelle Lebensform in der Gesellschaft. Der einzelne erkennt als Pflicht nur dasjenige an, was durch seine Einsicht gerechtfertigt ist. Nicht die Gesellschaft ist der Träger der Religion, sondern diese ist ihrerseits aktives Subjekt: der gesellschaftliche Stoff wird gleichsam durch das religiöse Prisma gebrochen. Religion verlängert, steigert oder vollendet die fragmentarischen Einheitstendenzen in der Gesellschaft und wird so zum schlackenfreien Destillat ihres Idealbildes. Heute wird die Religionssoziologie bei den Modellen Durkheims und Simmels Abstriche machen müssen: vor allem, was die methodische Exaktheit ihrer Materialaus-

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wahl und Analyse angeht. Aber so fehlerhaft und unterschiedlich beide den strukturellen und funktionalen Gehalt der Religion im einzelnen analysiert haben, so einhellig und aktuell stellt sich indessen die Richtung der Konsequenzen aus der gemeinsamen Grundthese ihrer Religionssoziologie dar. In unserem Zusammenhang können diese Auswirkungen nur umrißhaft angedeutet werden. Die erste Konsequenz lautet: Sowohl für die Anhänger als auch für die wissenschaftlichen Erforscher der Religion ist mit der Erkenntnis von ihrem universalen sozialen Charakter der Rückzug in das Abseits der Gesellschaft verbaut. Weder können sich die Gläubigen in vermeintlich gesellschaftsfreien Katakomben sammeln, noch können Soziologen so tun, als sei Religion nur das, was sich „neben“ einer Gesellschaft als Religion erkennen läßt. Denn einerseits verbirgt sich durchaus die Gesellschaft auch im Gewande der Religion, und andererseits geht Religion nicht völlig in ihrem tatsächlichen Bestand „Kirche“ oder „religiöse Gemeinschaft“ auf. Wer Religion apodiktisch für gesellschaftslos hält, irrt ebenso wie derjenige, der Kirche ausschließlich für Religion und entkirchlichte Gesellschaft infolgedessen definitiv für religionslos hält. Der säu 87berliche Schnitt quer durch das Leben: hier das Getto der Religion als Kirche – dort die religionslose Gesellschaft – dazwischen allerlei Wechselbeziehungen –, diese grob vereinfachte Analyse hält einer differenzierten Prüfung nicht länger stand. Die zweite Konsequenz ergibt sich für das Verhältnis zwischen Religion und wissenschaftlicher Soziologie. Für Durkheim ist nicht weniger als für Simmel unumstritten, daß die Religion durch sozialwissenschaftliche Kritik nicht zu einem blutlosen Gespenst wird, sondern eher durch soziologische Läuterung gesundschrumpft. Wo allerdings Religion mit dem Anspruch auftritt, Erkenntnis von Wirklichkeit schlechthin zu sein, da muß sie weichen, wenn sie mit der Wissenschaft ins Gedränge kommt. Hierin liegt also eine kritische Funktion der Soziologie gegenüber der Religion: sie kann dazu beitragen, die überalterten Hypotheken des wissensmäßigen Erkenntnisbestandes abzutragen, mit denen sich die Religion befrachtet und damit ihre eigentlichen Aufgaben verbaut. In der dritten Konsequenz schält sich der gesellschaftliche Kern, gewissermaßen also die eigentliche soziale Funktion von Religion heraus: Sie hat die widersprüchlichen Fakten und Prozesse der gesellschaftlichen Wirklichkeit symbolisch in einer solchen Weise zu einem einheitlichen Ganzen zu ordnen, daß in ihm identisches Handeln für den Menschen möglich wird. Für Durkheim und Simmel kann Religion nicht sein: Erkenntnis von Wirklichkeit schlechthin. Religion muß vielmehr sein: Erkenntnis der Wirklichkeit in ihrer Handlungsrelevanz. Dabei ist es ihre Aufgabe, die Wirklichkeitsbruchstücke durchzumustern, auszuwählen und abzuwägen, sie gleich-

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sam zu einer Kulisse zu arrangieren, vor der sich der Mensch als Person darstellen kann. Diese Aufgabe schreiben Durkheim und Simmel gleichermaßen der Religion zu, – auch wenn sie sich dem Problem von verschiedenen Seiten nähern: Bei Durkheim wird das Individuum eher vergesellschaftet, während bei Simmel das Gesellschaftliche eher individualisiert wird; Durkheim sieht die Reichweite der individuellen Schöpferkraft mehr als Grenze, während Simmel sie stärker als offene Chance betont. Hinter den unterschiedlichen Positionen steht bei beiden jedoch die zentrale Absicht, die Möglichkeiten der Religion als derjenigen Kulturgestalt auszuleuchten, die dem Menschen bei der Auffindung seines vollkommenen Ideals von Identität behilflich ist. So gesehen läßt sich die soziale Funktion von 88 Religion auf die Formel bringen: Sie stellt und beantwortet die Frage, wieweit sich der Mensch selbständig und widerspruchslos an den Ereignissen der Gesellschaft schöpferisch beteiligen kann und muß.

Religion und die Rationalisierung der modernen Welt: Max Weber (1864–1920)

Daß Max Weber weder zeit seines Lebens noch wirkungsgeschichtlich recht eigentlich „Schule“ gemacht hat, daß keine direkte Ahnenreihe von Jüngern, Adepten, Schülern oder auch nur Nachlaßverwaltern durchgängig auf ihn zurückzuführen ist, läßt ihn in gewisser Hinsicht auch heute noch unzugänglich erscheinen: „Wie ein Gebirge“ liegt sein Werk „inmitten unserer geistigen Landschaft“, schreibt Eduard Baumgarten – „dem Namen nach fast allen bekannt, aber kaum betreten und nur von ganz wenigen wirklich jemals erstiegen.“1 In der Tat: metaphorisches Pathos, pflichtschuldige Verneigung, wohlwollende Philologie, Verteidigung – wie übrigens auch Verurteilung – in Bausch und Bogen bestimmen vorrangig die Art und Weise, in der sich zeitgenössische Wissenschaft seinem Opus nähert. Das gilt im besonderen Maße für die Soziologie, die nicht müde wird, Max Weber einhellig als ihren Begründer in Deutschland zu nennen, ohne jedoch über die Pose 90 der Heldenverehrung hinauszugelangen. Im Gegenteil: Fast durchweg gilt es, für den eigenen Entwurf im Nachhinein die Autorität Webers zu reklamieren, die Reputation der eigenen Disziplin mit seinem Namen zu schmücken und ihn nicht zuletzt dadurch einseitig in Anspruch zu nehmen. 1

Eduard Baumgarten: Einleitung zu: Max Weber: Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik. Stuttgart 1956, S. XII. – Zum folgenden vergleiche auch die Gesamtdarstellungen Webers von: Carlo Antoni: Vom Historismus zur Soziologie, Stuttgart 1950, S. 161–249. – Raymond Aron: Die deutsche Soziologie der Gegenwart. Stuttgart 1953, S. 92–150. – Paul Honigsheim: Max Weber als Soziologe, in: KVS 1 (1921), S. 32–41. – Paul Honigsheim: Max Weber, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Band 11, Tübingen/Göttingen 1961, S. 556–562. – Karl Jaspers: Max Weber. Politiker, Forscher, Philosoph, München 1958. – Sowie die anläßlich der Feiern zu Webers 100. Geburtstag erschienenen Sammelbände: Max Weber. Gedächtnisschrift, hg. von Karl Engisch/Bernhard Pfister/Johannes Winckelmann, Berlin 1966. – Max Weber zum Gedächtnis, hg. von René König/Johannes Winckelmann, Sonderheft 7 der KZSS, Köln/Opladen 1964. – Max Weber und die Soziologie heute. Verhandlungen des 15. Deutschen Soziologentages, hg. von Otto Stammer, Tübingen 1965. – Neuerdings auch: Max Weber. Sein Werk und seine Wirkung, hg. von Dirk Käsler, München 1972.

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Religion und die Rationalisierung der modernen Welt: Max Weber

Max Weber, der schon zu Lebzeiten als „Mythos von Heidelberg“ galt, ist heutzutage erst recht zum Streitfall der geistesgeschichtlichen Topographen geworden: Welcher Fachrichtung läßt er sich zuordnen? Welche Position ist mit dem „eigentlichen“ Weber zu verbinden? Worin bestand der Kern seiner Persönlichkeit? Kaum ein Epitheton, kaum ein Klassifikationsmerkmal oder Etikett scheint es zu geben, das auf ihn nicht als zutreffend empfunden worden ist. So sah man ihn wahlweise mal als den modernen Polyhistor oder journalistischen Hasardeur an, mal als den Politiker par excellence, mal als „Wissenschaftler wider Willen“ oder die Verkörperung philosophischer Existenz schlechthin. Einige erblickten in ihm den Protagonisten des existentiellen Rationalismus oder heroischen Skeptizismus; andere stempelten ihn kurzerhand zum Dezisionisten oder Positivisten ab, wiederum andere zum bürgerlichen Marxisten. Je nach politischer Couleur des Betrachters galt er als erster Europäer oder letzter vornationalistischer Patriot, als Vertreter des kosmopolitischen Liberalismus oder als Advokat des deutschen Imperialismus; ja sogar zum Vorläufer des Faschismus wurde er deklariert. Im Urteil seiner Bewunderer erschien er bald in der Nähe der großen Naturforscher der Renaissance, bald neben den mittelalterlichen Ketzern, taboritischen Helden oder Cromwellschen Heiligen. Mit Machiavelli, Luther, Goethe und Tocqueville wurde Weber ebenso verglichen wie mit Jacob Burckhardt und Thomas Mann oder mit Lord Acton und William Gladstone. Auch hat es nicht an Versuchen gefehlt, Züge der Selbstinterpretation, gleichsam „eine verkappte Analyse der Struktur des Weberschen Selbst“ (Christoph Steding) aus seinem Werk herauszulesen: eine „innere Verwandtschaft mit dem spröden Individualismus des Calvinismus“ (Ernst Troeltsch) etwa, eine Ähnlichkeit mit den „Titanen des heiligen Fluchs“ – wie Weber seinerseits die jüdischen Unheilspropheten charakterisierte – oder auch eine Verkörperung der von ihm eingehend geschilderten, vom „Daimonion“ besessenen charismatischen Persönlichkeit. 91 1. Max Weber: Werk und Person – Interesse und Methode All diese Bemühungen, sich Webers durch griffige Formeln zu bemächtigen, gründen letztlich auf der Annahme, sein Werk liege geschlossen, in sich stimmig und einheitlich vor – ein grandioses System sozusagen, dessen Teile nicht antastbar seien, ohne den Bestand des Ganzen zu gefährden. Doch scheitert ein solches Einheitspostulat schon am fragmentarischen Charakter seines Werkes2, 92 erst recht an seinen inneren Widersprüchlichkeiten und 2

Die meisten Werke Webers bestehen aus Aufsätzen oder blieben unvollendet. Für

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eigenen Ansprüchen. Folgenreich war es jedoch, daß ihn eine derartige Kanonisierung für die Nachwelt gewissermaßen immun gemacht hat: Er wird eher der Dogmengeschichte soziologischer Theoriebildung zugerechnet als ihrer Wirkungsgeschichte, findet sich öfter als Gewährsmann zitiert denn als Initiator. Im großen und ganzen fehlt ihm gegenüber die Attitüde der respektlosen, differenziert kritischen Aneignung, also die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk in genau jene Richtung, die Weber selbst weisen wollte: nämlich fruchtbare Perspektiven aufzeigen, weiterführende Aspekte kennzeichnen, nützliche Fragestellungen liefern und realitätsaufschließende Nuancen setzen. Die heutige Soziologie dagegen scheint ihn ehrfurchtsvoll von jener Voraussetzung auszunehmen, die Weber noch als die grundlegende Maxime seines Tuns formuliert hatte: „Jede wissenschaftliche ‚Erfüllung‘ bedeutet neue ‚Fragen‘ und will ‚überboten‘ werden und die Religionssoziologie wichtig sind vor allem: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 3 Bände, Tübingen 1920 bis 1921. – *Wirtschaft und Gesellschaft, Tübingen 1921; Studienausgabe: 2 Bände, Köln/Berlin 1961. Bes.: S. 1–42 (Soziologische Grundbegriffe), S. 157–222 (Typen der Herrschaft), S. 317–488 (Religionssoziologie), S. 691–1102 (Soziologie der Herrschaft). – Wirtschaftsgeschichte. Abriß der universalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, München 1923, S. 300–315. – *Die protestantische Ethik. Eine Aufsatzsammlung, hg. von Johannes Winckelmann, München/Hamburg 1965. – *Die protestantische Ethik II. Kritiken und Antikritiken, hg. von Johannes Winckelmann, München/Hamburg 1968. – Darüber hinaus sind für den Zusammenhang der Weberschen Religionstheorie wichtig: Gesammelte politische Schriften, München 1921. – Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1922. – Eine gekürzte Ausgabe erschien unter dem Titel: *Methodologische Schriften, Studienausgabe, Frankfurt a.M. 1968. – Gesammelte Aufsätze zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Tübingen 1924. – Gesammelte Aufsätze zur Soziologie und Sozialpolitik, Tübingen 1924. – Eine Textauswahl bietet: *Max Weber. Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, Stuttgart 1956. Um „die Pönitenz einer bösen Fußnotengeschwulst“ (Max Weber) nicht noch mehr auszuweiten, werden im folgenden Zitate von Max Weber nicht eigens ausgewiesen. Es gibt so etwas wie einen feststehenden Kanon von Max-Weber-Zitaten, an den sich auch die folgende Darstellung weitgehend hält. Die einzelnen Zitate lassen sich mühelos wiederfinden, wenn man in den oben mit * bezeichneten Werken Webers selbst liest. Die Sekundärliteratur über Max Weber ist nahezu unübersehbar. Die wohl z. Zt. beste Bibliographie findet sich bei: Gerhard Hufnagel: Kritik als Beruf. Der kritische Gehalt im Werk Max Webers, Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1971, S. 363–423. Sie umfaßt insgesamt 890 Titel. Tatsächlich dürfte der Sekundärliteraturbestand weit größer sein. Wie mir Herr Dr. Gert Schmidt vom ehemaligen Max-Weber-Institut der Universität München mitteilte, wird eine dort z. Zt. erstellte Bibliographie etwa 1800 Titel umfassen. – Die wichtigste hier benutzte Literatur wird jeweils zu den einschlägigen Themenkomplexen angegeben.

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veralten . . . Wissenschaftlich . . . überholt zu werden, ist . . . nicht nur unser aller Schicksal, sondern unser aller Zweck.“ 1.1 Ein „normales“ Gelehrtenleben und journalistische Existenz Wer war dieser Mann, der eine solche Ausstrahlungskraft besaß und durch seine überragende Größe zugleich eine solch lähmende Wirkung auslöste? Betrachtet man zunächst seine Biographie3, so erstaunt die „relative Ereignislosigkeit seines äußeren Lebens“ (René König): Als Sohn des späteren Berliner Stadtrats und nationalliberalen Landtagsabgeordneten Max Weber sen. und seiner Frau Helene, geborene Fallenstein, kam Max Weber am 21. April 1864 in Erfurt zur Welt. Nachdem er in Heidelberg, Berlin und Göttingen im Hauptfach Jura, daneben Geschichte, Nationalökonomie 93 und Philosophie studiert hatte, promovierte er im Jahre 1889 mit einem Abschnitt aus einer umfassenderen Studie „Zur Geschichte der Handelsgesellschaft im Mittelalter“; zwei Jahre später reichte er seine Habilitationsschrift ein: „Die römische Agrargeschichte in ihrer Bedeutung für das Staats- und Privatleben“. Er engagierte sich auf dem „Evangelisch-sozialen Kongreß“ und im „Verein für Socialpolitik“, in dessen Auftrag er die Bearbeitung einer voluminösen Landarbeiter-Enquete über das ostelbische Deutschland übernahm. Anfänglich beabsichtigte Weber, Rechtsanwalt zu werden, und bewarb sich um eine Syndikusstelle in Bremen. Als die Pläne scheiterten, nahm er einen Ruf für Nationalökonomie nach Freiburg an. Dort hielt er 1895 seine berühmt-berüchtigte Antrittsrede „Der Nationalstaat und die Volkswirtschaftspolitik“, die ihm das Renommee verschaffte, ein kompromißloser Nationalist zu sein. Kurz darauf folgte Weber einem Ruf nach Heidelberg. Doch mußte er sich zwei Jahre später wegen eines schweren Nervenleidens infolge von Überarbeitung beurlauben lassen. Es begann eine langwierige Zeit des Umherreisens in Europa, wobei er Erholung und Ablenkung suchte. Erst allmählich fand er in die Arbeit zurück, brachte zunächst nur kleinere Gelegenheitsschriften zustande: Stellungnahmen, Vorbemerkungen und Marginalien; dann jedoch größere methodologische Abhandlungen: etwa 3

Zur Biographie Webers: Max Weber. Werk und Person, hg. von Eduard Baumgarten, Tübingen 1964. – Paul Honigsheim: Der Max-Weber-Kreis in Heidelberg, in: KVS 5 (1925–1926), S. 270–287. – Paul Honigsheim: Erinnerungen an Max Weber, in: Max Weber zum Gedächtnis (s.o. Anm. 1), S. 161–271. – René König: Max Weber, in: Die großen Deutschen, hg. von Hermann Heimpel/Theodor Heuss/Benno Reifenberg, Band 4, Berlin 1957, S. 408–420. – Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild, Tübingen 1926. – Marianne Weber: Lebenserinnerungen, Bremen 1948.

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über „Die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie“ (1903), vor allem aber über „Die ,Objektivität’ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis“ (1904) – eine Aufsehen erregende Programmschrift für das „Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, dessen Herausgeberschaft er zusammen mit Edgar Jaffé und Werner Sombart im gleichen Jahr übernahm. Gleichzeitig entstanden seine ersten bahnbrechenden Studien zur Religionssoziologie: „Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus“; sowie unter dem Eindruck einer Amerika-Reise: „Kirchen und Sekten“ (1906), und später: „Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ (1916/17). Immer noch nicht vollständig genesen, mußten sich seine Aktivitäten in den Jahren 1905 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges größtenteils auf Bereiche außerhalb der Universität beschränken. Zusammen mit seiner Frau Marianne, geborene Schnitger, sammelte er im eigenen Haus jenen legendären Max-Weber-Kreis um sich, der für lange Zeit so etwas wie eine feste Institution in Hei 94delberg darstellte, eine Begegnungsstätte weltberühmter Wissenschaftler. Hier trafen sich so unterschiedliche Gestalten wie: Ernst Troeltsch, systematischer Theologe; Georg Jellinek, Staatsrechtler mit soziologisch-historischem Interesse; Karl Jaspers, damals noch Privatdozent für Psychiatrie, später einer der Hauptvertreter des Existentialismus; der Philosoph und Mathematiker Emil Lask; der Nationalökonom Werner Sombart; die Frauenrechtlerin Gertrud Bäumer; der Soziologe Paul Honigsheim; Helmuth Plessner, der nach dem Zweiten Weltkrieg grundlegende Arbeiten zur philosophischen Anthropologie verfaßte; Karl Loewenstein, der spätere Autor eines Standardwerkes über den Parlamentarismus; und schließlich die beiden „Gestalten vom Gegenpol“: Georg Lukacs und Ernst Bloch, damals noch als „Gnostiker“ verschrien. Doch blieb Webers Engagement nicht auf den häuslichen Diskussionszirkel beschränkt. „Päpstlicher als der Papst“ betrieb er etwa die Sache der Frauenemanzipation. Erregte seine eigene „Gefährtin“ schon Aufmerksamkeit, als sie als eines der ersten weiblichen Exemplare in den noch maskulin beherrschten Hörsälen erschien, so grenzte Webers Absicht, eine Frau, die Sozialpolitikerin Maria Bernay, zu habilitieren, nahezu an einen Skandal; selbst für seinen Kollegen, den Philosophieprofessor Windelband, war das zuviel, der Weber bei den Berufungsplänen hinsichtlich des „Juden“ Simmel – freilich vergeblich – noch unterstützt hatte. Da die Fachrichtung der Soziologie und Statistik vor dem Ersten Weltkrieg an deutschen Universitäten kaum repräsentiert war – sie stand noch ganz und gar im Bann der Nationalökonomie, der Medizin, des Volksbildungswesens und der Weltanschauungsvereine – und überdies vom Betrieb

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der Wirtschaftshistoriker und monarchistischen Sozialpolitiker erdrückend überschattet wurde, beteiligte sich Max Weber 1909 an der Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“4, aus der er allerdings kurz vor seinem Tode wegen Meinungsverschiedenheiten in der „Werturteilsfrage“ wieder ausschied. Während des Ersten Weltkrieges entwickelte Weber eine fieberhafte publizistische Tätigkeit – vor allem als Mitarbeiter der „Frank 95furter Zeitung“5. Durchlaufend war dabei seine bissige Polemik gegen Wilhelm II., von dem er stets nur als dem „gekrönten Dilettanten“ oder boulangeristischen „Fatzke“ redete, der Politik offenbar „lediglich unter dem Gesichtspunkt eines originellen Leutnants“ betrachtete. Sachlich sprach sich Weber besonders gegen eine deutsche Annexionspolitik und gegen die Verschärfung des U-Boot-Krieges aus, bei der er den Eintritt Amerikas in die Kampfhandlungen voraussah. Gegen Ende des Krieges wandte er sich vornehmlich dem Problem der Kriegsschuldfrage und der Reform des deutschen Staatsgefüges zu. Berühmt wurde seine Abhandlung über „Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland“ vom Mai 1918. Innenpolitisch nahm Weber beratend Einfluß auf Hugo Preuß, den Vater der Weimarer Reichsverfassung. Pläne, Weber zum Staatssekretär im Innenministerium zu ernennen oder zum Delegierten der Deutschen Demokratischen Partei in die Nationalversammlung zu wählen, schlugen fehl. Im Jahre 1918 nahm Weber nach langer Krankheit und langsamer Genesung erstmals wieder eine volle akademische Lehrtätigkeit als Gastprofessor in Wien auf. Dort las er über die „Positive Kritik der materialistischen Geschichtsauffassung“ – ein Überblick über seine religionssoziologischen Studien. Daneben reiste er durch Deutschland, hielt Vorträge über den „Sozialismus“, über „Politik als Beruf“, „Wissenschaft als Beruf“ und Wahlreden für die Deutsche Demokratische Partei. Ein Jahr vor seinem Tod trat er die 4

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Vgl. hierzu Paul Honigsheim: Die Gründung der „Deutschen Gesellschaft für Soziologie“ in ihren geistesgeschichtlichen Zusammenhängen, in: KZSS 11 (1959), S. 3–10. Über Webers Verhältnis zur Politik vgl. Arnold Bergstraesser: Max Webers Antrittsvorlesung in zeitgeschichtlicher Perspektive, in: VZG 5 (1957), S. 209–219. – Karl Loewenstein: Max Weber als „Ahnherr“ des plebiszitären Führerstaates, in: KZSS 13 (1961), S. 275–289. – Karl Loewenstein: Max Webers staatspolitische Auffassung in der Sicht unserer Zeit, Bonn 1965. – Wolfgang J. Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik 1890–1920, Tübingen 1959. – Wolfgang J. Mommsen: Max Weber. Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt a.M. 1974. – Ernst Nolte: Max Weber vor dem Faschismus, in: Der Staat 2 (1963), S. 1–24. – Christoph Steding: Politik und Wissenschaft bei Max Weber, Breslau 1932. – Gerhard Schulz: Geschichtliche Theorie und politisches Denken bei Max Weber, in: VZG 12 (1964), S. 325–350.

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Nachfolge auf dem Lehrstuhl Lujo Brentanos in München an. Im Frühjahr 1920 erkrankte er an einer asiatischen Grippe, die damals in Europa grassierte. Als eine Lungenentzündung hinzutrat, starb 96 er, 56jährig, am 14. Juni. Er hatte gerade noch die Korrekturfahnen zum ersten Band seiner „Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie“ gelesen; sein „Meisterwerk“ dagegen: „Wirtschaft und Gesellschaft“ blieb unvollendet und wurde erst posthum von seiner Frau herausgegeben. Läßt dieser rein äußerliche Abriß der Weberschen Vita einen Rückschluß auf seine Persönlichkeit zu? Schlüsselerlebnisse sind darin freilich ebensowenig zu finden wie spektakuläre Ereignisse; wohl aber jene durchgängige Doppelspurigkeit von akademischer Gelehrsamkeit und politischer Zivilcourage, die Weber zeit seines Lebens bestimmt hat, die von ihm sowohl theoretisch als auch praktisch – obwohl dies gewissermaßen nur ansatzweise – zu einem spezifischen Einklang verbunden wurde, in dem nicht zuletzt auch sein zentrales Interesse an der Religion begründet war. Eine Darstellung der Weberschen Gesamtleistung – und davon ist seine Religionssoziologie nicht zu trennen – wird sich demnach in diese beiden Richtungen zu orientieren haben: Wie ist Wissenschaft zu treiben, „objektiv“ möglich; welche Bedeutung kommt ihr im modernen Bewußtsein und Leben zu? Und: worin bestehen auf der Grundlage rational-wissenschaftlicher Erkenntnis gegenwärtig die realen Chancen politischer Einflußnahme und gesellschaftlicher Gestaltung? 1.2 Die Tempelreinigung der Wissenschaft im Werturteilsstreit Der konkrete Zusammenhang, in dem Weber selbst erstmals ausdrücklich diese Fragen verhandelt, ist allgemein als sogenannter Werturteilsstreit bekannt.6 Es ging dabei vordergründig um die fundamentale Frage der Nationalökonomie: Lassen sich wirtschaftspolitische Ziele und gesellschaftliche Zweckvorstellungen eindeutig 97 wissenschaftlich begründen oder wenigstens beurteilen – oder eben nicht? Kann Wissenschaft überhaupt aus sich selbst 6

Zum Werturteilsstreit: Werturteilsstreit, hg. von Hans Albert/Ernst Topitsch, Darmstadt 1971. – Ralf Dahrendorf: Sozialwissenschaft und Werturteil, in: Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Freiheit, München 1961, S. 27–48. – Christian von Ferber: Der Werturteilsstreit 1909/1959. Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Interpretation, in: KZSS 11 (1959), S. 21–37. – René König: Einige Überlegungen zur Frage der „Werturteilsfreiheit“ bei Max Weber, in: KZSS 16 (1964), S. 1–29; wieder in: René König: Studien zur Soziologie, Frankfurt a.M. 1971, S. 38– 68. – Ernst Topitsch/Wilhelm Weber: Das Wertfreiheitsproblem seit Max Weber, in: Zeitschrift für Nationalökonomie 13 (1952), S. 158–201.

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heraus das summum bonum festlegen, dem sie ihre Tätigkeit letztlich zu widmen hat; oder muß sie sich ihre Aufgabe von anderen Institutionen, vom Staat, von der Kirche, von Interessensverbänden, vorschreiben und damit auf eine lediglich dienende Rolle beschränken lassen? Auf solche und ähnliche Fragen nahm auch Weber Bezug. Tatsächlich verbarg sich jedoch hinter dem Streitfall – wie Weber nachwies – mehr als nur die Werturteilsfrage der Nationalökonomie: Nicht nur, daß sich die einschlägigen Probleme auch in anderen Disziplinen, etwa in der Geschichte oder Soziologie, mit gleicher Dringlichkeit stellten. Vielmehr drehte sich die Auseinandersetzung überdies auch um ein weiterreichendes komplexes Problembündel. Zu all dessen Teilaspekten hat Max Weber entscheidende Akzente gesetzt. Nicht selten wird darum seine Hauptleistung auf eben diesem Gebiet gesehen, ja ihm wird zuweilen geradezu „die Dignität des erkenntnistheoretischen Gesetzgebers“ zuerkannt.7 Gemessen an seinem Gesamtwerk jedoch tragen seine methodologischen Schriften eher den Charakter von Exkursionen: Hier eignet sich Weber gleichsam bloß die Grundlagen und das Rüstzeug an, deren Beherrschung für die weitere Arbeit unerläßlich ist. Gleichwohl sind die Erträge seiner Untersuchungen auf diesem Gebiet für das Verständnis gerade auch der Religionssoziologie von eminenter Bedeutung. Im einzelnen umfaßt der Werturteilsstreit die folgenden Aspekte: a) Professoren-Prophetie contra Sachlichkeit Nach außen hin erweckte der Werturteilsstreit den Eindruck, ein Generationenkonflikt zu sein, sobald Max Weber darin eingreift. Hier rebelliert – so scheint es – ein „Jungtürke“ gegen seine eigenen Lehrer, um in diesem Gegenüber Selbständigkeit und Profil zu gewinnen. Tatsächlich kommt es auf einer Tagung des „Vereins für Socialpolitik“ zu einem scharfen Zusammenstoß mit Adolph Wagner und Gustav von Schmoller, in deren Vorlesungen Weber noch als Student gesessen hatte; und nicht weniger heftig fiel die 98 Polemik gegen seinen Geschichtslehrer Heinrich von Treitschke aus.8 Doch vergegenwärtigt man sich die Rolle, die etwa Treitschke und Schmoller auf je eigene Art im damaligen kaiserlichen Deutschland spielten, so tritt noch 7

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Hierzu: Friedrich H. Tenbruck: Die Genesis der Methodologie Max Webers, in: KZSS 11 (1959), S. 573–630. Adolph Wagner (1835–1917) war zuletzt Professor für Nationalökonomie in Berlin. Hauptwerk: Lehrbuch der politischen Ökonomie, Leipzig/Heidelberg 1879. – Gustav Schmoller (1838–1917) war Professor für Staatswissenschaften in Berlin. Hauptwerke: Über einige Grundfragen der Sozialpolitik und Volkswirtschaftslehre, 1898. – Die soziale Frage, 1918. – Wagner und Schmoller waren Vertreter des

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ein anderer Grund hervor. Denn beide waren so etwas wie „Universitätspäpste“, die ihre Weltanschauung in den Hörsälen gleichsam ex cathedra verkündeten und darüber hinaus ihre Vertrauensleute überall in die Schlüsselpositionen von Universität, Verwaltung und Politik einschleusten. Das aber war für Weber eine deutliche Kompetenzüberschreitung im akademischen Lehramt. So polemisiert er gegen die Professoren-Prophetie, die ihre „persönlichen Geschmacks- und sonstigen Empfindungen ungebeten zur Schau“ stellten, um die Frequenz der Studentenbesucher anzukurbeln und sie mit „Kathederwertungen“ zu beeinflußen. Max Weber, der grundsätzlich nie einen seiner eigenen Schüler promovierte, der volle Hörsäle des öfteren mit dem George-Zitat begrüßte „Schon Ihre Zahl ist ein Verbrechen!“ und der sich in Vorlesungen jeglichen persönlichen Kommentars enthielt – dieser Mann mußte das Gebaren des „Kathedersozialisten“ Schmoller und des preußischen Antisemiten Treitschke für einen eklatanten Verstoß gegen die gebotene Sachlichkeit im akademischen Lehramt halten. Die Universität galt Weber nicht als Marktplatz ideologischer Konkurrenzkämpfe; Propheten und Demagogen gehörten nach seiner Ansicht nicht auf das Katheder. Der Universitätsprofessor hatte nicht Führer zu sein, sondern Lehrer der nüchternen, „intellektuellen Redlichkeit“ und der asketischen „rückhaltlosen Hingabe an die ,Sache!’“. – Die Kehrseite dieser Forderung bestand darin, daß nach Webers Ansicht grundsätzlich jeder, der nur die Qualifikation dazu besaß, habilitiert werden müsse – einerlei welcher Nationalität, Konfessionen oder Weltanschauung er auch angehören mochte. 99 Daß Adolph Wagner Roberto Michels9 an einer Universitätslaufbahn hinderte, weil dieser Sozialist war, fand Weber genauso empörend wie die Tatsache, daß Georg Simmel ausgerechnet wegen jüdischer Abstammung nicht sein Nachfolger in Heidelberg werden konnte. Solche Praxis lief dem Weberschen Grundsatz der „intellektuellen Rechtschaffenheit“ entgegen, dem sich nicht nur die akademischen Lehrer selbst, sondern auch die sie bestallenden Behörden zu beugen hatten.

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sog. Staatssozialismus und damit schärfste Kontrahenten von: Heinrich Treitschke (1834–1896), Geschichtsprofessor in Berlin. Hauptwerk: Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, 5 Bände, 1879–1894. Roberto Michels (1876–1936) ging dann später nach Turin, Brüssel und Paris, um neue Studien aufzunehmen. Er wurde Professor für Politische Wissenschaften zuletzt in Florenz und zeigte gewisse Affinitäten zum Faschismus. Sein Hauptwerk: Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie, 1912.

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b) Sein und Sollen Dennoch befand sich die Frage des Professoren-Ethos nicht im Zentrum des Streits, sondern war allenfalls dessen Anlaß. Zur Debatte stand vielmehr ein Sachverhalt, der auch anderwärts in weniger spektakulärer Form, darum freilich nicht minder harmlos praktiziert wurde: nämlich eine weitgehend unbewußte, intrikate Vermischung von empirischen Tatsachenfeststellungen und praktischen Werturteilen in der akademischen Theorie. Nicht selten ließ sich beobachten, wie sich in wissenschaftlichen Untersuchungen objektive Erkenntnis und subjektive Beurteilung, Sein und Sollen auf unheilvolle Weise nahtlos ineinander vermischten. Ein solches Verfahren hatte nach Webers Ansicht jedoch entweder die Befangenheit der Erkenntnis oder die Vergewaltigung der Fakten zur Folge. Auf der einen Seite wird von dem, was ist, gleichsam automatisch auf das, was sein soll, geschlossen. Auf anderer Seite heißt es: Wenn die Tatsachen mit der Theorie nicht übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen, die dann entweder umgedeutet oder aber gewaltsam verändert werden müssen. In jedem Fall steht hierbei die persönliche Wertentscheidung des Wissenschaftlers über der Sache, der sich vorurteilslos zu widmen, doch seine Aufgabe ist. Ein solcher Primat der subjektiven Stellungnahme verhindert letztlich die verständige Diskussion innerhalb der Wissenschaft, blockiert somit deren Fortschritt und gibt sie der „Anarchie der Werte“ preis. 100 Aus dieser Not heraus erhebt Weber das logische Postulat der Werturteilsfreiheit: Vom Sein führt kein zwingender Weg zum Sollen. Die intellektuelle Rechtschaffenheit findet hier ihr logisches Korrelat in dem Imperativ, „daß Tatsachenfeststellung, Feststellung mathematischer oder logischer Sachverhalte oder der inneren Struktur von Kulturgütern einerseits, und andererseits die Beantwortung der Frage nach dem Wert(e) der Kultur und ihrer einzelnen Inhalte und danach: wie man innerhalb der Kulturgemeinschaft und der politischen Verbände handeln soll – daß dies beides ganz und gar heterogene Probleme sind“. Angesichts des bunten Straußes von Ideologien, Vorurteilen, moralischen Wertprämissen und Weltanschauungen, angesichts des „Polytheismus“ der Werte sieht sich die Wissenschaft außerstande, ihre Autorität für diese oder jene subjektive Entscheidung in die Waagschale zu werfen, ohne sich einerseits selbst zu kompromittieren oder andererseits die Freiheit der ethischen Wahl durch Bevormundung zu beeinträchtigen. Gerade darum aber war es Weber zu tun; die Grenzziehung zwischen Tatsache und Wert, Erkenntnis und Entscheidung dient dem doppelten Zweck: den Beobachter des Seins zur Distanz gegenüber seinen Vorurteilen anzuleiten, sowie dem praktisch Handelnden eine reflektierte Wertentscheidung zu ermöglichen. Dabei gilt allerdings: „Gesinnungslosigkeit und wissenschaft-

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liche ,Objektivität’ haben keinerlei innere Verwandtschaft.“ Im Gegenteil: Erst die „haarfeine Linie“ zwischen Sein und Sollen, Glaube und Wissen, Moral und Erkenntnis erlaubt, beides miteinander in klare Beziehung zu setzen und zu verrechnen. c) Politik und Wissenschaft Die logische Trennung von Sein und Sollen spiegelt sich auf institutioneller Ebene in der Scheidung von Wissenschaft und Politik wider. Auch hier wendet sich Weber gegen eine unreflektierte Vermengung beider Sphären und steckt präzise die Grenzen ab, innerhalb der Wissenschaft überhaupt Funktionen für die Politik wahrnehmen kann. So ist es eine ihrer Hauptaufgaben, bei gegebenem politischen Zweck die tauglichen Mittel und Maßnahmen anzugeben. Weber geht also deutlich vom Primat der Politik gegenüber der Wissenschaft aus. Sein Ziel ist es dabei nicht, die widerstreitenden, konkurrierenden Positionen jeweils nach Belieben zu verwis 101senschaftlichen und sich damit gleichsam einer Art Schiedsrichterrolle anheischig zu machen, sondern die Infrastruktur politischer Auseinandersetzungen überhaupt offenzulegen. Dieser Aufgabe dienen ebenfalls die weiteren Funktionsbestimmungen der Wissenschaft: So hat sie die unvermeidlichen Nebenfolgen ergriffener Maßnahmen abzuwägen und deren ruinöse Kosten zu kalkulieren. Sodann kann sie gegebene Zwecke auf ihre Widerspruchsfreiheit und letzten konsequenten Wertprämissen hin analysieren, um die Handelnden in die bewußte „Kenntnis der Bedeutung des Gewollten“ zu setzen. Schließlich vermag Wissenschaft gegenüber einmal gewählten Zielen den Pluralismus anderer möglicher Wertungen reflexiv in Anschlag zu bringen, um die jeweilige Standfestigkeit und Haltbarkeit konkurrierender Wertansichten zu erproben. Wissenschaft vermag mithin dem politisch Handelnden letztlich und allein „Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns“. Damit ist zugleich jede unmittelbare Einflußnahme auf die Politik ausgeschlossen; Wissenschaft kann sich zu ihr vielmehr nur indirekt ins Verhältnis setzen: durch gutachterliche Stellungnahme, durch beratende Ausschußarbeit oder publizistische Meinungsäußerung. d) Kritik gegen Dogma Diese von Weber oftmals im schroffen Ton vorgetragene „Tempelreinigung“ der Wissenschaft hat ihm den Vorwurf des Positivismus eingetragen. So schrieb beispielsweise Karl Schiller, Volkswirtschaftsprofessor in Hamburg und Wirtschaftsminister der Großen Koalition, Weber habe den „Rückzug von den subjektiven Werttafeln auf den Werkzeugkasten“ der So-

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ziologie inszeniert.10 Auch sonst klingt gegenüber Weber immer wieder der kritische Einwand an, es handele sich bei seiner Konzeption lediglich um eine formale, inhaltsleere, letztlich allseitig verwertbare technische Rationalität; Wissenschaft werde von ihm auf einen bloß instrumentellen Charakter zurechtgestutzt. Doch verkennt ein solcher Vorbehalt häufig den metaethischen Horizont des Weberschen Ansatzes.11 Für Weber 102 nämlich ist rationale Kritik keine sozusagen weitere ethische Position, die sich neben und gegen andere Werturteile als Konkurrent etabliert, sondern ein regulatives Prinzip, das grundsätzlich alle ethischen Entscheidungen durchziehen kann und muß. Die in der Position der Kritik angelegte Gegnerschaft entfaltet sich nicht auf jener Ebene, auf der die Auseinandersetzung verschiedenster Wertsysteme und Ideologien stattfindet, sondern reicht tiefer in den Bereich des fundamentalen Widerspruchs zwischen Vernunft und Dogmatik hinein. Rationale Kritik als ein unablösliches Moment der Wissenschaft überhaupt „entkleidet die Selbstdarstellung der konfligierenden Parteien ihres universellen Anspruchs, ihrer trügerischen Allgemeinverbindlichkeit“12 und wirkt darum prinzipiell relativierend gegen jede ideologische Verzerrung und Absolutsetzung. e) „Wirklichkeit“ und Wirklichkeit13 Dieser Distanzeffekt wissenschaftlicher Reflexion erstreckt sich gleichfalls auf das jeweilige Wirklichkeitsverständnis – nicht nur der Ideologien, sondern auch der Wissenschaft selbst. Damit ist endlich der Kernpunkt des sogenannten Werturteilsstreits erreicht: Wie läßt sich Wirklichkeit objektiv erkennen? Handelt es sich bei der Realität von Geschichte und Gesellschaft um die Materialisierung eines geordneten Maschenwerkes aus natürlichen 10

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Karl Schiller: Der Ökonom und die Gesellschaft, in: Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 1956, S. 19. Vgl. hierzu Hans Albert: Plädoyer für kritischen Rationalismus, München 1971, S. 76–105. – Hans Albert: Theorie und Praxis. Max Weber und das Problem der Wertfreiheit und der Rationalität, in: Werturteilsstreit (s.o. Anm. 6), S. 200–236. – Johann Dieckmann: Die Rationalität des Weberschen Idealtypus, in: SW 18 (1967), S. 29–40. – Hermann J. Grab: Der Begriff des Rationalen in der Soziologie Max Webers, Karlsruhe 1927. – Gerhard Hufnagel (s.o. Anm. 2). – René König (s.o. Anm. 6). Christian von Ferber: Die Gewalt in der Politik. Eine Auseinandersetzung mit Max Weber, Stuttgart 1970, S. 37. Dieter Henrich: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952. – Jürgen Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaft, Beiheft 5 der Philosophischen Rundschau, Tübingen 1967, S. 12–19. – Alexander von Schelting: Max Webers Wis-

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Gesetzen und 103 Kausalreihen, die sich methodisch analysieren und in klare Begriffe einfangen und abbilden läßt? – Das jedenfalls hatten die Vertreter der theoretischen Nationalökonomie und der nomothetischen Geschichtsschreibung behauptet. Oder stellt Wirklichkeit ein komplexes und atomisiertes Gemenge von zufälligen, einmaligen, konkreten und spontanen Ereignissen dar, die im Grunde nur der menschlichen Intuition zugänglich sind? – So lautete die Grundthese der historischen Nationalökonomie und idiographischen Geschichtsschreibung. Zur Diskussion steht also die historisch-soziale Wirklichkeit und die Methode ihrer adäquaten Erfassung. Webers Bedeutung, wenn auch nicht unbedingt originäre Leistung liegt darin, daß er den gordischen Knoten der Alternative zerschlagen hat, daß er beiden Positionen teils recht gab, sie teils aber auch in ihre Grenzen verwies und auf diese Art gleichsam auf einen „dritten Weg“ geriet: Die Soziologie jedenfalls wird aus dem Hin und Her von naturwissenschaftlicher und geisteswissenschaftlicher Orientierung herausgelöst und im Rahmen einer Theorie der Kulturwissenschaft gewissermaßen auf eigene methodologische Füße gestellt.14 Weber geht zunächst von der Voraussetzung aus, daß „Wirklichkeit“ als solche nichts anderes ist als ein unübersichtliches Gemenge aus einer Vielzahl verschlungener Kausalfäden und einer Mannigfaltigkeit unterschiedlichster Wertverwirklichungen. Wirklichkeit gleichsam in ihrem Naturzustand entzieht sich ihrer Komplexität wegen jeden Versuchs einer Gesamterklärung; sie ist weder auf eine alles umfassende und alles erklärende Weltformel zu reduzieren, noch gibt sie aus sich selbst heraus so etwas wie eine Naturordnung zu erkennen. Damit wendet sich Weber gegen eine naturalistische Auflösung des Wirklichen in formale Gesetzmäßigkeiten. Gegen einen solchen Versuch wendet er ein: Eine Vielfalt raum-zeitlicher

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senschaftslehre, Tübingen 1934. – Julius J. Schaaf: Geschichte und Begriff. Eine kritische Studie zur Geschichtsmethodologie von Ernst Troeltsch und Max Weber, Tübingen 1946. – Friedrich H. Tenbruck (s.o. Anm.7). – Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Probleme. Erstes Buch: Das logische Problem der Geschichtsphilosophie, Band 1, Tübingen 1922. ND Aalen 1961, S. 160f. 367–371.567–572. – Vgl. auch die Literaturangaben in Anm. 16. Die Theorie der Kulturwissenschaft selbst ist keine genuine Schöpfung Webers. Es scheint vielmehr, daß Weber hier auf den Begriff gebracht hat, was zwar noch unetikettiert, sich jedoch allmählich herauskristallisierend zur damaligen Zeit als Vorstellung bereits in anderen Disziplinen neu entwickelte, und was von Friedrich H. Tenbruck als „Neo-Idealismus“ bezeichnet wird. Repräsentanten dieser neuen Strömung waren teils Heinrich Rickert, Wilhelm Windelband, die jedoch noch mehr dem Neukantianismus zuzurechnen sind, und vor allem Friedrich von Gottl, Georg Simmel und Wilhelm Dilthey.

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Bestimmtheiten, eine Unmenge von Kausalketten, ein Reichtum an 104 qualitativen und quantitativen Eigenschaften kennzeichnen vielmehr die Urwüchsigkeit des Wirklichen. Andererseits wäre es sinnlos – so argumentiert Weber weiter –, diese Komplexität minutiös beschreiben zu wollen, weil damit zugleich unterstellt würde, daß gerade das uns Unverständliche, das Bedeutungslose und Irrationale Gegenstand der Wissenschaft sein könnte – ein Hieb Webers gegen das „liebevolle Verweilen“ der historischen Schule beim geschichtlichen Detail. „Wirklichkeit“ gewinnt für Weber vielmehr überhaupt erst Struktur, indem sie in das Bewußtsein des Menschen eingeht und durch dessen Erkenntniskategorien geformt wird. Wie die Natur gesetzmäßige Gestalt erst annimmt, wenn methodische Fragestellungen in sie hineinprojiziert werden, so ist prinzipiell jede Tatsache, auch und gerade die geschichtliche, erst dann von Erkenntniswert, wenn sie in einem Koordinatensystem erscheint.15 Wirklichkeit hebt sich vom Status heterogener Komplexität als für den Menschen erkennbare ab, wenn sie methodischer Bearbeitung unterliegt. Das bedeutet aber nichts anderes als: Wirklichkeit ist nicht als solche gegeben, sondern wird vom Menschen durch Auswahl und Konstruktion geschaffen. Realitätserkenntnis ist keine Frage der Ontologie, der Erfassung des naturwüchsigen Seins, sondern ein Problem der theoretischen Perspektive und des methodologischen Zuschnitts: Sie ist eine Art „Geschichtsdichtung“ (Eric Voegelin). Andererseits ist diese „Konstruktion der Wirklichkeit“ kein willkürlicher Akt, sondern an das Erkenntnisinteresse des Menschen gebunden, das sich aus dem Wertbestand seiner jeweiligen Gegenwartskultur ergibt. Wissenschaft aktualisiert Geschichtliches nach den Maßstäben des gegenwärtigen Interesses. Sie ist letztendlich ein Identifikationsverfahren: Das Vergangene ist nur soweit interessant, ihm wird nur insofern Bedeutung zugemessen, als in ihm die jeweilige Gegenwart zum Vorschein kommt. Im Zentrum strukturschaffender Erkenntnis steht also die Kulturbedeutung des Wirklichen; sie erst ermöglicht so etwas wie ein Evidenzempfinden des erkennenden historischen Individuums. So läßt sich das von Weber 105 festgeschriebene Ziel wissenschaftlicher Soziologie abschließend beschreiben als die „Erforschung der allgemeinen Kulturbedeutung der sozialökonomischen Struktur des menschlichen Gemeinschaftslebens und seiner historischen Organisationsformen“. 15

Auf die Parallelität von Webers kulturwissenschaftlich- und etwa Weizsäckers oder Heisenbergs naturwissenschaftlich-methodologische Sicht weist besonders Johannes Winckelmann hin: Max Webers Verständnis von Mensch und Gesellschaft, in: Max Weber. Gedächtnisschrift (s.o. Anm. 1), S. 195–243.

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1.3 Verstehende Wirklichkeitserkenntnis durch idealtypische Konstruktion Die zentrale heuristische Figur, mit der Soziologie auf diese Weise Wirklichkeit zu erfassen und darzustellen sucht, ist die idealtypische Konstruktion.16 Indem diese gleichsam den Brückenschlag zwischen erkennendem Subjekt und erkannter Realität herstellt, kann sie sowohl einen allgemeinen als auch besonderen Inhalt von Kulturbedeutung auf den Begriff bringen. Das Altertum und die Neuzeit sind gleichermaßen solche Idealtypen wie Rationalismus und Protestantismus, Staat und Kirche oder auch charismatische Herrschaft und mittelalterliche Stadt. Eine gewisse Schlüsselstellung nimmt dabei der Begriff des Kapitalismus ein. An ihm lassen sich die grundlegenden Funktionen des Idealtypus im Konzept der Weberschen Kulturwissenschaft verdeutlichen. Zunächst dient der Idealtypus dazu, Einheit und Zusammenhang eines bestimmten Kulturkomplexes zu bezeichnen. Er gibt den entscheidenden Faktor an, der einer Kultur oder einem ihrer Teile den spezifischen Stempel aufprägt. Für die neuzeitliche Gesellschaft ist zweifellos die kapitalistische Wirtschaftsweise diejenige Kraft, die nahezu alle Lebensbereiche in ihren Bann schlägt und nachhaltig bestimmt. Gleichwohl bietet der Idealtyp des Kapitalismus nicht so etwas wie eine Wesensschau, sondern ist das Produkt einer abstrahierend-integrativen Gedankenstilisierung: „Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandene Einzel 106erscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankengebilde.“ Im Idealtypus werden die unzähligen, ungeordneten „Wirklichkeits“-Splitter zu einer Art harmonischen Mosaiks komponiert; in den Worten Friedrich H. Tenbrucks: „Wie durch Zauberschlag ordnen sich die Trümmer der positivistischen Faktenwelt zu einem verstehbaren und menschlichen Kosmos.“17 Der Idealtypus trägt mithin Modell16

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Zum Idealtypus: Werner Bienfait: Max Webers Lehre vom geschichtlichen Erkennen. Ein Beitrag zur Frage der Bedeutung des „Idealtypus“ für die Geschichtswissenschaft, Berlin 1930. – Hans-Ludwig Blies: Max Webers Lehre vom geschichtlichen Erkennen. Untersuchung über die Fruchtbarmachung der kulturwissenschaftlichen Methodologie Max Webers für die Geschichtserkenntnis, Diss. Univ. Würzburg 1953. – Johann Dieckmann: Die Rationalität des Weberschen Idealtypus (s.o. Anm. 11). – Judith Janoska-Bendl: Methodologische Aspekte des Idealtypus. Max Weber und die Soziologie der Geschichte, Berlin 1965. Friedrich H. Tenbruck: Die Genesis der Methodologie Max Webers (s.o. Anm. 7), S. 608.

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charakter: Im Bedürfnis nach Zusammenschau fängt er Realität durch hypothetische Als-Ob-Annahmen ein; deren Abstand zur Faktenwelt zu ermessen, wird zur vornehmlichen Aufgabe empirischer Forschung. Sodann geht es im Idealtypus darum, die Einmaligkeit des Erfaßten auszuweisen. Denn ebensowenig wie es sich bei ihm um eine Wesensschau handelt, stellt er einen Durchschnittswert oder allgemeinen Gattungsbegriff dar. Seine Konstruktion ist vielmehr auf die Betonung des Individuellen, Spezifischen und Unverwechselbaren hin angelegt – in unserem Fall: auf die Besonderheit des neuzeitlichen okzidentalen Kapitalismus mit seiner rationalen betrieblichen Organisation von formell-freier Arbeit. Die Soziologie bedient sich des idealtypisierenden Instruments, um im spezifischen Sinne Wirklichkeitswissenschaft zu sein: Sie will Wirklichkeit „in ihrer Eigenart verstehen: – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung“. Erst eine solche klare Erforschung der Eigenart ermöglicht, einen Idealtypus zu Vergleichszwecken mit anderen – hier etwa mit dem irrationalen Abenteurerkapitalismus der Antike – in Beziehung zu setzen. Damit ist zugleich eine weitere Aufgabe des Idealtypus angedeutet: Er hat das „So-und-nicht-anders-geworden-sein“ eines Phänomens genetisch zu erklären, indem er geschichtliche Ereignisabläufe theoretisch noch einmal nachvollzieht. Dabei geht es jedoch kaum um die Herausarbeitung naturwissenschaftlich-gleicher kausaler Gesetzmäßigkeiten. Die Kausalbetrachtung in diesem Sinne spielt bei Weber vielmehr eine eigentümlich untergeordnete Rolle; sie ist eher Mittel als Zweck. Aber: Mittel wozu? – Um die Bedeutung einer voraufgegangenen Kulturstufe für die folgende zu verstehen. Wenn Weber beispielsweise nach den „inneren“ Wir 107kungen des Calvinismus auf die spezifische Form des modernen Kapitalismus fragt, so meint er damit – wie später noch zu zeigen sein wird – eine nur durch Verstehen zu erfassende Sinnadäquanz zwischen den beiden Idealtypen, nicht aber eine streng naturwissenschaftlich-kausale Zurechnung. Seine Fragestellung lautet nicht etwa: Ist der Faktor y (= Kapitalismus) eindeutig mathematisch-funktional auf den Faktor x (= Calvinismus) zurückzuführen? Sondern: Wie sähe das Gesicht des neuzeitlichen Kapitalismus aus, wenn der calvinistische Glaube nicht an seiner Wiege gestanden hätte? Nicht welche Vektoren den Kapitalismus überhaupt hervorgebracht haben, ist das primäre Problem, sondern: Welche Elemente trugen maßgeblich mit dazu bei, den Kapitalismus in diesem besonderen Gepräge entstehen zu lassen, wie er – idealtypisch gedacht – tatsächlich entstanden ist? Webers Geschichtsforschung konzentriert sich also auf das Sinnverstehen der adäquaten „Verursachung“ einer einmaligen Wirklichkeitskonstellation. Im Idealtypus wird das faktische Geschehen der Vergangenheit noch einmal

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in den Status der Möglichkeit versetzt, um einerseits „die kritische Spitze der Entscheidung zu finden, durch die es geschah“ (Karl Jaspers), und um andererseits den neuralgischen Punkt auszuloten, aus dem Entscheidungen unter den Bedingungen geschichtlich gewordener Gegenwart noch möglich sind. Geschichte wird als verwirklichte Chance herauspräpariert – mit dem Zweck, den Finger auf die Möglichkeiten der Zukunft zu legen. Darin liegt schließlich die Pointe der idealtypischen Operation Webers: Sie präsentiert Entwürfe möglichen sozialen Handelns. Durch sie werden Wertideen, Motive, Antriebe und Sinnorientierungen des menschlichen Tuns erkennbar. Freilich dürfen Idealtypen nicht etwa mit normativen Handlungsanweisungen verwechselt werden. Auch hier gilt vielmehr der kategorische Imperativ der Werturteilsfreiheit im Sinne der Enthaltsamkeit gegenüber allen moralischen Urteilen. Weber selbst weist darauf hin, daß es für den Soziologen genauso einen Idealtypus des Diebes oder des Bordells geben kann wie den eines Propheten oder eines Klosters. Und ebensowenig handelt es sich andererseits um die Abbildung empirischen Verhaltens. Das entscheidende Merkmal liegt vielmehr in dem rein utopischen Charakter des Handlungsbegriffs. So sagt das Konstrukt des „homo oeconomicus“ weder etwas über dessen 108 Wünschbarkeit noch etwas über dessen Tatsächlichkeit aus, sondern allein darüber, wie ein Verhalten in seinen Konsequenzen abliefe, wenn es sich realiter und ausschließlich an den ökonomisch-rationalen Regeln orientierte. Um der scharfen Kontur und der drastischen Veranschaulichung willen nimmt der Idealtypus utopische Züge in Kauf. Auch unter dem Handlungsaspekt steht der Begriff der Chance wieder im Mittelpunkt: Die Konstruktion reiner Typen ist von der Absicht geleitet, das Individuum als einzig realen Handlungsträger aus dem dumpfen Erlebnis der Irrationalität des bloß Gegebenen zu emanzipieren; ihm die Chancen sinnhaften Verhaltens aufzuzeigen und so das Bewußtsein von möglicher Freiheit zu vermitteln. Kirche, Staat, Betrieb oder was sonst – all dies sind für Weber keine substantiellen Gewalten, die menschliches Handeln abschließend determinieren, sondern Ordnungsgebilde, die aus der Perspektive des Soziologen als von Handlungschancen durchsetzte erscheinen. Weber prononciert derart nachdrücklich die Chancenhaftigkeit solcher Gebilde, daß sie zuweilen sogar explizit in die Definitionen einfließt – beispielsweise, wenn er Herrschaft umschreibt als „die Chance, Gehorsam für einen bestimmten Befehl zu finden“. 1.4 Protozelle der Gesellschaft: das soziale Handeln Der erste Paragraph der „soziologischen Grundbegriffe“ Webers lautet: Soziologie „soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend

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verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will“. Soziales Handeln ist die kleinste und logisch grundlegendste Einheit gesellschaftlicher Wirklichkeit: gleichsam ihre Protozelle.18 Das bedeutet andererseits: letztes „Wirkungsquantum“ (Johannes Winckelmann) des geschichtlichen Geschehens ist der Mensch. Nur durch ihn wird Handeln zu sozialem Handeln – ausgestattet mit Sinn, der seinerseits am 109 Verhalten anderer reflexiv orientiert ist, ohne dadurch sogleich die eigene Zielgerichtetheit zu verlieren. Reflexivität als das Vermögen des Menschen, sein Verhalten zum Gegenstand bewußter Erwägung zu machen, und Intentionalität als die Möglichkeit spontaner Zielsetzung sind die elementaren Bedingungen desjenigen Handelns, das allein als spezifisch menschlich-soziales zu identifizieren ist. Dagegen gehören gleichmäßiges oder bloß reaktives Verhalten nicht dazu – weder das gleichzeitige Aufspannen eines Schirms bei Einbruch des Regens (denn hier fehlt die Reflexivität), noch das schützende Schließen der Augen bei einem drohenden Schlag (denn hier fehlt die Intentionalität). Verhalten gewinnt vielmehr erst dadurch sozialen Charakter, daß es sich aus einem bewußten, willentlichen Handlungsentwurf heraus realisiert. Und weil Sinnstiftung dem menschlichen Handeln notwendig inhäriert, ist es auch dem soziologischen Verstehen zugänglich. Der Entwurf einer sinnhaften Handlung umfaßt mindestens die folgenden Komponenten: Zunächst wird das Ziel fixiert, das als erstrebenswert gilt; es kann sowohl „wertvoll“ sein – sofern es sich um die Verwirklichung von Idealen handelt – als auch „nützlich“, wenn dahinter ökonomische, politische oder andere Eigeninteressen stecken. Daneben vermag auch die Befriedigung oder das Ausleben von Affekten ein gesondertes Ziel zu sein. – Der Handelnde visiert zweitens den Zweck an, durch den ein Ziel konkret zu verwirklichen ist. Geht es beispielsweise darum, einen Mann vor dem Ertrinken zu retten, so ist gerade dieses: den Mann aus dem Wasser zu ziehen – der Zweck; dahinter aber mag ein weiterreichendes Ziel verborgen sein: Altruismus, Pflichttreue, Heldenmut usw. – Drittens muß die konkrete Ausgangslage analysiert werden, die unter anderem bestimmt ist von der gegebenen Gesellschaftsstruktur, von der besonderen Schichtzugehörigkeit und nicht zuletzt auch von den naturgemäßen Bedingungen. – Sodann handelt es sich viertens um die Erfassung des objektiv vorgegebenen, überindividuellen, je18

Zum sozialen Handeln: Juan Carlos Agulla: Max Weber und die Theorie des sozialen Handelns, Diss. Univ. München 1964. – Eduard Baumgarten: Soziologie als Verhaltensforschung, in: SW 4 (1953). – Helmut Girndt: Das soziale Handeln als Grundkategorie erfahrungswissenschaftlicher Soziologie, Tübingen 1967. – Johannes Winckelmann: Max Webers Verständnis von Mensch und Gesellschaft (s.o. Anm. 15).

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doch stets subjektiv angeeigneten und interpretierten Bedeutungszusammenhangs, in dessen Rahmen jede frei-spontane Zielsetzung eingebettet ist. – Und schließlich geht auch (fünftens) die Abwägung jenes wahrscheinlich zu erwartenden Erfolgs bei der Projektverwirklichung in den Handlungsentwurf ein, der durch die Randbedingungen der konkreten Ausgangssituation und des kulturell-gesellschaftlichen Be 110deutungsgefüges beeinflußt und bis zu einem gewissen Grade begrenzt wird. Durch den wechselseitigen Bezug sinnhaften Handelns mehrer aufeinander entstehen soziale Beziehungen; Interaktion ist ein „gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrer“. Beziehungen können von unterschiedlicher Qualität sein, zu deren Bestimmung Weber verschiedene Gegensatzpaare entwickelt hat. Je nachdem, ob prinzipiell jedermann zu den Beziehungen Zugang hat (z. B. Markt), oder ob die Teilnahme beschränkt und an Bedingungen geknüpft ist (z. B. Club), bezeichnet sie Weber als offen oder geschlossen. Eine andere Merkmalsgruppe bilden solidarische und dissolidarische Beziehungen. Letztere sind solche Interaktionen, die darauf abzielen, den eigenen Willen gegen Widerstand durchzusetzen, also: Kampf und Konkurrenz. Solidarische Beziehungen hingegen gründen entweder auf einer subjektiv gefühlten Zusammengehörigkeit (= Vergemeinschaftung) 111 oder auf rational motiviertem Ausgleich und Zusammenschluß von Interessen (= Vergesellschaftung). Schließlich gibt es momentane Beziehungen von vorübergehender Art (eine flüchtige Bekanntschaft im Zug) und perennierende, die ständig wiederkehren: Brauch, Sitte, Konvention und Recht. Sieht man von der jeweils aktuellen und gewissermaßen zufälligen Verwirklichung der Interaktionen ab, wendet sich also ihrer rein formalen Struktur zu, so gelangt man zu den sozialen Gebilden etwa des Staates, der Kirche, der Genossenschaft oder der Ehe. Noch einmal wird bei dieser Ortsbestimmung deutlich, daß es Weber strikt ablehnt, gesellschaftliche Institutionen und Ordnungen als geschichtliche Substanzgebilde anzuerkennen. Statt sie zu eigenmächtigen Geschichtsträgern zu hypostasieren, sie womöglich als Agenturen eines unverfügbaren Weltgeistes auszugeben, gilt es für die Soziologie, sich dessen bewußt zu bleiben, daß die gesellschaftlichen Gebilde elementar dem sozialen Handeln der Individuen aufliegen. Institutionen stecken lediglich den Rahmen ab, in dem sinnhaftes Verhalten der Menschen möglich ist; sie stellen gewissermaßen nur Handlungschancen im Grundriß dar, die allenfalls soziale Beziehungen auf begrenzte Dauer festlegen können.

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2. Religion: Sinn, Rationalität und Herrschaft19 Mit den Stichworten der Werturteilsfreiheit, der Kulturbedeutung, des Idealtypus und des sozialen Handelns sind sowohl die Voraussetzungen als auch die grundlegenden Kategorien genannt, auf denen Webers Analyse der Religion gründet. Mehr noch: Die Religion wird in seinem Werk zum zentralen Anwendungsfall seiner 112 Methodologie und zum Paradigma, an dem Weber die Logik seines Konzepts von Kulturwissenschaft durchexerziert. Worin ist diese Schlüsselstellung ausgerechnet der Religion begründet? 2.1 Die konstitutive Bedeutung der Religion im Weberschen Werk Es liegt zunächst nahe, die konstitutive Bedeutung der Religion im Werke Webers in einem persönlichen religiösen Interesse zu vermuten.20 Hatte er nicht während seines Studiums lebhaften Anteil an der theologischen Literatur genommen? Tatsächlich las er (wenn auch unbefriedigt) die bahnbrechenden Arbeiten von David Friedrich Strauß über das „Leben Jesu“ (1835/36) und „den alten und den neuen Glauben“ (1872); Otto Pfleiderers Paulus-Studien gehörten ebenso zu seiner alltäglichen Lektüre wie die „Reden über Religion“ (1799) von Friedrich Schleiermacher, zu denen er allerdings schrieb, sie wären ihm „in ihrem altfränkischen cicerozionischen Stil unverständlich“. – Auch sonst hatte Weber stets direkten Kontakt mit 19

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Hierzu die Gesamtdarstellungen der Religionssoziologie Webers: Günter Abramowski: Das Geschichtsbild Max Webers. Universalgeschichte am Leitfaden des okzidentalen Rationalismus, Stuttgart 1966. – Reinhard Bendix: Max Weber. Das Werk, München 1964. – Pierre Bourdieu: Une interprétation de la théorie de la religion selon Max Weber, in: AES 12 (1971), S. 3-21. – Günter Dux: Religion, Geschichte und sozialer Wandel in Max Webers Religionssoziologie, in: IJRS 7 (1971), S. 60– 93. – Michael Hill: A Sociology of Religion, London 1973, S. 47–182. – Rudolf Lennert: Die Religionstheorie Max Webers, Stuttgart 1935. – Joachim Matthes: Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 1, Reinbek 1967, S. 25–29. – Talcott Parsons: The Structure of Social Action, New York 1937, 2. Auflage 1949, S. 500–538. – José A. Prades: La sociologie de la religion chez Max Weber, 2. Auflage, Louvain/Paris 1969. – Jean Séguy: Max Weber et la sociologie historique des religions, in: ASRel 33 (1972), S. 71–103. – Johannes Winckelmann: Max Weber – Das soziologische Werk, in: KZSS 17 (1965), S. 743–790. – Jakobus Wössner: Religion als soziales Phänomen. Beiträge zu einer religionssoziologischen Theorie, in: Religion im Umbruch, hg. von Jakobus Wössner, Stuttgart 1972, S. 16–46. Vgl. Paul Honigsheim: Max Weber: His Religious and Ethical Background and Development, in: Church History 19 (1950), S. 219–239. – Marianne Weber: Max Weber (s.o. Anm. 3). – Sowie als Quelle: Max Weber: Jugendbriefe, Tübingen o. J.

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Theologen: mit seinen Verwandten Otto Hausrath, Hermann Baumgarten und dessen Sohn Otto pflegte er regen Umgang; mit Friedrich Naumann, Ernst Troeltsch und Adolf von Harnack war er eng befreundet. War also Weber ein „homo religiosus“, der seine persönliche religiöse Grundstimmung auf die Ebene nüchterner Forschung transponierte, der gleichsam „objektivierten Selbstgenuß im Medium der Wissenschaft“ betrieb? Max Weber selbst schrieb am 19.2.1909 an Friedrich Naumann: „Ich bin zwar religiös absolut unmusikalisch und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit, irgendwelche seelische Bauwerke religiösen Charakters in mir zu errichten. Aber ich bin nach genauer Selbstprüfung weder antireligiös noch irreligiös.“ – Jedenfalls: religiöse 113 „Farbenblindheit“ wird man Weber nicht nachsagen können. Insgesamt dürfte er wohl eher dem liberalen Christentum seiner Zeit, den „Protestanten ohne Kirche“ zuzurechnen sein. Aus deren Distanz heraus wehrt er spekulative Erwartungen an seine religionssoziologischen Studien von vornherein mit den Worten ab: „Wer ‚Schau‘ wünscht, gehe ins Lichtspiel; . . . Und – möchte ich hinzusetzen – wer ‚Predigt‘ wünscht, gehe ins Konventikel.“ So bietet der biographische Hintergrund Webers keine ausreichenden Anhaltspunkte, um die konstitutive Rolle der Religion in seinem Werk zu erklären. Im Gegenteil: Die Möglichkeit, gewissermaßen existentielle Wurzeln des Interesses an der Religion aufzuspüren, wird von Weber selbst strikt abgeschnitten. Wer die Religion sozial-wissenschaftlich betrachten will, „wird gut tun, seine kleinen persönlichen Kommentare für sich zu behalten, wie man es vor dem Anblick des Meeres und des Hochgebirges auch tut – es sei denn, daß er sich zu künstlerischer Formung oder zu prophetischer Forderung berufen und begabt weiß.“ So müssen denn die Gründe für die zentrale Rolle der Religion in deren gesellschaftlichen Bedeutung selber liegen. Ähnlich wie bei Durkheim und Simmel21 müssen auch in der Religionssoziologie Webers Konstitutiva zutagetreten, die sie als einen – wenn nicht gar den zentralen Aspekt sozialwissenschaftlicher Gesellschaftsanalyse ausweisen. Tatsächlich ist das in zweifacher Hinsicht bei Weber der Fall: Zum einen erscheint die Religion als ein richtungsweisender Faktor bei der Entstehung und Formung des neuzeitlichen Kulturzusammenhangs; sie ist ebenso am moderngesellschaftlichen Prozeß der umfassenden Rationalisierung aller Lebensbereiche ursprünglich mitbeteiligt wie an der Herausbildung der spezifischen Form des okzidentalen Kapitalismus. – Zum anderen wird sich in Webers Ansatz zeigen, daß die Religion nicht nur ein Anwendungsfall der kulturwissenschaftlichen Lo21

Vgl. hierzu das Kapitel „Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft“ in diesem Band (s.o. S. 15–40).

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gik ist, sondern auch umgekehrt geradezu deren genuine Vorläuferin. Es hat den Anschein, daß die Hermeneutik der Kulturwissenschaft Webers der Hermeneutik der Religion nachempfunden ist; genauer: Kulturwissenschaft, wie sie Weber versteht, ist der auf die Spitze getriebene, gleichsam um seine metaphysische Pointe gebrachte Anwendungsfall einer mittlerweile total „entzauberten“, ursprünglich jedoch eben religiös ab 114 kömmlichen Logik. Religion wird vom Ende ihrer eigenen Entwicklung her durchleuchtet; sie erscheint nun ihrerseits im Lichte einer Hermeneutik, die sich sowohl ihrer Voraussetzungen als auch ihrer Eigenart bewußt geworden ist. Günter Dux faßt den Sachverhalt zusammen, wenn er schreibt: Das sozialwissenschaftliche Objekt der Religion ist bei Weber dadurch bestimmt, „daß sie aus Sinnbezügen konstituiert (ist) . . . , die jene klassifikatorischen Merkmale, nach denen Weber fragt, bereits in ihrer Grammatik mit sich führen“22. Welche Grammatik ist es also, an der Weber sein Erkenntnisinteresse an der Religion durchdekliniert? 2.2 Transzendenz und Lebensführung Max Webers „kategorisches Gegenwartsanliegen“ ist von der Ausgangsfrage beherrscht: „Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, daß gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gerne vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ In der Tat: systematisch-begriffliche Wissenschaft auf mathematischer Grundlage mit rationalem Beweis und Experiment; Musik – aufbauend auf Kontrapunktik und Akkordharmonik;23 Architektur, die das Kuppelproblem der Schubverteilung durch die Kreuzgewölbe der Gotik zu lösen vermochte; fachgeschulte Beamtenorganisation, Staat als politische Anstalt und bürgerlicher Betriebskapitalismus – all das ist nur im Okzident gegeben – als Ausfluß und Schöpfung einer bestimmten Geisteshaltung, einer spezifischen Gesinnungs- und Tatenrichtung, die mit dem Stichwort 22

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Günter Dux: Religion, Geschichte und sozialer Wandel in Max Webers Religionssoziologie (s.o. Anm. 19), S. 64. Daß zwischen Webers Methodologie und seiner Religionssoziologie ein über bloße „Wahlverwandtschaft“ hinausgehender hermeneutischer Zusammenhang besteht, läßt sich auch darum vermuten, weil sich die Arbeiten auf beiden Gebieten in Webers Leben zeitlich „konkurrierend überlagern“; vgl. hierzu auch Friedrich H. Tenbruck: Die Genesis der Methodologie Max Webers (s.o. Anm. 7), S. 579. Vgl. hierzu Webers Schrift: Die rationalen und soziologischen Grundlagen der Musik, München 1921.

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vom Rationalismus exakt bezeichnet ist. Es gilt nun, Herkunft und Eigenart dieser okzidentalen Lebensführung zu erklären. Und dazu dient Weber auch die Analyse der Religion. Denn immer und überall gehörten religiöse Mächte und die an sie gebundenen Pflichtvorstellungen 115 „zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung“. So ist die Religionssoziologie von vornherein in einem umfassenderen Programm verankert: als eine Art „vergleichender Biographie des modernen Geistes“ (Rudolf Lennert) trägt sie mit bei zur Struktur- und Geschichtsanalyse des okzidentalen Rationalisierungsprozesses, ja sie zielt geradezu auf dessen grundlegende Voraussetzung: auf die Bedingung der Möglichkeit, daß es überhaupt so etwas wie Rationalität gibt. Tatsächlich lautet eine der entscheidenden Prämissen Webers, daß zwischen Religion und Rationalität – unabhängig von ihrer jeweils konkrethistorischen Verbindung – wesentlich eine unauflösliche Konjunktion besteht. Das Moment der Rationalität fließt konstitutiv in die beiden Seiten der Religion ein, die Weber gleichsam als ihre Herzkammern betrachtet: Sowohl in ihrer Weltdeutung als auch in ihrer Alltagsethik ist Rationalität ein elementarer Wirkungsfaktor. a) Religion als Deutungskonzentrat Die Voraussetzung jeder Religion ist „die Erfahrung von der Irrationalität der Welt“ und des Lebens, die am extremsten durch Tod, Leid, Mangel und Verderben zum Ausdruck kommt. Jedoch ist diese negative Erfahrung schon ihrerseits an etwas Positivem abgespiegelt. Sinnlosigkeit läßt sich als solche nur aus der Perspektive des Sinnempfindens feststellen, und Irrationalität hebt sich erst auf dem Hintergrund von Rationalität ab. Um die Welt als sinnlose und irrationale erfahren zu können, bedarf es einer vorgängigen Abstraktionsleistung, einer Abstand nehmenden Emanzipation; und das heißt: einer Fähigkeit des Menschen, sich bis zu einem gewissen Grad abgelöst von der Welt zu sehen. Diese Distanz wird ursprünglich am Gegenüber von Natur und Mitmensch erfahren, die als etwas Fremdes entgegentreten. Die Leistung der Religion besteht nach Webers These darin, daß sie die ursprüngliche menschliche Erfahrung des Unterschiedenseins von anderem nicht nur auf einen Begriff bringt, sondern auch in besonderer Weise ausgestaltet: Durch religiöse Sinnstiftung geht Welterleben, in dem Dinge bloß sind und geschehen, in Weltbewußtsein über, in dem die Dinge darüber hinaus auch etwas bedeuten. Die Welt wird zum Schauplatz von Dämonen, Seelen, 116 Göttern oder übernatürlichen Kräften. Heterogene Wirklichkeit wird symbolisch zu einem systematischen Kosmos verwoben, der auf den Menschen zentriert ist und dadurch dessen Sinnprobleme löst, die sich

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aus der Irrationalitätserfahrung stellen. Indem Religion das empirisch Gegebene auf mehr oder weniger systematisch-rationale Weise in ein Konzept des Jenseits einbindet, schafft sie genau jene Distanzhaltung, die hinreicht, um das jeweilige Geschehen der Wirklichkeit als für den Menschen sinnvoll oder sinnlos zu qualifizieren. b) Religion als Normkonzentrat Die religiöse Interpretation der Welterfahrung ist andererseits kein in sich genügsamer Selbstzweck; vielmehr zielt die theoretische Emanzipation des Menschen vom empirisch Gegebenen auf dessen Beherrschung ab. Religiöse Sinninvestition leitet sich ursprünglich und grundlegend aus dem Ziel ab, die sinnvoll definierte Wirklichkeit durch sinnvolles Handeln zu bewältigen. Auch hier ist die Irrationalitätserfahrung der Ausgangspunkt – nun freilich als spezifische Not der Lebensführung: als Erlebnis verschiedenster Handlungsmöglichkeiten, als Erfahrung der Mannigfaltigkeit von Alternativen an Verhaltensweisen und Reaktionen gegenüber dem wirklichen Geschehen. Genau diese „Kontingenz“ des Handelns stellt den Stoff dar, den religiöse Sinndeutung letztlich bearbeitet. Und eben hier liegt der Punkt, an dem der transzendente Kosmos der Religion auf das Diesseits ihrer Anhänger wieder zurückwirkt. Dies geschieht in mehrfacher Hinsicht: Zum einen fungiert die religiöse Weltansicht gleichsam als Raster, das aus der Vielfalt der Handlungsmöglichkeiten einige als erlaubt, andere als verboten heraussiebt. Wie religiöse Sinndeutung zunächst vor allem eine Abstraktionsleistung ist, so besteht religiöse Ethik zuallererst aus einer Selektionsarbeit. Sodann werden die Handlungsnormen systematisiert und in eine gewisse hierarchische Ordnung gebracht, um schließlich im Rahmen der religiösen Weltansicht insgesamt begründet zu werden. Religion deutet also Wirklichkeit nicht nach ihrem möglichen Sinn schlechthin aus, sondern hauptsächlich nach ihrem handlungsrelevanten Sinn. Damit wird Wirklichkeit, die sich dem Menschen nicht nur als Fremdes, sondern auch als Unverfügbares, außerhalb seiner beliebigen Disposition Stehendes prä 117sentiert, seinem Zugriff freigegeben oder versagt. Religion ermöglicht somit letzten Endes ebenso Herrschaft des Menschen über seine Daseinsumstände, wie sie andererseits zugleich die Grenzen jener Herrschaft absteckt. Diese diesseitsbezogene Seite der Religion ist es eigentlich, die Webers Interesse als Soziologe erregt: die existentielle Umsetzung des religiösen Deutungskosmos in praktische Lebensführung, die reale Entfaltung religiös erzeugter Handlungsenergien. Nur soweit Religiosität verhaltensträchtige Antriebskraft freisetzt, Motive begründet, die Auswirkungen provozieren; nur soweit sie bestimmten Handlungen moralische Richtigkeit oder Falschheit

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attestiert und diese insgesamt als einen Teil ethisch gerichteten Sichverhaltens zur Welt zu erkennen gibt, – nur insoweit ist sie für den Soziologen von Interesse: „nicht die ethische Lehre einer Religion, sondern dasjenige Verhalten, auf welches durch die Art und Bedingtheit ihrer Heilsgüter Prämien gesetzt sind“, ist der soziologische Betrachtungsgegenstand. Allerdings unterstellt Weber, daß jede Religion auf irgendeine Art beansprucht, praktische Wirklichkeitsbewältigung zu sein. Keine Religion kann letztlich darauf verzichten, Rationalisierungseffekte im Weltverhalten ihrer Anhänger zu erzielen – wenn auch der Grad an Rationalität je nach dem Religionstyp und je nach der Kultur, in die er eingebettet ist, recht unterschiedlich ausfallen kann. 2.3 Typologie der religiösen Vergemeinschaftungschancen Wie die allgemeine Historiographie, so ist auch die geschichtlich orientierte Religionssoziologie für Weber ein Aufspüren von verwirklichten Chancen – Chancen, die sich nicht durch ein starres Evolutionsschema einfangen lassen, sondern allenfalls durch vergleichende Typologien. Es gibt in Webers Werk nicht annähernd so etwas wie ein soziologisch ausgefeiltes Stadiengesetz – etwa der Art, wie es Auguste Comte entwickelt hat; stattdessen jedoch: eine Systematisierung von Möglichkeitsstufen der Religion, die je nach besonderer Weltdeutung und deren praktischer Umsetzung sehr verschieden gestaltet sein können. So rankt sich denn auch bei Weber um jeden einmal ausgemachten realisierten Religionstyp zu 118gleich ein ganzer Kranz von alternativen Möglichkeiten, die schließlich irgendwo zwischen den polaren Gegensätzen von innerweltlicher Askese und weltflüchtiger Mystik systematisch anzusiedeln sind. Demgegenüber bietet Weber für die zeitliche Koordination allenfalls einige Orientierungspunkte. Zwar skizziert er manche Entwicklungslinien; doch stets mit dem Vorbehalt, daß sie ebensogut hätten anders ausfallen können und unter veränderten Umständen auch tatsächlich anders ausgefallen sind. a) Magie und ritualistisches Priestertum Die erste Schwelle des Übergangs vom Naturalismus zur symbolischen Welterfassung stellt die magische Religiosität dar. In ihr legt der Mensch seine ursprüngliche Befangenheit in naturhafter Urwüchsigkeit ab, indem er die Wirklichkeit gleichsam als außeralltägliches Kräftefeld sieht. Welt ist eine Art „Zaubergarten“, den „wilde, durch nichts motivierte dei ex machina durchschwirren“; sie „können alles machen; nur Gegenzauber hilft“: Astrologie, Alchemie, Geomantik oder Metereomantik sind die

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Techniken, mit denen die Daseinsumstände genau dort manipuliert werden sollen, wo die eigene menschliche Kraft versagt. Weber selbst prägt die Formel: „eine Flutwelle symbolischen Handelns begräbt den urwüchsigen Naturalismus unter sich . . ., und durch bedeutsames Tun sucht man reale Wirkungen zu erzielen.“ Magie ist ihrem Sinn nach so etwas wie ein diesseitsorientierter Gotteszwang, der nach strengen, feststehenden Regeln abläuft und dadurch ein mindestens relativ rationales Handeln erzeugt. In ihrem Charakter liegt es, daß sie besonders bei den Bauern breite Resonanz findet, die noch weitgehend in organischen Naturprozessen verfangen sind. Demgegenüber neigt das gebildete Stadtvolk eher zu einer ausformulierten Priesterreligion. Doch stellt diese nur eine graduelle Weiterentwicklung zur Magie dar. Hier steht das Pantheon im Mittelpunkt: die Gesellschaft der spezialisierten und charakteristischen Götter – ausgestattet mit besonderen Attributen und je eigentümlichen Kompetenzen. Die Ethik besteht vornehmlich aus sakralrechtlich-kasuistischen Kultusregeln und Vorschriften für die „juristischen Etikettenfragen“ des Alltagslebens, weniger aus naturzentrierten Manipulationstechniken. Dennoch ist die Wirkung des priesterlichen Kultbetriebs die gleiche wie die des magischen Zau 119bers. Denn beide prägen eine ausgesprochen traditionalistische Lebenshaltung heraus: eine „Unfähigkeit und Abgeneigtheit, sich überhaupt aus den gewohnten Bahnen herauszubegeben“. Dieser Traditionalismus erfuhr oftmals eine zusätzliche Verstärkung, wenn er mit wirtschaftlichen Interessen verbunden war. So wurde etwa der Eisenbahnbau in China jahrzehntelang nicht allein darum verhindert, weil auf „heilige“ Berge, Flüsse und Gebiete Rücksicht zu nehmen war, sondern auch, weil die technische Neuerung den Sportelinteressen von Beamten, Grundherrn und Kaufleuten zuwiderlief. b) Prophetisches Charisma und seine Veralltäglichung „Die Magie zu brechen und Rationalisierung der Lebensführung durchzusetzen, hat es zu allen Zeiten nur ein Mittel gegeben: große rationale Prophetien.“ Besonders die alttestamentlichen Propheten haben nach Webers Ansicht der menschlichen Freiheit durch rationale Daseinsbeherrschung zum entscheidenden Durchbruch verholfen. Die jüdische Prophetie gilt ihm daher geradezu als Keimzelle des modernen, über den Calvinismus ererbten okzidentalen Rationalismus. Die Quelle der geschichtlichen Wirkung des Propheten ist sein Charisma24 – jene eigentümliche außeralltägliche Persönlichkeitsqualität, die Kle24

Michael Hill: A Sociology of Religion (s.o. Anm. 19). – Joseph Slabey Roucek: The Changing Concepts of Charismatic Leadership, in: IJRS 3 (1967), S. 87–100.

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on, Napoleon, Jesus und Perikles ebenso anhaftete wie Amos, Micha, Jeremia und Jesaja. Es ist das spezifische „Daimonion“, das den Charismaträger treibt und seine Gefolgschaft, Jünger und Anhänger, auf rein persönliche Art an sich fesselt. Dadurch sind die Beziehungen zwischen dem Charismatiker und seiner Schar zwar äußerst prekär: Sie erhalten sich allein durch Bewährung; denn tritt die Vorhersage nicht ein, erfüllt sich das Versprechen nicht, hat das Programm keinen Erfolg, dann zerfällt auch die Bewegung. Andererseits wurzelt darin, wenn sie gelingt, gerade auch ihre Kraft und Intensität, kurzum: die Geschichtsmacht des Propheten. Im allgemeinen pflegen Prophetien in genau solchen geschichtlichen Problemsituationen aufzutauchen, die durch traditionelle Verhal 120tensweisen kaum noch zu meistern sind, – oft also an den Nahtstellen tiefgreifender politischer, sozialer oder wirtschaftlicher Umwälzungen. Hier bietet sich Prophetie als Warnung und Hilfe in der Not geradezu an. Denn es liegt in der Natur des Charismatikers, daß er Innovationen hervorbringt, revolutionäre Wege beschreitet und unkonventionelle Mittel benutzt; daß er sich gewissermaßen als das „ewig Neue, Außerwerktägliche, Niedagewesene“ präsentiert. Seit jeher tritt darum Prophetie auch in schärfste Konkurrenz zu aller magischen und ritualistischen Religion. Wo diese die Welt als Zaubergarten sieht, betreibt der Prophet eher deren „Entzauberung“; und wo das Heil mit magischen oder sakramentalen Mitteln erstrebt wird, da zerstört der Prophet jede illusorische Sicherheit, die sich aus Tradition und Konvention nährt. Prophetisches Charisma bewährt sich überhaupt in eben solchen Situationen, in denen unterschiedliche Weltansichten und Religionssysteme miteinander im Wettbewerb stehen. Dies war vor allem in den Städten der Fall. Und so agiert denn auch der jüdische Prophet vornehmlich in Jerusalem. Die heterogene Stadtkultur ist eigentlich der rechte Nährboden seines charismatischen Talents: Hier spitzt er den Pluralismus der Weltanschauungen auf klare Entscheidungen zu, arbeitet die Alternativen heraus, um schließlich seine Gefolgschaft auf das Bekenntnis zu der einen richtigen Weisung zu verpflichten. Tatsächlich liegt darin die weittragende Leistung der jüdischen Propheten: daß sie den Polytheismus zugunsten eines einzigen Gottes gebrochen und die Mannigfaltigkeit der möglichen Einstellungen und Verhaltensweisen auf einen einzigen Punkt, auf den Willen Jahwes hin zentriert haben. Der Prophet ist der „Systematisator im Sinne der Vereinheitlichung der Beziehung des Menschen zur Welt aus letzten einheitlichen Wertpositionen heraus“ und hat nicht zuletzt damit generell die rationale Systematisierung der Lebensweise in die Menschheitsgeschichte eingeführt. Denn an die Stelle des formalen magischen Habitus und des an der heiligen Tradition orientierten Verhaltens hat er erstmals eine religiöse Attitüde geschaffen, die aus

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dem innersten Kern der Persönlichkeit kommt, gleichsam eine sublimierte, verinnerlichte Gesinnungskultur, welche die gesamte Daseinsführung des Menschen verpflichtend durchdringt: Das Verhalten gewinnt Konsistenz, weil jede Tat, 121 jede Haltung, ja jeder Gedanke, auch der unbedeutendste, nur Ausdruck eines einzigen heilsorientierten Personenzentrums sein soll. – Dies in der Kulturgeschichte des Menschen zum Durchbruch verholfen zu haben, ist das folgenreiche Verdienst der jüdischen Propheten. Andererseits ist die Existenz prophetischer Bewegungen stets nur von kurzer Lebensdauer gewesen. Denn nicht nur das Charisma selbst ist lediglich an eine Person gebunden, sondern auch deren Resonanz hängt vom persönlichen Zustimmungsakt ihrer Gefolgschaft ab. Spätestens mit dem Tod des Charismatikers tritt der kritische Punkt des Nachfolgeproblems auf. Wohl kann die Wirkung von den Jüngern kurzfristig noch aufrechterhalten werden, doch auf Dauer setzt sich jener unaufhaltsame Prozeß durch, den Weber als Veralltäglichung beschrieben hat. Wie vorher der Charismatiker seine Jünger auf Kosten der traditionalistischen Religion um sich sammelte, so werden diese nach seinem Tod allmählich für die Klientele der Priester zurückgewonnen. Und auch die Lehren der Propheten erfahren ihren Zuschnitt auf die Erfordernisse des Alltagslebens, über das sich der Charismatiker noch hinwegsetzen konnte. Priester beginnen nun, den „Gehalt der Prophetie . . . im Sinne kasuistisch-rationaler Gliederung und Adaptierung an die Denk- und Lebensgewohnheiten ihrer eigenen Schicht und der von ihr beherrschten Laien“ zu systematisieren und kanonisch festzulegen. Beruflich betriebene Dogmenproliferation, standardisierte literarische Bildung und Lebenshilfe als systematischer Dienstleistungsbetrieb verdrängen zunehmend die gelegentliche demagogische Predigt, die persönliche Seelsorge wie den gesinnungsethischen Charakter der Religiosität überhaupt. Statt ihrerseits revolutionierende Kraft in gesellschaftlicher Umgebung zu sein – wie sie es stets im charismatischen Stadium ist –, wird Religion nunmehr als Mittel der Domestikation der Massen im Interesse der herrschenden Priesterhierarchie und ihrer politischen Schirmherren angewandt. Je mehr das ursprüngliche Charisma verblaßt, desto größer reißen die Schlupflöcher auf, durch die traditionalistische und religionsfremde Interessen wieder in die Religion hineindrängen. 122

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c) Stufen des Weltverhaltens und die „Not“ der Intellektuellen25 Daß einerseits der Prophet vorwiegend in der Arena städtischer Kultur agiert und in eben diesem Feld der Konkurrenz, des Wettbewerbs und der Auseinandersetzung seine eigentliche Bewährung findet; daß die Priester andererseits um eine differenzierte Kasuistik für vielfältige Anwendungsbereiche des Lebens bemüht sind, läßt bereits einiges über die Struktur des gesellschaftlichen Hintergrunds erkennen, auf dem charismatische Prophetie und nachprophetisches Priestertum hervortreten: Arbeitsteilige Spezialisierung und Differenzierung der Sozialverhältnisse, aufkeimende Geldwirtschaft und bürokratische Verwaltung, rationale Wissenschaft und staatliche Gewaltmonopolisierung – all dies beginnt sich mehr und mehr zu verselbständigen und gerät zunehmend mit den Ansprüchen der Religion in Konflikt. Es entstehen Spannungen, die vor allem für eine gesellschaftliche Gruppe unerträglich sind: für die Intellektuellen. In systematischer Sicht verkörpert der religiöse Intellektualismus für Weber den genauen Gegentyp zur prophetischen Religion. Zur Veranschaulichung dieses Antipoden dienen ihm vor allem der Buddhismus und Jainismus in Indien, „der Wiege der praktisch und theoretisch weltverneinendsten Formen von religiöser Ethik, welche die Erde hervorgebracht hat“. Die Divergenz beruht auf der Verschiedenheit der ursprünglichen Irrationalitätserfahrung sowie auf der Unterschiedlichkeit ihrer Reaktionen und religiösen Problemlösungen. Sie gipfelt schließlich in der Unvereinbarkeit ihrer jeweiligen Weltansicht und Lebenshaltung überhaupt: Der jüdische Prophet reagiert mit seinem Glauben vor allem auf nationalpolitische, aber auch auf soziale Not; in ihm meldet sich das Verlangen der negativ Privilegierten, der Parias, nach ausgleichender Gerechtigkeit zu Wort. Der indische Intellektuelle hingegen fühlt sich in ganz anderer Bedrängnis und entsprechend unterschiedlich artikuliert sich sein Heilsbedürfnis: Ihn quälen „die metaphysischen Bedürfnisse des Geistes, welcher über ethische und religiöse Fragen zu grübeln nicht durch materielle 123 Not gedrängt wird, sondern durch die eigene innere Nötigung, die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können“. Nicht Vergeltung, nicht Ressentiment, sondern Versöhnung prägt sein Verlangen. Ihn bedrückt keine Zurücksetzung seines Volkes auf weltpolitischer Bühne; eher hatte ihn politische Enttäuschung zum sozialen Desinteresse, ja zur Indifferenz gegenüber der Welt schlechthin verleitet. Während der Israelit auf den zukünf25

Vgl. Joseph Slabey Roucek: The Changing Concepts of Charismatic Leadership (s.o. Anm. 24); vgl. hierzu besonders Webers „Zwischenbetrachtungen“ im 1. Band der Gesammelten Aufsätze zur Religionssoziologie (s.o. Anm. 2).

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tigen Umsturz der Weltordnung hofft, wonach die Ersten die Letzten und die Letzten die Ersten sein werden, sucht der indische Intellektuelle nach einem Fluchtweg aus der gegenwärtigen Welt. Der Jude will die kommende Umwälzung durch eigenes gottbefohlenes Handeln inmitten dieser Welt vorbereiten, wohingegen der Inder nach der seligen Ruhe des Nirwana oder nach dem mystischen Einswerden mit dem Brahman strebt. Der Prophet schließlich sieht die Welt als Schauplatz eines sinnlosen Kampfes, während sie der „wissende Mystiker“ als sinnvollen Kosmos konzipiert, indem er jede erlebbare Sinnlosigkeit von seinem Heilsweg abblendet. Für Weber repräsentieren diese beiden Typen – die weltflüchtige Mystik des indischen Intellektuellen und die innerweltliche Askese des jüdischen Propheten – jeweils den Anfangs- und Endpunkt eines polaren Kontinuums, das seinem gesamten Religionsverständnis als Gradmesser zugrundeliegt. In ihnen manifestieren sich jeweils die Idealtypen, die konsequentesten Formen überhaupt möglichen religiösen Weltverhaltens; auf der einen Seite: der Prophet und seine Gemeinde, die sich als „Werkzeug Gottes“ begreifen, das sich aktiv inmitten der Welt zu bewähren hat; am anderen Ende der Skala: der Mystiker, der sich mehr als „Gefäß“ auffaßt, das in sich Göttliches durch Kontemplation gegen die Welt bewahrt. Alle darüber hinaus vorkommenden Religionstypen werden von Weber in diesen Bogen eingespannt. Sie sind gleichsam nur „Kompromiß“Lösungen, die sich ihrer Eigenart nach dem einen oder anderen Extrem annähern. So verbindet beispielsweise das katholische Klosterleben im Mittelalter Weltflucht und aktive Askese: einerseits die methodische, rationale Anwendung von asketischen Mitteln, um ein Ziel zu erreichen, das im Jenseits liegt; aber neben der Befolgung für Christen allgemein obligatorischer Gottesgebote andererseits auch die Erfüllung besonderer Vorschriften ausschließ 124lich für „religiöse Virtuosen“: die concilia evangelica, die unter anderem den Rückzug aus der Welt verlangen. Dennoch gab es schon im 13. Jahrhundert vor allem bei den Franziskanern und Dominikanern Bestrebungen, klösterliche Askese in das Alltagsleben der Laien hineinzuverpflanzen: Durch die innerweltlichen Ablegervereine der Tertiarier und Beginen versuchten sie, Weltentsagung wenigstens partiell außer Kraft zu setzen. Erst recht haben die Jesuiten das Ideal der innerweltlichen Lebensmethodik verfolgt. Aber endgültig auf breiter Ebene hat erst die lutherische Reformation die Pforten der Klöster zur Welt hin geöffnet. Nun sollte – wie Sebastian Franck sagte – jeder Christ sein Leben lang ein Mönch sein. Dadurch wurde der sittliche Akzent des protestantischen Glaubens fast ganz auf die innerweltliche Arbeit verschoben – aber doch nur fast: Denn nach Webers Ansicht blieb das Luthertum auf halbem Wege stehen. In seinem „unio-

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mystica“-Gedanken und in seiner undynamischen „Schickungsethik“, nach der jeder Christ in dem Stande verharren sollte, in den Gott ihn hineingestellt hatte, wurde die Tendenz zur aktiven, rationalen Daseinsbeherrschung noch nicht bis zum konsequenten Ende durchdacht. Zwar hatte Luther nicht nur das Wort „Beruf“ in die deutsche Sprache eingeführt, sondern auch seine Bedeutung für den christlichen Lebenswandel nachhaltig religiös verklärt; aber diese Zuwendung zur Welt erfolgte schließlich doch nur mit einer geheimen reservatio mentalis: Sie geschah in dem Bewußtsein, eigentlich doch nicht von dieser Welt zu sein. So hatte Luther faktisch eher die ganze Welt zum Kloster gemacht, wie Karl Marx später spöttisch anmerkte: In der Theologie Luthers erscheint die Welt denn auch eher als eine beschädigte Puppenstube Gottes, in der jeder Mensch am angestammten Platz seiner irdischen Tätigkeit nachkam; kaum aber war sie das steinige Ackerfeld, das es zu bestellen galt. Die aktive, innerweltliche, auf rationale Herrschaft ausgerichtete Askese, wie sie seinerzeit die jüdischen Propheten verlangt hatten, wurde für die Neuzeit erst von den Calvinisten und Puritanern wiedergewonnen und in durchaus eigentümlicher Weise auf die Erfordernisse der frühkapitalistischen Gesellschaft hin umgeprägt. 125 3. Das protestantische Prinzip und der „Geist“ des Kapitalismus Mit der Analyse „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ liegt ein Kernstück der Weberschen Religionssoziologie vor, das wohl nicht nur das bekannteste, sondern zudem auch weit umstrittenste sein dürfte. Kommt die Sprache auf Max Weber, so ist nicht selten die etwas oberflächlich sogenannte „Protestantismus-Kapitalismus-These“ eine der ersten Assoziationen. An ihr entzündete sich denn auch eine nunmehr schon fast sieben Jahrzehnte andauernde lebhafte Kontroverse.26 26

Zur Protestantismus-Debatte: Reinier Franciscus Beerling: Protestantisme en Kapitalisme. Max Weber in de critiek, Groningen 1946. – Philippe Besnard: Protestantisme et capitalisme. La controverse postweberiénne, Paris 1970. – Shmuel Noah Eisenstadt: Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Eine analytische und vergleichende Darstellung, Opladen 1971. – Friedrich Fürstenberg: Wertrationale Grundlagen des Wirtschaftsverhaltens, in: Max Weber und die Soziologie heute (s.o. Anm. 1), S. 245 f. – Protestantism and Capitalism. The Weber Thesis and its Critics, hg. von Robert W. Green, Boston 1959. – Hans-Josef Helmer: Religion und Wirtschaft. Die neuere Kritik der Weberthese, Diss. Univ. Köln 1970. – Seminar Religion und gesellschaftliche Entwicklung. Studien zur ProtestantismusKapitalismus-These Max Webers, hg. von Constans Seyfarth und Walter M. Sprondel, Frankfurt a.M. 1973.

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Diese „sterile Auf 126geregtheit“ ist umso erstaunlicher, als Weber selbst von vornherein den begrenzten und „provisorischen Charakter“ seiner Untersuchungen betont hatte – vergeblich, wie es im Rückblick scheinen mag: Denn seine Studien haben ebenso zahlreiche und nicht immer produktive Mißverständnisse, Überzeichnungen und Fehlinterpretationen hervorgerufen, wie sie andererseits auch weiterführende, teils korrigierende, teils bestätigende Folgeanalysen veranlaßten.27 3.1 Zur Genealogie und Eigenart des modernen Kapitalismus Ein „Kardinalfehler“ der Weber-Rezeption bestand immer wieder darin, daß man ihm eine ganz andere Fragestellung und Forschungsintention unterstellte, als er sie seinerseits festgelegt hatte. Darum gilt es zunächst, das Ziel der Weberschen Untersuchung genau zu bestimmen. Unter allgemeinsoziologischem Aspekt war es sein erstes und zentrales Anliegen, die Genealogie und Eigenart der Kulturbedeutung des modernen okzidentalen Kapitalismus zu erhellen: Wie konnte gerade und nur auf dem Boden Europas und Nordamerikas ein solches kapitalistisches Wirtschaftssystem entstehen, wie wir es heute tatsächlich vorfinden? Und: Worin unterscheidet sich dieses eigentümliche Gebilde überhaupt von vergleichbaren Wirtschaftsweisen etwa im vorderen oder hinteren Orient? Solche und ähnliche Fragen wurden freilich nicht erst von Weber aufgeworfen. Sie beherrschten vielmehr spätestens seit Marx’ „Kapital“ durchgängig die Nationalökonomie, Geschichtswissenschaft, Jurisprudenz, ja sogar die Philosophie seiner Zeit: Werner Som 127barts „Der moderne Kapitalismus“ (1902) und „Der Bourgeois“ (1913), Lujo Brentanos „Die Anfänge des modernen Kapitalismus“ (1916), Georg Jellineks „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ (1895) und schließlich auch Georg Simmels „Philosophie des Geldes“ (1900) – all diese Arbeiten drehten sich um das eine auch von Weber zentral anvisierte Problem, wo die maßgeblichen Wurzeln, Ursachen und Bestimmungsfaktoren des modernen Kapitalismus aufzuspüren seien.

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Zur Wirkungsgeschichte Webers allgemein: Reinhard Bendix/Guenther Roth: Max Webers Einfluß auf die amerikanische Soziologie, in: KZSS 11 (1959), S. 38–53. – Paul Honigsheim: Max Weber im amerikanischen Geistesleben, in: KZSS 3 (1951), S. 408–419. – Talcott Parsons: Neuere angelsächsische Literatur zu Max Webers Religionssoziologie, in: Max Weber und die Soziologie heute (s.o. Anm. 1), S. 234– 241.

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Weber geht es dabei jedoch weniger darum, den natürlichen und materiellen Elementen – etwa: Bevölkerungsvermehrung, Edelmetallzufluß und Verkehrsstruktur – in ihrer Bedeutung für das Wirtschaftssystem auf die Spur zu kommen. Obwohl er auch dazu einiges bemerkt hat, konzentriert er sich doch mehr auf einen anderen Aspekt. Seine Prämisse lautet: Die Eigenart eines Wirtschaftssystems ergibt sich erst aus der Anordnung und Handhabung dieser natürlich-materiellen Grundausstattung – als notwendige Bedingung sozusagen – durch interessengeleitete Menschen. Und genau diese hinreichende Bedingung: das Interesse des wirtschaftenden Menschen ist es, dem Webers Hauptaufmerksamkeit gilt. Welcher konstruierende „Geist“ steckt hinter der Maschine des modernen Kapitalismus? Welche Kulturbedeutung kommt ihm zu? War es etwa die triebhafte, gleichsam angeborene Erwerbsgier des Menschen, die ihn entstehen lassen hat? Dagegen wendet Weber ein: Diese „fand und findet sich bei Kellnern, Ärzten, Kutschern, Künstlern, Kokotten, bestechlichen Beamten, Soldaten, Räubern, Kreuzfahrern, Spielhöllenbesuchern, Bettlern: – man kann sagen: bei ‚all sorts and conditions of men‘ zu allen Epochen aller Länder der Erde, wo die objektive Möglichkeit dafür irgendwie gegeben war und ist“. Der Erwerbstrieb erklärt im Grunde genommen alles – und nichts. Er hat allenfalls einen irrationalen Abenteurerkapitalismus von Händlern, Geldgebern und Spekulanten hervorgebracht, nicht jedoch jenen Typ des modernen okzidentalen Kapitalismus als spezifisches Produkt der menschlichen Rationalität, der geradezu mit der Temperierung, ja Bändigung des irrationalen Erwerbstriebs identisch sein kann. Und genau darin sieht Weber die Eigenart des europäisch-nordamerikanischen Wirtschaftssystems: Wenn überhaupt so etwas wie ein Zentralnervensystem des modernen Kapitalismus „entdeckt“ werden kann, dann besteht 128 es in eben dieser spezifisch rationalen Gesinnungshaltung des europäischen Kulturmenschen. Nicht daß dieser gleichsam ein creator ex nihilo ist, der auch dort den Kapitalismus aus dem Nichts schaffen könne, wo die äußeren Bedingungen nicht gegeben sind, der etwa – wie Weber ironisch anmerkt – „im Boden Hollands Kohlenflöze entstehen lassen“ könne, sondern daß die Rationalität das entscheidende Koordinationszentrum bildet, aus dem heraus sämtliche Wirtschaftsfaktoren erst zum eigentümlichen Kapitalismusgebilde kombiniert werden, das sozusagen aus den objektiven Möglichkeiten der Natur eine reale Wirklichkeit der Gesellschaft gemacht hat. Genau das ist Webers These: Der moderne Kapitalismus ist gleichsam das einmalige Schauspiel, das unter der federführenden Regie des rational bestimmten Wirtschaftsmenschen auf der neuzeitlichen Bühne Europas und Nordamerikas in Szene gesetzt wurde. Weder stellt er ein determinier-

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tes Naturereignis noch das Resultat psychologischer Zwangshandlungen dar, sondern er ist das Produkt willentlich ziel- und zwecksetzender, mithin rational agierender Menschen. Unter allgemeinerem Gesichtspunkt bedeutet das jedoch: Die Herausbildung der Eigenart eines Wirtschaftssystems ist jeweils mitgeprägt von jener Geisteshaltung seiner protagonistischen Träger, die als das „Produkt eines langandauernden Erziehungsprozesses“ sichtbar wird. Damit ist ein weiterer Fragehorizont Webers angeschnitten. Über die historisch-empirische Erforschung des Kapitalismus im engeren Sinne hinaus zielt Weber noch auf ein umfassenderes, eher der wissenssoziologischen Grundproblematik zuzurechnendes Problem ab: Er will seine Analyse der Wirtschaftsgesinnung als einen Beitrag zur „Veranschaulichung der Art“ verstanden wissen, „in der überhaupt die ‚Ideen‘ in der Geschichte wirksam werden“. Seine weiterzielende Absicht war es also, etwas zu dem Problem auszusagen, das bereits durch Marx in der Überbau-Unterbau-These eine pointierte Formel gefunden hatte.28 Hier nimmt Weber jedoch gewisse Abgrenzungen vor, wenngleich auch nicht so sehr in jene Richtung, der er dann oftmals von anderen zugeschlagen wurde. Weber wollte Marx nicht „widerlegen“, gleichsam das von Marx auf die Füße des Materialismus gestellte 129 Basis-Überbau-Verhältnis wieder idealistisch kopflastig gestalten, indem er etwa nachwies, „daß der Kapitalismus als Wirtschaftssystem ein Erzeugnis der Reformation sei“. Als er hörte, daß ihn der zeitgenössische Historiker Hans Delbrück für eine solch „töricht-doktrinäre These“ als Kronzeugen benannte, entrüstete sich Weber: „Ich muß mich dagegen wehren; ich bin viel materialistischer als Delbrück glaubt.“ Tatsächlich ist es in mehrfacher Hinsicht irreführend, Weber in diesem Zusammenhang für eine idealistische Partei zu vereinnahmen. Zunächst: Wenn er die Entstehung einer Wirtschaftsgesinnung untersucht und ihre Auswirkungen auf den kapitalistischen „Unterbau“ nachzeichnet, dann nicht, ohne vorher einschränkend hinzugefügt zu haben: „Hier wird also nur der einen Seite der Kausalbeziehung nachgegangen.“ Faktisch umfassen seine späteren religionssoziologischen Studien zur „Wirtschaftsethik der Weltreligionen“ denn auch beide Aspekte der Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlichem Unterbau und religiösem Überbau. Die bewußt gewählte Einseitigkeit seiner Protestantismus-Studien steht also auf dem Hintergrund einer angestrebten Vielseitigkeit der Sicht, die erst in späteren Arbeiten Webers zum Ausdruck kommt. 28

Zum folgenden: Max Weber: Soziologie, Weltgeschichtliche Analysen, Politik, (s.o. Anm. 1), S. 571–604. – Hans Bosse: Marx-Weber-Troeltsch, München 1970.

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Andererseits wendet sich Weber ausdrücklich aber auch gegen eine vulgärmarxistische Verflachung der Überbau-Unterbau-These, wie sie vor allem von Karl Kautsky vertreten wurde.29 Während dieser das Marxsche Diktum „Die ‚Idee‘ blamiert sich immer, soweit sie von dem ‚Interesse‘ unterschieden war“, in dem Sinne interpretierte, daß Ideen lediglich Epiphänomene zu Klasseninteressen darstellten; während Kautsky also das Bewußtsein der Individuen weitgehend recht einseitig begriff als bloß widerspiegelnder Ausdruck des sozialökonomischen Milieus, der stets Herrschaftslegitimationen in sich berge, betont Weber dagegen die Differenziertheit und Ambivalenz des Verhältnisses: Einerseits – gibt er gewissermaßen zu – können Ideologien, Ideen und religiöse Vorstellungen durchaus im Interesse der Herrschenden zur „Domestikation der Massen“ herhalten; andererseits aber haben gerade auch religiöse Bewegungen immer wieder in der Geschichte revolutionierende, innovatorische oder auch nur umprägende Wirkungen ausgelöst, so daß man allgemein sagen kann: „Interessen (mate 130rielle und ideelle), nicht: Ideen, beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ‚Weltbilder‘, welche durch ‚Ideen‘ geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte.“ Jedenfalls läßt sich nicht a priori, sondern nur im historisch-konkreten Einzelfall entscheiden, ob nun der Überbau oder der Unterbau die jeweils bestimmende Produktivkraft der gesellschaftlichen Entwicklung ausmacht; ja zuweilen fällt es überhaupt schwer, die Entwicklung auf nur einen Faktor zurückzuführen – sogar in der materiellen Basis selbst bewirken nicht immer nur ökonomische, sondern oft auch politische oder militärische Interessen geschichtliche Entropien. So geht Weber schließlich statt von einer monokausalen Ursache-Wirkung-Zurechnung grundsätzlich von der Annahme aus, geschichtliche Kristallisationen seien eher als das Produkt einer Mannigfaltigkeit von Kausalfäden zu betrachten. – Doch richtet sich diese Stellungnahme Webers – wie gesagt – vornehmlich gegen die vulgärmarxistische Sicht seiner Zeit, nicht so sehr gegen Marx selbst, zu dem der eigentliche Streitpunkt – wie später noch zu zeigen sein wird – auf anderer Ebene liegt. Soweit Weber allgemein einen Beitrag zum Basis-Überbau-Problem liefern wollte, lautet seine präzise Fragestellung: „Ob und wieweit religiöse Einflüsse bei der qualitativen Prägung und quantitativen Expansion jenes ‚Geistes‘ über die Welt hin mitbeteiligt gewesen sind und welche konkreten Seiten der auf kapitalistischer Basis ruhenden Kultur auf sie zurückgehen.“ 29

Karl Kautsky: Ethik und materialistische Geschichtsauffassung, Stuttgart 1906. – Karl Kautsky: Die Sozialdemokratie und die katholische Kirche, 2. Auflage, 1906.

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3.2 Die religionssoziologische Perspektive und Webers Neuverteilung der Beweislast Diese Fragestellung erscheint nun bei Weber in der spezifischen Perspektive seines Religionsverständnisses. Sah er einerseits in der Rationalitätshaltung des wirtschaftenden Menschen einen unabdingbaren Entstehungsfaktor des eigentümlichen modernen Kapitalismus, so hatte er andererseits den anthropologischen Herkunftsort dieser Rationalität in der Religion angesiedelt. Aus den beiden Fixpunkten ergab sich zwingend das Problem ihres Zusammenhangs; genauer: ob für die Neuzeit überhaupt noch eine solche Verbindung festzustellen ist. Zwar hatte Weber vor allem 131 in der jüdischen Prophetie den entscheidenden Durchbruch der Rationalität in der Menschheitsentwicklung gesichtet, zugleich jedoch in der Analyse der Charisma-Veralltäglichung aufgewiesen, daß die Rationalität, einmal entbunden, durchaus selbständige Wege einschlug und sich dabei zunehmend von der religiösen Lebenswelt entfernte; die Religion aber versagte sich ihrerseits, besonders in ihrer traditionalistischen Ausprägung, fortschreitend der allgemeingesellschaftlichen Entwicklung, die sie doch ursprünglich mit ausgelöst hatte. So entstand zwischen Religion und Gesellschaft, vor allem aber ihrem Wirtschaftsleben, eine scharfe Spannung, die mit dem Aufkommen der Geld wirtschaft ihre prägnanteste Gestalt annahm. Denn die Abstraktheit und Unpersönlichkeit der Beziehungen etwa „zwischen den wechselnden Inhabern von Pfandbriefen und den ihnen unbekannten und ebenfalls wechselnden Schuldherrn der Hypothekenbank“ entzog sich eigentlich jeder Regulierung durch eine religiöse Brüderlichkeitsethik. Folgerichtig hatte denn auch der Katholizismus das ganze Mittelalter hindurch, ja bis in die Neuzeit hinein nicht nur durch Zins- und Wucherverbot seinen Mitgliedern den Zugang zur Geldwirtschaft verwehrt, sondern überdies auch allgemein dekretiert: Homo mercator vix aut numquam potest Deo placere – der Kaufmann kann zwar sündlos leben, niemals aber Gott gefallen. Mit dieser mehr traditionalistischen Vorstellung hat erstmals das Judentum gebrochen. Da die Juden an der christlichen Abendmahlsgemeinschaft nicht teilnehmen, da sie weder ein commercium noch ein connubium mit Christen eingehen durften und ihnen infolgedessen auch Stadtbürgerrecht und Zunftmitgliedschaft untersagt waren, wurden sie in genau jenen Wirtschaftsbereich geradezu abgedrängt, der den Christen versperrt blieb: in den Geldhandel. Hier allerdings entwickelten sie aufgrund ihrer religiös geübten Gesetzeskunde auch besonders hervorstechende Eignungen und Fähigkeiten. Gleichwohl waren die Juden nicht die entscheidenden Träger des

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modernen Kapitalismus, wie etwa Werner Sombart behauptete. Denn einerseits erstreckte sich deren Tätigkeit lediglich auf dermaßen ökonomisch irrationale, weil auf ungebändigten Erwerb ausgerichtete Geschäfte wie Steuerpacht, Staatsfinanzierung und Geldverleih. Der Jude repräsentiert allenfalls einen Paria-Kapitalismus, nicht aber den modernen rationalen Betriebskapi 132talismus; der jüdische Fabrikant ist vielmehr ein sehr spätes, nachträgliches Anpassungsprodukt. Andererseits verband sich im Judentum der aggressive, dynamische Geschäftssinn nach außen stets mit einem strengen religiösen Traditionalismus im Innern: Was gegenüber Fremden erlaubt war – etwa Zinsen zu nehmen –, galt unter Brüdern als verpönt. So hatten die Juden die Spannung zwischen Religion und Wirtschaft gewissermaßen durch eine Schizophrenie der Lebensführung gelöst – und doch wieder nicht gelöst: Denn kaum legten sie jene Haltung der sämtliche Daseinsbereiche durchdringenden Rationalität an den Tag, aus der heraus der moderne Kapitalismus in seiner Eigenart erst zu verstehen ist. Gab es überhaupt zu diesem so etwas wie einen kongenialen Typ von Religion? Oder beschränkte sich jede Religionsgemeinschaft lediglich darauf, minimale, im Grunde jedoch wirtschaftsfeindliche Handlungsanweisungen auszugeben? Konnte man überhaupt eine bestimmte Lebensführung erkennen, die sich nicht nur nahtlos in das kapitalistische System einpaßte und für dessen Erfordernisse vorzüglich geeignet war, sondern darüber hinaus auch eindeutig religiös bestimmt und motiviert war? Gesucht ist gleichsam das religiös fabrizierte Persönlichkeits-Paßstück zum kapitalistischen System; gefragt ist sozusagen nach dem „goldenen Schnitt“ von Frömmigkeit und funktionalem Wirtschaftsverhalten. Und die Antwort lautet: Es waren insbesondere der Calvinismus und der Puritanismus, die in ihrem Glauben und in ihrer Praxis ein enges Beziehungsverhältnis zum Kapitalismus aufwiesen, ja mehr noch: die das kapitalistische System auf eigenartige Weise mitgeprägt haben. Nun war diese Feststellung keine originäre Entdeckung Max Webers. Schon lange vor ihm hatte etwa Voltaire beobachtet, daß es unter den Quäkern in England und Mennoniten in Holland keine Armen gäbe; und in Spanien war die Vorstellung weit verbreitet, daß „die Ketzerei“ des holländischen Calvinismus offenbar „den Handelsgeist befördere“. Und nicht zuletzt hatte auch Marx besonders im Protestantismus die „entsprechendste Religionsform“ zum Kapitalismus erblickt. Weber selbst führt eine ganze Liste zeitgenössischer Literatur an, die eben diese Korrelation belegte.30 133 So sehr verbreitet war die Kenntnis vom calvinistischen 30

Zur Vorgeschichte der „Protestantismus-These“: Reinhard Bendix: The Protestant Ethic-Revisited, in: Comparative Studies in Society and History 9 (1966–1967),

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Einfluß auf die Entwicklung des Kapitalismus, daß Werner Sombart 1902 kurzerhand schreiben konnte: Sie sei „eine zu bekannte Tatsache, als daß sie des weiteren begründet zu werden braucht“. Warum aber verbindet sich dann heute noch so hartnäckig der Name Webers mit dieser These? Wenn überhaupt, dann besteht Webers „Einfall“ darin, dieses selbstverständliche Allgemeingut der damaligen Literatur problematisiert und damit erst einer plausiblen Begründung zugänglich gemacht zu haben. Tatsächlich war nach Webers Ansicht nicht derjenige, der den Verflechtungszusammenhang anzweifelte, beweispflichtig, sondern der ihn im Gegenteil weitgehend unbegründet voraussetzte. Worauf es ankam, war dies: zu verstehen und zu erklären, warum ausgerechnet der Calvinismus und Puritanismus einen solch maßgeblichen Anteil an der Ausgestaltung des kapitalistischen Geistes nehmen konnten. In dieser Umdisponierung der Beweislast zunächst und darin, wie er sie für die religionssoziologische Forschung produktiv machte, liegt Webers Bedeutung. 3.3 Die religiöse Entbindung des modernen Bürgerethos Seine Ausgangsfragen lauteten dabei: Welcher Art waren die ethischen Impulse und psychologischen Antriebe des Calvinisten? Und ließen sich die Auswirkungen seiner Frömmigkeitshaltung stringent in eine Beziehung zu seiner Weltansicht setzen? Hatte seine Wirtschaftsgesinnung, die so maßgerecht in die ökonomische Landschaft des Frühkapitalismus hineinpaßte, etwas mit seinem innersten Glaubenszentrum zu tun? Diesen Zusammenhang plausibel nachvollzogen zu haben, ist Weber im großen und ganzen gelungen – wenn ihm dabei auch Detailirrtümer unterlaufen sind, die hier nicht interessieren. Im Mittelpunkt des calvinistischen Glaubens stand die sich aus dem Gedanken der absoluten Souveränität und Transzendenz Gottes ergebende Lehre von der doppelten Prädestination: Durch göttliches Dekret waren einige Menschen von Ewigkeit her in den Stand der Gnadenwahl erhoben und für die Seligkeit bestimmt; andere dagegen waren ebenfalls von vornherein zur ewigen Höllenqual verdammt. An diesem ein für alle Mal gültigen Ratschluß Gottes konnte kein menschliches Streben rütteln. Jeder magische, 134 ritualistische, sakramentale oder auch mystische Versuch der Gnadenvermittlung war ausgeschlossen; ja überhaupt schon die Frage des einzelnen nach seiner Erwählung galt zu Calvins Zeiten als frevelhaft.

S. 266–273; deutsch in: Die protestantische Ethik II (s.o. Anm. 2), S. 380–394. – Michael Hill: A Sociology of Religion (s.o. Anm. 19), S. 98–116.

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Dennoch hat dieser Glaube nicht zur religiösen Apathie oder zum sozialen Quietismus geführt. Auf Dauer konnte die Frage nach der certitudo salutis nicht unterdrückt werden. So schob sich nach und nach ein weiterer Glaubenssatz in den Vordergrund: Die individuelle Erwähltheit ließ sich nur an den Früchten der Bewährung erkennen. Nur wer durch die Art seiner Lebensführung Ergebnisse zutagefördert, die zur Verherrlichung Gottes beitragen, kann erkennen, ob er erwählt ist. Nur wer sich selbst als Werkzeug Gottes, nicht aber als Ziel seines Handelns begreift, vermag annähernd Gewißheit zu erwerben. Das bedeutete andererseits: Der Mensch hat Verwalter und Vermehrer des ihm anvertrauten Guts zu sein. So wird der „Strahl ethischer Billigung“ im calvinistischen Glauben radikaler als im Luthertum auf das Diesseits gelenkt: keine noch so heimliche Weltflucht, sondern äußerste Weltaktivität – und zwar: in majorem gloriam dei. In der Konsequenz bestimmen dann vor allem drei Merkmale die Lebenshaltung des Calvinisten: der planmäßige, selbstkontrollierte Herrschaftswille; die antihedonistische, innerweltliche Askese und das heroische, individualistische Berufsethos. 1. Das Bestreben des Calvinisten war darauf ausgerichtet, die verworfene Kreatürlichkeit der Welt zu überwinden; die Distanznahme zum sündhaften Status der Natur ermöglichte zugleich deren Beherrschung. Die Kontrolle der eigenen Affekte, Bedürfnisse und Triebe machte dabei nur einen Teilaspekt der calvinistischen Virtuosenleistung aus; wichtiger noch wurde die extrovertierte, aktive, methodische Einflußnahme auf die Umwelt durch Arbeit. Einheit, Konsequenz und Widerspruchslosigkeit der Lebensführung dienten dem einen Zweck: die eigene und fremde Natur auf die Verherrlichung Gottes hin auszurichten. Dazu waren nahezu alle Mittel erlaubt. Diesem Ziel dienten vor allem die Bildung zweckrationaler, unpersönlichsachlicher Verbände und Betriebe sowie die produktive Verwertung von Wissenschaft und Technik im Dienste der Wirtschaft. Denn Arbeit als Ausfluß kontrollierter Lebensführung und Reichtum als deren Ertrag galten als Zeichen der Erwählung. 135 2. Andererseits war der unbefangene, triebhafte Genuß des erworbenen Besitzes strengstens verboten. Jeder hedonistische Gebrauch des Reichtums kam einer „Kreaturvergötterung“ gleich, welche die Majestät Gottes beleidigen mußte: „Ein waches, bewußtes, helles Leben führen zu können, war . . . das Ziel, – die Vernichtung des triebhaften Lebensgenusses die dringendste Aufgabe.“ Diese Kombination von temperiert-methodischem Erwerbsstreben und asketischem Konsumverzicht hatte für das frühkapitalistische Wirtschaftssystem vor allem einen Vorteil: Es wurde Kapital gebildet, das seinerseits nicht in den Konsum floß, sondern nur als Anlagekapital wieder investiert werden konnte.

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3. Die religiöse Prämie des calvinistischen Glaubens war also auf die innerweltliche, asketische Arbeit ausgesetzt – jedoch nicht auf die Arbeit als solche, sondern auf das rastlose Profitstreben in den regulierten Bahnen des weltlichen Berufs: auf die Hingabe an die arbeitssteilige Funktion im Wirtschaftsleben, auf die „freiwillige Selbstzerstückelung der Person zu spezialisierten Rollenträgern.“ Die Bewährung des Glaubens durch totale Entäußerung in das säkulare Berufsleben – genau darauf lag im Unterschied zum Katholizismus, aber auch zum Luthertum der entscheidende Akzent der calvinistischen Frömmigkeit. Sie schloß jede nivellierende Gemeinschaftsromantik ebenso aus wie ein mystisches Retraite aus dem Arbeitsleben überhaupt. Einsamkeit und heroische Bewältigung der Alltagsaufgaben lautete stattdessen die Devise. Und die adäquate Organisationsform war die des modernen, in sich differenzierten Betriebes – genauso wie der spezialisierte Beruf das probate Mittel systematisch-kontrollierter und entsagungsvoller Askese war. Damit war die „Wahlverwandtschaft“, ja „die Einheit des religiösen Postulats mit dem für den Kapitalismus günstigen bürgerlichen Lebensstil . . . erreicht“. Der drohende Auseinanderfall von religiöser und wirtschaftlicher Sphäre war nicht nur verhindert; der äußerste Gegensatz war nicht nur versöhnt, sondern die enge Verknüpfung von ökonomischer und religiöser Rationalität hatte überdies auch weittragende Folgen: Indem der Calvinist sein Weltverhalten mit den Anforderungen des kapitalistischen Systems synchronisierte, gelang es ihm zugleich, dessen Gestalt den eigenen Stempel aufzuprägen. Der homo religiosus verwirklicht sich durch die virtuose Handhabung des Systems und formt es damit in sei 136nem Sinne um. Die rational-methodische Standardisierung des spezialisierten Berufs, die produktive Verwertung von Technik und Wissenschaft, das asketische Sparverhalten und die kalkulierte Reinvestition – all das sind die bleibenden „Errungenschaften“ des calvinistisch motivierten Wirtschaftsmenschen für den neuzeitlichen Kapitalismus. „Eine derart machtvolle, unbewußt raffinierte Veranstaltung zur Züchtung kapitalistischer Individuen hat es in keiner anderen Kirche oder Religion gegeben . . . “, schreibt Weber abschließend über die Bedeutung des Calvinismus. Und wohin dessen Einfluß nicht reichte, wo sich gleichwohl der Kapitalismus in seiner modernen Gestalt etablierte, dort wurde der Calvinismus jeweils von Quäkertum, Pietismus, Methodismus und täuferischem Sektentum sekundiert. Deren Spuren sind bis heute (1905) noch deutlich in den Vereinigten Staaten von Amerika zu erkennen. Kurzum: Der Calvinismus brachte, assistiert vom Puritanismus, den „einzig konsequenten Träger“ jener inneren Persönlichkeitsverfassung – und zwar aus eigenem religiösen Antrieb hervor, die allein in das kapitalistische Räderwerk paßte und darin

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zudem noch Steuerungsfunktionen übernahm. Insofern standen Calvinismus und Puritanismus an der Wiege des modernen Wirtschaftsmenschen. Zwar haben sie ihn nicht unbedingt selbst gezeugt, wohl aber maßgeblichen Einfluß auf seine Erziehung genommen; sie haben ihm gleichsam Pate gestanden in dem Bewußtsein dessen, der sich im Wachstum seiner Schützlinge selbst verwirklicht sieht. 4. Wissenschaft und Politik: Berufe in einer „entzauberten“ Welt Einen Grundsachverhalt aller geschichtlichen Entwicklung sieht Weber darin, „daß das schließliche Resultat politischen Handelns . . . geradezu regelmäßig, in völlig unadäquatem, oft geradezu paradoxem Verhältnis zu seinem ursprünglichen Sinn steht“. Das Wissen um die Möglichkeit solcher gleichsam historischen Wetterumschläge ist nicht nur für das Webersche Geschichtsverständnis, sondern auch für sein Gegenwartsbewußtsein von zentraler Bedeutung, wenn nicht gar konstitutiv. Denn Gegenwart läßt sich dann nur als Ergebnis ihrer paradoxen Herkunft durchleuchten und begreifen. Damit schließt Weber jeden Gedanken aus, sie könne so 137 etwas wie das Produkt einer einlinig gerichteten Entwicklung, gewissermaßen eine weitere Vollendungsstufe des Geschichtsprozesses sein. Auch aus diesem Grunde – und nicht nur, weil wir es mit einer Vielfalt von Kausalketten zu tun haben – ist es irrig, im Kapitalismus das konsequente Erzeugnis allein des Protestantismus zu sehen. Das Vergangene muß vielmehr in der Perspektive der Paradoxie seiner Folgen erscheinen. Unter historischem Aspekt ist es geradezu falsch zu meinen, das Böse könne nur Böses wie das Gute nur Gutes aus sich heraus gebären. Demgegenüber legen genügend Beispiele beredtes Zeugnis dafür ab, daß Böses sehr wohl Gutes zu schaffen in der Lage ist: Wie etwa Machiavelli sein Seelenheil dem Wohle der Stadt geopfert hat, so kann Politik überhaupt nur Gutes hervorbringen, wenn sie sich „böser“ Machtmittel bedient. – Daß umgekehrt auch das Gute etwas Böses zur Folge haben kann, – das belegt deutlich die Entwicklung des gegenwärtigen Kapitalismus. Dessen Analyse wird für Weber zum Paradebeispiel für den Grundsachverhalt, daß sich die Gegenwart nur im Lichte ihrer paradoxen Herkunft verstehen läßt. Und diese Demonstration erfolgt nicht zuletzt aus dem Antrieb heraus, die Konsequenzen der zugrundeliegenden Einsicht in die „List“ der geschichtlichen Unvernunft für das eigene Handeln zu ziehen, das unter den Bedingungen der Gegenwart gleichwohl am Postulat der Vernunft orientiert sein soll.

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4.1 Die Paradoxie der entfesselten Folgen: „Rationalisierung“ statt Rationalität31 In der Tat, der gegenwärtige Kapitalismus wird von Weber hauptsächlich unter dem Aspekt seiner Eigendynamik betrachtet: „Die religiöse Wurzel des modernen ökonomischen Menschentums ist abgestorben“, ohne damit freilich zugleich an Lebenskraft einge 138büßt zu haben. Im Gegenteil: Indem der Kapitalismus zusehends religiöser Fremdbestimmung entglitt, konnte er gewissermaßen zu sich selbst finden und Eigenmacht entfalten. Das moderne kapitalistische System ist nicht nur existenzfähig, ohne auf „die Billigung irgendwelcher religiöser Potenzen“ angewiesen zu sein, sondern es ist darüber hinaus zu einem „ungeheuren Kosmos“ herangewachsen, der die gesamte Lebenswelt der Gesellschaft in seinen Einflußbereich zieht und ihr die eigenen Gesetzlichkeiten oktroyiert. Aus dem vormaligen Vehikel des Calvinisten ist ein bestimmender Selbstzweck geworden; im Rückblick hat sich der homo religiosus genau jenen Moloch herangezogen, dessen Opfer er schließlich selber wird. Seinerseits entfesselt beginnt das Wirtschaftssystem die eigenen Schlingen auszulegen: Es tritt dem einzelnen als „Triebwerk“ der Unterwerfung, als „Gehäuse“ der „Hörigkeit“ entgegen. Mag der Kapitalismus in seiner Eigenart früher aus religiösem Antrieb in Szene gesetzt worden sein, so wirkt er heute auf seine Regisseure als entfremdende Zwangsanstalt zurück: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein.“ Der Kapitalismus hat sich also aus seiner religiös geprägten Umwelt vollständig emanzipiert. Doch ist Weber im Bewußtsein von der Paradoxie geschichtlicher Folgen weit davon entfernt, in der Emanzipation allgemein so etwas wie eine Fortschrittskategorie zu sehen; Emanzipation signalisiert nicht von vornherein einen Zuwachs an Freiheit, sondern kann durchaus in ihr Gegenteil umschlagen. Schärfer vielleicht noch als am Kapitalismus hat Weber diesen Zwiespalt an der Bürokratie veranschaulicht; ja die gesamte wirtschaftliche Entwicklung erscheint ihm schließlich nur als ein Teilprozeß der umfassenderen „Verapparatisierung“ der Daseinsumstände. Außer für Wilhelm II. hat Weber wohl kaum soviel sarkastische Worte gefunden wie für den Beamten. Sein Spruch: „In jeder kleinen Stadt gibt es ein 31

Günter Abramowski: Das Geschichtsbild Max Webers (s.o. Anm. 19). – Johann Dieckmann: Max Webers Begriff des „modernen okzidentalen Rationalismus“, Diss. Univ. Köln 1961. – Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt a.M. 1968, S. 48–103. – Joachim Israel: Der Begriff der Entfremdung, Reinbek 1972, S. 127–153. – Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft, Band 2, Frankfurt a.M. 1965, S. 107–129.

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Haus, darauf steht ‚königliches Amtsgericht‘ darin haust einer, der in dubio ein Rindvieh“, ist lediglich eine Kostprobe seiner durchgängigen Polemik gegen die Erzeugnisse pervertierter Bürokratie. Dabei galt ihm der reine Idealtypus der Verwaltung, die streng formalistisch gemäß gesetzten Regeln und sachlichen Gesichtspunkten, sine ira et studio sozusagen, ihren Amtspflichten nachkommt, durchaus als Rückgrat legal-rationaler Herrschaft, die er als im gewissen Sinne moderne Errungenschaft 139 gegen die traditionalen Typen patrimonialer und patriarchischer Herrschaft abgrenzt.32 Jedoch: Auch die Bürokratie konnte und kann sich nicht der „Tragödie aller Kultur“ (Georg Simmel) entziehen, nach der sich jede geschichtliche Verwirklichung einer Idee potentiell in das Gegenteil ihrer ursprünglichen Absicht verkehrt. Nicht minder als im Kapitalismus manifestiert sich heute in der Beamtenorganisation gleichfalls der Umschlag zum „geronnenen Geist“, zur „lebenden Maschinerie“ und zum selbstzweckdienlichen Gehäuse. Statt persönliche Initiative, Entscheidungsfreude, Risikobereitschaft und Eigenverantwortung in den Dienst rationaler Herrschaft zu überführen, honoriert sie das „Eingestelltsein auf das gehorsame Sich-fügen“ und den „Pöstchengeist“, bringt „patentierte Mandarinen“ und bestallte Vasallen hervor, die nur noch der „Diktatur der Beamten“ frönen. Die Parallelität zu Marx ist in solcher Analyse augenfällig.33 Was jener unter den Stichworten des Fetischcharakters der Ware, der Selbstentfremdung, 32

33

Vgl. hierzu: Reinhard Bendix: Bureaucracy and the Problem of Power, in: Robert K. Merton u.a.: Reader in Bureaucracy, Glencoe (Ill.) 1952, S. 114–135. – Niklas Luhmann: Zweck-Herrschaft-System. Grundbegriffe und Prämissen Max Webers, in: Der Staat 3 (1964), S. 129–158. – Johannes Winckelmann: Legitimität und Legalität in Max Webers Herrschaftssoziologie, Tübingen 1952. – Johannes Winckelmann: Gesellschaft und Staat in der verstehenden Soziologie Max Webers, Berlin 1957. Zum Vergleich von Max Weber und Karl Marx: Joseph Gabel: Une lecture marxiste de la sociologie religieuse de Max Weber, in: Cahiers internationaux de sociologie 46 (1969), S. 51–66. – Johann Klügl: Die bürgerliche Religionssoziologie und ihre Funktion im ideologischen System des staatsmonopolistischen Kapitalismus, in: DZPh 15 (1967), S. 671–690. – Gertraud Korf: Ausbruch aus dem „Gehäuse der Hörigkeit“? Kritik der Kulturtheorien Max Webers und Herbert Marcuses, Berlin 1972. – Karl Löwith: Max Weber und Karl Marx, in: Karl Löwith: Gesammelte Abhandlungen. Zur Kritik der geschichtlichen Existenz, Stuttgart 1960, S. 1–67. – Wolfgang Lefèvre: Zum historischen Charakter und zur historischen Funktion der Methode bürgerlicher Soziologie. Untersuchung am Werk Max Webers, Frankfurt a.M. 1971. – Siegfried Landshut: Kritik der Soziologie und andere Schriften zur Politik, Neuwied/Berlin 1969. – Kurt Lenk: Marx in der Wissenssoziologie, Neuwied/Berlin 1972. – Guenther Roth: Das historische Verhältnis der Weberschen Soziologie zum Marxismus, in: KZSS 20 (1968), S. 429–447.

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Verdinglichung und Vereinzelung analysiert hatte: daß nämlich der Mensch schließlich selbst zum Werkzeug seiner Werkzeuge wird, – all das taucht bei Weber in ähnlicher 140 Form nun unter der Nomenklatur der „Rationalisierung“ in ähnlicher Form wieder auf: Das sinnstiftende Element der Rationalität – noch konstitutiv, solange sie in der Religion beheimatet war – tritt zunehmend zugunsten ihrer instrumentellen und legitimierenden Aufgaben zurück. Mehr und mehr erschöpft sich Rationalität darin, die Eigengesetzlichkeit und Instrumentalisierung der Wirtschaft und Bürokratie voranzutreiben; sie „durchzurationalisieren“, wie es im modernen Betriebsjargon heißt; mithin: die Effektivität der Organisationen so optimal auszugestalten, daß deren Ertrag vornehmlich in der Expansion des organisatorischen Selbstzwecks wieder zu Buche schlägt. Darüber hinaus hat Rationalität eben diesen Vorgang legitimierend abzustützen: zu „rationalisieren“ im Sinne der nachträglichen ideologischen Verbrämung, wie sie auch Vilfredo Pareto und Sigmund Freud in anderem Zusammenhang analysiert haben. Im Ergebnis geißelt Weber die Paradoxie der entfesselten Folgen einer ursprünglich aus religiösen Antrieben freigesetzten Rationalität; im Prozeß ihrer Verwirklichung hebt sie sich schließlich selbst auf: „Das rationale Durchorganisieren der Lebensverhältnisse erwirkt aus sich selbst heraus die irrationale Eigenmacht der Organisation“ – das ist die später von Karl Löwith im Anschluß an Weber geprägte Formel.34 4.2 Die Sinnzerstörung einer gottfremden, prophetenlosen Wissenschaft Daß sich die Leistung neuzeitlicher Rationalität fortschreitend darauf verlagert, die Selbstzweckhaftigkeit der Organisationen auszubauen und damit auf übergreifende Sinnsetzung überhaupt zu verzichten, ist nicht allein die Folge gleichsam innerbetrieblicher Gewichtsverschiebungen, in derem Zuge Sinn allmählich verdrängt wurde. Vielmehr ist seine Verflüchtigung auch das Ergebnis jener systematischen Sinnzerstörung, die vor allem vom Intellektualisierungs- und Entzauberungsprozeß der modernen Wissenschaft getragen wurde.35 Durch deren Erosionswirkungen ist heute jeder 141 Sockel abkünftiger Weltanschauung, jedes Fundament herkömmlichen Glaubens erschüttert.

34 35

Karl Löwith: Max Weber und Karl Marx (s.o. Anm. 33), S. 26. Hierzu: Karl Löwith: Die Entzauberung der Welt durch Wissenschaft. Zu Max Webers 100. Geburtstag, in: Merkur 43 (1964), S. 501–519. – Hermann Lübbe: Die Freiheit der Theorie. Max Weber über Wissenschaft als Beruf, in: ARSP 48 (1962), S. 343–365.

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Konnte sich Platon noch in der Illusion wiegen, seine Wissenschaft sei der Weg zum wahren Sein; konnte die Renaissance noch meinen, auf wahre Natur und wahre Kunst abzuzielen; konnte der niederländische Naturforscher Jan Swammerdam im 17. Jahrhundert seine Vorlesung noch mit dem Spruch eröffnen: „Ich bringe Ihnen hier den Nachweis der Vorsehung Gottes in der Anatomie einer Laus!“, sich mithin auf dem Wege zu Gott wähnen, wie sich später desgleichen der Positivismus auf dem Wege zum Glück sah: Heute dagegen ist jeder derartige Optimismus dahin. Rationale Sinnstiftung findet keinerlei öffentlichen Rückhalt mehr; schon gar nicht in der Wissenschaft. Hatte Weber selbst im Werturteilsstreit der Kulturwissenschaft jede Illusion geraubt, daß es für sie so etwas wie einen objektiv begründbaren Sinn geben könnte, so vermag erst recht die moderne Naturwissenschaft kein Mysterium mehr zu enthüllen; stattdessen sieht sie sich einer „offenbaren Geheimnislosigkeit der entzauberten Welt“ konfrontiert: dem Sachverhalt nämlich, „daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne“. Die totale Entzauberung der Welt durch rationalempirisches Durchleuchten, ihre kausal-mechanisch erklärende Auflösung einerseits, ihre unerbittliche Versachlichung durch Bürokratie und Kapitalismus andererseits – all das hat jede Hoffnung auf allgemeinverbindlichen Sinn endgültig zunichte gemacht. Ein unerschöpfliches Arsenal an möglichem Herrschaftswissen gepaart mit einer „positiven Glaubenslosigkeit“ – das sind die Auspizien der Gegenwart. Und die moderne Gesellschaft ist kaum noch in der Lage, ein Hochamt ihrer offiziellen Weltanschauung zu zelebrieren, weil sie eben keine mehr hat. Ihre Grundtatsache ist die, daß sie „in einer gottfremden, prophetenlosen Zeit zu leben das Schicksal“ hat. Ihre spezifische Qualifikation ist die des „religiösen Alltags“; und ihre Situation besteht in einem Pluralismus aus Scharen von Sinnstiftern: ein Polytheismus von antagonistischen Wertentscheidungen und Weltanschauungen, ein bunter Strauß der verschiedensten und gegensätzlichsten Ideologien. Die Pointe Webers besteht nun darin, daß er dieses „Chaos ver 142mittlungsunfähiger, weil weltanschaulich totaler Gegensätze“ (Hermann Lübbe) für endgültig und unwiderrufbar hält. Aus ihrem Antagonismus führt kein Weg zur Einheit; ihr jeweils partieller Charakter läßt sich nur mit Gewalt zur Totalität steigern. Symbolische Integration auf gesellschaftlicher Ebene ist im Unterschied zu Durkheim und Simmel nicht das Zentralproblem Webers, ebensowenig wie abstraktbegriffliche Vermittlung der Gegensätze im Medium der Wissenschaft. Im Gegenteil: Wissenschaft ist für ihn so etwas wie eine besonders scharf konturierende Simulation sozialer Gegensätze. Sie

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kann allenfalls, ja muß „die Unvereinbarkeit und also die Unaustragbarkeit des Kampfes der letzten überhaupt möglichen Standpunkte zum Leben“ zutagefördern. Damit begibt sich Weber in strikten Widerspruch zu Karl Marx. Denn dieser hielt durchaus an der potentiellen Aufhebung der gesellschaftlichen Diskrepanzen fest; genauso wie an der Möglichkeit, den Begriff von Sinntotalität wissenschaftlich zu denken. Mehr noch: Für Marx hatte Wissenschaft, wollte sie überhaupt Produktivkraft im geschichtlich-gesellschaftlichen Fortschritt sein, den Begriff von Totalität gleichsam negativ aus dem Widerspruchcharakter der Gesellschaft herauszuziehen; denn gerade in ihrem Unwesen gibt Sozietät etwas über ihr Wesen zu erkennen. Eine Wissenschaft, die dagegen die sozialen Antagonismen lediglich reproduziert, ist von vornherein als Instrument bürgerlicher Ideologie diskreditiert. Während Marx also die Produktivität von Widersprüchen gerade in ihrer inneren Tendenz zur Auflösung garantiert sieht, rückt demgegenüber Weber von der Unaustragbarkeit gesellschaftlicher Antagonismen nicht ab. Er bejaht sie stattdessen endgültig, weil er gerade in ihnen die allein noch verbliebenen Chancen sozialer Produktivität ausmacht. 4.3 Die Partisanenexistenz des zivilcouragierten Fachmenschen Worin bestehen diese Chancen? Daß die Frage nach den Eingriffsmöglichkeiten des Menschen in historische Entwicklungen genau in diesem Zusammenhang auftaucht; daß ausgerechnet hier der Punkt vorliegen soll, an dem sich Weber das Problem der richtungsweisenden Geschichtsmacht des Menschen stellt – dies muß einige Verwunderung auslösen: Hatte Weber nicht bisher in der rationa 143len Versachlichung, in der Eigengesetzlichkeit des stahlharten Gehäuses, das sich gegenüber jeder Intervention seitens des Menschen als immun erweist, eine Struktur diagnostiziert, deren Quintessenz gerade in der Unabänderlichkeit und Ohnmacht zu bestehen schien? Wo macht er nun – plötzlich, wie es scheint – die Notbremsen ausfindig, die verhindern könnten, daß menschliche Gesellschaftsexistenz eben nicht wie ein Naturereignis dahingleitet – reguliert und kanalisiert vom kapitalistischbürokratischen Apparat? Und: Hatte Weber nicht andererseits die Tendenz zur systematischen Sinnzerstörung soweit dramatisiert, daß Sinn zu stiften, nur noch im Abseits der Gesellschaft, gleichsam als Schrebergartenkultur in peripheren Zonen, möglich erschien? Was veranlaßt ihn nun auf einmal anzunehmen, daß es zwischen der unausweichlichen Alternative von Flucht oder Anpassung noch ein Drittes geben könnte? Tatsächlich hat Weber ähnlich wie Marx seine Analyse der Gesellschaft eher im Sinne einer „Plattform der Negativität“ (Paul Honigsheim) skizziert

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– und das in doppelter Hinsicht: einmal um ihre destruktiven Folgen dingfest zu machen, sozusagen ihre depravierenden Auswirkungen zu entlarven; darüber hinaus jedoch auch, um den Hintergrund zu veranschaulichen, auf dem sich sein positiver Entwurf erst abhebt. Die negative Folie der bürgerlichen Gesellschaft als diagnostisches Kontrastmittel, das auf Heilung und sinnvolle Praxis abzielt – darin besteht die Gemeinsamkeit von Marx und Weber. Ihre jeweiligen therapeutischen Ansätze jedoch unterscheiden sich in den Konsequenzen ähnlich voneinander wie homöopathische und allopathische Behandlungsweise. Vereinfacht ausgedrückt: Während Weber danach forscht, wie sich die kapitalistische Geschwulst mit ihren eigenen Mitteln überlisten läßt, lautet Marx’ Fragestellung: welche (klassenkämpferischen) Injektionen der bürgerlichen Gesellschaft zu verabreichen sind, um sie in den gewünschten Gesundheitszustand zu versetzen. Marx also visiert die Aufhebung jener widersprüchlichen Gesellschaftsbedingungen an, die sowohl die unverbrüchliche Identität als auch die Freiheit des Menschen an ihrer Verwirklichung hindern. Sein Ziel – die „klassenlose“ Gesellschaft als „Assoziation freier Individuen“ – ist nur durch eine Radikalkur, auf den Trümmern der gegenwärtigen Gesellschaft in der Zukunft zu erreichen. Für Weber dagegen stellt sich das Problem gewissermaßen akuter und seine Therapie 144 ist sozusagen geschmeidiger: Ihm geht es darum, unter den Bedingungen der Gegenwart, also auch ihres paradoxen Folgecharakters, „irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinne ‚individualistischen‘ Bewegungsfreiheit zu retten“, „einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele“. Eben darum kann für Weber die gegenwärtige Gesellschaft weder einem pauschal negativem Verdikt preisgegeben, noch darf sie durch ein globalgeschichtliches Raster in ihrer Eigenart abgewertet werden. Vielmehr gilt es, ihre gegenwärtige Widersprüchlichkeit so zu deuten, daß sich gerade darin ihre besondere Qualifikation und zugleich ihre Chance ausdrückt. Die zentrale Formel lautet hier: Politische Existenz ist gegenwärtig und wohl auch zukünftig nur im Modus der Entscheidung möglich;36 die Geschichtsmacht des Individuums unter den Bedingungen der Gegenwart verdichtet sich für Weber im Begriff der Entscheidung. Ihre paradoxe Voraussetzung ist es, erzwungen zu sein; ihre Folge stellt sich in der möglichen Freiheit des Individuums dar; ihr ethisches Merkmal ist die subjektive Verantwortung, und ihr Preis besteht im Verzicht auf Totalität. Die spezialisierte Innenstruktur des kapitalistischen Systems, die Differenziertheit und Komplexität der modernen Gesellschaft garantieren dem 36

Hermann Lübbe: Max Weber und der Dezisionismus, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 18. 4. 1964.

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Individuum aus sich heraus keine Konsistenz der Lebensführung, sondern wirken auf ihr Gegenteil: auf die Zerstückelung der Person. Selbst Anpassung führt allenfalls zum haltlosen Umhertreiben des Individuums in seinen jeweiligen Rollenfunktionen. Einheit der Lebensführung läßt sich dagegen allein durch Entscheidung herstellen. Und in gleicher Weise drängt auch der Polytheismus der Kulturwerte konsequent auf den Fluchtpunkt der individuellen Entscheidung hin: „Die aller menschlichen Bequemlichkeit unwillkommene, aber unvermeidliche Frucht vom Baum der Erkenntnis ist gar keine andere als eben die: um jene Gegensätze wissen und also sehen zu müssen, daß jede einzelne wichtige Handlung und daß vollends das Leben als Ganzes . . . eine Kette letzter Entscheidungen bedeutet, durch welche die Seele . . . den Sinn ihres Tuns und Seins . . . wählt.“ Der gleichsam strukturell erzwungene Entscheidungscharakter ist das spezi 145fische Identitätsmerkmal der Gegenwart, das sie von allen herkünftigen Epochen abhebt. Weber verbucht diesen Vorgang durchaus als Zuwachs an individuellen Freiheitschancen. Denn der einzelne wird in dem Maße zur eigenverantwortlichen Entscheidung freigesetzt, wie sich die verschiedenen metaphysischen und religiösen Weltansichten gegenseitig neutralisieren und dadurch insgesamt ihr jeweiliger Universalitätsanspruch zerbröckelt. Die Verwitterung jeder auf Allgemeinheit zielenden Weltanschauung schafft Raum für den subjektiven Entwurf: „der Geist wird souverän allen Spinngeweben dogmatischen Denkens gegenüber“, schrieb ähnlich auch Wilhelm Dilthey.37 Darin besteht die grundlegende Paradoxie der Gegenwart: Indem sie dem einzelnen Entscheidung abverlangt, ermöglicht sie gerade ihm, was sie zugleich für sich selbst zerstört: nämlich Sinn zu stiften. Allerdings ist damit bisher nicht viel mehr ausgesagt, als daß sinnstiftende Rationalität nach wie vor möglich, ja als subjektiver Entwurf notwendig ist. Soll sie jedoch nicht im Irrationalen steckenbleiben, sondern Wirkung erzielen, so muß Sinn durch Mittel verwirklicht werden. Weil sie sonst bloß romantischer Selbstzweck bliebe, darum muß sich teleologische Rationalität mit instrumenteller verbünden. Dies aber kann nach Webers Ansicht nur gelingen, wenn sich das Individuum bewußt auf die Zweck-MittelStrukturen der Gesellschaft einläßt. Nur wer sein Dasein als spezialisierter Fachmensch willentlich bejaht, wer in das Funktionsgehäuse des Kapitalismus und der Bürokratie, der spezialisierten Einzelwissenschaft und Berufspolitik hineinschlüpft und ihre Sachgesetzlichkeiten virtuos im Dienste der 37

Wilhelm Dilthey: Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, in: Gesammelte Schriften, Band 7, 4. Auflage, Stuttgart/Göttingen 1965, S. 291.

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eigenen Zielsetzung handhabt, – nur der kann auf die gewollten Folgen seines Handelns hoffen. Und nur wer der „Forderung des Tages“ nachkommt, wer sich in klarem Bewußtsein auf die „Plattform der Negativität“ begibt und ihre Spannungen auszuhalten in der Lage ist, dabei gleichwohl selbstverantwortlich und entschieden seinem „Dämon“ folgt – nur der kann die depravierenden Folgen des 146 kapitalistischen Systems und der Verbürokratisierung für sich durchbrechen. Selbstverwirklichung vollzieht sich für Weber mithin nicht in einer vorgeblichen Freiheit von der Gesellschaft, sondern allein in ihr und durch sie; und das heißt: in der „freiwilligen Selbstzerstückelung der Person zu spezialisierten Rollenträgern“. Der berufliche Fachmensch ist der Protagonist realer gesellschaftlicher Freiheit von heute. Er allein ist fähig, subjektiv erfolgte Sinnstiftung zu verwirklichen, indem er sich in die entfremdende Sachstruktur entäußert, um eben diese Entfremdung für sich zu überwinden. Die Paradoxie der kapitalistisch-bürokratischen Folgen ist für Weber in der modernen Gesellschaft also nur dadurch zu unterlaufen, daß sich der einzelne ihnen aus eigener Listigkeit heraus fügt. „Indem er sich diesem Schicksal unterwirft, stellt er sich ihm auch schon entgegen, aber diese Gegenstellung hat zur dauernden Voraussetzung jene vorgängige Unterstellung.“38 Das gesellschaftliche Feld der neuzeitlichen Rationalisierung ist nicht nur das Terrain der Hörigkeit, sondern auch zugleich und ausschließlich der Ort möglicher Freiheit, die sich in Rebellion verwirklicht – eine Rebellion freilich, die von Weber weder als offener, blindwütiger und darin irrationaler Widerstand noch als passiv erleidende Weltabkehr gedacht ist. Vielmehr erfolgt sie in der Art eines individuellen Guerillakampfes. Die Lebensform möglicher Freiheit ist heute die der Partisanenexistenz des zivilcouragierten Fachmenschen. Sein Prinzip lautet: Der scheinbar Schwächere gewinnt – wenn auch nur für sich. Tatsächlich kostet die mögliche Freiheit für das Individuum den Preis, auf „faustische Allseitigkeit“ ebenso zu verzichten wie auf die Denkbarkeit von Totalität überhaupt. Stattdessen gilt es, sich auf Fachspezialisierung und punktuelle Erfolge zu bescheiden. Geschichte ereignet sich allenfalls noch im Mikrokosmos des Individuums als Chance – und zwar als Chance, im Reich des Irrationalen individuell Provinzen sinnstiftender Rationalität zu errichten. Man mag das für einen zeitgemäßen Pyrrhussieg halten: für die Selbstgenügsamkeit einer Don-Quichotte-Mentalität – Weber selbst jedenfalls hat den Erfolg vornehmlich am Identitätszuwachs des Individuums angesichts der rational versachlichten Entfremdungsstruktur des Kapitalismus gemessen. 147 38

Karl Löwith: Max Weber und Karl Marx (s.o. Anm. 33), S. 35.

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4.4 Die Säkularisierungsthese als Leitmotiv Der Webersche Entwurf der fachmenschlichen Existenz in der modernen Gesellschaft ist insofern für die Religionssoziologie von zentraler Bedeutung, weil er von seinen Voraussetzungen her all jene Elemente in nuce enthält, die heute allgemein unter dem Stichwort der Säkularisierungsthese Webers kolportiert werden. Tatsächlich pflegen sich gegenwärtig nahezu alle geläufigen Aussagen zum Komplex der Säkularisierung durch Verweis auf Weber zu legitimieren. Das ist auf den ersten Blick verwunderlich; denn Weber hat seinerseits so etwas wie eine Säkularisierungsthese im Umkreis seiner Religionstheorie kaum systematisch entfaltet. Was er dazu aussagt, ist vielmehr eingeschachtelt in Zusammenhänge, die sich nicht ausdrücklich sozialwissenschaftlich auf die Religion beziehen. 148 In den religionssoziologischen Arbeiten selbst, zumal in den Protestantismus-Studien, tauchen Bemerkungen zur Säkularisierung merkwürdig „angehängt“, gleichsam als Postskriptum auf. Hier scheint es Weber hauptsächlich darum zu gehen, dem Mißverständnis vorzubeugen, er sähe im Kapitalismus eine Art Konfessionensunternehmen. Demgegenüber will er zum Ausdruck bringen, daß er sich sehr wohl bewußt ist: Der moderne Kapitalismus steht heute – wie übrigens auch schon zu Zeiten Calvins – durchaus ohne religiöse Stützen auf eigenen Beinen. Solche Zurechtrückung verbindet sich bei Weber aufs engste mit der Abwehr, sich als Kronzeuge einer ebenso einseitig-monistischen Sichtweise vereinnahmen zu lassen, wie sie anderenorts in vulgärmarxistischer Fassung unter Berufung auf Marx kursierte. Die andere Umgebung, wo Webers Säkularisierungsaussagen zum Vorschein kommen, sind seine Darlegungen zum Wissenschaftsverständnis. Und auch hier tragen sie im gewissen Sinne einen apologetischen Akzent, der sich jedoch nicht primär gegen die Religion als solche richtet. Denn einerseits dienen sie dem Anliegen zu vermeiden, daß Wissenschaft in jene vorgängigen Glaubensentscheidungen und ideologischen Auseinandersetzungen verwickelt wird, die sich über jede rationale Begründung erhaben wissen; es geht also vornehmlich darum, die Werturteilsfreiheit der Wissenschaft im engeren Sinne zu begründen. Andererseits will Weber alle überzogenen Heilserwartungen an die Wissenschaft selbst zurückweisen. Hierbei steht im Vordergrund, die Grenzen der Wissenschaft abzustecken, um das Terrain des wertsetzenden Individuums zu sichern; Säkularisierung wird eher als der Boden betrachtet, auf dem sich politische Existenz überhaupt entfalten kann. Kapitalistisches System, Wissenschaft und Politik – das also sind vor allem die Fixpunkte, auf die sich Webers Aufmerksamkeit konzentriert; und indem er zu ihnen etwas aussagt, fallen fast nur nebenbei auch Bemerkun-

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gen zur Säkularisierung mit ab. Diese allerdings lassen dann auf einen Verständnishintergrund schließen, der für seine gesamte Religionsbetrachtung letztlich konstitutiv wurde. Denn hier zeigt sich vollends, was vorher bereits angedeutet wurde: Daß nämlich einerseits die wissenschaftliche Theoriebildung Webers der religiösen Hermeneutik nachempfunden ist, wie es etwa in der Parallelität von wissenschaftlicher Objektaus 149wahl nach Kulturbedeutung und religiöser Sinnstiftung oder Idealtypus und theologischer Kosmosbildung auch augenfällig wird; daß andererseits eben diese Religion vom Ende ihrer Entwicklung her betrachtet wird; daß es eigentlich die Grammatik der vermeintlich religionsunmöglichen Gegenwart ist, die das Paradigma des historisch-soziologischen Religionsverständnisses bei Weber vorgibt. Nur wenn man diese genau umgrenzte Paradoxie berücksichtigt; wenn man sowohl ihr ausdrückliches Marginalvorkommen als auch ihren mehr versteckten Vorverständnischarakter in Betracht zieht, läßt sich mit Hermann Lübbe feststellen: „Die Art, in der Weber gelegentlich den Begriff der Säkularisierung verwendet, würde es rechtfertigen, seine religionssoziologischen Untersuchungen insgesamt unter diesen Titel zu stellen.“39 Gleichsam als vorgängiges, wenngleich kaum voll entfaltetes Leitmotiv kann das Webersche Säkularisierungsverständnis unter folgenden Aspekten dargestellt werden: a) Die Irrationalisierung der Religion Wie alle Kultur so unterliegt auch die Religion der Paradoxie ihrer geschichtlichen Folgen. Noch der Calvinist drang auf die Entzauberung der Welt, um für den Menschen jenen schrankenlosen Herrschaftsgewinn zu verbuchen, der es ihm ermöglichte, eben diese gefallene, verworfene Welt zur Verherrlichung der göttlichen Majestät aufzubereiten. Je weiter die Entzauberung fortschritt, je radikaler die Welt dem Zugriff gottfremder, magischer Mächte entrissen war, je vollständiger sie in den gestaltenden Händen des Erwählten lag, desto größer die Chance, sie gottgefällig zu durchdringen. Darin lag das Ziel der innerweltlichen Askese des Calvinisten; und darin fand die von ihm entwickelte Herrschaftsrationalität ihre Anbindung. Wenn aber dieser hauchdünne Faden, mit dem der Calvinist noch das kapitalistische System 39

Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg i.B./Münden 1965, S. 69. – Vgl. zu Webers Säkularisierungsthese auch: Trutz Rendtorff: Die Säkularisierungsthese bei Max Weber, in: Max Weber und die Soziologie heute (s.o. Anm. 1), S. 241–245. – Trutz Rendtorff: Zur Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie, in: IJRS 2 (1966), S. 51–72.

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unter Kontrolle zu halten trachtete, zerriß, so war die einmal 150 erworbene Herrschaft entfesselt. Die freigesetzte instrumentelle Vernunft wird zum überwuchernden Selbstzweck. Sie entläßt aus sich heraus keine andere Zielsetzung mehr außer eben die: sich selbst zu erhalten und zu expandieren. Ihre Rationalität verwirklicht sich dabei ausschließlich als instrumentelle und verweist jede darüber hinausgehende Frage nach dem Sinn, dem sie dient, in den Bereich des Irrationalen. Darin liegt nun eine entscheidende Voraussetzung der Säkularisierung: Sinnstiftende und instrumentelle Rationalität falten sich total auseinander. In dem Maße, wie instrumentelle Vernunft in die „säkularen“ Bereiche des Rechts, der Wirtschaft, der Verwaltung, der Politik und schließlich auch der Wissenschaft abwandert, wird sie auf anderer Seite der Religion entzogen. Diese schrumpft zusammen auf ein caput mortuum, auf eine Art Bodensatz ausschließlich sinnstiftender Rationalität, die jedoch, weil sie sich nicht mehr instrumentell vermitteln kann, von ihren Durchsetzungschancen abgeschnitten, zum Inbegriff des Irrationalen wird: zu der „irrationalen oder antirationalen Macht schlechthin“. Das Ende der Religion signalisiert die exakte Umkehrung ihres sozialen Ursprungs und Wesens: Aus einem Medium der Rationalität ist sie zu einer Bastion des Antirationalen par excellence geworden. b) Die Privatisierung der Religion Hinzu kommt ein zweites: Weil sich einerseits instrumentelle Vernunft durch Sinn nicht mehr binden lassen will, weil andererseits jede öffentliche, objektive Sinnstiftung durch den Intellektualisierungs- und Entzauberungsprozeß der Wissenschaft grundsätzlich zerstört ist; weil also gesamtgesellschaftlich vom „deus absconditus schlechthin“ (Rudolf Lennert) auszugehen ist – darum sieht sich Religiosität nurmehr noch auf den Privatbereich verwiesen. Die Entscheidung zur Religion ist nur noch als persönliche möglich und schließt den Verzicht auf Weltgestaltung überhaupt mit ein. Religiosität in der Gegenwart hat das „Opfer des Intellekts“ zur Bedingung und die soziale Ohnmacht zur Folge. Wie „Erlösung von dem Rationalismus und Intellektualismus der Wissenschaft“ nur als persönlich erbrachte Virtuosenleistung, als Bejahung des „credo non quod, sed quia absurdum“, also im religiösen Modus apolitischer Weltabkehr möglich ist, so scheint sich sinnstiftende 151 Rationalität insgesamt nur noch als private Gesinnungsmentalität verwirklichen zu können.

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c) Die Säkularisierungsthese als Konfrontationsschema Doch war dies nicht Webers letztes Wort. Vielmehr hatte er in der politischen Existenz des Fachmenschen gleichsam einen Mitteltyp zwischen dem puren Technokraten und dem reinen Gesinnungsethiker profiliert. Und eben dieser Fachmensch stellt den eigentlichen Gegensatz zum homo religiosus dar. Denn der politische Fachmensch qualifiziert sich durch das Vermögen, in sich sinnstiftende und instrumentelle Vernunft wieder zu vereinigen. Er verwirklicht seine Intention, indem er sich bewußt den Zweck-MittelVerhältnissen der Sozialstruktur aussetzt und von vornherein die Folgeparadoxien seines Tuns einkalkuliert. „Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewußt zu sein.“ Auf umfassende Weltgestaltung um des persönlichen, punktuellen Erfolges willen verzichten; Kompromisse in Kauf nehmen; Mittel, Folgen und Nebenfolgen abwägen; sich dem Risiko des Scheiterns aussetzen – das sind die Tugenden des Verantwortungsethikers, der im modernen Fachmenschen verkörpert ist. Er muß in den Spannungen leben, die ihm die Gesellschaft aufbürdet, um seine Identität zu bewahren. Wer aber „dies Schicksal der Zeit nicht männlich ertragen kann, dem muß man sagen: Er kehre lieber, schweigend, ohne die übliche öffentliche Renegatenreklame, sondern schlicht und einfach, in den weit und erbarmend geöffneten Arm der alten Kirche zurück“. Wer die Reinheit seines Ziels erhalten will, der verzichte lieber auf seine Verwirklichung oder tue Recht und stelle den Erfolg Gott anheim. – Hier sieht Weber den Gesinnungsethiker am Werk. Und dies ist niemand sonst als der homo religiosus, der die Spannungen der Welt löst, indem er ihnen entgeht; oder genauer: indem er sie auf eine einzige reduziert – auf die Differenz des religiösen Lebens zur Welt überhaupt. So sieht Weber die Konfrontation von politischer und religiöser Existenz in der Gegenwart strukturell verankert. Unversöhnlich stehen gegeneinander die verantwortungsethisch handelnde Per 152sönlichkeit des politischen Fachmenschen einerseits, der die schicksalhaft vorgegebene Gesellschaftsstruktur bejaht, sie zugleich jedoch im individuell-autonomen Entwurf unterläuft und just dadurch seine innere Freiheit erwirbt; – und andererseits der gesinnungsethische homo religiosus, der den Zwangscharakter der sozialen Lage ignoriert, indem er sich ihr entweder entzieht in ein „hinterweltliches Reich mystischen Lebens“, oder aber sie chiliastisch zu überrennen sucht, der sozusagen die eigene Moral verstaatlicht – und sei es um den Preis des Terrors.

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Dieses Alternativschema war es, das in gewisser Weise für das gesamte Religionsverständnis Webers grundlegend wurde. Damit es dies werden konnte, mußte er es freilich in die Vergangenheit hinein „übersetzen“. Und genau darin liegt ein elementarer Widerspruch seiner Religionstheorie. d) Die Säkularisierungsthese als Epochenschema Die Übersetzung geschieht bei Weber durch eine Verschiebung des Koordinatensystems: Weil in der Vergangenheit die Verhältnisse der Welt noch wesentlich durch religiöse Kräfte mitgeordnet wurden – repräsentativ sind etwa die jüdischen Propheten oder der Calvinismus –, darum mußte der Kontrast von politischer und religiöser Existenz in die Religion selbst hineingespiegelt werden. Dort ist er dann auch unschwer in dem polaren Kontinuum von weltflüchtiger Mystik und innerweltlicher Askese wiederzufinden, das Weber zur Grundlegung seiner religiösen Vergleichstypologie diente. Für die Gegenwart jedoch wird aus dem innerreligiösen Kontinuum ein Kontrastschema, in dem religiöse und politische Existenz radikal auseinandertreten. Religiöse Gesinnungsethik läßt sich mit politischer Verantwortungsethik nicht mehr vermitteln: Glaube kann „zwar Berge versetzen, aber nicht ruinierte Finanzen und Kapitalmangel sanieren“. Und noch definitiver heißt es an anderer Stelle: „Das Leben des Buddha, Jesus, Franziskus zu führen, scheint unter den technischen und sozialen Bedingungen rationaler Kultur rein äußerlich zum Mißerfolg verurteilt.“ Der Riß zwischen politischer und religiöser Ethik ist nicht mehr zu kitten. Diesen Fundamentalsatz begründet Weber mit der Besonderheit der neuzeitlichen Gesellschaft: mit der Eigendynamik von Kapitalismus und Bürokratie einerseits, mit der Intellektuali 153sierung und Entzauberung durch Wissenschaft andererseits. Das Kontrastschema dient gewissermaßen dazu, das Identitätsprofil der Gegenwart auszuweisen; und das kann nur auf Kosten ihrer Herkunft gelingen: indem die sich abhebt von dem, was sie nicht mehr ist. Als Inbegriff dessen wird die Religion namhaft gemacht. Der Widerspruch eines solchen Verfahrens liegt in der Unterstellung, daß Religion unter den Bedingungen der Gegenwart nicht mehr verkörpern kann, was ihr Weber für die Vergangenheit noch attestiert hätte: nämlich rationale, d. h. sinnstiftende und instrumentelle Beherrschung der Daseinsumstände in einem ebensogut zu sein wie etwa weltflüchtige oder weltangepaßte Mystik. Dieses Urteil Webers ist offenbar an der zeitgenössischen Religion abgebildet, die in all ihren Formen, in denen sie sich zu erkennen gab, nicht mehr die für zeitgemäß befundene Lebensweise hervorbrachte. Der verantwortungsethische Fachmensch agiert vielmehr auf der Plattform der Säkularität. Wo aber manifestierte sich zu Webers Zeiten die Religion?

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Da war zunächst das preußische Staatskirchentum – eng verfilzt mit dem Kaiserhaus und der konservativen Partei, mit dem Junkertum und den Spitzen des Offizierskorps. Eine solche Religion, welche die dilettantische Reichspolitik mit Beifallssalven bedachte und den preußischen Beamtenapparat mit der Patina religiöser Weihen überzog, konnte Weber nicht gefallen. – Da war ferner die „Kaplanokratie“ des Katholizismus, der Prototyp heteronombevormundender Moral, die „schwarze Polizei“ sozusagen, die andererseits jedoch jeden Ansatz selbstkontrollierter, innenbestimmter Lebensführung durch Beichtinstitut und Absolution wieder außer Kraft setzte. – Sodann fingen damals religiöse Schwärmerbewegungen zu florieren an: Meister Eckarts Schriften erlebten eine Renaissance; Rilke, Dostojewski und Kierkegaard erfreuten sich einer Hochkonjunktur – besonders unter den „Kaffeehausintellektuellen“, über deren „etwas geschwätziges sog. ‚religiöses‘ Interesse“, über deren Sehnsucht nach einer „Hauskapelle“ Weber nur noch spöttisch herziehen konnte. Milder beurteilte er demgegenüber die Versuche Stefan Georges, „in einem Zeitalter der Klassenkämpfe und des Kapitalismus“ elementare, religionsähnliche soziale Neubildungen zu finden; jedoch hielt er auch diese schließlich für „einen wundervollen, aber ohnmächtigen Anachronismus“. – Und schließlich gab es noch das liberale protestantische Chri 154stentum, dem Weber selbst nahestand – doch wieder nicht ohne Vorbehalte: Er bewunderte seine ehrliche Bemühtheit, ließ sich aber von seiner Naivität und seinem mangelnden Sachverstand verblüffen. Von einem Besuch auf dem 2. Evangelisch-sozialen Kongreß berichtete er, daß es ihm und seiner Mutter viel Freude machte, „die oft etwas naiven, meist aber originellen Pastoren sich katzbalgen zu hören. Es hat auch etwas Erfrischendes, wenn man sieht, wie beneidenswert leicht sie über wirtschaftliche Probleme, die uns das Hirn zermartern, im Vertrauen auf das bessere Verständnis des lieben Gottes hinwegkommen, ohne daß man sie eigentlich der Oberflächlichkeit zeihen könnte“. Dies also war der zeitgeschichtliche Hintergrund, auf dem Weber zu jener Kontrastierung von politischer und religiöser Existenz gelangte, die in der einen oder anderen Form sein gesamtes (religions-)soziologisches Werk durchzieht. Und nicht zuletzt aus dieser Gegenwart heraus erklärt sich auch die zentrale Bedeutung, die Weber der Religion thematisch in seinem Werke beimißt: Das Identitätsbewußtsein der modernen Gesellschaft, von Weber auf eigene Art genauso auf einen Begriff gebracht wie von Marx, findet in der zeitgenössischen Religion allemal seine dankbarste Negativfolie.

Ethisierung der Religion im gesellschaftlichen Pluralismus, am Beispiel Amerikas: Will Herberg, Gerhard Lenski und Charles Y. Glock

Kaum eine andere Nation der Welt pflegt bei den Europäern soviel Mißtrauen und Bewunderung zugleich auszulösen wie die USA. „Es scheint das herrschende Prinzip der Amerikaner zu sein, nichts so zu machen wie wir“, konstatierte schon im Jahre 1927 der damalige Ministerpräsident Frankreichs André Tardieu. In der Tat, das Erscheinungsbild der „Neuen Welt“ stellt sich dem Außenstehenden – und nicht nur ihm! – widersprüchlich und rätselhaft dar: Expansionsdrang und Abkapselungsneigung haben gleichermaßen zeitweilig die nationale Selbstdarstellung nach außen bestimmt. Man kann Amerika zurecht einen „Schmelztiegel der Völker“ nennen, muß andererseits jedoch auch feststellen, daß es bislang weder die Indianer noch die Neger zu integrieren vermocht hat. Die sozial-ökonomische Struktur der amerikanischen Gesellschaft wird seit Jahrzehnten von der Ideologie einer wohlsituierten Mittelstandsklasse überzogen; dennoch stoßen extremer Reichtum und extreme Armut hier allerorts schroff gegeneinander. Der durchschnittliche Amerikaner ist weit davon entfernt, jene Synthese aus religiösem Pathos und Pragmatismus – den Europäer allenfalls als Philosophie der Kaufleute, Manager und Technokraten gelten lassen – als unvereinbaren Widerspruch zu empfinden.1 201 Nicht weniger vielschichtig und verworren präsentiert sich die religiöse Situation in den USA. Obwohl die Verfassung eine strikte Trennung von 1

Es liegt eine Reihe soziologischer Gesamtanalysen der amerikanischen Gesellschaft vor, u. a.: Ralf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft und Soziologie in Amerika, Frankfurt a.M. 1968. – Geoffrey Gorer: Die Amerikaner. Eine völkerpsychologische Studie, Reinbek 1956. – Max Lerner: Amerika. Wesen und Werden einer Kultur, Frankfurt a.M. 1960. – Dieter Oberndörfer: Von der Einsamkeit des Menschen in der modernen amerikanischen Gesellschaft, Freiburg i.B. 1958. – Werner Sombart: Warum gibt es in den Vereinigten Staaten keinen Sozialismus?, Tübingen 1906. – Robin M. Williams: Die amerikanische Gesellschaft. Soziologie einer Nation, Stuttgart 1953. – Besonders zum amerikanischen Pragmatismus vgl. Ludwig Marcuse: Amerikanisches Philosophieren. Pragmatisten, Polytheisten, Tragiker, Reinbek 1959.

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Staat und Kirche vorschreibt, finden sich doch Glaube und Politik eigentümlich miteinander legiert. Der „protestantische Geist“ herrscht im öffentlichen Leben vor; gleichwohl bestehen Hunderte von konfessionell unterschiedlichen Sekten, Glaubensgemeinschaften, Denominationen und Erweckungsbewegungen nebeneinander. Es existiert keine Volkskirche, keine religiöse Körperschaft des öffentlichen Rechts, keine Glaubensanstalt mit Steuerhoheit; vielmehr wird das religiöse Kaleidoskop Amerikas allein durch die verletzlichen Bande der Freiwilligkeit zusammengehalten; und dennoch: mehr als die Hälfte aller Amerikaner bezeichnet sich als Mitglied einer religiösen Gruppe, nimmt wenn nicht aktiv am Gemeindeleben, so doch regelmäßig am Gottesdienst teil. Daß der paradoxe Charakter ihres Landes auch die religiöse Szene so beeinflußt hat, war für die amerikanischen Soziologen oftmals ein gegebener Anlaß, sich hier der Religion vielleicht intensiver zu widmen als anderswo. So geschah es nicht von ungefähr, daß die amerikanische Religionssoziologie nach dem auferzwungenen Forschungsstillstand während des Zweiten Weltkrieges gerade in Europa richtungsweisende Impulse auslöste. Es gewannen dabei zunehmend auch jene Entwürfe an Beachtung, die teils unabhängig vom Funktionalismus, teils in expliziter Auseinandersetzung mit ihm entwickelt wurden. Vor allem Will Herberg, Gerhard Lenski und Charles Y. Glock repräsentieren diese Richtung. Ihnen allen sind methodologische und theoretische Grundzüge gemeinsam, die sie von der funktionalistischen Schule Parsons’scher Prägung unterscheiden. In methodologischer Hinsicht zeichnen sich ihre Ansätze durch eine systematische Einbeziehung des empirischen Materials aus. Während die Funktionalisten ihr Hauptaugenmerk darauf lenken, das Phänomen der Religion in den Rahmen einer abstrakt-umfassenden Theorie der Gesamtgesellschaft einzubetten, und dabei eine empirische Bestätigung ihrer Aussagen weitgehend außer acht ließen, geht es Herberg, Lenski und Glock gerade um dieses empirische Fundament. Sie versuchen, den religiösen Faktor in allen Bereichen gesellschaftlicher Existenz durch breit angelegte und detailliert ausgefeilte Forschungsunternehmen aufzuschlüsseln, um die so 202 erhobenen Daten begründend in eine plausible Theorie einzufügen. Gerhard Lenski prägte hierfür die programmatische Formel: „Die Theorie muß in der empirischen Forschung ihre Gültigkeit erweisen, und die Ergebnisse der empirischen Forschung müssen in die Theorie eingebaut werden.“2 Diese Vermittlungsabsicht hat jedoch den Verzicht auf das „klassische“ Konzept einer globalen Gesellschaftstheorie zur Folge, deren wissenschaftliche Untermauerung nun als uneinlösbar erscheinen muß. Das gewisserma2

Gerhard E. Lenski: Religion und Realität, Köln 1967, S. 206.

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ßen bescheidenere, andererseits auch aufwendigere Teilprojekt einer „Theorie der mittleren Reichweite“ (Robert K. Merton) tritt in den Vordergrund – freilich ohne daß damit den klassischen Entwürfen der Religionssoziologie generell der Abschied gegeben würde. Im Gegenteil: die Ansätze von Max Weber, Georg Simmel und Emile Durkheim werden in verstärktem Maße als Interpretationsrahmen für die empirischen Fakten herangezogen und durch sie einer detaillierten Prüfung unterzogen. Etwas überspitzt könnte man sagen: Die ausgereiften Methoden sozialwissenschaftlicher Handwerksfertigkeit beginnen, Phantasie und Genialität der soziologischen Pionierzeit zu verdrängen. Im Vergleich zur funktionalistischen Theorie hat die mehr empirisch orientierte Religionssoziologie an plastischer Realitätsnähe und Konkretheit gewonnen. Darüber hinaus eröffneten Herberg, Lenski und Glock aber auch theoretisch neue Perspektiven, die sich stichwortartig nach folgenden Richtungen auffächern lassen: 1. Ausgangspunkt aller drei Entwürfe ist das erklärte Ziel, vor allem die Wandlungsprozesse von Religion und Gesellschaft in ihrem Wechselspiel unter den Bedingungen des sozial-religiösen Pluralismus auf den Begriff zu bringen. Eine globale Integrationsthese – wie sie vielfach in vulgärer Form noch unter den Funktionalisten kursierte – erwies sich ihnen als allzu grobschlächtig, um die stark ausgeprägte Vielfalt und Widersprüchlichkeit der amerikanischen Religionslandschaft stringent zu erhellen. 2. Ein besonderes Interesse gilt den Rückwirkungen des sozial-religiösen Wandels auf die Formen und Inhalte der Religion. Unter dem Stichwort einer „ethischen Kulturreligion“ erarbeiten Herberg, Lenski und Glock eine Art Morphologie, die sich nicht mehr ausschließlich – wenigstens dem Anspruch nach – auf die kristallinen Gestalten institutioneller Kirchlichkeit beschränkt. Vielmehr rücken 203 diejenigen subkulturellen Erscheinungsformen von Religion ins Visier, die auch dem Nicht-Kirchgänger als moralische Operationsgrundlage seines sozialen Alltagsverhaltens dienen. 3. Die Ausweitung der religionssoziologischen Sicht mußte zwangsläufig zur Korrektur jener gängigen Säkularisierungsthese führen, die Religion insgesamt allein durch das repräsentiert sah, was sich in den organisierten Kirchen vorfinden läßt. Die Gleichung „Religion = Kirche“ wurde in dem Augenblick der Inkongruenz überführt, als sich Religiosität auch jenseits der Grenzen sichtbarer Kirchlichkeit aufzeigen ließ.3 Bis zu einem gewissen Grad ist Herberg, Lenski und Glock auf je eigene Art dieser Nachweis gelungen. Trotz unterschiedlicher Akzentsetzungen ziehen sie übereinstim3

Vgl. hierzu das Kapitel „Zum Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion“ in diesem Band s.u. S. 159–199.

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mend das Fazit, daß die moderne Gesellschaft Amerikas durch die ethisierte Gestalt ihrer Kulturreligion längst nicht in dem Ausmaß säkularisiert ist, wie sie selbst zu sein glaubt. 1. Will Herberg Will Herberg trat erstmals im Jahre 1951 mit einem Buch an die Öffentlichkeit, das den Titel „Judaism and Modern Man“4 trug; darin unternimmt er gleichsam als Betroffener den Versuch, Selbstverständnis und Standortbestimmung der jüdisch gläubigen Minderheit in der amerikanischen Gesellschaft zu umreißen. Dieses vorwiegend theologisch-dogmatische Anliegen zeichnet auch seine zahlreichen frühen Aufsätze aus. Schon aus diesem Grunde war es einigermaßen überraschend, daß er im Jahre 1956 mit seiner Studie „Protestant – Catholic – Jew“5 bei den religiös eher „unmusi 204kalischen“ Sozialwissenschaftlern soviel Aufmerksamkeit und Interesse erregte. Tatsächlich enthält das Buch keine neuen Informationen; in ihm sind keine Daten, keine Materialien zu finden, die nicht jeder Soziologe schon vor seinem Erscheinen gewußt haben könnte. Wie überhaupt die Analyse Herbergs den Anforderungen einer empirischen Untersuchung im strengen Sinne nicht gerecht wird. Obwohl er sich bemüht, seine Thesen mit statistischem Material abzusichern, wollte er freilich keine detaillierte Erhebung durchführen. Der aufsehenerregende Grund seines Buches findet sich denn auch auf ganz anderer Ebene: Er ist vor allem in der eigenwilligen Art und Weise zu sehen, wie Herberg längst bekannte Tatsachen von neuem problematisiert, um so schrittweise die Elemente eines Erklärungsmodells zu gewinnen, das die gesamte Bandbreite der amerikanisch-religiösen Szene plausibel erhellt. 4

5

Will Herberg: Judaism and Modern Man. An Interpretation of Jewish Religion, 1951. – Vgl. auch Will Herberg: A Jew Looks at Catholics, in: Catholicism in America, 1953. – Will Herberg: Judaism and Christianity. Their Unity and Differente, in: Journal of Bible and Religion 21 (1953). Will Herberg: Protestant – Catholic – Jew. An Essay in American Religious Sociology, Garden City (N.Y.) 1956; eine überarbeitete und ergänzte Ausgabe erschien 1960. Außer diesem Buch ist noch ein weiterer Aufsatz zum Verständnis der Herbergschen Religionstheorie wichtig: Will Herberg: Religion in a Secularized Society. Some Aspects of America’s Three-Religion Pluralism, in: RRelRes 3 (1962), S. 145– 158; 4 (1962), S. 33–45; teilweise wieder in: Religion, Culture und Society. A Reader in the Sociology of Religion, hg. von Louis Schneider, New York/London/Sydney 1964, S. 591–600.

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1.1 Die religiöse Erweckung der dritten Generation Unmittelbaren Anlaß zur Analyse bot Herberg der „religiöse Aufschwung“ in den Vereinigten Staaten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Rein statistisch betrachtet drückte sich darin nichts anderes aus als die Fortsetzung einer jahrzehntelang halbwegs konstanten Wachstumsbewegung in der nominellen Kirchenmitgliedschaft der Amerikaner. Dieser Aufwärtstrend läßt sich an den folgenden Zahlen belegen: um 1800 waren 10–15% der Gesamtbevölkerung Kirchenmitglieder um 1900 36% 1926 46% 1950 57% 1953 59,5% Die Zahl der Kirchenmitglieder stieg von 1926 bis 1953 um fast 60% an, wohingegen die Gesamtbevölkerung im gleichen Zeitraum nur um 28,6% zunahm. Das Wachstum der Kirchen war also nicht auf eine Steigerung der natürlichen Geburtenrate zurückzuführen; vielmehr bekannten sich tatsächlich immer mehr Amerikaner zur Kirche, die ihr vorher nicht angehört hatten. Aus der Statistik geht auch hervor, daß die Entwicklung keineswegs eine Besonderheit der fünfziger Jahre war, sondern ihre Wurzeln bis in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg hineinreichen. 205 In anderer Hinsicht jedoch waren nach 1945 Symptome auffällig, die die religiöse Erweckung als Novum erscheinen ließen: Es verbreitete sich ein zunehmendes Interesse an religiösen Fragen in den Massenmedien; es fand eine Explosion der religiösen Literatur auf dem allgemeinen Büchermarkt statt, und religiöse Aktivitäten stiegen überall in der Gesellschaft sprunghaft an. Das alles war in der Tat eine qualitativ andersartige Zuwendung zur Religion als die bloße Statistik zu erkennen gab. Wie waren diese Anzeichen zu erklären: als zeitweiliger Nachholbedarf, als kurzfristiger Modetrend oder als konstante Fortsetzung einer jahrzehntealten Aufwärtsbewegung? Wie war der religiöse Aufschwung gerade angesichts einer sich fortschreitend säkularisierenden Gesellschaft zu verstehen? Genau dies ist das Paradoxon, das Soziologen lange Zeit beschäftigt hat6 und dem auch Herbergs Erklärungsversuch gilt. Dabei geht er von der Grundannahme aus, daß die ge6

Neben Herbergs Buch vgl. hierzu auch seinen Aufsatz: The Postwar Revival of the Synagogue, in: Commentary 9 (1950). Die sich hieran anschließende Diskussion über den amerikanischen religiösen Aufschwung läßt sich an folgenden Beiträgen rekonstruieren: William H. Whyte: The Organization Man, New York 1956;

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meinsame Quelle der widersprüchlichen Erscheinungen in dem besonderen Charakter der USA als einer Einwanderernation zu finden sei. Die heutigen Vereinigten Staaten sind aus einer Vielzahl von ethnisch unterschiedlichen Gruppen zu einem „Schmelztiegel der Völker“ zusammengewachsen, was ihnen stets einen dynamischen Charakter verlieh, der noch zusätzlich durch die Konflikte zwischen den Einwanderergenerationen verstärkt wurde. In dieser letzten, sozusagen geschichtlich-vertikalen Dynamik sieht Herberg die ausschlaggebende Ursache der paradoxen Situation von zunehmender Säkularisierung einerseits und gesteigerter Religiosität andererseits. Zu ihrer genaueren genetischen Erklärung entwickelt er eine Drei-GenerationenHypothese, die hier am Beispiel der polnischen Einwanderungsgruppe beschrieben werden soll: 206 Die Angehörigen der ersten Generation der Polen, die am Anfang dieses Jahrhunderts nach Amerika kamen, waren in ihrer alten Heimat größtenteils Bauern gewesen und hatten in wirtschaftlicher Armut und sozialem Elend gelebt. Die Hoffnung auf reichere Lebenschancen jenseits des Atlantiks hatte sie zur Auswanderung bewogen. Im Vergleich zur polnischen Situation verbesserte sich in Amerika tatsächlich ihre ökonomische Lage. Andererseits waren sie in den Augen der dort bereits Ansässigen noch Ausländer. So suchte jeder Pole Rückhalt in der eigenen ethnischen Gemeinschaft, die intensiv die Tradition der Sprache, des Lebensstils und der Religion pflegte. Demgegenüber stellten sich die Verhältnisse für die Angehörigen der zweiten Generation ganz anders dar: Sie kannten die bedrückenden Lebensumstände der alten Heimat nicht mehr aus unmittelbarer Anschauung und konnten deshalb auch den relativen Fortschritt nicht ermessen, den ihnen die neue Situation in Amerika bot. Sie blickten nicht zufrieden zurück, sondern gewissermaßen unruhig nach vorn: Sie sahen die Vereinigten Staaten als ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten und offenen Chancen an, von denen sie selber noch ausgeschlossen waren. Ihr sehnlichster Wunsch bestand darin, „ganze“ Amerikaner zu werden und am Reichtum dieses Landes unbeschränkt teilzuhaben. Da sie aber ihre eigene ethnische Herkunft daran hinderte, rebellierten sie dagegen: So nahmen sie das Risiko auf sich, als Ballast abzuwerfen, was ihre Eltern noch als sichernde Traditideutsch: Herr und Opfer der Organisation, Düsseldorf 1958. – Michael Argyle: Religious Behaviour, Glencoe (Ill.) 1958. – Arthur R. Eckardt: The Surge of Piety in America. An Appraisal, New York 1958. – Charles Y. Glock: The Religious Revival in America?, in: Religion and the Face of America, hg. von Gordon C. Zahn, Berkeley (Cal.) 1958, S. 25–42. – Seymour M. Lipset: Religion in America: What Religious Revival?, in: Columbia University Forum 2 (1959). – Martin E. Marty: The New Shape of American Religion, New York 1959.

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on gepflegt hatten – darunter auch die überkommene Religion. Die Folge war, daß die zweite Generation eine instabile Existenz am Rande der Gesellschaft führte; sie lebte in der Grenzsituation der „lost generation“. Sie wollte nicht mehr polnisch sein, war andererseits aber auch nicht voll und ganz in die amerikanische Gesellschaft integriert, die damals noch stärker als heute von den weißen, protestantischen Angelsachsen dominiert wurde. Wiederum wesentlich anders nahm sich die Situation für die Angehörigen der dritten Generation aus. Weder gesellschaftliche Integration noch wirtschaftliche Diskriminierung stellten für sie noch ernsthafte Probleme dar. Durch die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg waren sie gleichsam über Nacht zu „echten“ Amerikanern geworden. Sie konnten sich darum den Luxus leisten, andere Probleme zu haben. Tatsächlich wollten sie innerhalb der protestan 207tisch-angelsächsisch beherrschten Kultur Amerikas eine betonte Distanz bewahren, nicht aber im amorphen Brei des Amerikanertums aufgehen, was für sie einer totalen Vermassung gleichkam. So beanspruchten sie eine eigenständige Identität: Sie wollten einen besonderen Typ des Amerikaners darstellen. Doch in welchem Maße durften sich die Angehörigen der polnischen Gruppe vom durchschnittlichen Amerikaner abgrenzen, ohne zugleich wieder als Außenseiter zu gelten? Herberg behauptet nun, daß sie das Identitätsproblem sozusagen nostalgisch lösen: Die Enkel erinnern sich wieder dessen, was die Söhne verdrängen wollten und die Großväter noch gepflegt hatten. Insbesondere die Religion war es, die in ihrer allgemein konfessionellen Ausrichtung zum typischen Differenzierungsmerkmal wurde. Denn die religiöse Verbundenheit konnte durchaus einen eigentümlichen Standort anzeigen, ohne damit sogleich die erreichte Integration wieder aufs Spiel zu setzen. Gleichzeitig polnischer und amerikanischer Nationalität zu sein – dies hätte unweigerlich zu Konflikten geführt; dagegen ließ es sich sehr wohl vereinbaren, als Amerikaner noch obendrein der katholischen Konfession anzugehören. Mit ihrer Neigung, sich als Besonderes auszugeben, war die Religion geradezu prädestiniert, eine Zitadelle der Selbstbehauptung und Abschirmung gegen die Nivellierungserscheinungen der amerikanischen Einheitskultur zu bilden. 1.2 Szene des religiösen Pluralismus Auch für die Gesamtgesellschaft der USA war die allgemeine Aufwertung der Religion folgenreich: bedeutete sie doch deren allmähliche Umwandlung von einem einfachen protestantisch dominierten Schmelztiegel der Völker in einen dreifachen Schmelztiegel der Konfessionen; der

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konfessionelle Pluralismus avancierte gleichsam unter der Hand zu einem grundlegenden Ordnungs- und Regelungssystem der Gesellschaft. Nach Gerhard Lenski wird vom Pluralismus der Religionen dann gesprochen, „wenn organisierte religiöse Gruppen mit unterschiedlichen, nicht zu vereinbarenden Glaubenssystemen und religiösen Praktiken gezwungen sind, innerhalb der Grenzen der gleichen . . . Gesamtgesellschaft zu koexistieren“7. Auch Herberg beschreibt die 208 beiden Kehrseiten des Phänomens: Einerseits die „Versäulung“ des sozialen Systems, die Auffächerung der amerikanischen Gesellschaft in drei relativ stabile und weitgehend in sich abgeschlossene Konfessionsstränge; andererseits die „Entsäulungstendenzen“: die Notwendigkeit der Koexistenz und Annäherung.8 Die amerikanische Gesellschaft insgesamt ist in drei konfessionelle Subkulturen unterteilt. Jede große Religionsgemeinschaft erfüllt für sich bestimmte, darunter auch viele nichtspezifisch religiöse Bedürfnisse ihrer Mitglieder. Dazu besitzt jede Konfession parallele Organisationen: Freizeiteinrichtungen, karitative Verbände und eigene Presseorgane. Darüber hinaus hat jede Konfession ein weitverzweigtes Ausbildungssystem in eigener Regie, das vom Kindergarten bis zur Universität reicht. Aber auch andere Faktoren stabilisieren die Trennung. So bildet jede Konfession spezifische Klischees von den anderen heraus, was etwa der Katholik John F. Kennedy im Präsidentschaftswahlkampf 1960 deutlich zu spüren bekam. Daß häufig Protestanten nur Protestanten heiraten (bei Katholiken entsprechend) – auch dieser Umstand ist nicht zuletzt auf die Wirksamkeit konfessioneller Fremdbilder zurückzuführen. 7

8

Gerhard E. Lenski: Religious Pluralism in Theoretical Perspective, in: IJRS 1 (1965), hg. von Joachim Matthes, S. 25. Das Konzept der Versäulung im sozialen Pluralismus wurde zuerst in den Niederlanden von Jakob P. Kruijt und Walter Goddijn entwickelt; vgl. dazu deren Beitrag: Versäulung und Entsäulung als soziale Prozesse, in: Soziologie und Gesellschaft in den Niederlanden, hg. von Joachim Matthes, Neuwied/Berlin 1965, S. 115–149. – Jakob P. Kruijt: Verzuiling, Zaandijk 1959. – Jakob P. Kruijt: The Influence of Denominationalism an Social Life and Organisational Patterns, in: ASRel 8 (1959), S. 105–111. – Die Theorie ist vor allem von Moberg auf die amerikanische und von Matthes auf die deutsche Situation übertragen worden; vgl. David O. Moberg: Religious Pluralism in the United States of America, in: IJRS 1 (1965), S. 69–112. – David O. Moberg: Religion and Society in the Netherlands and in America, in: SC 9 (1962), S. 11–19. – Joachim Matthes: Le pluralisme vertical en Allemagne, in: SC 9 (1962), S. 21–38. – Joachim Matthes: Religionszugehörigkeit und Gesellschaftspolitik, in: IJRS 1 (1965), S. 43–68. – Zur Analyse des religiösen Pluralismus insgesamt vgl. auch den einschlägigen Abschnitt in: Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 2, Reinbek 1969, S. 128–139.

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Dennoch brechen nur selten zwischen den Konfessionen offene Konflikte aus: vor allem deswegen nicht, weil sich zwischen den jeweiligen Hoheitsgebieten gleichsam eine konfliktverdünnte Puffer 209zone erstreckt, in der sich die Kirchenvertreter zu begrenzter pragmatischer Kooperation zusammenfinden. So wissen sich alle Kirchen und religiösen Gruppen in der Bekämpfung des sozialen Elends, des Kommunismus und des Alkoholismus einig. In dieser Praxis des „interfaith“ finden sie ihren kleinsten gemeinsamen Nenner. Darüber hinaus wirkt auch die institutionalisierte Konfliktregelung in den ökumenischen Gremien dämpfend auf konfessionelle Gegensätze. Neben dieser begrenzten ökumenischen Zusammenarbeit findet sich jedoch noch eine weitaus solidere Basis der Gemeinsamkeit: jene Überschneidungsfläche nämlich, in der alle Konfessionen zu gleichen Teilen an der gesellschaftsumspannenden Kultur und an der grundlegenden Wertbasis des amerikanischen Volkes partizipieren; dort also, wo sie bis zur Unkenntlichkeit eine Synthese mit der allgemeinen Kultur Amerikas eingegangen sind. Nicht zufällig hat etwa der deutsche Theologe Paul Tillich 1936 nach seiner Emigration in die USA gerade dort die These vertreten können: „wie Kultur in der Substanz Religion ist, so ist Religion in der Erscheinungsform Kultur“.9 Denn in kaum einem anderen Land ist die Verschränkung von kulturellen und religiösen Werten derart ausgeprägt wie in Nordamerika: Wie jede Konfession gleichsam von der Patina der amerikanischen Kultur überzogen ist, so stellt jede für sich umgekehrt eine Wurzel dieser Kultur dar. 1.3 Funktionen der Kulturreligion Ein umfangreicher Teil der Analyse Herbergs bezieht sich darauf, Art und Funktionalität dieses eigentümlichen Beziehungsgeflechts durch eine Theorie der Kulturreligion auszudeuten. Im einzelnen identifiziert er die folgenden Funktionsbündel, die alle Konfessionen über ihre jeweils spezifischen Aufgaben hinaus als Part der allgemeinen Kulturreligion erfüllen: 1. Die symbolische Integration im Amerikanismus. Die Kulturreligion hat die Gestalt einer die Konfessionen netzartig überspannenden Super-Religion, die sich nach dem Grundmuster der amerikanischen Nationalkultur konstituiert. Sie stellt sich als das orga 210nische System des gesellschaftlichen Allgemeinguts dar. In ihr symbolisiert sich die Einheit des ansonsten recht mannigfaltigen Amerikanertums, deren Grundordnung regelmäßig durch 9

Paul Tillich: Auf der Grenze, München/Hamburg 1964, S. 41. – Zum gesamten Komplex der Kulturreligion vgl. den entsprechenden Abschnitt in: Joachim Matthes, Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 8), S. 140–149.

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Rituale geheiligt und stabilisiert wird: Nationalfeiertage nehmen das Gepräge religiöser Versammlungen an; Festreden sind vom Vokabular und Pathos der Religion durchsetzt, und nicht selten findet sich neben dem christlichen Kreuz das Nationalemblem der „Stars and Stripes“. So manifestiert sich im Kult des Amerikanismus die tragende Basis des allen Amerikanern gemeinsamen Nationalgefühls, dessen wichtigste Sozialfunktion die Integration darstellt. „Auf höchster abstrakter Ebene der Werte und Symbole hat die Religion in Amerika genügend gemeinsame Züge, um sich in ihrer Gesamtheit als vereinheitlichender Faktor zu erweisen.“10 Besonders die verschiedenen ethnischen Gruppen finden sich mit der Zeit auf der gemeinsamen Basis zusammen. Die allgemeine Religion des Amerikanismus enthält sozusagen das Reglement, nach der sich die jeweils konfessionell betriebene Transmutation der Völkergruppen in „echte“ Amerikaner vollzieht. So hat vor allem der Katholizismus durch sein stark versäultes Erziehungssystem die katholisch gläubigen ethnischen Minderheiten – etwa Italiener, Spanier, Portugiesen und Polen – erfolgreich in Amerikaner verwandelt; nur die ebenfalls katholischen Mexikaner und Puerto-Ricaner widersetzen sich beharrlich einer Anpassung an die Zentralkultur, die man spöttisch einmal als seltsames Gemisch aus sanitären Anlagen, Chancengleichheit, Coca-Cola und einem fanatischen Glauben an die Erziehbarkeit des Menschen beschrieben hat. 2. Die Vergesellschaftung im mittelständischen Wertkontinuum. Nicht nur Nationalismus, sondern auch protestantischer Geist angelsächsischer Prägung dominiert die amerikanische Kulturreligion: der Individualismus mit seiner Betonung von menschlicher Würde, Freiheit und Unabhängigkeit, Eigenverantwortung und Selbsteinschränkung; die Überzeugung vom unübertrefflichen Wert der Demokratie; eine profilierte Wettbewerbsethik, die sich auf die Annahme einer zwangsläufigen Kausalität von Moral und Erfolg stützt; Aktivismus, Dynamik, Mobilität und Anpassung; und schließlich ein grundsätzlicher Optimismus: ein unerschütterlicher Glaube an die Perfektionierbarkeit der Welt und des Menschen. 211 Offensichtlich ist in diesem Wertkatalog die protestantische Ideologie der amerikanischen Mittelklasse repräsentiert. Der Bourgeoisie der Vereinigten Staaten ist es gelungen, das eigene Interesse, die eigenen Motive und Wertsetzungen in der Kulturreligion zu einer Angelegenheit der gesamten Gesellschaft zu machen. Das Ethos der Mittelklasse steht ebenso im Zentrum des amerikanischen Wertsystems, wie das Bürgertum selbst den Schwerpunkt der Statushierarchie bildet. 10

Robin M. Williams: Die amerikanische Gesellschaft (s.o. Anm. 1), S. 343.

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3. Die soziale Kontrolle der Umgangshygiene. Schließlich erfüllt die allgemeine Kulturreligion die Funktion, den sozialen Umgang im Alltag zu moralisieren. Sie will nicht nur „echte“, nicht nur „respektable“, sondern auch „ordentliche“ Amerikaner hervorbringen. – Im allgemeinen erzeugt die Heranbildung des Individuums in einer Kultur sein Gewissen; also jene innere Stimme, die jedem sagt, was er zu tun und zu unterlassen hat. Seit jeher ist der religiöse Glaube der Amerikaner in besonderer Weise moralisch konkret gewesen. In dieser Eigenschaft fungiert er gleichsam als ein ethischer Kompaß, der verläßlich jene Selbstverständlichkeiten anzeigt, nach denen man sich im Alltagsleben verhalten muß, weil es allgemein für gut und nützlich befunden wird. Der verinnerlichte Glaube der Kulturreligion ist somit die operative Grundlage des „American Way of Life“. Er legt die Richtung des korrekten Verhaltens fest, das durch staatliche Gesetze und behördliche Anordnungen nicht mehr erfaßt wird. Doch beanspruchen die Alltagsregeln nicht weniger Autorität als jene; im Gegenteil: jede Nichtbeachtung des Umgangskodex’, jeder Verstoß gegen seine Bestimmungen zieht ebenso automatisch wie unnachsichtig Bestrafungen und Sanktionen nach sich: Wer seine Freunde behalten will; wer sich verträglichen Umgang mit Arbeitskollegen wünscht; kurz: wer um seine seelische und soziale Gesundheit besorgt ist, tut gut daran, vom Weg des normalen amerikanischen Lebens nicht abzukommen. So ist die Kulturreligion in ihrer moralisierenden Gestalt als Kontrolleur der sozialen Umgangshygiene wirksam. 1.4 Transzendenzverlust des Menschen? All diese Funktionsbeschreibungen haben im Ergebnis Will Herberg zu dem Schluß veranlaßt, daß in der amerikanischen Religion die Bedeutung der horizontalen zwischenmenschlichen Ethik 212 und Moral gegenüber der Dimension vertikaler Transzendenz erheblich überwiegt. Schon vor ihm hatte sich Alexis de Tocqueville 1833 (!) die Frage gestellt, ob die amerikanische Religion eher mit dem „ewigen Glück in einer anderen Welt“ oder mehr mit dem „Wohlstand auf dieser Welt“ befaßt sei. Und in jüngster Zeit konstatierte Ralf Dahrendorf ironisch in diesem Zusammenhang „ein sehr kurzes metaphysisches und ein sehr langes moralisches Ende“: „Auf die Anrufung Gottes folgen sogleich die Regeln des Verhaltens . . .“11. Tatsächlich hat die amerikanische Kulturreligion nach Herbergs Ansicht weitgehend einen undogmatischen l’art-pour-l’art-Charakter angenommen. Sie ist abgeflachter „Glaube an den Glauben“, hinter dem sich weder ernsthaftes Engagement noch tiefgreifende Existenzentscheidung verbergen: 11

Ralf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung (s.o. Anm. 1), S. 30.

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Die Religion ist gleichsam zu einem hohlen Gefäß erstarrt, in das nun ungehindert überfremdende Elemente einströmen können; insbesondere Nationalideologie und mittelständischer Wertglaube haben die Religion in den USA kompromittiert und verwässert. Dogmatische Restbestände leistet sie sich allenfalls noch als schmückendes Ornament. In Wahrheit aber ist sie ihrer Substanz nach vollständig ethisiert; das heißt: auf ein moralisches Minimum verkürzt, das die gesellschaftliche Anpassung um jeden Preis zum zentralen Grundmuster der Religion erklärt. Einem solchen Ergebnis gemäß kann Herberg das Paradox vom religiösen Aufschwung bei gleichzeitiger Säkularisierung, von dem er anfangs ausgegangen war, leicht als Scheinparadox entlarven: Der Säkularismus ist sozusagen in die Bastionen der Religion selbst eingebrochen; Religion ist von innen her verweltlicht worden. Nur um den Preis der Inflationierung ihres überlieferten und traditionell distinkten theologischen Gehalts, nur unter Verzicht auf die ihr eigene Transzendierungskraft konnte die Religion in den USA eine derartige Verbreitung und Popularisierung gewinnen. So ist im Fazit gerade „die theologisch unbefriedigende Situation der Kirche . . . die Voraussetzung ihrer Integration in die moderne Gesellschaft“12. 213 Doch kann man hier kritisch fragen, welchen Erklärungswert die vermeintlich soziologisch abgesicherte Formel vom „Transzendenzverlust des Menschen“ tatsächlich hat? Herbergs Fazit lautet: Religion ist zu einer Form allgemeingewordenen Bewußtseins erstarrt, das die inhaltliche Bestimmtheit seiner Herkunftsgeschichte verloren hat. Aber gewinnt ein solches Resultat nicht erst dadurch an Bedeutung, daß sich dahinter ein theologisches Interesse verbirgt? – Und zwar das Interesse, eben die Bestimmtheit der dogmatischen Erbschaft zu erhalten und an der Elle ihres Anspruchs das soziale Erscheinungsbild der Religion zu messen. Dies ist letzlich „prophetische Kritik“ an den Kirchen, die ihr eigenes Recht haben mag; kaum aber läßt sich der Abweichungsgrad von kirchlich-traditionellen Normen in der sozialen Gestalt der Religion soziologisch festmachen und leichthin mit dem Stigma der „Anpassung“ belegen. Dennoch hat Herbergs Studie „Protestant – Catholic – Jew“ in anderer Hinsicht der Religionssoziologie den Weg zu neuen Ansätzen und Sichtweisen geebnet. Wichtig ist vor allem sein Beitrag zu einer soziologischen Theorie der Kulturreligion, in der „die vielfältig vermittelte Einheit von Gesellschaft, Kultur und Religion gegenüber einer Analyse des institutionali-

12

Diese von Herberg stark beeinflußte These stellt Kehrer aufgrund eigener Untersuchungen in Württemberg auf: Günter Kehrer: Das religiöse Bewußtsein des Industriearbeiters. Eine empirische Studie, München 1967, S. 193.

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sierten Sektors expliziter Religion in den Vordergrund tritt“13. In diesem Rahmen stellt Herberg pointiert die Frage, wie Religion auch in ihrer kulturell transformierten Gestalt das gesellschaftliche Verhalten und Bewußtsein der Menschen beeinflußt. 2. Gerhard Lenski Die Frage nach dem verhaltensregelnden Stellenwert der Religion wurde auch andernorts aufgegriffen und gewissermaßen empirisch „vertieft“: Sie stand im Mittelpunkt eines breit angelegten Forschungsprojektes, dessen Leiter Gerhard Lenski war, Professor für Soziologie an der Universität von Michigan in Ann Arbor. Nach Abschluß mehrjähriger Vorplanungen begann er 1952 mit einer Repräsentativerhebung, über die er erst neun Jahre später einen zusammenfassenden Bericht unter dem Titel „The Religious Factor“ vorlegen konnte; die deutsche Übersetzung „Religion und Realität“ erschien im Jahre 1967. Obwohl Lenski selbst diesen For 214schungsreport eher als eine Zwischenbilanz konzipiert hatte, gewann er in Fachkreisen doch sehr bald nach seinem Erscheinen einhellig den Ruf, „die wohl bedeutendste religionssoziologische Publikation seit Kriegsende“ zu sein.14 Tatsächlich hat kaum eine andere Untersuchung vorher die Frage nach dem 13 14

Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 8), S. 140. So: Joachim Matthes: Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 1, Reinbek 1967, S. 108. – Ähnlich auch: Peter L. Berger: Kirche ohne Auftrag. Am Beispiel Amerikas, Stuttgart 1962, S. 189. – Demosthenes Savramis: Religionssoziologie. Eine Einführung, München 1968, S. 103. – Von Lenskis Arbeiten zur Religionssoziologie sind zu erwähnen: Gerhard E. Lenski: The Religious Factor. A Sociologist’s Inquiry, New York 1961; 2. Auflage 1963; deutsch: Religion und Realität. Eine Untersuchung über den Stellenwert der Religion in einer Industriegroßstadt, Köln 1967. – Gerhard E. Lenski: Social Correlates of Religious Interest, in: American Sociological Review 18 (1953), S. 533–544. – Gerhard E. Lenski: Religion and the Modern Metropolis, in: RRR 1 (1959). – Gerhard E. Lenski: Religion’s Impact an Secular Institutions, in: RRR 4 (1962), S. 1–16. – Gerhard E. Lenski: The Sociology of Religion in the United States, in: SC 9 (1962), S. 307–337; deutsch: Die Religionssoziologie in den Vereinigten Staaten von Amerika. Ein Bericht über die theoretisch orientierte Forschung, in: Probleme der Religionssoziologie, hg. von Dietrich Goldschmidt/Joachim Matthes, Sonderheft 6 der KZSS, Köln/Opladen 1962, S. 123–148. – Gerhard E. Lenski: Religious Pluralism in Theoretical Perspective (s.o. Anm. 7). – Über Lenski vgl. Gary D. Bouma: Beyond Lenski. A Critical Review of Recent „Protestant Ethic” Research, in: Journal of Scientific Study of Religion 12 (1973), S. 125–132.

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religiösen Faktor im gesellschaftlichen Verhalten mit solcher methodischen Präzision aufgeworfen, mit derartiger forschungstechnischen Akribie verfolgt und mit solcher hohen theoretischen Plausibilität beantwortet wie gerade das Lenski’sche Projekt. 2.1 Stadt ohne Religion? Ort seines sozialwissenschaftlichen Unternehmens war Detroit am ErieSee – jene nordamerikanische Industriegroßstadt, die in ihrer sozialen und wirtschaftlichen Struktur manche Parallele zum Kölner Ballungsraum aufweist: gemeinsam sind beiden Regionen die Flußlage, die Ansiedlung von Automobilwerken und chemischer Industrie sowie die Existenz zahlreicher Mittel- und Großbetriebe. Im Unterschied zur deutschen Bischofsstadt am Rhein hat Detroit jedoch keine ehrwürdige Geschichte vorzuweisen: Die Stadt wurde erst im 18. Jahrhundert von katholischen Einwanderern aus Frankreich 215 gegründet; seitdem wuchs sie zu einem riesigen konfessionellen, ethnischen und rassischen „mushroom“ heran, der heute alle charakteristischen Merkmale einer modernen Industriegroßstadt trägt. Besonders in Amerika begleitete während der letzten hundertfünfzig Jahre das sprunghafte Anwachsen der Städte die nicht minder rapide Industrialisierung. Während um 1800 noch die Mehrheit der amerikanischen Bevölkerung auf dem Lande lebte, verteilte sich 1950 bereits ein Drittel auf nur vierzehn Großstädte. Diese Entwicklung stellte gleichsam nur das statistische Rohskelett eines umfassenderen Strukturwandels dar; denn der Verstädterungstrend birgt allgemein teils als Spiegelreflex, teils als Anstoß all jene qualitativen Veränderungen der Lebensformen in sich, durch die Gesellschaft in ihrer Modernität gekennzeichnet ist: Komplexität und Arbeitsteilung, hoher Organisationsgrad und Rationalisierung, Pluralismus der Weltanschauungen und Wertsysteme, Mobilität und Differenziertheit – was immer man sonst als typische Anzeichen ausmachen kann, stets lassen sich all diese Merkmale im urbanen Lebensraum strategisch verankern oder zumindest paradigmatisch aufzeigen. In der modernen Industriegesellschaft ist die Großstadt zum zentralen Kristallisations- und Knotenpunkt geworden. Es verwundert daher nicht, daß die Soziologie gerade diesen moderngesellschaftlichen Urbanisierungsprozeß immer wieder erneut zum Gegenstand ihrer Theoriebildung und zur Zielscheibe ihrer Kritik ausgewählt hat. Auch Lenski findet hier seinen theoretischen Ausgangspunkt. Er greift auf eine der prominentesten Verstädterungsthesen der Soziologie zurück: auf die Gemeinschaft-Gesellschaft-Typologie von Ferdinand Tönnies.15 15

Ferdinand Tönnies (1855–1936) war Professor für Philosophie und Soziologie in

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Tönnies hatte das Verhältnis von Stadt und Land bis zu einem gewissen Grade mit dem Antagonismus zwischen Gesellschaft und Gemeinschaft korreliert. Die ländlichen Lebensformen der familiären Eintracht, der dörflichen Sittenstrenge und der religiösen Verbundenheit galten ihm als Inbegriff von Gemeinschaft. Dagegen sah er in den Konventionen, in der Politisierung und im Öffentlichkeitsanspruch der Großstadt typische Merkmale von Gesellschaft. Die Verschiebung des Brennpunktes vom Dorf zur Stadt; die Bedeutungsverlagerung von der Gemeinschaft zur Gesellschaft 216 betrachtete er als Wesensbestimmung der Modernität, die er freilich immer mehr in Kategorien der Auflösung, des Zusammenbruchs und des Verfalls beschrieb. Seine These gipfelte schließlich in einer pessimistischen Katastrophenmeldung: Die Entflechtung des engen Zusammenhalts und die Lockerung der moralischen Kontrolle in der Stadt waren ihm gleichbedeutend mit einem allgemeinen Trend zur Anonymisierung des menschlichen Umgangs; und der Abbau des festgefügten lokalen Autoritätsgefüges, die Auffächerung des sozialen Lebens in einzelne Teilsektoren hatten seiner Ansicht zufolge die Atomisierung der menschlichen Existenz überhaupt zur Konsequenz. Weniger diese kulturkritischen Untertöne als vielmehr die analytischbeschreibenden Aspekte der Theorie Tönnies’ nimmt Lenski als Hintergrund seiner eigenen Fragestellung: Wieweit ist die Religion in den Urbanisierungsprozeß miteinbezogen und ihrerseits durch ihn betroffen? Die von Tönnies angenommene historische Zwangsläufigkeit müßte sich auch auf die Religion in mehrfacher Hinsicht ausgewirkt haben: Zum einen wäre die Religion ihrerseits mit in den Strudel des sozialen Strukturwandels hineingezogen, der als umfassender Differenzierungsprozeß die Gesellschaft in eine Vielzahl relativ selbständig funktionierender Teilbereiche parzelliert hat. Neben Familie, Politik, Wirtschaft, Freizeit, Erziehung und Wissenschaft wäre auch die Religion in der großstädtischen Gesellschaft zu einem besonderen Segment geworden und erführe dadurch eine Relativierung. Sie hätte an der Gesamtheit des sozialen Lebens keinen Anteil mehr, weil die Lebensform der Großstadt im Gegensatz zur dörflichen Existenz kein abgerundetes Ganzes darstellt, sondern ihre Einheit gerade in der facettenförmigen Untergliederung ihrer Vielfalt findet. Durch das Anwachsen der Städte und durch die innere Segmentierung wäre die Religion nicht nur geographisch, sondern auch kulturell-bewußtseinsmäßig aus dem Mittelpunkt des örtlichen Zusammenlebens verschwunden.

Kiel; sein Hauptwerk: Gemeinschaft und Gesellschaft, Leipzig 1887, ND Darmstadt 1972.

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Darüber hinaus hat das verdichtete und differenzierte Gebilde einer Großstadt neue empfindliche Kooperationsformen notwendig gemacht. Darum müßte die Bedeutung der Religion im öffentlichen Leben auch aus funktionellen Gründen neutralisiert werden. Denn mit ihrer Neigung zur dogmatischen Abgrenzung, zur puristischen Konfessionenspaltung und zum moralischen Rigorismus provoziert die Religion gerade solche Konflikte, die in den reibungslosen Ab 217lauf städtischen Zusammenlebens nur störend, gleichsam als Sand im urbanen Getriebe eingreifen. Nicht religiöses Erlebnis, sondern Routine, nicht engagierte Existenzentscheidung, sondern oberflächliche Konvention regeln die alltäglichen Umgangsformen in einer Großstadt. Darin ist die Religion nur solange tragbar, wie sie sich öffentlich neutralisieren und auf die Privatsphäre der einzelnen beschränken läßt. – So lautet abschließend die in der Konsequenz von Tönnies formulierte Hypothese Lenskis: Im Gefolge des Verstädterungsprozesses wäre nach Tönnies’ Annahme die Religion gewissermaßen domestiziert; nahezu bar jeglicher öffentlicher Bedeutung bliebe auch ihre gesellschaftliche Wirkung auf Randbereiche beschränkt. Zwar stimmt Lenski der moderngesellschaftlichen Strukturanalyse weitgehend zu, zieht jedoch Tönnies’ Schlußfolgerungen über die Religion gründlich in Zweifel. Lenskis Untersuchung ist geradezu vom Anliegen bestimmt, die Tönnies’sche Variante der Säkularisierungsthese Punkt für Punkt zu widerlegen, um auf diesem Wege eine stichhaltigere und erklärungskräftigere Religionstheorie zu gewinnen. 2.2 Die Wirksamkeit des religiösen Faktors Schon Lenskis Ausgangsfragen sind sozusagen gegen den Strich des Tönnies’schen Entwurfs gestellt: Reicht die Paralysierung der religiösen Ausstrahlung im Großstadtleben tatsächlich soweit, daß der Glaube der Menschen in ihrem Sozialverhalten nicht mehr zum Zuge kommt? Ist die Segmentierung der Religion wirklich gleichbedeutend mit ihrer allgemeinen Einflußlosigkeit auf die Gesellschaft? Welche Rolle spielt der religiöse Faktor überhaupt im Leben einer modernen „säkularen“ Industriegroßstadt? Lenski macht Religion zunächst dort ausfindig, wo sie sich weithin sichtbar präsentiert: in den konfessionellen Organisationen. Protestantismus, Katholizismus und Judentum setzt er gewissermaßen heuristisch als Fixpunkte voraus, von denen her die religiöse Landschaft einer amerikanischen Großstadtstruktur erschlossen wird. Jede Konfession stellt als Institution ein eigenes System von Wertüberzeugungen bereit, das auf Glaube beruht. Die Glaubenssysteme sind geeig-

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net, bei der Lösung menschlich-existentieller Grundprobleme in einer Gesellschaft behilflich zu sein. Unter dieser Voraus 218setzung stellt sich die Frage nach der Neutralisierung der Religion präziser als Frage nach der Bedeutung der konfessionellen Glaubenssysteme für die soziale Lebensführung der Menschen: Zeichnen sich im sogenannten säkularen Alltagsleben unterschiedliche Einstellungsprofile und Verhaltensmuster ab, die sich eindeutig mit der ungleichen Konfessionszugehörigkeit erklären lassen? a) Der konfessionelle Faktor Tatsächlich fördert Lenski eine Vielfalt von konfessionsbedingten Unebenheiten zutage. Dabei schält sich wohl am deutlichsten die Diskrepanz im sozial-wirtschaftlichen Status zwischen Katholiken und weißen Protestanten heraus: Obwohl beide Gruppen gleichermaßen eine hohe soziale Stellung mit gutem Einkommen anstreben, sind insgesamt Protestanten bei der Verwirklichung weit erfolgreicher als Katholiken. Der Grund dafür liegt weniger in einer Diskriminierung der Katholiken als vielmehr in deren eigentümlichen Wertorientierung, die Aufstiegshemmnisse bereits in der katholisch bestimmten Motivation verankert. Denn Katholiken sind in der Regel enger an die Familie gebunden, weniger für öffentliche Betätigungen freigestellt, im ganzen also sozial unbeweglicher als Protestanten. Ihre katholische Lebensorientierung ist trotz weitgehender Anpassungsbemühungen nicht so maßgerecht auf die Anforderungen der amerikanischen Industriegesellschaft zugeschnitten, wie dies bei Protestanten der Fall ist (die hauptsächlich diese Gesellschaft hervorgebracht haben). In einer Gesellschaft, in der räumliche Mobilität, permanente berufliche Weiterbildung und öffentliches Engagement wichtige Vorbedingungen zum wirtschaftlichen Aufstieg bedeuten, geraten Katholiken insofern ins Hintertreffen, als sich der Schwerpunkt ihrer Lebensorientierung hauptsächlich in der Privatsphäre befindet. Im hochkomplizierten System einer Industriegesellschaft, in der Selbständigkeit und Flexibilität des Denkens maßgebliche Berufsqualifikationen ausmachen, ist die Eignung der Katholiken schon darum gehandikapt, weil sie gleichsam „von Haus aus“ Gehorsam tendenziell höher einschätzen als geistige Autonomie – und dies ganz im Gegenteil zu Protestanten und Juden. Die Wurzel dieser Ungleichheit liegt in der unterschiedlichen Erziehung: Protestanten, Katholiken und Juden sind in jeweils verschieden geprägten Atmosphären der Sozialisation und des Lebens 219stils aufgewachsen und haben dadurch eine Ausrichtung, ja eine Vorprogrammierung ihres Gesellschaftsbildes erfahren, die sie später nicht ohne weiteres ablegen können. Die Nachwirkungen des konfessionseigenen Sozialisationsklimas sind in der Tat in allen Lebensbereichen aufzuspüren: So lassen sich Juden und

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Protestanten häufiger scheiden als Katholiken, die ihrerseits mehr zur ehelichen Desertion neigen, zur faktischen Trennung ohne legale Scheidung; die Einrichtungen der Familie und Ehe werden von ihnen derart hoch eingeschätzt, daß ihr institutioneller Wert auch dann nicht in Frage gestellt wird, wenn das Leben darin unerträglich geworden ist. – Wie in den Bereichen von Wirtschaft und Familie, so sind auch in der politischen und wissenschaftlichen Orientierung zwischen Katholiken, Juden, weißen und schwarzen Protestanten signifikante Unterschiede wahrzunehmen. Aufgrund solcher Ergebnisse stellt Lenski abschließend fest, daß die Konfessionsmitgliedschaft nicht nur nach wie vor nominell vorhanden ist, sondern darüber hinaus auch faktisch das Verhalten in allen Lebensbereichen der Gesellschaft nachhaltig beeinflußt. Sie kann stellenweise sogar genauso bestimmend werden wie die Klassenzugehörigkeit: Berufsbild und Einstellung zur Arbeit, Wirtschafts- und Sozialverhalten, Mobilität und Bildungsvorstellungen – all das variiert in den Einstellungen der Menschen nicht nur je nachdem, welchen ökonomischen Status sie in der Gesellschaft innehaben, sondern auch danach, in welcher Konfession sie aufgewachsen sind. Gerade durch die konfessionell geprägte Erziehung werden dem Menschen jene Injektionen verabreicht, deren Langzeitwirkungen in den unterschiedlichen gesellschaftlichen Einstellungen und Verhaltensweisen immer noch deutlich zu erkennen sind. b) Die religiöse Orientierung Dennoch gibt es auch innerhalb einer jeden Konfession graduelle Abstufungen: Trotz der gleichen religiösen Sozialisation haben sich einige Menschen mehr, andere hingegen weniger von den Grundmustern ihrer konfessionellen Weltanschauung emanzipiert. Es gibt Protestanten, Katholiken und Juden, deren Glaube sehr stark in ihre gesellschaftliche Praxis einwirkt; es gibt andererseits aber auch solche Kirchenmitglieder, für deren Verhalten in der Gesellschaft der Glaube überhaupt keine Rolle spielt. Wie ist dieser widersprüchliche Befund zu erklären? 220 Lenski findet dafür die Ursache in verschiedenen Typen religiöser Orientierung. Ob ein Mensch eher zum Devotionalismus neigt, zur streng pietistischen Frömmigkeit, oder aber stärker zur doktrinären Orthodoxie, die immer in irgendeiner Weise Glaube und weltliche Vernunft zu verbinden sucht – genau diese Tatsache entscheidet maßgeblich darüber, bis zu welchem Grad der konfessionelle Glaube in das Alltagsverhalten der Individuen bestimmend eingeht. Die Haltung doktrinärer Orthodoxie etwa tendiert mehr dahin, Religiosität auf isolierte Gebiete fernab vom Alltagsleben zu beschränken, ja überhaupt die religiöse Praxis für die meisten Bereiche der Gesellschaft für belanglos zu halten. Während sie al-

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so von einer eher dualistisch aufspaltenden Lebensanschauung ausgeht und gleichsam eine Doppelstrategie der geistlichen und weltlichen Daseinsführung verfolgt, gestaltet sich das Weltbild der pietistischen Frömmigkeit ganz anders: Sie überläßt die Gesellschaft nicht einer vermeintlichen Eigengesetzlichkeit, sondern verengt geradezu alle Probleme alltäglicher Existenz auf die religiöse Perspektive. Im Unterschied zur Orthodoxie vertritt sie eine relativ geschlossene Lebensanschauung, weil für sie gesellschaftliche Wirklichkeit als ganze religiös von Bedeutung ist. – So stellen die unterschiedlichen religiösen Orientierungstypen gleichsam eine Art Regelventil dar, durch das die Konsequenzen des konfessionellen Glaubens im sozialen Verhalten einzelner graduell ausgesteuert werden: einmal affirmativ verstärkend bei devotionaler Haltung, ein andermal abschwächend relativierend bei orthodoxer Einstellung. 2.3 Gesellschaftlicher Wandel in der kirchlichen Subkultur Schließlich „entdeckt“ Lenski noch einen weiteren Faktor der Religiosität: und zwar jene sozial-religiösen Gruppen, die sich in Form von kleinen, überschaubaren und informellen Zusammenschlüssen konfessionell Gleichgesinnter neben der spezifisch religiösen Sozialisation und neben der individuellen Frömmigkeitsausrichtung als ein dritter eigenständiger Wirkungsfaktor der Religion etablieren. Lenski hat diese „Entdeckung“ in eine Theorie der religiösen Subkultur gefaßt, die im System seines Religionsmodells die wohl zentralste Bedeutung einnimmt; – nicht zuletzt auch deshalb, weil sich im empirischen Nachweis und in der Funktionsbeschreibung solcher religiös-sozialer Gruppen für die Religionssoziologie durch 221aus neue Konturen abzeichnen. Mit seiner These weist Lenski über eine Polarisierung von Ansätzen hinaus, die jahrzehntelang die religionssoziologische Diskussion blockiert hat. Es standen dabei auf der einen Seite die Vertreter einer ordnungspolitisch interessierten Institutionsthese, und auf der anderen Seite die Verfechter einer an Freiheitlichkeit orientierten Individualismusthese; im einen Lager konzentrierte sich die Forschung auf die allgemeine private Religiosität, im anderen auf die explizite, öffentliche Kirchlichkeit.16 Mit der Auffindung des „fehlenden Glieds“ gelingt Lenski nun die seit jeher umstrittene Vermittlung beider 16

Die Problematik hat in der Theologie ihre eigene Geschichte, die wohl auf die Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Religion von Johann S. Semler (1725–1791), einem der bedeutendsten protestantischen Aufklärungstheologen, zurückgeht; vgl. etwa sein Buch: Über historische, gesellschaftliche und moralische Religion der Christen, Leipzig 1786. – Zur soziologischen Diskussion vgl. Zur Theorie

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Momente; wobei er gleichzeitig Grundrisse einer begrifflichen Erklärung sozial-religiöser Wandlungsprozesse skizzieren kann. Es sind im wesentlichen folgende Funktionen, die Lenski den sozial-religiösen Gruppen in der amerikanischen Gesellschaft zuschreibt: 1. Die soziale Verwirklichung von Religion. Lange Zeit war man in der Religionssoziologie selbstverständlich davon ausgegangen, daß sich das Verhältnis der Kirchen zu ihren Mitgliedern ebenso direkt wie ungebrochen gestalte: Die Kirche stellt objektive Normen, gleichsam Vorgaben als „abschließenden Gedankengang“ bereit, die sich ihre Mitglieder jeweils individuell aneignen; das Individuum setzt dann kirchliche Gebote in die Wirklichkeit um, und die Institution kontrolliert deren Einhaltung. Tatsächlich entwickeln sich zwischen den kirchlichen Organisationen und ihren Mitgliedern mannigfaltige unmittelbare Kontakte – von der religiösen Erziehung über direkte Gemeindezugehörigkeit bis hin zur Lektüre kirchlichen Schrifttums. Aber all diese gewissermaßen kurzgeschalteten Kontakte reichen nicht aus, die Verbundenheit ein 222zelner mit der Kirche vollständig zu erklären. Vielmehr sind es gerade die informellen Gruppenbeziehungen zu Bekannten, Arbeitskollegen und Freizeitfreunden, die den einzelnen an die kirchliche Institution binden; vermittelt über solche sozial-religiöse Gruppen wird der einzelne im Umkreis seiner Kirche gehalten. Die Gruppen funktionieren gleichsam als verbindendes Scharnier: sie verklammern die spontane Subjektivität kritisch-reflektierender Individuen mit dem organisierten Autoritätsgefüge der Institution Kirche. Und sie balancieren jeweils deren überzogene Ansprüche aus: Im Verein mit der Institution wirken sie dämpfend; versichern sozusagen die kirchliche Bürokratie „gegen zuviel Religion“ einzelner; auf seiten spontaner Individualität andererseits garantieren sie, daß die Religion „trotz ihrer Beamten“ weiter besteht. Als Zwischeninstanz sorgen die informellen Gruppen auch dafür, daß die von Kirchen ausgesendeten Impulse bei ihren Mitgliedern nicht ungebrochen ankommen. Kirchliche Aussagen unterliegen vielmehr gerade hier einer Transformation in allgemeine kulturelle Denkmuster und Verhaltensweisen: die papiernen Dogmen und amtlichen Verlautbarungen werden hier auf das Alltagsleben erst zugeschnitten. Die sozial-religiösen Gruppen nehder Institution, hg. von Helmut Schelsky, Düsseldorf 1970; darin besonders die Beiträge: Helmut Schelsky: Zur soziologischen Theorie der Institution, S. 9–26; und: Trutz Rendtorff: Das Problem der Institution in der neueren Christentumsgeschichte, S. 141–153. – Außerdem zum Problem: Helmut Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie, in: ZEE 1 (1957), S. 153–174.

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men gleichsam die Transmissionsstellen ein, an denen die Energien religiöser Glaubensaussagen und Praktiken in vielfältiger Weise modifiziert auf die Träger des sozialen Verhaltens übergeleitet werden. Sie sind das entscheidende Medium, durch das sich Religion im konkreten gesellschaftlichen Leben erst eigentlich verwirklicht. Was sich im „säkularen“ Gewebe einer modernen Industriegesellschaft an religiösen Spuren auffinden läßt, ist wesentlich mitverursacht durch die reale Wirksamkeit dieser nicht immer kirchlich gebundenen, wohl aber im weitesten Sinne kirchlich orientierten Subkultur. 2. Die Stabilisierung des konfessionellen Pluralismus. Es sind jedoch nicht etwa Spurenelemente einer allgemeinen oder – wie Herberg annahm – verwässerten Religiosität, die solche Gruppen hinterlassen, sondern durchaus bestimmbare Traditionsmomente der einzelnen Konfessionen. Jede Religionsgemeinschaft hat sehr wohl ihre eigene Gruppen-Subkultur, die gewährleistet, daß konfessionsspezifische Einstellungs- und Verhaltensmuster mit der Zeit ihr Profil nicht verlieren. Über die generelle Verwirklichung von 223 Religion überhaupt hinaus konservieren, ja versteinern die sozialreligiösen Gruppen den konfessionellen Pluralismus auf örtlicher Ebene: Sie halten Fremdbilder lebendig, schränken Kommunikation und Umgang mit Andersgläubigen auf ein notwendiges Minimum ein und richten möglichst alle Aktivitäten ihrer Mitglieder auf die eigene Binnenstruktur. So fördern die informellen Gruppen die Tendenz zum konfessionellen „Kommunalismus“, ja sind vorantreibende Kräfte kirchlichen Provinz- und Konkurrenzdenkens. Je größer die Anziehungskraft einer kirchlichen Organisation auf solche Gruppen ist, desto weitreichender gestaltet sich auch ihr indirekter Einfluß auf die Gesellschaft. Die sozial-religiösen Gruppen sind zugleich die kleinsten wie stabilsten Bausteine der konfessionellen Versäulung in der amerikanischen Gesellschaft. 3. Die Registrierung des sozialen Wandels. Schließlich erfüllen die informellen Gruppen die Funktion, gleichsam die seismographischen Vorposten einzunehmen, durch die kirchliche Organisationen die Schwingungen gesellschaftlicher Wandlungsprozesse registrieren und verarbeiten. Mit ihrer eigenen starren Organisationsstruktur und ihrem hauptberuflichem Funktionärstum, mit ihren schriftlich festgelegten Lehrsystemen und weitgehend rationalisierten Arbeitsmethoden legen die Kirchen eine beständige Immunität gegen Umweltveränderungen aller Art an den Tag. Dagegen reagieren die informellen Gruppen überaus empfindlich auf soziale Entwicklungen. Zwar ist ihre Existenz wesentlich anfälliger als die der Kirchen, andererseits aber auch flexibler: Sie können ihren Einfluß auf das gesellschaftliche Großstadtleben gewissermaßen freier und beweglicher zur Geltung bringen als der kirchliche Apparat mit seiner angeborenen Schwerfälligkeit. Während also die kirchlichen Organisationen Stabilität

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und Beruhigung ausstrahlen, werden Unruhe und Mobilität gerade in den religiösen Subkultur-Gruppen faßlich und von dort aus in die konfessionellen Organisationen hineingetragen. Die sozial-religiösen Gruppen stehen gleichsam als Radarinstrument im experimentellen Vorfeld der Konfessionen und sorgen dafür, daß soziale Veränderungen nicht spurlos an den kirchlichen Organisationen vorbeigehen. 224 2.4 Grenzen der Theorie Die konfessionell aufgefächerte Religion findet auch in der vermeintlich säkularisierten Umgebung einer Industriegroßstadt durchaus noch ihre soziale Verwirklichung. Gerade die Existenz und Funktionsweise von sozialreligiösen Gruppen verhelfen dem Faktor Religion über eine Reichweite hinaus zur gesellschaftlichen Bedeutung, die in der bloßen Analyse organisierter Kirchlichkeit nicht ohne weiteres zu erkennen ist. Die Annahme, Religion sei in einer modernen Gesellschaft ausschließlich zu einer neutralisierten Privatangelegenheit zerronnen, läßt sich in dieser Pauschalität nur dann aufrechterhalten, wenn die Verzahnung von Religion, Kultur und Gesellschaft in der eigentümlichen, halb-öffentlichen, halb-privaten Subkultur sozial-religiöser Gruppen ausgeblendet bleibt. Mit dieser Erkenntnis hat Lenski nicht nur die Tönnies’sche Verstädterungsthese als einen Prototyp problematischer Säkularisierungssicht weitgehend in Zweifel gezogen, sondern konnte darüber hinaus auch Herbergs Religionstheorie in einem entscheidenden Punkt konkretisieren: Hatte Herberg noch den Eindruck erweckt, Religion sei ein verflüchtigtes, gleichsam über allem freischwebendes Fluidum der allgemeinen Kultur, das sich nicht präzise lokalisieren läßt, so findet Lenski den soziologisch bestimmbaren Kristallisationspunkt der Kulturreligion in den sozialen Gruppen, die als Träger einer komplexen Subkultur für nahezu alle Bereiche menschlichen Lebens von Bedeutung sind. Doch drängt sich zuletzt mit einem gewissen Recht die Frage auf, ob es Lenski tatsächlich gelungen ist, über jene Bedingungen und Implikationen hinauszuführen, die er an der Tönnies’schen Säkularisierungsthese als Horizontverengung kritisiert. Lenskis eigene Frage zielt gleichsam auf die Schnittmenge von Religion und Gesellschaft; und er kann empirisch nachweisen, daß diese Überschneidungsfläche größer ist, als unter den Bedingungen des Säkularisierungsprozesses durchweg angenommen wird. Aber dabei nimmt Lenski nicht weniger vorbehaltlos seinen Ausgangspunkt bei einem Konzept von Kirchlichkeit, deren Identität mit Religion er ebenso unproblematisch unterstellt, wie er andererseits auch Gesellschaft als eine selbständige Größe gegeben sieht. Damit steckt er jedoch die Grenzen sei-

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ner theoretischen Erklärung zu eng ab: Indem Lenski die fortdauernde Virulenz der Kirchlichkeit in gesellschaft 225lichen Handlungsbereichen aufweist, vermag er zwar ihre Stabilität anzuzeigen, sie aber nicht eigentlich zu erklären. Hinter der minutiösen Beschreibung der gesellschaftlich verteilten Menge an Kirchlichkeit tritt die soziologische Ausdeutung ihrer Funktion als eine mögliche Gestalt von Religion zurück. Die Verankerung kirchlicher Religiosität in der sozial-religiösen Subkultur; das Dilemma von Stabilität und Wandel innerhalb der Konfessionen; sowie die Vermittlung von kirchlich-institutioneller Organisation und individuell-religiösem Subjekt – bei all diesen von Lenski untersuchten Problemen bleibt letztlich ungeklärt, warum sie gerade im theoretischen Kontext der Religion zu verhandeln sind. Was noch die Funktionalisten als die wichtigste Frage formuliert hatten: die Frage nach der gesellschaftlichen Funktion von Religion, setzt Lenski stillschweigend als beantwortet voraus, statt sie auf der Grundlage seiner Ergebnisse erneut aufzuwerfen. Nicht daß Religion auf vielen gesellschaftlichen Ebenen in mannigfaltiger Weise ihre Funktion erfüllt, sondern wie sie es an vielen Stellen in der Gesellschaft gerade als Religion tut – hinter dieser Frage verbirgt sich in erster Linie die Aufgabe einer Soziologie, die Religion theoretisch zu erklären, zu ihrem Programm erhoben hat. 3. Charles Y. Glock Charles Y. Glock lehrt heute Soziologie an der Universität von Kalifornien in Berkeley. Zusammen mit seinem Kollegen Rodney Stark17 ist er im Verlaufe der letzten zwanzig Jahre auf dem sozialwissenschaftlichen Gebiet der Religionsanalyse als einer der produktivsten Forscher international bekannt geworden.18 Sein Werk kann hier nicht in voller Breite dargestellt werden, 17

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Rodney Stark lehrt heute ebenfalls Soziologie an der Universität von Kalifornien; zusammen mit Charles Y. Glock leitet er dort das Survey Research Center, das viele der von ihnen gemeinsam veröffentlichten Untersuchungen durchgeführt hat. Glock und Stark haben sich darüber hinaus aber auch theoretisch immer wieder ergänzt, gefördert und ausgetauscht. Was hier lediglich unter dem Namen Glocks dargestellt wird, könnte in Wirklichkeit also ebensogut von Stark sein. Um einen flüchtigen Eindruck von der gesamten Breite der religionssoziologischen Arbeit Glocks zu vermitteln, werden seine Publikationen hier nicht wie sonst chronologisch, sondern nach Schwerpunkten gegliedert angegeben: I. Mehrdimensionen-Modell: a) Konzeptualisierung: Charles Y. Glock: Towards a Typology of Religious Orientation. Manuskript, Columbia Universität, N.Y. 1954; erstmals gedruckt: The Religious Revival in America? In: Religion and the Face of America, hg. von Gordon C. Zahn, Berkeley 1958, S. 25–42. Dieser Aufsatz hat manche

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sondern die folgende Skizze muß sich auf die Schwerpunkte beschränken, an denen Glock vorgefundene Religionsmodelle weiterentwickelt. 226 3.1 Ansatz: individuelle Problemlösung Im Verhältnis zu Will Herberg und Gerhard Lenski betont Glock neue Akzente: Es ist vor allem das Individuum, das er als Subjekt der Religion in den Vordergrund rückt. Galt Herbergs Aufmerksamkeit noch vornehmlich der Religion auf nationaler und konfessioneller Ebene, und hatte demgegenüber Lenski bereits eine Abstufung vorgenommen, indem er gewissermaßen den mittleren Bereich der sozial-religiösen Gruppen-Subkultur beschrieb, so kon 227zentriert sich Glock gleichsam auf die Grundlage des Phänomens: auf die Religiosität des Individuums. Ihm geht es um die Erforschung der Religion als einen Teil im Aufbau der sozial-kulturellen Per-

Metamorphosen durchgemacht und ist noch vielmals erschienen; eine überarbeitete Fassung liegt in deutscher Übersetzung vor: Charles Y. Glock: Über die Dimensionen der Religiosität, in: Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 8), S. 150–168. b) Empirische Überprüfung des Modells: Charles Y. Glock/Rodney Stark: Religion and Society in Tension, Chicago, u. a. 1965; 6. Auflage 1973. – Charles Y. Glock/Rodney Stark: American Piety. The Nature of Religious Commitment, Berkeley/Los Angeles/London 1968; 2. Auflage 1970. Hierzu sind noch zwei Folgebände angekündigt: Charles Y. Glock/Rodney Stark: The Poor in Spirit. Sources of Religious Commitment. – Charles Y. Glock/Rodney Stark: By Their Fruits. Consequences of Religious Commitment. II. Andere Untersuchungen: Charles Y. Glock/Benjamin B. Ringer/Earl R. Babbie: The Social Sources and Consequences of Church Involvement, New York 1966. – Charles Y. Glock/Rodney Stark: Christian Beliefs and Anti-Semitism, New York 1966. – Charles Y. Glock/Benjamin B. Ringer/Earl R. Babbie: To Comfort and To Challenge. A Dilemma of the Contemporary Church, Berkeley/Los Angeles 1967. – Charles Y. Glock/Bruce D. Foster/Rodney Stark/Harold E. Quinley: Wayward Shepherds. Prejudice and Protestant Clergy, New York 1971. – Charles Y. Glock: Images of „God”, Images of Man and the Organisation of Social Life, in: JSSR 11 (1972), S. 1–15. – Charles Y. Glock: Origine et évolution des groupes religieux, in: ASRel 16 (1963), S. 29–38; wieder in: The Church and Social Conflict, hg. von Gary R. Lee, New York 1964. III. Gesamtdarstellungen der Religionssoziologie: Charles Y. Glock: The Sociology of Religion, 1945–1955, in: The Sociology in the United States of America, hg. von Hans L. Zetterberg, Paris 1956. – Charles Y. Glock: The Sociology of Religion, in: Sociology Today, hg. von Robert K. Merton/Leonard Broom/Leonard S. Cottrel, New York 1959, S. 153–177. – Über Glock vgl. Jeffrey K. Hadden: The Sociology of Religion of Charles Y. Glock, in: JSSR 12 (1973), S. 459–473.

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sönlichkeit: Welche Rolle spielen Glaube und Praxis der Religion im Mikrokosmos des Individuums? Diese modifizierte Fragestellung hat auch eine Verschiebung der methodischen Perspektive zur Folge. Während Herberg vor allem mit den Instrumentarien der wissenssoziologischen Kulturanalyse arbeitet und Lenski eher einem gleichsam auf empirische Füße gestellten strukturfunktionalistischen Ansatz verhaftet bleibt, überwiegt bei Glock die sozialpsychologische Sicht: die Erforschung der menschlichen Attitüde, die ebenso durch die Umwelt mitbedingt ist, wie sie ihrerseits auf die Umwelt gestaltend einwirkt. Welche Aufgaben erfüllt die Religion in der Einstellung und im Verhalten des Individuums in jenen gesellschaftlichen Situationen, in die es verflochten ist? Dies ist Glocks grundlegender religionssoziologischer Ausgang: Zwar ist Religion auch gesellschaftlich institutionalisiert, gleichsam im besonderen Sozialkörper der Kirchen organisatorisch eingefaßt; zwar erfährt Religion darüber hinaus die Transformation ihrer Inhalte in die Muster der jeweiligen Kultur, aber ihre eigentliche Funktionalität entfaltet sie doch erst in den konkreten Lebenssituationen einzelner. Was ist dann die Religion und wie kann sie für den Menschen Bedeutung erlangen? – Glock definiert die Religion als ein solches System von Symbolen, Glaubenssätzen, Werten und Praktiken, das Welterfahrung interpretierend ordnet. Sie ist von der „bloß“ humanistischen Perspektive dadurch unterschieden, daß sie sich auf übernatürliche Dinge und Kräfte einer jenseitigen Welt bezieht und von dorther ihre Wertmaßstäbe gewinnt. Auf diese Weise stellt die Religion dem einzelnen ein übergreifendes und geschlossenes Bild der Gesamtwirklichkeit zur Verfügung, das ihm wesentlich zur Orientierung dient: in ihrem Rahmen wird das Individuum befähigt, sich zu sich selbst und zu seiner menschlich-natürlichen Umgebung in Beziehung zu setzen. Je mehr nun das Verhältnis des einzelnen zu seiner Umwelt gestört ist, desto größer fällt sein vitales Interesse an der Religion aus. Deren Dringlichkeit erweist sich gerade in solchen Lebenslagen, in denen das Individuum Benachteiligung, Unterdrückung und persönlichen Mangel am empfindlichsten erlebt: in Situationen, die 228 nicht nur zeitweilig als Engpässe auftreten, sondern sozusagen strukturell begründet sind und es darum erforderlich machen, grundsätzlich und langfristig gemeistert zu werden. Derartige Entbehrungssituationen können in einer Gesellschaft vielfältig zustandekommen. Fühlt sich jemand etwa von der wirtschaftlichen Einkommensverteilung in einer Gesellschaft nicht angemessen berücksichtigt, ist er gar von lebenswichtigen Gütern ausgeschlossen oder muß auch nur auf Luxus verzichten, den andere unbegreiflicherweise haben, so vermag Religion hier Abhilfe zu schaffen: Besonders Sekten fangen häufig ökonomische Un-

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terlegenheitsgefühle im Glauben auf, daß religiöse Privilegien letztlich stärker zu Buche schlagen als materieller Reichtum. Neben der wirtschaftlichen Ungleichheit tritt auch die soziale auf: Mancher ist in einer Gesellschaft mit höherem Prestige ausgezeichnet und hat sehr viel mehr Gelegenheit, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen als andere. Auch diese Probleme kann Religion lösen helfen, indem sie entweder die gesamte Statushierarchie einer Gesellschaft für irrelevant erklärt, oder aber ihrerseits eine alternative Prestigeskala anbietet: Bei den Methodisten Kirchenvorsteher zu werden, bringt dann immerhin mehr Ansehen mit sich, als „nur“ Fließbandarbeiter im nahegelegenen Automobilwerk zu sein. – Auf körperlich oder geistig Behinderte, Schwerkranke und Psychosomatiker ist es zurückzuführen, daß psychoanalytische Bewegung, Gruppendynamik, Anti-Alkoholismus oder ReformHaus-Ideologie besonders im Umkreis der Kirchen breite Resonanz finden, ja sich ihrerseits nicht selten wie religiöse Bewegungen gerieren. – Nach religiöser Anlehnung suchen auch jene Menschen, deren ethische Überzeugung mit der herrschenden Moral einer Gesellschaft nicht übereinstimmen; etwa Kriegsdienstverweigerer finden nicht zufällig bei den Kirchen moralische Unterstützung. – Schließlich erwarten auch psychisch weniger robuste Personen Rückhalt und Schutz von der Religion: Menschen, die sich in gesellschaftlichen Entwicklungen nicht zurechtfinden und darum mit Angst und Verzweiflung, mit Hemmung oder aggressiver Abwehr reagieren. All diese defekten, gewisse Mängel anzeigenden Situationen, denen sich ein Individuum konfrontiert sehen kann, stellen für Glock so etwas wie Einbruchstellen der Religion dar. Die konkrete Erfahrung von Tatbeständen des Leids, der Deprivation vielfältigster Art ist nicht nur häufig Anstoß, sondern geradezu konstitutiver Quell 229grund für die Zuwendung eines Menschen zur Religion. Will man die Basis ihrer Geltung auf eine Formel bringen, so läßt sich sagen: Religiöser Glaube und religiöse Praxis sind die Strategien des Individuums, mit denen es die Probleme persönlich empfundener Benachteiligung kompensatorisch löst und damit die eigene Stabilität sichert. 3.2 Dimensionen der Religiosität Die Religion selbst ist für Glock ein in sich mannigfach geschichtetes Spektrum. Es ist sein zentrales Anliegen, Religiosität in der ganzen reichhaltigen Variationsbreite auszuleuchten, die sie im gesellschaftlichen Leben anzunehmen vermag. Auch hierbei gelangt Glock zu anderen Pointierungen als frühere Religionsmodelle: Während diese häufig die soziologische Perspektive auf die Erforschung kirchlicher Teilnahmeformen (Gottesdienstbesuch) oder religiöser Einstellungen (Glaube an Gott) eindimensional ver-

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engten, unterstreicht Glock dagegen die Mehrdimensionalität der Religion. Und während Herberg und Lenski noch gewissermaßen von den gesellschaftlichen Außenwirkungen der Religion auf deren Charakter selbst zurückzuschließen suchten, stellt Glock umgekehrt die Frage, wie Religiosität ihrer inneren Struktur nach beschaffen ist. Sein Ziel ist es, ein umfassendes Bezugssystem zu entwickeln, in dem religiöses Verhalten und religiöse Einstellung nicht auf einige wenige Aspekte verkürzt werden, sondern eben in ihrer differenzierten Vielschichtigkeit soziologisch-begrifflich zum Ausdruck kommen. Das Ergebnis dieses Konzeptualisierungsversuchs ist ein Mehrdimensionen-Modell, das Glock erstmals 1954 veröffentlicht, und das seitdem auch anderen Religionssoziologen immer wieder als Forschungsgrundlage gedient hat; des öfteren stand es im Brennpunkt methodologischer Auseinandersetzungen.19 230 Im einzelnen unterscheidet Glock fünf Dimensionen, die je nach Religionstyp verschieden gewichtet, kombiniert und abgewandelt sein können: 1. Die ideologische Dimension des Glaubens. Jede Religion besitzt ein bestimmtes System von Glaubenssätzen, zu denen sich ihre Mitglieder überzeugungsmäßig bekennen. Je intensiver die religiöse Überzeugung der einzelnen ist, je bereitwilliger ihre Zustimmung zu den zentralen Dogmen ihrer Kirche ausfällt, desto traditioneller, orthodoxer und intoleranter nimmt sich der Glaube aus; auf der Kehrseite der Skala befindet sich entsprechend der weltoffene, moderne und anpassungsbereite Glaube.20 Ob nun die Überzeugung eines Menschen mehr fundamentalistisch oder eher liberal geprägt ist, – stets hilft er dem einzelnen, Lücken in seinem Weltverständnis auszufüllen, Einsamkeit, Entbehrung und Frustration zu bewältigen und sich schließlich auf eine bestimmte Wertordnung zu 19

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Aus der Menge der Diskussionsbeiträge sei hier nur auf wenige Beispiele verwiesen: Nicholas J. Demerath: Religious Orientations and Social Class, Berkeley 1961. – Joseph E. Faulkner/Gordon F. De Jong: Religiosity in 5-D. An Empirical Analysis, in: Social Forces 45 (1966), S. 246–254. – Joseph H. Fichter: Sociological Measurement of Religiosity, in: RRelRes 10 (1969), S. 169–177. – Yoshio Fukuyama: The Major Dimenions of Church Membership, in: RRelRes 2 (1961), S. 154–161. – James O. Gibbs/Kelly W. Crader: A Criticism of Two Recent Attempts to Scale Glock and Stark’s Dimension of Religiosity. A Research Note, in: Sociological Analysis 31 (1970), S. 107–114. – Das jüngste Forschungsprojekt, das mit dem Glockschen Modell arbeitet, wird von Leo Laeyendecker an der Rijksuniversität in Leiden durchgeführt; vgl. Leo Laeyendecker: Investigating Religious Change. A Research Proposal, in: The Contemporary Metamorphosis of Religion? Acts of the 12th International Conference an Sociology of Religion, Den Haag 1973, S. 9–35. Diese Unterscheidung stimmt mit der Typologie Lenskis von Devotionalismus und Orthodoxie nicht exakt überein. Während Glock mit Orthodoxie den Grad der

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verpflichten. Für jede Kirche stellt der übereinstimmende Glaube ihrer Mitglieder die maßgebliche Integrationsklammer ihres Zusammenhalts und Bestandes dar: Sobald die Erosionen des Zweifels oder der Gleichgültigkeit an ihrer grundlegenden Dogmatik nagen, ist sie von Auflösungstendenzen bedroht. 2. Die rituelle Dimension der Praxis. Jede Religion verwirklicht sich über symbolische Manifestation hinaus auch durch Rituale und heilige Praktiken: etwa im Gottesdienst, bei der Trauung und Taufe oder bei Bestattungsfeiern. Die Riten sind meist öffentlicher 231 Natur (Gottesdienst), können sich jedoch auch im privaten Bereich abspielen (Tischgebet). Da die Dimension der rituellen Praxis besonders im Katholizismus ausführlich und streng geregelt ist, könnte man diese Seite gewissermaßen den „katholischen“ Aspekt der Religion nennen. 3. Die Dimension der religiösen Erfahrung. Mit religiöser Erfahrung bezeichnet Glock die subjektive, gefühlsbewegte Kontaktaufnahme zum Heiligen. Sie kann sehr dramatisch und frontal ablaufen wie beispielsweise beim Damaskus-Erlebnis des Paulus; sie kann aber auch subtilere Formen annehmen, etwa in der Weise, wie der protestantische Theologe Friedrich Schleiermacher Religion als das „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ beschrieben hat. In der Regel tritt das religiöse Erlebnis etwa als ergreifende Bekehrung besonders häufig in Sektengruppen auf, was Joseph Fichter dazu veranlaßte, von einem typisch protestantischen Religionsmerkmal zu sprechen. 4. Die intellektuelle Dimension des religiösen Wissens. Jede Religion verlangt ihren Mitgliedern minimale intellektuelle Fähigkeiten und Leistungen ab: Der Gläubige soll über die grundlegenden Lehrsätze und Quellen seines Glaubens informiert sein: er soll sie gegenüber Anfragen und Bestreitungen verteidigen sowie ihren Inhalt auf konkrete Situationen anwenden können. Darüber hinaus wird in jeder höher entwickelten Religion die Dimension des religiösen Wissens, Argumentierens und Verwertens berufsmäßig von Priestern, Pfarrern und theologischen Lehrern bewahrt und systematisch weiterentwickelt. 5. Die ethische Dimension der religiösen Wirkung. Die Dimension der ethischen Konsequenzen ist die übergeordnete Ebene, in die gleichermaßen ideologiRechtgläubigkeit bezeichnet – gemessen an der Aussageintention derer, die Dogmen formulieren und verwalten –, meint Lenski mit demselben Ausdruck die Welteinstellung eines Gläubigen, bzw. das Maß, in dem Glaube für „die Welt“ als relevant angesehen wird. Ein Orthodoxer im Lenskischen Sinne kann sehr wohl auch liberal im Glockschen Sinne sein, und analog: ein devotionaler Gläubiger kann durchaus sowohl orthodox als auch liberal im Glockschen Sinne sein.

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scher Glaube, rituelle Praxis, gefühlsmäßige Erfahrung und intellektuelles Wissen einmünden. Sie gibt sich auch dort im Verhalten eines Menschen zu erkennen, wo er in einer völlig säkularisierten Umwelt agiert: Die ethischreligiöse Dimension stellt sich gleichsam als die immerzu gegenwärtige Wirkungsessenz von Religion im gesellschaftlichen Verhalten ihrer Mitglieder dar; sie ist identisch mit dem, was Herberg als Funktion der Kulturreligion beschrieben und Lenski als „religiösen Faktor“ bezeichnet hat. 232 3.3 Kritische Anfragen Das Mehrdimensionen-Modell Glocks ist in der Religionssoziologie nicht unumstritten geblieben. Obwohl seine Darlegung auf einen ersten Blick hin plausibel erscheint, so ist bei genauerer Betrachtung „ein gewisses Moment der Willkür“ in der atomistischen Aufreihung von isoliert nebeneinanderstehenden Religionsmerkmalen nicht zu leugnen; Joachim Matthes spricht in diesem Zusammenhang von „einer Art Puzzle-Spiel mit künstlich geschaffenen und gegeneinander abgegrenzten Einheiten“21. Dieses Urteil wird durch empirische Untersuchungen belegt: Zum Beispiel fand Ursula BoosNünning22 anhand eigener Studien bei Katholiken in einer Großstadt des Ruhrgebiets heraus, daß die von Glock so säuberlich untergliederten Dimensionen in Wirklichkeit als einzelne kaum noch erkennbar sind; vielmehr schmelzen sie zu einem allgemeinen, unteilbaren Faktor von Religiosität zusammen. Nur die Typen des religiösen Wissens und der – im Glockschen Modell nicht aufgeführten – Dimension kirchlicher Gemeindebindung sind bis zu einem gewissen Grad als Ausnahmen herauszulösen: Ein völlig unreligiöser Mensch kann dennoch ein breit gefächertes religiöses Wissen haben; und man kann sich durchaus im echten Sinne für gläubig halten, ohne Kontakte zu einer Kirchengemeinde aufzunehmen, was zugegeben theologisch problematisch, aber soziologisch doch möglich ist. Mit einem begrenzten Recht kann man die Kritik an Glock auf die Frage zuspitzen, ob in seinem Mehrdimensionen-Modell nicht zuweilen begriffliche Taxonomie und systematische Spitzfindigkeit gegenüber der empirischen Erfassung religiöser Realität überwiegt. Doch obwohl die empirische Gültigkeit seines MehrdimensionenModells nicht bewiesen ist, enthält sie andererseits analytisch durchaus einen korrigierenden Effekt: Indem Glock die Religion in ihrer mehrdimen-

21 22

Joachim Matthes: Religion und Gesellschaft (s.o. Anm. 14), S. 110. Ursula Boos-Nünning: Dimensionen der Religiosität. Zur Operationalisierung und Messung religiöser Einstellungen, München/Mainz 1972.

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sionalen Gestalt auffächert, beugt er zugleich jeder einlinigen Verengung ihrer sozialen Erscheinung auf nur wenige Teilaspekte vor. Noch ein anderer Punkt im Glockschen Religionsmodell ist problematisch: Bei ihm bleibt die Frage ungeklärt, ob und wieweit die 233 gesellschaftlich verfaßte, kulturell verschränkte und historisch verdichtete Religion mehr ist als die Summe aus der Religiosität einzelner. Denn was Glock in seiner Analyse eigentlich herausarbeitet, ist die in den sozialpsychischen Einstellungen und Verhaltensweisen der Individuen subjektiv ausgeprägte Entsprechung zur objektiv vorgegebenen Religion. In dieser Sicht werden sowohl Eigengewicht und Eigendynamik der institutionalisierten Religion vernachlässigt als auch die Beziehungen zwischen organisierter Religion und individuell-spontaner Religiosität. Glock scheint die Deckungsgleichheit von institutionalisierter Anforderung und subjektiver Reaktion selbstverständlich vorauszusetzen. Was geschieht aber, wenn das religiöse Individuum mit seiner kirchlichen Institution nicht mehr übereinstimmt? Nach Glocks eigenen Prämissen enthielte ein solcher Fall tendenziell die Bedrohung des religiösen Bestands schlechthin. Ähnlich wie bei Herberg würde dies in letzter Konsequenz bedeuten, die Zukunft der Religion an das Beharrungsvermögen des fundamentalistischen Glaubens ihrer Mitglieder zu koppeln, mithin die Überlebenschance der Religion hauptsächlich in der Orthodoxie ihrer Anhänger garantiert zu sehen. Was Orthodoxie dann im einzelnen ist, wird durch das Selbstverständnis der kirchlichen Institution definiert. Das religiöse Individuum selbst aber wird damit weitgehend unter die institutionelle Autorität der vorfindlichen Kirchen subsumiert. Hier deutet sich bei Glock eine innere logische Tendenz an, die seinem ursprünglichen Anliegen entgegenläuft: Glock, der damit begann, die Bedeutung der Individualität in der Religion aufzuzeigen, läuft letztlich Gefahr, vor der vermeintlichen Übermacht religiöser Institutionen zu resignieren. Unter anderem Gesichtspunkt hat Glock jedoch für die Religionssoziologie ein bisher kaum detailliert bearbeitetes Problemfeld erschlossen: Religiosität wird von ihm als ein konstitutiver Faktor in der Herausbildung und Stabilisierung der sozialkulturellen Persönlichkeit unterstrichen; Religion erscheint unter dem Aspekt des individuellen Problemlösungsverhaltens im gesellschaftlichen Leben.23 In diesem Ansatz liegt für die Religionssoziologie die Chance verborgen, sich vom Odium bloßer Marginalforschung zu befreien: 234 Indem Soziologie nachzeichnet, wie Religion die Reflexe von Individuen auf sozialstrukturelle Defizitbestände und Mangelsituatio23

Vgl. hierzu auch Volker Drehsen: Krisenbewältigung durch Wandel zur Frömmigkeit. Die Evangelisation Werner Heukelbachs als soziologische Fallstudie, in: WzM 26 (1974), S. 49–63.

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nen absorbiert, kann sie diese Analyse gleichsam im Rückwurfverfahren kritisch gegen die Gesellschaft selbst wenden, die solche Deprivation hervorbringt. Was Marx einst in seiner Religionskritik inszeniert hatte, dann aber im Verlauf der Soziologiegeschichte zunehmend verschüttet wurde, deutet sich hier bei Glock als theoretische Möglichkeit zaghaft wieder an: Religionssoziologie als entlarvende Aufdeckung gesellschaftsbedingter und Religiosität provozierender Entfremdungstatbestände wird zur analytischen Kritik an der sozialen Umwelt der Religion: mithin zur umfassenden Gesellschaftskritik.

Die Reprivatisierung des heiligen Kosmos: Peter L. Berger und Thomas Luckmann

Am Ende der sechziger Jahre erlebte die Religionssoziologie in der Bundesrepublik Deutschland eine Renaissance, die allseits Verwunderung auslöste1: Professionelle Gesellschaftstheoretiker fanden mit einem Male das Interesse an der Religion wieder, das ihnen etwa seit Max Webers Tod hierzulande verlorengegangen war. Nahm noch in Webers sozialtheoretischem Entwurf die Religion eine Schlüsselstellung ein, so reichte deren Erforschung nach ihm kaum über die Grenzen bloßer Kirchenstatistik hinweg. Erst in den sechziger Jahren häuften sich die Versuche, Religion wieder in die Betrachtung der Gesamtgesellschaft einzubeziehen. Kirchenvertreter andererseits mußten erfahren, wie sich die Religionssoziologie zunehmend versagte, gleichsam auf Bestellung brauchbare Orientierungsdaten zu liefern; im Gegenteil: in dem Maße, wie sich die Forschung von ihren Auftraggebern löste, gewann sie vor allem in kirchenkritischen Kreisen an Resonanz.2 Es liegt nahe, dieses neuaufkommende Interesse an der Religion im Zusammenhang mit der damaligen Atmosphäre zu sehen, die bestimmt war durch Studentenunruhen und zaghafte politische Tendenzwende, durch evangelische Reformsynoden, ökumenische Impulse und katholisches Aggiornamento. Tatsächlich trug die Pro 236test- und Reformbewegung universale Züge; – nicht nur, weil Studenten zugleich in Berkeley wie in Berlin demonstrierten, sondern weil sich ihr Protest darüber hinaus 1

2

Typisch für diese Renaissance sind die etwa zur gleichen Zeit erschienenen Gesamtdarstellungen der Religionssoziologie von Günter Kehrer: Religionssoziologie, Berlin 1968. – Joachim Matthes: Einführung in die Religionssoziologie, 2 Bände, Reinbek 1967/1969. – Demosthenes Savramis: Religionssoziologie. Eine Einführung, München 1968. Ursächlich für die „Verweigerung“ waren die Einsichten, die die Religionssoziologie aus der Kritik an der eigenen Säkularisierungsthese gewann; insbesondere die Erkenntnis der kirchenpolitischen Implikationen ihrer bisherigen Forschung und der Dürftigkeit ihres Ertrags. Vgl. hierzu das Kapitel „Zum Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion“ (s.u. S. 159–199).

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fast gegen jede Einrichtung des „Spätkapitalismus“ richtete; gegen die Universität genauso wie gegen den Staat, gegen die Wirtschaft ebenso wie gegen den Kulturbetrieb – und desgleichen auch gegen die Kirchen. Kaum eine Institution blieb verschont. An allen Orten fand eine Verunsicherung der gemeinhin mit „Establishment“ titulierten Führungsschichten und Autoritäten statt; – und dies in einem Ausmaß, das kaum noch altväterlich mit dem Stichwort vom Generationenkonflikt abzutun war. Die eigentümlichen Ansprüche und Erwartungen des Protests ließen sich nicht länger mit der Zusicherung beruhigen, dieses oder jenes in Zukunft besser machen zu wollen. Vielmehr stand das Ganze zur Disposition; und zwar: das Ganze sowohl in seiner manifesten Gestalt als auch in der Art, wie es gewissermaßen untergründig abgesichert und legitimiert war. Dabei avancierte gerade die Soziologie zu einem wirksamen Instrument politischer Normenkontrolle und ideologiekritischer Diagnose. Die Gesellschaftswissenschaften, unter der Ägide der Aufklärer einst im 18. Jahrhundert als Sozialpathologie und Oppositionslehre entstanden, schienen in ihr ursprüngliches Recht wieder eingesetzt; Schlagworte wie „Kritische Theorie“ stiegen im Kurswert. Selbst später, als der Protest schon längst an der Härte und Beständigkeit der Institutionen abgeprallt war, wurde die Soziologie noch als Kernstück verhaltenspolitischer Regieanweisungen in den Dienst genommen – nun freilich, um langfristige Perspektiven zu entwickeln, um den mühsamen Marsch durch die Institutionen zu inszenieren. Dieses Klima aus Kritik und Reform beeinflußte auch die Religionssoziologie. Besonders der im kirchlich-theologischen Umkreis getragene Teil der allgemeingärenden Bewegung stellte durchaus eigene Ansprüche an die Sozialwissenschaft und prägte damit, wenn auch eher unabsichtlich, deren Gestalt: Im Erwartungshorizont allgemein-kritischen Bewußtseins entpuppte sich die Religionssoziologie zu einer Art Rüstzeug, Vokabular und Richtungsweiser des Protests gegen eine allzu enge Verfilzung von kirchlicher und sozialer Autorität; wobei sie sich gegebenenfalls selbst mit Psychoanalyse, Marxismus und Politikwissenschaft einließ. Ausdrückliches 237 Ziel dieses Zweckbündnisses war es, vereint zu einer emanzipativen Theorie beizusteuern, die sowohl die Gesamtgesellschaft als auch die Kirchlichkeit umfassen und Konturen neuer Formen sozial gelebter Religiosität freilegen sollte. Der Ruf nach kirchlicher Demokratisierung, nach politischer, ja revolutionärer Theologie war nur ein sichtbares Zeichen des weiterzielenden Versuchs, auch innerhalb der kirchlichen Institution organisierte Selbstgerechtigkeit zu sabotieren. Wenn man heute im Rückblick nach Exponenten, vielleicht gar Protagonisten einer solchen religionssoziologischen Richtung ausschaut, so sind

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wohl Peter L. Berger und Thomas Luckmann3 nicht zu übersehen: Sie haben beträchtlich mit dazu beigetragen, all das auf den Begriff zu bringen und theoretisch voranzutreiben, was sich als Erwartung und Programm an die Religionssoziologie knüpfte. So galt ihre Kritik zunächst einer Gestalt von Religionssoziologie, die sich mit dem Dasein einer theoretisch verengten, historisch verflachten und konfessionell aufgesplitterten Marktforschungsagentur im Dienste der Kirchen zufriedengab; sodann aber auch den Kirchen selber, die zwar allgemein Religion für sich reklamierten, in Wirklichkeit jedoch weithin nichts anderes als ein besonderes Syndrom von Kirchlichkeit hervorgebracht haben. 1. Peter L. Berger Peter Ludwig Berger kam 1929 in Wien zur Welt, erlebte dort als achtjähriger Junge, wie er ins großdeutsche Reich „heimgeholt“ und 1945 wieder entlassen wurde. Ein Jahr später siedelte er in die USA über, um Philosophie und Sozialwissenschaft zu studieren. 238 Als Assistenzprofessor begann er 1958 am Hartford Seminar in Connecticut Soziologie zu lehren, wechselte nach fünf Jahren an die „New School for Social Research“ in New York über, an der er – von einem Zwischenspiel an der dortigen Stadtuniversität abgesehen – blieb, bis er einem Ruf an die Rutgers Universität in New Brunswick/New Jersey folgte, wo er noch heute das Fach Soziologie vertritt. 1.1 Prophetische Religionssoziologie Ostentativ bezeichnet Berger selbst den Grundzug seiner soziologischen Tätigkeit als „methodologischen Atheismus“; dessen wesentliches Merkmal sieht er, Max Weber zitierend, in asketischer „Werturteilsfreiheit“ und strik3

Zu den Religionstheorien von Berger und Luckmann liegen verschiedene Darstellungen vor: Gordon Clanton: Peter L. Berger und die Rekonstruktion der Religionssoziologie, in: WPKG 62 (1973), S. 78–95. – Michael Hill: A Sociology of Religion, London 1973, S. 252–268. – Josef Macha: Spuren des Übernatürlichen. Die Religionssoziologie Peter L. Bergers und Thomas Luckmanns, in: Stimmen der Zeit 187 (1971), S. 348–353. – Wolfhart Pannenberg: Signale der Transzendenz. Religionssoziologie zwischen Atheismus und religiöser Wirklichkeit, in: EK 7 (1974), S. 151– 154. – Raban Tilmann: Sozialer und religiöser Wandel, Düsseldorf 1972, S. 69–75. – Wolfgang Trillhaas: Eine heilsame Ernüchterung: Bergers Religionstheorie, in: LM 12 (1973), S. 633 f.

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ter Sachneutralität: Was sich der Soziologe wünscht, oder was ihm mißfällt, wie er diese oder jene Tatsache beurteilt, – nichts von dem darf in der Analyse redlicherweise eine Spur hinterlassen, da diese sonst unversehens zum ideologischen Schandfleck wissenschaftlicher Objektivität gerinnt. Doch anders als bei Weber, der durchaus persönliches Naturell zu verbergen wußte, wenn er als Wissenschaftler auftrat, hintertreiben bei Berger nicht selten Temperament und Engagement die eigene Absicht: Mit dem herb maliziösen Charme des gebürtigen Wieners apostrophiert er Soziologie zu einer „fröhlichen Wissenschaft“; und mit der Ernsthaftigkeit des überzeugten Lutheraners sieht er christliche Existenz überall sonst, nur kaum in den etablierten Kirchen verwirklicht. Nach seiner Ansicht mußte ein bewußter Christ diese vielmehr als Provokation und Anmaßung empfinden: als „Kirche ohne Auftrag“; so lautet denn auch bezeichnenderweise der übersetzte Titel des Buches, mit dem Berger 1962 in Deutschland bekannt wurde.4 Doch schon sein erstes Werk hatte den Kirchen Protest und Kritik angedroht: „The Precarious Vision. A Sociologist Looks at Social Fictions and Christian Faith“5. Diese Schrift war ein Programm, wenn nicht gar eine Kampfansage. Berger bekennt sich hier zu einigen fundamentalen Grundsätzen, die zwar im Verlaufe seiner 239 akademischen Entwicklung manche Wandlungen, Korrekturen und Abschwächungen erfuhren, sich in ihrer Struktur jedoch bis in die jüngste Veröffentlichung hinein erhalten haben. Die Proklamation läßt sich grob in drei Artikel fassen: Die soziologische Analyse ist anspruchsvoller als ein protokollarisches Verfahren des fotographischen Abzugs von Gesellschaft. Sie ist mehr als eine Momentaufnahme sozialer Zustände und Prozesse: denn sie ist ein wirksames Instrument der „Entzauberung“, ein Unternehmen entlarvender Kritik. Kritik meint den Aufweis von Widersprüchlichkeiten. Insbesondere die Religionssoziologie rechnet den Kirchen die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit vor: nämlich in der Realität tatkräftig soziale Ordnungsfiktionen abzustützen und dabei gleichzeitig das Recht zu beanspruchen, Advokat des Glaubens und Sachwalter der Offenbarung zu sein. Die Anspruchsgrundlage einer soziologischen Religionskritik beruht für Berger letztlich auf der Position des authentischen Glaubens gegen eine fiktive Religion, auf der befreienden Haltung des überlegenen Humors gegen 4

5

Peter L. Berger: The Noise of Solemn Assemblies. Christian Commitment and the Religious Establishment in America, New York 1961; deutsch: Kirche ohne Auftrag. Am Beispiel Amerikas, Stuttgart 1962. Garden City (N.Y.) 1961.

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die Fesseln kleingläubiger Ernsthaftigkeit. Kritik an den Kirchen erfolgt – auch soziologisch betrieben – gleichsam von innen heraus: Sie tritt einer rechtverstandenen Theologie nicht als Kontrahent entgegen, sondern hat mit ihr eine gemeinsame Basis: „die soziologische Analyse der religiösen Situation wird uns am Ende helfen . . . , das, was das Evangelium wirklich ist, zu erkennen . . . “, schreibt Berger selbst (beinahe barthianisch) im Vorwort zu „Kirche ohne Auftrag“. 1.2 Paradoxie der Ordnung – Orthodoxie der Distanz Eigentlich erst mit diesem Buch beginnt Bergers Renommee als Religionssoziologe.6 Wie in „Precarious Vision“ steht auch hier derselbe kritischprogrammatische Antrieb im Hintergrund: die Entlarvung sozialer Fiktionen unter Einschluß der Religion mit 240 den Mitteln „soziologischer Vorstellungskraft“ zu betreiben. Der englische Titel des kritischen Pamphlets lautet: „The Noise of Solemn Assemblies“. Daß die amerikanischen Kirchen tatsächlich weithin „viel Lärm um nichts“ veranstalten, – genau das will Berger nachweisen. Weil die Kirchen in Amerika fest in die soziale und politische Ordnung der Gesellschaft verwachsen sind, haben sie selber an Vitalität eingebüßt und stellen alles andere als lebendige Gemeinschaften der Gläubigen dar. Zutreffender könnte man sie wohl „eine Art moralischer Lebensversicherung“ nennen, die es hingenommen hat, daß die Diesseitsorientierung den Sinn fürs Übernatürliche verdrängen konnte und Religion damit zu einer Angelegenheit der Moral und Psychologie, des Gewissens und Gefühls herabsank. In ihrer derzeitigen Gestalt praktiziert die Religion in Amerika fast durchgängig die Anpassung an eine soziale Welt, die sie zwar mit einschränkenden Vorbehalten betrachtet, grundsätzlich jedoch für „in Ordnung“ hält: Die Kirchen kontrollieren die potentiellen Abweichler; sie sammeln die „Gemeinde der Respektablen“ und dienen als psychotherapeutische Anstalt. So hat sich die Religion in die symbolische Integration des Amerikanismus und in die Ideologisierung des Mittelstandsethos entäußert. Sie ist auf eine Formel gebracht: das Paradox der sozialen Funktionalität bei gleichzeitiger sozialer Irrelevanz. Sie funktioniert insofern, als sie unangetastet in die 6

In Anlehnung an Gordon Clanton (s.o. Anm. 3) läßt sich Bergers Entwicklungsgang in drei Phasen darstellen, die sich grob nach Arbeitsschwerpunkten unterscheiden: I. Theorie der Kulturreligion, 1961–1963; II. Theorie der Wissenssoziologie (zusammen mit Thomas Luckmann), 1963–1966; III. Theorie der Säkularisierung, 1966–1970.

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öffentliche Ordnung der amerikanischen Gesellschaft aufgeht und deren Nationalgefühl symbolisch-rituell bekräftigt. Andererseits aber ist sie zur sozialen Bedeutungslosigkeit verurteilt, weil sie keine eigenen Werte mehr hervorbringt, sondern stets nur vorhandene heiligt; weil sie keinen ernsthaften Einfluß auf das öffentliche Leben mehr hat, sondern sich allenfalls noch als „psychosozialer Ruheplatz“ anbietet. Damit hat sie sich selbst zu einer Privatangelegenheit zurückgenommen und erschöpft sich in Freizeitbeschäftigung. Modellfall dieser These von der Privatisierung der Religion wurde für Berger ein kleiner Vorort von Hartford in Connecticut.7 Dort hatten die Kirchen in den fünfziger Jahren einen unvermuteten 241 Aufschwung erlebt. Zunehmend mehr, besonders neuzugezogene Vorstadtbürger traten in eine der zahlreichen religiösen Gemeinschaften ein. Bei näherer Untersuchung der Beweggründe findet Berger heraus, daß nicht etwa Gewohnheit, ethisches Orientierungsverlangen, Erfolgsstreben oder Bedürfnis nach ritueller Festlichkeit ausschlaggebendes Motiv ist, sich der Religion zuzuwenden, sondern fast ausschließlich private, individuelle und familiäre Gesichtspunkte: Die Amerikaner wollen für eine moralisch einwandfreie Erziehung ihrer Kinder in der Sonntagsschule sorgen, zu einer Gemeinschaft gehören, die Nachbarn aufgrund des wöchentlichen Kirchgangs in „gute“ und „schlechte“ einteilen können, oder auch einen Hort der Entspannung, der Ruhe und Besinnung in einer aggressiven und lärmvollen Alltagsumwelt finden. – Der breite Zustrom in die kirchlichen Gruppen rekrutiert sich vornehmlich aus jenen Schichten des mobilen, gebildeten und verbrauchsorientierten Mittelstandes, der in der Religion zunächst nichts anderes sieht als eine Art Dienstleistungsbetrieb zur Erfüllung seiner familistischen Bedürfnisse: als magische Hilfsanstalt bei der Kinderaufzucht, als Gelegenheit gemeinschaftlicher Geselligkeit, als aggressionsfreie Zone der Selbstbesinnung oder als moralischer Alltagslotse. Angesichts solcher Erwartungen sehen sich die Kirchen ihrerseits vor eine veränderte Situation gestellt. Denn wollen sie ihren Mitgliederbestand erhalten und erhöhen, so müssen sie nicht nur Werbung treiben, sondern darüber hinaus auch in ihrem Veranstaltungsangebot gezielt auf die privaten Bedürfnisse eingehen. Das bereitet ihnen aber aufgrund ihrer Tradition und ihrer begrenzten finanziell-organisatorischen Möglichkeiten wegen einige Schwierigkeiten. Berger schildert nun in einem Marktmodell, wie die kirchlichen Organisationen das Problem in genau derselben Weise lösen 7

Peter L. Berger/David Nash: Church Commitment in an American Suburb, in: ASRel 13 (1962), S. 105–120. – Peter L. Berger/David Nash: The Child, the Family and the Religious Revival in Suburbia, in: JSSR 1 (1962), S. 85–93.

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wie Wirtschaftsunternehmen:8 Übersteigen die Kosten des Wettbewerbs die Leistungsfähigkeit der einzelnen Anbietergruppen, so schließen sie sich zu Kartellen zusammen, um die preistreibenden Konkurrenzregeln wenigstens in begrenzten Gebieten außer Kraft zu setzen. Örtliche und nationale ökumenische Gremien stellen so 242 etwas wie religiöse Kartelle dar: In ihnen werden die kirchlichen Verbände fusioniert, die Absatzmärkte nach Regionen und Schichten aufgeteilt sowie die Verkaufsstrategien durch Marktforschung, Planung und „konzertierte Aktion“ rationalisiert. Eine Folge dieser Tendenz zur Oligopolisierung des kirchlichen Marktes ist die Standardisierung des Produkts „Religion“. Nicht mehr eine lutherische, methodistische oder episkopale Theologie bereichert das Angebot, sondern alle Kirchengruppen verkaufen gleichermaßen die allgemeine Religion: die religiös kultisch und verbal umrahmte Philosophie des „American Way of Life“. Die Betonung der konfessionellen Besonderheiten wird zu einer zweitrangigen Begleiterscheinung: Wie etwa ein und dasselbe Waschmittel mit verschiedenem Image in unterschiedlicher Verpackung auf den Markt gelangt, genauso wird auch die Religion des mittelständischen Amerikanismus unter dem Markenzeichen der jeweiligen Religionsgruppe feilgeboten. Es findet eine „marginale Produktdifferenzierung“ statt: Die Unterschiede betreffen nur noch unwesentliche Verzierungen, gleichsam die Adiaphora der Konfessionen; und es ist die Aufgabe der Theologie, für die Variationsbreite der Verpackung und des Images zu sorgen. Auch in diesem Modell kommen die grundlegenden Stoßrichtungen der Bergerschen Religionskritik wieder zum Vorschein. Mit einer an Zynismus grenzenden Konsequenz werden die unterschwelligen Mechanismen entlarvt, die zwischen Gesellschaft, Wirtschaft und Kirchen ablaufen. Und wiederum ist die Analyse der Auswirkungen fast prophetisch: Vokabeln wie Abdankung, Demontage, Verödung, Selbstvernichtung, Entthronung und Selbstaufgabe der Religion bestimmen die Diktion der Bergerschen Kritik – eine Kritik, die ihre Berechtigung letztlich aus dem Engagement für jene theologische Substanz erhält, deren Mangel in der religiösen Ordnung Amerikas beklagt wird. Soweit reicht sozusagen die Phase des frühen Bergers: des Lutheraners, der die religionssoziologische Klaviatur ausreichend genug beherrscht, um sie in den Dienst seiner Glaubensüberzeugung zu nehmen. Er vermag sie in gleicher Weise scharfsichtig wie scharfzüngig gegen die Kirchlichkeit zu wenden, mit der er sich nicht mehr identifizieren kann. Gleichwohl ist Ber8

Peter L. Berger: A Market Model for the Analysis of Ecumenicity, in: Social Research 30 (1963); deutsch: Ein Marktmodell zur Analyse ökumenischer Prozesse, in: IJRS 1 (1965), S. 235–249.

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ger keinen resignativen Rückzug angetreten. Im Gegenteil: In der Rolle des „prophetischen Religionssoziologen“, des „Bilderstürmers“ und „Rebells“ ruft er 243 gegen eine marode und in sich paradoxe Ordnung der Religion zur Orthodoxie gläubiger Distanz auf: zum religiös motivierten „Disestablishment“, in dem er so etwas wie einen gangbaren Mittelweg gefunden zu haben glaubt zwischen dem radikalen Dolchstoß an der kirchlichen Institution einerseits und deren klerikal verwalteten Agonie andererseits. 1.3 Der Mann auf der Straße und das Bewußtsein von Welt Mit der „Einladung zur Soziologie“9 trat 1963 ein veränderter Berger auf. Nicht mehr vornehmlich Kirchenvertreter und Theologen bildeten die Zielscheibe der Kritik, sondern die eigenen Zunftgenossen der Soziologie. Wer aber in den Kirchen vermutet hatte, daß Berger gezähmt war, mußte bald einsehen, daß die Hoffnung trog. Er gewährte gleichsam nur eine Schonfrist, um nach einer breiteren theoretischen Fundierung seines Ansatzes erneut zum Schlag auszuholen. Berger went to prove his soul; und er hat dabei ebensowenig eine Konversion durchgemacht wie einen totalen Rollenwechsel vorgenommen. Wohl aber ist er nun als jemand zu erkennen, der sich in einer anderen Umwelt einrichten und an sie einige Zugeständnisse machen mußte. Im Jahre 1963 verließ Berger das vom theologischen Geist durchwehte Hartford-Seminar und ging an die „New School for Social Research“, der weltbekannten Hochburg für Sozialwissenschaftler. Den Soziologen war persönlicher Glaube als Grund nicht ausreichend genug, um sich mit der Religion eigens soziologisch zu beschäftigen. Wenn Berger das Unternehmen fortsetzen wollte – und er wollte es! –, dann mußte er in einer auch für Soziologen einsichtigen Weise zeigen, warum dies dennoch sinnvoll sein könnte. So schleicht sich in die nun folgenden Veröffentlichungen Bergers zuweilen ein gewisser apologetischer Unterton ein. Es geht ihm dabei vorrangig um den Aufweis, daß Religion ein grundlegendes anthropologisches Phänomen ist: ein Faktor, der sich als etwas für den Menschen Unverzichtbares aus dem Gefüge von Natur, Geschichte und Gesellschaft herausschälen läßt. Nicht 244 mehr die Religion in ihrer kirchlichen Verzerrung bildet fortan das Thema seiner Untersuchungen, sondern Religion als eine fundamentale Schicht des menschlich-sozialen Seins. Unter Berufung auf Durkheim, Weber und Simmel, aber auch auf

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Peter L. Berger: Invitation to Sociology. A Humanistic Perspective, Garden City (N.Y.) 1963; deutsch: Einladung zur Soziologie. Eine humanistische Perspektive, München 1971.

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Scheler, Mannheim und Schütz10 geht Berger vom Axiom aus, daß die Religion überall und zu jeder Zeit eine entscheidende Rolle in der gesellschaftlichen Fabrikation von Ideen gespielt habe. Der zentrale Sitz der Religion im menschlichen Leben ist mithin das Weltbewußtsein des homo socialis. Die spezifische Disziplin, die sich mit der sozialen Lokalisierung von Ideen befaßt, ist die Wissenssoziologie. In enger Zusammenarbeit mit Thomas Luckmann hat Berger versucht, die Theorie der Wissenssoziologie neu zu konzipieren und für die Religionserforschung fruchtbar zu machen. Die Ergebnisse der Bemühungen werden von Berger zwar in der „Einladung zur Soziologie“ bereits angedeutet, finden ihre ausführliche Darstellung aber erst in den mit Luckmann gemeinsam besorgten Publikationen; vor allem in dem Aufsatz „Sociology of Religion and Sociology of Knowledge“ (1963) sowie in dem Aufsehen erregenden Buch: „The Social Construction of Reality“ (1966)11. Berger und Luckmann setzen gegen 245über früheren wissenssoziologischen Grundrissen gleich mehrfach neue Akzente. Zum einen 10

11

Max Scheler (1874–1928) war zunächst Professor für Philosophie in Köln, dann – kurz vor seinem Tod – in Frankfurt a.M. Sein Hauptwerk: Die Wissensformen und die Gesellschaft, Leipzig 1926; 2. Auflage, München 1960. – Karl Mannheim (1893– 1947) war Professor für Soziologie in Frankfurt a.M. und emigrierte 1933 nach London. Seine wichtigsten Werke: Ideologie und Utopie, Bonn 1929; 4. Auflage, Frankfurt a.M. 1965. – Wissenssoziologie. Eine Auswahl aus dem Werk, Neuwied/Berlin 1964. – Alfred Schütz (1899–1959) war seit 1943 Professor für Philosophie und Soziologie an der „New School for Social Research“ in New York. Seine Hauptwerke: Der sinnhafte Aufbau der Welt, Wien 1932. – Collected Papers, 2 Bände, Den Haag 1962/1964. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Sociology of Religion and Sociology of Knowledge, in: Sociology and Social Research 47 (1963). – Peter L. Berger/Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality. A Treatise in the Sociology of Knowledge, Garden City (N.Y.) 1966; deutsch: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1969; 2. Auflage, 1971. – Für die Phase der Neuformulierung einer Theorie der Wissenssoziologie sind außerdem noch folgende Aufsätze von Bedeutung: Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Social Mobility and Personal Identity, in: AES 5 (1964), S. 331–344. – Peter L. Berger/Hansfried Kellner: Le mariage et la construction de la realité, in: Dialogue. Revue International des Sciences Humaines 46 (1964), S. 3–32; deutsch: Die Ehe und die Konstruktion der Wirklichkeit, in: SW 16 (1965), S. 220–235. – Peter L. Berger/Stefan Pullberg: Reification and the Sociological Critique of Consciousness, in: History and Theory. Studies in the Philosophy of History. 4 (1965), S. 196–211; deutsch: Verdinglichung und die soziologische Kritik des Bewusstseins, in: SW 16 (1965), S. 97–112. – Peter L. Berger: Towards a Sociological Understanding of Psychoanalysis, in: Social Research 32 (1965), S. 26–41. – Peter L. Berger: Identity as a Problem in the Sociology of Knowledge, in: AES 7 (1966), S. 105–115.

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lehnen sie die verengte Sichtweise ab, die nur Ideen oder Ideologien, also schon theoretisch ausformulierten Gedankengebilden, Beachtung schenkt. Wissen findet sich nach ihrer Ansicht vielmehr bereits im vortheoretischen Bereich des vielgestaltigen Allerweltsbewußtseins vor. Sodann wenden sich Berger und Luckmann gegen eine Version von Wissenssoziologie, die Ideen immer wieder als etwas Abstruses, Pathologisches, jedenfalls die intellektuelle Wesensbestimmung des Menschen Deformierendes behandelt. Dagegen rücken sie das Wissen unter den Aspekt der allgemeinen „Welt der Gewißheit“: Wissen erscheint hier als Konstitution der normalen Wirklichkeit, als Inbegriff des „sinnhaften Aufbaus der Welt“12; so lautet der Titel eines Buches von Alfred Schütz, auf dessen Phänomenologie Berger und Luckmann immer wieder verweisen. Mit ihm teilen sie die fundamentale These: Nicht der fanatische Parteigänger, auch nicht der Intellektuelle, sondern sozusagen der „kleine Mann auf der Straße“ ist als prototypischer Träger der zu analysierenden Bewußtseinsform anzusehen. Die Frage nach der Substanz des homo sapiens fällt mit der Frage nach dessen alltäglichem Wirklichkeitsverständnis zusammen – einer Wirklichkeit, die gesellschaftlich in gemeinsamer Aktion hervorgebracht wird. Wie im einzelnen diese „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ sowohl objektiv als auch subjektiv zustandekommt, das ist die Kernfrage der Berger-Luckmannschen Wissenstheorie: „Wie ist es möglich, daß menschliches Handeln eine Welt von Sachen hervorbringt?“ Sie behandeln das Problem in einem idealtypischen Verstehensmodell, das man einen „anthropologischen Regelkreis“ nennen 246 könnte.13 Die Stationen des Kreislaufs sind: Mensch – Kultur – Gesellschaft; dazwischen laufen die dialektischen Prozesse der Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung ab: 1. Externalisierung: Ausgangspunkt des Modells ist der Tatbestand, daß der Mensch als biologisch unfertiges Wesen zur Welt kommt; als solches ist er nicht-spezialisiert, offen und seiner Konstitution 247 nach labil. Lebensstabilität ist ihm nicht mitgegeben, sondern muß erst errungen werden. Der Mensch ist gleichsam von Natur aus gezwungen, eine objektive Welt hervorzubringen, die ihm Sicherheit garantiert und gewissermaßen als äu12

13

Alfred Schütz: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt. Eine Einleitung in die verstehende Soziologie, Wien 1932, 2. Auflage, Wien 1960. Das Modell geht auf die anthropologischen Arbeiten von Arnold Gehlen und Helmuth Plessner zurück; vgl. Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt, Bonn 1950, 5. Auflage, Bonn 1955. – Helmuth Plessner: Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie, Berlin, Leipzig 1928, 2. Auflage, Berlin 1965.

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ßeres Stützkorsett auf ihn selbst zurückwirkt. Dieser Notwendigkeit zur Externalisierung wird nicht jeweils individuell entsprochen, sondern kollektiv in gemeinsamem Handeln, was wesentlich und ausschließlich zum gesellschaftlichen Ordnungsschaffen wird. 2. Objektivierung: In der Entäußerung bringen die Menschen bestimmte Dinge hervor: Werkzeuge und andere Hilfsmittel, auch Sprache, Werte, Normen und Institutionen, deren Gesamtheit Kultur ausmacht. Einmal fertiggestellt, treten die Kulturprodukte dem Menschen als objektive Wirklichkeit entgegen. So ist beispielsweise die Sprache sowohl genuin vom Menschen erdacht, andererseits aber auch ein verselbständigtes, objektives Gebilde, das für jedermann außerhalb seines subjektiven Bewußtseins und individuellen Dispositionsvermögens vorhanden ist. 3. Internalisierung: Das Phänomen der Sprache verdeutlicht auch, daß man sie trotz ihrer Objektivität in das subjektive Bewußtsein zurückholen muß, um an ihr teilzunehmen; das gleiche gilt für alle anderen Kulturprodukte: Das „Außen“ der Gesellschaft muß dem „Innen“ des menschlichen Bewußtseins einverleibt werden. Ohne den allen gemeinsamen Verstehenshorizont der Kultur zu internalisieren, kann der einzelne mit Anderen nicht in Interaktion und Kommunikation treten und verzichtet darauf, soziales Wesen zu sein, was der Unfähigkeit zum Leben überhaupt gleichkommt. Entäußerung und Aneignung sind also die beiden Pole, zwischen denen menschliches Dasein oszilliert: Ohne Entäußerung gäbe es keine Kultur, keine Gesellschaft, mithin keine wirkliche Außenwelt, die dem Menschen ein Minimum an Stabilität garantiert. Ohne Aneignung aber wäre diese Ordnung fremd, zwanghaft und unverfügbar – ein furchterregendes Monstrum. Erst wenn die objektive Wirklichkeit der Gesellschaft in die subjektive Binnenwelt des Bewußtseins eingegangen ist, gewinnt sie für den einzelnen einen mitteilbaren Sinn: Sie wird zum Nomos. – So kristallisiert sich als Ergebnis des anthropologischen Regelkreises die paradoxe Tatbestandsreihe heraus: Gesellschaft ist ebenso ein menschliches Produkt wie eine objektive Wirklichkeit. Und der Mensch ist ebenso ein gesellschaftliches Produkt wie ein sozialaktives Wesen. 248 1.4 Nomos und Kosmos in religiöser Legitimation Das oben beschriebene Urgeschehen ist auch für die Religion konstitutiv.14 Denn dasselbe menschliche Handeln, das so etwas wie Gesellschaft produ14

Die Anwendung der Berger-Luckmannschen Wissenssoziologie auf die Religion wurde zwar in „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ (s.o. Anm. 11) bereits angedeutet, aber erst später von Berger in „The Sacred Canopy. Elements of

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ziert, bringt auch ihre Religion hervor. Nur enthält das religiöse Handeln gleichsam eine zusätzliche legitimatorische Schicht: Die Religion externalisiert den Nomos gesellschaftlicher Ordnung in einen heiligen Kosmos. So erscheint beispielsweise die Ehe nicht allein als sozial verordnete Institution, sondern überdies als eine von Gott gewollte Ordnung. Das soziale Gefüge wird zur Paraphrase, Spiegelung oder Verwirklichung der kosmischen Struktur und gewinnt erst dadurch sein eigentliches Fundament: Erst die in einen Kosmos verwobene Gesellschaft besitzt Legitimität. Der Kosmos erscheint seinerseits als etwas dem Mensch objektiv übergeordnetes: Die ganz und gar anderen kosmischen Kräfte treten ihm in Geboten und Ansprüchen entgegen. Und es ist die Religion, die das Jenseits in seiner unerbittlich fordernden Faktizität dem Menschen gegenüber zur Geltung bringt; sie ist es, die die Aneignung der Kosmos-Gesetze nachdrücklich verlangt und sich dadurch als eine der produktivsten Kräfte menschlicher Selbstentfremdung etabliert. Denn durch sie wird der gesellschaftlich konstruierten Wirklichkeit jener Schleier der Mystifikation übergeworfen, der die Menschen vergessen läßt, daß sie selber einst diesen Kosmos wie auch den in ihm verankerten Nomos sozialer Ordnung geschaffen haben. Stabilität und Gewißheit der sozial-religiösen Sinnordnung sind stets prekär. Sie wird zum einen durch die Vergeßlichkeit der Menschen bedroht. Und wiederum ist es die Religion, die der Gefahr entgegentritt: Vor allem im Ritus wird die kosmische Ordnung ständig erneut gleichsam als Spiel inszeniert und formelhaft beschrieben. So ist Gottesdienst in erster Linie eine Art Memotechnik: Erinnerung an die Taten und Gebote Gottes. – Sodann stellt aber auch die bloße Existenz des Chaos eine Bedrohung dar. Auch gegen sie muß das Dasein des heiligen Kosmos ständig vergegenwärtigt und seine Gültigkeit permanent versichert werden. 249 Tatsächlich ist der Kosmos im alltäglichen Umgang dauerhaft präsent: in Unterhaltungen wird er mal hintergründig, mal ausdrücklich zur Sprache gebracht; und seine Wirkung ist nachhaltig zu spüren, wenn man sich seiner Ordnung widersetzt. Denn seine Wirklichkeit ist durch das Einverständnis derer definiert, die an ihn glauben; schon dies gibt ihm Anspruch auf totale Geltung. Wer sich gegen ihn auflehnt, wer aus seiner Normalität ausbricht, hat Folgen und Sanktionen zu gegenwärtigen, deren Variationsbreite die Christentumsgeschichte eindrucksvoll vor Augen geführt hat: Der Abweichler wird abgesondert wie der Jude im Getto, vernichtet wie der Ketzer auf dem Scheiterhaufen, ignoriert wie mancher Wissenschaftler und Philosoph im Mittelala Sociological Theory of Religion“, Garden City (N.Y.) 1967, und von Luckmann in „The Invisible Religion. The Problem of Religion in Modern Society“, New York 1967, ausgeführt.

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ter oder „geheilt“ wie einst Galilei. Verdrängung, Nihilierung, Absonderung und Therapie sind die Maßnahmen, mit denen die Religion den Umgang mit solchen Personen zu verhindern sucht, von denen keine Bestätigung der jeweils gültigen Wirklichkeit erfolgt. Religiöse Vorsorge gegen Abweichlertum garantiert die Plausibilitätsstruktur der allgemeingültig sinnhaften Weltordnung. Schließlich erfährt das auftauchende Chaos seitens der Religion gewissermaßen eine negative Legitimierung. Denn es muß der Einbruch des Bösen – in Krisen, im Leid und im Tod – nicht nur abgewehrt, sondern auch erklärt werden: Warum kann Gott das Böse in der Welt zulassen? Warum gibt es überhaupt so etwas wie das Chaos? Solche Fragen enthalten das Theodizee-Problem, dessen theoretische Lösung vor allem der Religion obliegt. – Schon Max Weber hatte darin das religiöse Problem par excellence gesehen; Berger betont ebenfalls, wie empfindlich sowohl die soziale Lebensfähigkeit des einzelnen als auch die Integration einer Gesellschaft gerade von der Lösung dieser Theodizee-Frage abhängen. Denn immer, wenn in der Geschichte der Menschheit eine allgemein akzeptierte Antwort darauf ausblieb, tauchten Revolutionen und Revolten am Horizont auf; wann immer der Verweis auf eine Erlösung im Jenseits die Menschen über die gegenwärtig zu erleidenden Mängel im Diesseits nicht mehr hinwegzutrösten vermochte, begannen sie, „das Reich der Gnade durch das der Gerechtigkeit“ zu ersetzen (Albert Camus). Jede Religion sucht genau dies zu verhindern, indem sie für den Fall von Insubordination Kompensationsmuster anbietet: beispielsweise den Glauben, daß innerliche Reinheit ein höheres Ziel sei als äußerliches Wohlergehen; 250 oder daß irdisches Leid Entschädigung und Belohnung in der jenseitigen Welt finden werde. Solche Glaubensfiguren sind für den Menschen hilfreiche Entlastungsgriffe, weil sie ihm ermöglichen, des Todes ansichtig zu sein und dennoch weiterzuleben; dem Zweifel nachgehen zu können und sich dennoch in einem Minimum an Sicherheit einzuhausen; der Versuchung des Sinnlosen konfrontiert zu sein und dennoch die Suche nach Sinn fortzusetzen. Für die Gesellschaft aber erweist sich die Religion damit als eine wirksame Waffe der Prävention vor Umsturz und Aufmüpfigkeit. Denn sie ermöglicht ihren Mitgliedern, trotz allem in der Gesellschaft zu verbleiben, die sie so ungerecht behandelt. Religion lindert den potentiellen Gewaltausbruch, der in gesellschaftlicher Unterdrückungsangst angelegt ist. Andererseits hat die Religion immer wieder die diesseitige Welt zumindest theoretisch unter das Gericht des Jenseits gestellt und radikal relativiert. Nicht immer trat sie als die entscheidende Kraft auf, die eine wohlintegrierte Sozialordnung feierlich sanktionierte. Religion hat im Gegenteil zuweilen sub specie aeternitatis deren Entfremdungsstruktur offengelegt und be-

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kämpft. Nicht durchgängig war sie welterhaltend, sie konnte durchaus auch welterschütternd sein. Diesen ambivalenten Charakter hatte sie durchweg auch dann, wenn sie für jenes Geschehen geradezu konstitutiv war, das Berger und Luckmann die „gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“ genannt haben. Mit der Beschreibung ihrer Funktion ist noch nichts über die spezifische Form ausgemacht, in der Religion ihre Aufgabe erfüllt. Anders ausgedrückt: Der Anspruch von Berger und Luckmann auf Allgemeingültigkeit ihrer These verbietet ihnen die Parteinahme für eine konkrete Ausprägung der religiösen Gestalt. Schon der durchgreifende Säkularisierungsprozeß der letzten Jahrhunderte sollte zutagefördern, daß ein bestimmter historischer Typ von Religion nicht mit ihrer anthropologischen Funktion gleichzusetzen ist. 1.5 Die Unterhöhlung von Sinnstrukturen im gesellschaftlichen Pluralismus Mit der sozialtheoretischen Aufarbeitung des neuzeitlichen Säkularisierungsgeschehens beginnt für Bergers Religionssoziologie die dritte und vorläufig letzte Phase: Die Frage nach der Zukunft der 251 Religion in einer sich fortlaufend modernisierenden Gesellschaft rückt nunmehr in den Vordergrund. Berger ist dem Problem in seinem Buch „Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft“15 nachgegangen, das wohl bislang als sein religionssoziologisches Hauptwerk gelten kann. In ihm werden alle vormals skizzierten Elemente zu einer kompakten Theorie verschmolzen: Die neukonzipierte Wissenssoziologie findet ihre detaillierte Anwendung auf die Religion und auf das Phänomen ihrer Verweltlichung. Was Berger anfangs an der Kulturreligion gleichsam als Fertigprodukt beschrieben hatte, führt er jetzt auf seinen historischen Herstellungsvorgang zurück. Das Marktmodell der amerikanisch-nationalen Szene wird sozusagen zu einem Weltwirtschaftssystem verlängert. Und schließlich taucht auch die Frage nach der sozialen Authentizität von Religion wieder auf; sie 15

Peter L. Berger: The Sacred Canopy (s.o. Anm. 14); deutsch: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt a.M. 1973; in Großbritannien erschien das Buch unter dem Titel: The Social Reality of Religion, London 1969. Zu Bergers Analyse der Säkularisierung vgl. ferner: Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Secularization and Pluralism, in: IJRS 2 (1966), S. 73– 86. – Peter L. Berger: Religious Institutions, in: Sociology. An Introduction, hg. von Neil J. Smelser, New York/London/Sydney 1967. – Peter L. Berger: A Sociological View of the Secularization of Theology, in: JSSR 6 (1967), S. 3–16. – Peter L. Berger: Zur Soziologie kognitiver Minderheiten, in: Internationale Dialog-Zeitschrift 2 (1969), S. 127–132.

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wird gewissermaßen konstruktiv in die Suche nach neuen Formen und Konturen von Religiosität überführt. In Abgrenzung zu anderen Religionssoziologen hält Berger die Säkularisierungsthese nach wie vor für erklärungskräftig. Tatsächlich nimmt er ihr etwas von jenem Gespenstcharakter, der ihr vielfach anhaftet, wo sie als prototypischer Irrläufer der neuzeitlichen Geschichte betrachtet wird. Berger schildert, wie die Wurzeln der „Entzauberung“ bis in das radikal monotheistische, historisierte und rationalisierte Weltbild des alten Israels hineinreichen; wie die Säkularisierung zeitweilig Rückschläge verbuchen mußte, angefangen von der christlichen Inkarnationsidee und Trinitätslehre bis hin zur Mystifikation des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“. Erst nach der protestantischen Reformation und nach den Glaubenskriegen gelangte sie zum Druchbruch, den sie im 252 19. Jahrhundert zum endgültigen Siegeszug fortsetzen konnte. Generationen von Historikern, Soziologen und Theologen waren bisher damit beschäftigt, den Prozeß kausal zu erklären. Berger hingegen ist es weniger darum zu tun, die genetischen Ursachen der Säkularisation zu erforschen, als vielmehr ihren gesamtgesellschaftlichen Zusammenhang aufzuweisen. Ob nun jeweils die Industrialisierung oder Verstädterung, ob nun die Verwissenschaftlichung oder explosive Verbreitung der Massenmedien als erste und alleinige Ursache der gesellschaftlichen Entkirchlichung zu identifizieren ist, mag Berger nicht entscheiden. In jedem Fall sind alle Faktoren gleichermaßen in den umfassenden Differenzierungsprozeß einbezogen, der die Gesellschaft in eine Vielzahl einzelner Sedimente unterteilt hat. Auch die Religion konnte dem Gesetz nicht entfliehen, in einem besonderen Gesellschaftssegment abgelagert zu werden; auch ihre Substanz wurde zunehmend weniger von der Gesellschaft als ganzer getragen. Stattdessen mußte sie sich damit bescheiden, nur noch als institutioneller Rückstand in den Kirchen zu existieren. Religion ist im Verlauf der Säkularisierung von einem gesamtgesellschaftlichen Allgemeingut zum kirchlichen Sonderbesitz degeneriert. Hatte Berger die Religion früher als ein bewegendes Moment im Aufbau der sinnhaften Welt geschildert, so bedeutet die Säkularisierung tendenziell die Umkehrung dieses Prozesses: den Abbau der Sinnhaftigkeit in einer Gesellschaftsordnung. Religion als das offizielle, allgemeingültige Sinndeutungssystem wird entmonopolisiert, indem sie selbst in untereinander konkurrierende Gruppen zerfällt. Offenbar ist der konfessionelle Pluralismus eines der wichtigsten Korrelate zum Säkularisierungsprozeß. Seine Auswirkungen sind nach mehreren Richtungen sichtbar: Zum einen ist die gegenseitige Konkurrenz gleichbedeutend mit der gegenseitigen Relativierung des jeweiligen Gruppenanspruchs. Die Ausstrahlungskraft der Religion wird durch interne Uneinigkeit paralysiert; die Plausibilitäts-

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struktur religiöser Sinnsysteme wird nicht von den Rändern her zerfressen, sondern von innen heraus zersprengt. Das bedeutet in letzter Konsequenz, daß der Markt für Weltdeutungen, Sinnsysteme und Wirklichkeitskonstruktionen eine offene Struktur erhält. Es finden nun quasi-religiöse Parvenue-Gruppen Zugang, die neben den Konfessionen als Sinn-Anbieter auftreten: weltanschauliche, politische und psychologische Bewegungen erfüllen 253 nun ebenfalls die Funktionen, die früher einmal ausschließlich in den Kompetenzbereich der Religion fielen. Sodann bedeutet die Aufweichung der geschlossenen religiösen Plausibilitätsstruktur die Entobjektivierung der religiösen Inhalte. In dem von Berger und Luckmann ausgeführten anthropologischen Regelkreis-Modell bestand noch grundsätzlich eine Übereinstimmung zwischen dem subjektiven Weltbild einerseits sowie dem objektiven Kosmos und Nomos andererseits: Gemeinsam bildeten die Individuen die objektive Wirklichkeit heraus; gemeinsam glichen sie sich deren Harmonie an. Durch die Säkularisierung verlieren nun aber nicht nur Kosmos und Nomos ihren Zusammenhang – augenfällig in der Trennung von Staat und Kirche –, sondern auch die Symmetrie zwischen objektiver heiliger Ordnung und subjektiver Lebenspraxis wird zerstört. Die Religion ist zu einer Angelegenheit der persönlichen Wahl herabgesunken; ihren Rückhalt erfährt sie weniger in einer für objektiv gehaltenen Außenwelt als vielmehr im Bewußtsein der einzelnen. Nicht mehr Kosmos und Geschichte bilden darum die zentralen Themen der Religion, sondern Biographie und individuelle Existenz. Der heilige Kosmos ist sozusagen reprivatisiert. 1.6 Spuren der Transzendenz im säkularen Gewebe Je schwerfälliger sich die Kirchen auf die Privatisierungstendenz einstellen, der die Religion unterliegt, desto rascher erscheinen SurrogatBewegungen16 auf dem Plan. So haben beispielsweise die Jesus-People spektakuläres Aufsehen erregt, als sie zunehmend Resonanz fanden – eine Resonanz, die sich aus eben jenem privatistischen Bedürfnis erklärt, in einem gesellschaftsfernen Winkel Glück und Freiheit auszukosten, die weder eine etablierte Religion noch eine etablierte Gesellschaft zu vermitteln in der Lage ist. 16

Peter L. Berger/Richard J. Neuhaus: Movement and Revolution. On American Radicalism, 1970; deutsch: Protestbewegung und Revolution oder die Verantwortung der Radikalen, Frankfurt a.M. 1971. – Peter L. Berger/Brigitte Berger/Hansfried Kellner: The Homeless Mind. An Approach to Modern Consciousness, Garden City (N.Y.) 1973.

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Doch welche Chancen verbleiben der Religion überhaupt noch, wenn das globalgeschichtliche Geschehen der Säkularisierung un 254umkehrbar ist? Wenn die Restauration vergangener Herrlichkeit von vornherein zum Scheitern verurteilt ist; wenn die Rechristianisierung der Gesellschaft nur noch mit Militär- und Polizeigewalt im Stile der spanischen Reconquista (711– 1492) durchzusetzen ist: Wie kann Religion dann noch an gesellschaftlicher Bedeutung zurückgewinnen? Die Kirchen selber haben bisher alternative Versuchswege beschritten. Die eine Möglichkeit bestand darin, sich der „Säkularisierung von außen“ defensiv zu verschließen, und das bedeutete zugleich: „die Emigration aus der Gesellschaft“ zu praktizieren17. Zwar konnten sie auf diesem Wege ihr traditionelles Erbe unbeschadet bewahren, mußten dabei freilich in Kauf nehmen, die Existenzform einer Sekte und die Gestalt einer „kognitiven Minderheit“ anzunehmen. Vermeintlich getrieben von den Häschern der Säkularisation fanden sie Zuflucht auf einer fernen Insel, die außerhalb der Reichweite von Gesellschaft blieb. Aber auch der andere Weg stellt sich für die Religion risikoreich dar: nämlich durch Anpassung den Anschluß an das zu suchen, was gerade en vogue ist. Linguistik, Psychotherapie, Existentialismus und neuerdings auch die Soziologie werden von der Theologie als Koalitionspartner umworben, wobei sie ihre eigene Jungfräulichkeit aufs Spiel setzt. Im Grenzfall führt dieses Sicheinlassen auf die „Säkularisierung von innen“ nach Bergers Ansicht zu einer Totalkapitulation, deren Vorzeichen bereits in den moderntheologischen Formeln vom „Tode Gottes“ und „religionslosem Christentum“ zu registrieren sind. Berger persönlich läßt die Alternative von „Widerstand und Ergebung“ nicht gelten. Er vertraut vielmehr darauf, daß sich der Geist der Theologie letztlich überlegener erweisen wird als die Summe ihrer angerosteten und notdürftig reparierten Teile. In diesem Sinne fragt er nach Zeichen der Transzendenz in einer säkularisierten Gesellschaft: Zeichen, an die gewissermaßen induktiv geglaubt werden kann. So hält Berger Ausschau nach dem Wetterleuchten des Jenseits in der Welt der Erfahrung. Den Erfolg seiner Suche hat er in einer Art Entdeckungsreport ausgewertet, der den Titel „Auf den Spuren der Engel“ trägt.18 255 Hierin berichtet er, welche festen 17

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Vgl. hierzu Joachim Matthes: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964. Peter L. Berger: A Rumor of Angels. Modern Society and the Rediscovery of the Supernatural, Garden City (N.Y.) 1969; deutsch: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt a.M. 1970; 3. Auflage, 1972.

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Anhaltspunkte der Transzendenz er im schwindelerregenden Fall der Relativität ausfindig machen kann. Dazu zählt er beispielsweise den menschlichen Hang zur fundamentalen Ordnung; ausgedrückt in der tröstenden Gebärde der Mutter gegenüber dem Kinde, das in chaotischer Dunkelheit ängstlich aufwacht und durch beschwörende Formeln wie „Du brauchst keine Angst zu haben“ oder „Alles ist gut“ allmählich das grundlegende Vertrauen in die Ordnung der Wirklichkeit wiedergewinnt. Andere Beispiele sind: das zeitvergessene Spiel der Kinder; die schlechthin alles übergreifende Hoffnung des Menschen; die kategorische Verdammung etwa der grausamen Taten eines Adolf Eichmanns; die sich über widerspruchsvolle Realität hinwegsetzende Komik eines Don Quijote; oder der von jedem Zwang befreiende Humor eines Clowns. – All dies sind Kristallisationspunkte der Transzendenz, die für Berger so etwas wie Bausteine des „Schutzwalls vor den Abgründen des Relativismus“ bedeuten. So willkürlich festgemacht und zufällig aufgereiht sie auch sein mögen: Berger betrachtet sie als immerhin mögliche Sprünge aus der Immanenz des Daseins heraus. Sie negieren die Zeitstruktur und übertrumpfen die flüssige Unsicherheit moralischer Maßstäbe; sie verhindern sowohl den Verlust an ethischer Apodiktik als auch das allzu blinde Haften an der Qualität des Bestehenden. Es sind gleichsam Erinnerungsposten, die in einer noch so säkularisierten Welt „das Gerücht von Gott“ nicht aussterben lassen. Eindringlich fordert Berger seinerseits dazu auf, das Gerücht am Leben zu erhalten: „Wenn wir glauben, wenigstens einen Zipfel religiöser Wahrheit in den Händen zu halten, dann meine ich, sollten wir diese Wahrheit bekennen – auch wenn die sozialen Erfolgschancen ungünstig erscheinen.“19 Berger gibt diese emphatische Parole gewissermaßen privat aus. Es ist die Konsequenz, die der gläubige Lutheraner aus dem Ertrag des vorgeblich atheistisch verfahrenden Sozialwissenschaftlers zieht. 256 Als Soziologe dagegen hält Berger nach wie vor an seinem methodologischen Apartheid-Programm fest: Persönliche Wertsetzung und methodologische Wertaskese sind dem Anspruch nach mit einem strikten Berührungsverbot belegt. Doch fragt es sich, ob Berger diese Zweigleisigkeit im Verlaufe seiner Untersuchungen faktisch durchhält, oder ob er nicht vielmehr an einem bestimmten Punkt von der eigenen Zielsetzung abrücken muß. Es scheint, daß besonders in seinem Religionsbegriff ein solcher Punkt vorliegt. Hier präsentiert sich Berger den Theologen zu soziologisch; den Soziologen dagegen viel zu sehr theologisch. In der Tat: Religion als etwas Substanzhaftes soziologisch zu definieren, ihr minimale Aussagen über 19

Peter L. Berger: Zukunft der Religion. Soziologische Betrachtungen zur Säkularisierung, in: EK 4 (1971), S. 317–322, 322.

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einen heiligen Kosmos gleichsam begrifflich konstitutiv hinzuzurechnen, hat für die Analyse der Religion notwendigerweise Folgen: Muß Religionssoziologie dann nicht unter der Annahme einer säkularisierten Welt in die Suche nach den verbliebenen vestigia dei ausmünden? Gebiert sie sich dann nicht als eine Art Daktyloskopie des Heiligen, die eine natürliche Theologie mit anderen Mitteln fortsetzt? – Genau hier liegt der Scheidepunkt, an dem Luckmann andere Wege einschlägt (auch wenn ihn sonst vieles mit Berger verbindet). 2. Thomas Luckmann Auch die Vita von Thomas Luckmann gleicht einer kleinen Odyssee: Er wurde 1927 in Jugoslawien geboren; studierte Sprachwissenschaft, Philosophie, Psychologie und Soziologie in Wien, Innsbruck und New York. Seit 1957 hat er Soziologie am Hobart College in Geneva gelehrt, bis er an die „New School for Social Research“ ging, an der später auch Peter L. Berger sein Tätigkeitsfeld fand. Zwei Jahre arbeiteten beide dort eng zusammen; dann übernahm Luckmann in Frankfurt am Main eine Professur für Soziologie, die er heute an der Universität von Konstanz innehat. Luckmann wurde ebenfalls zuerst im Fach Religionssoziologie bekannt; und zwar im Jahre 1960 mit einem Bericht über eine vergleichende Studie an „vier protestantischen Kirchengemeinden“20. Wirkungsvoller sollte jedoch eine aus demselben Jahr stammende 257 Sammelbesprechung von religionssoziologischer Literatur in der „Kölner Zeitschrift für Soziologie“ werden.21 Sie entpuppte sich in der Folgezeit gleichsam als Keimzelle aller späteren religionssoziologischen Arbeiten Luckmanns. In ihr war bereits der Grundstock jenes Buches angelegt, das später soviel Aufmerksamkeit erregte: „Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft“ von 1963, das vier Jahre später in einer überarbeiteten Fassung in englischer Sprache unter dem Titel „The Invisible Religion“ erschien.22 Auch die zahlreichen weiteren Vorträge und Aufsätze Luckmanns zur Religionsproblematik ge20

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Thomas Luckmann: Vier protestantische Kirchengemeinden. Bericht über eine vergleichende Untersuchung; in: Dietrich Goldschmidt/Franz Greiner/Helmut Schelsky: Soziologie der Kirchengemeinde, Stuttgart 1960, S. 132–144. Thomas Luckmann: Sammelbesprechung zur Religionssoziologie, in: KZSS 12 (1960), S. 315–326. Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Institution, Person und Weltanschauung, Freiburg i.B. 1963; englisch: The Invisible Religion (s.o. Anm. 14).

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hen auf den Rezensionsbericht von 1960 zurück;23 in ihm klingen nahezu alle Aspekte seiner Religionstheorie im Grundtenor schon an: vor allem die Frontstellung gegen eine Spielart von Soziologie, die Religion stillschweigend mit den vorfindlichen Kirchen gleichsetzt, Säkularisierung als religösen Schrumpfungsprozeß begreift und den verbliebenen Rückstand in den Kirchen als eine Art sozial-religiöse Pathologie betrachtet. Anders also als Berger, dessen Religionstheorie in der „prophetischen Kritik“ an den Kirchen ihren Auftakt nahm, beginnt Luckmann mit der Überprüfung derjenigen soziologischen Disziplin, die sich mit den Kirchen befaßt. Gegen sie wendet er kritisch den Vorwurf: Nicht eigentlich die Religion ist in erster Linie defizitär, 258 sondern eine Sozialforschung, die ihre Sichtweise auf die besondere Religionsgestalt der Kirche verengt und damit von vornherein auf eine Vertiefung ihrer theoretischen und geschichtlichen Fragestellung verzichtet. Gleichsam im Gegenzug zu einer solchermaßen verflachten Kirchensoziologie entwirft Luckmann seine eigene weitläufige Theorie, die Erträge aus beinah allen Humanwissenschaften mit umfassender Integrationskraft aufarbeitet. Seine Erwägungen münden dabei in die entscheidende Frage, wie „das Schicksal der Person in der modernen Gesellschaft zu begreifen“ ist. – Schon bei den Klassikern der Soziologie, etwa bei Durkheim, Simmel und Weber, hatte das Schlüsselproblem der Sozialtheorie in eben diesem Thema des gesellschaftlichen Standorts von Individualität eine präzise Formel gefunden; auch die Religion fand in diesem Kontext ihren genuinen Ort. Durch eine Neuformulierung des klassischen Ansatzes hat Luckmann nun seinerseits versucht, die zentrale Perspektive wiederzugewinnen, die der Religionssoziologie eine größere Bedeutung beimißt, als sie einer marginalen, weil auf bloße Kirchlichkeit fixierten Meinungsforschung zukommen kann.

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Neben den mit Berger zusammen veröffentlichten Aufsätzen sind hier noch besonders zu erwähnen: Thomas Luckmann: On Religion in Modern Society, in: JSSR 2 (1963), S. 147–162. – Thomas Luckmann: Theories of Religion and Social Change, in: Theories of Social Change, hg. von Daniel Bell, New York 1971. – Thomas Luckmann: Verfall, Fortbestand oder Verwandlung des Religiösen in der modernen Gesellschaft, in: Hat die Religion Zukunft?, hg. von Oskar Schatz, Graz/Wien/Köln 1971, S. 69–82. – Thomas Luckmann: Religion in der modernen Gesellschaft, in: Religion im Umbruch. Soziologische Beiträge zur Situation von Religion und Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft, hg. von Jakobus Wössner, Stuttgart 1972, S. 3–15. – Thomas Luckmann: Zwänge und Freiheiten im Wandel der Gesellschaftsstruktur, in: Neue Anthropologie, Band 3: Sozialanthropologie, hg. von Hans-Georg Gadamer/Paul Vogler, Stuttgart 1972, S. 168–198.

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2.1 Der Archetyp von Religiosität Ähnlich wie im anfänglichen Forschungsimpetus, so unterscheiden sich Berger und Luckmann auch in der Definition des Religionsbegriffs. Während Berger nur diejenigen Wirklichkeitskonstrukte als religiöse gelten läßt, die sich ausdrücklich auf einen Bereich des Übernatürlichen beziehen, blendet Luckmann dagegen jeden theologischen Gehalt im Religionsverständnis aus. Der Soziologe kann Religion vielmehr nur formal betrachten; und das heißt: ausschließlich nach den Funktionen, die sie für den Menschen und die Gesellschaft erfüllt. Konsequenter als bei Bergers substantiellem Religionsbegriff wird bei Luckmann das Problem der sozialanthropologischen Bedeutung der Religion unter funktionalistischem Aspekt zentriert: Läßt sich aus dem geschichtlichen Wandel der Sozialstruktur ein kontinuierlicher, unverzichtbarer Grundbestand herauslösen, der vergleichsweise ebenso eindeutig wie etwa Sprache, Familie und Wirtschaft als eine besondere, eben: religiöse Funktion zu identifizieren ist? Gibt es überhaupt so etwas wie eine religiöse Urfunktion, die im Geschehen des Menschwerdens zentral verankert ist? Über das soziale Urdatum der Menschwerdung ist sich Luckmann 259 mit Berger einig. Auch er geht grundsätzlich davon aus, daß der Mensch durch seine Leiblichkeit, Sozialität und Geschichtlichkeit bestimmt ist. Der Mensch wird als unfertiges Wesen geboren und muß sich die Welt erst schaffen, die ihn am Leben erhält. Dazu ist er aufgrund seiner Geistbegabung fähig: Er kann Werkzeuge fabrizieren, Gesellschaft organisieren und Kultur hervorbringen; Symbole und Sprache, die zur gegenseitigen Verständigung dienen, Werte und Institutionen, die den gegenseitigen Umgang regeln. Gemeinsam produziert und „auf Dauer gestellt“ (Arnold Gehlen) hat menschliche Kultur historisch jene Traditions- und Gesellschaftsmächte begründet, die dem einzelnen von Geburt an entgegentreten. Wie aber wird der Mensch in ihnen zu einem selbständigen Wesen? Wie verhindert er, bloßes Ausführungsorgan traditionell-autoritärer Gewalten zu sein? Tatsächlich erfährt der aufwachsende Mensch in der Gesellschaft zunächst, daß er von seiner Außenwelt abhängig ist und von ihr verpflichtende Verantwortung übertragen bekommt. Seine Mitmenschen legen ihn ebenso auf frühere Taten wie auf Zukunftspläne fest. Der Prozeß des Erwachsenwerdens besteht wesentlich in der sukzessiven Begegnung mit dem Verpflichtungscharakter der Kultur. Andererseits hat die Kultur für den einzelnen auch entlastenden Effekt. Sie befreit ihn vom Zwang, auftretende Probleme stets erneut lösen zu müssen, wahrgenommene Sachlagen immer wieder ad hoc auszudeuten und Lebenspläne jeweils individuell zu entwerfen. Gesellschaft standardisiert bis zu einem gewissen Grad die zahlreichen Reaktions- und

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Entfaltungsmöglichkeiten ihrer Mitglieder, indem sie einen Vorrat an allgemeinverbindlichen Orientierungs-, Deutungs- und Handlungsmustern zur Verfügung stellt. Kurzum: Sie hat so etwas wie eine offizielle Weltanschauung, in der Erfahrung bereits strukturiert ist, bevor sie der einzelne macht; in der Handlungen weitgehend schon routinemäßig festgelegt sind, ehe sich der einzelne zu ihnen entschließt. Wie kommt nun der Mensch dazu, die angebotenen Strukturmuster auch dann zu akzeptieren, wenn Zwang und Gewohnheit nicht unbedingt im Spiel sind? Genau dies ist nach Luckmanns These auf die Leistungen der Religion zurückzuführen. Eben darin besteht ihre genuine Aufgabe: nämlich Zwang und Gewohnheit in Einsicht und Sinn zu überführen. Religion hat die verpflichtende Macht der Gesellschaft in die freiwillige Tat des einzelnen zu verwandeln, 260 indem sie dem Geschehen sowohl allgemeinen wie auch subjektiven Sinn verleiht. Sie greift dabei auf das menschliche Vermögen zur Einsicht zurück. Denn der Mensch kann einsehen, warum dieses oder jenes schon früher so gemacht wurde; welche Folgen die augenblickliche Tat künftig haben wird, und was andere von einem erwarten. Er kann die Gegenwart des Hier und Jetzt hinter sich lassen, kann sich in die Zukunft oder in die Vergangenheit hinein versetzen und auch das Rollenspiel anderer Menschen nachvollziehen. Ständig prägt er subjektiv noch einmal den Sinn dessen heraus, was ihm vormals objektiv bloß als Zwang und Abhängigkeit erschien. So ist er grundsätzlich in der Lage, sich selbst und seine Umwelt zu transzendieren. Es ist nun die Aufgabe der Religion, die Gesellschaft sowohl als bindende Macht wie auch als möglichen Sinn dem Individuum nahezubringen und es so in das soziale Beziehungsgeflecht einzufädeln. Durch Transzendierung wird möglicher Sinn als wirklicher erfahren; durch Internalisierung wird Außenwelt zur Innenwelt umgestaltet; und durch Sozialisierung wird das Eigenleben der Gesellschaft in das eigene Leben des Individuums übersetzt. Die Religion ist die produktive Kraft jener menschlichen Transzendierungsleistung, durch die geschichtlich-sozial vorgeformte und symbolisch vorgegebene Weltansicht vom einzelnen übernommen und zur inneren Form der eigenen Daseinsführung verarbeitet wird. Sie ist das Movens, das die Erfahrung von Bindung und Abhängigkeit, von Tradition, Gesellschaft und Natur in die Transzendierungsgabe des Menschen überführt und das unverfügbare Nicht-Ich in die Macht des Ichs zur Sinndisposition stellt. Erst damit läßt sie den Menschen zum Menschen werden: zum sozialgeschichtlichen Wesen, das ebenso gesellschaftlich geprägt ist, wie es seinerseits gestaltend auf die Gesellschaft einwirkt; das Geschichte erfährt, wie es Geschichte macht. In dieser streng funktionalistischen Sicht Luckmanns erscheint der Mensch ganz allgemein als religiöses Wesen, insofern er soziales Wesen

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ist; und Sozialisierung ist immer schon per se ein religiöser Prozeß. So gipfeln seine Überlegungen in dem Resultat, daß es „keine Gesellschaft ohne Religion“ gibt. Religion fällt nahezu mit der Menschwerdung schlechthin zusammen, deren „symbolisch-transzendente Sinngebung und Wertsetzung“ sie ist. 261 Folgerichtig kann auch die soziologische Disziplin, die dieses Geschehen begrifflich-theoretisch nachvollzieht, keine begrenzte oder marginale mehr sein. Sie wird vielmehr zum unerläßlichen Bestandteil jeder sozialen Anthropologie, ja geht in einer universalen Theorie von Gesellschaft auf. So korrigierend dieser Ansatz auch über den allzu engen kirchensoziologischen Horizont hinausweist, so problematisch stellen sich indessen seine Konsequenzen ein.24 Denn mit Luckmanns Religionsaxiom droht dem Soziologen die Gefahr, gleichsam durch Verflüssigung der Konturen den Gegenstand der Religion überhaupt zu verlieren. Der Verzicht auf ihre annähernd klare soziale Bestimmung läßt die Religion in beinah alles und jedes ausufern, was den Menschen als Menschen konstituiert. Diese Tendenz Luckmanns zum „overkill“, zur Überfunktionalisierung von Religion, stellt die soziologische Theorie, erst recht aber ihren empirischen Forschungszweig vor kaum lösbare Aporien: Wenn Religion mit der Menschwerdung zusammenfällt, wie läßt sie sich dann noch in einer Gesellschaft konkret ausmachen? 2.2 Die Institutionalisierung der Religion und ihre Folgen Andererseits treibt Luckmann die soziologische Religionsproblematik im Gegensatz zu vergleichbaren Entwürfen ein beträchtliches Stück ins Fundamentale voran. Die für andere Ansätze so konstitutive Unterscheidung von Kosmos und Nomos, von Heiligem und Profanem, von individueller Erfahrung des Übernatürlich-Numinosen und institutionalisierter Religion – all das sind nach Luckmanns Folgerung nur zweite, gewissermaßen abgeleitete Phänomene gegenüber der religiösen Urfunktion, den einzelnen Menschen durch Transzendierung und Sinnvermittlung in die sozialen Beziehungen einzuflechten. Denn erst wenn bestimmte gesellschaftliche Bedingungen erfüllt sind, kann sich Religion als eigens Abgehobenes herausbilden. In archaischen Gesellschaften zeigt die religiöse Funktion noch keine selbständige Gestalt. Hier ist das Differenzbewußtsein hinsichtlich des Heiligen und Profanen noch nicht gegeben. So ist die Jagd zum Beispiel durchaus noch ein integrierter Verhaltenskomplex, 262 in dem gleichermaßen wirtschaftliche, herrschaftliche, verwandtschaftliche und kultische Schichten mitein24

Zur Kritik an Luckmann vgl. Joachim Matthes: Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 1, Reinbek 1967, S. 112–114.

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ander verwoben sind. Religion geht im Alltagsleben noch vollständig auf. Erst wenn der Kosmos jenseits der normalen Alltagswelt als eine eigene Wirklichkeit situiert erscheint, die zuweilen furchterregend oder helfend ins normale Leben von außen hineingreift, wird das Heilige gegenständlich und als Fremdes erlebbar. Dann bilden Gesellschaftsstruktur und religiöse Ordnung freilich kein in sich verschränktes harmonisches Gemisch mehr, sondern das Heilige wird zum Ideal übersteigert, dessen Ansprüchen der alltägliche Nomos nicht länger genügt. Ein weiterer Schritt zur Ausdifferenzierung der Religion besteht darin, das Heilige in einem besonderen tabuisierten Bereich anzusiedeln. Es wird dann gleichsam „reserviert“, und der Umgang mit ihm bleibt einem ausgezeichneten Personenkreis vorbehalten, der seine Aufgabe zunächst nebenberuflich ausführt. Sobald aber die Gesellschaft aufgrund arbeitsteiliger Organisation genügend materiellen Überschuß produziert hat, um einige ihrer Mitglieder von der Subsistenzbeschaffung freistellen zu können, vermag der Umgang mit Heiligem sehr wohl zum Hauptberuf zu werden. Das Reservat der Religion wird dann von einem eigens dazu bestellten Personal verwaltet; von Zauberern, Medizinmännern oder Priestern, denen ein besonderer Apparat von Hilfsmitteln zur Verfügung steht, und die allmählich ein religiöses Spezialwissen anhäufen. So wird Religion zur Institution verfestigt – genauso wie sie im Einflußbereich des Christentums zur Kirche wurde. Doch setzt diese Institutionalisierung eine hinreichende Komplexität der Gesamtgesellschaft voraus. Religion kann sich erst dann als ein spezialisierter Bereich etablieren, wenn die Tendenz zur Differenzierung in einer Gesellschaft allgemein realisiert ist, was erst sogenannte Hochkulturen ermöglichen, die durch wirtschaftliche Arbeitsteilung, Produktionsüberschuß, differenzierte Herrschaftsstrukturen und ungleichmäßige Wissensverteilung charakterisiert sind. Erst auf dieser gewissermaßen höheren Entwicklungsstufe fächert sich die Gesellschaft in eine Vielzahl institutioneller Teilkomplexe auf: etwa in wirtschaftliche, politische und wissenschaftliche Organisationen, die nun ihrerseits dem Trend zur Differenzierung unterliegen. Gleichzeitig oder mit Verzögerung wird auch die Religion an an 263gebbaren Orten der Gesellschaft zusammengezogen und tritt als abgesonderte Institution hervor. Mehr und mehr verlagert sich unter komplexen Sozialbedingungen ihre Aufgabe von der Erfüllung der religiösen Urfunktion auf Legitimationsdienste. Legitimation wird für die Religion in einer Hochkultur geradezu zur Hauptfunktion – und dies in mehrfacher Hinsicht. Zum einen ist die Ausdehnung der Kommunikationsweite ein beherrschendes Merkmal der hochkulturellen Gesellschaft. Kontakte oder gar Zusammenstöße mit anderen Kulturkreisen und Weltansichten fordern religi-

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öse Sinnsysteme heraus, die stets Anspruch auf universale Geltung in ihrem Wirkungsbereich erheben. So haben beispielsweise die christlichen Theologen der alten Kirche in der Konfrontation mit der griechischen Philosophie die Erfahrung machen müssen, daß die von ihnen vertretene Weltdeutung nicht die einzig mögliche, ja nicht einmal die einzig gültige war. Die Vertreter des Christentums mußten sich gleichsam „ideenpolitisch“ gegen die griechische Philosophie behaupten. Wie hier nach außen, so entwickelten die Theologen auch in internen Richtungskämpfen einen differenziert begründeten Legitimationsapparat heraus, der als wirksames Durchsetzungsmittel fungierte. Darüber hinaus zwang auch die gesellschaftliche Entwicklung die Religion zu neuen Legitimationsanstrengungen. Denn die Komplexität der Sozialstruktur erschwerte ihrerseits die Aufrechterhaltung und Durchsetzung des religiösen Universalitätsanspruchs. Die zunehmende Verselbständigung der „weltlichen“ Institutionen, die fortschreitende Entflechtung des gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalts in einzelne, relativ autonome Teilbereiche forderten von der Religion, durch Differenzierung der eigenen Weltansicht die soziale Komplexität einzuholen. – Tatsächlich hat die Religion immer wieder Sondertheologien entwickelt; beispielsweise bedeutet Augustins Unterscheidung zwischen Bürgerstaat und Gottesstaat unter soziologischem Aspekt zunächst nichts anderes als den Versuch, die Totalität der christlichen Weltansicht zu erhalten und gleichzeitig der Verselbständigung des Staates Rechnung zu tragen. Mit der Herausbildung vielfältig anwendbarer Legitimationsfiguren übernimmt die Religion neben ihrer primären Funktion, den einzelnen Menschen zu sozialisieren, nach und nach zusätzliche Aufgaben, die zeitweilig zur Hauptsache werden: Sie legitimiert das Treiben des Staates, fungiert als Wächter öffentlicher Moral, ent 264scheidet als letzte Instanz über Wahrheit und Lüge und konserviert die Tradition. So kann sich im großen und ganzen das kirchlich verwaltete Sinngefüge der Religion durchaus noch einheitlich, selbstverständlich, umspannend und unumstritten darstellen. Sie ist, wenn auch gleichsam nur als kirchliches Superadditum, mit der Gesamtgesellschaft noch fest verklammert. 2.3 Schrumpfung der Transzendenz in der modernen Sozialstruktur Die sozial-religiöse Harmonie zerbröckelte freilich schon in der Frühphase der modern-industriellen Gesellschaft; und mit ihrem Fortschritt zerbricht sie vollends. Religion kann auf Dauer ihren Totalitätsanspruch nicht mehr aufrechterhalten. Denn immer weitere Bereiche der Gesellschaft entgleiten ihrem normierenden Zugriff. Die institutionsinternen Normen und Werte lösen sich zunehmend aus den religiösen Begründungszusammenhängen;

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sie ziehen sich auf eigene Grundlagen zurück und verdichten sich jeweils zu einer Art betriebsinterner Ideologie. Daneben erfährt auch die Natur eine „Entzauberung“; denn ihre erklärende Auslegung vollzieht sich fortschreitend eher in wissenschaftlichen als in kosmologischen Kategorien. – Profanisierung der Gesellschaft, Entsakralisierung ihrer Institutionen, Rationalisierung ihrer Organisationsgefüge und „Entgötterung“ der Natur – mit diesen Merkmalen ist der Säkularisierungsprozeß bezeichnet, der seit dem 17. und 18. Jahrhundert prägendes Merkmal der modernen Industriegesellschaft ist. Doch auch die moderne Gesellschaft hat nach Luckmanns Ansicht nichts an Ambivalenz verloren. Einerseits ist im Fortgang der Entkirchlichung die Chance gegeben, daß Religion ihre Urfunktion wiederentdeckt, nachdem diese von kirchlichen Institutionen mit vielfältigen Sekundäraufgaben überlagert worden ist. Andererseits besteht die Gefahr, daß im Sog der allgemeinen „Transzendenzschrumpfung“ die Wertschätzung der Person überhaupt vergessen wird. Wie konnte es geschehen, daß die Folgen der Säkularisierung auf eine derart extreme Alternative hinausliefen? In dem Maße, wie die Rollendefinitionen und Normfestlegungen in einer Gesellschaft spezialisierter, autonomer und rationaler werden, geht die Einflußnahme der Religion zurück, und es erlischt 265 die allgemeine Verbindlichkeit ihrer Begründungen. Religiöse Sinndeutungen relativieren sich für immer größere Sozialbereiche, ja werden völlig suspendiert. Die Religion selbst als das Sinngefüge, das einst ebenso die Gesamtgesellschaft umspannte wie es von ihr als Ganzer getragen war, ist nunmehr ihres Monopols beraubt. Die Ideologien weltlicher Institutionen treten mit ihr in Konkurrenz. Für den einzelnen fällt damit die Gesamtgesellschaft in eine öffentliche und private Sphäre auseinander, – was ihm in der Trennung von Arbeitswelt und Familienleben augenscheinlich wird: Der einzelne unterliegt sozusagen nur noch von 8.00 bis 17.00 Uhr dem anonymen Rollenzwang des öffentlichen Industriebetriebs; danach ist er in die Freizeit des Privatlebens entlassen. Während er im Beruf weitgehend vorgeschriebenen, standardisierten Handlungsabläufen unterworfen ist, bleibt ihm im Familienleben noch Gestaltungsmöglichkeit. Der Entsakralisierung der öffentlichen Sozialstruktur entspricht ihre Entpersönlichung. Denn die betriebsinternen Weltansichten haben für die Daseinsführung des einzelnen insgesamt keine orientierende Bedeutung mehr: Ideologien und zweckrationale Organisationspläne sind lediglich für die Sphäre des betrieblichen Rollenträgers, nicht aber für die Gesamtdaseinsführung der Person relevant, deren Sinnintegration sich zu einer Privatobliegenheit verflüchtigt hat. Identitätsbewußtsein und einheitliche Selbstdarstellung müssen erst jeweils individuell erworben werden. Bei der Suche nach einschlägigen Vorgaben sieht sich der einzelne jedoch ei-

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ner vielgestaltigen Pluralität miteinander konkurrierender Lösungsmuster ausgesetzt. Es gibt keine dominante einheitliche Sinnwelt mehr, die die Lebenssphäre des einzelnen insgesamt umgreifen und ebenso plausibel wie orientierend erklären könnte. Vielmehr präsentiert sich die Kultur als eine Art Assortiment: Sie ist ein „reichhaltiges Warenlager“, aus dessen Angebot Sinnkombinationen je individuell zusammengestellt werden können. Auch religiöse Weltansichten fallen unter die autonome Wahl des Individuums; sie sind in dessen Belieben gestellt. Religion unterliegt den Gesetzen des Marktes, auf dem gleichsam Identitätsmuster aus zweiter Hand zum Angebot stehen. Ihre Annahme oder Ablehnung ist zu einer Sache der subjektiven Wahlfreiheit geworden. So gelangt auch Luckmann ähnlich wie Berger im Ergebnis zur Privatisierungsthese: Religiöse Sinndeutung, die einst in öffentlicher 266 Verantwortung getragen wurde und in der Daseinsführung einzelner ihre Entsprechung fand, ist nunmehr privat-beliebig geworden. Diese These beruht auf einer idealtypischen Entgegensetzung von „Einst“ und „Heute“ oder „Früher“ und „Jetzt“ und unterstellt darin ein historisches Gefälle. Ein solches Kontrastschema kann allenfalls hypothetischen Charakter haben: es kann einzelne Phänomene erklären, kann im großen und ganzen auch plausibel sein, kaum aber empirisch nachprüfbare Bestätigung oder Widerlegung für sich beanspruchen. Ein derartiges Unternehmen kann mithin ebenso einsichtig wie risikoreich ausfallen. Tatsächlich zeigen sich in Luckmanns historischer Gesellschaftstypologie gewisse Gefahrenmomente. Die Konstrukte der „archaischen“ und „modern-industriellen“ Gesellschaft begründen sich weitgehend und wesentlich aus ihrer Gegenübersetzung: Die moderne Gesellschaft definiert sich durch das, was sie im Vergleich zur archaischen nicht ist; und umgekehrt geschieht auch die Bestimmung der archaischen Sozialstruktur. Die Unterscheidung lebt letztlich aus der Antithese von Ursprungs- und Verfallsgeschichte, die ihrerseits dem Arsenal religiös bestimmten Denkens entstammt. So wird als defiziente Abfallsgeschichte identifiziert, was sich bei historischer Überprüfung – wäre sie technisch möglich – ebensogut als Kontinuum herausstellen könnte: Sind nicht seit jeher gerade solche Funktionen primär in die Kompetenz der Religion gefallen, die Luckmann mit Stichworten wie Identitätsfindung, individuelle Auslebung gesellschaftlich vermittelter Freiheit und soziale Gestaltung von Lebensplan und Daseinsführung anzeigt? Aber Luckmann maskiert sie dann wieder, wenn er sie als Residualbestand einer geschichtlichen Abwärtsbewegung ausgibt. Hier scheint sich auf dem Umweg über eine SäkularisierungPrivatisierung-These das evolutionistische Vorurteil unter umgekehrten Vorzeichen einzuschleichen: Hatten die Evolutionisten die geschichtliche

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Bewegung noch als Fortschritt beschrieben, so tritt sie nun als Regression auf. In jedem Fall geht das Problem der Religion aus diesen Sichtweisen nur getrübt hervor; es stellt sich nicht in der fundamentalen Frage, die Luckmann selbst anfangs herausgearbeitet hatte: Welche Funktionen kommen der Religion bei der Herausbildung menschlicher Identität unter den Bedingungen von Gesellschaft strukturell zu? Erst auf diesen Aspekt konzentriert wäre die Soziologie vom Trauma befreit, immer wieder aufs Neue 267 vermeintliche historische Ablagerungsrückstände aufarbeiten zu müssen, und damit gleichsam die Abfallbeseitigung eines säkularisierenden Weltgeistes zu erledigen. 2.4 Kirchentreue als Sonderfall – Neue Formen der unsichtbaren Religion Doch trotz des problematischen Charakters der Luckmannschen Geschichtstypologie bleibt für die moderne Gesellschaft die Tatsache bestehen, daß sich das Individuum gegenüber den kirchlich angebotenen Sinndeutungsmodellen zustimmend oder ablehnend verhalten kann. Die Kirchen stiften jedenfalls nicht mehr a priori und ausschließlich allgemeinverbindlichen Sinn, sondern haben sich in Konkurrenz zu anderen, nicht-kirchlichen oder quasi-kirchlichen Gruppen zu behaupten. Religiosität ist nicht länger exklusiv an den Bestand der Kirchen gebunden, sondern vielschichtig über die gesamte Gesellschaft verstreut. Unter diesen Bedingungen erscheint die Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde als Sonderfall von Religion: Sie ist Ausdruck einer eigentümlichen Neigung von solchen „Verbrauchern“, die sich am Rande der modernen Gesellschaft angesiedelt haben; von Bauern und Kleinbürgern, von Beamten der Mittelschicht, von Frauen und Kindern, von älteren Menschen und Sozialhilfeempfängern. Diese Gesellschaftsgruppen sind es, die vornehmlich den Kern der „Kirchentreuen“25 bilden. Über ihren engen Grenzbereich hinweg finden sich kirchlich formulierte Weltansichten allenfalls noch „in einer rhetorischen Bewußtseinsschicht eingeschachtelt“, die an den Knotenpunkten des Lebens – bei Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung – oder in dramatischen Krisensituationen wieder hervorgeholt werden. Kirchlich fabrizierte Religiosität hat sich zu einer „seichten doktrinalen Schicht“ verflüchtigt, die darüber hinaus zunehmend von nicht-religiösen Funktionen überlagert wird: Die Kirchengemeinde wird mehr und mehr zum Ort der Geselligkeit, zur Arena der Selbstdarstellung, zum Auffang25

Vgl. hierzu Reinhard Köster: Die Kirchentreuen. Erfahrungen und Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung in einer großstädtischen evangelischen Kirchengemeinde, Stuttgart 1959.

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becken frustrierter Menschen und zur Stätte der ästhetischen Erbauung. In ihr vermengen sich gleich 268sam zwei nebeneinanderlaufende Stränge: Einerseits repräsentiert sie ein Relikt der traditionellen Religion und versammelt hauptsächlich die Personen, die wegen ihres sozialen Randdaseins eine besondere Präferenz für überkommene Religionsmuster besitzen. Andererseits zeichnen sich immer deutlicher in den Kirchengemeinden Konturen neuer Sozialformen von Religiosität ab. Sie haben sich teilweise von außen in das traditionelle Lebensgefüge der Kirchen eingeschlichen und wandeln deren Thematik allmählich um: Existenzphilosophie, Psychoanalyse, Gruppendynamik, sexuelle und politische Emanzipationsbewegungen beeinflussen zunehmend Inhalt und Lebensform der kirchlich bestimmten Religiosität. Das Augenmerk ist dabei radikal auf den privaten Lebensbereich gerichtet; Problemlagen der öffentlichen Institutionen bleiben weitgehend ausgespart. Im Brennpunkt des religiösen Interesses stehen heute mehr denn je die Themen der individuellen Biographie und der unmittelbar erlebten Alltagsbeziehungen: Autonomie und Selbstverwirklichung, Kindererziehung und Familismus, Sexualität und Bewußtseinserweiterung – das sind die Topoi, in denen heute noch Transzendenzerfahrung thematisch wird. Teils unter der Schirmherrschaft, teils außerhalb der Kirchen: in Familien, Kommunen, gruppendynamischen Laboratorien und sektiererischen Politzirkeln – überall dort bilden sich allmählich neue, radikal privatisierte, eklektisch zusammengefügte Sinnprovinzen heraus. Diese bislang noch unsichtbare Religion erfährt kaum gesamtgesellschaftlichen Rückhalt. Andererseits verzichtet sie selbst darauf, auf die Sozialstruktur gestalterisch Einfluß zu nehmen. So hat das Schicksal der Person in der modernen Gesellschaft durch die Privatisierung der Religion an Anfälligkeit zugenommen: „Das Individumm . . . hat viel (irrelevante) Freiheit und wenig beständige innere Form.“ Ob Stabilität in der Zukunft wiederzugewinnen ist, wird mit davon abhängen, ob es der gewandelten Religion gelingt, eine ihr entsprechende Sozialform zu finden.

Zum Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion

„Nur noch der Theologe kann glauben, daß es sich um die Religion als Religion handle.“ Und an anderer Stelle heißt es: „Es ist die Aufgabe der Geschichte, nachdem das Jenseits der Wahrheit verschwunden ist, die Wahrheit des Diesseits zu etablieren.“1 Mit solchen provokanten Feststellungen kündigte Karl Marx um das Jahr 1845 an, daß die Religionskritik eine neue Dimension erreicht habe: Die Sentenzen enthalten gewissermaßen die Geburtsanzeige einer Religionssoziologie, die von nun an zunehmend selbstbewußter ihre methodologisch-spezifischen Grundlagen zur Geltung bringt und daran den Sozialwert der Religion bemißt. Worin besteht dieses Novum? Immerhin war Kritik als solche stets ein fester Bestandteil der Religion selbst gewesen.2 Dies jedoch meist nur mit begrenzter Reichweite: als Tadel an zweitrangigen Nebenumständen etwa, als prophetische Schelte über den Mißbrauch von Religion oder als Anmahnung einer überzeugenden Symbiose aus Glaube und Lebenspraxis. Derartige Kritik pflegt häufig im Modus der Selbstkritik aufzutreten und beschränkt sich größtenteils auf vereinzelte Mängelrügen. Es handelt sich gewissermaßen um eine konstruktive Kritik von innen heraus: eine Selbstreinigung, die auf Erneuerung oder Ursprungsvergewisserung zielt; eben: „um Religion als Religion“. Wenn Marx darauf nun gerade nicht abhebt, meint er dann die Kritik, die gleichsam von außen Religion in Frage stellt? Kritik also als eine Art Konkurrenzunternehmen: als Herausforderung oder Gegnerschaft – wie auch immer, regelmäßig jedenfalls als eine Bestreitungsfigur, mit der religiöse Ansprüche und Übergriffe 282 auf anderweitig reklamierte Gebiete zurückgewiesen werden? Kompetenzgerangel zwischen Offenbarung und Vernunft, Glaube und Wissen, Theologie und Philosophie oder auch Staat und Kir1

2

Karl Marx/Friedrich Engels: Die heilige Familie oder: Kritik der kritischen Kritik (1845), in: Marx-Engels-Werke, Band 2, Berlin 1959, S. 115. – Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung (1844), in: Karl Marx/Friedrich Engels: Über Religion, Berlin 1958, S. 31. Hierzu: Richard Schaeffler: Religion und kritisches Bewusstsein, Freiburg i.B./ München 1973.

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che? Diese Charakterisierungen sind nicht weniger mißverständlich; denn so etwas wie externe Kritik hat es ebenfalls immer schon gegeben, seitdem sich Religion einerseits, Staat, Wissenschaft und Philosophie andererseits anschickten, eine gewisse Eigenständigkeit herauszubilden. Der Konflikt wurde nicht erst durch Marx provoziert; noch viel weniger ist er mit dem Aufkommen der Soziologie überhaupt entstanden. Gleichwohl tritt die sozialwissenschaftliche Kritik der Religion auch von außen entgegen: Sie adoptiert gleichsam das religiöse Erscheinungsbild unter ihrem eigenen Namen und stellt somit den Monopolanspruch der Theologen auf die Interpretation dessen, was allein als Religiöses zu gelten hat, ausdrücklich in Frage. Auch mißt die Soziologie der Religiosität eine solche Dimension als wesentlich zu, die in derem eigenen Verständnis überhaupt nicht oder nur am Rande zum Ausdruck kommt. Jedoch: all dies charakterisiert die Qualität der von Marx annoncierten Religionskritik noch nicht ausreichend; weder interne Revision noch Interpretationskonkurrenz von außen machen jeweils den prägnanten Grundzug des neuen, sozialwissenschaftlichen Typs von Religionskritik aus. Es ist vielmehr eine andersartige Optik, gleichsam ein verschobener Blickwinkel, den Marx beschreibt: Religion wird in ihrer Gesamterscheinung maßgeblich am Gradmesser ihrer sozialanthropologischen Funktionalität und Wirkungsweise beurteilt. Es ist das Gesellschaftliche in ihr, das nunmehr in seinem eigenartigen Realitätscharakter dingfest wird. Durkheim3 hat später diese Betrachtungsweise auf die Formel gebracht: Religion ist als „soziales Faktum“ zu betrachten und somit nach der eigenen Begrifflichkeit, nach den eigenen „Regeln der Soziologie“ zu erklären. Damit erscheint die Religion in einem ihr fremden Koordinatensystem: Sie ist eingebettet in den Bezugsrahmen einer allgemeinen Gesellschaftstheorie. 283 Freilich umfaßt dieses Programm einer „soziologisierten“ Religionskritik zunächst nur formale, regulative Leitideen. Weder ist in ihnen etwas über die sachliche Thematik noch etwas über das inhaltliche Interesse der Soziologie an der Religion ausgemacht. Welche Absicht, welches Gegenwartsanliegen läßt die Religion überhaupt erst zum Gegenstand kritisch-soziologischer Analyse werden? Genau diese Frage nach dem „leitenden Erkenntnisinteresse“ ist von Anbeginn in der Geschichte der Sozialwissenschaft ebenso vielfältig wie gegensätzlich beantwortet worden. Daß sogar bis heute über eine gewisse Minimalübereinkunft hinaus in der Soziologie die Religion recht unterschiedlich, ja konträr behandelt wird, daß man sich unter Soziologen bis in die Gegenwart hinein noch auf keine allgemeingültige Religionsdefiniti3

Vgl. die Darstellung Durkheims in diesem Band, s.o. S. 15–40.

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on4, geschweige denn auf eine verbindliche Statuierung des soziologischen Interesses einigen konnte, – das zeigt nur allzu deutlich, daß die Problematik im geschichtlichen Verlauf ihrer Durchforschung nichts an verwirrender Mehrdeutigkeit eingebüßt hat. Versucht man mithin das Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion heute zu eruieren, so gilt es wohl zunächst negativ auszugrenzen: Welche historisch bedingten Vorverständnisse weltanschaulicher, ideologischer, wissenschaftstheoretischer oder politischer Art bestimmen nach wie vor, wenn auch nur in Spurenelementen, das heutige soziologische Verständnis von Religion – und zwar offensichtlich in einem Ausmaß, daß deren soziale Wirklichkeit weitgehend nur verzerrt und mißverständlich zum Vorschein kommt? 1. Das Dilemma der neuzeitlichen Aufklärung über Religion Am Beginn der sozialwissenschaftlichen Religionskritik im strengen Sinne steht das Werk von Karl Marx. Er hat ihrer Fragestellung, Sichtweise und Denkungsart sozusagen auf breiter Front zum Durchbruch verholfen und repräsentiert daher zurecht epochalen Beginn. – Freilich stellte Marx bereits für die eigene Zeit fest, daß „die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt“ sei,5 und verweist so darauf, seinerseits nicht mehr als ein Erbe angetreten 284 zu haben. In der Tat: Marx stand eher an der Schwelle des Übergangs; wirkungsgeschichtlich am Anfang der systematisch-soziologischen Religionskritik und herkunftsgeschichtlich in der Tradition der aufklärerischen Impulse aus dem 18. Jahrhundert. Vor allem diese am Vorabend der französischen Revolution radikalisierte Ausprägung des Religionsverständnisses ist es, dem das sozialwissenschaftliche Interesse nicht nur seinen Ursprung, sondern weitgehend auch seinen spezifischen Charakter verdankt. 1.1 Der Streit um die Legitimität der Religion Doch auch der Aufklärung war das distinkte Verständnis von Religion schon gegeben, bevor sie es an konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen kritisch zu erproben begann. Denn die eigentümliche Vorstellung von Religion ist ursprünglich aus der Differenzierung in einen kirchlichen und einen weltlichen Bereich entstanden und signalisierte zunächst das religiöse Bestreben, Selbstverständnis im Gegenüber zur Welt zu gewinnen. Schon 4

5

Vgl. hierzu Jan Lauwers/Karel Dobbelaere: Definition of Religion. A Sociological Critique, in: SC 20 (1973), S. 535–551. Karl Marx: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (s.o. Anm. 1), S. 30.

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im 12. Jahrhundert diente der Begriff dem Klerus, seine Distanz zu dem von Laien getragenen Weltverlauf zu legitimieren, wobei die Hinwendung zur Religion negativ die „Stigmatisierung der Welt“ miteinschloß.6 Im 16. Jahrhundert interpretierte dann die Reformation die Abkehr des Klerus von der Welt zum Verhalten des Christen in der Welt um; durch die Zweireichelehre brachte sich die protestantische Kirche zum staatlichen Regiment ins Verhältnis.7 Das Verständnis von Religion konstituierte sich solange aus ihrer Unterschiedenheit von der Welt, bis sie schließlich selbst dem Verdikt erlag, welthaft zu sein: Als konkrete Gestalt, als Kirche wurde sie dem Historischen zugerechnet und damit grundsätzlich der Kritik preisgegeben. Daß sie nicht länger einen sakrosankten Status einnahm, zeigte sich bald, als im 17. und angehenden 18. Jahrhundert die deistischen Vorläufer der Aufklärung ihre zum Teil scharfe Kritik am kirchlichen Gebaren formulierten; ihre 285 Vertreter waren etwa Edward Herbert von Cherbury, John Locke und Matthew Tindal in England, Rousseau, Voltaire und Montesquieu in Frankreich.8 Sie alle begriffen ihre Ansätze jedoch durchaus noch als religiös. Denn sie stellten der historischen Religion eine natürliche entgegen: Was sich öffentlich als Religion ausgab, wurde am hohen Maßstab einer „eigentlichen“ Religion beurteilt. Die Position der Kritik meldete sich im Namen einer Idee von natürlich-wahrer Religiosität zu Wort und zielte vornehmlich dahin, den Menschen vom autoritären Zugriff ihres verzerrten historischen Abbilds zu emanzipieren. Die deistische Dialektik von ewig-vernünftiger und geschichtlich-zufälliger Religion war mithin eine Absage an ihre traditionelle Gestalt um einer projektierten Form willen, die sich mit Vernunft und Sittlichkeit versöhnen ließ. Die frühe Aufklärung hatte den Verzicht auf ein metaphysisches Interesse an der Religion noch nicht besiegelt, sondern nahm durchaus noch konstruktiv an ihrem Gegenstand Anteil. Diese positiv gestimmte Haltung gegenüber der Religion schlug erst bei den späten Aufklärern um, die sich kurz vor dem Ausbruch der französischen Revolution befanden. Mit Meslier, Helvetius, Holbach und Saint-Simon tritt die sozialwissenschaftliche Religionskritik schlecht-

6

7

8

Otto Brunner: Neue Wege der Sozialgeschichte, Göttingen 1956, S. 181–193. – Otto Brunner: Adeliges Landleben und europäischer Geist, Salzburg 1949, S. 62–74. Ulrich Duchrow: Christenheit und Weltverantwortung. Traditionsgeschichte und systematische Struktur der Zweireichelehre, Stuttgart 1970, S. 437–552. – Gerhard Ebeling: Leitsätze zur Zweireichelehre, in: ZThK 69 (1972), S. 331–349. Hierzu: Friedrich W. Kantzenbach: Religionskritik der Neuzeit. Einführung in ihre Geschichte und Probleme, München 1972, S. 14–34.

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hin ins Bild.9 Erst diese gewissermaßen radikalere Richtung sparte die metaphysische Wahrheitsfrage in der Religionsbetrachtung vollkommen aus, ja ein konstruktives Interesse an der Religion ging ihr überhaupt verloren. Sie repräsentiert erstmals sozusagen einen „atheistischen“ Typ der Religionskritik, der seinen Gegenstand zur Sprache bringt, ohne an ihm Anteil zu haben; es ist im Grunde die Attitüde des Positivisten, der Religion aus enthaltsamer Distanz zum Reflexionsobjekt erwählt. Natürlich war auch diese Einstellung nicht orientierungslos. Aber anders als ihre Vorläufer legitimiert sich die spätaufklärerische Religionskritik nicht mehr dadurch, daß sie sich auf ein Programm von natürlicher Religion beruft, sondern sich stattdessen an einer 286 Idee von natürlicher Gesellschaft ausweist; an dieser Elle wird nunmehr das religiöse Erscheinungsbild gemessen. Relevant ist nicht mehr der metaphysische Wahrheitsgehalt von Religion, sondern einzig und allein ihr sozialer Nutzen. Die kritische Antithese zur historischen Kirchengestalt ist nicht länger ein Bild von wahrer Urreligion, sondern eine Vorstellung davon, wie sich eben Gesellschaft als wahre entfalten kann: Es ist jene Konzeption, nach der sich die einzelnen Menschen durch vernünftig-sittliche Vervollkommnung zum Fortschritt auf eine Sozialordnung hin verbünden, die allgemein Glückseligkeit garantiert. Dieses Gesellschaftsbild ist aus der Opposition gegen das absolutistische Anciene Regime entstanden, in dem nicht Vernunft, sondern bürokratische Diktion regierte, in dem nicht Sittlichkeit, sondern feudale Prunksucht herrschte. Als Anwalt des antifeudalistischen Widerstands trat zusehends die Soziologie in den Vordergrund.10 Sie hatte zugleich Obstruktion und Programm zu besorgen: Ihre Aufgabe war es, einerseits die alte Sozialstruktur kritisch-destruktiv zu analysieren wie andererseits die neue Ordnung konstruktiv zu entwerfen. In ihrem Geschäft gewinnt nun auch die Religion an Bedeutung. Denn sie gerät insoweit ins Visier soziologischer Kritik, als sie das Fundament der bekämpften Gesellschaftsordnung zu repräsentieren und die Verwirkli9

10

Hierzu: Joachim Matthes: Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 1, Reinbek 1967, S. 32–51. – Ideologie. Ideologiekritik und Wissenssoziologie, hg. von Kurt Lenk, 4. Auflage, Neuwied/Berlin 1970, S. 17–33. – Reinhart Koselleck: Kritik und Krise. Ein Beitrag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, Freiburg i.B./München 1959. Zur Entstehung der Soziologie: Carl Brinkmann: Versuch einer Gesellschaftswissenschaft, München/Leipzig 1918. – René König: Soziologische Orientierungen, Köln/Berlin 1965, S. 17–28. – Werner Sombart: Die Anfänge der Soziologie, in: Hauptprobleme der Soziologie. Erinnerungsgabe für Max Weber, hg. von Melchior Palyi, Band 1, München/Leipzig 1923, S. 3–19.

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chung der angestrebten Utopie zu verhindern scheint. Triebkraft der aufklärerischen Sozialkritik war also das Interesse, praktisch-revolutionäre Opposition zu leisten gegen die sakral sanktionierten Herrschaftsstrukturen des ständischen Feudalismus.11 Im Entwurf der aufgeklärten Gesellschaft legt sich das Selbstbewußtsein eines Bürgertums aus, das sich kämpferisch gegen die feudalistische Ordnung wendet, als deren Protagonist die Kirche erscheint. Daß die Aufklärung sozialwissenschaftliche Religionskritik als politisch motivierte Absage an die Kirche herausbildete, hatte eine 287 doppelte Folge: Zum einen begründete sie damit die moderne Gesellschaftstheorie, die sich fortan immer mehr aus der Bevormundung von Theologie, Philosophie und Jurisprudenz befreite, bis sie sich schließlich selbst in der Soziologie zu einer eigenen Disziplin verfestigt hat. Auf der anderen Seite war die besondere sozialkritische Betrachtung der Religion jedoch an diesem methodologischen Emanzipationsprozeß der Soziologie lange Zeit nicht beteiligt. Ihr gelang es vielmehr nur allmählich, sich wenigstens theoretisch von jenen schwerwiegenden Hypotheken zu lösen, mit denen die Aufklärung sie befrachtet hatte, und die bis heute noch vielfach das soziologische Religionsverständnis praktisch verzerren. Es sind im wesentlichen folgende Schwierigkeiten, die hier ihren Ursprung haben: 1. Seit der Aufklärung spiegeln sich sozialtheoretische Aussagen über Religion fast ausnahmslos an expliziter Kirchlichkeit ab. Nur was sich laut vernehmlich als Religiöses zu Wort meldet, findet soziologisch Beachtung. Meslier, Helvetius, Holbach und Saint-Simon hatten gleichermaßen den Katholizismus Frankreichs im Auge, wenn sie allgemein von Religion sprachen. Religionssoziologie etablierte sich ursprünglich als kritische Inventur der kirchlichen Institution und des von ihr formierten Volksglaubens. Damit geht die Religion jedoch lediglich in ihrer Teilproblematik in die soziologische Theoriebildung ein. Ihre geschichtliche Absonderung von der Gesellschaft in der kirchlichen Institution findet nunmehr soziologisch gewissermaßen ihre kategoriale Entsprechung im Begriff der Religion: Er wird zur Chiffre, die den de-facto-Bestand der Kirchen als Gesamtwirklichkeit von Religion ausgibt – einer Religion, die ausschließlich als ein Phänomen erscheint, das sich neben der Gesellschaft befindet: „Religiöses ist, wo immer man es ermittelt, etwas ‚Apartes‘ und nur, wenn es ‚Apart‘ ist, ist es ‚eigentlich‘ religiös.“12 Religion ist Kirche, nicht aber Gesellschaft. Darin besteht die kaum aufgelöste Apo-

11

12

Religionssoziologie, hg. von Friedrich Fürstenberg, 2. Auflage, Neuwied/Berlin 1970, S. 13. Joachim Matthes: Religion und Gesellschaft (s.o. Anm. 9), S. 72.

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rie der Sozialwissenschaft bis heute: Daß sie über Religion zu reflektieren beginnt, indem sie diese in Differenz zur Gesellschaft setzt. 2. Diese Apartsetzung der Religion mußte ihre politisch-soziale Stigmatisierung zur Folge haben. Denn was sich neben der Gesellschaft ansiedelt, kann nicht Ausdruck ihres Gesamtinteresses sein: Religion wird auf die Partikularität ihres Charakters fest 288gelegt. – Tatsächlich hatte die Aufklärung mit einigem Recht die Ideologie der feudalen Gesellschaft entlarvt, die sich als umfassendes Corpus christianum begriff, deren Kerngebilde die Kirche repräsentierte. Im Horizont der heraufziehenden bürgerlichen Welt mußte die Religion dagegen als ein feudales Relikt erscheinen: Als Gralshüter einer obsoleten Gesellschaftsordnung war sie hemmendes Moment im bürgerlichen Emanzipationsprozeß. – Diese aufklärerische Sicht wurde indessen später zur allgemeinen Denkfigur der Religionssoziologie: Auch sie erklärte die Religion mehr oder weniger offen zu einem akut-pathologischen Syndrom der modernen Gesellschaft, für das überholte Ideen, Verhaltensweisen und Attitüden charakteristisch sind; Religion stellt nach ihrem Verständnis gleichsam eine krankhafte Gewebeverhärtung im sozialen Organismus dar. Und es wird zur Aufgabe der Soziologie, die geschichtliche Phasenverschiebung zwischen sozialer Dynamik und religiöser Statik zu beschreiben, mithin den „religious lag“ zu analysieren. 3. Die Aufklärung spitzt die Betrachtung der Religion auf die Forderung ihrer Abschaffung zu. In ihrem Ende sieht sie die unabdingbare Voraussetzung für die Entwicklung zur angestrebten bürgerlichen Gesellschaft: diese muß den Ballast religiös bestimmter Vergangenheit abwerfen, um für die eigene Zukunft frei zu sein. Soziale Emanzipation wird gleichsam als paradigmatischer Gegenbegriff zur Religion konzipiert: deren Fortbestand signalisiert die Krise der aufgeklärten Gesellschaft. – Diese Radikalisierung der Religionssicht war folgenreich: Von nun an stehen Religion und Gesellschaft in schroffer Diastase gegenüber; ihr Verhältnis zueinander gestaltet sich gleichsam wie ein System kommunizierender Röhren in umgekehrt proportionalem Wechsel: Die Gesellschaft ist in dem Grade emanzipiert, wie es ihr gelingt, Kirche aus ihren Bereichen zu verdrängen; und umgekehrt fällt sie in dem Maße hinter das ihr Mögliche zurück, wie sie es zuläßt, kirchlich bestimmt zu sein. So verdankt die religiöse Problematik ihre Formulierung in den Sozialwissenschaften von Anfang an weniger einem erklärenden Erkenntnisinteresse als vielmehr der Absicht, die Liquidation der Religion zu begründen; der Wert der Religionstheorie bemißt sich ausschließlich nach ihrem Nutzen für die Abschaffungspraxis: Religion wird thematisch auf den Aspekt ihres Bestands beziehungsweise Nichtbestands reduziert und erhält da 289durch eine dramatische Schärfe, die sich in der Folgezeit stets erneut als Frage nach der gesellschaftlichen Legitimität von Kirche aufwirft.

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Die Haltung ihr gegenüber entscheidet sich an der Grenze zwischen Affirmation und Absage; sie wird zum Fall von reaktionärer Verteidigung und progressivem Angriff. Auch nachmals verbindet sich das Thema der Religion fast durchgängig mit dem Stichwort der Krise: Sei es nun einerseits die religiöse Bedrohung weltlich-autonomer Entfaltung des gesellschaftlichen Selbstbewußtseins; sei es andererseits die Gefährdung der Religion durch eine auf Säkularisation hin gravitierende Welt. Es war diese zugespitzte, verengte Problemsicht, die hinfort das Interesse der Sozialwissenschaft an der Religion weitgehend definiert: die Frage nach der Legitimität ihres gesellschaftlichen Seins in der Gestalt von stigmatisierter Kirchlichkeit.13 1.2 Die Ambivalenz der Säkularisierungsthese Das 19. Jahrhundert behielt die grundlegende Stoßrichtung der Aufklärung weitgehend bei, wenn es sich auch aufgrund gewandelter Gesellschaftsbedingungen zu einigen Modifikationen veranlaßt sah. Hatte sich die Bourgeoisie in der vorrevolutionären Sozialkritik noch aus einer oppositionellen Anspruchshaltung heraus gegen das Feudalsystem zu Wort gemeldet, so war die bürgerliche Gesellschaft im 19. Jahrhundert grundsätzlich etabliert. Dieser Umstand verlangte nach Kurskorrekturen; denn in dem Maße, wie sich die Forderung nach politischer und wirtschaftlicher Herrschaft erfüllte, stellte sich als neue Aufgabe die Behauptung und Stabilisierung dieser Herrschaft ein. Nicht mehr Emanzipation bildete darum das vorrangige Thema, sondern das Problem, wie Fortschritt zu bewerkstelligen sei. Das entscheidende Medium bürgerlicher Verwirklichung wurde nicht länger in der Revolution 290 gesehen, sondern in der Absicherung einer evolutionären Verwissenschaftlichung und Rationalisierung der Daseinsumstände. Der Beitrag zum Erkenntnisfortschritt der gebildeten Welt galt nun vorwiegend als angemessenes Kriterium, bürgerliche Lebensleistung zu bewerten. Das politische Emanzipationsanliegen der Aufklärung geht in das wirtschaftliche Interesse des Bürgertums an der technischen Verwertbarkeit von Wissen über; nicht der Konvent, sondern das Laboratorium wird vorrangig zur Arena bürgerlicher Selbstdarstellung und Selbsterhaltung. 13

In jüngster Zeit fand dieser Ansatz wieder eine Formulierung bei: Hans Blumenberg: Säkularisation. Kritik einer Kategorie historischer Illegitimität, in: Die Philosophie und die Frage nach dem Fortschritt, München 1964, S. 240–265. – Hans Blumenberg: Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a.M. 1966. – Vgl. hierzu die Kritik von: Dietrich Rössler: Christentum und Neuzeit. Erwägungen aus Anlaß eines Buches, in: Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, hg. von HansJoachim Birkner/Dietrich Rössler, Berlin 1969, S. 91–100.

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Unter solchen Umständen mußte nun die Religion ebenfalls in einem anderen Licht erscheinen. Denn daß sie fortexistierte, nachdem sich das Bürgertum gleichwohl gegen den Feudalismus und seine kirchlichen Exponenten durchgesetzt hatte, zwang dazu, die Vorstellung zu revidieren, die Abschaffung der Religion ließe sich gleichsam im revolutionären Handstreich erledigen. Ihre offenbare Zähflüssigkeit im Prozeß der gesellschaftlichen Entwicklung mußte vielmehr erneut das soziologische Interesse an ihr wecken. Genau damit beginnt aber jene Überleitungsperiode, in der die spezifischen politisch-historischen Forderungen der Aufklärung in allgemeine, langfristige Erkenntnisprojekte umformuliert werden.14 Obwohl sich auf diese Weise im 19. Jahrhundert die Perspektive der Religion erweitert, bleiben doch im Grunde die wesentlichen Stoßrichtungen und Denkfiguren der aufklärerischen Kritik erhalten: 1. Wiederum wird das Verständnis von Religion aus ihrer Konfrontation mit dem gesellschaftlichen Selbstbewußtsein gewonnen und gelangt erst in diesem Gegenüber zu ihrem zeitgenössischen Profil. Freilich entzündet sich das Problem nicht mehr an einer einzigen konkreten Religionsgestalt, wie sich noch die Aufklärer am französischen Katholizismus gerieben hatten. Die fortdauernde 291 Präsenz der Religion in der bürgerlichen Gesellschaft mußte vielmehr die Frage umfassender aufwerfen: Worin besteht überhaupt der Ursprung und das Wesen von Religiosität, wenn sie eine solche manifeste Überlebenskraft beweist? – Gleichwohl wird die Beantwortung zunächst nicht weniger positivistisch am historischen Modell entwickelt. Denn es war vornehmlich das explizite Christentum im Europa des 19. Jahrhunderts, das der zeitgenössischen Religionskritik den Anstoß gab. Erst das an ihm gewonnene Vorverständnis wurde gewissermaßen nachträglich auf die primitiven Gesellschaften übertragen,15 um dort vermeintlichen Ursprung und 14

15

Exemplarisch hierfür ist das Bemühen des französischen Positivisten Auguste Comte (1798–1857), Soziologie als eine Art profane Glaubenslehre zu begründen und in dieser den Höhepunkt eines Zeitalters zu sehen, das sich endgültig aus den Fesseln der Theologie und spekulativen Philosophie befreit hat. Auf diesem Gedanken beruht sein berühmtes Dreistadiengesetz: Theologisches oder fiktives Stadium – metaphysisches oder abstraktes Stadium – positives oder reales Stadium. Vgl. hierzu die beiden Hauptwerke: Cours de philosophie positive, 6 Bände, Paris 1830–1842. – Systeme de politique positive, 4 Bände, Paris 1851–1854. Exemplarisch sind etwa folgende Untersuchungen: Numa D. Fustel de Coulanges: La cite antique, Paris 1864; deutsch: Der antike Staat, Graz 1961. – Friedrich M. Müller: Lectures on the Origin and Growth of Religion, London 1878. – Herbert Spencer: Principles of Sociology, London 1876–1882 (besonders Teil VI). – William R. Smith: The Religion of the Semites, Edinburgh 1889. – Edward B. Tylor: Primitive Culture, London 1871.

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vermeintliches Wesen der Religion zu entdecken. In der Frage nach ihrem natürlichen Entstehungsgrund zeigte das „fortschrittliche“ Bürgertum seine Reaktion auf die Fortexistenz der Religion in der damaligen Gestalt des Christentums, das als Fremdkörper der eigenen Gesellschaft empfunden wurde. 2. In der erneuten Hinwendung zur Religion belegt sich sodann auch ihre gesellschaftliche Stigmatisierung wieder. Denn für die Kritik des 19. Jahrhunderts wird Religion zum Inbegriff dessen, was dem Fortschritt entgegensteht: nämlich Unwissenheit, Angst, Naivität und der Glaube an den gottgewollten Lauf der Dinge; gegen die Wissenschaft setzt die Religion das primitive Denken des Glaubens; gegen die Technik mystifiziert sie die Natur; gegen die „physique sociale“ – wie damals noch die Soziologie hieß – formuliert sie eine rigide Ordnungstheologie und verschleiert damit das gesellschaftliche Elend. – So wird die Religion durchgängig mit dem Stigma belegt, Relikt einer überwundenen Entwicklungsstufe der Menschheit, Rückstand einer vorwissenschaftlichen Zeit, mithin Kapitulation vor den partikularen Interessen in der Gesellschaft zu sein. 3. In der Religionskritik des 19. Jahrhunderts artikuliert sich schließlich das Interesse an einer Lebensform, die ihre volle Entfaltung erst erreichen kann, wenn sie sich aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst hat. Es ist das Interesse an den Säkularisaten der Religion: an jenen Einstellungen und Verhaltensweisen, 292 die sich von ihrer religiösen Herkunft emanzipiert haben. An die Stelle des revolutionären Abschaffungspostulats tritt das halb diagnostische, halb programmatische Glaubensbekenntnis des Evolutionismus, daß eine fluide Verwissenschaftlichung des Lebens allmählich die zähflüssige Religion verdränge. Daß der Religion so explizit das gesellschaftliche Daseinsrecht bestritten wurde, mußte ihre kirchlichen Vertreter in den Zugzwang bringen, sich nun ihrerseits gegen die Welt und ihr Selbstverständnis zu legitimieren. Als die Kirche gerade solche sozialen Prozesse zur Kenntnis nahm, mit denen sich zu identifizieren ihr immer unmöglicher erschien, richtete sie sich wieder auf die Distanz zur Gesellschaft ein: Hilflosigkeit gegenüber der „sozialen Frage“, Widerstand gegen die Gesellschaftsreform, Abwehr gegen Marxismus und Arbeiterbewegung, Verteufelung von Technik und Naturwissenschaft, Zurückweisung der darwinistischen Abstammungslehre, des Materialismus und Positivismus jeglicher Art – das sind nur einige Marksteine einer Gesamtstrategie, nach der die Kirchen ihre „Emigration aus der Gesellschaft“ antraten, diese aber genau umgekehrt – und darin ideologisch – als frevelhaften Abfall der Welt von den Kirchen ausgaben. Säkularisierung als kirchliche Vokabel bezeichnet hinfort das Stigma einer Welt, die nicht mehr als

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eigene begriffen wird, die vielmehr von „krankhafter Desorganisation“ und zivilisatorischem Sündenfall gestempelt ist.16 So bildet sich im 19. Jahrhundert in der Säkularisierungsthese die allgemeine Formel für den neuzeitlichen Geschichtsverlauf heraus, 293 in der „Entstehungsprozeß und gegenwärtiger Zustand der modernen Gesellschaft im Verhältnis zum Christentum“17 ihre wechselseitig akzeptierte Auslegung erhalten. Die Beziehung zwischen Religion und Gesellschaft wird zum beherrschenden Thema eines kulturgeschichtlichen Stellungskampfes, in dem das kirchliche Interesse an der Bestandssicherung von Religion und das säkularwissenschaftliche Interesse an ihrer Substitution gegenüberstehen. Und hier wie dort hält die Säkularisierungsthese gleichermaßen als „ideenpolitisches Fanal“ her:18 Auf der einen Seite markiert sie die Stoßrichtung einer Religionskritik, die auf wissenschaftlichen Fortschritt und rationale Sozialtechnologie abzielt; auf der anderen Seite dient sie den Kirchen gleichsam als ein begriffliches Kontrastmittel, um den eigenen Anspruch aufrechtzuerhalten, Kulturgarant und exemplarische Beharrungskraft angesichts der makelhaften Entwicklung der Gesellschaft zu sein. Am Prozeß der Verweltlichung entzündet sich somit der Streitfall, in dem einerseits die Rechtmäßigkeit des neuzeitlichen Anspruchs auf Autonomie verhandelt wird, und in dem andererseits die gesellschaftliche Legitimität der Religion in ihrer Gestalt von Kirchlichkeit zur Debatte steht. Dieselbe Denkfigur, mit der die Kirche nicht nur ihr Vorhandensein in der Welt, sondern auch ihren Zugriff auf die Gesellschaft begründet, dient umgekehrt dem bürgerlichen Selbst16

17

18

Als Beispiel sei hier nur auf einige Äußerungen des Berliner Rechtsphilosophen und Mitglieds des preußischen Oberkonsistorialrats Friedrich Julius Stahl (1802–1861) verwiesen: „die eigenthümliche weltgeschichtliche Signatur unseres Zeitalters“ sieht er in einem permanenten Zustand der Revolution, die er beschreibt als „die Gründung des ganzen öffentlichen Zustandes auf den Willen des Menschen statt auf Gottes Ordnung und Fügung“. – Friedrich J. Stahl: Was ist Revolution?, 3. Auflage, Berlin 1852. – Friedrich J. Stahl: Die Revolution und die constitutionelle Monarchie, 2. Auflage, Berlin 1849. – Friedrich J. Stahl: Die Philosophie des Rechts, Heidelberg 1830–1837 (Hauptwerk). – Über die traumatischen Folgen der Revolutionen von 1789 und 1848 auf das kirchliche Selbstbewußtsein und die Standortbestimmung in der Gesellschaft vgl. etwa die Studien von: Hans Maier: Revolution und Kirche. Studien zur Frühgeschichte der christlichen Demokratie 1789–1850, Freiburg i.B. 1959. – Horst Zilleßen: Protestantismus und politische Form. Eine Untersuchung zum protestantischen Verfassungsverständnis, Gütersloh 1971. Trutz Rendtorff: Zur Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie, in: IJRS 2 (1966), S. 53. Hermann Lübbe: Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, München 1965. – Dietrich Rössler: Christentum und Neuzeit (s.o. Anm. 13), S. 98.

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bewußtsein, die Verdrängung der Religion zu legitimieren. „So treffen in der ‚aparten‘ Definition des Religionsbegriffs das kritische Interesse von außen und das bewahrende von innen zusammen und geben ihr damit eine dauerhafte Festigkeit.“19 Man kann hinzufügen: Sie verliert dadurch zugleich an eindeutiger Bestimmtheit. Tatsächlich ist die Säkularisierungsthese ein zentrales Interpretament der Religionssoziologie vielfach bis heute geblieben. Selbst wo sie ihres unmittelbar ideenpolitischen Anliegens entkleidet ist, wo sie sozusagen im wissenschaftlichen Gewand eines historisch-analytischen Epochenbegriffs auftaucht, zeigen sich noch die Spuren ihrer Entstehung: Stets wird ihre Erkenntnis zur Religion an der manifesten Kirchlichkeit herausgebildet; und ebenso regel 294mäßig kommt in ihr, wenn auch oft nur untergründig, ein Legitimationsinteresse zum Vorschein, das auf Kosten der Eindeutigkeit ihrer Aussagekraft geht: Ob nun der Säkularisierungsvorgang als Chance geschichtlich-sozialer Selbstgestaltung eingeschätzt wird (wie bei Karl Marx), ob als umfassender Rationalisierungsprozeß (Max Weber), ob als Denaturierung zur Kulturreligion (Will Herberg), als allmähliches Verdrängen der Kirchen durch funktionale Äquivalente (Emile Durkheim, Funktionalisten) oder als Trend zu Pluralisierung und Privatisierung (Peter L. Berger, Thomas Luckmann)20 – immer wieder zeigt das Stichwort der Säkularisierung die Dauerkrise der Neuzeit an, die Religiosität bloß als Ausnahmezustand hinnimmt; und stets schwingen Untertöne des Bedauerns oder der Euphorie in der Analyse mit. 1.3 Religionssoziologie als Marginaltheorie? Die Konsequenzen des restriktiven Verständnisses von Religion, das in der Bestandsaufnahme zur Kirchlichkeit aufgeht, und die Folgen des radikalen Problemzuschnitts auf die Frage nach ihrer gesellschaftlichen Opportunität werden vollends offenbar, wo Religionssoziologie wie allerorts nach dem Zweiten Weltkrieg als soziale Topographie im Dienste der Kirchen auftritt.21 In dieser 295 abermaligen Verengung beschreibt sie den Prozeß der 19 20

21

Ebd., S. 98. Hierzu: Jan Lauwers: Les théories sociologiques concernant la sécularisation. Typologie et critique, in: SC 20 (1973), S. 523–533. – Louis Schneider: Sociological Approach to Religion, New York 1970, S. 176 f. Schon früh hatte etwa Alexander von Oettingen (1827–1906), Professor für Dogmatik in Dorpat, die statistische Massenbeobachtung vom kirchlichen Standpunkt aus akzeptiert und angewendet, um eine christlich-sittliche Therapie an der für krank befundenen Gesellschaft optimal einsetzen zu können. Vgl. Alexander von

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Entkirchlichung als historisches Kontraktionsgesetz der Religion, analysiert das Ergebnis als totalen Funktionsverlust und ermittelt die aktuelle Situation kirchlichen Restbestands als strukturelle Milieuverengung. Drei Aussagebündel rücken somit in den Mittelpunkt der soziologischen Religionsbetrachtung: 1. In den Kirchen repräsentiert sich nicht mehr der Querschnitt des gesamtgesellschaftlichen Milieus, sondern nur noch ein Torso der sozialen Schichtstruktur: und zwar vorwiegend die in ihrer beruflichen Existenz bedrohten Bauern und Kleinbürger, die an Traditionswerten orientierten und vom vermeintlichen Statusverlust bedrohten Beamten der Mittelschicht, die (noch) nicht oder nicht mehr am Arbeitsprozeß aktiv beteiligten Frauen und Kinder, ältere Menschen und Sozialhilfeempfänger. Für sie alle stellt Kirche so etwas wie eine Ersatzgesellschaft dar, in der sie die Linderung für den Schmerz erfahren, den ihnen andernorts die Gesellschaft zugefügt und sie damit in ein Randdasein abgedrängt hat. 2. Die Ablagerung der Religion in einem gesonderten Gesellschaftssediment namens Kirche ist Ausdruck ihres allgemeinen Bedeutungsverlusts. Religion hat allenfalls noch periphere Sonderfunktionen zu erfüllen, eine gesellschaftliche Gesamtzuständigkeit geht ihr dagegen ab. Die Aufgaben der Bildung, Moral, Erziehung und Wissenschaft hat sie beispielsweise an die „säkularen“ Institutionen Familie, Schule, Massenmedien und Universität abtreten müssen; die Kirchen werden hier nur noch verstärkend und ergänzend wirksam, im großen und ganzen sind sie jedoch auf der gesamten Linie vom Funktionsverlust betroffen. 3. Die Ursachen der Säkularisierung sind vielfältig; vor allem Verstädterung, Industrialisierung und Verwissenschaftlichung haben der Religion die allgemeingesellschaftliche Basis entzogen und sie in das Abseits des sozialen Geschehens gedrängt. Sie ist von einer ehemals die Gesamtgesellschaft umspannenden Universalkirche auf den zahlenmäßig und bedeutungsmäOettingen: Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage, Erlangen 1868. – Hieran und an die „theologischen“ Väter der Statistik – Johann P. Süssmilch (1707–1767) und Lambert A. Quételet (1796–1874) – knüpfte die spätere kirchliche Sozialforschung besonders in Frankreich an; ihr hervorragender Vertreter wurde der katholische Kirchenrechtler Gabriel Le Bras (geb. 1891), Professor an der Sorbonne in Paris. Sein Hauptwerk: Etudes de sociologie religieuse, Paris 1955/1956. – Alle späteren kirchensoziologischen Untersuchungen haben mehr oder weniger direkt aus diesem Werk Anstöße erfahren. – Die kirchensoziologische Forschung ist dargestellt bei Wolfgang Marhold: Fragende Kirche. Über Methode und Funktion kirchlicher Meinungsumfragen, Mainz/München 1971. – Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 2, Reinbek 1969.

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ßig kleinen Kern noch verbliebener Kirchentreuer zusammengeschrumpft. 296 Auch in dieser Fassung ist die Säkularisierungsthese für die Kirchen noch als Legitimationsfigur nutzbar. Denn sie erlaubt, die Entkirchlichung der Welt als eine unrechtmäßige Enteignung anzuprangern, als schuldhafte Verursachung der kirchlichen Isolation zu entlarven und den eigenen Restitutionsanspruch gegen die Welt zu begründen. Gesellschaft kann nunmehr gewissermaßen als Präparat behandelt werden, an dem der erlittene Terrainverlust wieder wettzumachen ist; sie stellt ein freiverfügbares Operationsgebiet missionarischer Weltstrategie dar. Und Soziologie fungiert dabei als assistierender Forschungszweig mit dem Zweck, die kirchliche Ausstrahlungskraft auf anerkannte methodische Grundlagen zu stellen.22 Worin bestehen nun die Konsequenzen einer solchen soziologischen Betrachtungsweise? Die Geläufigkeit der Säkularisierungsthese täuscht oftmals darüber hinweg, daß sie sich weitgehend nur um den Preis logischer Schwierigkeiten behaupten kann und daß ihr eine „wirklichkeitsaufschließende Kraft“ (Hermann Lübbe) – wenn sie in ihr je vorhanden war – größtenteils abgeht. Eine kritische Überprüfung ihrer Voraussetzungen und ihres Ertrags fördert im wesentlichen folgende „Defekte“ zutage:23 1. Die an expliziter Kirchlichkeit orientierte Säkularisierungsthese erfüllt gleichsam die Funktion eines grobmaschigen Filters, der all das heraussiebt, was sich nicht als Erfüllung kirchlicher Teilnahmegebote oder als Reflex kirchlich präfomierten Bewußtseins ausmachen läßt. Außerkirchliche Religiosität, distanzierte Kirchlichkeit, 297 Christentum inkognito – all diese kulturell transformierten Bewußtseinsformen von Religiosität sind von einem enggefaßten Verständnis her nur als Momente der Entkirchlichung zu de22

23

Hierzu: Joachim Matthes: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964. Die soziologische Kritik an der Säkularisierungsthese begann mit dem Aufsatz des amerikanischen Soziologen Norman Birnbaum: Säkularisation. Zur Soziologie der Religion in der heutigen Gesellschaft des Westens, in: MPTh 48 (1959), S. 68–84. Weitere wichtige Diskussionsbeiträge lieferten danach vor allem: Thomas Luckmann: Sammelbesprechung zur Religionssoziologie, in: KZSS 12 (1960), S. 315– 326. – Hermann Lübbe: Säkularisierung (s.o. Anm. 18). – Joachim Matthes: Bemerkungen zur Säkularisierungsthese in der neueren Religionssoziologie, in: Probleme der Religionssoziologie, Sonderheft 6 der KZSS, hg. von Dietrich Goldschmidt/Joachim Matthes, Köln/Opladen 1962, S. 65–77. – Trutz Rendtorff: Zur Säkularisierungsproblematik (s.o. Anm. 17). – Vgl. auch den Diskussionsband: Hat die Religion Zukunft?, hg. von Oskar Schatz, Graz/Wien/Köln 1971, besonders S. 49–68.297–346. – In jüngster Zeit ist eine zusammenfassende Darstellung der Säkularisierungsdebatte erschienen von: Raban Tilmann: Sozialer und religiöser Wandel, Düsseldorf 1972.

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nunzieren. Die nicht in den Kirchen organisierte Religion wird weitgehend unterschlagen; Kirchensoziologie erfüllt sich als Amputationsmethode. 2. Die an aparter Kirchlichkeit herausgebildete Säkularisierungsthese vermag auch einer Gesellschaft nicht voll gerecht zu werden, die sich faktisch viel stärker im Einflußbereich der Religion befindet, als die Ergebnisse der Kirchensoziologie vermuten lassen. Die Säkularisierungsthese enthält eher die Daueranzeige eines längst bekannten Sachverhalts, ohne eigentlich neue Erkenntnisse zu vermitteln. In einer Gesellschaft, die sozusagen wesensmäßig auf ihr Säkularisiertsein von vornherein festgelegt ist, kann überhaupt nichts mehr geschehen, was die Geläufigkeit dieser Annahme ernstlich in Frage stellt. Tatsächlich bringt die Kirchensoziologie stets erneut, wenn auch in je modifizierter Form, hervor, was ihr ebenso regelmäßig als hypothetischer Ausgangspunkt gilt: die Beschreibung des neuzeitlichen Zerfallsprozesses einer kirchlich organisierten Religion. So werden Frageansatz und Erkenntnisertrag radikal auf den kirchlichen Aspekt verengt und um ihre mögliche Fruchtbarkeit gebracht. 3. Die Folge ist, daß sich die Perspektive der Kirchensoziologie im erheblichen Maße verzerrt. Eine auf Kirchlichkeit konzentrierte Soziologie kann Religion weitgehend nur in ihrer stigmatisierten Gestalt zutagefördern – sei es nun als eine Art „Asyl für blöde Köpfe“ (Søren Kierkegaard); sei es als eine „Versicherungsanstalt für schwache stützungsbedürftige Menschen“ (Max Scheler). – Und auch in geschichtlicher Sicht muß die Kirchensoziologie als religiösen Funktionsverlust registrieren, was sich bei einer Betrachtung im Zusammenhang wohl eher als gesamtgesellschaftliche Funktionsumschichtung erschließen läßt. 4. Um die Allgemeinheit ihrer Aussagen zu erhalten, verlängert die Säkularisierungsthese oft Teilwahrheiten zur Gesamtschau. Tatsächlich beruhen die Kernaussagen der Kirchensoziologie weitgehend auf unzulässigen Verallgemeinerungen, wenn sie etwa die Verwirklichung der gleichsam kanonisch vorgegebenen Normen als die Totalwirklichkeit der Religion ausgibt; oder wenn sie vom partiellen Funktionsverlust der Kirchen generell auf eine Bedeu 298tungsabnahme der Religion in der modernen Gesellschaft zurückschließt. In dieser Zuspitzung gibt sich eine religionssoziologische Sicht zu erkennen, die sich weder der eigenen Herkunftsgeschichte noch ihres spezifisch gefärbten Interesses bewußt ist; mehr noch: eine Religionssoziologie, die sich gegenüber den eigenen geschichtlich-sozialen Verflechtungszusammenhängen sozusagen naiv stellt, begibt sich des Interesses, das allein ihren Charakter als wissenschaftliche Disziplin ausweisen kann; eine Wissenschaft aber, die nicht (mehr) weiß, was sie treibt, läßt sich von fremden Kräften treiben: „in der Tat herrscht in der neueren Auseinandersetzung mit der

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Kirchensoziologie die Auffassung vor, diese habe den Kontakt mit der allgemeinen Theorie verloren, ihren Frageansatz radikal auf kirchliche Praxis und kirchliche Organisation verengt und sich weitgehend pastoraltheologischen und kirchenpolitischen Interessen ausgeliefert.“24 So verkörpert sich im religionssoziologischen Bewußtsein letzten Endes ein gewisser kirchlich-konfessioneller Provinzialismus: In ihrer Variante als Kirchensoziologie nimmt sie sich selber zu einer Marginaltheorie zurück und läßt Religion zusehends aus der soziologischen Zentralperspektive entgleiten. Eine Säkularisierungsthese, die ja ausdrücklich die gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit der Religion bescheinigt, kann kaum noch plausibel machen, warum man sich eigens soziologisch mit der Religion befassen sollte. In der von ihr behaupteten gesellschaftlichen Defizienz der Religion drückt sich denn auch wohl eher etwas über die Defizienz ihrer Grundannahme aus, der Begriff von Religion gehe in Kirchlichkeit auf. Wann immer sich unter solchen Voraussetzungen ihre Aussagen zur Religion ausschließlich am sozialen Kristallisat der Kirchlichkeit abbilden, tritt in der einen oder anderen Form die Stigmatisierung der Religion als gesellschaftlich Partikulares in den Vordergrund und verdrängt das Interesse, ihre gesamtgesellschaftliche Funktion zu klären. Dann wird die Krisenhaftigkeit im Umkreis der Religion zu thematisieren, zur unausweichlichen Notwendigkeit und die bekenntnishafte Frage nach der Opportunität von Kirche in der modernen Gesellschaft zu verhandeln, zur zwangsläufigen Folge. In dieser Beschränktheit ihres Horizonts bildet sich der Höhepunkt einer Religionssoziologie, die sich vorrangig durch 299 ihr fremdes Legitimationsinteresse anbinden läßt und nach Rückhalt in einer allgemeinsoziologischen Theorie gar nicht mehr sucht: Die konstitutive Bedeutung der Religion auch in der modernen Gesellschaft kann sie nicht mehr einsichtig machen. 2. Funktionsfelder der Religion: Sozialität und Identität Das Dilemma der neuzeitlichen Aufklärung über Religion steckt jenen historischen und systematischen Umkreis ab, dem das sozialwissenschaftliche Interesse an der Religion entwachsen ist, und dem es zwar seine Aporien verdankt, diesen gleichwohl nicht durchgängig verhaftet blieb. Theoretische Sichtverengung und ideenpolitische Legitimationsabsicht unterlagen vielmehr immer schon eingehender Kritik, seitdem sich Religionssoziologie als Wissenschaft konsolidierte: Besonders im Zuge einer Grundlagenbesinnung der „klassischen“ Soziologie rückte die Religion mehr und mehr nach 24

Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 21), S. 10.298.

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ihrer konstitutiven Bedeutung für Kultur und Gesellschaft ins Licht. Daß sie ein unverzichtbares Strukturelement des gesellschaftlichen Seins darstelle, daß sie keine periphere, sondern geradezu die zentrale „Produktivkraft“ des sozialen Lebens sei, wird zusehends deutlicher zum grundlegenden Axiom einer Religionstheorie, die sich soziologisch und nur soziologisch legitimiert: Will man die Gesellschaft erforschen, so stößt man zwangsläufig auch auf ihre Religion; und will man die Religion erklären, kann man die Gesellschaft nicht außer Betracht lassen. Wie beteiligt sich nun die Gesellschaft an der Ausgestaltung ihres Jenseits? Und wie ist in ihr die Religion als ein sozialkonstitutiver Faktor zu veranschlagen? – Gerade hinter diesem Problem verbirgt sich der Brennpunkt des allgemeinsoziologischen Interesses an der Religion.25 300 2.1 Religion – die Grunddisposition des Menschen zur Sozialität In dem Maße, wie Religion in die theoretische Perspektive der Gesamtgesellschaft rückt, geht die Kirchlichkeit als Ausgangspunkt verloren; denn diese kann nicht Einstieg einer soziologischen Betrachtung sein, welche die ganze Gesellschaft anvisiert. Die Bedeutung der Religion erschließt sich vielmehr erst, wenn man den strategischen Punkt ihrer Erforschung in jenem Handeln ansiedelt, das so etwas wie Gesellschaft konstituiert und am Leben erhält. Gesellschaft gründet aber, einer Bestimmung von Max Weber zufolge, auf dem intentionalen Gefüge aus solchen Handlungen, die sinnhaft aufeinander bezogen sind; das heißt: Es ist jenes menschliche Handeln, das sich aus dem Bewußtsein übergreifender Bedeutungszusammenhänge leiten läßt, was letztlich das Gesellschaftliche ausmacht.26 Ist nun die Religiosität 25

26

Dieser Gesichtspunkt – sozusagen bereits negativ in der Kritik an der Säkularisierungsthese enthalten – erfährt neuerdings zusehends auch eine positive Ausformulierung, wobei man gerade auch auf „klassische“ Vorlagen zurückgreift. So hat etwa Wössner die Ansätze von Marx, Weber und Parsons für eine allgemeinsoziologisch verankerte Religionstheorie fruchtbar zu machen versucht. Vgl. Jakobus Wössner: Religion als soziales Phänomen. Beiträge zu einer religionssoziologischen Theorie, in: Religion im Umbruch, hg. von Jakobus Wössner, Stuttgart 1972, S. 16–46. – Nach Drucklegung des Kapitels erschien: Trutz Rendtorff: Gesellschaft ohne Religion?, München 1975. Auch Rendtorff versucht gleichsam im Gegenkurs zu einer kirchensoziologischen Marginalisierungstendenz und durch Auswertung der sozialtheoretischen Kontroverse zwischen Luhmann und Habermas die These zu entfalten, daß Religion, die durch Kirchlichkeit nicht abgegolten wird, geradezu „als Kernstück des Bewußtseins von Gesellschaft“ überhaupt zu gelten hat. Hierzu: Helmut Girndt: Das soziale Handeln als Grundkategorie erfahrungswissenschaftlicher Soziologie, Tübingen 1967, S. 24–30.

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darin zentral verankert? Und zwar auch, ja gerade, wenn sie sich nicht als kirchlich bestimmte Bewußtseinsform oder kirchlich normiertes Verhalten zu erkennen gibt? Kann man aus sozialem Handeln schlechthin so etwas wie einen „religiösen Faktor“ herausdestillieren, der in diesem Handeln selbst virulent ist und nicht gleichsam als verzichtbares oder auswechselbares Superadditum hinzutritt? Religion also als ureigenes Erfordernis menschlichsozialen Handelns? – Tatsächlich haben nahezu alle Gesellschaftstheorien, in denen Religion einen zentralen Platz einnahm, die Frage positiv beantwortet: „Gesellschaft ist“ – so lautet durchgängig ihr Axiom – „ohne Religion nicht denkbar, und zwar nicht ohne die Religion, die sie hat, sondern die . . . sich in jedem Handeln realisiert.“27 Unter folgenden Gesichtspunkten28 erscheint die Religion dann als ein notwendiges Handlungsingredienz: 301 1. Kognitive Bedeutungsinvestition29 Im gesellschaftlichen Alltagsleben sind Handlungslagen durchweg nicht allein mit empirischem Wissen zu bewältigen. Denn: das Reservoir an objektiv verfügbarem Wissen ist begrenzt; eine natürliche Knappheit der Mittel läßt die Menschen Ohnmacht und Abhängigkeit erfahren; der einzelne vermag nicht alles, was er weiß, in Handlungssituationen zu aktualisieren; und was als Bedingungskonstellation einer Handlung wahrgenommen wird, ist subjektiv kaum vollständig abzuschätzen. Dem Handelnden präsentiert sich die Außenwelt fragmentarisch; und seine eigenen Fähigkeiten sind durch prinzipielle Defizienz an Handlungswissen und -können beeinträchtigt. Unsicherheit und Betroffenheit fordern ihm ab, was man gemeinhin etwas emphatisch den „Mut zur Lücke“ nennt: Ein Mensch, der handeln will, ja muß, darf im Empirischen nicht verfangen bleiben, um nicht Spielball der ihn bestimmenden Außenkräfte zu sein. Angesichts der Unzulänglichkeit gege27 28

29

Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 21), S. 91. Die Einteilung in kognitive, valuative und affektuelle Handlungskomponenten erfolgt hier in Anlehnung an Talcott Parsons (The Social System, 3. Auflage, Glencoe [Ill.] 1959, S. 13) und stimmt ungefähr mit der Differenzierung Max Webers in utilitaristische, affektuelle und werthafte Handlungsziele überein; vgl. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1956, S. 12. Hierzu außer Simmel, Weber, Malinowski, Parsons u. a. vor allem auch: Günter Kehrer: Religion und sozialer Wandel. Die Anwendung eines handlungstheoretischen Modells, in: IJRS 7 (1971), S. 31–59. – Friedrich H. Tenbruck: Wissenschaft und Religion, in: Religion im Umbruch, hg. von Jakobus Wössner, Stuttgart 1972, S. 217–244.

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bener Chancen und Mittel, angesichts erfahrener Insuffizienz und Abhängigkeit hat der Mensch vielmehr das Unbestimmbare der Welt in die Bestimmtheit seiner Weltansicht zu überführen, die ihm sinnvolles Handeln ermöglicht und etwaige Resignation verwehrt. In allen Gesellschaften wurde und wird diese Transformation vom religiösen Bewußtsein geleistet. Die Religion ist es, die äußere Realität dem menschlichen Innenleben einfiltriert und objektives Wissen zur subjektiven Gewißheit und Überzeugung gestaltet. Im religiösen Bewußtsein wird Wirklichkeit, die sich atomistisch gibt, und Wissen, das sich als lückenhaft erweist, vereinigt, vervollständigt und abgerundet zu jener Totalansicht verwoben, die unter der Chiffre „Wahrheit“ erscheint. Religiöser Glaube durchsetzt Welterfahrung mit Bedeutungsinvestitionen und bringt damit jenes 302 Sinngefüge hervor, in dem Situationen als sinnhaft oder auch sinnlos erfahren werden: In ihm ist angezeigt, welche Handlung geboten, erwünscht oder zu meiden, in jedem Falle aber überhaupt erst ermöglicht ist. Im Sinnzusammenhang wird Wirklichkeit für den Menschen erst auf ihre Handlungsrelevanz hin deutlich. So schafft die kognitive Sinnstiftung der Religion, sofern sich diese nicht selbst verdinglicht, grundsätzlich jene Distanz zum Zwangscharakter der unmittelbaren empirischen Außenwelt, die zu spontaner Zielsetzung Freiraum gewährt. Dabei erschließt sich die Sinnhaftigkeit einer Situation freilich nicht je individuell, sondern aus einem übergreifenden Koordinatensystem, das gesellschaftlich festgelegt ist. Nur der gedächtnislose Robinson Crusoe kann Situationen jeweils isoliert und geschichtslos, gewissermaßen total positivistisch erleben. Dem Menschen in Gesellschaft jedoch ist der Horizont seiner Sinnerfahrung immer schon vorgegeben: Seine Erziehung ist ein sukzessives Bekanntwerden mit der offiziellen, allgemeingültig verpflichtenden Weltansicht, die es ihm als ein gemeinsamer Verstehenshintergrund ermöglicht, mit anderen Menschen in Kommunikation und Interaktion zu treten. Es ist dabei hauptsächlich die Religion, die das überindividuelle Bedeutungsgefüge dem einzelnen vererbt, in dessen Gedächtnis aufspeichert30 und ihn dadurch zum zielsetzenden Handeln befähigt.

30

Maurice Halbwachs: Das Gedächtnis und seine sozialen Bedingungen, Berlin/Neuwied 1966, S. 243–296. – Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis, Stuttgart 1967.

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2. Moralische Wertintegration31 Die Zielsetzung jedoch ist ihrerseits im großen und ganzen schon gesellschaftlich determiniert, bevor sich der einzelne zu ihr entschließt. Denn jede Gesellschaft hat ein Minimum allgemeinverbindlicher Wertvorstellungen, an denen sie nicht rütteln läßt; sie besitzt ein umfangreiches Depot von Basiswerten und konkretisierenden Normen, ohne die sie auseinanderfallen würde, und die darum nicht zur Disposition der einzelnen stehen; deren Mißachtung ist vielmehr mit scharfen Sanktionen und Strafen belegt. 303 Nicht alle theoretisch durchaus verfügbaren Mittel sind anzuwenden erlaubt, um ein Ziel zu erreichen; und nicht alle Wege stehen offen, die einzelne spontan einzuschlagen gedenken. Über die natürliche Mittelknappheit hinaus gibt es auch eine moralische Restriktion der Zwecke; und bei der individuellen Auswahl von Zielen ist dem einzelnen trotz eines gewissen Spielraums zumindest eine Richtung verwehrt: Er darf den Bestand der Gesellschaft durch sein Handeln nicht gefährden. In diesem Zusammenhang fällt der Religion eine weitere elementare Funktion zu: Sie begründet und legitimiert die fundamentale Wertbasis der Gesellschaft. Sie bringt die einzelnen Werte in eine hierarchische Ordnung, legt Handlungspräferenzen fest und steckt die Grenzen ab, innerhalb der ein grundlegender Wert auf Kosten eines anderen, nicht weniger zentralen Wertes angestrebt werden darf. Schließlich vermittelt sie dem einzelnen im Prozeß der Sozialisation jenes Gemisch von moralisch-normativen Selbstverständlichkeiten und theoretischem Wertbewußtsein, aus dem sich sein Gewissen bildet, nach dem er fallweise Ziele und Zwecke seines Handelns wählt. So schafft religiöses Bewußtsein durch sinnstiftende Bedeutungsinvestitionen nicht nur eine allgemeine Weltansicht, die Kommunikation und soziales Handeln erst ermöglicht, sondern sie verklammert zudem die einzelnen Menschen zum Gesellschaftsverband – und zwar durch die moralische Wertintegration, die ebenso gesellschaftlich bedingt ist, wie sie auf Gesellschaft hinführt: Religion ist der Unterpfand dafür, daß Sozialität sowohl Voraussetzung als auch Ziel einer jeden menschlichen Handlung bleibt, und darin führt sie die Gesellschaft über ihren potentiell anarchischen Zustand hinaus. 3. Ordnung der inneren Affektlage Neben Erkenntnis und Wertsetzung spielt schließlich auch Gefühl in das menschlich-soziale Handeln hinein: „Angst, Zorn, Ehrgeiz, Neid, Eifer31

Hierzu vor allem: Durkheim, Simmel, Malinowski, Parsons und Yinger.

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sucht, Liebe, Begeisterung, Stolz, Rachedurst, Pietät, Hingabe, Begierden“ (Max Weber) – all das kann das Verhalten eines Menschen unberechenbar machen. Darum ist jede Gesellschaft daran interessiert, ihre Mitglieder vor der Übermacht der Affekte zu bewahren, indem sie diese in kontrollierte Bahnen lenkt. Auch hierbei spielt Religion eine maßgebliche Rolle: Sie sorgt 304 dafür, daß Menschen ihren „Antriebsüberschuß“ vorwiegend in sozialproduktives Handeln umsetzen und ihre innere Triebstruktur gewissermaßen auf den Gesellschaftsbestand hin sublimieren; ja sie selbst stellt Strategien der Gefühlsexpressionen zur Verfügung: Was normalerweise verboten ist, erlaubt der Ritus „im Rahmen“ auszuleben und zu befriedigen – vor allem übermäßiges Leid und übermäßige Freude zum Ausdruck zu bringen. Und was sich im Menschen an Gefühlsenergien aufstaut, wird im rituellen Akt ventiliert und damit seinerseits in Routine überführt.32 Über solche praktischen Kompensationsmöglichkeiten hinaus muß die Gesellschaft die Gefühlsreaktionen ihrer Mitglieder auch theoretisch bewältigen helfen. Denn die Erfahrung von Abhängigkeit, das Erlebnis persönlicher Insuffizienz, die Wahrnehmung der Diskrepanz zwischen gesellschaftlichem Anspruch und gesellschaftlicher Realität – all das stellt die Gültigkeit von Weltansicht und Wertordnung potentiell in Frage und kann in gefährliche Frustrationen ausmünden. Verbote dürfen nicht bloß oktroyiert, sondern müssen in Einsicht überführt werden; und erzwungenes Leid bedarf seiner Rechtfertigung, die es erträglicher macht. Wieder ist es die Religion, die diese Aufgabe ad hoc und grundsätzlich meistert: Sie leitet den Menschen in emotional hochaufgeladenen Situationen zum sinnhaften sozialen Handeln an. Sie steht ihm bei, die innere Affektlage nach Einsicht auszudeuten und zu ordnen sowie in gesellschaftlich tragbare Ausdrucksmuster zu lenken. Überdies belehrt sie den Menschen über die sozialnotwendigen Umstände, die es grundsätzlich verhindern, daß Wertansprüche jemals vollkommen durch menschliche Anstrengungen geschichtlich eingelöst werden. Kurzum: Religiöses Bewußtsein garantiert, daß die subjektive Diskrepanzerfahrung des Menschen in die objektive Totalitätserfahrung der Gesellschaft übergeht, in der Verzichtsleistungen des einzelnen als Notwendigkeit für das Ganze erscheinen.

32

Hierzu: Sigmund Freud: Zwangshandlungen und Religionsübungen (1907/09), in: Gesammelte Werke, Band 7, London 1941, S. 129–139. – Alfred Vierkandt spricht hier sehr plastisch von „Ventilsitten“: Alfred Vierkandt: Kleine Gesellschaftslehre, 3. Auflage, Stuttgart 1961, S. 90. Zum Ritus allgemein vgl. Anm. 34.

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Durch kognitive Sinnerschließung, moralische Wertintegration und Ordnung der inneren Affektlage weist die Religion das situative 305 Handeln der Menschen in die Zusammenhänge der Gesellschaft ein. Sie ist darin kein soziales Ausnahmephänomen, sondern nach ihrer elementaren Funktion mit den Fundamentalkrisen der Gesellschaft selbst verbunden, indem sie strukturelle Defizienz, Betroffenheit und Handlungsdruck auf seiten des einzelnen Menschen in sinnhaftes Problemlösungsverhalten überführt. So läßt sich abschließend ihre erste grundlegende Funktion im gesellschaftlichen Leben bestimmen: Das religiöse Bewußtsein ist jene universale und gewissermaßen geschichtsbeständige Handlungskomponente, die den Menschen zur Ausübung seiner Sozialität konditioniert und damit den Bestand des Gesellschaftlichen überhaupt sichert. 2.2 Religion – Aufbau, Stabilisierung und Rekonstruktion von Identität Aus der in Handlungslagen akut werdenden Spannung des einzelnen zur Gesellschaft entsteht das Problem seiner Identität.33 Mit Identität ist allgemein jene Beschaffenheit des Menschen bezeichnet, die ihm ermöglicht, Glied einer Gesellschaft, soziales Wesen zu sein. Im geläufigen Sprachgebrauch wird Identität gemeinhin mit Individualität gleichgesetzt; in Wahrheit jedoch ist sie neben dem individuellen und gesellschaftlichen Moment gleichsam ein Drittes: eine Mischkonfiguration aus sozialem Konstrukt und individueller Schöpfung. Das Individuelle seinerseits leitet sich in mehrfacher Hinsicht vom Gesellschaftlichen erst ab: Zunächst ist das Soziale dem einzelnen verpflichtend vorgegeben. Es wird ihm im Verlauf 306 des Erziehungsprozesses eindringlich nahegebracht. – Sodann sind es zwar nur Grundmuster, die eine Gesellschaft auf ihre einzelnen Mitglieder überträgt: Sie verlangt keine totale Unter33

Zum soziologischen Konzept der Identität: Erik H. Erikson: Wachstum und Krisen der gesunden Persönlichkeit, Stuttgart 1952. – Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1966. – Hans Gerth/Charles W. Mills: Character and Social Structure. The Psychology of Social Institutions, New York 1953; deutsch: Person und Gesellschaft, Frankfurt a.M./Bonn 1970. – Erving Goffman: The Presentation of Self in Every Day Life, New York 1959. – Jürgen Habermas: Thesen zur Theorie der Sozialisation, in: Arbeit, Erkenntnis, Fortschritt, Amsterdam 1970. – Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart 1971. – David J. de Levita: Der Begriff der Identität, Frankfurt a.M. 1971. – Ralph Linton: The Study of Man, New York 1936. – George H. Mead: Mind, Self, and Society, Chicago 1934. – Anselm L. Strauss: Spiegel und Masken. Die Suche nach Identität, Frankfurt a.M. 1968.

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würfigkeit, – es sei denn, sie ist totalitär organisiert. Aber damit steht ihr Verpflichtungscharakter doch nicht grundsätzlich, sondern nur graduell zu Disposition der einzelnen. Gesellschaft bleibt das Übergeordnete, weil sie die Rahmenbedingungen setzt, unter denen sich so etwas wie Individualität erst herausbilden kann; deren Möglichkeit ist gesellschaftlich festgelegt und deren Ausmaß sozial zu verantworten. – Schließlich erweist sich der Primat des Sozialen auch darin, daß es sozusagen das nahezu alleinige Medium darstellt, durch das sich Individualität in ihrer Besonderheit realisieren kann. Gesellschaft ist nicht nur Grenzbestimmung, sondern auch der Stoff, den sich das Individuum aktiv-gestaltend aneignet. Anders gesagt: Individualität kann nicht grundsätzlich über das hinausreichen, was als sozial-kulturelle Person darzustellen möglich ist; genau dies wird Identität genannt. So ist mit dem Stichwort der Identität das Verhältnis markiert, das der einzelne zur Gesellschaft jeweils einnimmt, ohne sich dabei ihren Forderungen total anzupassen, noch total zu entziehen: Die Balance zwischen Übereinstimmung und Geschiedenheit, zwischen Konformitätsdruck und Einzigartigkeit erzeugt die Spannung, die menschliche Identität zum Problem werden läßt. Seit jeher hat Religion bei der Ausgestaltung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft eine zentrale Rolle gespielt. „Deshalb ist das Problem der menschlichen Identität als die Grundfrage einer modernen Religionssoziologie zu bezeichnen.“34 In der Tat: Seit Marx, Durkheim, Simmel und Weber geht es der mehr all 307gemeinsoziologisch orientierten Theorie vorrangig darum, jene Wirkungskraft der Religion auf den Begriff zu bringen, die sie den „fundamentalen Schichten der Identitätssicherung“ des Menschen zurechnet.35 Identität bildet sich unter verschiedenen Gesichtspunkten: 34

35

So Pieter H. Vrijhof: Methodologische Probleme der Religionssoziologie, in: URS 3 (1967), S. 46. – Pieter H. Vrijhof: De religieuze personalisatie als centraal probleem voor de godsdienstsociologie, in: Sociale Wetenschappen 1965, S. 157–176. – Vgl. hierzu außer Durkheim, Simmel, Weber, O’Dea, Glock, Berger und Luckmann auch die neueren Ansätze und Untersuchungen von: Alois Hahn: Religion und der Verlust der Sinngebung. Identitätsprobleme in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1974. – Helmut Reiser: Identität und religiöse Einstellung. Grundlagen zu einem schülerorientierten Religionsunterricht, Hamburg 1972. – Joachim Scharfenberg/Hans-Walter Schütte/Hermann Timm/Christian Gremmels: Religion: Selbstbewußtsein – Identität, München 1974. – Gibson Winter: Grundlegung einer Ethik der Gesellschaft, München/Mainz 1970, S. 273–279. Jürgen Habermas: Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a.M. 1971, S. 35.

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1. Vertikale oder biographisch-personale Identität Die Biographie eines Menschen ist nicht gleichsam automatisch ein bruchloses Kontinuum, sondern durchweg von Sprüngen gezeichnet: Geburt, Erwachsenwerden, Heirat, Berufseintritt, Stufen der Karriereleiter und Pension – all das sind Knotenpunkte, welche die Unverbrüchlichkeit einer Lebenslinie mit absehbarer Regelmäßigkeit durchkreuzen. Es sind gleichsam Durchgangsstationen zu neuen sozialen Lebensfeldern, in denen dem einzelnen neue Rechte eingeräumt und neue Pflichten auferlegt werden. Solche Nahtstellen enthalten Krisenpotential: Der einzelne verläßt die altvertraute Umgebung und ist noch unbekannten Anforderungen ausgesetzt; die Kontinuität seiner Selbsterfahrung ist bedroht, weil er neue Rollen zu spielen hat. Und die Basiswerte einer Gesellschaft drohen von der Fülle und Differenziertheit der ungewohnten Aufgaben, denen sich der einzelne beim Positionswechsel konfrontiert sieht, verschüttet zu werden. Aus dem neuralgischen Charakter solcher Situationen erklärt es sich, daß die Gesellschaft ein vitales Interesse daran hat, die akuten Notstände möglichst schnell wieder in Normalität zu überführen und dazu bestimmte Regelungsmechanismen, gleichsam Techniken des Krisenmanagements, bereitzustellen. Besonders den religiösen Riten fällt es dabei zu, die Übergänge im Leben eines Menschen zu begleiten und deren Krisenhaftigkeit zu bewältigen. Taufe, Konfirmation und kirchliche Trauung sind beispielsweise solche „rites de passage“36: Durch sie werden Lebens 308brüche zu Zäsuren umstilisiert, und die Zerstückelung der Lebenslinie erscheint im Nachhinein als ein rhythmisiertes Kontinuum. Darüber hinaus wird der durch Trennung, Umstellung und Neueingliederung verursachte emotionale Druck im rituellen Akt kanalisiert. Schließlich ist das festliche Ritual nicht nur eine Gelegenheit, soziale Verbindungen zu praktizieren: Familie, Bekanntschaft, ja ganze Gemeinden nehmen daran teil; vielmehr ist hier auch der Anlaß gegeben, die grundlegenden Wertsymbole der Gesellschaft erneut in der Erinnerung des einzelnen zu festigen. Aber auch bei anderen Eventualitäten tritt Religion als eine Art sozialtherapeutisches Unternehmen auf den Plan; dann nämlich, wenn das Selbstverständnis des einzelnen durch weniger berechenbare Krisensituationen 36

Hierzu vor allem Durkheim und Malinowski sowie: Jean Cazeneuve: Les rites et la condition humaine, Paris 1958. – Jean Cazeneuve: Sociologie du rite, Paris 1971. – Arnold van Gennep: Les rites de passage, Paris 1909. – Essays on the Ritual of Social Relations, hg. von Max Gluckman, Manchester 1962. – William S. F. Pickering: The Persistente of Rites of Passage. Towards an Explanation, in: BJS 25 (1974), S. 63–78.

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in Gefahr gerät: bei Scheidung und Tod, bei beruflichem Mißerfolg und Krankheit, bei Krieg, Gefangenschaft, Flucht und Naturkatastrophen, die allesamt das Individuum aus der Gesellschaft desintegrieren und das Einzeldasein selbst desorganisieren können. Durch „Seelsorge“, rituelle Bekräftigung und glaubensmäßige Sinnausdeutung bewahrt die Religion die Kontinuität der einzelnen Lebenslinie über drohende und auferzwungene Brüchigkeit der Daseinsumstände hinweg; mehr noch: Im religiösen Bewußtsein werden die auftretenden Ereignisse zu einem Zusammenhang komponiert, der als je individuelles, einzigartiges, unverwechselbares Schicksal des Menschen zutagetritt. Weder ein vergangenes Geschehnis noch eine frühere Tat können sich dem homo religiosus als Fraktur seiner Biographie darbieten. Im Lichte der religiösen Sinnwelt lassen sich die erinnerten Ereignisse vielmehr umdeuten und einer einheitlichen Daseinsführung zuordnen, so daß sie nachträglich etwa als Vorbereitung zum Glauben, als Prüfung oder Jugendsünden erscheinen.37 Sie erhalten einen übergreifenden Sinn: Vergangenes Leben wird vom Identitätsbewußtsein auf aktuelle Situationen und entworfene Zukunft, auf das Ziel seiner Selbstverwirklichung hin strukturiert. Und es ist das religiöse Bewußtsein, das Einmaligkeit, Konsistenz und Sinnstiftung 309 im biographischen Entwurf für den Menschen garantiert. So ist etwa in der christlichen Idee des Heils das Prinzip der Individuation auf eine Formel gebracht. 2. Horizontale oder soziale Identität Die im Lebensverlauf geronnene Individualität verbürgt dem Menschen den Anspruch auf Selbstverwirklichung, der sich äußerem Erwartungsdruck und gegebenen Forderungen der Gesellschaft widersetzt. Auf Unabhängigkeit und Einheit drängendes Identitätsbewußtsein verschafft dem Menschen Schutz vor tendenziell angesonnener Selbstaufgabe und läßt ihn somit als sozial Abgehobener erscheinen. Gleichwohl entwickelt, formt und bewährt sich andererseits die individuelle Seite der Identität gerade an den widersprüchlichen Erwartungen der Gesellschaftsumwelt und gegen deren Konformitätsdruck.

37

Hierzu: Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1969, S. 176–185. – Christian Gremmels: Selbstreflexive Interpretation konfligierender Identifikationen am Beispiel des Apostels Paulus, in: Joachim Scharfenberg u. a.: Religion: Selbstbewußtsein – Identität (s.o. Anm. 34), S. 44–57. – Alexander und Margarete Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern. Grundlagen kollektiven Verhaltens, München 1967, bes. S. 40–43.

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Während der Mensch in der vertikalen Richtung seiner Biographie unverbundene Rollen nach und nach zu einem einheitlichen Ganzen zu synthetisieren hat, um sich als unverwechselbare und „abgerundete“ Persönlichkeit darzubieten, fällt ihm in der horizontalen Ebene der Gesellschaftskontakte die Aufgabe zu, die Diskrepanz und Unvereinbarkeit gleichzeitig an ihn gerichteter Erwartungen zu verarbeiten.38 Der einzelne hat nicht nur beispielsweise zugleich Vater, Lehrer, Parteigenosse und Kirchenvorstand zu sein und die sich daraus ergebenden Konflikte „mit sich“ auszutragen; vielmehr wird auch innerhalb einer jeden Rolle Inkonsistentes von ihm erwartet: Gegenüber dem Lehrer etwa mögen die Eltern auf autoritäre Strenge pochen, die Schüler eher großzügiges Laissez- 310faire bevorzugen und Kollegen einfühlsamen demokratischen Führungsstil propagieren. Solche in sich ambivalenten Erwartungen sind in ein integriertes Verhalten aufzunehmen; zwischen verschiedenen, nicht selten gegensätzlichen Anforderungen muß vermittelt werden; denn einem Menschen, der seine Rollen wechselt wie seine Hemden, wird nachgesagt, daß er keine Identität habe. Um diese zu erreichen, bedarf es bestimmter Eigenschaften und Tätigkeiten: So werden einige Erwartungen abgeschwächt oder umgedeutet, andere toleriert und wiederum andere recht flexibel gehandhabt. In jedem Fall muß der einzelne spezifische Balance-Leistungen erbringen, um angesichts der Ambiguität sozialer Anforderungen die eigene unverbrüchliche Identität zu präsentieren.39 Je mehr „gesellschaftlichen Kreisen“ ein einzelner Mensch angehört, desto größer fällt für ihn die Chance aus, unverwechselbare Individualität zu bilden; denn es nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, daß seine eigentümliche Kombination, Ausbalancierung und Vermittlung heterogener Erwartungen sich bei anderen noch einmal in derselben Gestalt abzeichnen, „daß diese 38

39

Zum Rollenproblem: Dieter Claessens: Rolle und Macht, München 1968. – Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus. Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 9. Auflage, Köln/ Opladen 1970. – Hans P. Dreitzel: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens, Stuttgart 1968. – Uta Gerhardt: Rollenanalyse als kritische Soziologie. Ein konzeptueller Rahmen zur empirischen und methodologischen Begründung einer Theorie der Vergesellschaftung, Neuwied/Berlin 1971. – Hans Joas: Die gegenwärtige Lage der soziologischen Rollentheorie, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1975. – Heinrich Popitz: Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, Tübingen 1967. – Friedrich H. Tenbruck: Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, in: KZSS 10 (1958), S. 587–614. So vor allem: Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität (s.o. Anm. 33), S. 132–173.

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vielen Kreise sich noch einmal in einem Punkte schneiden“40. Das Gelingen des Balance-Akts setzt jeweils den Grad an Individualisierung fest. Andererseits ist selbst das Ausmaß an sozial abgehobener Identität von der Gesellschaft vorgegeben; mehr noch: Die sozial definierten und sanktionierten Rollennormen tendieren dahin, Totalitätsanspruch zu erheben und den ganzen Menschen nach ihren Mustern zu stanzen. Besonders die Berufserwartungen bleiben nicht auf den Arbeitsbereich beschränkt, sondern greifen auch auf andere Gebiete über, die sie nachhaltig durchdringen: Familie, Freizeit, Kirche und Politik – um nur wenige Beispiele zufällig zu nennen – liegen mehr im Einflußbereich der Berufswelt, unterstehen stärker ihrem Konformitätsdruck, als es gemeinhin den Anschein hat41. Dieser Umstand bedeutet für den einzelnen eine potentielle Bedrohung des erreichten Grads an Individualität; denn gegen die Einmaligkeit des biographischen Schicksals setzt gesellschaftlicher 311 Konformitätsdruck tendenziell den Zwang zum uniform standardisierten Rollenspiel; gegen unberechenbare Spontaneität: das Geregeltsein, die Organisation und Bürokratisierung; und gegen autonome Zielsetzung: den heteronomen Zweck. Am Totalitätsanspruch der öffentlichen Rollenfestschreibungen kann Identität – so scheint es – nur durch Distanzierung gelingen und sich selbst bewahren:42 durch geheimen Vorbehalt, durch Ausweichen oder gar Flucht in andere „Sinnprovinzen“ (Alfred Schütz), durch Ironie, Scherz, Spott und Humor, durch Doppelstrategien oder offenen Widerstand. Hierbei legt sich Identitätsbewußtsein in Differenz zum Totalanspruch sozialer Gegebenheiten aus, ja gibt sich in gewisser Hinsicht prinzipiell als Differenzerfahrung am Gesellschaftlichen zu erkennen: Identisches „Selbstbewußtsein ist so etwas wie ein Jenseits im Diesseits“43. Tatsächlich entziehen sich die Distanzmuster der religiös konstituierten Identität ihrer transzendentalen Abstraktheit wegen grundsätzlich der Möglichkeit, ihrerseits zu einem empirischen Rollenstandard verfestigt zu werden.

40 41

42

43

Georg Simmel: Über sociale Differenzierung, Nachdruck, Amsterdam 1966, S. 103. Außer Max Weber vgl. hierzu etwa: Frank Deppe: Das Bewußtsein der Arbeiter. Studien zur politischen Soziologie des Arbeiterbewußtseins, Köln 1971, S. 88–90. Zur Rollendistanz und ihren Techniken besonders: Hans P. Dreitzel: Die gesellschaftlichen Leiden und das Leiden an der Gesellschaft (s.o. Anm. 38), S. 212–225. – Judith Janoska-Bendl: Probleme der Freiheit in der Rollenanalyse, in: KZSS 14 (1962), S. 459–475. – René König: Freiheit und Selbstentfremdung in soziologischer Sicht, in: René König: Studien zur Soziologie, Frankfurt a.M. 1971, S. 69–86. Trutz Rendtorff: Einführung zu: Religion: Selbstbewußtsein – Identität (s.o. Anm. 34), S. 8.

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So wurzeln Aufbau, Stabilisierung und Rekonstruktion menschlicher Identität in der allgemeinen, gesamtgesellschaftlich wirksamen Funktion der Religion; dabei kann deren „Leistungsfähigkeit“ nur sehr bedingt am Kurswert der sichtbaren Kirchlichkeit gemessen werden. Unabhängig von seiner manifesten Gestalt baut religiöses Bewußtsein die sozial-kulturelle Person überhaupt auf: Wie es einerseits das Einzeldasein mit einem auf Gesellschaft hin verpflichtenden Sinn ausstattet und damit genetisch so etwas wie Sozialität entstehen läßt, so treibt es andererseits im Rahmen des gesellschaftlich Möglichen den Bildungsprozeß von Identität derart voran, daß sie über die empirische Gesellschaftsgestalt grundsätzlich hinausweist. 312 3. Religion und Identität in der modernen Gesellschaft44 Gesellschaftlichen Krisen haftet für den Soziologen so etwas wie ein Erkenntniseffekt an; sie verhelfen ihm zu Aha-Erlebnissen. Manche Gesetzlichkeiten sozialer Entwicklung blieben lange Zeit nur deswegen unter der Decke des Erkannten verborgen, weil sie problemlos funktionierten. Wenn aber die Reibungslosigkeit ihres Verlaufs gestört ist, wenn der Ausnahmezustand regiert, wird nicht selten das Normale erst sichtbar. Auch für die Gesellschaftsanalyse gilt: Der Ausbruch des Pathologischen macht die Gesundheit zum Problem der Erkenntnis. Die Religion wurde ebenfalls im Zuge einer Krise für die Sozialwissenschaft als Thema gewonnen: in ihr ist gleichsam der Geburtsschock der neuzeitlichen Gesellschaft artikuliert. Doch war es seit jeher der Fehlschuß ideologisch vereinnahmter Theorien, daß sie Religion nicht nur in der Krise erkannten, sondern überdies glaubten, an ihr das Krisenhafte überhaupt belegen zu können. So wird Religion grundsätzlich der pathologischen Seite der Gesellschaft zugeschlagen, gewissermaßen zu ihrer Dauerkrise deklariert, wie umgekehrt Säkularisierung – so schillernd sie sich auch fassen läßt – als die Dauerkrise der Religion erscheint. Darüber ist jedoch ihre latente Funktion und ubiquitäre Wirkung vergessen, die sie faktisch im weitverzweigten Untergrund des gesellschaftlichen Lebens erfüllt. Wenn nun auch hier die Sprache auf die Krise der Religion kommt, so nicht primär auf die Krankheit ihres sozialen Organs, wie sie vielfach in den kulturpessimistischen Scenarios der Säkularisierungsthese gezeichnet wird. 44

Hierzu: Alois Hahn: Religion und der Verlust der Sinngebung (s.o. Anm. 34). – Thomas Luckmann: The Invisible Religion. The Problem of Religion in Modern Society, New York 1967.

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Vielmehr stellt sich die Frage im Lichte der allgemein virulenten Funktion von Religion: Welche strukturellen Merkmale sind es, die den Prozeß der Herausbildung von menschlicher Identität in der modernen Gesellschaft bedrohen, erschweren oder gar verhindern? Dieses Problem soll im folgenden schlaglichtartig skizziert werden. 313 3.1 Differenzierung und Komplexität Die Differenziertheit sozialer Tatbestände, die Unübersehbarkeit moralischnormativer Wertsysteme, die überdies miteinander in Konkurrenz stehen, und die vielfältige Schichtstruktur der Gefühlswelt – all das gehört zur Komplexitätserfahrung, die den Menschen betroffen macht und durch gemeinsame Kommunikation zu verarbeiten ist. Kommunikation kann geradezu beschrieben werden als die symbolische Bewältigung gleichartiger Betroffenheitserfahrungen der Menschen. Der Grad der Gleichartigkeit des Erlebten ist nicht durchgängig konstant. Es gibt Bereiche, in denen alle Menschen Gleiches erfahren, weil es um elementare Bedürfnisse geht: Gesundheit, Sexualität, Ernährung, Wetter und Teuerungsraten sind von jedermann thematisierbar, weil gleichermaßen von jedem unmittelbar erlebt; daher rankt sich die alltägliche Konversation gern gerade um solche Themen. Daneben finden sich Gebiete, die zwar weniger allgemeines Erfahrungsfeld sind, aber dennoch vielen in ähnlicher Weise zum Problem werden können: Wohnen, Verkehr, Kindererziehung und Schulerfahrung gehören dazu. Doch in einer hochdifferenzierten Gesellschaft nehmen diejenigen Zonen an Umfang zu, in denen die Allgemeinheit unmittelbarer Erfahrung nur noch für wenige Menschen gegeben ist, in denen sozusagen das Frontalerlebnis jeweils zum Sondergut einer kleinen Gruppe wird. So ist es etwa in der Arbeitswelt, in der Politik oder in der Wissenschaft. Selbst innerhalb dieser Bereiche nimmt die Differenzierung zu und damit die Gleichartigkeit des unvermittelt Erlebten ab. Schon der Erfahrungshorizont etwa eines Walzstraßenfahrers unterscheidet sich von dem eines Chemiefacharbeiters; und die Tätigkeit eines Toxikologen überschneidet sich kaum mit der eines Kirchenrechtlers. Wie wird sich aber eine Unterhaltung gerade zwischen diesen beiden abspielen? Da jeder ein Mann „mit Niveau“ ist, werden sich beide nicht ewig über Gesundheit, Wetter oder Sexualität unterhalten wollen. Eine Möglichkeit besteht nun darin, auf einen Erfahrungsbereich auszuweichen, der zwar nur indirekt mit ihrer Tätigkeit zu tun hat, aber beiden unmittelbar gemeinsam ist: die Unlust der Studenten etwa, die Unfähigkeit der Universitätsverwaltung oder die Aufmüpfigkeit der Assistenten. Eine andere Möglichkeit wäre 314 es, auf gemeinsame, aber vermittelte Erfahrung zurückzugreifen:

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etwa auf die politische Lage, die beide mehr schlecht als recht durch Zeitung, Fernsehen und Radio zur Kenntnis nehmen. Darüber kann man sprechen, ohne beweisen zu müssen, weil hier die Meinung zählt. In gewisser Hinsicht ist diese Situation für die kommunikative Infrastruktur der modernen Gesellschaft typisch. Die Gleichartigkeit unmittelbarer Wirklichkeitserfahrung schrumpft weitgehend auf die Sphäre des privaten Lebens zusammen. Die Erfahrung öffentlicher Tätigkeitsbereiche ist ausschnitthaft; ihre Verarbeitung muß vorwiegend individuell erfolgen. Darüber hinaus geht Lebenswirklichkeit nur noch vermittelt in den Erfahrungsschatz einzelner ein; und ihre Strukturierung erfolgt durch untereinander konkurrierende ideologische Deutungsschemata, deren Richtigkeit für das Individuum kaum noch subjektiv nachprüfbar ist. Ihre Annahme wird vielmehr zur Glaubensentscheidung: Man orientiert sich über gesamtgesellschaftliche Wirklichkeit, indem man sich zu der einen oder anderen Ideologie bekennt. Die Religion spielt bei der Fabrikation solcher Kommunikationsraster eine wesentliche Rolle.45 Und sie tut es auf eine besondere Art, indem sie gerade jene Momente der Betroffenheit, die zwar in unterschiedlichen Bereichen angesiedelt sind, dort jedoch in strukturell gleicher Weise auftreten, aus ihren konkreten Zusammenhängen herauslöst und gewissermaßen zu einem Querschnittverbund sui generis verschränkt: die Probleme der Unterordnung, der Anonymisierung des Umgangs, der Routinisierung der Aufgaben und der Vermassung – all diese Erfahrungstatbestände werden in verschiedenen Bereichen zwar in der einen oder anderen Gestalt, in ihrer Struktur aber von allen Menschen gleichermaßen höchst unmittelbar erlebt. Sind die Erfahrungen erst einmal auf einen Begriff gebracht, so ist nahezu jeder in der Lage, sein eigenes Erleben darin wiederzuerkennen. Dieser Umstand erklärt nicht nur die häufige Einseitigkeit und Undifferenziertheit, sondern auch paradoxerweise die hohe Plausibilität und Eingängigkeit, die etwa die Thesen von der vermaßten, außengeleiteten, bürokratisierten 315 oder auch vaterlosen Gesellschaft aufweisen;46 denn sie geben einem Sachverhalt Ausdruck, der partiell von jedem gleichermaßen erlebt wird, der subjektiv nachprüfbar und darum von jedermann thematisierbar ist. Es sind gleichsam 45

46

Karl-Wilhelm Dahm: Religiöse Kommunikation und kirchliche Institution, in: KarlWilhelm Dahm/Niklas Luhmann/Dieter Stoodt: Religion – System und Sozialisation, Darmstadt/Neuwied 1972, S. 133–188. Bekannt geworden sind etwa: Alexander Mitscherlich: Auf dem Wege zur vaterlosen Gesellschaft. Ideen zur Sozialpsychologie, München 1963. – José Ortega y Gasset: Der Aufstand der Massen, Reinbek 1956. – William H. Whyte: The Organization Man, New York 1956.

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künstlich auf Gemeinsamkeit abgestellte Erfahrungshorizonte, die Kommunikation über die eigene begrenzte und spezialisierte Erlebnissphäre hinweg ermöglichen: Sie befähigen den einzelnen dazu, auch mit solchen Menschen zu kommunizieren, mit denen er ansonsten keine Überschneidungsfläche in der unmittelbaren Gesellschaftserfahrung hat. Auf gesamtgesellschaftlicher Ebene fungieren solche „Erfahrungstheorien im Querschnitt“ gleichsam als Klammern, welche die Menschen auch dann zusammenhalten, wenn die komplexe und differenzierte Sozialstruktur sie tendenziell auseinandertreibt. Darüber hinaus sind die Kommunikationsmuster der Religion auch identitätsrelevant, weil sie eben die „Sorge um den Menschen“ betonen und genau solche Betroffenheitsmomente zur Sprache bringen, die sich quer durch die verschiedenen Sachstrukturen belegen lassen. Die Kommunikationsverbände zielen also darauf, jene Folgen sachgesetzlich, spezialisiert und herrschaftlich verabreichter Problemlösungen in einer Gesellschaft moralisch zu kalkulieren, die auf menschliche Identität nachhaltig zurückwirken und sie beeinträchtigen oder bedrohen können. So artikuliert sich in der religiösen Kommunikation gerade das Betroffenheitsmoment derjenigen Menschen, die nach Identität suchen, dabei aber auf erhebliche Schwierigkeiten in der Gesellschaft stoßen. 3.2 Rationalisierte Herrschaft Das Problem der sozialen Identität: nämlich individuelles Verlangen und soziale Forderung auszubalancieren, scheint sich heute auf gesamtgesellschaftlicher Ebene zu einem abrupten Hiatus zu verschärfen. Die rationalisierten, versachlichten Machtstrukturen treten als „stahlhartes Gehäuse“ (Max Weber), als „harter Fels der neuen Wirklichkeit“ (Ernst Troeltsch) auf: Gegenüber Eingriffen einzelner Subjekte – selbst wo sie sich untereinander zum Kollektiv 316 verbünden – erweist sich die öffentliche Sphäre weitgehend als spröde, abgedichtet und immun. Der Makrobereich gesellschaftlicher Herrschaft wird vom Individuum nur perspektivisch berührt und springt vornehmlich als restriktive Randbedingung seiner Identitätsbildung ins Auge: Am Tor des Industriebetriebs, an den Schaltern der Bürokratie, am Portal der Schule oder Universität – überall dort sind die Schranken errichtet, hinter denen weite Teile der Gesellschaft weder als Arena der Identitätsdarstellung noch als Felder der Partizipation taugen.47 Nicht Selbstverwirk47

Hierzu etwa: Reimer Gronemeyer: Integration durch Partizipation?, Frankfurt a.M. 1973. – Gisela Zimpel: Der beschäftigte Mensch. Beiträge zur sozialen und politischen Partizipation, München 1970.

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lichung, Teilnahme und Mitbestimmung, sondern Betroffenheit, Unterordnung und Funktionalität sind die maßgeblichen Verhaltensweisen, welche die moderne Gesellschaft ihren Mitgliedern abverlangt. Identitätsverzicht scheint zum Prinzip sozialer Organisation erhoben; und das Humanum gibt sich allenfalls noch als Grenzwert zu erkennen, der je nach politischideologischer Couleur der Herrschenden höher oder niedriger angesetzt wird. Gegenüber der rationalisierten Herrschaft, die sich aus ihrem Vermögen zu Überschaubarkeit, Sachgerechtigkeit und Effizienz begründet, muß sich der individuelle Eingriff geradezu als Betriebsstörung, Inkompetenz und Belastungskost erweisen; wo Macht dominiert – so scheint es –, ist menschliche Identität kaum von Bedeutung. In dem Maße nun, wie das gesellschaftliche Verlangen nach Funktionalität den Anspruch des Menschen auf Identität zurückweist, ja faktisch zunichte macht, wie sich die Erfahrung der Betroffenheit und Abhängigkeit andererseits jedoch mehr und mehr als verzichtbares Leiden an der Gesellschaft herausstellt, und wie die Effizienz der Herrschaft entgegen der eigenen ideologischen Beteuerung versagt, profiliert sich das religiöse Bewußtsein der Zeit zunehmend als Sachwalter des emanzipatorischen Teilhabepostulats. Gegen die sachliche Verfügung über den Menschen, gegen seine Instrumentalisierung und funktionalistische Reduktion bringt Religion menschliche Identität mehr oder weniger lautstark kontrafaktisch zur Geltung, das heißt: ohne sich vom gleichsam naturwüchsig-sozial Gegebenem verschrecken zu lassen. Sie drängt auf die annähernde Verwirklichung partizipationsorientierter Identität gerade um ihrer selbst willen, weil sich Identitätsbewußtsein erst in der Ausübung von Anteil 317nahme realisiert. Gesellschaftlich verfaßte Religiosität kann dabei, sofern sie sich ihrer grundlegenden Funktion als Sinnzentrum personaler Biographie gewiß bleibt, so etwas wie eine „Sozialtechnik im herrschaftsfreien Raum“ darstellen: eine „Organisation für das noch nicht Organisierte“48. In ihr finden jene Menschen Asyl, die sich in ihrer Identitätsfindung durch die Sozialstruktur besonders bedroht empfinden. Auch wenn bei ihnen kein ausdrücklicher Protest laut wird, so signalisieren sie doch durch ihr bloßes Vorhandensein das schlechte Gewissen einer Gesellschaft über ihre „unerfüllten Humanisierungsziele“ (Wolf-Dieter Marsch). Für die Religion selbst entsteht unter den moderngesellschaftlichen Bedingungen rationalisierter Herrschaft vor allem das Problem, die TheodizeeFrage, die Frage nach dem letzten Grund des Leids, so zu beantworten, daß sie nicht in sozialem Quietismus ausläuft, daß ihr Teilhabepostulat nicht in 48

Günter Kehrer: Religionssoziologie, Berlin 1968, S. 129.

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Resignation erstarrt und sich Identität nicht als rigide Isolation in gesellschaftsferne Winkel flüchtet. 3.3 Gesellschaftliche Mobilität Es liegt in der Konsequenz des mobilen Charakters der modernen Gesellschaft, daß Positionswechsel im Leben eines Menschen nicht mit dessen Erwachsensein aufhören; vielmehr treten auch danach mannigfaltige Milieusprünge auf, die besonders mit der Berufsstruktur zusammenhängen. Während die Soziologie viel Mühe darauf verwandt hat, die statistischen Regelmäßigkeiten solcher Fluktuationen wie beruflicher Auf- und Abstieg oder geographische Veränderungen aufzuspüren, blieben dagegen ihre Auswirkungen auf die betroffenen Personen weitgehend unbeachtet.49 Aber auch Mobilität und persönliche Veränderungen stellen mehr als nur eine latente Krise der Identitätsbildung in der modernen Gesellschaft dar. Identität beruht (so hieß es) auf der vom Menschen zu leistenden Balance zwischen individuellem Verlangen und gesellschaftlicher Anforderung. Sie entsteht, indem der einzelne in sich selbst die 318 Erwartungen seiner „Bezugsgruppe“ widerspiegelt und gemäß seiner biographisch gewordenen Individualität für sich uminterpretiert; und sie stabilisiert sich dadurch, daß die ihn umgebenden Gruppen Anerkennung und Bestätigung aussprechen.50 Dieses mehr oder weniger symmetrische „Spiegelverhältnis“ (George Herbert Mead) wird nun durch Positions- und Ortswechsel empfindlich gestört. Mobilität, gleich welcher Form, bedeutet stets den Übergang von einem ins andere Milieu, mithin: Trennung von vertrauter Umgebung und notwendiges Zurechtfinden in (noch) fremder. In mehrfacher Hinsicht ist eine solche zeitweilige „Marginalexistenz“ (Everett V. Stonequist) für den einzelnen prekär. Zum einen schließt sie die Unsicherheit über die neu an ihn herangetragenen Erwartungen ein; zumal in einer feingliedrig ausdifferenzierten Statushierarchie vermag der einzelne immer schwerer abzusehen, welche Rechte und Pflichten ihm in der neuen Position zufallen werden. Andererseits ist er durch die persönliche Veränderung in höherem Maße auf soziale Anerkennung angewiesen. Dies wird ihn veranlassen, zunächst mehr auf die Erwartungen der neuen 49

50

Eine Ausnahme stellt der Aufsatz dar: Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Social Mobility and Personal Identity, in: AES 5 (1964), S. 331–344. Hierzu: Charles H. Cooley: The Two Major Works of Charles H. Cooley. Social Organization and Human Nature and the Social Order, Glencoe, Ill. 1956. – George H. Mead: Mind, Self, and Society (s.o. Anm. 33). – Vgl. hierzu auch den Aufsatz „Zur sozial-kulturellen Bedeutung der Gruppe“ oben S. 1–14.

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„Bezugsgruppe“ einzugehen als seine Individualität auszuspielen, die ohnehin durch erneute Balance-Leistungen erst wiedergewonnen werden muß. Tatsächlich ist die eigene Vergangenheit, die eigene Biographie jeweils von neuem für die gegenwärtige Situation aufzuarbeiten und zu ordnen. Hier liegt auch der Grund, warum etwa ein Abteilungsleiter plötzlich eine ganz andere Meinung vertritt, als er sie noch als „kleiner Angestellter“ hatte; durch die Orientierung an einer neuen Bezugsgruppe erscheint die eigene Vergangenheit nunmehr in einem anderen, meist abgeschwächten Licht. Überhaupt tendiert eine hochmobile Gesellschaft dahin, die biographische Identität zusehends mehr auf die je einzigartige Kombination äußerer Lebensdaten zu reduzieren. Wer sich beispielsweise um eine neue berufliche Stelle bewirbt, muß – abgesehen vom entsprechenden Qualifikationsnachweis – vor allem einen guten 319 „Türschwellen-Effekt“51 bei der Vorstellung erzielen; das heißt: er muß gleich beim Eintritt in das Personalbüro – hic et nunc sozusagen – den weichenstellenden Eindruck von sich vermitteln. Eigenwilligkeit ist dabei nur in den seltesten Fällen gefragt. Welche Konsequenzen hat es nun, daß persönlich abverlangte Mobilität die biographische Identität des einzelnen mehr und mehr aus dem öffentlichen Gesellschaftsleben zu verdrängen droht? Eine Folge meinte die Soziologie – dabei sicher kulturpessimistisch übertreibend – darin zu sehen, daß der Bedarf nach solchen „konfektionierten Persönlichkeitsmustern“, „außengeleiteten Charaktertypen“ und vorfabrizierten Identitätsbildern wächst, die von vornherein Prestige garantieren, die den einzelnen um den Preis der Überanpassung von der Mühe entlasten, die je eigene geschichtliche Biographie stets erneut in das öffentliche Leben einbringen zu müssen:52 Stereotypes Verhalten zahlt sich gleichsam automatisch in sozialer Anerkennung aus. Individualität andererseits wird, wenn überhaupt vorhanden und bewahrt, in Bereiche zurückgenommen, die gesamtgesellschaftlich nur am Rande bedeutsam sind. Die „eigentliche“ Selbstdarstellung, die „authentische“ Selbsterfüllung verlegen sich zunehmend mehr in die Sphäre isolierter Subkulturen und einflußlosen Privatlebens: Hier ist man Mensch, hier darf man’s sein. Und hier vorrangig wird Identität zum bestimmenden Thema gewählt, wenngleich als Problem nicht gelöst: Psychopathologie, 51

52

Dieser Vorgang wird recht humorvoll beschrieben bei: Vance O. Packard: Die Pyramidenkletterer, Berlin/Darmstadt/Wien 1967, S. 116. Die prominentesten Vertreter dieser These sind: David Riesman/Reuel Denney/Nathan Glazer: Die einsame Masse. Eine Untersuchung der Wandlungen des amerikanischen Charakters, Reinbek 1958.

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Selbstmorde und sogenannte Zivilisationskrankheiten sind nur einige offensichtliche Ausbrüche für die ansonsten eher schwelende Krise der Identität in der modernen Gesellschaft. Auch in diesem Zusammenhang ist es vielfach die Religion, die das durch gesellschaftliche Wandlungsprozesse und persönliche Veränderungen hervorgebrachte Gefühl der „Verlorenheit“ und Standortlosigkeit (im wörtlichsten Sinne) nicht nur thematisch zum Ausdruck bringt, sondern auch – wenigstens für einige Menschen – kompensatorisch löst. Und die Religion tut dies gerade in ihrer traditionellen Gestalt: Die Kirchen fungieren gleichsam als geruh 320sames Auffangbecken für diejenigen Menschen, die von der sozialen Dynamik versprengt wurden. Sie ist der feste Punkt im schwankenden Dasein einer wandlungsträchtigen Gesellschaft und auch darin ambivalent: Betäubung, Kompensation und Rückzug einerseits, zugleich aber auch: Problemanzeige und stiller Protest andererseits. Im emigrierten Zirkel kirchlicher Religionsgestalt, im Kreis der Traditionsorientierten wird ein Preis des mobilen Charakters von Gesellschaft deutlich. 4. Perspektiven und Folgen sozialwissenschaftlicher Religionskritik Im religiösen Bewußtsein bringt sich die grundlegende Differenzerfahrung der Gesellschaft selbst zum Ausdruck: Daß sie sich zwar aus einzelnen Menschen zusammensetzt, gleichwohl weit mehr als der jeweils einzelne verkörpert. Durch den Verweis auf den Horizont ihres Jenseits entlastet Religion die Gesellschaft vom Sinnproblem der Identität ihrer Mitglieder, das sich in ihrem Diesseits weder restlos beantworten noch vollkommen realisieren läßt. Diese gesamtgesellschaftliche Funktion der Religion findet nun in den Kirchen nicht nur eine besondere institutionelle Überformung, sondern darüber hinaus auch eine mögliche konkret sichtbare und inhaltliche Gestalt, ohne daß sich Religiosität darin völlig erschöpft. Eine Religionssoziologie, die sich dessen bewußt ist, kann nicht umhin, auch dort die sozialen Kristallisationspunkte von religiösem Bewußtsein aufzuspüren, wo dieses nicht von kirchlicher „Organisation“ eingefangen ist. Anders ausgedrückt: Je mehr sich das sozialwissenschaftliche Interesse auf die religiösgesellschaftlichen Grundfunktionen konzentriert, desto schwieriger wird es, das Verhältnis der Religiosität zur Kirchlichkeit durchweg unmittelbar zu bestimmen. Stattdessen wird es ihr vor allem darauf ankommen, jene gesamte Variationsskala der „verhaltensrelevanten Sozialformen von Religion“ (Joachim Matthes) analytisch zu erfassen, die sich über die ganze Gesellschaft hinweg mannigfach verteilen: Mal treten sie als enge Bindung an explizite

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Kirchlichkeit auf, mal als (sub-)kulturell transformierte Gestalt von Religion, mal als weitgehend institutionsunabhängige, jedoch nach wie vor für die persönliche Daseinsführung relevante Religiosität. In den Mittelpunkt des soziologischen Interesses rücken somit gerade jene sozial geron 321nenen Formen der Religion, die nicht nur in sich vielfältig geschichtet sind, sondern zudem auch mannigfaltig funktionieren; dabei verschränken sie sich durchgängig mit vielen anderen nicht-religiösen Aufgaben und lassen sich je nach Persönlichkeitstyp, Klassenzugehörigkeit, Bildungsgrad oder politischer Orientierung im jeweils andersartigen Modus erkennen. Erst in diesem weiteren und umfassenderen Rahmen vermag Soziologie die Religion in ihrer ganzen sozialen Tragweite und Bedingtheit auszuleuchten, den Stellenwert von Kirchlichkeit zu verorten – und last but not least: die eigene kritische Dimension wiederzufinden, statt sich entweder als atheistischer Soziologismus zu gebärden oder aber sich als kirchlich verwertbare Hilfswissenschaft vereinnahmen zu lassen. Daß das soziologische Interesse an der Religion ein kritisches sei, unterstellt, daß sie ebenso für das religiöse Selbstverständnis wie auch für die religiöse Praxis folgenreich ist, daß sie nicht zuletzt einen emanzipatorischen Effekt in sich birgt. Tatsächlich kann die Religionssoziologie unter dem Anspruch der Kritik die Verwendung ihrer Theorie nicht offenlassen, sondern muß sie – darin engagiert, um mit Ralf Dahrendorf zu sprechen – ihrerseits antizipieren. So mag es dann „auf der anderen Seite“ auch der Religion, die im Lichte gesellschaftstheoretischer Kritik steht, nicht gelingen, sich dieser gegenüber neutral zu verhalten. Welches Ausmaß das Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion unter solcher Prämissen möglicherweise annehmen kann, soll hier nur perspektivisch und thesenförmig skizziert werden. 4.1 Soziologie als Ideologiekritik des religiösen Bewußtseins53 Religionssoziologie ist Kritik an denjenigen religiös-sozialen Wirklichkeitskonstrukten und deren praktischen Folgen, die sie mit eigenem methodischem Rüstzeug und eigener analytischer Begrifflich 322keit in der Gesell53

Hierzu: Siegfried Katterle: Sozialwissenschaft und Sozialethik. Logische und theoretische Probleme praktischer Sozialwissenschaften, besonders christlicher Soziallehren, Göttingen 1972. – Franz-Xaver Kaufmann: Theologie in soziologischer Sicht, Freiburg i.B. 1973. – Günter Kehrer: Humanwissenschaften und Theologie in der evangelischen Sozialethik. Unveröffentlichtes Manuskript. – Joachim Matthes: Kirchliche Soziallehre als Wissenssystem, in: Internationale Dialog-Zeitschrift 2 (1969), S. 102–112.

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schaft ausfindig macht. Ihr Gegenstand ist die sich konkret äußernde Mentalität, aus der heraus der homo religiosus gesellschaftliche Realität zu einer Weltansicht verwebt, dergemäß er praktisch tätig wird. „Die Soziologie gibt der Theologie also immer dann Nüsse zu knacken, wenn diese etwas aussagt, das an bestimmte soziohistorische Bedingungen geknüpft ist“, schreibt Peter L. Berger.54 Die Realisierbarkeit religiös legitimierter Zielsetzungen und die empfohlene Mittelwahl, ihre immanente Logik, ihre Übereinstimmung mit wissenschaftlicher Realitätserkenntnis und schließlich auch ihre „Standfestigkeit“ gegenüber konkurrierenden Weltansichten – all das wird von der Soziologie einer Art Tauglichkeitsprüfung unterzogen.55 Wie kann eine solche Kritik im Grundriß aussehen? Die grundlegende Differenzerfahrung der Gesellschaft scheint sich heutzutage im religiösen Bewußtsein unter dem Eindruck von Komplexität, Herrschaft und Mobilität zu einer dualistischen Weltansicht überhaupt zu verschärfen, die in der kirchlichen Säkularisierungsthese ihre prägnanteste Ausformulierung erfahren hat. Tatsächlich wird die Polarität zwischen „dem Mammutmechanismus einer Gesellschaft ohne Privatheit“ (René König) einerseits und der gleichsam gestutzten Identität ohne wirkliche soziale Gestaltungsmacht andererseits um so mehr zum maßgeblichen Inhalt des religiösen Bewußtseins, als dieses milieuhaften Rückhalt in einer sozial aparten Kirchlichkeit sucht. Anders gesagt: Unter moderngesellschaftlichen Bedingungen prägt sich in der traditionellen Kirchlichkeit tendenziell das religiöse Bewußtsein genau derjenigen Menschen aus, die sich ihrerseits gegenüber der Sozialstruktur verschließen, die ihnen die Identität verweigert. Aus der Not der modernen Gesellschaft machen sie die Tugend der Konventikelmentalität: Der „Kirchentreue“ sieht 323 sich in einer radikalen Distanz zur Gesellschaft, der er doch seine eigentliche Existenz sowohl im allgemeinen als auch im besonderen Sinne „verdankt“. Sein Selbstverständnis bildet sich weniger in spannungsreicher Komplementarität zum sozialen Umfeld als vielmehr im aus54

55

Peter L. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1973, S. 172. Die Kriterien der Realisierbarkeit, Kongruenz und des Pluralismus stellen sog. Brückenprinzipien dar, die Hans Albert im Anschluß an Max Weber zur analytischen Wertkritik entworfen hat: Hans Albert: Ethik und Meta-Ethik, in: Hans Albert: Konstruktion und Kritik. Aufsätze zur Philosophie des kritischen Rationalismus, Hamburg 1972, S. 127–167. – Hans Albert: Traktat über kritische Vernunft, 2. Auflage, Tübingen 1969, S. 73–79. – Vgl. auch Max Weber: Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften, in: Max Weber: Methodologische Schriften. Studienausgabe, Frankfurt a.M. 1968, S. 229–277, 247– 256.

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drücklichen Gegensatz. Den Ort seiner Abwehr, Ausgangs- und Zufluchtspunkt zugleich, findet er in der kirchlichen Kerngemeinde.56 Hier ist gleichsam die Transformationsstelle, wo sich der allgemeinreligiöse Anspruch auf Identität weitgehend in sein Gegenteil verkehrt: Selbstverwirklichung wird auf Selbstgenügsamkeit eingeschworen, Teilnahme als soziale Verweigerung praktiziert, Geschichtlichkeit mit Traditionalismus gleichgesetzt und dem vermeintlich erzwungenen Identitätsverzicht eine sich faktisch verflüchtende Resignation entgegengestellt. Die von hier aus in die „Welt“ zielenden ethisch-moralischen Gestaltungsimpulse werden kaum in ihrer realen Wirkung kalkuliert;57 Gesellschaft dient dem kirchlichen Selbstverständnis allenfalls als Kontrastfolie, faktisch ist sie sich selbst überlassen. Angesichts der Erfahrung von Komplexität, Herrschaft und Wandel bietet sich resignative Ohnmacht als die einzig mögliche Lebensform in der Gesellschaft an. Die ihr entsprechende Haltung ist die des Gesinnungsethikers, wie sie Max Weber beschrieben hat: „‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘ . . . ‚Verantwortlich‘ fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, daß die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z. B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt.“58 Weitgehend unbewußt drückt sich in dieser grundsätzlichen Hinnahme sozialstruktureller Übermacht letzten Endes genau jene Ideologie aus, welche die Menschen eher „darauf vorbereitet, sich jeder Form autoritärer Daseinsgestaltung willig zu unterwerfen, und das gilt, selbst wenn in jenen Utopien immer wieder gepredigt 324 wird, daß der Verfasser im Grunde die menschliche Freiheit zu retten beansprucht“59.

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Hierzu: Günther Bormann/Sigrid Bormann-Heischkeil: Theorie und Praxis kirchlicher Organisation. Ein Beitrag zum Problem der Rückständigkeit sozialer Gruppen, Opladen 1971, S. 163. Hierzu: Volker Drehsen: Sozialethik in der Konfrontation mit Praxis. Theoretische Aspekte am Beispiel des Praktikums für Theologiestudenten, in ZEE 20 (1976), S. 135–143. Max Weber: Politik als Beruf (1919), in: Max Weber: Gesammelte politische Schriften, 2. Auflage, Tübingen 1958, S. 539.540. – Vgl. auch das Kapitel „Religion und die Rationalisierung der modernen Welt“ in diesem Band (s.o. S. 41–95); insbes. S. 142–147.151–154. René König: Soziologische Orientierungen (s.o. Anm. 10), S. 558.

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4.2 Religionssoziologie als umfassende Gesellschaftskritik60 Gerade in der milieuverengten Kirchlichkeit gibt sich vorwiegend die Reaktion solcher zumeist sozial inaktiveren Personen zu erkennen, die nach Identität suchen, dabei jedoch frontal auf die strukturellen Problemlagen der Gesellschaftsordnung stoßen. Hier sammeln sich gewissermaßen die „Empörer ohne Wirkung“ (William Warren Bartley), die den Protest in „stiller“ Form lautwerden lassen: – den Protest gegen eine gesellschaftliche Komplexität, die zwar Betroffenheit hervorbringt, ihre kommunikative Bewältigung jedoch erschwert; gegen eine Herrschaftsstruktur, die eine partizipationsorientierte Identität mit erheblichen Restriktionen bedrängt; und gegen eine Mobilität, die nicht nur zum Selbstzweck zu werden droht, sondern auch gleichsam systematisch die geschichtlich-soziale „Entwurzelung“ der Menschen betreibt. Unabhängig davon, ob solche Erfahrungen nach sozialwissenschaftlichen Kriterien die Gesellschaftswirklichkeit tatsächlich treffen, oder ob sich hier nicht vielmehr Mentalitätsgehalte mit ideologischem Einschlag vorfinden, so sind sie dennoch für den Soziologen als ein sichtbares Indiz zu nehmen: als Problemanzeige akut empfundener und auf besondere Weise verarbeiteter neuralgischer Momente in der Gesellschaft, deren Bewältigung vornehmlich von der Religion erwartet wird. Gerade dasjenige, was im religiösen Mentalitätsgehalt über seine sozialen Entstehungsbedingungen zu erkennen ist, verhindert, daß der Soziologe in der Kirchlichkeit ebenso ein apartes Phänomen erblicken kann, wie sie es selbst tut. Indem die Religionssoziologie analytisch erhellt, wie es eben handfeste gesellschaftliche Umstände sind, die jeweils über Gestalt, Reichweite, Wirkung und Resonanz der sozial verwirklichten Religiosität entscheiden, wird sie notwendig die Gesamtgesellschaft in ihre 325 Theorie miteinbeziehen müssen – jene Gesellschaft, die nicht nur hervorbringt, sondern auch hinnimmt, was sich in traditioneller Kirchlichkeit als sozialer Entfremdungstatbestand äußert. So wird die Religionssoziologie als Entlarvung sozialbedingter und bestimmte Religionsformen begünstigender Momente des Leidens an der Gesellschaft unversehens zur analytischen Kritik an der sozialen Umwelt der Religion: Die Ideologiekritik an der sozial verwirklichten Gestalt der Religion und ihrer Bewußtseinsformen schlägt in die umfassendere Kritik an der Gesamtgesellschaft um.

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Hierzu außer den Abschnitten über Marx und Glock in diesem Band besonders auch: Trutz Rendtorff: Tendenzen und Probleme der kirchensoziologischen Forschung, in: Probleme der Religionssoziologie (s.o. Anm. 23), S. 191–201.

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4.3 Das emanzipatorische Interesse der Religionssoziologie61 Sozialwissenschaftliche Kritik tritt nicht nur gleichsam als Konkurrent von außen auf, dessen „Herausforderung“ die Religion beliebig annehmen oder auch ignorieren könnte; ihre Impulse reichen vielmehr sozusagen bis in das diesseitige Zentrum der Religion hinein. Ursache, Funktionalität und Folgen ihrer gesellschaftlichen Verfassung aufzurechnen, stellt die konkret soziale Realisierung der Religion überhaupt zur Disposition; das bedeutet: Religion im Prozeß sozialwissenschaftlicher Kritik ist in die Distanz der Selbstreflexion gestellt. Dabei kann es dem „leitenden Interesse“ der Religionssoziologie nicht darum zu tun sein, religiöses Bewußtsein und religiöse Gestalt in legitimatorischer Absicht pauschal zu bejahen oder zu verwerfen. Ihre Stoßkraft verläuft vielmehr in andere, letzten Endes sogar entgegengesetzte Richtung: Tendenziell stellt sozialwissenschaftliche Kritik jede Legitimationsfigur in Frage, die den Anspruch erhebt, „ewige“ Wahrheit zu sein. Die relativierende Wirkung der Religionssoziologie ist darauf angelegt, die Religionsanhänger aus jenen Verkrustungen unbedachter Selbstverständlichkeiten und naiver Abhängigkeiten zu lösen, die eine sozial verwirklichte Religion gleichsam als verdinglichte Gestalt aufweist; sie bezweckt, den homo religiosus aus den traditionellen Nötigungen zu entlassen, die nach wie vor in sublimer Naturwüchsigkeit von der Religion ausgehen. Damit betreibt die Soziologie, nach einem Bonmot von Niklas Luhmann, das „Geschäft der 326 Enttäuschung“, weil sie die Illusion zerreißt, das Jenseits der Religion ließe sich augenscheinlich in irgendeiner Form im Diesseits der Gesellschaft verankern. Positiv ausgedrückt: Religionssoziologie assistiert ebenso dem religiösen Bewußtsein wie auch der religiösen Praxis, den Prozeß sozialer Selbstvergewisserung durchzuhalten, der eine wesentliche Vorbedingung glaubwürdiger Selbstdarstellung und authentischen Selbstverständnisses beinhaltet. Eine solche Inventur sollte für die soziale Funktionsweise der Religion unerläßlich sein: Denn eine Religionsgestalt, die ihre soziale Verfaßtheit außer acht läßt, trifft den Menschen nicht mehr, für den dazusein sie vorgibt. Gelingt es ihr nicht, die soziologische Dimension in das eigene Verständnis und in die eigene Auslegung konstitutiv mitaufzunehmen, geht ihr zwangsläufig die Vermittlung des von ihr vertretenen Jenseits mit dem sozialen Diesseits verloren: „aus der Gesellschaft emigriert, lädt die Kirche zur Seelenwande-

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Hierzu: Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, in: Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“, Frankfurt a.M. 1968, S. 146–168. – Jürgen Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a.M. 1968.

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rung ein“62. Letztlich gäbe sie selbst damit einer Religionskritik recht, die sie zur Produktivkraft menschlicher Entfremdung in der Sozialordnung stigmatisiert, gegen deren Zwangscharakter sie wenigstens dem Anspruch nach das Freiheitsmoment vertritt. Der Soziologie andererseits ist es unter solchen Voraussetzungen verwehrt, auf eine dogmatisierte Vorstellung von Religion zurückzugreifen: Findet sich tatsächlich jenseits der Grenzen organisierter Kirchlichkeit bloß eine Anpassungskultur, die sich nach den dominanten Werten der Gesellschaft ausrichtet, oder melden sich hier nicht eher emanzipative Impulse gegen eine rigid kirchliche Repräsentation zu Wort? Ist in der sogenannten Kulturreligion nur der „Verlust an Transzendenz“, das massenhafte Schwinden an gläubiger Orthodoxie zu sehen, oder bildet sich hier nicht allmählich ein andersartiger Erfahrungshorizont heraus, in dem die Frage und Problemanzeige menschlicher Identität unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft in neuer Gestalt artikuliert werden? In welchem Verhältnis steht dieses „Christentum außerhalb der Kirche“ zur traditionellen Religionsform, und wieweit schickt es sich selbst an, neue Realisierungswege in der Gesellschaft zu begehen? – All das sind nicht nur für die Religionssoziologie bislang noch offene Fra 327gen und schemenhafte Konturen, – die jedenfalls nur auf dem Hintergrund der gegenwärtigen gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozesse zu halbwegs größerer Klarheit gebracht werden können.63

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Hermann Ringeling: Kritisches Christentum. Wirkungen und Folgen religiöser Gesellschaftskritik, München 1972, S. 97. Hierzu Wolf-Dieter Marsch: Die theologisch und kirchlich verdrängte Religion, in: Wolf-Dieter Marsch: Plädoyers in Sachen Religion. Christliche Religion zwischen Bestreitung und Verteidigung, Gütersloh 1973, S. 17–36. – Trutz Rendtorff: Christentum außerhalb der Kirche. Konkretionen der Aufklärung, Hamburg 1969. – Trutz Rendtorff: Religion als Grenzbestimmung. Kirche als Institution der Freiheit, in: EK 8 (1975), S. 80–82.

Kontinuität und Wandel der Religion. Die strukturellfunktionale Analyse in der deutschen Religions- und Kirchensoziologie nach 1945. Versuch einer problemgeschichtlich und systematisch orientierten Bestandsaufnahme

Als im April 1979 die wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Fakultät der Heidelberger Alma mater dem ehemaligen Promovenden Talcott Parsons die einst verliehene Doktor-Urkunde nach genau einem halben Jahrhundert weltweiter Wirksamkeit erneuerte, fand sie aufschlußreiche Worte der Würdigung: „Mit seinem umfangreichen Lebenswerk hat er insbesondere – die Rezeption und systematische Weiterentwicklung der europäischen Soziologie im angloamerikanischen Sprachraum gefördert; – eine Theorie des allgemeinen Handlungssystems und seiner speziellen Ausformungen geschaffen; – die Zusammenarbeit der Sozialwissenschaften unter den Bedingungen einer wachsenden Spezialisierung der einzelnen Disziplinen auf eine neue Grundlage gestellt. Die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Arbeit haben ihn zu einem richtungsweisenden Gelehrten der Sozialwissenschaften in der Gegenwart werden lassen“1.

An dieser Reminiszenz ist ebenso bemerkenswert, was sie diskret verschweigt, wie das, was sie lobend hervorhebt. Ungeachtet der Tatsache, daß in einer derartig angelegten Laudatio die übrigen Vertreter des Strukturfunktionalismus2 – etwa Bronislaw Malinowski, Emile Durkheim, Georg Sim1

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Verhalten, Handeln und System. Talcott Parsons’ Beitrag zur Entwicklung der Sozialwissenschaften, hg. von Wolfgang Schluchter, Frankfurt a.M. 1979, S. 166. Vgl. hierzu die Gesamtdarstellungen zur strukturell-funktionalen Analyse von Joachim E. Bergmann: Die Theorie des sozialen Systems von Talcott Parsons, Frankfurt a.M. 1967. – The Social Theory of Talcott Parsons, hg. von Max Black, Englewood Cliffs (N.J.) 1961. – Ralf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung. Gesellschaft und Soziologie in Amerika, Frankfurt a.M./Hamburg 1968 (zuerst München

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mel oder Alfred R. Radcliffe-Brown – zu bloßen Vorgängern herabgewürdigt werden, andere Exponenten wie Robert K. Merton, Wilbert E. Moore, Kingsley Davis und William J. Goode sich lediglich als „Randfiguren“ behaupten können, wird doch zurecht die überragende Bedeutung Talcott Parsons’ für die begriffliche Systematisierung der strukturell-funktionalen Analyse, für die Tradierung „klassischer“ soziologischer Theorien und für die Integration fremddisziplinärer Perspektiven in den allgemeinsoziologischen Diskussionskon 87text in den Vordergrund gerückt. Denn „es war Parsons, der stärker als jeder andere heute lebende Theoretiker die Schulsoziologen beeinflußte und ihre Aufmerksamkeit erregte, und das nicht nur in den USA, sondern in der ganzen Welt. Es war Parsons, der seit nunmehr drei Jahrzehnten im Mittelpunkt jeglicher theoretischer Diskussion steht, und zwar gleichermaßen bei seinen Gegnern wie bei seinen Anhängern“3. Daß die strukturell-funktionale Theorie vor allem der Parsons’schen Prägung so „als eines der gegenwärtig am weitesten ausgearbeiteten Theoriegebäude in der Soziologie“4, insbesondere auch in der Religions- und Kirchensoziologie5,

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1963), S. 139–159. – Johan Goudsblum: Soziologie auf der Waagschale, Frankfurt a.M. 1979. – Alvin W. Gouldner: Die westliche Soziologie in der Krise, Band 2, Reinbek 1974. – Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 295–298. – Moderne amerikanische Soziologie. Neuere Beiträge zur soziologischen Theorie, hg. von Heinz Hartmann, 2. Auflage, Stuttgart 1973. – Stefan Jensen: Talcott Parsons. Eine Einführung, Stuttgart 1980. – Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie, Band 4: Deutsche und amerikanische Soziologie, Reinbek 1968. – Paul Kellermann: Kritik einer Soziologie der Ordnung. Organismus und System bei Comte, Spencer und Parsons, Freiburg i.B. 1967. – Gábor Kiss: Einführung in die soziologischen Theorien, Band 2, 3. Auflage, Opladen 1977, S. 144–163. – Renate Mayntz: „Strukturell-funktionale Theorie“, in: Wörterbuch der Soziologie, hg. von Wilhelm Bernsdorf, Band 3, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1972, S. 836–898. – Guy Rocher: Talcott Parsons et la sociologie americaine, Paris 1972. – Verhalten, Handeln und System (s.o. Anm. 1). Gouldner: Die westliche Soziologie in der Krise (s.o. Anm. 2), S. 210 f. Renate Mayntz: „Strukturell-funktionale Theorie“ (s.o. Anm. 2), S. 836. Vgl. hierzu die Darstellungen des Parsons’schen Einflusses auf die Religions- und Kirchensoziologie durch: Rainer Döbert: Systemtheorie und die Entwicklung religiöser Deutungssysteme. Zur Logik des sozialwissenschaftlichen Funktionalismus, Frankfurt a.M. 1973 – Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozeß sozialwissenschaftlicher Kritik, hg. von Karl Wilhelm Dahm/Volker Drehsen/Günter Kehrer, München 1975, S. 155–172. – Hans Dietrich Engelhardt: Zur Kritik der funktionalistischen Religionstheorie, Diss. Univ. München 1968. – Joachim Matthes: Religionssoziologie, in: Die Lehre von der Gesellschaft, hg. von Gottfried Eisermann, 2. Auflage, Stuttgart 1969, S. 218–259. – Giancarlo Milanesi: Religionssoziologie.

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galt, konnte jedoch über drei ebenso neuralgische wie folgenreiche Tatbestände nicht hinweg täuschen: Daß nämlich erstens das Parsons’sche Gedankensystem nur sukzessive, allmählich und jeweils gleichsam in amputierter Gestalt ins Bewußtsein der deutschen Soziologie nach 1945 eingesickert ist und daß es hierbei durchaus auch Phasenverschiebungen etwa zwischen allgemeinsoziologischer und religions- oder kirchensoziologischer Forschung gegeben hat; daß zweitens die Rezeption des Parsons’schen Denkansatzes trotz seiner zeitweilig unbestrittenen Dominanz insgesamt doch außerordentlich kontrovers verlaufen ist, so daß drittens der eigentlich konstruktive Charakter der strukturell-funktionalen Religionsanalyse nur sehr zähflüssig und widerspenstig ans Tageslicht geriet. Diese drei Aspekte vor allem gilt es im folgenden durch eine Darstellung der kritisch-konstruktiven und dimensionalen Bedeutung der strukturell-funktionalen Analyse für die deutsche Religions- und Kirchensoziologie der Nachkriegszeit aufzuweisen. A. Die kritisch-konstruktive Rezeption der strukturfunktionalistischen Kirchen- und Religionssoziologie. Problemgeschichtliche Aspekte Die Rezeption der strukturell-funktionalen Analyse vollzog sich in der deutschen Soziologie nach 1945 außerordentlich verwickelt; denn der Strukturfunktionalismus „gelangte nur mit Verzögerung und stückweise in die Bundesrepublik“6: Sukzessive wurden unterschiedli 88che Perspektiven und Themen seiner Gesellschaftstheorie jeweils von verschiedenen Interessensstandpunkten aus aufgenommen, so daß auch im nachhinein eine eindeutige Periodisierung dieses Rezeptionsvorganges kaum möglich erscheint. Erschwert wird der Überblick auch dadurch, daß es hierbei nicht nur sachliche und zeitliche Überlagerungen gab, sondern daß sich überdies der strukturfunktionalistische Einfluß keineswegs gleichzeitig und jeweils gleichbedeutend in allen soziologischen Bereichen und Zweigen durchsetzte, diese gleichwohl in kaum überschaubaren Beeinflussungsverhältnissen zueinander standen. Nur wenn man diese verworrene Lage7 einschrän-

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Wandlungsprozesse im religiösen Verhalten, Zürich 1976, S. 77–82. – Osmund Schreuder: Die strukturell-funktionale Theorie und die Religionssoziologie, in: IJRS 2 (1966), S. 99–134. – Bärbel Wallisch-Prinz: Religionssoziologie. Eine Einführung, Stuttgart 1977, S. 70–74. Friedrich H. Tenbruck: Deutsche Soziologie im internationalen Kontext. Ihre Ideengeschichte und ihr Gesellschaftsbezug, in: Sonderheft 21 (1979) der KZSS, S. 71– 107, 85. Für die allgemeine Soziologie haben besonders M. Rainer Lepsius: Die Entwick-

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kend in Rechnung stellt, lassen sich im Hinblick auf die unmittelbare Nachkriegsphase der deutschen Religions- und Kirchensoziologie dennoch schwerpunktmäßig gleichsam vier Stränge herauskristallisieren, die für die kritische Rezeption des Strukturfunktionalismus in der Bundesrepublik bedeutsam geworden sind. Es sind dies: (1) die Inkubationsphase einer in ihrem Interesse und in ihrer Grundorientierung zur strukturell-funktionalen Gesellschaftstheorie weitgehend nur affinen kirchlichen Sozialforschung, die über Ausnahmefälle hinaus kaum auch ausdrücklich auf die Parsons’sche Schule Bezug nahm; (2) eine kritische Aneignungsphase, in der – nicht zuletzt beeinflußt von den wissenschaftstheoretischen Auseinandersetzungen in der Allgemeinen Soziologie – vor allem die Mängel und Aporien der strukturell-funktionalen Religionstheorie als Teil einer globalen Gesellschaftstheorie in breitem Ausmaß erörtert wurden; (3) eine Phase der versuchten Wiederanknüpfung an die religionssoziologischen Entwürfe der „klassischen“ deutschen Soziologie, die vornehmlich in der Gestalt Max Webers gewissermaßen in einer strukturfunktionalistisch umgeprägten Fassung vorlagen und nunmehr ebenso in ihrer ursprünglichen Produktivität wiedererkannt wie gleichsam ihrer transitorischen Verfremdung entkleidet werden mußten; (4) die Phase einer konstruktiven Weiterbildung oder gar Überbietung des Parsons’schen Strukturfunktionalismus vorwiegend unter den Gesichtspunkten einer Differenzierung der religiös-sozialen Funktionsprozesse sowie der zunehmenden Nötigung zu einer Generalisierung der sozialreligiösen Strukturbildungsmomente.8 1. Charakter und Bedeutung der strukturell-funktionalen Religionstheorie 1.1 Immer wieder wurden die deutschen Anfänge der kirchlichen Sozialforschung nach 1945 unmittelbar mit dem amerikanischen Strukturfunktionalismus in Verbindung gebracht.9 Bei genauerer Sicht erweist sich eine solche Zu-

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lung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1967, in: Sonderheft 21 (1979) der KZSS, S. 25, Helmut Schelsky: Zur Entstehungsgeschichte der bundesdeutschen Soziologie, in: KZSS 32 (1980), S. 417 ff. und Friedrich H. Tenbruck: Deutsche Soziologie im internationalen Kontext (s.o. Anm. 6) Licht in die verwickelte Entwicklung der Nachkriegszeit zu bringen versucht. Da [in dem Sammelband, in dem dieser Aufsatz zuerst veröffentlicht wurde; Anm. d. Herausgeber] den beiden letzten Phasen gesonderte Beiträge gewidmet sind, kann sich die folgende Darstellung auf die beiden ersten Phasen beschränken. So urteilt etwa Joachim Matthes: Religionssoziologie (s.o. Anm. 5), S. 228 f.: „We-

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ordnung jedoch als allzu kurzschlüssig. Tatsächlich standen die Anfänge sowohl der katholischen als auch der protestantischen Kirchenso 89ziologie zunächst weit mehr im Zeichen der vorwiegend romanischer Tradition entstammenden Soziographie religiös-kirchlichen Verhaltens,10 die dann allerdings im Zuge der amerikanischen „Re-education“-Politik eine eigentümliche Symbiose mit der angelsächsischen Sozialforschung einzugehen vermochte. Die letztere repräsentierte „jedoch allenfalls den Zustand der amerikanischen Sozialwissenschaft der 30er oder 40er Jahre, bevor sich dort plötzlich und siegreich die strukturfunktionale Schule durchsetzte“11. Die Anfänge der kirchlichen Sozialforschung im Nachkriegsdeutschland spiegelten damit eine empirische Forschungspraxis wider, die Parsons selbst ihrer Unbewußtheit und Theorievergessenheit wegen zu überwinden trachtete. Wenn er mit Blick auf die amerikanische Szene 1945 schrieb: „In der praktischen soziologischen Forschung ist . . . (die strukturell-funktionale Analyse) bereits angewandt worden, wenn auch in wechselndem Ausmaß und in weitgehend fragmentarischer und impliziter Form“12, so kann die Situation der kirchlichen Sozialforschung in der Bundesrepublik nach 1945 als eine Wiederholungsvariante eben dieses von Parsons beschriebenen gleich-

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sentliche Anregungen erhielt die Untersuchung kirchlicher Strukturen . . . vor allem durch die Anwendung des von Talcott Parsons entwickelten Kategoriensystems, insoweit es die strukturellen und funktionalen Erfordernisse für die Stabilität und den Bestand sozialer Systeme systematisch zusammenstellt. Der seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges rasch voranschreitende Ausbau der strukturfunktionalistischen und am Systemgedanken orientierten Theorie vor allem in der amerikanischen Soziologie führte parallel zur Entwicklung der kirchensoziologischen Forschung . .“ Ähnlich schätzt Heinrich Ludwig: Die Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung. Perspektiven für eine neue sozialethische Diskussion, München/Mainz 1976, S. 45, die Situation ein: „Die Entwicklung von der Pastoral- zur Kirchensoziologie fand eigentlich erst mit dem Bemühen statt, Anschluß an den allgemeinen soziologischen Standard zu finden“, den er besonders im amerikanischen Strukturfunktionalismus repräsentiert sieht: „Diese Verbindung hat das Verständnis von Kirchensoziologie stark geprägt, so daß eine soziologische Kritik des Strukturfunktionalismus die Möglichkeit kirchensoziologischen Arbeitens selbst zu bedrohen scheint.“ Dieser Sichtweise schließt sich schließlich auch Raban Tilmann: Sozialer und religiöser Wandel, Düsseldorf 1972, S. 56–62, an. Diese Forschungstradition wurde vor allem und am profiliertesten vertreten von Gabriel Le Bras in: Etudes de sociologie religieuse, 2 Bände, Paris 1955–1956. Friedrich H. Tenbruck: Deutsche Soziologie im internationalen Kontext (s.o. Anm. 6), S. 25. Talcott Parsons: Beiträge zu soziologischen Theorien, hg. von Dietrich Rüschemeyer, 2. Auflage, Frankfurt a.M. 1968, S. 40.

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sam „vorparadigmatischen“ Zustandes gelten. Parsons wollte einen solchen Zustand durch die Herausbildung einer systematischen Theorie („generalized concept“), durch die Entwicklung von „Begriffsvorschlägen . . . zur Beschreibung aller möglichen Gesellschaften“13, durch Hinweise auf deren empirische Bezüge („empirical reference“) sowie durch den Aufweis soziologischer (nicht unbedingt auch sozial-faktischer!) Zusammenhänge in einer Gesellschaft überbieten. Das Ziel dieses gewaltigen metatheoretischen Unternehmens war es, gewissermaßen maieutisch den unbewußten Vollzug der empirischen Sozialwissenschaften ins explizite Bewußtsein einer theoretischen Reflexion der Soziologie zu erheben.14 Ein vergleichbarer „qualitativer Sprung“ („adaptive upgrading“) stand der kirchlichen Sozialforschung 13 14

Ralf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung (s.o. Anm. 2), S. 143. René König: Grundlagenprobleme der soziologischen Forschung (Modelle, Theorien, Kategorien), in: Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgestaltung. Festschrift für Gerhard Weisser, hg. von Friedrich Karrenberg/Heinrich Albert, Berlin 1963, S. 23–44, und René König: Soziologie. Das Fischer Lexikon Band 10, Neuauflage, Frankfurt a.M. 1967, S. 305–309 und Ralf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung (s.o. Anm. 2), S. 120–159, weisen zurecht darauf hin, daß zu unterscheiden sei zwischen soziologischen Theorien im Plural als allgemeine Erklärungshypothesen von unterschiedlichen Abstraktionsniveaus einerseits und der Theorie von Gesellschaft im Singular andererseits, die sich von reiner Spekulation dadurch unterscheidet, „daß sie Forschungsmaterialien wenigstens in unsystematischer Weise benutzt“ (René König: Grundlagenprobleme der soziologischen Forschung [s.o. Anm. 14], S. 43), gleichwohl aber wie jene ein Gesamtbild von Gesellschaft zu entwerfen sucht. Die Metatheorie ist gegenüber diesen beiden Theorietypen gewissermaßen noch einmal abgehoben, weil sie diejenigen apriorischen Grundbegriffe einer systematischen Analyse unterzieht, „die der Erfahrung einer Wirklichkeitsdimension eigener Art, wie es das soziale Dasein nun einmal ist, transzendentallogisch vorausgesetzt werden müssen, selbst wenn sie in der Wissenschaftsgeschichte erst erkannt wurden, nachdem die Empirie schon viele Schritte vollzogen hatte“ (René König: Grundlagenprobleme der soziologischen Forschung [s.o. Anm. 14], S. 41). Die Metatheorie zielt also vornehmlich darauf ab, die theoretischen Bedingungen einer Möglichkeit zu klären, nach der sich die analytischen Urteile soziologischer Theorien wie einer Theorie von Gesellschaft systematisieren lassen. Insofern ist die Metatheorie Voraussetzung einer kommunizierbaren und kontrollierbaren Erkenntnis sozialer Wirklichkeit (vgl. hierzu auch Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie [s.o. Anm. 2], S. 146). Diese unterschiedlich ansetzenden Interessen erklären auch die Doppeldeutigkeit, die etwa der Strukturbegriff bei Parsons zuweilen annimmt, „indem Struktur 1. das innere Gefüge einer Gesellschaft oder Gruppe (d. h. eines sozialen Systems) betrifft . . . , aber 2. auch die Möglichkeit einer objektiven, d. h. wertungsfreien Erkenntnis sozialer Zusammenhänge anbahnt“ (René König: Soziologie [s.o. Anm. 14], S. 314).

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im unmittelbaren Nachkriegsdeutschland trotz ihrer bald durchgreifenden „Amerikanisierung“ zunächst erst noch bevor.15 Wenn sie dennoch – nicht selten mit kritischem Zungenschlag – dem Strukturfunktionalismus zugeordnet wurde, so muß an den Vorbehalt Osmund Schreuders16 erinnert werden, daß eine derartige Kritik nicht immer zutreffend war, weil sie sich auf Entwicklungen bezog, die insofern der strukturell-funktionalen Theorie nicht angelastet werden konnten, weil sie zu diesem Zeitpunkt in Europa noch weitgehend unbekannt war. 1.2 Sieht man jedoch von den metatheoretischen Ambitionen des amerikanischen Strukturfunktionalismus ab, die der deutschen Kirchensozialforschung nach 1945 in der Tat weitgehend ermangelten, dann läßt sich unter bescheideneren Gesichtspunkten cum grano salis durchaus eine latente Ge 90sinnungs- und Denkverwandtschaft, mithin unbewußte wie hintergründige Affinitäten in der Grundorientierung beider Forschungsrichtungen behaupten, die in der Parallelität sowohl wesentlicher Denkfiguren als auch zentraler Erklärungsinteressen zum Ausdruck kamen. Auf der Ebene der gegenständlichen soziologischen Theorie lassen sich also durchaus allgemeine und formale Grundmuster der Affinität ausfindig machen. Parsons selbst hatte 1951 eine Definition dessen geliefert, was der strukturell-funktionalen Analyse als Gegenstand vorausliegt: „Das soziale System ist eine Art Organisation von Handlungselementen, die auf den Fortbestand oder auf geordnete Wandlungsprozesse der interaktiven Muster von einer Vielzahl individuell Handelnder bezogen ist“, die in einem identifizierbaren Kollektiv zusammengeschlossen sind.17 Daß sich hierbei überhaupt ein Problem stellt, hängt mit der vorgängigen Annahme Parsons’ zusammen, daß gesellschaftliche Systeme potentiell so etwas wie ein „Pulverfaß“18 darstellen. Parsons’ Ausgangsfrage war es also, „wie Gesellschaft als ein geordneter Zusammenhang von Handlungen möglich 15

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Vgl. hierzu (außer der bereits in Anm. 7 genannten Literatur): Arnold Bergstraesser: Deutsche und amerikanische Soziologie, in: VZG 1 (1953). – Ralf Dahrendorf: Pfade aus Utopia, München 1967, S. 103–105. – William J. Goode: Die Beziehungen zwischen der amerikanischen und deutschen Soziologie, in: KZSS 11 (1959), S. 165– 180, der im Hinblick auf die deutsche Nachkriegssoziologie die provozierende These aufgestellt hat: „Sowohl Coca Cola als auch die Comic Books haben in Deutschland leichter Eingang gefunden als die amerikanische Soziologie . . . “ (S. 166). Osmund Schreuder: Die strukturell-funktionale Theorie und die Religionssoziologie (s.o. Anm. 5), S. 111. Talcott Parsons: The Social System, Glencoe (Ill.) 1951, S. 24. Vgl. Gábor Kiss: Einführung in die soziologischen Theorien (s.o. Anm. 2), S. 147.

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ist“19; genauer ausgedrückt: „die Frage nach der Konstitution gesellschaftlicher Ordnung auf der Grundlage autonomer Handlungssubjekte“20. Die vorstellbare Krise wird zum Movens der analytischen Diagnose und strategischen Therapie, deren Aufgabe es nicht zuletzt ist zu klären, wie die potentiell auseinanderstrebenden Handlungen von Individuen in je einzelnen Situationen sich dennoch so miteinander verknüpfen lassen, daß ein kohärentes Ganzes, ein System, daraus entstehen kann. Denn erst ein System ist nach Parsons’ Vorstellung diejenige Bedingung, die Handeln in soziales, d. h. hier: systemerhaltendes Handeln überführt: bedürfnisorientiert, doch teleologisch gerichtet, voluntaristisch ausgelöst und dennoch den anderen reflexiv berücksichtigend, motivational freigesetzt und trotzdem normativ aufgefangen und kanalisiert. In diesen beiden, analytisch und therapeutisch orientierten Dimensionen soziologischer Theorie vor allem ist die ebenso hintergründige wie weitläufige Verwandtschaft zwischen amerikanischem Strukturfunktionalismus und deutscher kirchlicher Sozialforschung zugrundegelegt. 1.3 Dabei ist hervorzuheben, daß sich die Affinität der analytischen Denkfiguren zunächst weniger auf die Religionstheorie im engeren Sinne als vielmehr auf die generellen Vorstellungen Parsons’ von der Beschaffenheit eines gesellschaftlichen Systems überhaupt beziehen, die sich am Leitfaden seiner Grundbegriffe „Struktur“ und „Funktion“ rekonstruieren lassen: „Strukturell-funktionale Analyse eines sozialen Systems ist . . . grundsätzlich das Beschreiben von Ordnungen in den Beziehungen (,structures‘) zwischen 91 Handelnden und das Auffinden von Faktoren (,functions‘), die diese Ordnung beeinflussen“21. Ordnung wird dabei vorgestellt als ein Gleichgewichtszustand, der durch eine Art Isomorphie zwischen spezifischen Institutionalisierungs-, Vermittlungs- und Internalisierungsprozessen – und zwar gleichermaßen in den nur analytisch zu unterscheidenden Bereichen des Sozial-, Kulturund Persönlichkeitssystems – zustandekommt. Im Hinblick auf das strukturbildende und -bewahrende soziale Handeln fungiert bei Parsons als Schlüsselkategorie der Begriff der „sozialen Rolle“, in der die „Integration der normativen Elemente eines bestimmten soziokulturellen Systems

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Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns (s.o. Anm. 2), S. 301. Arnold Zingerle: Rezeption und Objektivität. Über das problematische Verhältnis der Soziologie zu ihrer Theoriegeschichte Max Webers, Habil.-Schrift, Bochum 1978, S. 33. Kellermann: Kritik einer Soziologie der Ordnung (s.o. Anm. 2), S. 116.

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mit den individuellen Motivationsstrukturen“ verankert ist:22 Während im Sozialsystem der grundlegende Wertkonsens einer Gesellschaft institutionalisiert ist, wird er in normativ-legitimierter Ausdeutung durch das Kultursystem in einer Weise dem einzelnen vermittelt, daß dadurch das ins Persönlichkeitssystem internalisierte Wertbewußtsein im jeweils situativen Rollenspiel sozial handlungsorientierend durchzugreifen vermag, ohne dabei stets auch von Mechanismen sozialer Kontrolle ausgesteuert werden zu müssen. Hatte Parsons zunächst die Isomorphie zwischen Individuum und Gesellschaft im Rollenbegriff verklammert, also gleichsam mikrosoziologisch die kulturelle Integration der handelnden Individuen durch deren motivationale Einbindung in vorgängig institutionalisierte Systeme auf den verschiedenen Ebenen von Person, Kultur und Gesellschaft entfaltet, so entstand als weiteres Problem vorwiegend der makrosoziologischen Betrachtung, wie die Zuordnung einzelner Teilsysteme untereinander und zum Ganzen der Gesellschaft zu bestimmen sei: Es stellt sich mithin die Funktionsfrage nach dem „Bezug eines Teils auf ein Ganzes, genauer: die Konsequenzen einer Rolle oder Institution oder Werthaltung für das Funktionieren des als System vorgestellten Ganzen eines Verbandes oder einer Gesellschaft“23. An dieser Stelle setzt Parsons’ eigentliche Funktionsanalyse ein, in der er vier Grundfunktionen („four-function-paradigm“) als Bedingungen der Systemerhaltung nach Gesichtspunkten eines Funktionsprimats in jeweiligen Teilsystemen gesamtgesellschaftlichen Handlungsabläufen zuordnet: So findet sich die Funktion der Anpassung an den laufenden strukturellen Wandel einer gesellschaftlichen Umwelt vor allem im wirtschaftlichen Bereich organisiert, die Funktion der Zielverwirklichung durch Personen wird dem Erziehungssektor zugerechnet; die Integrationsfunktion erfüllt für ein Sozialsystem vorwiegend die Politik, während die strukturerhaltenden legitimierenden Funktionen vornehmlich von allen Einrichtungen des „Kulturbetriebs“ wahrgenommen werden.24 Jedes 92 Subsystem erfüllt „seine“ Funktion gleichsam stellvertretend für die Gesamtgesellschaft, die dadurch eine Art homöostatischen Zustand erreicht. 22

23

24

Ingo Mörth: Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion. Grundlegung einer allgemeinen Religionstheorie, Stuttgart 1978, S. 81. Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Freiheit. Zur soziologischen Analyse der Gegenwart, München 1961, S. 113. Vgl. hierzu insgesamt die Arbeiten von Talcott Parsons: The Structure of Social Action, New York 1937 –The Social System (s.o. Anm. 17). – The Pattern Variables Revisited, in: ASR 25 (1960), S. 467–483. – Beiträge zu soziologischen Theorien (s.o. Anm. 12). – Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems. Ein Bericht

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Sowohl in mikro- als auch in makrosoziologischer Sicht findet nun die Religion ihren genuinen Platz in dieser „gewaltigen Taxonomie von Begriffen“25 in jenem kulturellen Bereich, dem der Funktionsprimat für die „hintergründige Spannungsbewältigung und Orientierungsstabilisierung des Handelns“ („latent tension management and pattern-maintenance“) zufällt. Sie ist damit so etwas wie eine balancierende Ausgleichsinstanz in Situationen drohender Gleichgewichtsstörungen der Gesamtgesellschaft, die durch grundsätzliche Zweifel am sozialen Wertkonsens, durch Enttäuschungen aufgrund erlebter Zufälligkeiten, Machtlosigkeiten und Leid oder durch andere demoralisierende Sinnlosigkeitserfahrungen auftreten können. Diese Störfaktoren sucht die Religion aufzufangen, indem sie in bezug auf die gesellschaftlichen Subsysteme vor allem folgende Funktionen erfüllt:26 – Im Bezug auf das Sozialsystem reintegriert sie „die sozialen Personen in ihren Interaktionen. Sie interpretiert die Widersprüche des Systems, entdramatisiert sie, erneuert das Vertrauen zu seinen Zielen, Normen und Werten“, um auf diese Weise die potentiell bedrohte soziale Partizipationsbereitschaft des einzelnen wieder herzustellen (Resozialisierungsfunktion). – Im Bezug auf das Kultursystem „rechtfertigt und legitimiert (sie) den ganzen Norm-Werte-Bereich der Gesellschaft“ durch dessen Sakralisierung (Legitimierungsfunktion). – Im Bezug auf das Persönlichkeitssystem stellt sie ein Sinnsystem bereit, „das sehr nachhaltig zur Identität des Individuums und zu seiner fortschreitenden Reife beiträgt“ (Internalisierungsfunktion). Als die soziologischen Möglichkeitsbedingungen von Religion werden von Parsons also defiziente Entstehungsgrundlagen der Gesellschaft ausgemacht, die sich vor allem in Frustrationsfallen, Diskrepanzerfahrungen und auferzwungenen Verzichtsleistungen äußern können, und deren disruptive Folgen von der Religion durch spezifisch integrative Funktionserfüllungen wie Resozialisierung, Legitimation und Sinndeutung gleichsam abgefedert werden.27

25 26 27

zur Person, in: Talcott Parsons u. a.: Soziologie – autobiographisch. Drei kritische Berichte zur Entstehung einer Wissenschaft, Stuttgart 1975, S. 1–68, sowie die in Anm. 2 aufgeführte Sekundärliteratur. Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung (s.o. Anm. 2), S. 147. Giancarlo Milanesi: Religionssoziologie (s.o. Anm. 5), S. 80. Vgl. hierzu die religionssoziologischen Studien von Talcott Parsons: The Place of Ultimate Values in Sociological Theory, in: IJE 45 (1935), S. 282–316. – Religious Perspectives of College Teaching in Sociology and Social Psychology, New Haven 1952. – The Theoretical Development of Sociology of Religion (1944), in: Journal of the History of Ideas 5 (1944), Nr. 2, S. 176–190. – A Perspective on Religion, in:

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2. Die latente strukturfunktionalistische Orientierung der kirchlichen Sozialforschung 2.1 Die latente Affinität zwischen den Bestandteilen der strukturellfunktionalen Grundansichten und den Interpretationsfiguren der kirchlichen Sozialforschung geben sich erst zu erkennen, wenn man in Rechnung stellt, 93 daß hier das Parsons’sche Paradigma nicht nur in rudimentärer Form auftrat, sondern überdies die Reichweite seines Erklärungsvermögens noch empfindlich eingeschränkt wurde auf das gesellschaftlich organisierte Teilsystem „Kirche“. Die Aufmerksamkeit der kirchensoziologischen Forschung galt in der Bundesrepublik Deutschland keineswegs zunächst der Erklärung von Gesellschaft, ihrer Konstitutionsbedingungen, strukturellen Zusammenhänge oder funktionalen Vorbedingungen, auch nicht ihrer Religion als ganzes, sondern der Kirche als partikular institutionalisiertem System in Gesellschaft, die selbst damit eher beiläufig allenfalls als Randbedingung in den Blick geriet. Erst innerhalb dieser eng gesteckten Grenzen kirchlich orientierten Systemdenkens machten sich strukturfunktionalistische Grundfiguren und zwar in allen charakteristischen Ausprägungen der kirchlichen Sozialforschung breit, die damit insgesamt gleichsam subtheoretisch eine strukturell-funktionale Grundorientierung aufwies. a) Die normativistische Anlage einer strukturell-funktionalen Systemorientierung kam vor allem im Typ der kirchlichen Partizipationsforschung zum Ausdruck, die sich der Beschreibung der „Art, Struktur und Häufigkeit der Teilnahme am kirchlichen Leben“ widmete.28 Im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stand das manifeste Kirchen-(Gemeinde-)System, dessen Strukturmerkmale durch die Ingredienzen der offiziellen Selbstdefinition, gewissermaßen des kirchlich institutionalisierten Wertkonsens, gegeben waren.29 Diese Selbstdefinition trug ausgesprochen handlungsappellative

28

29

Modern Society, hg. von Alvin W. Gouldner, New York 1963 – Christianity and Modern Industrial Society, in: Sociological Theory, Values and Socio-Cultural Change, hg. von Edward A. Tiryakian, Glencoe (Ill.) 1963; wieder in: Religion, Culture and Society, hg. von Louis Schneider, New York 1964, S. 273–298. – Religion in a Modern Pluralistic Society, in: RRelRes 7 (1966), S. 125–146. – Religion in Postindustrial America. The Problem of Secularization, in: Social Research 41 (1974), S. 193– 225, sowie die in Anm. 2 genannte Sekundärliteratur. Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 2, Reinbek 1968, S. 13. Osmund Schreuder: Ein soziologischer Richtungsbegriff der Pfarrei, in: SC 6

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Akzente, die auf sichtbare Demonstrationen von Zugehörigkeitsverhalten zielten: Die Realisierung einer bestimmten Mitgliedschaftsrolle galt als Minimalbedingung für die Bestandserhaltung des Kirchensystems.30 Da die Erfüllung eines solchen Rollenbildes allgemein nicht mehr als selbstverständlich vorausgesetzt und durch Mittel systemspezifischer Kontrolle („Kirchenzucht“) nicht mehr erzwungen werden konnte, konzentrierte sich die Aufmerksamkeit kirchlicher Teilnahmeforschung auf die Frage, inwieweit die Angehörigen der betreffenden Kirche die institutionell vorgegebenen Normen (Gottesdienstbesuch, Inanspruchnahme kirchlicher Amtshandlungen, Teilnahme an Gemeindeveranstaltungen und kirchlichen Freizeitangeboten, Besuch kirchlicher Unterrichtsveranstaltungen) durch Praktizierung subjektiv internalisierter Normvorstellungen in soziale Realität umsetzen: Die reale Praxis des normativ aus einem innerkirchlichen

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(1959), S. 177–203. – Ders.: Kirche im Vorort. Soziologische Erkundung einer Pfarrei, Freiburg i.B./Basel/Wien 1962. – Ders.: Die strukturell-funktionale Theorie und die Religionssoziologie (s.o. Anm. 5). Diese Prämissen hat – allerdings im expliziten Anschluß an Parsons’ Strukturfunktionalismus – Osmund Schreuder am pointiertesten herausgearbeitet (vgl. Osmund Schreuder: Ein soziologischer Richtungsbegriff der Pfarrei [s.o. Anm. 29], sowie Osmund Schreuder: Kirche im Vorort [s.o. Anm. 29]); jedoch wurden auch andere kirchensoziologische Studien durch sie nachhaltig bestimmt; vgl. etwa: Joseph H. Fichter: Soziologie der Pfarrgruppen. Untersuchungen zur Struktur und Dynamik der Gruppen einer deutschen Pfarrei, Münster 1958. – Justus Freytag: Die Kirchengemeinde in soziologischer Sicht. Ziel und Weg empirischer Forschung, Hamburg 1959. – Norbert Greinacher: Soziologie der Pfarrei. Wege zur Untersuchung, Colmar/Freiburg i.B. 1955. – Norbert Greinacher: Die Kirche in der städtischen Gesellschaft. Soziologische und theologische Überlegungen zur Frage der Seelsorge in der Stadt, Mainz 1966. – Die Zugehörigkeit zur Kirche, hg. von Norbert Greinacher/Walter Menges, Mainz 1964. – Walter Menges: Diasporagemeinden in der Dynamik der Nachkriegszeit, in: Soziologie der Kirchengemeinde, hg. von Dietrich Goldschmidt/Franz Greiner/Helmut Schelsky, Stuttgart 1960, S. 162–171. – Nikolaus Monzel: Stuktursozologie und Kirchenbegriff, Bonn 1939, 2. Auflage Köln 1972. – Trutz Rendtorff: Die soziale Struktur der Gemeinde. Die kirchlichen Lebensformen im gesellschaftlichen Wandel der Gegenwart, Hamburg 1958. – Trutz Rendtorff: Gesellschaftsbildende Aufgaben und Möglichkeiten der Kirchengemeinde, in: EvTh 19 (1959), S. 506–528. – Trutz Rendtorff: Gemeindeleben. Die soziologische Struktur der Kirchengemeinde. Methoden und Probleme ihrer Erforschung, in: EvW 14 (1960), S. 95 und 98–100. – Trutz Rendtorff: Tendenzen und Probleme der kirchensoziologischen Forschung, in: Probleme der Religionssoziologie, Sonderheft 6 (1962) der KZSS, hg. von Dietrich Goldschmidt/Joachim Matthes, S. 191–201. – Alfons Weyand: Formen religiöser Praxis in einem werdenden Industrieraum, Münster 1963.

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Wertkonsens reduzierten Rollenbildes eines „homo ecclesiasticus“, das von der Mehrheit der Kirchenglieder internalisiert worden ist, galt als funktionales Erfordernis für den Bestand und die Erhaltung, für die auf sich selbst bezogene Integration des Kirchensystems. Was Parsons als Konstitutionsbedingungen der Gesellschaft über 94haupt herauspräpariert hat: die Institutionalisierung eines Wertkonsens, dessen normative Verdichtung in spezifischen Rollenbildern jeweils durch individuell internalisierte Motivationen verhaltensrelevante Realität gewinnt, spiegelte sich in der kirchlichen Teilnahmeforschung gewissermaßen verkürzt bezogen auf das gesellschaftlich organisierte Teilsystem Kirche wider, dessen Bestand ebenfalls hauptsächlich durch die Isomorphie zwischen objektiver Institutionalisierung, kultureller Vermittlung und subjektiver Handlungsorientierung gesichert erschien. b) Eine ähnliche Parallelität zu einer für die strukturell-funktionale Analyse zentralen Denkfigur gab sich auch in der kirchlichen Verteilungsforschung zu erkennen, „in der die Verteilung verschiedener Sozialmerkmale auf Gruppen mit unterschiedlichen Graden von Kirchlichkeit untersucht wird“31. Den Ausgangspunkt bildet hier die Frage nach dem Verhältnis des Teilsystems „Kirche“ zum Gesamtsystem der Gesellschaft und zu dessen anderen Subsystemen. Und im Mittelpunkt steht das Problem, „ob die Kirchengemeinde in das gegenwärtige Sozialgefüge integriert ist“32. Als Indikator dient hierfür zwar wiederum das beobachtbare Teilnahmeverhalten der Kirchenglieder, das nunmehr jedoch nach Sozialmerkmalen wie Schichtzugehörigkeit, Berufsstand, Bildungsgrad, Lebensalter, Geschlecht, Siedlungsgröße und Stadt-Land-Gefälle aufgeschlüsselt wird, um den offenbar Gleichgewichtigkeit garantierenden isomatischen Zustand zwischen den kirchlichen und den übrigen gesellschaftlichen Teilsystemen anhand der Leitfrage zu überprüfen: „Zieht die Kirchengemeinde ihre Glieder gleichmäßig aus allen Gruppierungen der örtlichen Gesellschaft zusammen?“33 Dahinter stand wohl die organizistische Vorstellung von der statistisch ausgewogenen Widerspiegelung der soziomorphen Struktur einer Gesamtgesellschaft durch den Kreis praktizierender Kirchenglieder. Dieses statistische Repräsentationsmodell scheint im Interpretationsrahmen der kirchlichen Sozialforschung denjenigen Platz einzunehmen, den in Parsons’ Gesellschaftstheorie die Gleichgewichtsannahme ausfüllt. Doch während für Parsons das gesamtgesellschaftliche Equilibrium auf 31 32 33

Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 28), S. 13. Justus Freytag: Die Kirchengemeinde in soziologischer Sicht (s.o. Anm. 30), S. 104. Ebd.

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der Anerkennung eines für alle Subsysteme gleichermaßen und innerhalb derer alle Mitglieder zugleich verpflichtenden Wertkonsens beruht, kommt sie für die kirchliche Sozialforschung in einer nach morphologischen Gesichtspunkten statistisch feststellbaren Repräsentativität der „aktiven“ Kirchengemeindeglieder bezogen auf die gesamtgesellschaftliche Durchschnittsverteilung bestimmter Sozialmerkmalsgruppen zustande. Daß sozial ausgewogene Repräsentanz im Kirchensystem empirisch nicht (mehr?) aufzufinden ist, die so durchleuchtete Kirchengemeinde sich vielmehr normalerweise durch eine sozialstrukturelle 95 „Milieuverengung“ auszeichnet,34 wird ebenso regelmäßig als Devianzphänomen, etwa „als defizienter Modus eigentlicher Kirchlichkeit“35, mehr pejorativ namhaft gemacht als theoretisch analysiert, ähnlich wie einst Parsons selbst fast jede Gleichgewichtsstörung, die sich strukturell nicht austarieren ließ, häufig bloß als Anomie verbucht hatte. c) Nirgendwo wurde die allgemeine Strukturparallelität zwischen der Parsons’schen Denkweise und dem für die bundesrepublikanische Kirchensoziologie charakteristischen Interpretament augenfälliger als in der Affinität religiös-sozialer Funktionsbestimmungen. Besonders die kirchensoziologische Einstellungsforschung verfolgte die Erhellung des Kirchensystems nach dem Gesichtspunkt seiner weitgehend theologisch inkriminierten „Nebenfunktionen“ in der Gesellschaft.36 Nicht unterschiedliche Partizipationsgrade oder differenzierte Sozialmerkmale wurden hier anvisiert, sondern abgefragte Funktionszuweisungen, erschlossene Motivbündel und unterstellte psychische Persönlichkeitsdispositionen selbst bei denen, die sich durch empirische Teilnahme- und Verteilungsforschung nicht ohne weiteres auch positiv profilieren ließen. Dabei tauchen nahezu alle von Parsons vorgenommenen Funktionsbestimmungen – wenn auch in weit weniger theoretisch konziser Form – in der kirchensoziologischen Einstellungsforschung vergleichsweise wieder auf. Für diese Forschungsrichtung fungieren hauptsächlich folgende kirchliche Einstellungssyndrome als wesentliche Funktionsindikatoren der Religion: 34

35 36

Joachim Matthes: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft, Hamburg 1964, S. 30 Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 28), S. 14. Justus Freytag: Die Kirchengemeinde in soziologischer Sicht (s.o. Anm. 30), S. 111. Vgl. auch Peter L. Berger: Auf den Spuren der Engel. Die moderne Gesellschaft und die Wiederentdeckung der Transzendenz, Frankfurt a.M. 1970. – Ders.: Zukunft der Religion. Soziologische Betrachtungen zur Säkularisierung, in: EK 4 (1971), S. 317–322.

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(1) „Kirchliche“ Sozialisation37 Daß Sozialisation einen entscheidenden Faktor beim „Fortbestand der (institutionalisierten) Religion in einer Gesellschaft“ bildet,38 stellt seit jeher eine allgemein akzeptierte Banalität dar. Zumindest die Kontinuität des kirchlichen Wertsystems und der kirchenspezifischen Verhaltensweisen läßt sich nicht sichern, wenn sie nicht regelmäßig und erfolgreich an die jeweils nachfolgende Generation weitervermittelt werden. Folgerichtig konzentrierte sich die Forschung bald auf die Frage, ob und wie denn tatsächlich spezifisch kirchlich-religiöse Werte und Verhaltensweisen unter den Bedingungen jener modernen Gesellschaft sozialisiert werden,39 die vor allem durch relative Verselbständigung sekundärer Sozialisationsagenten (Schule, Kirche, Berufsbildung, Hochschulstudium) und Konkurrenz der Wertsysteme (Glaube, Ideologie, Politik) charakterisiert ist. Im Zuge dieser Entwicklung wandert die entscheidende Vermittlungsfunktion in den Privatbereich der Primärgruppen über, und hier wiederum werden die Weichenstellungen primär in der Lebenswelt der frühsozialisierenden Familie vollzogen: Die in der Kleinkindphase vermittelten Impulse hinterlassen lebenslang prägende Spuren; sie sind auch im späten Alter einstellungsund verhaltensprägend und erfahren nur noch geringfügige Korrekturen.40 Dieser allgemeine Sachverhalt hat für das kirchenbezogene Einstellungssyndrom zur Folge, daß diejenigen besonders zur „Kirchentreue“ neigen, die durch ihren familiär erfahrenen Sozialisationsprozeß 96 bereits eine 37

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Vgl. hierzu insgesamt: Religiöse Sozialisation, hg. von Manfred Arndt, Stuttgart 1975 – Laszlo A. Vaskovics: Religiöse Praxis im Spannungsfeld familiärer Einflüsse. Ergebnisse einer religionssoziologischen Untersuchung, in: Der Seelsorger 35 (1965), S. 398–409. – Laszlo A. Vaskovics: Einfluß der Familie auf die religiöse Praxis der Kinder. Dargestellt auf Grund religionssoziologischer Untersuchungen, in: LS 17 (1966), S. 54 ff. – Laszlo A. Vaskovics: Religionssoziologische Aspekte der Sozialisation wertorientierter Verhaltensformen, in: IJRS 3 (1967), S. 115–146. – Laszlo A. Vaskovics: Familie und religiöse Sozialisation, Wien 1970. – Laszlo A. Vaskovics: Religion und Familie. Soziologische Problemstellung und Hypothesen, in: Religion im Umbruch, hg. von Jakobus Wössner, Stuttgart 1972, S. 328–352. – Laszlo A. Vaskovics: Thesen zur Interdependenz religiöser Organisation und familialer Subsysteme, in: Conc. 10 (1974), S. 72–76. – Jakobus Wössner: Kirche, Familie, Sozialisation, in: Familie als Sozialisationsfaktor, hg. von Gerhard Wurzbacher, Stuttgart 1968, S. 308–352. Laszlo A. Vaskovics: Religionssoziologische Aspekte der Sozialisation wertorientierter Verhaltensformen (s.o. Anm. 37). Ebd., S. 124 f. Ebd., S. 135.

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gewisse Affinität zur Kirche ausgebildet haben, die später durch die Plausibilitätsstruktur, in der sie dauerhaft leben (z. B. Ehepartner, Freundeskreis), bestätigt und erhalten werden kann.41 Daß dies mehrheitlich gelingt, kann in modernen Industriegesellschaften als Regelfall nicht mehr vorausgesetzt werden. Familiäre Erziehung zielt normalerweise primär nicht auf binnenkirchliche Sozialisation ab, sondern auf das Erlernen allgemeingesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten. An diesem Punkte kristallisieren sich dann in der Tat mehrheitliche Funktionserwartungen an die Adresse der Kirche heraus: Es nimmt die Zahl derer zu, die sich zwar nicht binden wollen, die aber gleichwohl „der Kirche gerne eine gewisse Funktion als Garant einer bestimmten ethischen Ordnung, vor allem im Hinblick auf die Erziehung der Kinder und Jugendlichen“ zuweisen wollen.42 (2) Kirchliche Legitimation grundlegender Sinnorientierung Diese weitverbreitete Funktionszuweisung der „kirchlichen“ Sozialisation ist inhaltlich bezogen auf die „Darstellung und Vermittlung grundlegender Sinnsysteme“43 bzw. auf deren öffentliche Legitimation.44 In diesem Bilde erscheint Kirche als organisatorisch institutionalisierter Garant sozial dominierender Wertsysteme, und es spiegelt dementsprechend gewissermaßen den demoskopischen Reflex des Parsons’schen Integrationsgedankens wider: „Das speziell Soziologische an dieser Funktionsbestimmung ist die Erkenntnis, daß eine solche Funktion von kaum zu überschätzender Wichtigkeit für das Bestehen der Gesellschaft und ihrer Weiterentwicklung im Sinne des sozialen Wandels . . . ist und daß sie für die gesellschaftliche Integration des einzelnen und die Legitimation der Werte und Normen sorgt“45. 41

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Reinhard Köster: Die Kirchentreuen. Erfahrungen und Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung in einer großstädtischen evangelischen Kirchengemeinde, Stuttgart 1959. Norbert Greinacher: Die Kirche in der städtischen Gesellschaft (s.o. Anm. 30), S. 329. Karl-Wilhelm Dahm: Religiöse Kommunikation und kirchliche Institution, in: KarlWilhelm Dahm/Niklas Luhmann/Dieter Stoodt: Religion – System und Sozialisation, Darmstadt/Neuwied 1972, S. 133–188, 142. Jürgen Habermas: Legitimationsprobleme der Religion, in: Religionsgespräche. Zur gesellschaftlichen Rolle der Religion, hg. von Hans-Eckehard Bahr u.a., Darmstadt/Neuwied 1975, S. 9–31. Wolfgang Marhold: Gesellschaftliche Funktionen der Religion, in: Plädoyers in Sachen Religion, hg. von Wolf-Dieter Marsch, Gütersloh 1973, S. 77–93, 91.

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In der Perspektive eines solchen Einstellungssyndroms figuriert das kirchliche Wertsystem gleichsam als ein verläßlicher Kompaß zur Orientierung über jene Selbstverständlichkeiten, nach denen man sich im sozialen Umgang ethisch verhalten kann und muß. Es ist die operative Grundlage desjenigen Alltagsverhaltens, das als allgemein moralisches durch staatliche Gesetze und behördliche Anordnungen ebensowenig mehr erfaßt wird wie durch empirisches Wissen oder intellektuelle Bildung, die beide für eine bewußte Handlungsführung wohl notwendig sind, realiter aber jeweils nur fragmentarisch zur Verfügung stehen. Als „kognitive Bedeutungsinvestition“46 bei ergänzungsbedürftigen sozialen Handlungserfordernissen findet sich kirchliche Dogmatik in der Sicht dieser Erwartungshaltung weitgehend nur noch als Restbestand, gleichsam lediglich als „Abrundung des kognitiven (Weltanschauungs-)Systems“ konserviert, ist selbst ansonsten aber immer mehr „ethisiert“, mithin auf die Kodizes normal sittlichen Verhaltens beschränkt: So ist gerade „die theologisch unbefriedigende Situation der Kirche . . . die Voraussetzung ihrer (auch von „Kirchenfernen“ akzeptierten) Integration in die moderne Gesellschaft“47 und damit eben auch Inbegriff jener funktionalen Sozialisationsleistung, die sich in „der normativen Integration des Individuums in die Gesellschaft“ vollzieht.48 Eine solche Sicht erlaubt es schließlich, auch bei verbreiteter Distanz zum kirchlichen Wert- und Glaubensdepot von einer verhaltensorientierenden Kultur- oder Zivilreligiosität zu sprechen,49 die in ihren inhaltlichen Grundzügen wohl vorwiegend noch von den Kirchen in der einen oder anderen Weise präfiguriert wird, sich zugleich aber auch strukturfunktionalistisch als „funktionale Äquivalente“ durchaus im supponierten Integrationsprozeß einer Gesellschaft veranschlagen läßt: „Integration ist die Funktion der Religion. Umgekehrt: wo diese Funktion der Integration wirklich erfüllt wird, 46

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Friedrich H. Tenbruck: Geschichtserfahrung und Religion in der heutigen Gesellschaft, in: Friedrich H. Tenbruck u. a.: Spricht Gott in der Geschichte?, Freiburg i.B. 1972, S. 9–19. Günter Kehrer: Das religiöse Bewußtsein des Industriearbeiters. Eine empirische Studie, München 1967, S. 193. Günter Kehrer: Religionssoziologie, Berlin 1968, S. 130. Vgl. hierzu Peter L. Berger: Kirche ohne Auftrag. Am Beispiel Amerikas, Stuttgart 1962. – Günter Kehrer: Das religiöse Bewußtsein des Industriearbeiters (s.o. Anm. 47). – Wolfgang Marhold: Gesellschaftliche Funktionen der Religion (s.o. Anm. 45). – Dieter Stoodt: Religiöse Sozialisation und emanzipiertes Ich, in: Religion – System und Sozialisation (s.o. Anm. 43), S. 189–230. – Hans-Otto Wölber: Religion ohne Entscheidung. Volkskirche am Beispiel der jungen Generation, Göttingen 1959.

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muß der Soziologe von Religion sprechen, auch bei säkularen Ideologien und Riten“50. Lapidarer noch hat O. Schreuder im Hinblick auf die soziale Integration durch Religion formuliert: „Religion ist das, was die Funktionen der Religion erfüllt“51: nämlich die 97 normative Stabilisierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts durch eine institutionelle Bereitstellung, Legitimation und Vermittlung grundlegender Sinnorientierungsthemen. (3) Soziale Kompensationschancen im kirchlichen Raum52 Wurden in der kirchlichen Sozialforschung mit den Funktionsbestimmungen der Sozialisation und Legitimierung jeweils die präventiven bzw. perennierenden Aspekte religiöser Integration beschrieben, soweit sie faktisch die Kirchen in einer Gesellschaft wahrnehmen, so werden in den kirchlichen Kompensationsleistungen die restitutiven Seiten sozial religiöser Integration thematisiert, die einst Parsons als allgemeine Resozialisationseffekte von Religion bezeichnet und in denen vorher schon Max Weber unter dem Problemtitel der Bewältigung der Theodizeefrage die Grundfunktion aller religiösen Wirkungsweise ausfindig gemacht hatte: „In irgendeiner Fassung gehört das Problem überall mit zu den Bestimmungsgründen der religiösen Entwicklung . . . “53. In unterschiedlichen Bezugsgesichtspunkten bot sich das Problem religiöser Kompensationschancen der kirchlichen Sozialforschung nach 1945 hauptsächlich in dreifacher Fassung dar: Bezogen auf die denkbaren Möglichkeitsbedingungen gesellschaftlicher Desintegration fungiert Religion in ihrer organisierten Kirchengestalt zunächst als diffuses Auffangbecken des sozial noch ungeregelten Zuregelnden. Besonders in ihren subsidiär wahrgenommenen Leistungen der Diakonie erscheinen die Kirchen als weithin akzeptierte Instanzen einer „Organi-

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Otto Heinrich von der Gablentz: Die anthropologischen Voraussetzungen soziologischer Grundbegriffe, Berlin 1960, S. 11. – Vgl. auch Ders.: Religion, in: Wörterbuch der Soziologie, hg. von Wilhelm Bernsdorf u.a., Stuttgart 1955, S. 414–419. Osmund Schreuder: Die strukturell-funktionale Theorie und die Religionssoziologie (s.o. Anm. 5), S. 130. Vgl. hierzu M. Rainer Lepsius: Gesellschaftsanalyse und Sinngebungszwang, in: Soziologie. René König zum 65. Geburtstag, hg. von Günter Albrecht u.a., Opladen 1973, S. 105–116. – Helge Lindinger: Über die psychologische Funktion der Religion in der gegenwärtigen Gesellschaftsstruktur, in: ARPs 11 (1975), S.173–183. – Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1977, S. 117–129. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft, Band 2, Studienausgabe Tübingen 1964, S. 404.

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sation für das noch nicht Organisierte“54 und kompensieren damit, was gesellschaftlicher Lösungsmuster weitgehend noch entbehrt. Sie tragen damit der Sachlage Rechnung, daß es in einer jeden Gesellschaft bestimmte kritische soziale Phänomene gibt, die in den vorgegebenen organisatorischen Schemata nicht gelöst werden können oder prinzipiell nicht lösbar sind, so daß sich Kirchen als eine Art „Sozialtechnik im herrschaftsfreien Bereich der Gesellschaft“ durchaus funktional einnisten können.55 Daß sie dies zum anderen in der Tat auch realisieren, zeigt sich an dem empirischen Umstand, daß in der Kirche „nur noch diejenigen ‘erfaßt’ werden (können), die durch ihre eigene Lebensgeschichte und durch ihre soziale Lage selbst zu Randsiedlern der Gesellschaft geworden sind. Es sammeln sich wie etwa nach dem Kriege die Flüchtlinge, es sammeln sich die Einsamen, die Pensionierten, die Älteren, die noch nicht in die Berufsaufgabe und das Familienleben eingebundene Jugend, aber eben nicht diejenigen Menschen, die mit der vollen Lebensaufgabe in der gegenwärtigen Gesellschaft, mit Arbeit und Kindererziehung in der altersmäßigen Mitte belastet sind. Die desintegrierte Kirche ist mit den Desintegrierten der Gesellschaft eine Ehe eingegangen . . . “56 und ist gerade darum in der Lage, „die Möglichkeit einer Selbstwertbestätigung unabhängig von den Maßstäben der gegenwärtigen Gesellschaft entweder als Medium einer Rückbesinnung oder aufgrund ihres Selbstverständnisses als Gemeinschaft der Heiligen“ zu bieten.57 Jedenfalls vermögen die Kirchen in bereits faktisch eingetretenen Fällen gesellschaftlicher Desintegration nach wie vor als institutionalisierte Plattform einer „Krisenbewältigung durch Wandel zur Frömmigkeit“ zu fungieren;58 und eben diese Marginalität ist keineswegs auch ein Symptom ihrer sozialen Funktions- oder Bedeutungslosigkeit; im Gegenteil: „Die Vergreisung der aktiven Kirchengemeinde (etwa) ist . . . kein Indiz für die Randsituation der Kirche, sondern eher für ihre soziale Relevanz“59. Schließlich erfüllt die organisierte Religion in Gestalt der Kirchen auch in Fällen virtueller Desintegrationsanfälligkeit, also in absehbaren Lebenskrisen eines jeden einzelnen, eine kompensatorische Funktion. Durch die

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59

Günter Kehrer: Religionssoziologie (s.o. Anm. 48), S. 130. Ebd., S. 129. Hans-Otto Wölber: Religion ohne Entscheidung (s.o. Anm. 49), S. 128. Reinhard Köster: Die Kirchentreuen (s.o. Anm. 41), S. 108. Volker Drehsen: Krisenbewältigung durch Wandel zur Frömmigkeit. Die Evangelisation Werner Heukelbachs als soziologische Fallstudie, in: WzM 26 (1974), S. 49– 63. Günter Kehrer: Religionssoziologie (s.o. Anm. 48), S. 130.

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Bereitstellung von „Passageriten“60, die die Kirche durch ihre Amtshandlungen vollzieht, regelt sie die „helfende Begleitung in Krisensituationen und an Knotenpunkten des Lebens“61. Und tatsäch 98lich besteht denn auch nach wie vor eine „verbreitete Nachfrage nach Religion und Kirche, zumindest als Nachfrage nach religiösen Riten bei den Lebenswenden“62. Hier scheint sich für die Mehrzahl der volkskirchlichen Mitgliedschaft geradezu die dominante Manifestationsform von Kirchenzugehörigkeit darzubieten.63 Denn: „Offenbar kristallisieren sich an volkskirchliche Kasualien fundamentalanthropologische Interessen an der Kontinuität und Konsistenz der je eigenen biographischen Identitätsgewinnung“64, die durch „Einbruchstellen unbestimmbarer Möglichkeiten“65, durch Geburt, Adoleszenz, Heirat und Tod von allein, jeweils absehbar bedroht erscheint. Darum wird gerade an diesen Stellen der Religion „die Funktion angesonnen, Frustrationen aufzufangen und Sinn zu konstruieren“66. Befragt man die hier dargestellten Hauptergebnisse der kirchlichen Sozialforschung zur Funktionsbestimmung kirchlich organisierter Religion auf ihre Affinität zum Strukturfunktionalismus hin, so läßt sich als Fazit ziehen: Hier wurde teilweise mit aufwendiger empirischer Akribie, freilich weitgehend ohne direkten theoretisch-interpretativen Bezug auf die strukturellfunktionale Analyse Talcott Parsons’ ein Bild von dessen zentraler Integrationsthese gezeichnet, das sich nach präventiven, perennierenden und restitutiven Dimensionen hin vielfältig differenziert. Die an organisierter Kirchlichkeit abgespiegelten Sozialisations-, Legitimations- und Kompensa60 61

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Arnold van Gennep: Les rites de passage, Paris 1909. Karl-Wilhelm Dahm: Beruf: Pfarrer. Empirische Aspekte zur Funktion von Kirche und Religion in unserer Gesellschaft, München 1971, S. 306. Paul M. Zulehner: Heirat – Geburt – Tod. Eine Pastoral zu den Lebenswenden, Freiburg i.B. 1976, S. 231. Trutz Rendtorff: Die soziale Struktur der Gemeinde (s.o. Anm. 30), S. 71–81. – Yorick Spiegel: Gesellschaftliche Bedürfnisse und theologische Normen. Versuch einer Theorie der Amtshandlungen, in: ThPr 6 (1971), S. 213–232. – Wie stabil ist die Kirche? Bestand und Erneuerung, Ergebnisse einer Meinungsumfrage, hg. von Helmut Hild, Gelnhausen 1974, S. 233–241. – Joachim Matthes: Volkskirchliche Amtshandlungen. Lebenszyklus und Lebensgeschichte, in: Erneuerung der Kirche – Stabilität als Chance, hg. von Joachim Matthes, Gelnhausen 1975, S. 83–112. Volker Drehsen: Die „Heiligung“ von Lebensgeschichten, in: PThI 2 (1981), S. 101–139, S. 118. Niklas Luhmann: Religion als System. Religiöse Dogmatik und gesellschaftliche Evolution, in: Religion – System und Sozialisation (s.o. Anm. 43), S. 11–132, 50. Wolfgang Marhold: Gesellschaftliche Funktionen der Religion (s.o. Anm. 45), S. 92.

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tionsfunktionen von Religion entsprechen den von Parsons theoretisch als „funktionale Vorbedingungen sozialer Systeme“ postulierten Funktionsbestimmungen der Enkulturation, Sakralisierung und Resozialisation auf der Grundlage eines normativen Wertsystems als allgemeingesellschaftlicher Integrationsbasis. 2.2 Doch nicht nur in den beschriebenen Denk- und Erklärungsfiguren besteht eine latente Affinität der kirchlichen Sozialforschung in der BRD und dem amerikanischen Strukturfunktionalismus. Vielmehr lag auch in den spezifischen Motiv- und Interessenslagen eine Strukturähnlichkeit vor. Hatte Parsons in gesamtgesellschaftlicher Perspektive die religiöse Integrationsfunktion vornehmlich „zustandsbezogen“ an der vorgegebenen und erforderlichen Struktur- bzw. Systemerhaltung des sozialen Gleichgewichts orientiert, so kam auch in der kirchlichen Sozialforschung ein ähnlich konservatives Interesse zum Ausdruck: Es war das kirchliche Stabilisierungsinteresse, das sich in der Kirchensoziologie auf empirische Füße gestellt sah67 – praktisch 67

Im Anschluß an Joachim Matthes: Religion und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 1, Reinbek 1967 und Thomas Luckmann: Sammelbesprechung zur Religionssoziologie, in: KZSS 12 (1960), S. 315–326 sowie Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Institution, Person und Weltanschauung, Freiburg i.B. 1963 referiert Raban Tilmann: Sozialer und religiöser Wandel (s.o. Anm. 9), S. 58 deren Kritik an der strukturfunktionalistisch orientierten Kirchensoziologie: „In der Akzeptierung der vorgefundenen Institutionen wirke die Theorie zutiefst konservativ . . . Obwohl sich einige gegen die Worte ‚Integrationssoziologie‘ und ,Institutionssoziologie’ wehrten, sei die Theorie einseitig am Problem der Integration, des Konsens, der Ordnung interessiert . . . Darum könne diese Theorie den sozio-religiösen Wandel nur als Strukturwandel begreifen, als Organisationsreform zum besseren Funktionieren religiöser Institutionen.“ Pointierter noch urteilt Heinrich Ludwig: Die Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung (s.o. Anm. 9), S. 47: „Die strukturell-funktionalen Elemente haben bezüglich innerkirchlicher Strukturprobleme restaurierende, konservierende und therapeutische Funktion“. Vgl. hierzu auch Hans Bosse: Anpassung. Zu einem Thema der modernen Religionssoziologie, in: IJRS 7 (1971), S. 95–104. – Das praktische Erkenntnisinteresse einer funktionalistischen Kirchentheorie ist dann später, wenngleich mit wesentlich kritischer Akzentuierung aufgenommen worden von Klaus Ahlheim: Verharren im status quo? Eine Kritik der funktionalen Theorie kirchlichen Handelns, in: WPKG 63 (1974), S. 363–373. – Hans-Eckehard Bahr: Vorwort zu: Religion – System und Sozialisation (s.o. Anm. 43), S. 7–9. – HansEckehard Bahr: Religion 1, Religion 2, in: WPKG 63 (1974), S. 280–288. – Religionsgespräche (s.o. Anm. 44). – Karl-Wilhelm Dahm: Beruf: Pfarrer (s.o. Anm. 61). – Karl-Wilhelm Dahm: „Funktionale Theorie“ und kirchliche Praxis. Zum Verarbeitungsprozeß von sozialwissenschaftlichen Theoriefragmenten in gesellschaftlichen

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ausgerichtet auf pastorale Handlungsanweisungen und Orientierungsdaten, konservierend an kirchlicher Bestandserhaltung interessiert und in ihrem Elan gespeist aus der „vorwissenschaftlichen Erwartung“, „durch zwingende Verfahren eine akkumulative Theorie“ der Religion „aufzubauen, welche die realen Gesetze und Zusammenhänge in jedem Fall eindeutig zu ermitteln und evtl. die . . . (kirchlichen) Probleme vollständig 99 zu lösen in der Lage sein werde, ja nahezu bereits in der Lage sei“68. Daß so die Kirchensoziologie „in erster Linie als ein Vorgang der Rezeption soziologischer Begriffe und Methoden im Umkreis des kirchlichen Interesses angesiedelt werden“ kann,69 erklärt nicht nur die Latenz der konservativen Gesinnungsverwandtschaft zwischen kirchlicher Sozialforschung und soziologischem Strukturfunktionalismus, sondern auch den für eine selbstgenügsame Kirchensoziologie charakteristischen „Verlust an Reflexionskraft im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche )Relevanz von Religion und Kirche“70, die hingegen primär im Blickfeld des Strukturfunktionalismus lag. So lassen sich abschließend die latenten Berührungspunkte und untergründigen Affinitäten zwischen deutscher Kirchensoziologie und amerikanischem Strukturfunktionalismus zusammenfassen: Sie liegen (1) in der vorwiegend normativistisch-institutionellen Orientierung an sozial manifester Religiosität; (2) in der Annahme eines homöostatischen bzw. soziomorphrepräsentativen Ausgewogenheitsmodells, in dem jedwede Ungleichgewichtigkeit als Abweichung, als Devianz oder Defizienz, erscheinen mag; (3) in der Erhebung und der Erhellung der sozialreligiösen Funktionszuweisungen bzw. -erfordernisse; und schließlich (4) in der an Integration, Konsens und Ordnung orientierten „konservativen Schlagseite“71 des jeweiligen Forschungsinteresses.

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Institutionen, in: Recht und Gesellschaft. Festschrift für Helmut Schelsky, hg. von Friedrich Kaulbach/Werner Krawietz, Berlin 1978, S. 63–85. – Gert Otto: Praktische Theologie als kritische Theologie religiös vermittelter Praxis. Thesen zum Verständnis einer Formel, in: Praktische Theologie heute, hg. von Ferdinand Klostermann/Rolf Zerfaß, München/Mainz 1974, S. 195–205 und dem Seminarkollektiv Mainz: Religion und Funktionalismus, in: ThPr 8 (1973), S 82–92. Friedrich H. Tenbruck: Deutsche Soziologie im internationalen Kontext (s.o. Anm. 6), S. 87. Joachim Matthes: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft (s.o. Anm. 34), S. 79. Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 28), S. 16. Ralf Dahrendorf: Die angewandte Aufklärung (s.o Anm. 2), S. 148.

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3. Die kritische Auseinandersetzung mit der strukturfunktionalistischen Religionstheorie Die beschriebene Gestalt der Kirchensoziologie wurde seit Beginn der 1960er Jahre heftigst kritisiert. Das Hauptmotiv der Kritik bestand darin, die kirchliche Sozialforschung aus ihrer vorsoziologischen Interessenslage herauszulösen und sie damit ihrer bis dahin anhaftenden Marginalität in der Soziologie zu entkleiden. Ihr Programm war „die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologe“. Dieser Versuch sollte „sich also nur in der Weise kritisch mit der Kirchensoziologie befassen, daß er deren Bezugsrahmen im Sinne einer Religionssoziologie zu verändern und zu erweitern sucht“72. Doch obwohl man sich das Gelingen eines derartigen Unternehmens vornehmlich von einer Rückbesinnung der deutschen Religionssoziologie auf ihre „klassische“, durch Max Weber, Ernst Troeltsch und Georg Simmel repräsentierte Tradition erhoffte, fand 100 diese vielberufene Anknüpfung nicht statt. An dessen Stelle trat bald vielmehr eine eigentümliche Kontamination aus empirischer Sozialforschung, amerikanischer Strukturtheorie und (neo-) positivistischer Wissenschaftslehre, die insgesamt als Symptom einer solchen Internationalisierung auch der deutschen Religionssoziologie gelten konnte, in der dann zunehmend die amerikanische Soziologie vor allem der strukturell-funktionalen Analyse die Vorherrschaft errang.73 Zwei Umstände haben diese Dominanz gerade des Parsons’schen Ansatzes in der deutschen Soziologie besonders begründet. In ihm war zum einen eben jene theoretisch-epistemologische Aufladung zu finden, die man an einer nunmehr kritisch dem Verdikt des Theorieverzichts, der empirischen Blickverengung und des methodologischen Mangels unterstellten Kirchensoziologie vermißt hatte. Zum anderen aber versprach der Entwurf Parsons’ den Anschluß an das „klassische“ Erbe der Religionssoziologie, von dem man sich den Gewinn einer breiteren Thematik erhoffte.74 Denn weil „die Theorien von Durkheim, Weber und Freud . . . für Parsons zeitlebens ein 72

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Trutz Rendtorff: Zur Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie, in: IJRS 2 (1966), S. 51–72, 52. Friedrich H. Tenbruck: Deutsche Soziologie im internationalen Kontext (s.o. Anm. 6), S. 71. Heinrich Ludwig: Die Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung (s.o. Anm. 9), S. 45, charakterisiert das Bemühen um die Wiederanknüpfung der Religionssoziologie an ihr „klassisches“ Erbe zutreffend, wenn er schreibt: „Im amerikanischen Strukturfunktionalismus, der dem vorwiegend statischen kirchlichen Denken von seinem allgemeinen Ansatz her sehr entgegen kam, hatte man, vor allem

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Bezugssystem gebildet (haben), das der Selbstkontrolle diente“75, trugen seine Studien, wenngleich in nicht unproblematischer Weise „wesentlich dazu bei, Denktraditionen der europäischen Sozialwissenschaften in die außerordentliche Entfaltung der empirischen Sozialforschung in den Vereinigten Staaten seit den 30er Jahren zu integrieren und damit Kontinuität sozialwissenschaftlichen Denkens zu sichern“76. Es ist bezeichnend für die Szene der deutschen Religionssoziologie, daß sich die Rezeption dieses durch Parsons mit eigentümlichem Stempel versehenen Konglomerats aus „klassischem“ Erbe, empirischer Forschung und theoretischer Reflexion nicht unkritisch vollzogen hat. Die Phase der expliziten Auseinandersetzung mit der soziologischen Religionstheorie Parsons’ löst geradezu das Stadium der latenten Affinität zwischen Strukturfunktionalismus und Kirchensoziologie ab. Und die dabei zur Sprache gebrachten neuralgischen Punkte bildeten gleichsam die Ausbruchsstellen einer hernach konstruktiven Weiterentwicklung der strukturell-funktionalistischen Religionstheorie bis in die Gegenwart hinein. 3.1 Das Problem der Religionsdefinition77 Es gehört zu den zentralen Bestandteilen des struktur-funktionalistischen Credos, daß analytische Interessen strikt von ethischen zu trennen sind: Die präzise Entflechtung von theoretischen Sachaussagen und moralischen

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durch die Arbeiten Talcott Parsons, wieder an die religionssoziologischen Arbeiten von Weber und Durkheim anzuschließen versucht.“ Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns (s.o. Anm. 2), S. 298. Dietrich Rüschemeyer: Einleitung, in: Talcott Parsons: Beiträge zu soziologischen Theorien (s.o. Anm. 12), S. 9. – Freilich ist mittlerweile in der Soziologie die Skepsis darüber gewachsen, ob Parsons tatsächlich eine sachgemäße Tradierung der „klassischen“ Soziologen zu bieten vermag; vgl. hierzu am Beispiel der Parsons’schen Weber-Rezeption exemplarisch: Arnold Zingerle: Rezeption und Objektivität (s.o. Anm. 20), S. 28 ff. Vgl. hierzu insgesamt: Peter L. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Elemente einer soziologischen Theorie, Frankfurt a.M. 1973. – Peter L. Berger: Some Second Thoughts on Substantive Versus Functional Definition of Religion, in: JSSR 13 (1974), S. 125–133. – J. D. Nathan Grossman: On Peter L. Berger’s Definition of Religion, in: JSSR 14 (1975), S. 289–292. – Jan Lautwers/Karel Dobbelaere: Definition of Religion. A Sociological Critique, in: SC 20 (1973), S. 535– 551. – Niklas Luhmann: Funktion der Religion (s.o. Anm. 52), S. 10.45–47. – Pieter H. Vrijhof: Was ist Religionssoziologie? in: Probleme der Religionssoziologie (s.o. Anm. 30), S. 10–35. – Pieter H. Vrijhof: Methodologische Probleme der Religions-

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Werturteilen ist Ausdruck einer Intention, die auf Abkehr von „philosophi 101scher Spekulation“ und „ethischer Bewertung“ aus ist.78 Nicht Wesensverständnis oder Sollensvorstellungen, sondern die erkenntnistheoretisch ausweisbare Perspektive konstituiert den Gegenstand soziologischer Analyse und regelt damit den kontrollierbaren Zugang zur gesellschaftlichen Wirklichkeit. Mit dieser Prämisse verpflichtet sich der Strukturfunktionalismus von vornherein auf eine methodologische Abstinenz, in der die Entdogmatisierung des Religionsbegriffs betrieben wird: Das Verständnis von Religion kann sich für die Soziologie nicht aus den Ingredienzen des Selbstverständnisses derer aufbauen, die Religion haben, sondern muß sich auf überprüfbare Weise in distanzierter Begrifflichkeit aus einem allgemeinen Bezugsrahmen des sozialen Handelns rekonstruieren lassen. Diese Funktionalisierung der Religion hat einen für die Wissenschaft unerläßlichen Verlust an Unmittelbarkeit zur Folge, weil sie religiöses Erlebnis weder zum Ausdruck bringen noch von einer kritischen Gegenposition her in seiner Gültigkeit bestreiten kann, sondern Religiosität ausschließlich in ihrer gesellschaftlichen Relevanz und Bedeutung zum Thema erhebt. Der Unmittelbarkeitsverlust erbringt auf anderer Seite einen Relativierungsgewinn; denn es wird dadurch die Geltung von Religion erst eigentlich soziologisch bestimmbar und ist weder aus irgendeiner Ursprungsfrage heraus noch von dogmatisch-assertorischen Positionen her ableitbar. Hier liegt denn auch das Auslösemoment zu den zugespitzten Auseinandersetzungen um einen funktionalistischen oder substanziellen Religionsbegriff. a) Für die funktionalistische Betrachtungsweise gilt Religion als Inbegriff aller normativen Ideen und Praktiken, die gewissermaßen auf eine funktionale Regelung letzter Probleme menschlicher Existenz in einer Gesellschaft bezogen sind.79 Für die (soziologisch) substanzielle Richtung dagegen kann

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soziologie, in: IJRS 3 (1967), S. 31–50. – Andrew J. Weigert: Functional, Substantive or Political? in: JSSR 13 (1974), S. 483–486. René König: Soziologie (s.o. Anm. 14), S. 330. In dieser Perspektive betrachten vor allem Emile Durkheim, Talcott Parsons, John M. Yinger, Elizabeth Nottingham, Otto H. von der Gablentz und Thomas Luckmann die Religion. Im Grenzfall konvergiert diese Religionsauffassung insofern gegen einen gewissen Panfunktionalismus, als er auch solche Phänomene in die Analyse aufnimmt, die in einer Gesellschaft nicht unmittelbar als Religion verstanden werden und darum erst eigens soziologisch zu religiösen Phänomenen deklariert werden müssen. So faßt Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft (s.o. Anm. 67) auch Phänomene wie autonomistische Gruppen (Gruppendynamik), Familismus, Kindererziehung und Mechanismen individueller Bewußtseinserweiterung („Drogenszene“) unter den Begriff der Religion zusam-

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von Religion nur gesprochen werden, wenn spezifische Ausprägungen transzendenter Vorstellungen als letzte Legitimation von Wertideen und Praktiken im Religionsbegriff mit aufgenommen sind;80 denn erst dann lassen sich gültig etwa religiöse von quasi-religiösen Phänomenen unterscheiden, und erst dann kann eine analytische Trennschärfe des Religionsbegriffs erreicht werden, die durch bloße funktionalistische Subsumtion unter einen allgemeinen Gesellschaftsbegriff nur allzu leicht verloren geht.81 Entscheidend an dieser zweiten Position ist, daß sie primär nicht etwa auf eine Redogmatisierung des Religionsbegriffs spekuliert, sondern die Unterscheid-

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men. Friedrich H. Tenbruck: Die Glaubensgeschichte der Moderne, in: ZPol NF 23 (1976), S. 1–15 hat die Analyse funktionaler Äquivalente besonders auf politischideologische und szientifische Heilslehren ausgeweitet. So argumentieren z. B.: Kingsley Davis, William J. Goode, Thomas F. O’Dea und Peter L. Berger. Prima vista wäre auch Emile Durkheim: Les formes élémentaires de la vie religieuse. Le système totémique en Australie, Paris 1912, dt.: Frankfurt a.M. 1981 dieser Richtung zuzurechnen, weil auch er einen Bezug zum „Heiligen“ als Definitionselement der Religion ansieht. Doch erstens bezeichnet das Heilige bei Durkheim gewissermaßen mehr eine horizontal-diesseitige als eine vertikaltranszendente Kategorien, die sich vornehmlich aus einer Selbstabgrenzung der Religion als „heilige Gemeinschaft“ gegenüber der „profanen“ Gesellschaft ergibt. Und zweitens hat Durkheim selbst die anfängliche Dichotomisierung zwischen heiligem und profanem Bereich in seiner bekannten These von der Religion als Vergöttlichung der Gesellschaft teilweise wieder revoziert. Drittens schließlich wird bei der Beschreibung der „religion civile“ vollends deutlich, daß Durkheim den Transzendenzbezug für das soziologische Religionsverständnis nicht als Konstitutivum ansieht. Vgl. hierzu Volker Drehsen: Religion – der verborgene Zusammenhalt der Gesellschaft: Emile Durkheim und Georg Simmel, in: Das Jenseits der Gesellschaft (s.o. Anm. 5), S. 57–88; siehe oben S. 15–40. – Der „substantielle Funktionalismus“ von Günter Dux: Ursprung, Funktion und Gehalt der Religion, in: IJRS 8 (1973), S. 7–67 ist in diesem Zusammenhang eine etwas mißverständliche Selbstbezeichnung, da sich „Substanz“ hier nicht auf den Transzendenzbezug einer Religion bezieht, sondern deren geschichtliche und lebensweltliche Manifestationsformen bezeichnet. So erscheint im Strukturfunktionalismus vielfach die Strukturanalyse von vornherein als Präsumtive der spezifischen Funktionsbestimmungen von Religion und kann infolgedessen diese soziologisch nur sehr selektiv zur Geltung bringen: Religion wird zu einer Variablen des ihr apriori unterstellten funktionalen Erfordernisses, das sich seinerseits aus den strukturellen Notwendigkeiten der Gesellschaft ergibt. An dieser Stelle wird deutlich, daß sich Parsons’ Religionsbegriff nicht isoliert kritisieren läßt, ohne daß zugleich auch seine Gesellschaftstheorie insgesamt in Frage gestellt werden muß; vgl. hierzu Ingo Mörth: Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion (s.o. Anm. 22), S. 32–43.

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barkeit religiöser von anderen sozialen Phänomenen analytisch sichern will. Die Spannung zwischen einem funktionalistischen und einem substanziellen Religionsbegriff durchzieht also die strukturell-funktionalistische Analyse insgesamt und liegt einer Entscheidung für oder gegen sie keineswegs voraus. 102 b) Ein weiterer kritischer Aspekt ergibt sich in diesem Zusammenhang aus dem Umstand, daß mit der Funktionalisierung von Religion zwangsläufig auch eine abstrakte Formalisierung verbunden ist, die nicht selten auf Kosten der historischen Distinktheit ihres Gegenstandes geht: Die Wandelbarkeit der Religion selbst, ihre geschichtliche Variabilität, fällt durch die abstrakt-funktionalistische Formel hindurch. Der strukturell-funktionalen Analyse kann es allenfalls noch gelingen, innerhalb feststehender abstraktformaler Funktionen jeweils variierende Konkretionen von Religiosität aufzuspüren, nicht aber etwaige Veränderungen in den religiösen Funktionsweisen selbst zu registrieren, die sich aus ihren generativen Zusammenhängen in Kultur und Gesellschaft ergeben können. Die Zugrundelegung einer allgemeinen Funktionsformel von Religiosität tendiert bestenfalls auf „eine Soziologie historisch unbestimmter Religion“ hin,82 deren soziale Manifestationsformen dann nur noch zu illustrativen Zwecken in die soziologische Erklärung Eingang finden. c) Die Unschärfe eines abstrakten Religionsbegriffs hat schließlich auch einen Verlust an kontrollierbarer empirischer Relevanz zur Folge. Will die strukturell-funktionale Analyse ihre ursprüngliche Stoßrichtung beibehalten, nämlich regulative Theorie zur Anleitung empirischer Forschung zu sein, so ist sie zu forschungsstrategischen Entscheidungen gezwungen, die durchaus geeignet sind, in einen unentrinnbaren circulus vitiosus zu führen, sobald es den empirischen Bezugsrahmen abzustecken gilt: Entweder gestaltet sich die Operationalisierung in dem Maße schwierig, wie der Religionsbegriff allgemein angesetzt und beibehalten wird; unter der Voraussetzung der Abstraktheit des Begriffs kann Religiosität dann nur noch als Inbegriff jener Leistungen gefaßt werden, die der Religion vorgängig supponiert werden – mit der Folge, daß sich Religiosität empirisch-soziologisch dann nur noch schwer lokalisieren läßt. Oder aber die Abstraktheit des Religionsbegriffs wird auf forschungsstrategischem Wege zugunsten seiner Operationalisierung zunehmend herausgefiltert, was zugleich auch den Kontrolleffekt der Theorie zunehmend außer Kraft setzt und damit entgegen der ursprüngli82

Joachim Matthes: Religion und Gesellschaft (s.o. Anm. 67), S. 117.

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chen Absicht für unkontrollierte Einflüsse nicht-soziologischer Art Raum bleibt. So ist beispielsweise in der kirchensoziologischen Identifikation von Religiosität und Kirchlichkeit ein Fall gegeben, in dem eine abstrakt-formale theoretische Ausgangslage durch ihre Operationalisierung selbst ad absurdum geführt wurde – bis hin zu der Folge, daß nicht mehr die gesellschaftliche Funktionalität von Religion, sondern nur noch die soziale Leistung einer ihrer manifesten Gestalten, der Kirchen nämlich, zur Debatte stand. Im Mittelpunkt der theoretischen Erklärung steht dann eine partikulare 103 Religionsgestalt als Wirkung mehr oder weniger notwendiger gesellschaftlicher Erfordernisse, nicht aber die Religion in ihrer allgemeinen Begrifflichkeit als konstitutive Voraussetzung für Sozialität überhaupt. Die soziologische Theorie vermag dann nur noch schwer zu erklären, warum Religion ab origine ein soziales Faktum darstellen soll; sie gerinnt damit gleichsam unter der Hand zu einer bloß deskriptiven Theorie vorfindlicher Phänomene und ist bestenfalls zur Systematisierung von „ex-post-facto-Klassifikationen“ geeignet.83 Die Kritik an der strukturfunktionalistischen Definition von Religion hat also im wesentlichen drei Gefahrenquellen offengelegt, denen sich eine einseitig verallgemeinernde Anwendung ihres Begriffs ausgesetzt sieht: erstens die Gefahr einer soziologischen Entsubstanzialisierung von Religion, die zu einer selektiv reduzierten Betrachtungsweise führen kann, wenn der Religionsbegriff von einer präsumtiven allgemeinen Gesellschaftstheorie abhängig gemacht wird; zweitens die Gefahr einer abstrakt-logischen Formalisierung des Religionsbegriffs, in der die historische und kulturelle Variabilität und Vielgestaltigkeit religiöser Funktionsweisen ignoriert zu werden droht; drittens die Gefahr einer empirischen Positivierung von Religion, bei der außersoziologische Einflüsse theoretisch kaum mehr unter Kontrolle bleiben und sich damit zugleich auch der Theorieanspruch reduziert, der nicht mehr auf systematische Analyse sondern nur noch auf klassifizierende Deskription abzielt. Bis auf wenige Ausnahmen stellen nahezu alle weiteren Kritiken an der strukturfunktionalen Religionsbetrachtung nichts anderes als Variationen dieser grundlegenden Vorentscheidungen dar – und zwar angewandt auf die spezifischen Problemperspektiven der Funktionalität von Religion überhaupt und ihrer besonderen Bestimmbarkeit, der statischen oder dynami83

Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie (s.o. Anm. 2), S. 173. – Vgl. hierzu auch das Urteil Ingo Mörths: Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion (s.o. Anm. 22), S. 53: „Der Strukturfunktionalismus kann als Prototyp einer aporetischen ex-post-Abstraktion angesehen werden“.

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schen Sichtweise, des holistischen oder atomistischen Ansatzes sowie des universalen oder partikularen Vorkommens von Religion in Gesellschaft. 3.2 Die Behauptung der Funktionalität von Religion Daß der Religion soziologisch von vornherein eine allgemeine oder bestimmte Funktion zugeschrieben werden könne, wurde in der Kritik am Strukturfunktionalismus hauptsächlich unter drei Gesichtspunkten bestritten: a) Schon auf der Ebene logischer Begriffsbildung ist keineswegs ausgemacht, daß die bloße Wirklichkeit von religiösen Phänomenen bereits Rückschlüsse auf manifeste oder latente Funktionserfüllungen von Religion zuläßt.84 Daß sie, in welcher Gestalt auch immer, empirisch vorkommt, ist logisch kein hinreichender Grund, ihr auch zwingend eine Funktion zu 104 unterstellen. In der strukturell-funktionalen Analyse ergibt sich denn auch die Notwendigkeit dazu eher aus einer spezifischen Vorstellung von Gesellschaft, die der Religiosität als funktionales Erfordernis bedarf, ohne stringent nachweisen zu können, warum das in Frage stehende Erfordernis ausgerechnet durch Religion erfüllt wird. Der Strukturfunktionalismus behauptet vielmehr schlichtweg: Weil Religion in einer Gesellschaft vorkommt, muß sie notwendigerweise auch zu deren Bestand beitragen. Darin drückt sich nichts anderes als das positivistische Mißverständnis des ursprünglich bekämpften Evolutionismus aus – nun freilich unter umgekehrten Vorzeichen: Hatte der Evolutionismus ehemals das Vorkommen der Religion pejorativ als überflüssiges oder überholtes Relikt gedeutet, so wird sie nunmehr im Strukturfunktionalismus in einen notwendigen Bestandteil umgewandelt und neutralisiert in der besonderen Fassung eines Residualbegriffs, in dem die Bestandserhaltung der Gesellschaft zum Ausdruck kommen soll, die ansonsten als bedroht erscheine. In beiden Fällen stellt die Funktionsausdeutung die Folge aprioristischer Bestimmungen dar, die eher der logischen Folgerichtigkeit einer vorausliegenden gesellschaftstheoretischen Axiomatik als der analytischen Notwendigkeit des Gegenstandes selbst entspringen.85 Zumindest theoretisch ist denkbar, 84

85

Die Kritik an diesem Punkt hat im deutschsprachigen Raum vor allem Robert K. Merton rezipiert; vgl. in dieser Hinsicht: Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure, 2. Auflage, London 1957. – Ders.: Funktionale Analyse, in: Moderne amerikanische Soziologie (s.o. Anm. 2), S. 169–214. – Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Freiheit (s.o. Anm. 23), S. 112–115. So schreibt z. B. Günter Kehrer: Religionssoziologie, Berlin 1968, S. 126, daß es

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daß die in einer Gesellschaft vorkommende Religion auch a-funktional oder dys-funktional in Erscheinung tritt. b) War erst das logische Grundgerüst der Parsons’schen Religionstheorie auf diese Weise erschüttert, so mußte bald auch seine besondere empirische Bestimmung von Religion ins Wanken geraten. Denn unter dem Gesichtspunkt ihrer Funktionalität hatten Parsons u. a. Religion auf ihre gesellschaftliche Integrationsleistungen beschränkt. Religion kam bei ihm nur insoweit zur Geltung, als sie sozial integrierend wirkt, und umgekehrt kann alles als Religion bezeichnet werden, was integrative Funktionen erfüllt. Das aber stellt die Verallgemeinerung eines spezifischen Gesichtspunktes dar, in der zwar durchaus beobachtbare Tatbestände getroffen, andererseits aber auch solche Phänomene ausgespart werden, die der unterstellten Bestimmtheit der Integrationsfunktion geradezu entgegenlaufen. In dieser zweiten kritischen Fassung wird also nicht Funktionalität von Religion überhaupt gleichsam als logische Notwendigkeit der Gesellschaftsanalyse in Frage gestellt, sondern lediglich die Distinktheit der ihr nahezu exklusiv angesonnenen Funktionsweise bestritten, indem sowohl desintegrative Wirkungen von Religion, mithin ihre Multifunktionalität, als auch die Möglichkeit in Rechnung gestellt wird, daß gesellschaftliche Integration auf andere als religiöse Phänomene zurückzuführen ist.86 Für das soziologische Verständnis der Religion selbst hatte diese kriti 105sche Fassung weitreichende Konsequenzen. Mochte Religion partiell

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unter diesem Vorzeichen äußerst problematisch sei, „einen Tatbestand von seinen Funktionen her zu bestimmen und zu interpretieren“. Ähnlich urteilt auch René König: Soziologie (s.o. Anm. 14), S. 318: „Soziale Einrichtungen entspringen . . . zumeist nicht aus einer geistigen Antizipation ihrer Funktion; vielmehr besteht umgekehrt diese Funktion in vielen Fällen in der Erhaltung der strukturellen Voraussetzungen, aus denen sie erwachsen sind.“ So wirft beispielsweise Macly A. Thung: Soziologische Erwägungen zum Begriff „Funktion der Kirche“, in: Soziologie und Gesellschaft in den Niederlanden, hg. von Joachim Matthes, Neuwied/Berlin 1965, S. 367–388 die Frage auf, inwieweit die supponierte Integrationsleistung nicht auch auf andere als religiöse Phänomene zurückzuführen sei. Ähnlich fragt Pieter H. Vrijhof: Was ist Religionssoziologie? (s.o. Anm. 77), S. 23, „ob nun die integrierende Funktion definiert wird durch die Religion, oder die Religion durch die Integrationswirkung“. In gleicher Weise üben auch Volker Drehsen/Günter Kehrer: Religion – die logische Notwendigkeit der Gesellschaft: Bronislaw Malinowski und Talcott Parsons, in: Das Jenseits der Gesellschaft (s.o. Anm. 5), S. 180, Kritik vor allem an John M. Yinger: „Die Quintessenz seiner Untersuchung lautet formelartig: Religion kann nur dann sozial integrierend wirken, wenn die Gesellschaft bereits zu einem hohen Grade integriert ist . . .

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in einer Gesellschaft auch funktionieren, mochte sie unter begrenzten Gesichtspunkten auch die ihr unterstellte Funktion der Integration erfüllen, so kam doch andererseits auch ihr ambivalenter Charakter in den Blick, sobald die Gültigkeit von Funktionalität überhaupt wie auch einer besonderen Funktionsbestimmung in Frage gestellt war:87 Die theoretischen wie faktischen Möglichkeiten von Dysfunktionalität und Desintegration führten den Gesichtspunkt der Zwiespältigkeit religiöser Phänomene in die gesellschaftliche Analyse ein und kehrten deren Mehrdeutigkeit hervor, die in der strukturell-funktionalen Analyse nicht mehr gesichert, geschweige denn offengehalten schien. Gesellschaftliche Religiosität war mit ihrer Integrationskraft nicht mehr allein und ausschließlich verrechnet; sie konnte ebenso auch als soziale Schubkraft von Devianz und Subversion, von Protest und Rebellion, von Instabilität und Desintegration fungieren.88 3.3 Das Problem statischer oder dynamischer Betrachtung Die eben dargestellte Kritik, die sich an der Leitfrage allgemeiner wie besonderer Funktionalität von Religion orientiert, zielt hauptsächlich dahin,

87

88

Jedenfalls besagt die These Yingers im Ergebnis zunächst nicht sehr viel mehr, als daß die Funktion der Religion lediglich darin besteht, die bereits vorhandene Einheit der Gesellschaft quasi notariell zu bestätigen.“ In der Religionssoziologie wurde der Gesichtspunkt der ambivalenten Funktionen von Religion in ausdrücklicher Auseinandersetzung mit Parsons besonders betont von Hans-Eckehard Bahr: Religion 1, Religion 2 (s.o. Anm. 67). – Religionsgespräche. Zur gesellschaftlichen Rolle der Religion, hg. von Hans-Eckehard Bahr, Darmstadt/Neuwied 1975. – Peter L. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft (s.o. Anm. 77). – Wolfgang Marhold: Gesellschaftliche Funktionen der Religion (s.o. Anm. 45), S. 93, und Thomas F. O’Dea: Sociology and the Study of Religion. Theory, Research, Interpretation, New York/London 1970. Vgl. hierzu auch die skeptische Äußerung, die bereits Karl Mannheim zu diesem Thema niedergeschrieben hat: „Seit dem Anbruch der Renaissance und des Liberalismus hat das Christentum seine Aufgabe, zugleich Gärstoff und Synthese im sozialen Leben zu sein, nicht erfüllen können“ (Karl Mannheim: Diagnose unserer Zeit. Gedanken eines Soziologen, Zürich/Wien/Konstanz 1951, S. 140). Aufschlußreich in diesem Zusammenhang sind insbesondere die Weiterführungen Parsons’ durch Thomas F. O’Dea: The Sociology of Religion, Englewood Cliffs (N.J.) 1966. – Thomas F. O’Dea: Sociology and the Study of Religion. (s.o. Anm. 87), die auch in der deutschsprachigen Religionssoziologie vielfach rezipiert worden sind; vgl. in dieser Hinsicht vor allem: Volker Drehsen/Günter Kehrer: Religion – die logische Notwendigkeit der Gesellschaft: Bronislaw Malinowski und Talcott Parsons (s.o. Anm. 86).

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die Exklusivität und Einseitigkeit bestimmter Funktionszuschreibungen in Frage zu stellen. Für die soziologische Religionstheorie wurde dieser Widerspruch aber erst in dem Moment produktiv, als mit der Anmahnung von Desiderata auch konstruktive Neuansätze herausgebildet wurden, die sich punktuell oder als ganzes, immanent oder extern zum Strukturfunktionalismus im engeren Schulsinne als Alternative verhielten. Dies trat in drei Richtungen auf: in der Theorie sozialer Konflikte, in der Theorie des sozialen Wandels und schließlich in der Theorie komplexer Gesellschaften, in denen sich insgesamt der Akzent von einer mehr statischen zu einer vorwiegend dynamischen Sichtweise verschob. Daß in der strukturell-funktionalen Analyse Parsons’ die statische Sichtweise überwog, gehört zum gängigen Urteilsbestand der Soziologie: „Die gemachten Voraussetzungen engen das Erkenntnisfeld derartig ein, daß von ‚dynamischer Analyse‘ nicht die Rede sein kann“89, so lautet eine durchaus repräsentative Einschätzung, die sich zuweilen auch dahin zuspitzen konnte, daß sie den Strukturfunktionalismus prinzipiell für unfähig hielt, soziale Wandlungsprozesse angemessen erklären zu können. Stein des Anstoßes war dabei immer wieder insbesondere Parsons’ Gleichgewichtsannahme: das Postulat einer prekär ausbalancierten Isomorphie, in der die Systeme von Person, Kultur und Gesellschaft intrikat ineinander verschachtelt waren und deren homöostatisches Gleichgewicht stets erneut durch institutionalisierte 106 Funktionsprozesse aufrecht erhalten wurden. Etwaige Störungen in diesem System wurden lediglich als Devianz oder Anomie verbucht. a) War nun die zugrundeliegende Integrationsthese grundsätzlich bestritten, so konnte auch der soziale Konflikt in der Religionssoziologie thematisch werden.90 Hatte die Kritik an Parsons die Voraussetzung zunichte gemacht, die Funktionalität der Religion erschöpfe sich in Integration und habe gesellschaftliche Harmonie zur Folge, so stellt die Konflikttheorie hauptsächlich die Kehrseite dieser Annahme in Frage, daß Desintegration eine notwendige Folge sozialer Konflikte sei und nur als dysfunktionale Erscheinung verrechnet werden könne. Mit der Widerlegung dieser Kausalannahme wurde der Weg freigelegt, sowohl die integrierenden 89 90

Paul Kellermann: Kritik einer Soziologie der Ordnung (s.o. Anm. 2), S. 123. Vertreter dieser Sicht sind u. a.: Ralf Dahrendorf: Gesellschaft und Freiheit (s.o. Anm. 23). – Hans Dietrich Engelhardt: Zur Kritik der funktionalistischen Religionstheorie (s.o. Anm. 5). – Renate Mayntz: „Strukturell-funktionale Theorie“ (s.o. Anm. 2). – Raban Tilmann: Sozialer und religiöser Wandel (s.o. Anm. 9), S. 59 f. – Paul Drewe: Die strukturell-funktionale Theorie und der soziale Wandel, in: KZSS 18 (1966), S. 329–336.

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als auch desintegrierenden Wirkungen sozialer Konflikte als Movens geschichtlich-gesellschaftlicher Veränderungen zu analysieren. Gerade für die Religionssoziologie ist dies von entscheidender Bedeutung: Hat sie es doch in synchronischer Sicht vorwiegend mit zwei sozio-religiösen Konfliktklassen zu tun, die für die gesellschaftliche Integrationsproblematik von ausschlaggebender Bedeutung sind. Die eine Klasse umfaßt die Konflikte zwischen verschiedenen religiösen Gruppen und Konfessionen (religiöser Pluralismus), die andere die Konflikte zwischen explizit religiösen und explizit nicht-religiösen Gruppen (gesellschaftlicher Pluralismus).91 Beide Konfliktklassen spielen aber in der früheren Parsons’schen Religionstheorie ab ovo keine systematisch zentrale Rolle. b) Auch in historischer Hinsicht wurde dem Strukturfunktionalismus der Primat statischer Betrachtungsweise angekreidet. Parsons selbst hatte die Frage nach der Entstehung von Religion in dezidierter Abkehr von Spencer aus seinem Forschungsprogramm ausgeklammert. Die Kritik an Parsons warf nun die Frage auf, ob er damit nicht überhaupt auf die Möglichkeiten einer Theorie historisch-sozialen Wandels grundsätzlich verzichtet bzw. in seiner dynamisierten Fließgleichgewichtsannahme zwar abschließend, aber doch unbefriedigend aufgenommen hat:92 Eine soziologische Methode, die sich auf bloße Beziehungsanalysen beschränkt, kann freilich kaum noch erklären, wie es zu den spezifischen Konstellationen der von ihr analysierten Beziehung gekommen ist; sie muß zwangsläufig den historischen Aspekt 91

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Zum Problem des religiös-sozialen Pluralismus vgl. Peter L. Berger: Ein Marktmodell zur Analyse ökumenischer Prozesse, in: IJRS 1 (1965), S. 235–249. – Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Secularization and Pluralism, in: IJRS 2 (1966), S. 73– 86. – Hans Dietrich Engelhardt: Zur Kritik der funktionalistischen Religionstheorie (s.o. Anm. 5). – Joachim Matthes: Religionszugehörigkeit und Gesellschaftspolitik, in: IJRS 1 (1965), S. 43–68. – Joachim Matthes: Bemerkungen zur Säkularisierungsthese in der neueren Religionssoziologie, in: Probleme der Religionssoziologie (s.o. Anm. 30), S. 65–77. – Joachim Matthes: Religion und Gesellschaft (s.o. Anm. 28). – Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 28), S. 128–139. – Karl Dienst: Der Pluralismus der Säkularisierungskonzeptionen, in: JHKGV 21 (1971), S. 149– 176. So stellte Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie (s.o. Anm. 2), S. 146 bereits im Hinblick auf Malinowski allgemein fest, daß mit der schroffen Ablösung des Evolutionismus überhaupt die Geschichte als Erklärungshilfe in der funktionalen Analyse entfallen sei. Demgegenüber behauptet jedoch Günter Kehrer: Religion und sozialer Wandel. Die Anwendung eines handlungstheoretischen Modells, in: IJRS 7 (1971), S. 41, der Parsons’sche Religionsbegriff könne durchaus aus dem systemtheoretischen Äquilibriums-Ansatz herausgelöst werden und zur Erklärung

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stark vernachlässigen: „Das historische Material bleibt Illustration oder Ornament der Analyse gegenwärtig vorfindlicher Zustände“93. Eine solche Schwachstelle muß sich für die Religionssoziologie verheerend auswirken. Denn sie ist unter dieser Voraussetzung nicht mehr in der Lage, sowohl Symptome sozialer Desorganisation noch Indizien gesellschaftlicher Desintegration befriedigend zu erklären, also die weitverbreiteten Phänomene der Emigration in abseits des gesellschaftlich domi 107nanten Wertkonsens bereitgestellte Problemlösungsmuster wie Sekten, Veto-Gruppen und religiöse Subkulturen. Auch in dieser Hinsicht wirkt sich der Primat der Integrationsthese und ihrer Implikationen erkenntnishemmend aus. c) So meldet sich schließlich in zugespitzter Form noch einmal der Zweifel zu Wort, ob die Integrationsthese tatsächlich einen derart umfassenden systematischen Geltungsanspruch erheben kann, wie ihn ihr Parsons und andere Vertreter der strukturell-funktionalen Religionsanalyse zugedacht haben. Mit der zunehmenden Destruktion dieser Annahme schien insbesondere Robert K. Mertons Vermutung bestätigt, daß hier vielmehr eine bestimmte Vorstellung über Religion, die sich ursprünglich an schriftlosen Gesellschaften herausgebildet hat, auf die Religion allgemein und damit auch auf die Religiosität in sog. modernen säkularen Gesellschaften unbefragt übertragen wurde.94 Der Fehlschluß würde dann lauten: Mochte die Gesellschaft auch Metamorphosen erfahren und erlitten haben, die ihren Charakter im Laufe der Zeit wandelten, so konnte auf anderer Seite die Religion doch ihren gleichbleibenden Wesenszug beibehalten, konstant Integrations-

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religiös-sozialen Wandels beitragen. Kehrer selbst sucht diese Behauptung plausibel zu machen, indem er Parsons’ Religionskonzept mit der Zollschan’schen Theorie sozialen Wandels synthetisiert. Tatsächlich haben nahezu alle Schüler Parsons’ gerade an diesem Problem des sozialen Wandels weiterzuarbeiten versucht; vgl. dazu vor allem: Robert N. Bellah: Beyond Belief. Essays on Religion in a Post-Traditional World, New York 1970. – Thomas F. O’Dea: Sociology and the Study of Religion (s.o. Anm. 87). – Thomas F. O’Dea: The Sociology of Religion (s.o. Anm. 88). – John M. Yinger: Toward a Theory of Religion and Social Change, in: IJRS 7 (1971), S. 7–30. – Parsons selbst ist in späterer Zeit von dieser Argumentation nicht unbeeindruckt geblieben (vgl. z. B. Talcott Parsons: Christianity and Modern Industrial Society [s.o. Anm. 27]. – Talcott Parsons: Die Entstehung der Theorie des sozialen Systems [s.o. Anm. 24]). Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 28), S. 19. Vgl. Robert K. Merton: Social Theory and Social Structure (s.o. Anm. 84). – Robert K. Merton: Funktionale Analyse (s.o. Anm. 84). – Eine ähnliche Richtung schlägt auch die Kritik von Edward E. Evans-Pritchard: Theorien über primitive Religion, Frankfurt a.M. 1968, S. 14 gegenüber dem Strukturfunktionalismus ein.

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kraft eben dieser sich wandelnden Gesellschaft zu sein. Mit der Kritik an dieser Annahme erreichte der Widerspruch gegen die strukturfunktionalistische Analyse eine gewisse Zuspitzung: War die zentrale Integrationsannahme bereits durch die Konflikttheorie außer Kraft gesetzt, und hatte die Theorie sozialen Wandels die historische Ignoranz hinsichtlich der Gesellschaft moniert, so trat nun in der Theorie komplexer Gesellschaften die Wandlungsträchtigkeit der Religion selbst in den Mittelpunkt und machte von vornherein jede Hoffnung der Soziologie zunichte, die gesamten Phänomene der Religion einer allgemeingültig bestimmten Funktionszuweisung zu subsumieren. An dessen Stelle trat vielmehr die Nötigung einer differenzierten Analyse derjenigen komplexen gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen jeweils distinkte religiöse Phänomene verschiedene Funktionen erfüllen oder auch nicht erfüllen.95 Damit wird die soziologische Bedingungsanalyse ihrerseits zur Voraussetzung, unter der sich etwaige Funktionsweisen von Religion bestimmen und ihre Veränderungen erst analysieren lassen. 3.4 Das Problem holistischer oder atomistischer Perspektive Das Verhältnis von System und sozialem Handeln stellt einen weiteren Anlaß zur Kritik am Strukturfunktionalismus dar. Hier wird mit anderen Akzenten sozusagen die horizontale Spielart derjenigen Probleme noch einmal deutlich, die bereits unter dem Titel „Dynamik versus Statik“ durchdekliniert worden sind. Doch steht mehr als eine bloße Nuance auf dem Spiel; 108 denn es geht um nicht weniger als um die Verdinglichungsgefahr einer soziologischen Gesellschaftstheorie. An keinem anderen Punkt schwingt folglich wie hier der Verdacht von Pejoration im Hintergrund.96 Es werden an dieser Stelle gleichsam die Konsequenzen des ursprünglichen Ansatzes Parsons’ eingeklagt, die er bei fortschreitendem Übergang zu einer 95

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Vgl. hierzu Günter Dux: Ursprung, Funktion und Gehalt der Religion (s.o. Anm. 80). – Hans Dietrich Engelhardt: Zur Kritik der funktionalistischen Religionstheorie (s.o. Anm. 5). – Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft (s.o. Anm. 67). – Heinrich Ludwig: Die Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung (s.o. Anm. 9). – Niklas Luhmann: Religion als System (s.o. Anm. 65), S. 11–13. An keinem anderen Punkt wie an diesem hat sich denn auch die Kritik am Strukturfunktionalismus so dezidiert als Alternative in Szene gesetzt; vgl. hierzu etwa: Jürgen Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften. Beiheft 5 zur Philosophischen Rundschau, Tübingen 1967. – Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie (s.o. Anm. 2). – Ingo Mörth: Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion (s.o. Anm. 22). – John Rex: Grundprobleme der soziologischen Theorie, Freiburg i.B.

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Systemtheorie hinter sich zu lassen drohte. War ursprünglich das Begriffspaar „Handelnder – Situation“ so etwas wie die Protozelle von Gesellschaft, bei der soziologische Theoriebildung ihren Auftakt nahm, so kehrte sich das Verhältnis allmählich um, je mehr die Determinationsfaktoren der Situation als Ingredienzen sozialer Systeme in den Vordergrund rückten: Die Strukturanalyse verdrängt zusehends die Erhellung sozialen Handelns, ja macht „die Annahme eines handelnden Subjekts“ überhaupt überflüssig.97 Nicht sind es die Handlungen, die Institutionen erst eigentlich konstituieren, sondern die Institutionen erscheinen umgekehrt als Determinanten des jeweiligen Handelns.98 Das sich selbst regulierende überindividuelle System mit seiner Subjekt-entzogenen Notwendigkeit steht dem intentionalen Handeln der Individuen gegenüber. In dieser Fluchtlinie war es nur konsequent, wenn der Rollenbegriff in der strukturfunktionalistischen Handlungstheorie eine ungleich gewichtigere Bedeutung einnahm als irgendein zudem immer auch philosophisch angehauchtes Subjektverständnis. Und zugleich witterte die Kritik an Parsons hierhinter mehr als nur ein Nomenklaturproblem: Letzten Endes geht es um das Menschenbild, das der Theorie selbst zugrunde liegt.99 Ist der sozial Handelnde – wie die Kritik bei Parsons moniert –

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1970. – Trutz Rendtorff: Gesellschaft ohne Religion? Theologische Aspekte einer sozialtheoretischen Kontroverse (Luhmann/Habermas), München 1975. – Zur Theorie der Institution, hg. von Helmut Schelsky, Düsseldorf 1970. Jürgen Habermas: Zur Logik der Sozialwissenschaften (s.o. Anm. 96), S. 82. Friedrich Jonas: Geschichte der Soziologie (s.o. Anm. 2), S. 143–178, führt die Polarität der Sichtweisen vor allem auf John Locke und Thomas Hobbes zurück: Für Locke konstituiert sich ein System aus den ihm zugrunde liegenden Handlungen; im Unterschied dazu stellt sich bei Hobbes das Ordnungsproblem so, daß nach jener Beschaffenheit von Handlungen gefragt wird, die die Selbständigkeit des betreffenden Systems garantieren. Es ist offensichtlich, daß sich hier eine alternative Sicht vorzeichnet, die im Rahmen der strukturfunktionalistischen Schule der Differenz zwischen Georg Simmel und Max Weber einerseits sowie Emile Durkheim und Vilfredo Pareto andererseits vielfach entspricht. Ausdrücklich auf die Religionstheorie Parsons’ bezogen meldete hier als einer der ersten Thomas F. O’Dea Kritik an; vgl. Thomas F. O’Dea: The Sociology of Religion (s.o. Anm. 88). – Thomas F. O’Dea: Sociology and the Study of Religion (s.o. Anm. 87). – In der deutschen Soziologie hat sich die Diskussion vor allem innerhalb der Rollentheorie vollzogen und ist von dorther in die Religionssoziologie eingegangen; vgl. hierzu Ralf Dahrendorf: Homo Sociologicus. Ein Versuch zur Geschichte, Bedeutung und Kritik der Kategorie der sozialen Rolle, 9. Auflage, Köln/Opladen 1970 (zuerst: KZSS 10 [1958], S. 178–208.345–378). – Hans P. Dreitzel: Das gesellschaftliche Leiden und das Leiden an der Gesellschaft. Vorstudien zu einer Pathologie des Rollenverhaltens, Stuttgart 1968. – Uta Gerhardt: Rollenanalyse als kritische

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nur ein Inhaber von Positionen, die sich nach Rechten und Pflichten definieren lassen, und spielt er infolgedessen nicht mehr als eine soziale Rolle, so laboriert die Soziologie mit einem positivistisch halbierten Menschen, der aus bloß adaptiven Interessen besteht und dessen Handeln sich instrumentellmanipulativ in vorfindlichen Zweck-Mittel-Relationen vollzieht. Faßt man hingegen elementaristischer den Handelnden als ein intentionales Wesen auf, so finden auch seine emanzipatorischen Interessen Berücksichtigung, die sich erst in Mittel enthobenem und selbstzweckdienlichem, in expressivem und kommunikativem Handeln erfüllen. Die Folgen dieser alternativen Sicht liegen für das Religionsverständnis auf der Hand: Im einen Falle erscheint Religiosität als Grenzbegriff oder Residualkategorie des Rollenverständnisses; Religion ist so etwas wie die Hintergrundgarantie für geregelte Rollenerfüllung oder Generalprävention gegen die Gefahr, aus der Rolle zu fallen. Auf der anderen Seite wird Persönlichkeit genuin religiös definiert als Träger dessen, was in Rollendefinitionen nicht aufgeht, ja deren gesamten Sinn u. U. von Grund auf neu definie 109ren kann.100 Auch ist es einsichtig, daß das Problem – je nachdem an welcher Stelle der Theorieeinsatz erfolgt – unmittelbare Konsequenzen für die Verhältnisbestimmung von Individuum und Institution zeitigt.101 Insgesamt kann man sagen, daß sich die Kritik an Parsons vornehmlich an den

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Soziologie. Ein konzeptueller Rahmen zur empirischen und methodologischen Begründung einer Theorie der Vergesellschaftung, Neuwied/Berlin 1971. – Judith Janoska-Bendl: Probleme der Freiheit in der Rollenanalyse, in: KZSS 14 (1962), S. 459–475. – Heinrich Popitz: Der Begriff der sozialen Rolle als Element der soziologischen Theorie, Tübingen 1967. – Friedrich H. Tenbruck: Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, in: KZSS 13 (1961), S. 1–40. – Friedrich H. Tenbruck: Geschichtserfahrung und Religion in der heutigen Gesellschaft (s.o. Anm. 46). Gábor Kiss: Einführung in die soziologischen Theorien (s.o. Anm. 2), S. 206 schreibt hierzu – die Kritik an Parsons an diesem Punkte zusammenfassend –: Es bleibt im Strukturfunktionalismus unklar, „in welchem Maße endogen bedingte kulturelle Innovationen von der Zufälligkeit der Wirkung von Persönlichkeiten und historischen Konstellationen abhängig gemacht werden, bzw. welche konkreten Umstände charismatische Persönlichkeiten veranlassen, ‚die Änderung in der Definition des Lebenssinns‘ herbeizuführen und welche konkreten Beziehungen zwischen den neuen Sollvorstellungen und den realen Gegebenheiten bestehen“. Zur Institutionendebatte in Hinblick auf die Religion vgl. Wolf-Dieter Marsch: Institution im Übergang. Evangelische Kirche zwischen Tradition und Reform, Göttingen 1970. – Guy W. Rammenzweig: Kirche zwischen Bürokratie und Demokratie. Kommunikations- und Entscheidungsprozesse, Stuttgart 1975. – Trutz Rendtorff: Das Problem der Institutionen in der neueren Christentumsgeschichte, in: Zur Theorie der Institution (s.o. Anm. 96), S. 141–153. – Dietrich Rössler: Die Vernunft

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„Mängeln in der theoretischen Vermittlung zwischen dynamischen Handlungsprozessen und institutionalisierten Strukturmustern“102 entzündet und gegenüber der vermeintlichen Objektivität und stabilen Verbindlichkeit sozialer Systeme die emanzipatorisch-innovative Spontanität von Gruppen und einzelnen Personen in Anschlag bringt. 3.5 Das Problem universalen oder partikularen Vorkommens von Religion Schließlich zählte die Universalität von Religion zu den zentralen Axiomen der strukturell-funktionalen Theorie.103 Auch diese Annahme verdankt sich ursprünglich einer polemischen Akzentsetzung gegen jede Richtung, die Religion von einer kognitivistischen Gegenposition her bestritt und als überkommenes Relikt denunzierte. Demgegenüber waren sich Durkheim, Malinowski, Parsons und andere Strukturfunktionalisten einig, daß der Religion universale Geltung zukomme und daß sie von gesellschaftlichen Entwicklungen zwar mehr oder weniger transformiert, nicht aber völlig aus dem Weg geräumt werden könne. Die Art jedoch, wie die Ubiquität der Religion in verschiedenen Entwürfen begründet wurde, rief vehemente Kritik hervor. Auch hierbei kamen Alternativen zur Geltung, die durchaus geeignet waren, gleichsam einen purifizierten Strukturfunktionalismus in sich aufzunehmen. Ein Purgatorium war in der Tat dringend. Denn der Strukturfunktionalismus begründete seine Universalitätsannahme nicht nur damit, daß er auf das ubiquitäre Vorkommen von Religion schlechthin verwies, sondern machte darüber hinaus auch logische Notwendigkeit geltend. Dies gelang ihm aber meist nur durch die Einführung von kausalen Hilfskonstruktionen: Bei Malinowski übernahm die Bedürfnisanalyse der Religion diese Rolle ei-

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der Religion, München 1976, S. 21–28. – Dietrich Rössler: Die Institutionalisierung der Religion, in: Volkskirche – Kirche der Zukunft, hg. von Wenzel Lohff/Lutz Mohaupt, Hamburg 1977, S. 41–69. – Zur Theorie der Institution (s.o. Anm. 96). Gábor Kiss: Einführung in die soziologischen Theorien (s.o. Anm. 2), S. 208. So begründet etwa Friedrich H. Tenbruck: Geschichtserfahrung und Religion in der heutigen Gesellschaft (s.o. Anm. 46) die Ubiquität der Religion mit seiner Grundthese, daß „Religion zwangsläufig aus der Unsicherheit des Daseins folgt . . . “. Berühmt ist auch die Formel von Kingsley Davis: Human Society, New York 1964, S. 509: „So universal, permanent, and pervasive is religion in human society that unless we understand it thoroughly we shall fail to understand society”; vgl. dazu auch Werner Cohn: Is Religion Universal? Problems of Definition, in: JSSR 2 (1962), S. 25–33; dt. wieder in: IJRS 2 (1962), S. 201–213. – Hans Dietrich Engelhardt: Zur Kritik der funktionalistischen Religionstheorie (s.o. Anm. 5). – Günter Kehrer: Das religiöse Bewußtsein des Industriearbeiters (s.o. Anm. 47), S. 160–192.

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nes Verbindungsgliedes; bei Durkheim schien das „Kollektivbewußtsein“ diese Funktion zu erfüllen, und bei Parsons trat das Gleichgewichtsmodell von Gesellschaft an dessen Stelle.104 Mit all diesen Konstruktionen wurde eine der Religion vorausliegende soziale quasi-biologische oder anthropologische Notwendigkeit postuliert, die der Begründung religiöser Universalität dienen sollte. In dem Maße, wie die Voraussetzungen in Zweifel gezogen wurden, mußte auch die jeweilige Universalitätsannahme fallen. Aus diesem Dilemma konnten nur zwei Wege herausführen: Entwe 110der mußte sich die Universalitätsannahme ohne logische Hilfskonstruktion plausibel machen lassen, indem Religiosität in die Konstitutionsanalyse des sozialen Selbst einbezogen wurde, und sie mußte sich danach in der Analyse jeweils spezifischer Konstitutionsbedingungen stets erneut bewähren.105 Oder aber man ließ die Universalitätsannahme überhaupt auf sich beruhen, da sie doch stets nur die Gefahr in sich birgt, entweder einen jeweils bestimmten Vorstellungstyp sozialer Religiosität zum Paradigma von Religion überhaupt zu erheben oder aber Religiosität zur sozialen Unkenntlichkeit hin zu abstrahieren;106 gerade die Kritik an der von Parsons beeinflußten Religionstheorie kann als Paradebeispiel herhalten, um deutlich zu machen, wie verführerisch diese Reifikationsgefahr ist. Die Kritik an der strukturell-funktionalen Analyse Parsons ist in der deutschsprachigen Religions- und Kirchensoziologie also derart vielfältig geübt und intensiv aufgenommen worden, daß man geradezu sagen kann, dieser kritisierte Verschnitt war die zweite Form seiner Präsenz hierzulande – neben seinem latenten Vorkommen in der Kirchensoziologie der Nachkriegszeit. Daß die strukturfunktionalistische Religionstheorie trotzdem selbst in ihrer problematisch-kritischen Fassung für die Neukonzipierung der Religionssoziologie der Nachkriegszeit auch hierzulande bedeutsam wurde, mußten ihr selbst die schärfsten Kritiker attestieren.107 Die 104

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Vgl. dazu: Niklas Luhmann: Soziologische Aufklärung, 4. Auflage, Köln/Opladen 1974, S. 11–13. In diese Richtung argumentieren etwa Günter Dux: Ursprung, Funktion und Gehalt der Religion (s.o. Anm. 80). – Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a.M. 1969 (engl. zuerst: 1966). – Niklas Luhmann: Funktion der Religion (s.o. Anm. 52). So cum grano salis: Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 28). – Trutz Rendtorff: Zur Säkularisierungsproblematik (s.o. Anm. 72). – Trutz Rendtorff: Christentum außerhalb der Kirche. Konkretionen der Aufklärung, Hamburg 1969. So faßt etwa Joachim Matthes: Religionssoziologie (s.o. Anm. 5), S. 231 die Bedeu-

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strukturell-funktionale Analyse hat eine Forschungsphase überwunden, in der sich das Religionsproblem für die Soziologie nur noch in positionellen Alternativen dargestellt hat und in der sich stets vor allem legitimatorische Interessen apologetischer wie denunziatorischer Art mit der Religion verbunden haben, was die Religion selbst in einer Gesellschaft zunehmend marginalisieren mußte. Der vom Strukturfunktionalismus bewirkte Distanzeffekt erbrachte trotz aller Kritik einen entscheidenden Erkenntnisund Erklärungsgewinn, in dem Religion wieder als sinnvoller Gegenstand soziologischer Analyse angesehen werden konnte. Sowohl nach dem Strukturfunktionalismus unterschiedlichster Prägungen als auch nach der Kritik an ihm erscheint kaum mehr eine religionssoziologische Konzeption als diskutabel, die nicht auch von vornherein die erkenntniskritischen und metatheoretischen Voraussetzungen anzugehen weiß, aufgrund derer sie sich in Szene setzt. 111 B. Dimensionen der Religiosität in der modernen Gesellschaft. Systematische Perspektiven Die Vehemenz und Vielgestaltigkeit, mit der in der deutschen Religionsund Kirchensoziologie der 60er Jahre die strukturell-funktionale Analyse der Religion im Rahmen ihrer Gesellschaftstheorie diskutiert worden ist, haben sich nicht immer unbedingt auch belebend auf die Forschungspraxis ausgewirkt. Die Gefahr war groß, sich in Bereiche theoretischer Richtungskämpfe und programmatischer Schulstreitigkeiten abdrängen zu lassen. Vermissen konnte man dabei einen brennpunktartigen Zuschnitt und eine schwerpunktmäßige Bündelung auf profilierte Forschungsprobleme hin. Dem Komplexitätsgewinn auf der theoretischen Ebene entsprach ein weitgehender Plausibilitätsverlust im forschungspraktischen Bereich. Andererseits traten jedoch auch die Konturen der analytischen Rahmentung des Strukturfunktionalismus für die Religionssoziologie folgendermaßen zusammen: „Die Bedeutung des Strukturfunktionalismus für den Aufschwung der Religionssoziologie in den letzten Jahrzehnten ist beträchtlich. Mit seinem Verzicht auf Wesensaussagen über Religion und seiner Abkehr von der Frage nach dem Ursprung von Religion löste er die Religionssoziologie zunächst aus der Bindung an metasoziologische Reflexionen über Religion, bahnte den Weg zu einer systematischen empirischen Forschung, orientierte die Religionssoziologie an allgemeinsoziologischen theoretischen Ansätzen und gab schließlich auch der . . . kirchlichen Sozialforschung, die vornehmlich theologisch und pastoral motiviert war, gewisse Impulse für eine einheitlichere und weniger praktizistische Ausrichtung ihrer Fragen und Methoden.“

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bedingungen schärfer hervor; es wurde dabei gleichsam die theoretische Infrastruktur der praktischen Forschung und theoretischen Weiterreflexion akribisch ausgewiesen. Vor allem drei Gesichtspunkte markieren gleichsam ein post-strukturfunktionalistisches Mindestniveau, das sich ohne Verlust an Erklärungskraft kaum mehr unterlaufen läßt: (1) Eine strukturell-funktionale Religionsanalyse kann heute nur noch mehrdimensional angesetzt werden: „In der modernen soziologischen Theorie richtet sich die Aufmerksamkeit in starkem Maße auf die Entwicklung von Definitionen deskriptiver Kategorien (Taxonomie). Wir wollen dies dimensionale Analyse nennen. Die große theoretische Leistung von Talcott Parsons fällt hauptsächlich hierunter.“ Dimension bezeichnet eine „bestimmte Eigenschaft der Wirklichkeit . . . Das Ziel, das sich die dimensionale Analyse setzt, ist die Aufstellung eines Begriffsystems der Dimensionen des Sozialen“108. Dabei müssen diejenigen vielfältigen, freilich nur analytisch unterscheidbaren Ebenen des gesellschaftlichen Lebens gleichmäßig erfaßt werden, in denen Religion selbst als differenziertes Sozialphänomen vorkommt. Eine abgeschottete Kirchensoziologie ist dadurch ebenso ausgeschlossen wie eine Sozialanalyse, die Gesellschaft nur als Aggregat ihrer parzellierten Teilsysteme begreift.109 Statt dessen bildet sich als eine Art Konsens die Unterscheidung etwa der personalen, interpersonalen und transpersonalen Dimensionen als heuristisches Gerüst heraus, in dem die strukturellen Verschränkungs- und funktionalen Verflechtungszusammenhänge der Religion sichtbar gemacht werden können.110 108

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Hans L. Zetterberg: Theorie, Forschung und Praxis in der Soziologie, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, Band 1, Stuttgart 1967, S. 64–104, 65 f. Vgl. hierzu etwa die Abgrenzung Niklas Luhmanns gegenüber Talcott Parsons: „Parsons ist aus Gründen, die mit seiner Systemtheorie zusammenhängen, genötigt, Religion als Teilsystem des sozialen Systems auf eine Teilumwelt zu beziehen, zu der das Religionssystem besondere interchange-Beziehungen unterhält“ (Funktion der Religion [s.o. Anm. 52], S. 79). Dadurch aber werden wesentliche Teile des gesamtgesellschaftlichen Bezugs von Religion herausgefiltert. Wir folgen hier Anregungen vor allem von Friedrich Fürstenberg: Sozialstruktur als Schlüsselbegriff der Gesellschaftsanalyse, in: KZSS 18 (1966), S. 439–453. – Friedrich Fürstenberg: Religiöse Daseinsformen im gesellschaftlichen Wandel, in: Die wirkliche Wirklichkeit Gottes, hg. von Kurt Krenn, Paderborn 1974, S. 45–59. – Ingo Mörth: Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion (s.o. Anm. 22). – Religion im Umbruch (s.o. Anm. 37). – Jakobus Wössner: Systemanalyse und religiöse Bedürfnisse, in: IJRS 8 (1973), S. 133 ff.

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(2) In analoger Weise gilt dem Tatbestand der Multifunktionalität von Religion Beachtung. Gerade die ausführliche Diskussion um die Säkularisierungsthese und um die strukturell-funktionale Integrationstheorie hat zutage gefördert, daß bei der Religion weniger mit einem generellen Funktionsverlust als vielmehr mit spezifischen Funktionsüberlagerungen 112 bzw. -anlagerungen und Funktionssedimentierungen zu rechnen ist. In einer diachronischen Religionsanalyse lassen sich ebenso Metamorphosen wie Metastasen spezifischer Funktionserfüllungen der Religion erkennen. Und Hauptaufgabe einer synchronischen Analyse wird darüber hinaus sein, das Problem zu klären, inwieweit auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen mannigfaltige Funktionsbestimmungen der Religion mehr oder weniger jeweils in den Vordergrund zu treten haben.111 (3) Doch kann sich die strukturell-funktionale Analyse kaum darin erschöpfen, gleichsam nur ein Querschnittsdiagramm von Gesellschaft zu erstellen. Die Bedingungsanalyse muß als unverzichtbarer Bestandteil hinzutreten: zunächst als Konstitutionsanalyse, die als Erhellung der sozialen Möglichkeitsbedingungen von Religion überhaupt in der gesellschaftlichen Lebenswelt den Trugschluß verhindern kann, von Funktionalität allzu leicht auf Kausalität umzuschalten; sodann kann die real-soziologische Analyse die konkreten historischen und kulturellen Bedingungszusammenhänge bestimmter religiöser Funktionsweisen erschließen, was eine Religionstheorie unauflöslich und zwangsläufig mit einer Theorie des sozialen Wandels zusammenschweißen muß.112 111

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So vertritt z. B. Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 28), S. 89 die Ansicht, daß die der Kirchensoziologie zugrunde liegende Säkularisierungsthese eine Erforschung solcher Zusammenhänge geradezu verhindere, weil „den kulturellen Transformationsstufen der ethischen Vermittlung“ von Religion nicht weiter Rechnung getragen wird. Zur Konstitutionsanalyse vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit (s.o. Anm. 105). – Volker Drehsen/Horst Jürgen Helle: Religiosität und Bewußtsein. Ansätze zu einer wissenssoziologischen Typologie von Sinnsystemen, in: Religionssoziologie als Wissenssoziologie, hg. von Wolfram Fischer/Wolfgang Marhold, Stuttgart 1978, S. 38–51. – Günter Dux: Ursprung, Funktion und Gehalt der Religion (s.o. Anm. 80). – Wolfram Fischer: Sinnkonstruktion. Die Legitimität der Religion in der sozialen Lebenswelt, in: Plädoyers in Sachen Religion (s.o. Anm. 45), S. 192–212. – Wolfram Fischer: Identität – die Aufhebung der Religion? Der Identitätsbegriff als religionssoziologische Fundierungskategorie, in: WPKG 65 (1976), S. 141–161. – Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft (s.o. Anm. 67). – Ingo Mörth: Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion (s.o. Anm. 22). – Friedrich H. Tenbruck:

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Im folgenden sollen nun nur skizzenhaft die Perspektiven ausgezogen werden, in denen sich heute unter strukturfunktionalistischen Aspekten die Schwerpunkte religions- und kirchensoziologischer Forschungsprobleme herauszukristallisieren scheinen. 1. Die personale Dimension: Religiöse Funktionsmomente des Handelns und Erlebens 1.1 Sozial-situatives Handeln Unterhalb der Ebene theoretischer Konzeptualisierung ist vor allem die Frage offen geblieben, inwieweit Religiosität in jedem Handeln faktisch virulent ist: Kann der „religiöse Faktor“ tatsächlich als notwendiges Handlungsingredienz in der modernen Gesellschaft angesehen werden? Das Problem stellt sich mit besonderer Dringlichkeit, wenn von der Annahme der Unabgeschlossenheit und Offenheit menschlicher Existenz ausgegangen und Kontingenzbewältigung als anthropologisches Grundproblem angesehen wird. Daß Religiosität ein bestimmbares Funktionselement in kulturellen und gesellschaftlichen Zusammenhängen darstellt, das sich in nahezu jedem sozialen Handeln realisiert, ist bislang nicht mehr als eine empirisch offene, wenngleich theoretisch plausible Hypothese geblieben, von der jede strukturfunktionalistische Religionstheorie ausgeht. Drei Aspekte stehen dabei im Mittelpunkt, die jeweils verschiedene Handlungsdimensionen thematisieren: 113

Geschichtserfahrung und Religion in der heutigen Gesellschaft (s.o. Anm. 46). – Zur Einbeziehung einer Theorie des sozialen Wandels in die Religionssoziologie vgl. Rainer Döbert: Systemtheorie und die Entwicklung religiöser Deutungssysteme (s.o. Anm. 5), S. 73–157. – Günter Dux: Religion, Geschichte und sozialer Wandel in Max Webers Religionssoziologie, in: IJRS 7 (1971), S. 60–94. – Günter Dux: Ursprung, Funktion und Gehalt der Religion (s.o. Anm. 80) – Hans Dietrich Engelhardt: Zur Kritik der funktionalistischen Religionstheorie (s.o. Anm. 5). – Günter Kehrer: Religion und sozialer Wandel (s.o. Anm. 92). – Heinrich Ludwig: Die Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung (s.o. Anm. 9). – Niklas Luhmann: Religion als System (s.o. Anm. 65). – Niklas Luhmann: Die Funktion der Religion (s.o. Anm. 52). – Ingo Mörth: Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion (s.o. Anm. 22). – Raban Tilmann: Sozialer und religiöser Wandel (s.o. Anm. 9). – John M. Yinger: Toward a Theory of Religion and Social Change (s.o. Anm. 92). – Osmund Schreuder: Die strukturell-funktionale Theorie und die Religionssoziologie (s.o. Anm. 5).

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a) Kognitive Bedeutungsinvestition113 Religion hat offensichtlich etwas zu tun mit dem Vorgang kognitiver Bedeutungsinvestition, die vornehmlich auf ein solches Wissen bezogen ist, das zur Ausführung einer Handlung in bestimmten sozialen Situationen unabdingbar ist. Dabei werden zwei Voraussetzungen gemacht: Einmal ist eine gewisse Abständigkeit und Distanz zu den Rahmenbedingungen von sozialen Situationen notwendig, damit Handeln in ihnen reüssieren kann; erst die Distanz vermag, Sinn in Fakten zu imputieren, und erst Sinn verhindert, auf Situationen bloß resignativ zu reagieren. Zum anderen geben die Fakten der Situation und das objektive Wissen über sie den Sinn einer Handlung nicht unmittelbar aus sich selbst heraus zu erkennen: Sinninvestition muß grundsätzlich erst geleistet werden. Dies geschieht im Normalfall weitgehend durch Routinisierung der Handlungsmuster, die insgesamt eventuelle Überraschungen als Einbruchstellen des Unbestimmbaren prophylaktisch vorstrukturieren. Objektiviertes Handlungswissen wird in subjektive Gewißheit und individuelle Überzeugung überführt, was den Größtteil der Sozialisationsprozesse ausmacht. Dennoch gibt es immer wieder auch Unsicherheitslagen im kognitiven Bereich, die zu Handlungsdruck führen und auf Entlastung drängen. Dies ist grundsätzlich vor allem in drei Fällen denkbar: Erstens kann das vorhandene Wissen fragmentarischen Charakters sein, so daß sich Situationen nicht zu solcher Handlungsreife von Totaleinsichten ausdeuten lassen, die zur Handlungsführung notwendig wären. Zweitens kann die situationsgerechte Operationalisierung des objektiv bereitliegenden Wissens möglicherweise mißlingen, weil dessen Handlungsrelevanz der individuellen Einsicht verschlossen bleibt. Und schließlich kann drittens das Erfolgskalkül verunmöglicht sein, das in jedem Handeln auf Risikoeliminierung zielt: Sei es, weil das verfügbare Wissen selbst lückenhaft oder widersprüchlich ist; sei es, weil die Abschätzung persönlicher Leistung und individuellen Könnens unbestimmt bleiben muß; sei es, weil die kognitive Taxierung nicht ausschließlich die Handlungsimpulse beherrscht, 113

Vgl. hierzu Volker Drehsen: Zum Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion, in: Das Jenseits der Gesellschaft (s.o. Anm. 5), S. 281–327, 299–311; s.o. S. 159–199. – Volker Drehsen/Horst J. Helle: Religiosität und Bewußtsein (s.o. Anm. 112). – Helmut Girndt: Das soziale Handeln als Grundkategorie erfahrungswissenschaftlicher Soziologie, Tübingen 1967. – Günter Kehrer: Religion und sozialer Wandel (s.o. Anm. 92). – Friedrich H. Tenbruck: Geschichtserfahrung und Religion in der heutigen Gesellschaft (s.o. Anm. 46). – M. Rainer Lepsius: Gesellschaftsanalyse und Sinngebungszwang (s.o. Anm. 52).

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sondern diese selbst auch von anderen Faktoren beeinflußt werden. All dies sind Eventualitäten, bei denen Unsicherheit in den Standardablauf von sozialen Handlungen einbrechen kann und Routinehandlungen plötzlich in Entscheidungshandlungen umgewandelt werden müssen. Genau an diesem Punkte kristallisieren sich häufig religiöse Erfahrungen an. In religiösen Sinndeutungssystemen wird auch fragmentarische Wirklichkeit auf ihre Handlungsrelevanz hin ausgedeutet, das Unbestimmbare an ihr in prinzipiell Bestimmbares transformiert, indem Situationsfaktoren mit Bedeutungsinvestitionen belegt werden, die das Handeln in bestimmte Richtungen drängen. 114 b) Moralische Wertintegration114 Diese Richtung der Handlungsführung wird in ihren Grundzügen weitgehend durch ein Depot an allgemeingültigen sozialen Basiswerten festgelegt. Dadurch wird die Kontingenz denkbarer Handlungsmöglichkeiten auf Minimalstandards eingegrenzt: Nicht jedes verfügbare Mittel ist anzuwenden erlaubt; nicht alle spontanen Zielsetzungen werden geduldet. Sie sind vielmehr an eine fundamentale Wertbasis der Gesellschaft gebunden. Gerade die Religion hält – in welcher Form auch immer – im Einzelfall und grundsätzlich die in allgemeiner Geltung stehenden Gesinnungsgründe parat, fungiert somit als Verhaltenssteuerung des Alltagsumgangs, als moralischer oder sozialhygienischer Zielkompaß, der die Grenzen und Richtwerte des Erlaubten anzeigt. Dieses leistet sie dadurch, daß sie Handlungsmöglichkeiten hierarchisiert, Handlungspräferenzen festlegt und mögliche Zielkonflikte vorweg auf vorausliegende Globalziele hin entscheidet: vor allem auf das Ziel hin, daß Sozialität nicht nur Voraussetzung, sondern auch Zweckbestimmung jeder menschlichen Handlung bleibt. Diese Funktion moralischer Wertintegration erfüllt die Religion jedoch nicht primär dadurch, daß sie „Lebenssinn als System“ vermittelt, „sondern Lebensgesinnung als eine bestimmte Weise, sich dem Leben gegenüber zu verhalten, auf Erfahrungen 114

Vgl. Karl-Wilhelm Dahm: Beruf: Pfarrer (s.o. Anm. 61). – Karl-Wilhelm Dahm: Religiöse Kommunikation und kirchliche Institution (s.o. Anm. 43). – Karl-Wilhelm Dahm: Verbundenheit mit der Volkskirche. Verschiedenartige Motive – eindeutige Konsequenzen?, in: Erneuerung der Kirche – Stabilität als Chance (s.o. Anm. 63), S. 113–159. – Günter Kehrer: Das religiöse Bewußtsein des Industriearbeiters (s.o. Anm. 47). – Jens M. Lohse: Kirche ohne Kontakte. Beziehungsformen in einem Industrieraum, Stuttgart 1967. – Friedrich H. Tenbruck: Geschichtserfahrung und Religion in der heutigen Gesellschaft (s.o. Anm. 46). – Demosthenes Savramis: Wertsysteme in traditionellen und industriellen Gesellschaften, in: IJRS 6 (1970), S. 7–44.

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zu reagieren, sich in Aufgaben und Anforderungen einzuordnen“115. Religion verklammert die einzelnen Menschen, deren Handlungen tendenziell in Konflikt und Konkurrenz zueinander stehen, im Zusammenschluß der Gesellschaft. c) Durchordnung der inneren Affektlage Eine weitere Unsicherheitsquelle des Handelns ist schließlich mit jenen Innendaten gegeben, die sich einer Objektivierung weitgehend entziehen und dadurch zum Anstoß sozialer Unberechenbarkeit, zu Impulsen in Richtung individueller Desintegration werden können: Es sind Triebverzichte oder überhaupt affektive Besetzungen der eigenen Antriebsstruktur, die sich häufig in Enttäuschungen, Frustration und Aggression niederschlagen. Auch an dieser Stelle greift Religion häufig und regelmäßig ein, indem sie die innere Affektlage durchordnet: Die Antriebsüberschüsse werden in sozialproduktives Handeln übergeleitet, die innere Triebstruktur auf Erfordernisse der Sozialität hin sublimiert und auftretende Enttäuschungen durch Vermittlung sinnvoller Einsichten in Verzichtleistungen absorbiert. Das kann die Religion gewissermaßen auf praktische wie auf theoretische Weise vollführen: Auf der einen Seite werden die problematischen Innendaten gleichsam nach außen gekehrt und auf Fakten des Transzendenten bezogen. Dadurch 115 werden sie sozusagen objektivierbar, aber auch verarbeitbar und erträglich. Auf der anderen Seite entlastet Religion durch Riten den Menschen zuweilen total vom Handlungszwang überhaupt, indem sie Strategien expressiver Entladung bereitstellt und damit gleichsam den affektiven Antriebsüberschuß ventiliert.116 Dieser Regelungsmechanismus wird besonders in der Extremerfahrung des Todes anderer deutlich: Im Beerdigungsritual wird der Tod publiziert und damit objektiviert, was für die Trauerarbeit der Hinterbliebenen ein unentbehrliches Entlastungsmittel darstellt. 115 116

Dietrich Rössler: Die Vernunft der Religion (s.o. Anm. 101), S. 55. Vgl. hierzu etwa: Jean Cazeneuve: Les rites et la condition humaine, Paris 1958. – Volker Drehsen: Die „Heiligung“ von Lebensgeschichten (s.o. Anm. 64). – Wie stabil ist die Kirche? (s.o. Anm. 63). – Joachim Matthes: Volkskirchliche Amtshandlungen (s.o. Anm. 63). – Hans Mol: Identity and the Sacred. A Sketch for a New SocialScientific Theory of Religion, Oxford 1976, S. 233–245. – William S. F. Pickering: The Persistence of Rites of Passage. Towards an Explanation, in: BJS 25 (1974), S. 63–78. – Trutz Rendtorff: Die soziale Struktur der Gemeinde (s.o. Anm. 30), S. 81–83. – Dietrich Rössler: Die Vernunft der Religion (s.o. Anm. 101), S. 34– 38. – Yorick Spiegel: Gesellschaftliche Bedürfnisse und theologische Normen (s.o. Anm. 63). – Paul M. Zulehner: Heirat – Geburt – Tod (s.o. Anm. 62).

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Durch kognitive Bedeutungsinvestition, moralische Wertintegration und Durchordnung der inneren Affektlage weist Religion also situatives Handeln in die Zusammenhänge der Gesellschaft ein. Strukturell bedingte Defizienz, Betroffenheit und Handlungsdruck werden in sinnhaftes und gesellschaftlich tragbares Problemlösungsverhalten überführt. Mit dieser Funktion ist Religiosität nicht eine luxuriöse, ergänzende oder abrundende Ausstattung des Handelns, sondern ein sich aus der prinzipiellen Unsicherheitslage des menschlichen Handelns selbst ergebendes unverzichtbares Erfordernis. 1.2 Der religiös-soziale Bedeutungszusammenhang des Handelns Die herausdestillierten religiösen Ingredienzen sind im sozialen Handeln jedoch weitgehend nur hintergründig virulent. Es kann nicht davon ausgegangen werden, daß es als ausformuliertes religiöses Bewußtseinskonstrukt sozial eindeutig zu identifizieren ist. Dieser Umstand wirft die Frage auf, in welchen vielfältig vermittelten Beziehungen die in jedem Handeln latente Religiosität zum institutionalisierten Religionsbestand einer Gesellschaft steht. Die Art der Beziehung hängt im Wesentlichen von zwei Faktoren ab: einmal von der Deutungskapazität der offiziell bereitgestellten religiösen Symbole, Ritualien und Lehrsysteme; zum anderen von dem Adaptionsvermögen und Reflexionspotential der handelnden Individuen. Je nachdem, welches „Niveau“ dabei erreicht wird, treten auch spezifische soziale Kristallisationsformen des religiösen Faktors in Erscheinung. Das Problem stellt sich in der modernen Gesellschaft hauptsächlich in den Phänomenen sozialer Desorganisation, in denen die Differenz von gelebter und gelehrter Religion sichtbar wird; genauer: wo die Auseinanderfaltung von Religion, Kirche und Christentum auftritt. Nicht nur die überindividuell-gesellschaftlichen Bestimmungsgründe des Handelns, die allgemeingültigen Handlungs- und Deutungsmuster, auch die manifesten religiösen Sinnsysteme sind weitgehend in den Dispositionsbereich individueller Reflexivität gefallen, gleichsam dem Subjektivierungsprozeß der Neuzeit anheimgestellt. Da 116durch ist die Möglichkeitsbedingung auch nicht-systembezogenen Handelns etwa in bezug auf Kirche gegeben, bei der Privatisierung nur eine Folge der vielfach möglichen Varianten darstellt.117 Daneben lassen sich auch mannigfaltige 117

Vgl. Thomas Luckmann: Sammelbesprechung zur Religionssoziologie (s.o. Anm. 67). – Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft (s.o. Anm. 67). – Thomas Luckmann: Religion in der modernen Gesellschaft, in: Religion im Umbruch (s.o. Anm. 37), S. 3–15. – Heinrich Ludwig: Die Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung (s.o. Anm. 9). – Niklas

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kulturelle Transformationsgestalten von Religiosität erkennen, die zwar erst im kirchlich oder christlich traditionellen Deutungszusammenhang als religiöse Erfahrungen identifizierbar, zugleich aber auch weitgehend unabhängig von ihm existent sind. Als Kristallisationsformen relativ autonomer und selbstverantwortlicher Reflexion der offiziell-kirchlichen Lehrsysteme stehen sie zu der sie repräsentierenden Institution nicht notwendigerweise in einem abhängigen oder auch nur unmittelbaren Verhältnis, sondern schlagen sich mannigfach vermittelt etwa in einer institutionell abgenabelten breiten Gruppen-Subkultur sozial nieder. In diesen Bereichen steht die religionssoziologische Forschung – von Ausnahmen abgesehen118 – ziemlich am Anfang. 1.3 Biographische Identität119 Ob sich die kulturell und individuell transformierten Verhaltensmuster der Kirchlichkeit nun in persönlichen Handlungsantrieben, in gleichsam freischwebenden Kulturmustern oder in gruppenhaft repräsentierten Sinnkonfigurationen niederschlagen, so weisen sie alle doch darin eine Gemeinsamkeit auf, daß sich hier eine Weise des Religionhabens äußert, die auf institutionalisierte Objektivität und allgemeingültigen Deutungszu-

118

119

Luhmann: Funktion der Religion (s.o. Anm. 52). – Hans Günter Ulrich: Hat Religion eine kirchliche Zukunft?, in: Verkündigung und Forschung 23 (1978), S. 54–65. Einige Ansätze dazu liegen vor bei: Arthur Kühn: Jugend und sozialer Wandel, in: SW 23 (1972), S. 129–147. – Ferdinand W. Menne: Neue Sensibilität. Alternative Lebensmöglichkeiten, Darmstadt/Neuwied 1974. – Michael Schibilsky: Religiöse Erfahrung und Interaktion. Die Lebenswelt jugendlicher Randgruppen, Stuttgart 1976. – Dieter Stoodt: Religiöse Sozialisation und emanzipiertes Ich (s.o. Anm. 49). – Neuerdings dazu: Andreas Feige: Erfahrungen mit Kirche, Hannover 1982. Vgl. Peter Cornehl: Frömmigkeit – Alltagswelt – Lebenszyklus. Propädeutsche Notizen, in: WPKG 64 (1975), S. 388–401. – Volker Drehsen/Horst Jürgen Helle: Religiosität und Bewusstsein (s.o. Anm. 112). – Erik H. Erikson: Identität und Lebenszyklus, Frankfurt a.M. 1966. – Wolfram Fischer: Identität – die Aufhebung der Religion? (s.o. Anm. 112). – Lothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Strukturelle Bedingungen für die Teilnahme an Interaktionsprozessen, Stuttgart 1971. – Soziologie des Lebenslaufs, hg. von Martin Kohli, Darmstadt/Neuwied 1978. – Hans Mol: Identity and the Sacred (s.o. Anm. 116). – Pieter H. Vrijhof: De religieuze personalisatie als centraal probleem voor de godsdienstsociologie, in: Sociale Wetenschappen 1965, S. 157–176. – Wolfram Fischer/Wolfgang Marhold: Das Konzept des Symbolischen Interaktionismus in der deutschen Religionssoziologie, in: Religion in den Gegenwartsströmungen der deutschen Soziologie, hg. von KarlFritz Daiber und Thomas Luckmann, München 1983, S. 157–181.

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sammenhang, auf öffentliches Plazet und Traditionsanschluß weitgehend verzichten kann. Jedenfalls ist der Grad intersubjektiver Versicherung dieser religiösen Erscheinungen gewissermaßen dadurch abgeschwächt, daß sie sich stets erneut realisieren muß. Damit stellt sich die Frage nach der Konsistenz und Dauerhaftigkeit derartiger Religiosität – und zwar zunächst in vertikaler Richtung als Frage nach der Integration und dem Zusammenhang einer Vielzahl von Handlungen in der zeitlichen Abfolge eines individuell-biographischen Lebenszyklus. Das Problem kann an unterschiedlichen Stellen aufbrechen: So kann etwa der Verlust einer relevanten Bezugsperson über das Gelingen oder Mißlingen einer ganzen biographischen Epoche entscheiden; so können etwa das Erreichen oder Verfehlen bestimmter Handlungsziele, die in ihrer Bedeutung einzelne Situationen übergreifen, die Bilanzierung eines gesamten Lebens beeinflussen; schließlich kann auch die Profilierung spezifischer Handlungsabfolgen mißlingen, die im Zusammenhang den Inbegriff erlebbarer Individualität ausmachen. All dies stellt die Erfahrung von Lebenskontinuität grundsätzlich in Frage: die Konsistenz der lebensrelevanten Handlungsabfolgen, die sich in Konstrukten personaler Bio 117graphien verdichten. Das Bewußtsein der Unverbrüchlichkeit der eigenen Lebensführung steht zur Diskussion. Und so bedarf es denn Regelungsmechanismen, die biographische Sprünge und Übergänge tragbar gestalten. Diese Funktion wird weitgehend durch religiöse Passageriten erfüllt, die einzelnes Leben zu einem plausiblen Kontinuum rhythmisieren und seine Bruchstellen als Zäsuren oder bloße Übergänge akzentuieren.120 Lebensrelevante Handlungsabfolgen werden auf diese Weise zu biographischen Entwürfen synthetisiert, die als Daten unverwechselbarer Individualität gelten können. Dies läßt sich besonders an religiösen Benediktionshandlungen verdeutlichen, bei denen zum Ausdruck kommt: „Das menschliche Leben verdankt sich im ganzen der Biographie einem Grund, der jenseits aller identifizierbaren Faktoren und Instanzen liegt“121. Die Beliebigkeit und Zufälligkeit biographischer Störungen wird in Passageriten abgefangen: Sie bilden Knotenpunkte des Lebens, an denen sich individuelle Selbstgewißheit als Ausdruck von unverwechselbarer, unwiederholbarer und unersetzbarer Individualität konzentriert. Im ritualisierten biographischen Entwurf manifestiert sich individuelles Schicksal als Einmaligkeit. 120

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Vgl. Jean Cazeneuve: Les rites et la condition humaine (s.o. Anm. 116). – Arnold van Gennep: Les rites de passage (s.o. Anm. 60). – Essays on the Ritual of Social Relations, hg. von Max Gluckman, Manchester 1962. – William S. F. Pickering: The Persistence of Rites of Passage (s.o. Anm. 116). Dietrich Rössler: Die Vernunft der Religion (s.o. Anm. 101), S. 51.

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Unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft ist es vor allem der Umstand vertikaler Mobilität, an dem sich das biographische Identitätsproblem entzündet.122 Mobilität bedeutet für den einzelnen stets Positionsund Bezugsgruppenwechsel, der von vertrauter Umwelt trennt und in fremde Umgebung überführt. Mit dieser Statusänderung im jeweiligen Koordinatensystem sozialer Rechte und Pflichten ist immer auch die Nötigung zu erneuter Rekonstruktion der eigenen Biographie verbunden. In welche Richtungen die religiös bestimmten Lösungsmöglichkeiten dazu verlaufen, ist bislang noch kaum ausgeforscht. Es zeichnen sich allenfalls zwei unterschiedliche Extremfälle ab: Auf der einen Seite gibt es die Tendenz, die gesellschaftlich erzwungene Standortlosigkeit kompensatorisch durch Standortfixierung jenseits des mobilitätsdynamischen Lebensraumes von Gesellschaft zu bewältigen; besonders im emigrierten Zirkel traditioneller „Kirchentreue“ deutet sich so etwas wie ein Preis des mobilen Charakters der modernen Gesellschaft an.123 Auf anderer Seite werden gleichsam in einem Prozeß der „Dauerreflexion“124 die Auswirkungen gesellschaftlicher Mobilitätsdynamik nachvollzogen, indem die ständig neu an die Oberfläche gespülten Biographiedaten auf ihre Sinnhaftigkeit hin überprüft werden. Das boomartige Eindringen aller möglichen – und unmöglichen – Varianten der Gruppendynamik in den kirchlichen Raum ist teilweise auch als Reaktion auf individuell betreffende Folgen mobiler Wandlungsprozesse in der Gesellschaft anzusehen: Sie treten 118 gleichsam als Milchbrüder der traditionsorientierten Kirchentreue auf.125

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Thomas Luckmann/Peter L. Berger: Social Mobility and Personal Identity, in: AES 5 (1964), S. 331–344. –Volker Drehsen: Zum Interesse der sozialwissenschaftlichen Kritik an der Religion (s.o. Anm. 113), S. 317; s.o. S. 159–199. – Geoffrey Kenneth Nelson/Rosemary Arrowsmith Clews: Mobility and Religious Commitment, Birmingham 1971. – Ralph F. Roy/Frank D. Bean/James R. Wood: Social Mobility and Doctrinal Orthodoxy, in: JSSR 12 (1973), S. 427–439. – Friedrich H. Tenbruck: Die Kirchengemeinde in der entkirchlichten Gesellschaft. Ergebnisse und Deutung der „Reutlingen-Studie“, in: Soziologie der Kirchengemeinde (s.o. Anm. 30), S. 122– 132. Reinhard Köster: Die Kirchentreuen (s.o. Anm. 41). Helmut Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? Zum Thema einer modernen Religionssoziologie, in: ZEE 1 (1957), S.153–174. Vgl. hierzu etwa: Gruppendynamik in der kirchlichen Praxis, hg. von Karl-Wilhelm Dahm/Hermann Stenger, München/Mainz 1974. – Helmut Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? (s.o. Anm. 124).

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2. Die interpersonale Dimension: Religiöse Funktionsmomente sozialer Identität und Kommunikation 2.1 Soziale Identitätssicherung Die normale Form, in der situative Handlungen vorstrukturiert und zu mehr oder weniger stimmigen Konfigurationen zusammengeschnürt sind, stellen soziale Rollenmuster dar. Sie gelten als Inbegriff des Handelns einzelner in Gruppen. In jeder strukturfunktionalistischen Analyse von Gesellschaft und Religion bildet der Rollenbegriff eine strategisch entscheidende Nahtstelle, an der Individuen und Gesellschaft verklammert sind.126 Die Stabilität sozialen Verhaltens, die Konsistenz situativer Handlungen ist im Wesentlichen mit der institutionalisierten Rollenstruktur verbunden. Sie liegt folgerichtig auch zentral im Zielfeld einer jeden Sozialisationstheorie.127 Freilich muß man die Ambivalenz des Vorganges im Auge behalten, wenn das Rollenverständnis nicht bloß automatistisch gefaßt werden soll: Sozialisation umfaßt nicht nur die Einübung in gesellschaftliches Rollenverhalten, sondern auch die Immunisierung des Rollenträgers gegen soziale Verhaltenserwartungen. Und in dieser dialektischen Funktion der Rollenmuster treten nicht selten Ambiguitäten und strukturelle Unsicherheiten auf, die ebenfalls als Anlagerungsgrund von Religion erscheinen können. Sie stellen sich als Problem der tendenziell angesonnenen Individualitätsaufgabe durch gesellschaftliche Rollenverpflichtungen dar und können hauptsächlich an drei Stellen aufbrechen: Erstens am Charakter sozialer Rollen überhaupt. Denn Rollenverhalten ist immer ausschnitthaftes, ausblendendes, auf begrenzte Aspekte fokussiertes Verhalten, das den Menschen nicht als „ganzen“, sondern nur partiell als Rollenträger erfaßt, ihn dabei gleichwohl als ganzen Menschen betreffen kann. Rollendefinitionen schreiben lediglich partielle Erwartungsnormen fest, lassen aber Erfüllungsgrade des Handelns, individuelles Können und nicht-disponibles Gelingen unberücksichtigt, die aber gerade für die Ökonomie des Selbstbewußtseins und Selbsterlebens von entscheidender Bedeutung sind. Hier tritt der Konflikt zwischen sozialem Konformitätsdruck einerseits und individuell ganzheitli 119cher Identitätsbewahrung andererseits als Unsicherheitslage personaler Daseinsführung auf.128 126 127 128

Vgl. hierzu Anm. 27. Vgl. hierzu Anm. 37. Vgl. Willi Oelmüller: Bedrohung der personalen und sozialen Identität, in: Conc. 12 (1976), S. 143–153. – Dietrich von Oppen: Das personale Zeitalter. Formen

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Ein zweiter Problembereich ist mit jenem besonderen Erfordernis für den Inhaber einer sozialen Rolle gegeben, daß er nicht selten die Inkonsistenzen und Unvereinbarkeiten gleichzeitig an ihn gerichteter, nicht immer aber in Übereinstimmung zu bringender Rollenerwartungen für sich verarbeiten muß, daß er also zwischen verschiedenen, häufig gegensätzlichen Anforderungen vermitteln soll. Gelingt das nicht, so stellt sich für ihn Rollenkonfusion als brennendes Identitätsproblem dar. Schließlich kann Unsicherheit einen dritten Veranlassungsgrund in InterRollen-Konflikten haben, da der Mensch selten nur eine Rolle spielt, vielmehr als Mitglied mehrerer sozialer Bezugsgruppen verschiedenartige Rollen auszufüllen hat, die zuweilen unverträglich sind. Rollendiffusion und Rollenkonfusion verlangen dem einzelnen gleichermaßen prekäre BalanceLeistungen ab und dringen auf individuelle Konsistenzverarbeitung angesichts hoher sozialer Erwartungsambiguität, die ohne realisierbare Rollendistanz kaum gelingen kann.129 Dies geschieht aber in einer grundsätzlichen Weise nicht zuletzt durch religiöse Deutungsmuster, die den Allgemeinheitscharakter einer Gesellschaft gegen allen Anschein präsent halten und damit zugleich auch dem einzelnen die Möglichkeit verschaffen, sich vom Totalitätsanspruch sozialer Wirklichkeit und deren Funktionsbereiche zu Distanzieren. Dies kann durch geheime Vorbehalte, durch Ausweichen oder Flucht in andere „Sinnprovinzen“ (Alfred Schütz) oder durch die Wahrnehmung alternativ bereitstellender Möglichkeiten geschehen. Religiös initiierte Rollendistanz ist eine Art Versicherung und Schutz dagegen, daß die Bestimmung des Menschen im empirischen Rollenstandard aufgehen soll. Und religiöses Bewußtsein fungiert in dieser Hinsicht gleichsam als „ein Jenseits im Diesseits“ des Rollenspiels130, durch das sich nicht unbedingt immer nur private Beliebigkeit, sondern durchaus auch etwas von „unbedingter Freiheit“ realisiert, indem

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und Grundlagen gesellschaftlichen Lebens im 20. Jahrhundert, Gütersloh 1967. – Dietrich Rössler: Rekonstruktion des Menschen, in: WzM 25 (1973), S. 181–196. – Friedrich H. Tenbruck: Geschichtserfahrung und Religion in der heutigen Gesellschaft (s.o. Anm. 46), S. 71–76. Generell wurde dieser Sachverhalt untersucht von Maureen E. Cain: Some Suggested Developments for Role and Reference Group Analysis, in: BJS 19 (1968), S. 191–205. – Nicholas P. Pollis: Reference Group Re-examined, in: BJS 19 (1968), S. 300–307; auf religionssoziologische Phänomene angewandt vgl. Jens M. Lohse: Kirche ohne Kontakte (s.o. Anm. 114). – Inge Peter-Habermann: KirchgängerImage und Kirchgangsfrequenz, Meisenheim 1967. – Friedrich H. Tenbruck: Die Kirchengemeinde in der entkirchlichten Gesellschaft (s.o. Anm. 122). Vgl. hierzu die Studien von Trutz Rendtorff: Gesellschaft ohne Religion? (s.o. Anm. 96). – Trutz Rendtorff: Kann Freiheit eine soziale Tatsache sein?, in: Freiheit

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sich soziale Identität religiös als selbstunterschiedenes Anderssein ins soziale Rollenspiel einbringt. 2.2 Religiöse Konstruktion sozialer Wirklichkeit Ähnliche Probleme stellen sich auch im intermediären Sozialbereich der Gruppenkommunikation. Kommunikation kann begriffen werden als symbolische Bewältigung gleichartiger Betroffenheitserfahrung von einzelnen Menschen oder Gruppen in der vorgegebenen sozialen Lebenswelt. Der Grad der Gleichartigkeit von Betroffenheitserfahrungen variiert jeweils in 120 stratifizierten, segmentierten und funktionalisierten Gesellschaften.131 Heute ist die unmittelbare Gemeinsamkeit der Erfahrung nur noch im privaten Bereich relativ hoch, aber kaum noch gegeben etwa im spezialisierten Erfahrungsbereich des Berufslebens. Hier muß gemeinsame Betroffenheit erst durch generalisierende Formeln sichtbar gemacht werden, um die je individuelle Erfahrung als Erfahrung aller verarbeiten zu können. Dies geschieht in der Regel durch verallgemeinernde Kommunikationsmuster, die gleichsam im Querschnitt die je in einzelnen Sozialbereichen modifiziert erfahrene Betroffenheit auf Gemeinsamkeit und Allgemeinheit abstellen. Religiöse Deutungssysteme spielen bei der Ausgestaltung solcher symbolischen Gesellschaftsbilder eine nicht unbeträchtliche Rolle. Sie repräsentieren gesellschaftliche Wirklichkeit in Begriffen der Allgemeinheit identitätsrelevanter Betroffenheit. In welcher spezifischen Weise dies von der Religion jeweils geleistet wird, hängt von dem Grad der Weltzugewandtheit der einschlägigen religiösen Einstellungen ab. Idealtypisch lassen sich zwei Extreme unterscheiden: Auf der einen Seite ist es ein volkskirchlicher Typ, der durch Abstraktionsleistungen solche Erfahrungstheorien der kommunikablen Betroffenheit im gesamtgesellschaftlichen Querschnitt auf hohem Generalisierungsniveau produziert und auf die jeweiligen gesellschaftlichen Teilbereiche gleichsam wieder herunteroperationalisiert.132 Auf anderer Seite scheint ein sektenartiger Typ religiöser Gruppierungen das Problem der-

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und Sachzwang, hg. von Horst Baier, S. 87–101. – Trutz Rendtorff: Die Zukunft der Religion und die Wirklichkeit der Freiheit, in: ZEE 22 (1978), S. 81–90. Vgl. hierzu Niklas Luhmann: Funktion der Religion (s.o. Anm. 52), S. 77–84.121– 125.245–248. – Karl-Wilhelm Dahm: Religiöse Kommunikation und kirchliche Institution (s.o. Anm. 43). – Heinrich Ludwig: Die Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung (s.o. Anm. 9), S. 13–15.95–97.161–166. – Verhalten, Handeln und System (s.o. Anm. 1). Vgl. hierzu Joachim Matthes: Die Emigration der Kirche aus der Gesellschaft (s.o. Anm. 34), S. 50–60. – Ernst Lange: Bildung als Problem und als Funktion der Kir-

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art zu lösen, daß sich kommunikative Betroffenheitsbewältigung ganz auf den religiösen Aspekt verengt, aus dem heraus die Wirklichkeit insgesamt gedeutet wird.133 In beiden Fällen geht es um die kommunikative Bewältigung der Folgen gesellschaftlicher Komplexität für den einzelnen. 3. Die transpersonale Dimension: Religiöse Funktionsmomente sozialer und geschichtlicher Partizipation 3.1 Herrschaftsbewältigung Den Kern der strukturfunktionalistischen Privatisierungsthese der Religion bildet die Aussage, daß Religiosität in der modernen Gesellschaft die Partizipationschancen einzelner nicht mehr zu fördern in der Lage ist, sondern allenfalls noch im Privatbereich absorbieren kann. Der These liegt eine nicht unproblematische Dichotomisierung von Öffentlichkeit und Privatheit zugrunde, in der die institutionalisierte Religion gleichsam zerrieben 121 wurde. Öffentliche Machtstrukturen, das „stahlharte Gehäuse“ (Max Weber), „der harte Fels der neuen Wirklichkeit“ (Ernst Troeltsch), erweisen sich als spröde, immun und abgeschottet gegenüber individuellen Einflußmöglichkeiten. Sie werden vom Individuum allenfalls noch perspektivisch tangiert, taugen aber kaum als Arena der Identitätsdarstellung. Vielmehr ist Privatheit zur Zufluchtsstätte des Identitätsgelingens geworden, und hierhin hat sich auch religiöses Leben verflüchtigt. Eine derart dualistische Sicht übersieht jedoch weitgehend, daß der Religion der modernen Gesellschaft nach wie vor noch eine „metainstitutionelle Kompetenz“ (Jakobus Wössner) zufällt, die sie als „Sozialtechnik im herrschaftsfreien Raum“ (Günter Kehrer) wahrnimmt. Auch religiöse Deutungsmuster können unter diesem Aspekt als Sinnkonstrukte betrachtet werden, in denen allgemeine Abhängigkeitserfahrung gewissermaßen kontrafaktisch gegen individuelle Teilhabepostulate eingelöst werden. Denn in der Religion „wird der Mensch seiner Abhängigkeit auf die Weise der Negation inne“134. Und gerade in der Idee religiöser Institution, die sich in Differenz zur Gesellschaft sieht, wird Freiheit als jenes Gegenbild zur Abhängigkeit entworfen, in der sich auch individuelle Partizipationsbelange zur Geltung bringen. So finden sich in jeder Religion Interpretationsgebilde,

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che, in: Erneuerung der Kirche – Stabilität als Chance (s.o. Anm. 63), S. 189–222. – Helmut Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? (s.o. Anm. 124). Vgl. hierzu Volker Drehsen: Krisenbewältigung durch Wandel zur Frömmigkeit (s.o. Anm. 58). – Leon Festinger, u.a.: When Prophecy Fails, New York 1964. Dietrich Rössler: Die Vernunft der Religion (s.o. Anm. 101), S. 20.

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welche die Antinomie von Abhängigkeit und Freiheit, den Widerspruch zwischen Herrschaft und Gehorsam sowie die diskrepanten Spannungslagen zwischen Bedürfniserfüllung und allgemeinem Verzicht in einer jeden Gesellschaft auch durch Negationen ihrer jeweiligen Machtstruktur ausdeuten, so daß Religiosität nicht nur herrschaftsstabilisierend oder -legitimierend, sondern durchaus auch prophetisch-protestierend, revolutionär, in jedem Falle aber politisch höchst brisant wirken kann. Auch mit der Erforschung dieser Frage hat die deutschsprachige Religions- und Kirchensoziologie bislang noch kaum begonnen. 3.2 Geschichtliche Kontingenzbewältigung Das Problem religiöser Partizipationsermöglichung stellt sich in anderer Perspektive noch einmal, wenn es um jenes Transzendierungsvermögen geht, das in sich Geschichte und Zukunft einholt. Es ist als Identitätsfrage gestellt, sobald dem einzelnen die Teilhabe am Weltganzen jenseits der räumlichen, zeitlichen und energetischen Grenzen des je eigenen ephemeren Daseins problematisch wird.135 Welche gesellschaftliche Bedeutung beispielsweise der religiösen Thematisierung von Holocaust und Gorleben zukommt, in der sich gewissermaßen die Allgemeinheit von bedrohender Geschichte gleichsam retrospektiv als Vergangenheitsbewältigung und pro 122spektiv als Zukunftsbewältigung in ihrer jeweiligen Handlungsrelevanz für die Gegenwart aufwirft, ist bislang noch ein weißer Fleck auf der Landkarte religionssoziologischer Problemforschung. Schlußbemerkung Bestandaufnahmen wissenschaftlicher Art dienen der Inventarisierung ihrer Forschungsprobleme – der erledigten ebenso wie der offenen. Im Unterschied zur kommerziellen Inventur können sie kaum auf Vollständigkeit zielen, sondern allenfalls perspektivisch und schwerpunktmäßig verfahren. Dies wurde hier im Hinblick auf die strukturfunktionalistische Religionsund Kirchensoziologie versucht. Das Gefälle der Darstellung, die innere Tendenz der Präsentation dürfte zumindest eines deutlich gemacht haben, 135

Zu diesem Problem vgl. Erich Brunmayr: Konzeptualisierung. Elemente, Struktur und Prozeß der Wirklichkeitskonstituierung. Diss. Univ. Linz 1975. – Volker Drehsen/Horst J. Helle: Religiosität und Bewußtsein (s.o. Anm. 112). – Ingo Mörth: Zur Konstitutionsanalyse religiöser Phänomene, in: Religionssoziologie als Wissenssoziologie (s.o. Anm. 112), S. 21–37.

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was als pointierte Grundthese der vorliegenden Bestandsaufnahme gelten mag: Die strukturell-funktionale Analyse als eine besonders ausgeprägte soziologische Schule mag der Soziologiegeschichte angehören und nur noch zur Profilierung jeweils gegenwärtiger Positionen gleichsam als Negativfolie herangezogen werden. Dabei ist die Gefahr freilich groß, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Denn der Strukturfunktionalismus als theoretische und methodische Sicht stellt nach wie vor auch in der deutschsprachigen Religions- und Kirchensoziologie ein Forschungsprogramm dar, dessen Einlösung weitgehend noch aussteht. Trotz Parsons’ und seiner engeren wie weiteren Verwandtschaft ist schlechterdings kaum eine soziologische Analyse denkbar – schon gar nicht, wenn sie sich perspektivisch auf die Religion bezieht –, die nicht auch strukturfunktionalistische Aspekte konstitutiv in sich aufnehmen müßte: Die strukturell-funktionale Analyse auch der Religion ist trotz der Wirkungen und Folgen Talcott Parsons’ kein Programm, das sich schulmäßig vereinnahmen oder gar domestizieren ließe, wo es denn als heuristische Chance konstruktiver Weiterbildung der Aufklärung über Religion begriffen wird.

Protestantische Frömmigkeit im neuzeitlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit. Einige soziologische Erwägungen zur Problemkonstitution wissenschaftlicher Frömmigkeitsforschung

I. „Protestantische Frömmigkeit“ als Thema der Wissenschaften „Protestantische Frömmigkeit“ ist ein prekäres Thema all derjenigen neuzeitlichen Wissenschaften, die es direkt oder indirekt mit der Erforschung von Religion in Geschichte und Gesellschaft zu tun haben. Obgleich sich „eine ganze Reihe von Disziplinen . . . für Frömmigkeit zuständig“ hält1 – unter ihnen Theologie und Religionswissenschaft, Psychologie und Sozialwissenschaft, Kultur- und Literaturwissenschaft, Philosophie, Volkskunde und Geschichtswissenschaft –, erscheinen immer wieder überblicksartige Darstellungen zur Frömmgikeitsthematik nahezu ausnahmslos in der Form von Desideratsanzeigen: Gemeinhin beklagt wird „der Mangel an wissenschaftlicher Aufklärung über Geschichte und Konstitution der Frömmigkeit“ überhaupt;2 geklagt wird allerorts auch über die Vernachlässigung der wissenschaftlichen Aspekte protestantischer Frömmigkeit insbesondere; kritisiert wird schließlich die Unzulänglichkeit durchgängig als einseitig empfundener Erforschung von konkreten Phänomenen protestantischer Frömmigkeit in den abgezirkelten Grenzen wissenschaftlicher Einzelperspektiven. 79 1. Protestantische Frömmigkeitsforschung als Desiderat Dabei ist das Klima des Lamentierens keineswegs neu. Als Anmahnung und Einklage eines Forschungsprogramms hat es eine mehr als hundertjährige Tradition aufzuweisen, deren Quellen manche auf die christliche Aufklä1

2

Hansgeorg Molitor: Frömmigkeit im Spätmittelalter und früher Neuzeit als historisch-methodisches Problem, in: Festgabe für Ernst Walter Zeeden, hg. von Horst Rabe, Münster 1976, S. 1–20. Dietrich Rössler: Frömmigkeit als Thema der Ethik, in: Handbuch der christlichen Ethik, Band 2, Gütersloh 1978, S. 506–517, 507.

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rung3, andere auf Schleiermacher4, einige erst auf die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts5 zurückführen. Ungeachtet solcher Differenzen in der Ursprungsdatierung von Frömmigkeitsforschung besteht gegenwärtig eine allgemeine Übereinstimmung darin, daß als eingelöste Realität beileibe nicht gelten kann, was immer, wann immer und wo auch immer Frömmigkeitsforschung als Programm gefordert wurde und wird. Als die Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozialwissenschaft“ 1977 ein Themaheft zu „Religion und Gesellschaft im 19. Jahrhundert“ präsentierte, war darin als einleitende Bemerkung von Wolfgang Schieder zu lesen: „Religionsgeschichtliche Probleme sind in Deutschland in der neueren sozialgeschichtlichen Forschung nicht so etabliert, daß es als selbstverständlich erscheinen könnte, dafür eine ganze Zeitschriftennummer zu reservieren“6. Nicht einmal also nur eine Zeitschriftennummer, wo doch andere bereits vorher dazu eine vollständige Wissenschaft, eine ganze Disziplin oder zumindest den distinkten Zweig eines Fachgebietes gefordert hatten, die sich allesamt dem Thema Frömmigkeit als Inbegriff gelebter Religionspraxis im Rahmen gesellschaftlicher Kultur und unter den Bedingungen geschichtlich überkommener Formen widmen sollten. So hatte einst Karl Sell bedauert, daß Frömmigkeit „noch nirgends zum Gegenstand einer methodischen, geschichtlichen Untersuchung gemacht worden“ sei.7 Auch Paul Drews gab 80 1901 den Hinweis, daß trotz der Fülle bereits vorliegenden Materials die Aufgabe der Frömmigkeitsforschung bis dato „noch nicht in Angriff genommen worden (sei), geschweige denn daß . . . (es) zu einer selbständigen Disziplin . . . geführt hätte“, um schließlich aufmunternd hinzuzufügen: „Dahin muß es aber kommen“8. Hans Preuß urteilte 1917: „Die Geschichte der christlichen 3

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Friedrich A. Ehrenfeuchter: Über den Begriff einer Geschichte des kirchlichen Lebens (1860), in: Praktische Theologie. Texte zum Werden und Selbstverständnis der praktischen Disziplin der evangelischen Theologie, hg. von Gerhard Krause, Darmstadt 1972, S. 105–112, 105.108. Ehrenfeuchter nennt Semler, Neander und Arnold. Hans R.G. Günther: Idee einer Geschichte der Frömmigkeit, Tübingen 1948, S. 8.11.17.28. Dietrich Rössler: Frömmigkeit als Thema der Ethik (s.o. Anm. 2), S. 507. Wolfgang Schieder: Religionsgeschichte als Sozialgeschichte, in: GuG 3 (1977), S. 291–298, 291. Karl Sell: Die wissenschaftlichen Aufgaben einer Geschichte der christlichen Religion, in: PrJ 98 (1899), S. 12–57, 13. Paul Drews: „Religiöse Volkskunde“, eine Aufgabe der praktischen Theologie, in: MKP 1 (1901), S.1–8, 6.

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Frömmigkeit ist noch nicht geschrieben worden. Ja es fehlen . . . für eine Geschichte der christlichen Frömmigkeit sogar noch die wichtigsten Vorarbeiten . . . “9. Diese Einschätzung konnte dreißig Jahre später Hans R. G. Günther in seinem Traktat „Idee einer Geschichte der Frömmigkeit“ unverändert erneuern: „Die ‚Geschichte der Frömmigkeit‘ gehört zur ‚Geschichte der menschlichen Seele‘. Die eine ist so ungeschrieben wie die andere“10. An dieser Mangelsituation hat sich bis in die Gegenwart hinein nichts grundlegend verändert, wie eine letzte Stimme aus dem Klagechor, in den einst u.a. auch religionswissenschaftliche Repräsentanten vom Schlage Friedrich Heilers11, Rudolf Ottos12, Joachim Wachs13 oder Ernst Troeltschs14 eingestimmt hatten, belegen mag. Franz Lau erklärte 1963 lapidar: „Das ‚religiöse Leben, also die Frömmigkeit‘ haben nur selten im Blickpunkt gestanden“15. Seit geraumer Zeit also zählt die Klage über den Mangel an Frömmigkeitsforschung zum Inventar derjenigen Wissenschaften, die beiläufig oder zentral mit Religion befaßt waren und noch sind. 2. „Protestantische Frömmigkeit“ – in defizitärer Perspektive Wo man das Desiderat der Frömmigkeitsforschung jedoch nicht generell auszumachen vermag, weil es sie zumindest in gewissen Teilbereichen – unübersehbar im katholischen Raum, im protestantischen Bereich wenigstens 9

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Hans Preuß: Luthers Frömmigkeit, Leipzig 1917, S. 1 f. – Vgl. auch Ders.: Die deutsche Frömmigkeit im Spiegel der bildenden Kunst, Berlin 1926, S. 1; ähnlich urteilen gegenwärtig auch Clemens Bauer: Deutscher Katholizismus. Entwicklungslinien und Profile, Frankfurt a. M. 1964, S. 32 und James J. Sheehan: Die Verwendung quantitativer Daten in politik- und sozialwissenschaftlichen Forschungen zur neueren deutschen Geschichte, in: Soziologie und Sozialgeschichte. Sonderheft 16 der KZSS, hg. von Peter C. Ludz, Opladen 1972, S. 584–614, 600. Hans R. G. Günther: Idee einer Geschichte der Frömmigkeit (s.o. Anm. 4), S. 8. Friedrich Heiler: Das Gebet, München 1919. Rudolf Otto: Das Heilige, Breslau 1917. Joachim Wach: Religionswissenschaft. Prolegomena zu ihrer wissenschaftstheoretischen Grundlegung, Leipzig 1924. Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen 1912. Franz Lau: La vie religieuse dans les pays protestantes de langue allemande à la fin du XVIe siécle, in: Colloque d’histoire religieuse, Lyon Octobre 1963, Grenoble 1963, S. 102; zitiert nach: Hansgeorg Molitor: Frömmigkeit im Spätmittelalter und früher Neuzeit als historisch-methodisches Problem (s.o. Anm. 1), S. 3.

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für die Zeit der Reformation 81 und des Pietismus16 – ansatzweise doch gibt, spürt man dennoch gravierende Defizite auf. Nicht das Fehlen aufschlußreicher Frömmigkeitsforschung überhaupt steht hier im Vordergrund der Kritik, sondern das Verdikt methodischer, thematischer, zeitlicher und perspektivischer Engführungen des Themas „Religion und Frömmigkeit“: Diejenige jeweils konfessionelle, theoriepraktische und fachspezifische Vereinseitigung steht zur Diskussion, die bislang einer soziologisch sachgemäßen Frömmigkeitsforschung hindernd im Wege stand: a) Die konfessions- und epochalspezifische Verengung des Frömmigkeitsthemas Die konfessionsspezifische und darin auch epochalspezifische Verengung frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektiven hat der (katholische) Historiker Hansgeorg Molitor in einem Überblickreferat besonders hervorgehoben: „Das Interesse der Forschung an der nachreformatorischen Frömmigkeit ist (im Unterschied zum Interesse an der vorreformatorischen Frömmigkeit des Spätmittelalters, V.D.) gering“. Und für die Zeit der nachreformatorischen Frömmigkeitsepoche gilt: „Sehr viel mehr Arbeiten beschäftigen sich mit der katholischen Frömmigkeit als mit der Frömmigkeit der lutherischen und reformierten Kirchen“17. Ein solches Ungleichgewicht signalisiert Schwierigkeiten: Liegt in der protestantischen Eigenart begründet, daß sie der herkömmlichen wissenschaftlichen Frömmigkeitsforschung nur schwer zugänglich ist? Oder handelt es sich um einen Defekt im wissenschaftlichen Wahrnehmungsinteresse? Molitor erklärt sich denn auch „das einseitige Engagement der Volkskunde“ dadurch, daß „sie sich zu lange auf den ‚bequemen aber verhängnisvollen Irrweg‘ begab, das Vorreformatorische als das eigentlich Volkstümliche, den Protestantismus dagegen als blasse Buchreligion zu betrachten und sich deswegen auf die Beschäftigung mit Formen katholischer Frömmigkeit zu beschränken oder 82 sich gar vornehmlich der bajuwarisch-alpenländischen Volksfrömmigkeit zuzuwenden“18. Wie immer sich die Problemlage erklären mag: Auffällig bleibt, daß es einen auf die Konfessionen bezogenen unausgewogenen Forschungsstand gibt; auffällig bleibt der Sachverhalt, daß sich die wissenschaftliche Erfassung protestantischer Frömmigkeit ungleich schwieriger ausnimmt als die der katholischen Frömmigkeit; auffällig bleibt schließlich eine Diskre16 17

18

Wolfgang Schieder: Religionsgeschichte als Sozialgeschichte (s.o. Anm. 6). Hansgeorg Molitor: Frömmigkeit im Spätmittelalter und früher Neuzeit als historisch-methodisches Problem (s.o. Anm. 1), S. 3. Ebd., S. 8.

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panz, die jenseits kontroverstheologischer Erwägungen erklärungsbedürftig erscheint. Es wird zu klären sein, ob für die konfessionsspezifische Verengung der Frömmigkeitsforschung sachliche Anhaltspunkte in der Differenz der Konfessionen selbst und deren neuzeitlicher Ausgestaltung zu finden sind, wie etwa Dietrich Rössler meint: „In der reformatorischen Theologie selbst liegen Gründe dafür, daß Frömmigkeit nicht zum selbständigen theologischen Thema wurde, wie dafür, daß ihr gleichwohl zentrale theologische Bedeutung zukommt“.19 b) Die institutions- und ideengeschichtliche Verengung des Frömmigkeitsthemas Doch auch die expliziten Programme zur Erforschung von protestantischer Frömmigkeit setzen sich in der Regel durch die Diagnostizierung partikularer Ausgangsbedingungen in Szene, die als Hemmnisse einer sachgemäßen Frömmigkeitsforschung vornehmlich im protestantischen Bereich angesehen werden. Wenn beispielsweise Friedrich Ehrenfeuchter bereits 1860 schrieb: „Es ist bekannt, daß die neuere Geschichtsschreibung der Kirche, besonders seit Neanders Zeit, auch das Leben der Kirche, die Gestalt ihrer Gottesdienste, ihrer sozialen Einrichtungen in ihren Kreis aufgenommen hat“, und dann ausdrücklich hinzufügte: „So ist die Historiographie der Kirche mit einem neuen Element bereichert worden“, dann macht er auf einen Ergänzungsaspekt aufmerksam, den er selbst als „die individuelle Bildung der christlichen Gesinnung“ bezeichnet.20 In diesem Zusammenhang fällt dann auch ein Verweis 83 auf Johann Salomo Semlers „bekannte Unterscheidung von Privatfrömmigkeit und öffentlicher Religion“21. Die „Geschichte der Frömmigkeit“ wäre demnach „eine Geschichte der manngifaltigen individuellen Züge geworden, die im Leben der Religion spielen“22. Wie hier bei Ehrenfeuchter so wird auch später immer wieder ein dezidiertes Abgrenzungsinteresse gegenüber „bloß“ objektivierender und „bloß“ intellektualisierender Religionsgeschichtsschreibung deutlich, das Interesse an Komplettierung einer solchen wissenschaftlichen Sicht, die so gut wie ausschließlich an den institutionalisierten Formen von Kirche 19

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21 22

Dietrich Rössler: Gelebte Religion als Frage an wissenschaftliche Theologie, in: Gelebte Religion, hg. von Johannes Hanselmann/Dietrich Rössler, München 1978, S. 9–27, 10. Friedrich A. Ehrenfeuchter: Über den Begriff einer Geschichte des kirchlichen Lebens (s.o. Anm. 3), S. 105. Ebd., S. 108. Ebd.

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und ideengeschichtlichen Substraten theologischer Dogmatik orientiert ist: einer Sicht mithin, die gerade darum als belastend angesehen wird, weil sie die Frömmigkeitswirklichkeit vermeintlich objektiv nur in die Perspektive des Normativen zwängt – sei es die normative Kraft des faktisch Gewordenen, sei es die des idealiter Gesollten – und infolgedessen die unendliche Mannigfaltigkeit und Vielgestaltigkeit der auch nicht theologisch instrumentalisierten und auch nicht kirchenamtlich formierten Frömmigkeit kaum in den Blick bekommt. Sie ist – wie Hans Günther schreibt – „ihrer inneren Grundstruktur nach eine normative, normierende, keine eigentlich geschichtliche Disziplin“23. Diese läßt sich vielmehr erst gewinnen, wenn sie sich als „der subjektive Teil der ganzen allgemeinen Religionsgeschichte“ konzipiert findet.24 In diesem sachlichen Zusammenhang hatte vorher schon Joachim Wach das Defizitäre wie Programmatische gleichermaßen auf den Begriff gebracht, als er sich wünschte, „daß neben der Geschichte der Kirche und der übrigen objektiven Elemente der Religionen (Lehre, Kultus) doch auch ihre Entwicklung, der Wandel und die Bewegung der religiösen Innerlichkeit studiert werden möchten“25. Der Grundsatz „individuum est ineffabile“, der spätestens seit Schleiermacher eng mit dem Frömmigkeitsbegriff verknüpft war, gewinnt hier seine Ergänzungsfunktion ebenso gegenüber kirchenamtlich-institutioneller wie theologisch- 84intellektueller Objektivation. Liegt nicht auch in diesem Aspekt beschlossen, daß protestantische Frömmigkeit begrifflich nur so mühsam zu bestimmen ist? Jedenfalls sieht Hansgeorg Molitor in diesem Umstand eine zweite Ursache für deren perspektivische Vernachlässigung: „Wenn Frömmigkeit nur individuelle Frommheit ist . . . , da muß bezweifelt werden, ob man diese Frommheit überhaupt fassen kann . . . “26. c) Die individualistische und psychologische Verengung des Frömmigkeitsthemas Die Definition von Frömmigkeit als der „subjektiven Seite der Religion“27 war ursprünglich als Gegenentwurf konzipiert gegenüber ihren objektiven Ausdrucksformen in kirchlicher Organisation, theologischer Lehre und so23 24 25 26

27

Hans R. G. Günther: Idee einer Geschichte der Frömmigkeit (s.o. Anm. 4), S. 27. Ebd. Joachim Wach: Religionswissenschaft (s.o. Anm. 13), S. 89. Hansgeorg Molitor: Frömmigkeit im Spätmittelalter und früher Neuzeit als historisch-methodisches Problem (s.o. Anm. 1), S. 9. Wolfgang Trillhaas: Art. „Frömmigkeit“, in: RGG3, Band 2 (1958), Sp. 1158–1162, 1158.

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zialer Frömmigkeitstradition. Damit wurde ohne Zweifel der Blick freigelegt für „eine fortschreitende Emanzipation des Individuums von der kirchlichen Institution, die wesentlich durch den Verfall objektiver, in der Sitte begründeter Frömmigkeitsformen zugunsten eines subjektiven ‚Privatverhältnisses‘ zu Gott begleitet ist“28. Doch blieb auch dieser Sicht der Vorwurf der Engführung in dem Maße nicht erspart, wie sie Frömmigkeit zu einem „rein psychologischen Tatbestand“ verkürzte und zum nahezu exklusiven Gegenstand der Religionspsychologie erklärte. Gegen solche Partikularisierungstendenzen machte Friedrich Fürstenberg geltend: „Jede Haltung, also auch die der ‚Frömmigkeit‘, entsteht durch Situationsbezug und wird ihrerseits erst wieder in Situationen manifest, ist also umweltbezogen . . . Es ist unzulänglich, Frömmigkeit als reines Individualphänomen zu verstehen“, weil „die Frömmigkeit eines Menschen durchaus Sozialaspekte hat, etwa dadurch, daß die Art und Weise religiöser Erfahrung durch soziale Umwelteinflüsse vorgegeben ist oder dadurch, daß Frömmigkeit sich in ganz bestimmten, durch Tradition festgelegten Formen äußert“29 . Mit dieser Zurechtrückung ist nicht nur „das 85 protestantische Problem“ einer bislang unaufgelösten Spannung im Kirchenbegriff erneut in den Vordergrund gerückt,30 sondern zugleich pointiert die Frage nach dem umfassenden Verflechtungszusammenhang protestantischer Frömmigkeit gestellt. 3. „Ambition totalisante“ als Motiv protestantischer Frömmigkeitsforschung Damit nähern wir uns, nachdem bisher überwiegend von Desiderata, Defiziten und Perspektivverzerrungen die Rede war, einem nicht unmaßgeblichen konstruktiven Entstehungsgrund des wissenschaftlichen Interesses an protestantischer Frömmigkeit, der ebenfalls immer wieder das Programm ihrer Erforschung provoziert hat: das Motiv nämlich, einen Blick auf die Gesamtheit der bislang nur verkürzt ansichtigen geschichtlichen und sozialen Realität zu gewinnen, in die Frömmigkeit insgesamt nicht nur verwoben ist, sondern die Frömmigkeit – jedenfalls nach Auskunft maßgeblicher Religionstheorien –, wenngleich unter verschiedenartigsten Möglichkeitsbe-

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29 30

Friedrich Fürstenberg: Der Strukturwandel protestantischer Frömmigkeit als soziologisches Problem, in: ASRel 4 (1959), S. 71–80, 73. Ebd., S. 71. Vgl. Wolfgang Trillhaas: Dogmatik, 2. Auflage, Berlin 1967, S. 511. – Dietrich Rössler: Kirche-Christentum-Gesellschaft, in: Friedrich Wintzer: Praktische Theologie, Neukirchen 1982, S. 20–28, 23.

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dingungen, selbst erst eigentlich mit konstituiert.31 Die in den Frömmigkeitsforschungsprogrammen jeweils inkriminierten Perspektivverengungen – konfessionelle wie temporale Eingrenzungen, kirchliche wie theologische Konstrukte, individualistische wie einzeldisziplinäre Reduktionen – produzieren jeweils lediglich Karikaturen nicht-repräsentativer Frömmigkeitstypen. Sie mögen im einzelnen – in bestimmten Konstellationen, zu bestimmten Zeiten, unter bestimmten Bedingungen – jeweils mehr oder weniger maßgeblich das Gesicht spezifischer Frömmigkeitstypen mitgeprägt haben, charakteristisch für die Frömmigkeit als solche sind sie aber offenbar nicht. Frömmigkeit läßt sich offenbar nicht durch die Heraushebung ihrer Skurrilitäten bestimmen. Jedenfalls scheint diese Meinung bestimmend zu sein, wo immer in den 86 Forschungsprogrammen der Hinweis auftaucht, daß auch protestantische Frömmigkeit keinen „isolierten Gegenstandsbereich“ bildet, sondern „in einem integrierten Zusammenhang mit Staat und Gesellschaft“ steht, so etwa Wolfgang Schieder32; oder anders gesagt: daß „eine beschreibende Darstellung des religiösen Lebens der Gegenwart im Zusammenhang mit seinem geschichtlichen Werden aufgrund einer eindringlichen psychologischen Analyse des Volkscharakters wie der Gruppen und individuellen Typen“ erforderlich ist, so Paul Drews;33 denn: „Die Religion . . . ist bedingt von und verankert in den gesamten Komplex des geistigen und materiellen Seins“34. In der beschriebenen Abkehr und Kritik von restriktiven Perspektiven der Frömmigkeitsforschung prägt sich also eine ausgesprochene „ambition totalisanteäus,35 die das eigene Recht eines Gesamtlebens oder Lebenszusammenhanges zur Geltung zu bringen sucht, in die Frömmigkeit offenbar

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Vgl. Peter L. Berger/Thomas Luckmann: The Social Construction of Reality, Garden City (N.Y.) 1966. –Thomas Luckmann: The Invisible Religion, New York 1967. – Friedrich Schleiermacher: Über die Religion, hg. von Hans-Joachim Rothert, Hamburg 1958. – Friedrich H. Tenbruck: Geschichtserfahrung und Religion in der heutigen Gesellschaft, in: Friedrich H. Tenbruck u. a.: Spricht Gott in der Geschichte?, Freiburg i.B. 1972, S. 9–19. Wolfgang Schieder: Religionsgeschichte als Sozialgeschichte (s.o. Anm. 6), S. 296. Paul Drews: „Religiöse Volkskunde“, eine Aufgabe der praktischen Theologie (s.o. Anm. 8), S. 1. Paul Drews: Art. „Volkskunde, religiöse“, in: RGG1, Band 5 (1913), Sp. 1746–1754, 1748. Roland J. Campiche: Religion, Valeurs, et Vie quotidienne. Dimensione d’une problématique, in: Actes de 16ème conférence internationale de sociologie des religions, Lausanne 1981, S. 14.

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in konstitutiver Weise eingewurzelt ist.36 Die methodologische Konsequenz aus dieser Einsicht hat Wolfgang Schieder beschrieben als die Überführung „einer Sozialgeschichte der Religion“ in den „Gesamtzusammenhang der modernen Sozialgeschichte“37, deren Spannbreite durch die Eckwerte von Kultur, Identität und Gesellschaft umrissen wird. Berücksichtigt man, daß Schieder mit diesem Zusammenhang „Religionsgeschichte“ keine in sich abgeschottete und für sich eigendynamische Wissenschaftsdisziplin meinen kann, so ergeben sich zwei erläuternde Bemerkungen fast von selbst: (1) Die Erforschung protestantischer Frömmigkeit ist insofern für manche andere wissenschaftliche Beschreibungen durchaus paradigmatisch, als in ihr offenbar ein größerer Kontext thematisch wird, dessen Einheit und Zusammenhalt in jeweils 87 einzelwissenschaftlichen Perspektiven allein nicht ansichtig zu werden vermag. Es ist eine bedenkenswerte, wenngleich noch kaum erforschte Beobachtung, daß das Thema protestantischer Frömmigkeit immer dann programmatisch in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Interessen rückte, als sich zugleich ein allgemeines Klima der Wissenschaftskritik an überkommener Fachspezialisierung, Positivierung und Historisierung zu Recht oder zu Unrecht verbreitet hatte. Nicht nur die christliche Aufklärung und Schleiermacher, sondern auch die darin sog. „klassische“ Religionssoziologie, daß sie als disziplinär domestizierte Religionssoziologie nicht gelten konnte, sondern etwa bei Max Weber oder Georg Simmel im Zusammenhang einer allgemeinen Gesellschaftstheorie stand, aber auch die Reformbemühungen, die innerhalb der Theologie die empirische Wende oder die Wende zur Empirie mit Gründen auszustatten bemüht waren – also etwa: Paul Drews, Otto Baumgarten, Friedrich Niebergall und dann vor allem auch Ernst Troeltsch – mögen als historische Zeugen für die enge Verknüpfung von Frömmigkeitswahrnehmung und Wissenschaftskritik gelten. (2) Auch darin ist zweitens das wissenschaftliche Programm protestantischer Frömmigkeitsforschung exemplarisch, daß sie ein Gegenstand interdisziplinären Bemühens par excellence ist; sie stellt – wie Hansgeorg Molitor resümiert – „ein Musterbeispiel für ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben“ dar.38 Offenbar sieht sich keine Wissenschaftsdisziplin mehr allein dazu in der Lage, die Phänomene protestantischer Frömmigkeit hinreichend und abschließend zu interpretieren oder gar zu 88 erklären; offenbar han36 37 38

Vgl. hierzu vor allem Georg Simmel: Die Religion, Frankfurt a.M. 1906. Wolfgang Schieder: Religionsgeschichte als Sozialgeschichte (s.o. Anm. 6), S. 296. Hansgeorg Molitor: Frömmigkeit im Spätmittelalter und früher Neuzeit als historisch-methodisches Problem (s.o. Anm. 1), S. 20.

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delt es sich hierbei um einen Sachverhalt, der sich den spezialisierten Zugriffsmöglichkeiten isolierter Wissenschaftsdisziplinen entzieht und durch deren bloße Addition auch nicht gewonnen werden kann – auch oder gerade darum, weil Frömmigkeit Ingredienzen jenes religiösen Gesamtzusammenhangs umfaßt, der sich durch Lehre und Theorie vollständig nicht reproduzieren läßt, weil protestantische Frömmigkeit in mancherlei Hinsicht just jenes Moment an Überschuß enthält, das religiöse Lebenspraxis ihrer Theorie prinzipiell voraus hat. Was protestantische Frömmigkeit also ist, erhellt zunächst aus der Art, wie sie sich äußert: Als Thema verdanken wir protestantische Frömmigkeit der Reformation, dem Pietismus der Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts – eher also Bewegungen ihres bewußten praktischen Vollzugs als Bestrebungen ihrer theoretischen Problematisierung. Erst ihre soziale Dynamik, ihre extensive Selbstdarstellung, die Explikation ihres Eigenverständnisses haben Frömmigkeit zum Gegenstand auch der wissenschaftlichen Reflexion erhoben – zumindest im protestantischen Bereich. Unter dem Gesichtspunkt ihrer Problemkonstitution lassen sich zwei Themen in diesem Zusammenhang plausibel machen: (1) Unter dem Eindruck von Frömmigkeitsbewegungen werden die begrifflichen Merkmale der protestantischen Frömmigkeit durch eine Art Gegensatzbildung gewonnen, die nicht so sehr auf alternative Polarisation als vielmehr auf die Komplettierung eines in seiner Vielfalt bislang so nicht wahrgenommenen Sachverhalts aus ist. 89 (2) Unter dem Eindruck von Frömmigkeitsbewegungen vollzieht sich deren Thematisierung als protestantische Frömmigkeit nicht primär unter den Gesichtspunkten ihrer emphatischen Behauptung oder pejorativen Bestreitung, sondern vorrangig in der Perspektive ihrer faktisch-sozialen Geltung, mithin im Verstehen dessen, wie und warum Formen protestantischer Frömmigkeit unter den Bedingungen der Neuzeit so geworden sind, wie sie sich jeweils als gegenwärtige empirisch darstellen. II. „Entzweiung als Signatur“ neuzeitlicher Frömmigkeitsbewegungen Die These, daß unter dem Eindruck von Frömmigkeitsbewegungen die begrifflichen Merkmale von protestantischer Frömmigkeit durch eine Art Gegensatzbildung gewonnen werden, die nicht so sehr auf alternative Polarisation als vielmehr auf die Komplettierung eines in seiner Vielfalt bislang so nicht wahrgenommenen Sachverhalts abzielt, besagt zunächst: Frömmigkeit gewinnt als Thema durch diejenigen Momente ihrer Selbstunterscheidung an Profil, mit denen sie gemeinhin selbst aufzutreten pflegt. Ein Konstitu-

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tionsmerkmal von Frömmigkeitsbewegung ist es also, daß sie sich abseits der Verschiedenheit ihrer jeweiligen Motivlagen vor allem als Widerspruch in Szene setzt. Zwei Unterscheidungsfiguren haben dabei als Voraussetzung immer wieder eine ausschlaggebende Rolle im protestantischen Bereich gespielt: 1. Die Unterscheidung von Christentum und Kirchlichkeit Zunächst weist die Unterscheidung von Christentum und Kirchlichkeit darauf hin, daß Frömmigkeit keineswegs in derjenigen Lebensgestalt aufgeht, die sich jeweils als ihre soziale Institutionalisierung geriert: Gegenüber Kirchlichkeit 90 als gesellschaftlich organisierter Religionspraxis bringen Frömmigkeitsbewegungen ebenso die Möglichkeit wie auch die Notwendigkeit eines subjektbezogenen, eigenkontrollierten Handelns zur Geltung, dessen Reichweite faktisch oder gewollt auch jene Bereiche mit umfaßt, die durch kirchlich organisierte Handlungsrepräsentanz vollständig nicht abgegolten sind. Es interessiert in diesem Zusammenhang weniger die Frage, wo und wann denn die Entstehung eines solchen Ansatzes historisch auszumachen ist, als vielmehr das Problem seiner charakteristischen Eigenart; und deren Gestalt wurde bisher einhellig mit den historischen Daten der Reformation, des Pietismus und der Schleiermacher’schen Bestimmung von Frömmigkeit verknüpft gesehen. a) Mit Luthers Bibelübersetzung tritt denn auch erstmals der althochdeutsch-gotische, alltagsethische Begriff „fruma“ bzw. „frum“ in enger Beziehung mit religiösem Verhalten auf, ohne daß freilich „frumkeyt“ auch ein eigenständiges Thema der lutherischen Theologie gebildet hätte. Dennoch erhält diese Theologie mit ihren Herzstücken des Glaubensverständnisses und der Rechtfertigungslehre eine solche durchaus allgemein gewordene charakteristische Fassung, die es erlaubt, von einem eigenständigen Idealtypus der reformatorischen Frömmigkeit zu sprechen. Es sind vor allem zwei Momente daran für die Bestimmung der Frömmigkeit sozialgeschichtlich bedeutsam geworden: einmal das Moment der Subjektivität, das sich gleichermaßen gegenüber Tradition (fides historica) wie Institution (sakramental-hierarchische Amtskirche) unterschieden weiß; und zum anderen das Moment des alltagsethischen „Aktivismus“, der sich nicht in der Befolgung spezifischer consilia evangelica (gegen monastische Frömmigkeit) oder in irgendeiner anderen verselbständigten Sittlichkeitsform (gegen Schwärmertum), sondern einzig und allein an derjenigen 91 Stelle erfüllt, an die der Christ durch Gebot und Schicksal gestellt ist: im „rechtschaffenen Leben in den Ordnungen der Welt“, deren Geregeltsein durch die iustitia civilis als der einzig

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mögliche sichtbare Reflex einer iustitia christiana gelten konnte. An der reformatorischen Frömmigkeit ist so in durchaus ambivalenter Weise eine „Signatur der Entzweiung“ vorgeprägt, die fortan allgemein das Bild jeder protestantischen Frömmigkeitsbewegung bestimmen sollte. Wenn heute etwa Siegfried von Kortzfleisch schreibt: „Frömmigkeit ist der sichtbare und beschreibbare Reflex des Glaubens im sozial vermittelten Verhalten . . ., im Verhältnis zur Amts- und Lehrkirche ist Frömmigkeit die subjektive, auch emotionale Seite der Religiosität“39, so bringt er genau diese in der Ambivalenz von Verinnerlichung und Veräußerung bestehende Grundkonstellation der Frömmigkeit zum Ausdruck, die in der reformatorischen Bewegung in profilierter Weise Gestalt angenommen hat und fortan durch die vielfältigen Varianten der Unterscheidungsfiguren etwa von spontanem Individuum und organisierter Institution, objektivierter Tradition und subjektiver Aneignung, verinnerlichter Wahlfreiheit und veräußertem Sozialisationszwang, individuellem Erleben und allgemein verbindlichem Dogma, persönlichkeitsintegrierter Praxis und rollendefiniertem Verhalten in Erscheinung trat. Frömmigkeit bezeichnet dabei stets den Aspekt einer subjektiv internalisierten Glaubens- und Überzeugungsreligiosität, die gleichwohl sozialer Objektivierungsformen bedarf, um als solche erkenntlich zu bleiben. b) Daß dieser Objektivierungszwang durch kirchliche Repräsentation nicht vollständig eingelöst wird, tritt deutlich am Pietismus zutage, der einerseits die Linie 92 der Subjektivierung fortsetzt, indem er – etwa wie Johann Arndt – mit dem Rekurs auf die Inwendigkeit des Christentums das ursprüngliche Recht des subjektiven Glaubens gegenüber seinen institutionellen Vermittlungsformen betont, der andererseits jedoch – am sichtbarsten vielleicht bei Speners collegia pietatis – eine Öffentlichkeit herzustellen sucht, in der sich gesellschaftliche Kerngruppen auf der Basis von Frömmigkeit selbständig gegenüber Staat und Kirche organisieren, ohne sich dabei auch zwangsläufig von diesen separieren zu müssen. Dahinter steht vielmehr das Bemühen, Frömmigkeit in einer anderen Weise zum Ausdruck zu bringen, als sie in ihren herkömmlichen Institutionalisierungsformen ansichtig ist: Daß so die organisierte Religion ihre Identität mit der gelebten Religiosität ein Stück weit verliert, stellt nur eine weitere Spielart des Sachverhaltes dar, daß sich Frömmigkeit durch Unterschiedenheit konstituiert. c) Dieser Umstand ist schließlich auch von Schleiermacher auf den Begriff gebracht worden, der Frömmigkeit als Gefühl gegenüber Tun (Moral) 39

Siegfried von Kortzfleisch: Frömmigkeit in dieser Zeit, in: Lutherische Monatsschrift 11 (1972), S. 654 ff., 655.

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und Wissen (Metaphysik) abgrenzt und gerade in dieser Bestimmung ihre sozialisierende Kraft und zwar in Hinblick sowohl auf kirchliche Gemeinschaften als auch auf die Gesellschaft überhaupt garantiert sieht. Schon diese wenigen Andeutungen zeigen, daß in der Tat Frömmigkeit als eigenes Thema dadurch deutungsbedürftig wird, daß sie sich in allen ihren Äußerungsformen von sozial verfaßter Kirchlichkeit unterscheidet und erst eigentlich aus dieser, wenn auch vielfältig dimensionierten Differenz ihre eigentümlichen Konturen gewinnt: Unterschiedenheit zur kirchlichen Institution kann darum in der einen oder anderen Weise durchaus als Bestimmungsgrund von protestantischer Frömmigkeit in Anspruch genommen werden. 93 2. Die Unterscheidung von Theologie und Religion Der oben beschriebene Befund findet seine Bestätigung, wenn man eine zweite fundamentale Distinktion betrachtet, auf deren Grund sich ebenfalls protestantische Frömmigkeit konstituiert: Es ist die Unterscheidung von Theologie und Religion, die darauf hinweist, daß sich Frömmigkeit auch nicht in dem erschöpft, was sich als ihr sprachlich artikulierter oder theoretisch reflektierter Ausdruck zu Wort meldet. Gegenüber jeglicher Gestalt von abgehobener Theologie, die sich als organisierter Vorrat religiösen Wissens geltend macht, zielt Frömmigkeit auf die Kongruenz des subjektbezogenen, autonomen Handelns mit einer ihr entsprechenden subjektbezogenen, eigenkonstituierten Theorie, die jedoch in der herkömmlichen Theologie noch nicht bereitliegt. Auch in diesem Zusammenhang mögen nur ein paar historische Hinweise genügen, um das Gemeinsame in den mannigfaltigen Frömmigkeitsmerkmalen zu illustrieren: die Spannung etwa zwischen der paulinischen Theologie und den Pastoralbriefen, in denen Frömmigkeit als die Weise erscheint, „wie das Wort der Offenbarung und Glaube und Liebe zur Aneignung und zur gelebten Form kommt“40; oder der Übergang von der „knienden“ Theologie des asketischen Mönchtums zur „sitzenden“ Theologie des scholastischen Systems;41 oder die Inkrimination der spekulativen Theologie gegenüber der scotistischen und lutherischen Wertschätzung einer theologia practica;42 oder die Prärogative, die der Pietismus 40

41

42

Robert Leuenberger: Frömmigkeit als theologisches Problem, in: ThPr 2 (1967), S. 110–118, 113. Hans U. von Balthasar: Verbum Caro. Skizzen zur Theologie, Band 1, Einsiedeln 1960, S. 224. Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973, S. 230–240.

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der praxis pietatis und ihrem Eigenverständnis gegenüber der orthodoxen Schultheologie zugestand und darin die Bestimmungsmomente der gelebten Religiosität zum nachhaltigen Kritikmotiv der akademischen Theologie erhob;43 oder auch schließlich die Distinktions- und Vermittlungsversuche, die etwa Schleiermacher auf der Grundlage jenes Gedankens einer Autonomie der Religion unternommen hat, „der in dem raschen 94 Wechsel einander sich ablösender wissenschaftlicher Strömungen der Theologie eine gewisse Stetigkeit des Wachstums auf ihrem eigenen Grund ermöglicht hat“44. Die Reihe der Beispiele und Paradigmen ließe sich bis in die heutige Zeit beliebig fortsetzen, um daran zu zeigen, wie Frömmigkeit zur Sprache kommt, wo sich das Auseinanderklaffen von Leben und Lehre, von Theorie und Praxis, von Wissen und Glauben, oder auch von Frömmigkeit und Bildung als Variationsmodi der ihnen allen zugrunde liegenden Unterscheidung von Theologie und Religion als Problemtitel erweist. Frömmigkeit stellt sich unter diesem Aspekt als Inbegriff desjenigen Verständnisses von Praxis, Leben oder Handeln dar, das sich durch all deren intellektualistische Substrate nicht hinreichend zum Ausdruck gebracht sieht. Eine spezifisch soziologische Prägung hat die Unterscheidung von Theologie und Religion dort bekommen, wo die stratifikatorische Verteilung religiösen Wissens entweder in legitimierender oder aber in nur beschreibender Absicht in Rechnung gestellt wurde. Zuweilen wird gerade an diesem Punkte der genuine Quellort der volkstümlichen Frömmigkeitsforschung gesichtet: im klerikalen Kampf gegen populären Aberglauben etwa, in der anfänglich wohlwollenden Zuwendung des Humanismus zu den Lebensäußerungen des Volkes, in der mehr auf Verständnis als auf Denunziation zielenden Zwei-Klassen-Theorie der christlichen Aufklärung, sowie in den vielen anderen Gestalten, in denen sich gebildete Eliten als Träger von Wissenschaft und Lehre einerseits und ungebildetes „Volk“ als Repräsentant von Frömmigkeit, Aberglaube und zu vollem Bewußtsein seiner selbst noch nicht aufgestiegenem Leben andererseits auseinanderfalten. Auch unter diesem Gesichtspunkt gilt die allgemeine Feststellung Alberich M. Altermatts: „Die Definition von ‚Volksreligion‘ wird von einem Gegensatz bestimmt“45, 43

44

45

Dietrich Rössler: Gelebte Religion als Frage an wissenschaftliche Theologie (s.o. Anm. 19). – Dietrich Rössler: Fromm sein als Protestant, in: EK 11 (1978), S. 81– 85. – Dietrich Rössler: Frömmigkeit als Thema der Ethik (s.o. Anm. 2). Otto Kirn: Art. „Schleiermacher, Friedrich“, in: RE3, Band 17 (1906), S. 587–617, 595. Alberich M. Altermatt: Die aktuelle Debatte um die Volksreligion in Frankreich, in: Wiederentdeckung der Volksreligiosität, Regensburg 1979, hg. von Joachim Baumgartner, Regensburg 1979, S. 187.

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– einem Gegensatz, den er näher beschreibt als Unterscheidung von Volk und Elite, Laien und Klerus, Leben und Wissenschaft, Gebildeten und Ungebildeten. Auch in dieser Perspektive trägt Frömmigkeit 95 insofern die „Signatur der Entzweiung“, als sich in ihr ein Anspruch zu Wort meldet, der „christliches Denken und christliches Leben in ihrer ursprünglichen Einheit zurückzugewinnen“ sucht46 – eine Einheit, aus der theologische Reflexion und kirchliche Lebensgestalt gleichsam erst sekundär hervorgegangen sind. In dem Bemühen, ursprüngliche Quellen freizulegen, deren Ort unter dem Eindruck dessen, was aus ihnen geworden ist, mittlerweile vergessen zu sein scheint, ist überdies eine nähere Charakteristik der sich jeweils selbst unterscheidenden Frömmigkeit enthalten. Denn was Frömmigkeit zur Geltung bringt, tritt nur in seltenen Fällen in der Gestalt einander sich ausschließender Dichotomien auf; Frömmigkeit stellt sich vielmehr im Regelfall kaum als antagonistischer Gegenpol zu kirchlicher Institution und theologischer Wissenschaft dar, sondern beides – Kirche und Theologie – werden in kaum einer Gestalt von Frömmigkeit – und mag sie sich auch noch so der Grenzlinie des Häretischen nähern – grundsätzlich und abschließend in Frage gestellt. In ihrer auch sozialen Distinktion zielen Frömmigkeitsbewegungen vielmehr auf die Komplettierung desjenigen Sachverhalts von Theologie und Kirche, der in deren jeweils historisch greifbaren Lebesgestalt weder angemessen noch erschöpfend repräsentiert erscheint. Gegenüber der Mehrdimensionalität des Lebens, die sich in Frömmigkeit ihren genuinen Ausdruck verschafft, können kirchliche Verfassung und theologisches Extrakt vielmehr lediglich als partikulare Erscheinungsformen gelten, ohne in ihrem prinzipiellen Geltungsrecht durch Frömmigkeitsbewegungen in Frage gestellt zu sein. Gegenüber Kirche und Theologie besteht das entscheidende Element der Frömmigkeitsgrundlage eher in einer durch sie begründeten Prärogative als in einer durch sie nur tendenziell ins Spiel gebrachten Polarisierung: Das Leben ist es, was seinen Primat gegenüber jeglicher Art von Lehre und Organisation behauptet. So intendierte beispielsweise Speners Drei-Stände-Theorie eher 96 die Einlösung des Postulats eines „allgemeinen Priestertums aller Gläubigen“ und ist somit mehr auf eine praktische Ergänzung der bis dahin obwaltenden Defizitbestände in der Kirche aus als auf die Importierung eines innerkirchlichen „Klassenkampfes“; ebenso war die angestrebte Öffentlichkeit der collegia pietatis vor allem als Korrektiv zur herrschenden Kirchengestalt angelegt, gleichsam als Vervollständigung kirchlichen Zusammenlebens – ein Versuch, der zumindest bei Spener selbst sein definitives Ende gerade in dem Moment fand, als sepa46

Dietrich Rössler: Frömmigkeit als Thema der Ethik (s.o. Anm. 2), S. 510.

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ratistische Eigendynamik in unkontrollierbarer Weise wirksam und sichtbar wurde. Ähnliche Tendenzen zeigen sich im Gegenüber der Frömmigkeit zur Theologie: In der Auseinandersetzung zwischen Pietismus und Orthodoxie etwa oder zwischen Rationalismus und Erweckung stand die Theologie nur selten und auch nur ganz am Rande überhaupt in Frage; der Streit ging vielmehr allgemein und zentral um die rechte Gestalt der Theologie; und richtig war in der Perspektive der protestantischen Frömmigkeitsbewegung diejenige Theologie, die Frömmigkeit als „das fundamentale Datum des christlichen Glaubens“47 in derart umfassender Weise zur Sprache brachte, daß sie sich selbst auch als Reflexion noch auf das Leben bezogen wußte, dem sie ihre Herkunft verdankt. Diese individualisierte und keineswegs eine abstrakte Theoriefeindlichkeit ist der Nerv des Frömmigkeitsprogramms, daß die wissenschaftliche Theorie der Theologen der gelebten Praxis der Frommen zu dienen habe, weil Frömmigkeit letztlich mehr die gelebte als die gelehrte Religiosität in ihrer Vollständigkeit ausmacht. Kirche und Theologie vermögen in dieser Perspektive erst dann als unhinterfragbare Größen begriffen zu werden, wenn sie sich just jene Momente der Frömmigkeit zu inkorporieren fähig zeigen, die als Anmahnung ihrer Komplettierung laut werden. Gerade darin unterscheidet sich das wissenschaftliche Interesse, das sich an Frömmigkeitsbewegungen entzündet, in charakteristischer Weise von dem Interesse an Religiosität, das 97 ihrer Kritik entwachsen ist. Dieser Unterschied entspricht der Differenz zwischen konstruktivem und kritischem Forschungsinteresse. Denn dessen Voraussetzung war nicht diejenige Unterscheidung von Allgemeinem und Besonderem im religiösen Lebensbereich, die das konstruktive Interesse an Frömmigkeitsbewegungen geltend machte, sondern die Identität, die die Kritik im Hinblick auf Religion unhinterfragt supponierte: die Identität nämlich zwischen Kirchlichkeit und Frömmigkeit einerseits, die vornehmlich der aufklärerischen Institutionskritik anheimgefallen ist, und die Identität von Glaube und Theologie andererseits, die der aufklärerischen Ideologiekritik ausgeliefert war. In beiden Fällen war Dichotomisierung das beherrschende Grundmotiv, das zur theoretischen Auseinandersetzung mit Theologie und Kirche genötigt hat. Ob dabei nun das Motiv primär der kritischen Bestreitung von Religion oder ihrer bewahrenden Verteidigung galt, in jedem Falle fand sich das Unterscheidungsmerkmal verkannt, das Frömmigkeit in ihrer Eigenständigkeit überhaupt erst hervortreten ließ. Aus der abolitionistischen Kritik der Religion konnte darum ebensowenig wie aus deren apologetischen 47

Ebd.

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Legitimierung ein Interesse an Frömmigkeit entstehen, weil jedesmal durch begriffliche Operationen von vornherein der Blick verhängt wurde, der das Phänomen protestantischer Frömmigkeitsbewegungen zutage zu fördern in der Lage war. III. Geschichtlich-soziale Differenzierung und ihre Wahrnehmung in der Frömmigkeitsforschung Sollte die erste These vor allem die Klärungsbedürftigkeit der Frömmigkeit aus dem Umstand erhellen, daß Frömmigkeit als ein Differenzpunkt zu Kirche und Theologie deren allgemeinere Lebensbasis in Form von Komplettierungsansprüchen gegenüber allen ihren partikularen Erscheinungsgestalten geltend macht, so hebt die zweite These auf jenes Moment der Deutungsbedürftigkeit ab, das sich aus der Vielfalt der Frömmigkeitsäußerungen selbst ergibt. Denn von protestantischer 98 Frömmigkeit als einem distinkten Phänomen im Singular zu sprechen, kommt offensichtlich einer contradictio in adjecto gleich. Die Tatsache, daß Frömmigkeit als der sichtbare Ausdruck subjektiver Religiosität im Alltagsleben gerade in ihren Unterscheidungsmomenten auf eine allgemeinere Lebenseinheit rekurriert, aus der heraus sich Theologie und Kirche gleichsam erst sekundär ableiten lassen, deutet bereits darauf hin, daß Frömmigkeit ihrerseits konstitutiv in einem Zusammenhang verwoben sein muß, der ihre Äußerungsvielfalt und Variationsbreite erst eigentlich plausibel machen kann. Die Feststellung, daß „die Mannigfaltigkeit der Frömmigkeitsformen . . . Ausdruck der Vielfalt sie prägender Motive und Strukturen (ist)“48, besagt noch wenig, wenn nicht das differenzierte Spektrum der in Geltung stehenden Gestalttypen von Frömmigkeit genetisch begründet und in seinen Folgen erhellt zu werden vermag; anderenfalls droht über den Phänomenen kurzerhand die Phänomenologie in Vergessenheit zu geraten – eine Gefahr, der die Frömmigkeitsforschung überall dort erlegen ist, wo sie sich einerseits nur als historisierende Heimatkunde geriert, die liebevoll beim Detail verweilen, statt allgemein durch Theorie erklären will, oder wo sie andererseits als theorie-übersteuertes Aufklärungsunternehmen gegenüber Frömmigkeitsformen auftritt, die sie durchweg zu Ausdrucksphänomenen des Aberglaubens deklariert. Gegenüber beiden Tendenzen also soll im folgenden die Behauptung plausibel gemacht werden, daß sich unter dem Eindruck von Frömmig48

Max Keller-Hüschemenger: Art. „Fromm, Frömmigkeit“, in: HWP, Band 2, Sp. 1123–1124, 1123.

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keitsbewegungen eine Thematisierung vollzieht, deren dominantes Interesse nicht deren emphatischen Behauptung oder pejorativen Bestreitung gilt, sondern dem Verstehen dessen, wie und warum Frömmigkeitsformen so geworden sind, wie sie sich jeweils als gegenwärtige darstellen. Dieses Interesse folgt der Einsicht, „daß die Ingredienzen des Volkstums und die Fakten der Volkskultur in Zeit und Raum Strukturveränderungen und 99 funktionalen Variationen ausgesetzt sind“, die es unter den Gesichtspunkten von Geschichte, Struktur und Funktionen zu erklären gilt.49 Wie also kommt es zur Frömmigkeit als einer Religionsgestalt sui generis jenseits ihrer kirchenamtlichen Prägung oder theologischen Standardisierung? Voraussetzung zur Beantwortung dieser Frage ist zunächst die bereits beschriebene Einsicht in den Sachverhalt, daß Frömmigkeit auch als die „subjektive Seite der Religion“50 einem Objektivierungszwang unterliegt, der sich seinerseits gerade aus denjenigen historisch-sozialen Faktorkonstellationen ergibt, die auch Frömmigkeit als modern-gesellschaftliches Phänomen erst haben hervortreten lassen: Frömmigkeit in ihrer Genese und Frömmigkeitstypen in ihrer vielfältigen Gestalt tragen durchaus überindividuelle Züge, die ihre Anschaulichkeit eben erst durch ihre begriffenen Bedingungen erhalten. Anders gesagt: Frömmigkeit als „der im Alltag sichtbare Aspekt der religiösen Überlieferung“ bringt zu Bewußtsein, daß Religion, die wirkt, ebenso aus dem Gesamtzusammenhang einer Gesellschaft hervorgeht, wie sie sich andererseits in die gesellschaftliche Wirklichkeit hineinbildet.51 Unter dieser Voraussetzung wird Frömmigkeit, die sich im spezifisch neuzeitlichen Sinne durch die „Signatur der Entzweiung“ auszeichnet, erklärbar erst im Rahmen der Geschichte jener Gesellschaft, in der sie sichtbar wird. Denn die Möglichkeitsbedingung ihrer moderngesellschaftlichen Gestalt als Emanzipationsphänomen gegenüber Theologie und Kirche kann ja keineswegs etwa als willkürlich gelungener Kraftakt irgendwelcher autonom bestimmter Persönlichkeiten angesehen werden, wie uns häufig genug Hagiographien glauben machen; sie ist vielmehr die anschauliche Folge eines solchen Differenzierungsprozesses von Gesellschaft, der Frömmigkeit gerade in ihrer Mannigfaltigkeit als Emanzipationserscheinung erst eigentlich ermöglicht, ja erzwungen hat. Ermöglichungsgrund und Nötigungsfaktor scheinen dann im Hinblick auf protestantische Gesellschaftsentwicklung begründet zu sein. 100 49

50 51

Gerhard Heilfurth: Art. „Volkskunde“, in: Handbuch der Empirischen Sozialforschung, hg. von René König, Band 1, Stuttgart 1969, S. 537; vgl. auch Lutz Röhrich: Art. „Volkskunde“, in: RGG3, Band 5 (1962), Sp. 1462. Wolfgang Trillhaas: Art. „Frömmigkeit“ (s.o. Anm. 27), Sp. 1158. Siegfried von Kortzfleisch: Frömmigkeit in dieser Zeit (s.o. Anm. 39), S. 654.

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1. Soziale Desintegration als Entstehungsbedingung Zuallererst liegt im Moment der sozialen Desintegration eine wichtige Entstehungsbedingung der Variationsbreite neuzeitlicher Frömmigkeitstypen. Soziale Desintegration meint denjenigen Vorgang, durch den Institutionen, die gemeinhin das Alltagsleben durchziehen und prägen, zu relativ autonomen Größen entflochten und segmentiert worden sind, von denen keine mehr allein die Sinneinheit des ganzen Lebens gleichsam monopolistisch zu repräsentieren vermag noch überhaupt zu repräsentieren anstrebt. Nach Thomas Luckmann52 besteht die Folge eines solchen Desintegrationsprozesses vor allem in der Parzellierung der Gesellschaft in eine Vielzahl institutioneller Teilkomplexe etwa politischer, wissenschaftlicher, wirtschaftlicher oder auch religiös-kirchlicher Art, von denen jede für sich Sinndeutungen nur für den jeweils eigenen Bereich des Alltagslebens bereitstellt. Eine Totalintegration von Alltagssinn kann angesichts dieser Situation überhaupt nur dadurch zustande kommen, daß der einzelne von der subjektiven Wahlfreiheit Gebrauch macht, die im vielgestaltig pluralen Assortiment miteinander konkurrierender Angebotsmuster ermöglicht ist. Die auf Ganzheit des Alltagslebens zielende Sinndeutung, die einst öffentlich durch Institutionen repräsentiert wurde und in der individuellen Daseinsführung einzelner ihre jeweilige Entsprechung fand, ist dann zwangsläufig zu einer Angelegenheit privat-beliebiger Wahlfreiheit geronnen, wenn man voraussetzen muß, daß alltagsintegrierte Sinnerfahrung eine in elementaren Bedürfnissen verwurzelte Notwendigkeit der Gesellschaftsexistenz überhaupt darstellt. Darüber aber braucht hier nicht weiter verhandelt zu werden. Denn dies aufzuweisen war stets mit ein Grundmotiv all jener klassischen Entwürfe zur Religionssoziologie, die auf die konstitutive Bedeutung und unabdingbare Geltung allgemeiner Religiosität in einer 101 Gesellschaft abgehoben haben. Entscheidend in diesem Zusammenhang ist vielmehr der Gesichtspunkt, daß die Auslegung von Religiosität nicht länger an den Bestand der Kirchen oder an das Substrat der Theologie gebunden bleibt, sondern beide lediglich als Sonderfall von Religion erscheinen: Kirchlich fabrizierte und theologisch formulierte Religiosität reiht sich ein in den Reigen miteinander in Konkurrenz befindlicher Weltauslegungen; und deren Ablehnung oder Annahme stellen jeweils kein abschließendes Definitivum mehr dar, sondern sind zu alternativen Objekten individueller Präferenz „herabgesunken“, durch die sich Frömmigkeit nunmehr vielgestaltig auslegen kann, statt sich uniform vorprägen zu lassen. Kirchlichkeit und Theologizität scheinen je für sich nur 52

Thomas Luckmann: Religion in der modernen Gesellschaft, in: Religion im Umbruch, hg. von Jakobus Wössner, Stuttgart 1972, S. 3–15.

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als eine Optionsmöglichkeit unter vielen anderen Formen ihrer „kulturellen Transformation“53, von denen jede auf die Vermittlung alltagsintegrierter Sinnerfahrung abzielt. Die Heterogenität des Interpretationsangebots ist also Bedingung der Möglichkeit einer individuellen Wahrnehmung. Jedoch ist die Art auch dieser individuell erscheinenden Wahrnehmung noch in strukturellen Faktoren verankert und bedingt. Tatsächlich kann von der Orientierungsdominanz eines bestimmten „Kultur“-Segments im Alltagsbewußtsein ausgegangen werden, und diese fällt unter den Bedingungen moderner Gesellschaft in der Regel vorrangig den regulativen Werten des Wirtschaftslebens zu. Nähe und Abstand zum ökonomisch-technischen Leistungsgefüge sowie die funktionelle Stellung des einzelnen in dessen Rahmen entscheiden folglich ausschlaggebend mit darüber, welcher spezifische Typ von Frömmigkeit sich dabei jeweils herauskristallisiert.54 Da im Zuge der desintegrierenden Segmentierung von Gesellschaft die Kirchen selbst nur als parzelliertes Teilsystem in Erscheinung treten, kommt ihnen nicht mehr als die Bedeutung nur eines Bezugssystems unter anderen zu, dessen Plausibilität hauptsächlich von derjenigen spezifischen Bedingung abhängt, 102 die über ihre Kompatibilität mit den dominanten Werten des technisch-wirtschaftlichen Produktionsprozesses entscheidet, Kirchlichkeit als systemspezifisches Verhalten konkurriert dabei mit „säkularen“ Verhaltensmustern, die primär an den Zentralwerten anderer Systeme orientiert sind.55 Diese Vermutung findet ihre empirische Bestätigung sowohl im Sozialprofil der „Kirchentreuen“, deren gemeinsames Merkmal u.a. gerade in der Ferne zum industriellen Produktionsprozeß besteht, als auch in der charakteristischen Eigenart von „distanzierter Kirchlichkeit“, die einhellig gerade bei denjenigen Gruppen verortet wird, deren Alltagsleben durch den Wirtschaftsbereich am nachhaltigsten geprägt wird. Aus diesem Bedingungsverhältnis erklärt sich aber vor allem auch der Umstand, daß wir es mit so typologisch unterschiedlichen, tendenziell polaren Frömmigkeitstypen zu tun haben wie etwa der „doktrinalen Orthodoxie“, des „pietistischen Devotionalismus“ und dem „säkularen“ Bewußtsein, deren statistische Streuung insgesamt je nach ökologischen (Stadt-Land-Gefälle) und stratifikatorischen (Schichtzugehörigkeit und Bildungsgrad) Beeinflussungsfaktoren variiert, wobei beispielsweise „säku53

54

55

Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 2, Reinbek 1968, S. 82.87.91. Friedrich Fürstenberg: Der Strukturwandel protestantischer Frömmigkeit als soziologisches Problem (s.o. Anm. 28). – Friedrich Fürstenberg: Die unbewältigte Säkularisierung, in: Befragte Katholiken, hg. von Karl Forster, Freiburg 1973. Friedrich Fürstenberg: Die unbewältigte Säkularisierung (s.o. Anm. 54), S. 205.

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lares Bewußtsein“ positiv mit hoher Bildung und ausgeprägter Urbanität korreliert.56 Nach Friedrich Fürstenberg ist sogar der neuzeitliche Strukturwandel zumindest der protestantischen Frömmigkeit überhaupt angemessen nur als „Veränderung der relativen Häufigkeitstypen und ihre wechselnde Verteilung auf die sozialen Schichten“57 zu beschreiben. Diesem Ergebnis widerspricht auch nicht die Beobachtung, daß etwa politische Attitüden und kulturelle Bildung als „funktionale Äquivalente“ (Robert K. Merton) von kirchlich definierter Religiosität auftreten können. Daß beide Faktoren häufig die Frömmigkeitsfunktion alltagsintegrierter Sinnerfahrung übernehmen, bestätigt eigentlich nur die Vermutung, daß sich Frömmigkeit unter den Bedingungen gesamtgesellschaftlicher Desintegration gerade in 103 ihrer Vielfalt jeweils insofern systemreferentiell konstituiert, als bewußtseinsorientierende Systemreferenzen genuin Angelegenheit subjektiver Optionsmöglichkeiten sind. Gesellschaftliche Desintegration meint also auch und gerade im religiösen Bereich die Nötigung zur Wahrnehmung und Aneignung vorhandener Orientierungsmuster, die Frömmigkeit als alltagsintegrierte Sinnerfahrung in vielfältiger Weise entstehen lassen, wobei sich die Herausbildung spezifischer Kristallisationstypen von Frömmigkeit hauptsächlich nach der Dominanz desjenigen kulturellen Teilkomplexes richtet, durch den sich Alltagserfahrung am nachhaltigsten prägen läßt. Damit ist zumindest derjenige Aspekt der Variationsbreite von Frömmigkeit auf seine Entstehungsbedingungen zurückgeführt, der auf die tendentiell ebenso abgestufte wie polarisierte Ausprägung kirchenbezogener Frömmigkeitshaltung ausgerichtet ist, also auf den empirischen Befund, daß wir es einerseits im Rahmen von Kirchlichkeit selbst mit einem abgestuften Aktivitäts- und Einstellungsprofil zu tun haben, das etwa von „kirchentreuen Traditionschristen“ bis hin zu „kirchenkritischen Weltchristen“ reicht, und daß dieser „Polarisierung kirchenbezogener Grundhaltungen“ andererseits „ein großes Maß kirchenfremder Nominalchristen“ gegenübersteht, dem man gleichwohl Areligiosität oder Unfrömmigkeit nicht ohne weiteres unterstellen kann.58 Zusammenfassend läßt sich also sagen: Einen entscheidenden Entstehungsfaktor der Variationsbreite neuzeitlicher Frömmigkeitsphänomene stellt die durch das Differenzierungsmoment der sozialen Desintegra56

57

58

Gerhard E. Lenski: Religion und Realität, Köln 1967. – Friedrich Fürstenberg: Die unbewältigte Säkularisierung (s.o. Anm. 54), S. 201. Friedrich Fürstenberg: Der Strukturwandel protestantischer Frömmigkeit als soziologisches Problem (s.o. Anm. 28). Friedrich Fürstenberg: Die unbewältigte Säkularisierung (s.o. Anm. 54), S. 205.

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tion vorgebrachte Pluralisierung der Lebensräume und die damit im Zusammenhang stehende Möglichkeit wie Nötigung dar, alltagsintegrierte Sinnerfahrung auf dem Wege individuell bestimmter Optionen und subjektiv vermittelter Orientierungsprimate je nach Lebensbereichen wahrzunehmen. 104 2. Soziale Desorganisation als Entstehungsbedingung In einem zweiten Anlauf läßt sich die Variationsbreite neuzeitlicher Frömmigkeitstypen zusätzlich als Folge des allgemein gesellschaftlichen Sachverhalts der Desorganisation interpretieren. Desorganisation meint den Prozeß, in dessen Verlauf Gesellschaftsbereiche durch solcherart Organisationen eingefaßt wurden, die gegenüber den in ihren Einflußbereich lebenden Subjekten weitgehend verselbständigt auftreten, deren „Funktionieren“ sich also relativ unabhängig von der ausdrücklichen Zustimmung oder von dem aktiven Beitrag ihrer Mitglieder vollzieht und die darum nur noch auf ein Minimum sozialer Kontrolle und sozialer Einbindung angewiesen sind. Nach seiner positiven Seite hin gewendet bedeutet dieser Vorgang die Freisetzung des Individuums, eben: seine Desorganisation. Über den Entlastungseffekt dieses Prozesses braucht hier nichts weiter gesagt zu werden; er ist in den zahlreichen Varianten einschlägiger Institutionstheorien ausführlich beschrieben worden. Für unseren Zusammenhang ist vielmehr der Gesichtspunkt leitend, daß die Gesamtdaseinsführung des einzelnen durch seine Desorganisation keine biographisch überspannende Sinndeutung mehr erfährt, die in öffentlichen Organisationen noch irgendeinen institutionellen Rückhalt hätte. Die in Familie und Herkunftsmilieu samt seinem Netzwerk aus Sitten und Gebräuchen eingebundenen Verhaltensmuster des Alltagslebens unterscheiden sich vielmehr fundamental von den standardisierten Verhaltensweisen, die in öffentlichen oder halböffentlichen Organisationsbereichen erforderlich sind. So kommt es zu einer „permanenten Diskrepanz zwischen institutionalisierten Verhaltens- und Einstellungserwartungen einerseits und deren Erfüllung andererseits“59, die auch im organisierten Bereich der Religion in der „Spannung zwischen Individualität des Glaubens und der Frömmigkeit auf der einen Seite und der Objektivi 105tät ihres Ausdrucks und ihrer Gründe auf der anderen“60 als eigentümliche Spielart auftritt. Identitätserfahrung als diejenige Erfahrung, in der sich individuelle Lebensgeschichte mit allgemeiner Gesellschaftsgeschichte vermittelt, findet sich unter solchen Bedingungen erheblich erschwert: Ihr Gelingen 59 60

Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 53), S. 26. Dietrich Rössler: Fromm sein als Protestant (s.o. Anm. 43), S. 24 f.

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wird normalerweise zu einer Sache von individuellen Leistungen der Balancierung zwischen subjektiven Impulsen, situativen Komponenten und objektiven Vorgaben. Soweit Frömmigkeit auch als Ausdruck biographischkonsistenter Identitätserfahrung gelten kann, ist die Vielzahl ihrer Variationstypen in eben diesem Sachverhalt begründet: Sie ist das Resultat einer zum Zwecke von Identitätsdefinitionen vollzogenen Balanceleistung im Spannungsfeld der subjektiven Reflexibilität der Individuen einerseits und der objektiven Allgemeinheit geltender institutioneller Ansprüche andererseits. Infolge dessen variiert der jeweils auftretende Frömmigkeitstyp mit den individuellen und strukturellen Beeinflussungsfaktoren, die bei einem solchen Balanceakt im Spiel sind. Frömmigkeit erweist sich von Persönlichkeitsmerkmalen wie Alter, Geschlecht und Bildungsgrad des einzelnen ebenso abhängig wie von dessen kulturellem Adaptionsvermögen oder intellektuellem Reflexionspotential. Darüber hinaus korrelieren Frömmigkeitstypen mit spezifischen Situationskomponenten wie etwa Einkommen, Sozialprestige oder Gesundheitsgrad als Tatbestände, an die sich jene Erfahrungen der Defizienz und der Deprivation, der Dependenz und Insuffizienz ankristallisieren können, die spezifische Problemlösungsattitüden herausfordern. Schließlich ist die besondere Prägung des Frömmigkeitstyps auch abhängig von der Plausibilität und Deutungskapazität der kulturell bereitstehenden religiösen Lösungsmuster, die ihrerseits wiederum „numerischen und morphologischen Schwankungen und Wandlungen nach Epochen, Regionen und anderen Bezugsgrößen“ unterliegen.61 Mit dem Tatbestand der Desorganisation ist also ein Entstehungsgrund derjenigen Frömmigkeitsvielfalt identifiziert, die 106 sich bei religiöser Lebensbewältigung aus dem verschieden möglichen Ausmaß der Orientierung an institutionell bereitstehenden Lösungsmustern ergibt. In diesem Zusammenhang gehören die empirischen Befunde, die Frömmigkeitsphänomene innerhalb eines solchen polaren und vielfach variablen Bezugsrahmens beschreiben, die vom Typ einer subjektbezogenen, reflektierten Spiritualität bis hin zu dem einer traditions- und institutionsorientierten Glaubenshaltung reicht.62 Das prominente Beispiel für die Beschreibung eines solchen Umstandes dürfte wohl Thomas F. O’Deas Analyse der „Fünf Dilemmas der Institutionalisierung der Religion“ darstellen,63 in 61 62

63

Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 53), S. 26. Helmut Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar? in: ZEE 1 (1957), S. 153–174. Thomas F. O’Dea: Die fünf Dilemmas der Institutionalisierung der Religion, in: SC 1960, S. 61–67, wieder in Religionssoziologie, hg. von Friedrich Fürstenberg, Neuwied 1970, S. 231–237.

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der Frömmigkeitstypen wie der instrumental-rationale homo faber mit dem spontan-expressiven homo ludens oder die traditionalistische Priestergläubigkeit mit der rebellierenden Prophetenfrömmigkeit kontrastiert werden. So unterschiedlich solche Frömmigkeitstypen auch beschrieben werden müssen, so sind sie doch darin vergleichbar, daß sie allesamt ihre Entstehungsbedingung im Prozeß sozialer Desorganisation haben, der die einzelnen zur subjektiven Verarbeitung biographisch-konsistenter Identifikationserfahrung nötigt. Der Hinweis auf den Vorgang der Desorganisation als Freisetzung des einzelnen zielt also zunächst darauf ab zu erklären, warum und wie bei der Ausgestaltung von protestantischer Frömmigkeit individuelle Persönlichkeitsfaktoren überhaupt erst ins Spiel kommen können, um sich danach die Variationsbreite derjenigen Frömmigkeitstypen begreiflich zu machen, die auf eben diesen Umstand zurückzuführen sind. 3. Soziale Destrukturierung als Entstehungsbedingung Abschließend muß noch auf ein Moment hingewiesen werden, das die Palette der Frömmigkeitserscheinungen um eine weitere strukturelle Variante bereichert und das man das Moment der sozialen Destrukturierung nennen könnte. Mit sozialer Destrukturierung ist der Sachverhalt gemeint, daß sich das Leben des einzelnen nicht primär und nicht unmittelbar, nicht 107 ausschließlich auf jener Ebene vollzieht, die durch Institutionen oder Organisationen strukturiert und standardisiert wird. Organisationen nehmen den einzelnen vielmehr nur unter partiellen Gesichtspunkten etwa als spezifisch definierten Rollenträger in Anspruch. Sein Alltagsleben dagegen vollzieht sich unmittelbar und „ganzheitlich“ vor allem im Bereich der Gruppen, zu denen er gehört. Diese Gruppen sind es denn auch, welche die offiziell bereitstehenden Kulturmuster zu Bestandteilen eines gelebten Kulturstils transformieren. Die distinkte Eigenart eines Kulturstils begrenzt sich so weitgehend auf die Gruppe, die ihn prägt und trägt. Und erst in diesem intermediären Bereich von Gruppen kann überhaupt so etwas wie eine Subkultur entstehen. Besonders Gerhard Lenski hat auf die Bedeutung von sozial-religiösen Gruppen für die Ausprägung von Frömmigkeitsstilen aufmerksam gemacht, und dieses muß hier nicht näher beschrieben werden. Wichtig für unseren Zusammenhang erscheint vielmehr der Umstand, daß die Strukturmerkmale der sozial-kulturellen Gruppe auch den Frömmigkeitstyp strukturell bestimmen, den sie repräsentiert. Vor allem zwei Gesichtspunkte sind dabei entscheidend, nach denen sich Frömmigkeitsphänomene typologisieren lassen: Einmal entscheidet die spezifische Mentalität der Gruppe jeweils über den Grad der Außenorientierung ihrer Mitglieder.

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So kommt es also zu so verschiedenen Typen wie „provinziell“ ausgerichteter Vereinsfrömmigkeit auf der einen Seite und kosmopolitisch orientierter „Weltfrömmigkeit“ auf der anderen Seite. Und zweitens bestimmt die Bindungsintensität einer Gruppe auch die Art und Weise des von ihr getragenen Frömmigkeitstyps. Volkskirchliche oder sektenartige Orientierung haben hierin einen ihrer Erklärungsgründe. Die gruppenhafte Subkultur ist also der genuine Ort, wo in der einen oder anderen Weise Frömmigkeit als Ausdruck geschichtlich-sozialer Partizipationserfahrung statthat. 108 Ausgangspunkt der Überlegung war derjenige Aspekt der Erklärungsbedürftigkeit von protestantischer Frömmigkeit, der sich gerade aus der Vielfalt der in Geltung stehenden Frömmigkeitstypen ergab und ein spezifisches Interesse der Frömmigkeitsforschung herausgebildet hat. Wenn Urs Altermatt heute dieses spezifische Frömmigkeitsinteresse dadurch näher charakterisiert, daß es Frömmigkeit nach seinen genetischen, phänomenologischen und funktionalen Dimensionen zu untersuchen trachtet, dann dürfte aus dem bisher beschriebenen Zusammenhang klar geworden sein, daß das Interesse an Frömmigkeit nicht als die Summation seiner Einzelausformungen verstanden werden kann: Geschichtliche, morphologische und funktionale Sicht stellen vielmehr jeweils nur einzelne unterschiedliche Aspekte eines einzigen in sich konsistenten Interesses dar, dem die Einsicht zugrunde liegt, daß Frömmigkeit weder in der Variationsbreite ihrer Erscheinungsformen und Gestalttypen noch in der Mannigfaltigkeit ihrer Funktionsweisen verstanden werden kann, wenn sie nicht in ihren geschichtlich-sozialen Vermittlungs- und Beeinflussungszusammenhängen begriffen wird. Auch darin unterscheidet sich das Interesse der Frömmigkeitsforschung von dem der aufklärerischen Religionskritik und der auf sie reagierenden Kirchenapologetik! Denn beide waren gleichermaßen von einer monolithischen Sichtweite bestimmt, in der sich die Variationsbreite der Frömmigkeitsgestalten durch ihre Identifikation als Aberglaube oder Unglaube nivelliert wiederfand, die auch weniger an den Funktionen von Frömmigkeit als vielmehr an ihren vermeintlichen oder erwünschten Folgen interessiert war und die schließlich nicht genetisch zu erklären, sondern emphatisch zu behaupten oder pejorativ zu bestreiten suchte. In dieser monolithischen Sichtweise konnten die spezifischen Merkmale protestantischer Frömmigkeit unter den Bedingungen von Neuzeit nicht hervortreten, die Frömmigkeitsforschung erst zutage gefördert hat. Es konnten die Merkmale nicht hervortreten, die Frömmigkeit in ihren kulturellen Kristallisationen, statistischen Korrelationen, strukturellen Kompatibilitäten, funktionalen Konsequenzen 109 beschreiben. „Religion als Kirche“ und „Kirche als Religion“ waren keine geeigneten Programme, die eine differenzierte Erforschung protestantischer Frömmigkeit hätten hervortreten lassen können. 110

Die „Normativität“ neuzeitlicher Frömmigkeitsgeschichte. Zur aktuellen Bedeutung der klassischen Religionssoziologie Ernst Troeltschs

1. Troeltsch – ein „Klassiker“ der Religionssoziologie? Klassiker-Renaissancen haben gegenwärtig Hochkonjunktur. Auch das wiedererwachte religionstheoretische Interesse am Werk von Ernst Troeltsch steht in diesem allgemeinen Kontext.1 Die Reminiszenz an Klassiker folgt gemeinhin vorwiegend einem aktuellen Erkenntnisinteresse: „Klassiker zeichnen sich dadurch aus, daß sie sich (explizit oder implizit) mit methodologischen und theoretischen Problemen herumgeschlagen haben, die für die Disziplin auch heute noch bestimmend sind.“2 Mit der „Inventur am historischen Denkmodell“ verknüpft sich hier die Hoffnung auf eine Revision der Grundlagenbestimmungen eines akuten Themas, dessen gegenwärtige Behandlung weithin als insuffizient oder aporetisch angesehen wird:3 Klassiker-Rezeptionen stehen somit nicht zuletzt im Dienste des Versuchs, wissenschaftliche Desiderata der Gegenwart auszubügeln. Das Gelingen eines solchen Unternehmens hängt freilich an bestimmten Bedingungen: „Es empfiehlt sich . . . , im Verhältnis zum Klassiker-Text nicht unbedingt Konsistenz, sondern nur Kontinuität zu suchen und dies am Leitfaden von Problemstellungen, nicht unbedingt von Problemlösungen durchzuführen.“4 Die anhaltende Aktualität eines Klassikers besteht demnach in derjenigen Kontinuierbarkeit einer seinem Werk zugrunde lie1

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Ähnliche Renaissancen vollziehen sich gegenwärtig in der Religionssoziologie auch in bezug auf Max Weber, Emile Durkheim und Talcott Parsons. Walter M. Sprondel u. a.: „Soziologie soll heißen . . . “. Einige Anmerkungen zur Weber-Rezeption aus Anlaß des 80. Geburtstages von Johannes Winckelmann, in: KZSS 32 (1980), S. 1–11, 9. Rainer Volp: Praktische Theologie als Theoriebildung und Kompetenzgewinn bei Friedrich D. Schleiermacher, in: Praktische Theologie heute, hg. von Ferdinand Klostermann und Rolf Zerfaß, München 1974, S. 52–64, 52. Niklas Luhmann: Arbeitsteilung und Moral. Durkheims Theorie, in: Emile Durkheim: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt a.M. 1977, S. 19.

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Die „Normativität“ neuzeitlicher Frömmigkeitsgeschichte

genden Problemsicht, die ihrerseits hauptsächlich von zwei Voraussetzungen abhängt. Zunächst: Läßt sich das klassische Œuvre als ein in gewisser Weise origineller Ausdruck einer allgemeinen Problemkonstellation interpretieren, die der gegenwärtigen vergleichbar ist? Denn erst im Zusammenhang seines sozialkulturellen Umfeldes, durch seine Kontextualisierung auf dem Hintergrund einer bestimmten geistesgeschichtlichen Entwicklung, vermag ein Entwurf sein eigenartiges Profil zu gewinnen. Sodann entscheidet zum 258 anderen die besondere Art der in klassischer Sicht entwickelten begrifflichen und methodischen Instrumentarien mit darüber, ob deren aktualisierende Übertragbarkeit auch auf solche Problemlagen möglich ist, die mittlerweile veränderten Bedingungen unterliegen. Dazu aber muß die klassische Problemsicht bis zu einem bestimmten Grad aus ihrem genuinen Entstehungs- und Begründungszusammenhang herausgelöst, gleichsam dekontextualisiert werden können. Kontextualisierung, bei der auf die zeitgenössische Relevanz wie Originalität des Klassikers abgehoben wird, und Dekontextualisierung, bei der dessen überbietende Kreativität und Reproduzierbarkeit sichtbar werden, bezeichnen also gleichermaßen Momente eines solchen sachgemäßen Umgangs mit Klassikern, der auf aktualisierenderhellende Problemkontinuität hinzielt.5 An beiden Kriterien gemessen erscheint der religionssoziologische Gehalt des Troeltsch’schen Werkes in seiner Klassiker-Qualität zumindest problematisch. Religionssoziologische Argumentationen nehmen heutzutage auffällig wenig – und wenn, dann recht selektiv – auf Troeltsch Bezug. Er ist kaum aus dem Schatten der vornehmlich Max Weber zugeschriebenen, sogenannten „Kapitalismus-Protestantismus-These“ herausgetreten,6 und seine dauerhafte Leistung wird nicht selten allenfalls auf die Formulierung der berühmt-berüchtigten Kirchen-Sekten-Typologie reduziert.7 Diese verkümmerten Perspektiven einer soziologiegeschichtlichen Klischierung stehen in 5

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Zu den Kriterien des Klassiker-Umgangs hat vor allem die Max-Weber-Diskussion beigetragen: Dirk Käsler: Einführung in das Studium Max Webers, München 1979, S. 226. Das Verhältnis von Troeltsch und Weber ist bislang noch kaum zum Gegenstand einer systematisch vergleichenden Untersuchung gemacht worden. Materialien und Hinweise hierzu finden sich bei Klaus Ahlheim: Religion und Gesellschaft bei Max Weber und Ernst Troeltsch und die Fortwirkung ihrer Auffassung in Religionssoziologie und Theologie, Diss. Univ. München 1972. – Hans Bosse: Marx – Weber – Troeltsch, München 1970. – Julius Schaaf: Geschichte und Begriff, Tübingen 1946. Vgl. etwa die Darstellung bei Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft. Einführung in die Religionssoziologie, Band 2, Reinbek 1968, S. 110. – John M. Yinger: Ernst Troeltsch, in: An introduction to the history of sociology, hg. von Harry E. Barnes, 5. Auflage, Chicago 1958, S. 309. Vgl. die durchaus typische Textauswahl

Die „Normativität“ neuzeitlicher Frömmigkeitsgeschichte

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einem eklatanten Widerspruch zur Bedeutung, die Troeltsch anderwärts, etwa in der Systematischen Theologie oder in der Geschichtswissenschaft, beigemessen wird. So wirft seine nivellierte und parzellierte Archivierung grundsätzlich die Frage auf, ob Troeltsch innerhalb der Religionssoziologie überhaupt die Dignität eines Klassikers in ähnlicher Weise zugebilligt werden kann, wie etwa die Systematische Theologie durchaus bereit ist, ihm zu 259 attestieren, daß bis heute „seine Formulierung der Probleme und Aufgaben . . . ihre Gültigkeit und erhellende Kraft nicht verloren“ habe.8 2. Kirche, Religion und Frömmigkeit: eine aktuelle Problemkonstellation Ein zentraler Punkt religionssoziologischer Auseinandersetzung wird gegenwärtig darin zu sehen sein, ein für die theoretische Reflexion wie für eine empirisch-historische Forschung gleichermaßen plausibles Verständnis von Religion zu gewinnen, das sich jenseits der Alternative aus restriktiv verstandener, in meßbarem Sozialverhalten manifestierter Kirchlichkeitsobservanz einerseits und einem allgemein-abstrakten, anthropologisch begründeten, aber empirisch wie historisch kaum noch zwingend vermittelbaren Religionsbegriff andererseits herausbilden läßt. Diese Sachproblematik hat mittlerweile ihren Ausdruck in einem methodisch-disziplinären Streit um

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bei Friedrich Fürstenberg: Religionssoziologie, 2. Auflage, Neuwied 1970, S. 299– 309.339–373. Umfassendere Darstellungen der Religionssoziologie Troeltschs liefern etwa Hans-Jürgen Gabriel: Christlichkeit der Gesellschaft?, Berlin 1975. – Wilfried Gerhard: Ernst Troeltsch als Soziologe, Diss. Univ. Köln 1975. – Ingo Mörth: Die gesellschaftliche Wirklichkeit von Religion, Stuttgart 1978, S. 65–67. – Gaathe W. Reitsema: Ernst Troeltsch als godsdienstwijsgeer, Assen 1974. – Jean Séguy: Christianisme et société, Paris 1980. – Gerhard Spaleck: Religionssoziologische Grundbegriffe bei Troeltsch, Diss. Univ. Leipzig 1937. – Emil Spiess: Die Religionstheorie von Ernst Troeltsch, Paderborn 1927. Wolfhart Pannenberg: Die Begründung der Ethik bei Ernst Troeltsch, in: Wolfhart Pannenberg: Ethik und Ekklesiologie, Göttingen 1977, S. 70. Auf die Aktualität Troeltschs für die heutige Theologie weist auch nachhaltig hin Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft. Ernst Troeltsch und sein theologisches Programm, München 1978; der Soziologe Troeltsch ist dagegen weitgehend in Vergessenheit geraten (vgl. Wilfried Gerhard: Ernst Troeltsch als Soziologe [s.o. Anm. 7], S. VII). Anders steht es mit Troeltsch in der Geschichtswissenschaft; vgl. hierzu Gustav Schmidt: Ernst Troeltsch, in: Deutsche Historiker, hg. von Hans-Ulrich Wehler, Band 3, Göttingen 1972 (Lit!); außerdem sind gerade auf diesem Gebiet in letzter Zeit auffällig viele Dissertationen erschienen (vgl. dazu Anm. 84).

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Die „Normativität“ neuzeitlicher Frömmigkeitsgeschichte

das nahezu alternativ gegeneinander gewendete Recht von Kirchen- oder Religionssoziologie gefunden.9 „Kirchensoziologie“ repräsentiert dabei diejenige auf Empirie konzentrierte Perspektive, die in kirchlich manifestem Verhalten die objektive, in kirchlich präformierten Einstellungen die subjektive Dimension von Religiosität zu beschreiben sucht.10 Diese Konzentration auf den kirchlichen Binnenraum kann ihre theoretische Selbstgenügsamkeit, mit der sie auf analytische Aufschlüsse über das relationale Umfeld der Religion in Geschichte, Gesellschaft und Kultur weitgehend verzichtet, nur unter der vorgängigen Annahme aufrechterhalten, „daß sich ein sich in anderen Zusammenhängen bildender und durchhaltender Konsensus über 260 kirchlich religiöse Inhalte und Formen nicht ausmachen lässt“ oder doch allenfalls nur „als defizienter Modus eigentlicher Kirchlichkeit“ erkennbar ist.11 So wird der Gewinn an empirischer Akribie und Datenfülle mit dem Preis theoretischer Wahrnehmungseinschränkung in bezug auf die allgemeingesellschaftliche Bedeutung und Funktionalität von Religion bezahlt. Gerade dagegen tritt im Gewande einer Alternative eine sich explizit als Religionssoziologie verstehende Position mit dem Anspruch auf, in den gleichbetonten Perspektiven von Religion und Gesellschaft „das ganze Feld kirchlich sich nicht unmittelbar manifestierender Frömmigkeit“ in Betracht zu ziehen,12 der gleichwohl für soziale Konstitutionsprozesse elementare Bedeutung zukommt.13 Denn Religion, die sich keineswegs in sichtbarer 9

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Zur Auseinandersetzung zwischen Kirchen- und Religionssoziologie vgl. Religionssoziologie als Wissenssoziologie, hg. von Wolfgang Fischer/ Wolfgang Marhold, Stuttgart 1978. – Günter Kehrer: Renaissance der Religionssoziologie; in: EK 4 (1971), S. 322–327. – Joachim Matthes: Bemerkungen zu der Unterscheidung zwischen Kirchen- und Religionssoziologie, in: Anstöße 1 (1963), S. 1–19. – Ingo Mörth: Vor einer Renaissance der Religionssoziologie?, in: Herder-Korrespondenz 34 (1980), S. 33–37. – Trutz Rendtorff: Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie, in: IJRS 2 (1966), S. 51–72. – Jakobus Wössner: Die Möglichkeit von Religion. Von der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie; in: Sociologia Internationalis 12 (1974), S. 147–167. Vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Zur Bestimmung und Messung von Kirchlichkeit in der Bundesrepublik Deutschland, in: IJRS 4 (1968), S. 63–100. – Eine Gesamtdarstellung dieses Typs von Kirchensoziologie findet sich bei Justus Freytag: Die Kirchengemeinde in soziologischer Sicht, Hamburg 1959. Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft (s.o. Anm. 7), S. 14. Ebd. Einen Überblick über die gegenwärtigen explizit religionssoziologischen Ansätze bietet: Religion in den Gegenwartsströmungen der deutschen Soziologie, hg. von Karl-Fritz Daiber/Thomas Luckmann, München 1983, mit einer umfassenden Bi-

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Kirchlichkeit erschöpft, ist hier „das, was den Menschen zum Menschen werden lässt“: seine Sozialität. „Menschwerdung ist Sozialisierung: Einübung und Einzwängung in ein das Einzeldasein transzendierendes Sinngefüge“; demnach gibt es „keine Gesellschaft ohne Religion“14. Was in dieser unspezifischen Fassung heuristisch zur Erweiterung theoretischer Perspektiven zunächst sinnvoll erscheint, bereitet andererseits jedoch manche Schwierigkeit, wenn es in empirischer Operationalisierung und geschichtlicher Konkretion um die Identifikation sozialer Phänomene gerade als religiöse geht. So stehen idealtypisch die Positionen einer empirisch exakten Topographie der „Kirchentreue“15 und eines allgemein anthropologisch als Transzendierungskraft begründeten Religionsverständnisses16 einander an historisch-begrifflicher Unschärfe nicht nach. Beide Konzeptionen vermögen das soziologische Interesse an Religion nicht zu befriedigen, das wohl Religiosität in distinkt sozial-theoretischer Fassung, jedoch ebenso detailliert in Geschichte und Gegenwart nachzuspüren sucht, ohne sich dabei selbst einer bloß reproduktiven und damit erkenntnisarmen Säkularisierungsthese17 einerseits, einem nahezu beliebig mit historisch-empirischen Anschauungsmaterial weitgehend nur illustrativ auffüllbaren, abstrakt-theoretischen Religionsbegriff andererseits ausliefern zu müssen.18 261 Solchen und ähnlichen Aporien gegenüber zielt

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bliographie zur gegenwärtigen religionssoziologischen Theoriediskussion: S. 225– 256. Thomas Luckmann: Religion in der modernen Gesellschaft, in: Religion im Umbruch, hg. von Jakobus Wössner, Stuttgart 1972, S. 3–15, 5. Reinhard Köster: Die Kirchentreuen. Erfahrungen und Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung in einer großstädtischen evangelischen Kirchengemeinde, Stuttgart 1959. Vgl. Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Institution, Person und Weltanschauung, Freiburg i.B. 1963, S. 35–52. Zur Säkularisierungsthese vgl. Säkularisierung, hg. von Heinz-Horst Schrey, Darmstadt 1981. Vgl. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (1913), Aalen 1977, S. 364–385. – Gegenwärtig firmieren solche ausdrücklichen Vermittlungsbemühungen weitgehend unter dem Titel „Christentumstheorie“: Franz-Xaver Kaufmann: Kirche begreifen, Freiburg i.B. 1979. – Trutz Rendtorff: Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien, Gütersloh 1972. – Trutz Rendtorff: Christentum, in: GGB, Band 1 (1972), S. 772–814. – Dietrich Rössler: Christentum und Neuzeit, in: Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, hg. von Hans-Joachim Birkner/Dietrich Rössler, Göttingen 1969, S. 91–100. – Wolfgang Trillhaas: Perspektiven und Gestalten des neuzeitli-

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das gegenwärtige Theorie- und Forschungsprogramm einer „Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie“19 auf ein Verständnis von Religion, dessen Vorstellungsgehalte nicht dem Verdacht auszuliefern sind, bloßer Abglanz institutionell vorgegebener Normen, Wissenssysteme und Handlungsanweisungen in sozialem Verhalten oder konkret-geschichtlicher Kristallisationskern nur dogmatisch-ideologischer Ansprüche oder abstrakt-theoretischer Deduktionen zu sein. Für einen solchen gesuchten sachlichen Mittel- und theoretischen Vermittlungsbegriff, in dem sich gewissermaßen eine Überschneidung aus manifester Kirchlichkeit und „unsichtbarer Religion“ abzeichnet,20 rückt in der gegenwärtigen Diskussion u. a. die begriffliche Abbreviatur „Frömmigkeit“ zunehmend in den Mittelpunkt.21 Gegenüber bloßer Kirchlichkeit bringt sie einerseits diejenige „subjektive Seite der Religion“ zur Geltung,22 die sich in mannigfaltigen und mehrdimensionalen sozialkulturellen Transformationsgestalten christlicher Religiosität auch in Distanz zur Kirche Ausdruck zu verschaffen vermag. Andererseits veranschlagt sie im Unterschied zum allgemeinen Religionsverständnis gerade die Konstitutionsmomente der moderngesellschaftlichen Differenziertheit, so daß in ihr die Metamorphosen des „sichtbaren oder beschreibbaren Reflexes des Glaubens in sozial vermitteltem Verhalten“ nicht akzidentiell bleiben.23 Die zunehmende

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chen Christentums, Göttingen 1975. Überblicke bieten: Manfred Baumotte: Theologie als politische Aufklärung, Gütersloh 1973. – Karl Gabriel: Religionssoziologie als „Soziologie des Christentums“, in: Karl-Fritz Daiber/Thomas Luckmann (s.o. Anm. 13), S. 182–198. Trutz Rendtorff: Säkularisierungsproblematik (s.o. Anm. 9). Thomas Luckmann: The Invisible. The Problem of Religion in Modern Society, London/New York 1967. Vgl. Volker Drehsen: Protestant Piety Movements in the Process of Modern Social Differentiation, in: SC 29 (1982), S. 167–185. – Andreas Feige: Comments an the Relationship of Church Membership and Piety, in: SC 29 (1982), S. 187–208. Wolfgang Trillhaas: Art. „Frömmigkeit“, in: RGG3, Band 2 (1958), Sp. 1158–1162, 1158. Siegfried von Kortzfleisch: Frömmigkeit in dieser Zeit, in: Lutherische Montatsschrift 11 (1972), S. 654–658, 655. Hieraus erklärt sich wohl auch der Umstand, daß Geschichtswissenschaft und Religionspsychologie immer mehr ein ausgesprochen konzeptionelles Interesse am Thema Frömmigkeit entwickeln. Vgl. für die Geschichte: Hansgeorg Molitor: Frömmigkeit im Spätmittelalter und früher Neuzeit als historisch-methodisches Problem, in: Festgabe für Ernst Walter Zeeden, hg. von Horst Rabe, Münster 1976, S. 1–20. – Wolfgang Schieder: Religionsgeschichte als Sozialgeschichte, in: GuG 3 (1977), S. 291–298. – Für die Psychologie: Hjalmar Sundén: Die Religion und die Rollen, Berlin 1966.

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Thematisierung 262 des subjektbezogenen Kontextes und der im weitesten Sinne sozialgeschichtlichen Komplexität von Frömmigkeit findet ihre praktische Motivgenese in der Absicht, „christliches Denken und christliches Leben in ihrer ursprünglichen Einheit zurückzugewinnen“24, die durch vorgängige neuzeitspezifische Unterscheidungen in Frage gestellt ist. Infolgedessen erscheint auch eine allgemeine lebenspraktische Bedeutung von Kirche, Religiosität und Frömmigkeit unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft weitgehend als fraglich. Nicht zuletzt deshalb kann die gegenwärtige religionssoziologische Frömmigkeitsthematik als „ein gutes Paradigma für die Art und Weise der soziologischen Behandlung der Befindlichkeit von Religion in der Gesellschaft resp. für das Problem der Etikettierung des Vorgangs von Sinnkonstitution im Alltagsleben“ gelten.25 Es stellt dies eine Problematik dar, die Troeltsch nicht nur nicht fremd war, sondern ihm selbst geradezu als zentraler Ausgangspunkt diente: „Das Religionsproblem der modernen Welt ist aber, wie es kein rein kirchliches mehr ist, so doch auch kein abstraktes wissenschaftliches, sondern steht in lebendigster Berührung mit den Kräften des wirklichen religiösen Lebens, aus denen seine Beantwortung die Hauptnahrung ziehen muß“26, insofern Frömmigkeit als „die Macht und die Richtung des inneren Lebens“27 keineswegs nur quietistisch, weltabgewandt oder solipsistisch in irgendwelche Nischen der Zeitlosigkeit und Asozialität flüchten muß, sondern durchaus auch „zu Kampf und Arbeit und Gemeinschaft“ leiten kann.28 Um dieses Umstandes ansichtig zu werden, definiert Troeltsch seine Aufgabe dahin, „die Gesammterscheinung des Christentums in 24

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Dietrich Rössler: Frömmigkeit als Thema der Ethik, in: Handbuch der christlichen Ethik, Band 2, Gütersloh 1978, S. 506–517, 510. Andreas Feige: Anmerkungen zur Beziehung zwischen Kirchenmitgliedschaft und Frömmigkeit. Zur Frage nach der empirischen Plausibilität von theoretischen Begriffen, Vorlage zur 16. CISR in Lausanne, 1981, S. 5. – Zum Zusammenhang von Frömmigkeit, Sinnkonstitution und Alltagsleben vgl. Volker Drehsen/Horst Jürgen Helle: Religiosität und Bewußtsein. Ansätze zu einer wissenssoziologischen Typologie von Sinnsystemen, in: Religionssoziologie als Wissenssoziologie (s.o. Anm. 9), S. 38–51. – Günter Dux: Ursprung, Funktion und Gehalt der Religion; in: IJRS 8 (1973) S. 7–64. – Jürgen Schülein: Zur Konzeptualisierung des Sinnbegriffs, in: KZSS 34 (1982), S. 649–664. Ernst Troeltsch: Religionswissenschaft und Theologie des 18. Jahrhunderts, in: Preußische Jahrbücher 114 (1903), S. 30–56, 18.36. Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion, in: ZThK 5 (1896), S. 361–436, 6 (1896), S. 71–110 u. S.1 167–218, 203. Zitiert nach: Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft (s.o. Anm. 8), S. 52.

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ihren historischen weitverzweigten, überall mit anderen Entwickelungen zusammenhängenden Voraussetzungen zu verstehen und dieses Verständnis an der Heranziehung des gesamten religiösen Tatsachenmaterials zu gewinnen“29. Außer Frage steht dabei für Troeltsch, daß zu diesem Ganzen der Religion das Moment individueller Produktivität genauso hinzugehört wie der kulturell-geschichtliche Kontext, die unterschiedlichen Dimensionen und Kristallisationsformen in der Gesellschaft, und daß 263 sich deren Vermittlung zu lebensbedeutsamen Frömmigkeitstypen innerhalb geschichtlich-sozialer Bedingungs- und Wirkungskonstellationen von Religion und Gesellschaft, innerhalb sozial-kultureller Wandlungsprozesse konstituiert. Die konnotativen Erläuterungen, die Troeltsch der ansonsten eher beiläufig und selbstverständlich verwendeten Vokabel „Frömmigkeit“ beigibt, weisen so vor allem auf zwei Konstitutionsmomente von Frömmigkeit, die bis heute für die geschilderte religionssoziologische Problemlage ihren kritischen Hinweischarakter nicht verloren haben: einmal auf das Moment der Subjektivität als Inbegriff und Problemtitel freier Produktivität und innerlich-unmittelbarer Erfahrung der Persönlichkeit; zum anderen auf das Moment der Verbindung mit dem „Gesamtleben“ als einem Begriff, in dem für Troeltsch gerade die geschichtlich-gesellschaftliche Mannigfaltigkeit jeweils zu einem Integrat zusammengeschlossen ist, das er als ein Religionsgebilde sui generis gemeinhin unter der Nomenklatur „Frömmigkeit“ verhandeln kann.30 In dieser nicht selten ausdrücklich werdenden doppelten Spitze gegen einen ebenso verengten wie hypostasierten Kirchlichkeitsbegriff einerseits und gegen eine metaphysisch-abstrakte Religionsvorstellung andererseits sucht Troeltsch ein Wirklichkeitsverständnis von Frömmigkeit zu umreißen, das zugleich umfassender ist, als es im 29 30

Ernst Troeltsch: Geschichte und Metaphysik, in: ZThK 8 (1898), 1–69, 9. Es würde den verfügbaren Platz überschreiten, dies hier im einzelnen zu belegen. Besonders aufschlußreich in diesem Zusammenhang sind die Schriften: Ernst Troeltsch: Zur theologischen Lage, in: ChW 12 (1898), Sp. 627–631, 650–657. – Ernst Troeltsch: Richard Rothe, in: ChW 13 (1899), Sp. 77–81. – Ernst Troeltsch: Religion und Kirche, in: PrJ 1895, S. 215–249. – Ernst Troeltsch: Leibniz und die Anfänge des Pietismus, in: Der Protestantismus am Ende des XIX. Jahrhunderts in Wort und Bild, hg. von Carl Werckshagen, Berlin 1902, S. 353–376. – Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion (s.o. Anm. 27), S. 361–436. – Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit, in: Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung und ihre Ziele, hg. von Paul Hinneberg, 2. Auflage, Berlin/Leipzig 1909, S. 431–433; ferner die gegenwartsdiagnostischen Schriften in: Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 1–21.22–44.91– 108.109–133. – Religion, in: Das Jahr 1913. Ein Gesamtbild der Kulturentwicklung, hg. von David Sarason, Leipzig/Berlin 1913, S. 533–549.

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partikularen kirchlich-dogmatischen Selbstverständnis gängigerweise zum Ausdruck kommt, aber auch spezifischer, als es „die oft allzu dürre und abstrakte bisherige Auffassung“ einer solchen philosophischen Tradition des Religionsverständnisses bezeugt, das „von dem zweifelhaft gewordenen Besonderen auf allgemeine Gesetze des Denkens und Seelenlebens zurückgegangen war und in dieser Allgemeinheit den Beweis und das Richtmaß der Wahrheit gesehen hatte“31, ohne an Frömmigkeitssyndromen „die Religion als lebendige und schöpferische Kraft“32, als die „praktische Gesamtmacht des Lebens“33 in Kultur und Gesellschaft innerhalb wie außerhalb von Kirche und Theologie aufweisen zu können. So bildet sich von Troeltsch zur gegenwärtigen Religionssoziologie in der Abbreviatur der Frömmigkeit die Kontinuität einer Problemkonstellation heraus, die 264 sich sachgemäß weder mit einem weitgehend theorielos arbeitenden Kirchenbegriff noch mit einem abstrakt-aprioristischen Religionsverständnis fassen läßt. Für Troeltsch konnte „die wirkliche Fortarbeit“ vielmehr erst geschehen „in dem immer treueren Verständnis der wirklichen geschichtlichen Entwicklung der Religion und des Christentums, wofür die Voraussetzungen zu einer ausgeführten religionsphilosophischen Theorie festzulegen sind“34. 3. Der zeitgenössische Problemkontext Troeltschs: Programme der Frömmigkeitsforschung Troeltsch hebt sich mit dieser Problemdefinition in mancherlei Hinsicht auf einem Hintergrund ab, zu dem er sich selbst teils beifällig, teils kritisch ins Verhältnis setzt und dadurch jenen Teil an „Klassizität“ erwirbt, der auf einer allgemeinen Relevanz der aufgenommenen Fragestellung und auf der besonderen Originalität ihrer Ausformulierung beruht. Troeltsch sieht sich zunächst ausdrücklich in der Tradition Schleiermachers und Rothes, deren spekulativ gewonnene Perspektivweite es erlaubte, ja nötig machte, theologische Reflexion auf das Terrain der neuzeitlichen Gesellschaftskultur zu überführen.35 Zugespitzt auf die Frömmigkeitsthematik hat vor allem Friedrich 31 32 33

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Ernst Troeltsch: Zur theologischen Lage (s.o. Anm. 30), Sp. 653. Ebd., Sp. 652. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV: Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie (1925), Aalen 1966, S. 22. Ernst Troeltsch: Geschichte und Metaphysik (s.o. Anm. 29), S. 67. Troeltsch über Rothe (s.o. Anm. 30); über Schleiermacher – neben zahlreichen Ausführungen in den Gesammelten Schriften – Ernst Troeltsch: Schleiermacher und

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Ehrenfeuchter den für diesen konzeptionstheoretischen Traditionsstrang repräsentativen Entwurf geliefert.36 Ehrenfeuchter beabsichtigte, „die Historiographie der Kirche mit einem neuen Elemente“ anzureichern,37 das sich von der institutionspolitischen Perspektive der Kirchengeschichte in gleicher Weise unterschied wie von der ideologischen Komponente der Dogmengeschichte: ein neues Element also, das Ehrenfeuchter darum der damals neuen Disziplin der Praktischen Theologie zur Aufgabe stellte: „Was nun die Dogmengeschichte für die Dogmatik, das ist die Geschichte des kirchlichen Lebens für die Praktische Theologie.“ Diese hat es zu tun „mit der geschichtlichen Bewegung der Sitten und Ordnungen derselben Kirche“, die vom „Leben der christlichen Frömmigkeit selbst“ durchdrungen und beseelt sind.38 Für die Fröm 265migkeit ist nun charakteristisch, daß sie auf elementare Weise eingebunden ist in die komplexe Struktur ihrer geschichtlichen Umwelt und somit auch deren Veränderungstendenzen unterliegt, wodurch die Theologie zu einer verändernden Ergänzung ihrer eigenen Wirklichkeitswahrnehmung genötigt wird: „Alles nun, was in der Welt sich entwickelt, entwickelt sich vermöge des komplizierten Charakters, den die Weltverhältnisse annehmen, nicht in einer einfachen Linie“, sondern in komplizierten Wechselbeziehungen zur Umwelt; und „die umliegenden Gebiete, in welche das Leben der christlichen Frömmigkeit eintritt, sind Haus und Geselligkeit, in mancher Beziehung auch die bürgerliche Ordnung des öffentlichen Gemeinwesens. Diese haben ihre eigentümliche Entwicklung von dem Principe der Kultur her, und so wird eine Geschichte der Frömmigkeit und des kirchlichen Lebens nie ohne einen Blick sein können auf die Geschichte der Kultur.“39 Damit wird von Ehrenfeuchter die Frömmigkeitsthematik – ähnlich wie später bei Troeltsch – in eine „von einem statistischen Standpunkt zum historischen

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die Kirche, in: Ernst Troeltsch u. a.: Schleiermacher als Philosoph des Glaubens, Berlin 1910, S. 9–35. Vgl. hierzu Manfred Baumotte: (s.o. Anm. 18), S. 172 f. – Dietrich Rössler: Über Friedrich Ehrenfeuchter, in: NZSTh 5 (1963), S. 183–191. Zur Kontextualisierung Troeltschs unter diesem Aspekt vgl. insbes. Martin Schmidt: Die Interpretation der neuzeitlichen Kirchengeschichte, in: ZThK 54 (1957), S. 174–212. Friedrich Ehrenfeuchter: Über den Begriff einer Geschichte des kirchlichen Lebens, in: Jahrbücher für Deutsche Theologie 5 (1860), S. 636–668, zitiert nach: Praktische Theologie, hg. von Gerhard Krause, Darmstadt 1972, S. 105. Ebd., S. 107. Ebd., S. 110. Vgl. hierzu auch Friedrich Ehrenfeuchter: Christenthum und moderne Weltanschauung, Göttingen 1876.

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Standpunkt“ übergehende, kulturgeschichtlich orientierte Ekklesiologie40 als Grundlegungsfigur der praktisch-theologischen Disziplin verwiesen: in „jenen Zweig theologischer Arbeit“ also, den man später zunehmend mehr als einen erkannte, „der für einen Realismus der Theologie sorgt“41. Die epistemologische Konsequenz ist für Ehrenfeuchter durchaus die Frucht einer theologischen Einsicht in den durch und durch geschichtlichen Charakter der Kirche selbst: „Steht aber der unendliche Gehalt der Kirche in keinem schlechthin passenden Verhältnis zu ihrer Gestalt, dann ist ein Wechsel ihrer Formen notwendig; ihre Sichtbarkeit ist eine solche, die nicht in Einer Erscheinung sich erschöpft, sondern eine Reihe von Entwicklungen fordert.“42 Frömmigkeit erschöpft sich also keineswegs in nur einer kirchlichen Manifestationsgestalt, sondern konstituiert sich geradezu in mannigfaltigen Phänomenen durch ihre Wechselverhältnisse zur Kultur,43 durch „die individuelle Bildung der christlichen Gesinnung“, die sich ihrerseits „in den Sitten der Christen“ äußert.44 Als Ausdruck der „Bethätigung des Lebens“, in der sich die „Offenbarung des ursprünglichen Princips“ vollzieht, kann sie „auch für die 266 prinzipielle Betrachtung nicht entbehrt“ werden.45 Besonders für die Praktische Theologie wird „gerade durch das Eingehen auf die lebendige Bestimmtheit des Gegebenen . . . die Sicherheit wissenschaftlicher Erkenntnis verbürgt“46, die nötig ist, um die komplexe Differenziertheit der Frömmigkeit, den „Anblick eines Nebeneinanders, in welchem sich die Ergebnisse ihrer verschiedenen Epochen gruppieren“47, einzufangen und als Voraussetzung praktischer 40

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Friedrich Ehrenfeuchter: Über den Begriff einer Geschichte des kirchlichen Lebens (s.o. Anm. 37), S. 106. Hans-Otto Wölber: Religion ohne Entscheidung. Volkskirche am Beispiel der jungen Generation, Göttingen 1959, S. 219. In diesem Sinne handelt es sich bei der „Soziologisierung“ der Praktischen Theologie nicht um ihre „kognitive Fremdbestimmung“ (Christian Gremmels), sondern stellt eine ihrer Konstitutionsbedingungen dar, sofern der Frömmigkeitstopos zu ihren zentralen Themen gerechnet werden kann. Vgl. die saloppe Bemerkung Hans-Otto Wölbers: „Wir forschen nicht, um dem Heiligen Geist ins Werk zu pfuschen, sondern um das Defizit an Mitmenschlichkeit zu korrigieren“ (ebd., S. 258). Friedrich Ehrenfeuchter: Die Praktische Theologie, Göttingen 1859, S. 93. Ebd., S. 110. Friedrich Ehrenfeuchter: Über den Begriff einer Geschichte des kirchlichen Lebens (s.o. Anm. 37), S. 105. Friedrich Ehrenfeuchter: Die Praktische Theologie (s.o. Anm. 42), S. 193. Ebd., S. 3. Ebd., S. 117.

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Zukunftsgestaltung zu nutzen. Denn künftige Frömmigkeitspraxis kann für Ehrenfeuchter nichts anderes sein als „ein Wiedererzeugen aus den Gründen des Ursprünglichen, das Vorhandene theils bewährend, theils verbessernd, theils fortbildend . . . , ein verjüngendes Wiederholen, worin sich das Alte zum Neuen umsetzt“48. In seiner Grundtendenz tritt bei Ehrenfeuchter insgesamt so etwas wie die embryonale Form einer Frömmigkeitsbetrachtung zutage, in der charakteristische Züge des Troeltsch’schen Gesamtentwurfs bereits vorgebildet sind: vor allem der Verzicht auf eine exklusive Konstitution der Theologie allein durch die Dogmatik, die prinzipielle Anerkennung des gegebenen Frömmigkeitspluralismus, die Aufnahme eines eigenen kulturgeschichtlichen Modus theologischer Wirklichkeitserkenntnis und dessen epistemologische Fundierung als Voraussetzung eines umsichtig begründeten künftigen Praktisch-werden-Könnens. In all diesen Aspekten finden sich Betrachtungsmomente vorgebildet, die dem theologischen Bewußtsein zur Zeit Troeltschs wenigstens den programmatischen Absichten nach allgemein geworden sind. Und in der Tat war es Troeltsch, der in seiner Zeit gleichsam zum personifizierten Kristallisationskern dieses theologischprogrammatischen Allgemeinbewußtseins wurde. Wie sehr das der Fall war, verdeutlicht etwa das unter ausdrücklichem Hinweis auf Troeltsch geäußerte Bedauern des Kirchen- und Dogmenhistorikers Karl Sell darüber, daß die protestantische Frömmigkeit „noch nirgends zum Gegenstand einer methodischen geschichtlichen Untersuchung gemacht worden“ sei und die Erforschung des „innersten persönlichen religiösen Empfindungslebens“ und der „Entfaltung der religiösen Vorstellungswelten, die doch die eigentlichen Motive für das religiöse Willensleben enthalten“49, noch der „aller nothwendigsten Vorarbeiten“ entbehre.50 Ähnlich wie Troeltsch51 fordert Sell entsprechend die „konsequente Anwendung psychologischer und geschichtlicher Prinzipien auf das ganze Gebiet der unmittelbar religiösen Erscheinungen im Christentum“52, statt sich „bloß auf ihre Außenwerke: Dogma, Kirchenverfassung, 267 Kirchendisziplin und dergleichen“ zu beschränken.53 Wurde so bei Sell der gegenüber herkömmlicher Dogmen48 49

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Ebd., S. 194. Karl Sell: Die wissenschaftlichen Aufgaben einer Geschichte der christlichen Religion, in: PrJ 98 (1899), S. 12–57, 13. Ebd., S. 12. Ernst Troeltsch: Richard Rothe (s.o. Anm. 30). Karl Sell: Die wissenschaftlichen Aufgaben einer Geschichte der christlichen Religion (s.o. Anm. 49), S. 16. Ebd., S. 14. Den damaligen Verbreitungsgrad eines solchen Forschungsprogramms

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und Kirchengeschichte ergänzungsbedürftige Aspekt in psychologische Dimensionen verlängert, um der Frömmigkeit ansichtig zu werden, so gab es auch andere Bemühungen von seiten der Praktischen Theologie, vor allem auch die Instrumentarien empirischer Sozialforschung in Gebrauch zu nehmen.54 So suchte etwa William Wrede in die Homiletik hauptsächlich empirische, psychologische und volkskundliche Aspekte zur Beschreibung der Beschaffenheit von Predigthörern zu integrieren,55 was Paul Drews, hieran unmittelbar anschließend, dazu bewog, dem 1901 neugegründeten Organ „Monatsschrift für kirchliche Praxis“ pointiert ins Stammbuch zu schreiben: „Nach unserer Auffassung muß die Praktische Theologie mehr deskriptiv-induktiv als systematisch-deduktiv betrieben werden. Die Voraussetzung einer besonnenen und wirksamen Beeinflussung der kirchlichen wie nicht-kirchlichen Kreise ist eine wirkliche Kenntnis des gegenwärtigen religiösen Lebens innerhalb und außerhalb der Landeskirchen. Das erfordert eine beschreibende Darstellung des religiösen Lebens der Gegenwart im Zusammenhang mit seinem geschichtlichen Werden aufgrund einer eindringenden psychologischen Analyse des Volkscharakters wie der Gruppen-und individuellen Typen, mit denen der Geistliche zu rechnen hat. Die Wichtigkeit dieses neuen Zweiges der Praktischen Theologie, die man kurz ‚religiöse Volkskunde‘ nennen kann, wird immer mehr erkannt werden.“56 Von Troeltsch selbst beeinflußt, prägte später Wilhelm Bousset

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zum Thema Frömmigkeit gibt noch Hans R. G. Günther: Idee einer Geschichte der Frömmigkeit, Tübingen 1948, zu erkennen. Der Zusammenhang von Frömmigkeitsthematisierung und Einbeziehung soziologischer Methoden in die Praktische Theologie war um die Jahrhundertwende deren Signatur. Vgl. die Darstellung bei Walter Birnbaum: Theologische Wandlungen von Schleiermacher bis Karl Barth, Tübingen 1963, S. 120–136. – Friedrich Wintzer: Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der „dialektischen Theologie“ in Grundzügen, Göttingen 1969, S. 5.119–183. Ausdrücklich hat Johannes Meyer: Grundriß der Praktischen Theologie, Leipzig 1923 die Praktische Theologie als „Theorie der christlichen Frömmigkeitspflege“ konzipiert. Er griff damit auf eine illustre praktisch-theologische Tradition zurück, die u. a. repräsentiert wurde durch Carl Clemen: Zur Reform der praktischen Theologie, Gießen 1907; Friedrich Zimmer: Die Grundlegung der praktischen Theologie, Berlin 1895; und Heinrich Bassermann: Die Praktische Theologie als eine selbständige, wissenschaftliche theologische Disziplin (1896), in: Praktische Theologie, hg. von Gerhard Krause, Darmstadt 1972, S. 173–199, die allesamt auf Schleiermacher zurückverwiesen. William Wrede: Der Prediger und seine Zuhörer, in: William Wrede: Vorträge und Studien, Tübingen 1907, S. 1–39, erstmals veröffentlicht in: ZPrTh 18 (1892). Paul Drews: „Religiöse Volkskunde“, eine Aufgabe der praktischen Theologie, in: MKiPr 1 (1901), S. 1.

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die Formel: „Theologie hat das Ziel, die Frömmigkeit in Beziehung zu setzen zum allgemeinen menschlichen Leben; sie hat in jedem Zeitalter und an jedem Ort die Aufgabe, die Religion mit dem volklichen 268 Leben dieser bestimmten Generation zu verbinden.“57 Und ähnlich wie Martin Rade, der Frömmigkeit als „lebendige Erscheinung der Religion“ zeitweilig mehr in der „Christlichen Welt“ als in der Kirche beheimatet sah,58 forderte schließlich auch Otto Baumgarten als Aufgabe der Praktischen Theologie, „eine lebendige Brücke bilden (zu) müssen von der Theorie der Religion zu ihrer kirchlichen Praxis“59, wozu nicht zuletzt die Frömmigkeitstheorie als tragendes Verbindungselement fungieren sollte.60 Das Stichwort der Frömmigkeit signalisiert in all diesen Positionen eine Religionsgestalt, die in theologischer Wahrnehmung auch und vor allem in psychologischen und sozialwissenschaftlichen Kategorien zu beschreiben war. Selten jedoch führten solche Willensäußerungen über den Status des Programmatischen hinaus, und was es gleichwohl rudimentär an Einlösungen dazu gab, mußte Troeltsch größtenteils als untaugliche Versuche einer rührenden Naivität erscheinen. Zwar gelang es Troeltsch, das in solchen theologischen Ansätzen vorhandene Gefälle auf eine kultur- und gesellschaftstheoretische Wahrnehmung von Frömmigkeit hin aufzunehmen, ihre Disparatheit zu bündeln und zu konzentrieren, aber dies geschah doch gewissermaßen in überbietender Weise. Was Troeltsch in diesem Zusammenhang auch zum Klassiker der Religionssoziologie werden ließ, ist nicht allein der Umstand, mit der gleichläufigen Thematisierung von Frömmigkeit sozusagen der Tendenz einer allgemein-theologischen Relevanzstruktur zu folgen, sondern mehr noch die Originalität, in der er deren Implikationen herausarbeitet und in ähnlicher Weise wie Max Weber auf den Begriff einer umfassenden Theorie der neuzeitlichen Gesellschaft zu bringen versteht, in der dann eben auch Kirche, Religion und Frömmigkeit ihren thematischen Ort finden. Troeltsch war es nicht allein darum zu tun, einen Frömmigkeitspluralismus zu durchleuchten, der durch irgendwelche 57

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Wilhelm Bousset: Religionsgeschichtliche Studien, 1919, zitiert nach: Friedrich Wilhelm Graf: Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: Troeltsch-Studien, hg. von Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf, Band 1, Gütersloh 1982, S. 269. Martin Rade: Die Religion im modernen Geistesleben, Tübingen 1898, S. 91. Otto Baumgarten: Art. „Praktische Theologie“, in: RGG1, Band 4 (1913), Sp. 1720– 1226, 1725. Otto Baumgarten: Der Einfluß der sozialen Verhältnisse auf die Entwicklung der Frömmigkeit und Kirchlichkeit, in: Verhandlungen des 25. Evangelisch-sozialen Kongresses in Nürnberg, Göttingen 1914, S. 14–25.

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symbiotischen Verbindungen aus christlicher Religiosität einerseits, Psyche und Gesellschaft andererseits zustande gekommen ist, sondern mehr noch ging es ihm um eine Erhellung der geschichtlichen und sozialen Bedingungen dessen, was sich in einem solchen Frömmigkeitspluralismus zum Ausdruck bringt. So konnte für ihn etwa die Struktur der modernen Gesellschaft nicht allein in ihren Auswirkungen thematisch werden, sondern mußte an sich selbst einen Gegenstand auch der theologischen Analyse bilden. Dabei verfuhr Troeltsch zweifellos konsequenter als 269 die Ansätze, in deren Tradition er stand oder die er selbst sogar inauguriert hatte: Wie für ihn die spekulative Fassung gesellschaftlicher Wirklichkeitserkenntnis in der Art Schleiermachers, Rothes und Ehrenfeuchters weithin an allgemein wissenschaftlicher Plausibilität verloren hatte, so stand mit der tatsächlich doch bloß apologetisch akzentuierten Richtung der „Ritschlianer“ sowohl die Glaubwürdigkeit als auch die Wirksamkeit einer Praktischen Theologie auf dem Spiel.61 Troeltschs eigene Konzeption, die sich gleichermaßen von abstrakter Spekulation wie verkürztem Pragmatismus fernhielt, gipfelt denn auch in „einer gründlichen Umbildung der Theologie“ zur Wissenschaft:62 eine Wissenschaft von der Art, daß der Theologie zugleich die soziologische Wirklichkeitserkenntnis von Religion inhäriert, wie sie andererseits selbst zu einer Geburtsstätte der „klassischen“ Religionssoziologie werden konnte, die nicht zwingenderweise auch als Fortsetzung der Theologie mit anderen Mitteln erscheinen mußte. 4. Troeltschs praktisch-ethische Motive zum „wirklichen Neubau der Theologie“63 Troeltschs theologische Neukonzipierung zieht zunächst die Konsequenz aus der neuzeitspezifischen Unterscheidung von „lebendiger Religion und reflektierender Theologie“64 und sucht beide im Geltungsbereich ihres je61

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Daß sich in Troeltschs Vorbehalten gegenüber der deskriptiv-empirischen Praktischen Theologie und ihres Frömmigkeitsbegriffs auch ein Teil seiner Emanzipation von der Ritschl-Schule vollzogen hat, kann aus manchen Äußerungen dazu geschlossen werden; vgl. besonders Ernst Troeltsch: Richard Rothe (s.o. Anm. 30). Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 236. Ernst Troeltsch: Religionswissenschaft und Theologie des 18. Jahrhunderts (s.o. Anm. 26), S. 56. Ernst Troeltsch: Vernunft und Offenbarung bei Johann Gerhard und Melanchthon. Untersuchung zur Geschichte der altprotestantischen Theologie, Göttingen 1891, S. 3.

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weiligen Rechts zu bestimmen.65 Sie zielt somit darauf, einer unsachgemäßen Vermischung wie Polarisierung von Theologie als Wissenschaft und Religion als Frömmigkeitspraxis gleichermaßen einen Riegel vorzuschieben. Religion ist „die einfache, praktische Frömmigkeit der Gesinnung und des Lebens,66 die durch „Dogmatik, Sy 270stem, Wissenschaft und Weltanschauung“67 weder konstituiert wird noch hilfsweise abgestützt werden muß. Sie hat ihr eigenes Recht, das wahrzunehmen die Theologie andererseits von dem Zwang entlastet, in unmittelbarer Weise nur ihr reflektierter Ausdruck sein zu müssen. „Damit ward der Raum frei für eine völlig neu arbeitende Wissenschaft“68, die sich nunmehr nach eigenen Regeln aufzubauen vermag und sich gegen das wissenschaftliche Allgemeinbewußtsein nicht mehr immunisieren muß. Der „Selbstentfremdung der Religion in der Theologie“ und kirchlichen Dogmatik entgegenzuwirken69 ist mithin genauso die Funktion ihrer Unterscheidung, wie andererseits den wissenschaftlichen „Neubau der Theologie“ zu ermöglichen. Von diesen Prämissen aus vollzieht sich für Troeltsch der „Neubau der Theologie“ in der Rekonstruktion ihrer eigenen Bedingungen als historische Religionswissenschaft, ihrer praktischen Bedeutung als theologieinterne Sicherung des Ethikprimats sowie schließlich des Realitätsgehalts ihrer Erkenntnis durch die konstitutive Einbeziehung der Soziologie ins theologische Denken. Eine Theologie, die sich dem „ehrlichen, wissenschaftlichen Wahrheitswillen“ unterwirft,70 sucht Argumente vorzubringen, „die der allgemeinen wissenschaftlichen Erörterung zugänglich sind“71. Dieses 65

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Ernst Troeltsch: Richard Rothe (s.o. Anm. 30). Insgesamt zur Unterscheidung von Theologie und Religion: Botho Ahlers: Die Unterscheidung von Theologie und Religion, Gütersloh 1980; Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft (s.o. Anm. 8), S. 159–160.194–200. – Hans-Joachim Birkner: Beobachtungen und Erwägungen zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie, in: Fides et communicatio. Festschrift für Martin Doerne, hg. von Dietrich Rössler, Göttingen 1970, S. 9–20. – Gerhard Ebeling: Art. „Theologie“, in: RGG3, Band 6 (1962), Sp. 754–769, 766–788. – Hans-Eberhard Hess: Theologie und Religion bei Johann Salomo Semler, Diss. Univ. Berlin (West) 1974. – Trutz Rendtorff: Kirche und Theologie, 2. Auflage, Gütersloh 1970. Ernst Troeltsch: Richard Rothe (s.o. Anm. 30), S. 651. Ebd., S. 650. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (s.o. Anm. 30), S. 608. Ernst Troeltsch: Richard Rothe (s.o. Anm. 30), S. 652. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften III: Der Historismus und seine Probleme (1922), Aalen 1977, S. 56. Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft (s.o. Anm. 8), S. 75.

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Postulat erscheint Troeltsch um so dringlicher, als in einem kulturellen Klima der „traditionsfreien autonomen Selbstvergewisserung“72 eine historisch-relativierende und naturwissenschaftlich-immanentisierende Wissenschaft selbst anstelle von Religion und Theologie die Führung als Weltanschauungsmacht übernommen hat:73 Sie wurde zum „Zentralherd der Bildung aller Weltanschauung“74 und damit zu einem möglichen Bildungsmedium des Frömmigkeitsbewußtseins selbst. Nur wenn die Theologie die „Zusammenbestehbarkeit“ überkommener Frömmigkeit „mit der wahrhaft vordringenden, aus der Konsequenz der Gesamtentwicklung sich ergebenden wissenschaftlichen Denkrichtung“ plausibel zu machen versteht75 – und „diese Zusammenbestehbarkeit nachzuweisen, ist immer der Lebensnerv und das eigentliche Geschäft aller Theologie gewesen“76 –, nur wenn es ihr gelingt, „Wissenschaft und Leben inner 271lich zu vereinen“77, kann auch „die christliche ‚Erfahrung‘ ihre Wirkung“ unter neuzeitlichen Bedingungen behaupten.78 Diese konsequente Historisierung der Theologie im Kontext einer insgesamt verwissenschaftlichten Kultur steht für Troeltsch unter den bestimmenden Vorzeichen „eines neuen Zusammenhangs mit dem praktischen Leben“79, läßt sie mithin in einer Ethik kulminieren,80 in der „die Idee des Aufbaus . . . Geschichte durch Geschichte überwinden und die Plattform neuen Schaffens ebnen“ heißt.81 Sie beeinflußt von daher auch deren zen72 73

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Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 856. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (s.o. Anm. 30), S. 603. Ernst Troeltsch: Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902), Hamburg 1969, S. 29. Ernst Troeltsch: Die Selbständigkeit der Religion (s.o. Anm. 27), S. 361. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18) S. 229. Ernst Troeltsch: Die „kleine Göttinger Fakultät“ von 1890, in: ChW 34 (1920), Sp. 283. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 229. Zur Neuarchitektonik der Theologie bei Troeltsch vgl. vor allem den eigenen Bericht in: Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV (s.o. Anm. 33), S. 3–18. – Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft (s.o. Anm. 8), S. 62–78.79–127. – Walter Bodenstein: Neige des Historismus, Gütersloh 1959. – Eckhard Lessing: Die Geschichtsphilosophie Ernst Troeltschs, Hamburg 1965. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 5. Vgl. Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (1923), Aalen 1979, S. 28. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften III (s.o. Anm. 70), S. 5.

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trale Thematik: „Die Ethik wurde, unabhängig von der Dogmatik und im Gegensatz zu ihr, zur allgemeingültigen Wissenschaft von der praktischen Lebensthematik des Menschen.“82 Die für die Frömmigkeitshaltung konstitutive Idee des „Gesamtlebens“ findet damit also allgemein ihre Begründung immer weniger im Dogma als vielmehr im Ethos, und entsprechend kann ihre theologische Theorie dem Wandel nur durch eine Umstellung von Dogmatik auf Ethik Rechnung tragen.83 Für ihre historische Perspektive hat eine solche Entropie zur Konsequenz, daß Geschichte im ethischen Interesse weitgehend zur Genese der Gegenwart wird.84 Denn es „ist das Verständnis der Gegenwart immer das letzte Ziel aller Historie; sie ist eben die Gesamtlebenserfahrung unseres Geschlechts . . . Stillschweigend arbeitet jede geschichtliche Forschung mit diesen Koeffizienten.“85 Eine historisierte Theologie dient infolgedessen dem Ziel, „die geistig-praktische Lage der Gegenwart in ihren wahren Grundbestrebungen . . . deutlich zu machen“86, „deren volles Verständnis nötig ist für eine Neugestaltung unseres religiösen Lebens“87. So 272 entspringt die theologische Wende zur gesellschaftlichen Erfahrungswelt der Religion dem aktuellen Interesse an den Entstehungsbedingungen jenes komplexen Frömmigkeitsbestands der Gegenwart, in dem die Ingredienzien einer ethisch verantwortbaren Zukunftsgestaltung enthalten sind. Gerade diese Zukunftsgestaltung folgt aber „nicht bloß der theoretischen Konsequenz des Gedankens“ oder der Gesinnung, „sondern Konsequenzen, die erst durch die den Trieb zu Umbildung und Neubildung weckenden 82

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Wolfhart Pannenberg: Die Begründung der Ethik bei Ernst Troeltsch (s.o. Anm. 8), S. 71 f. Zum Ethikprimat in der Theologie: Ernst Troeltsch Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 552–672. – Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV (s.o. Anm. 33), S. 14. – Ernst Troeltsch: Der Historismus und seine Überwindung (s.o. Anm. 80), S. 28 f. sowie die Darstellung von Wolfhart Pannenberg: Die Begründung der Ethik bei Ernst Troeltsch (s.o. Anm. 8), S. 70. Zum Geschichtsverständnis Troeltschs vgl. Joachim Braun: Historismus und Säkularisierung, Diss. Univ. München 1978. – Hartmut Engelmann: Spontaneität und Geschichte, Diss. Univ. Frankfurt a.M. 1972. – Hubert M. Spörri: Ernst Troeltsch, Diss. Univ. Zürich 1973. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (1906), 3. Auflage, München/Berlin 1924, S. 6. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften I: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912), Aalen 1977, S. VIII. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften III (s.o. Anm. 70), S. 228.

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Verhältnisse hervorgeholt sind“88. Die Verhältnisse – das sind für Troeltsch wie für Max Weber die als Inbegriff von Gesellschaft erfahrbaren, übermächtigen Tendenzen zum hochindustrialisierten Betriebskapitalismus und zur hierarchisch-militärischen Staatsbürokratie, mit deren Hilfe das Wilhelminische Kaiserreich „innerhalb einer einzigen Generation“ den „Sprung vom Agrarstaat zum Industriestaat vollzog“ und dies „mit schweren geistigen und psychischen Spannungen, ja Deformationen erkaufte“, die „der besondere Mangel an Synchronisation von traditionellen Werten und modernen Erfordernissen“ zur Folge haben mußte.89 Diese Erfahrung mußte nachhaltig die Frage nach dem Verhältnis zwischen idealen und realen Beeinflussungsfaktoren in der Gesellschaft aufkommen lassen, – als Frage nach dem Verhältnis von Idee und Institution ebenso wie etwa von Individuum und Organisation oder auch von Religion und Gesellschaft. Damit aber ist in unterschiedlichen Transpositionen die Grundfrage der Soziologie zum Ausdruck gebracht.90 Im wissenschaftssystematischen Geflecht Troeltschs werden darin vor allem die moderngesellschaftlichen Möglichkeitsbedingungen, die Realisationschancen lebbarer Frömmigkeit, auch in der sichtbaren Unterschiedenheit von ihren dogmatisch-gelehrten oder kirchlich-organisierten Formen, für eine wirklichkeitsgesättigte Theologie mit soziologischer Perspektive thematisch. Denn für Troeltsch enthält die soziologische Erkenntnis nichts anderes als die „Voraussetzungen für die Erfassung der immer gesellschaftlich gearteten oder, gesellschaftliche Voraussetzungen und Wirkungen enthaltenden historischen Vorgänge und ebenso für die immer in Entstehung, Formung und Wirkung gesellschaftlich bedingten Kulturwerte“91 Der thematische Schwerpunkt der Wahrnehmung von Frömmigkeit, ihrer theoretischen Weltanschauung wie praktischen Ethik, ihrer Wissensformen wie Handlungsgestalten, die sich 88 89

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Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften I (s.o. Anm. 86), S. 420. Martin Greschat: Das Zeitalter der Industriellen Revolution. Das Christentum vor der Moderne, Stuttgart 1980, S. 156. Zur Troeltsch’schen Soziologiekonzeption vgl. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften I (s.o. Anm. 86), S. 4–15. – Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV (s.o. Anm. 33), S. 721–724. – Wilfried Gerhard: Ernst Troeltsch als Soziologe (s.o. Anm. 7). – Gerhard Spaleck: Religionssoziologische Grundbegriffe bei Troeltsch, Diss. Univ. Leipzig 1937. – Jean Séguy: Christianisme et société (s.o. Anm. 7). Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV (s.o. Anm. 33), S. 705. Vgl. hierzu Christian Walther: Theologie und Gesellschaft, Zürich 1967, S. 58: „Die Bewältigung der durch den gesellschaftlichen Wandlungsprozeß entstandenen neuen Lage forderte eine von Kenntnissen der Sachzusammenhänge und Willenskraft getragene ‚Gestaltungs- und Reformarbeit‘ . . . “.

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unter den neuzeitlichen Gesell 273schaftsbedingungen innerhalb wie außerhalb von Theologie und Kirche manifestieren, verlangt nach Troeltschs Ansicht also der zweckhaft auf allgemeine Plausibilitätsvermittlung verwiesenen Theologie einen neuen methodologischen Zuschnitt ab, in dessen Rahmen neben Geschichtswissenschaft und Ethik eben auch die Soziologie als „eine neue Art zu sehen“92 aus prinzipiellen Gründen eingereiht werden muß. Die Gründe dazu ergeben sich aus der praktisch-ethischen Aufgabe der Theologie als Religionssoziologie, „die moderne Lage und den Protestantismus in ihrem geschichtlichen Gewordensein und in ihrem augenblicklichen Sosein auf die Möglichkeit einer Synthese hin zu überprüfen“93 und so der „Frage nach der Gewinnung einer wissenschaftlich verantwortbaren religiös-christlichen Lebensposition“ nachzuspüren.94 5. Moderne Gesellschaftsstruktur und christliche Frömmigkeitspraxis – Themen einer religionssoziologischen Differenzierungs- und Identitätstheorie Christliche Frömmigkeitspraxis in ihrem Verhältnis zur sozialen Welt- und Selbstgestaltung unter den Bedingungen der Neuzeit – dieses Problem bildet das allgemeine Thema, das Troeltsch seinem Neubauprogramm entsprechend in den Mittelpunkt der Theologie rückt, die u. a. die religionssoziologische Perspektive konstitutiv miteinbezieht. Die Frage, ob deren Ausarbeitung durch Troeltsch auch für die gegenwärtige religionssoziologische Problemlage aufschlußreiche und somit reproduzierbare Momente enthält, stellt schließlich ein weiteres Kriterium dar, nach dem sich seine Qualifikation als einschlägiger „Klassiker“ bestimmen läßt. Dieser sicherlich spannendsten Frage kann hier nur andeutungsweise durch den Versuch nachgegangen werden, die Grundzüge seiner religionssoziologisch relevanten Theoriekonstruktion im Lichte der gegenwärtigen Problemschwerpunkte der Religionssoziologie zu reinterpretieren. Hierbei zeigt die Gesamtanlage des Troeltsch’schen Beitrages vorwiegend in zweierlei Hinsicht eine auffällige Parallelität zu Theoriegestalten, deren Ausarbeitung auch die gegenwärtige religionssoziologische Aufmerksamkeit und Produktivität zentral in Anspruch nimmt, wann und wo immer sie sich auf eine Theorie gesellschaft92 93

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Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV (s.o. Anm. 33), S. 11. Hans-Georg Drescher: Glaube und Vernunft bei Ernst Troeltsch. Eine kritische Darstellung seiner religionsphilosophischen Grundlegung, Diss. Univ. Marburg 1957, S. 8. Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft (s.o. Anm. 8), S. 58.

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licher Frömmigkeitspraxis hinorientieren und perspektivisch-exklusive Beschränkungen auf manifeste Kirchlichkeit oder abstrakt begriffene Religiosität zu meiden suchen. Die Affinitäten zeigen sich vor allem in einer allgemeinsoziologischen Theorie der 274 kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Differenzierung95 einerseits, in einer Theorie der religiös-personalen Identität96 andererseits. 1. Troeltschs Erkenntnisinteresse galt zunächst der Genese und Eigentümlichkeit der neuzeitlichen Lebenswelt protestantischer Frömmigkeit. Diese Neuzeit lebt „in dem Gefühl, gegenüber Antike und Mittelalter trotz allen Zusammenhangs etwas Eigentümliches zu besitzen, das auch ihr eine gewisse Einheit und Geschlossenheit gibt. Freilich ist dieses Eigentümliche nach der positiven Seite hin schwer formulierbar“97 und bildet ebendeshalb 95

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Troeltsch selbst hat beide theoretischen Perspektiven gewissermaßen werkbiographisch als die elliptischen Brennpunkte seines Erkenntnisinteresses formuliert: „Die Zergliederung und Zusammenschau des wesentlichen geistigen Gehalts einer Epoche ist diejenige Aufgabe, in der die kritische Tatsachenforschung des Historikers und die konstruktive Phantasie des Philosophen zusammentreffen . . . Nur so können wir den Standort für unser Handeln ihr gegenüber finden“ (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV [s.o. Anm. 33], S. 297). Die Religionssoziologie ist gleichsam dazwischengeschaltet: „Die religionssoziologische Argumentation ist bei Troeltsch das Bindemittel zwischen der historischen und religionsphilosophischen Fragestellung“ (Trutz Rendtorff: Ernst Troeltsch [1865–1923], in: Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, hg. von Martin Greschat, Stuttgart 1978, S. 281). – Zur gegenwärtigen religionssoziologischen Differenzierungstheorie vgl. Franz-Xaver Kaufmann: Kirche begreifen, Freiburg i.B. 1979. – Heinrich Ludwig: Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung, München 1976. – Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1977. Auch hierin wäre ein systematischer Vergleich zwischen Webers und Troeltschs Ansatz wohl ergiebig; zu Weber vgl. in diesem Zusammenhang: Volker Drehsen: Religion und die Rationalisierung der modernen Welt: Max Weber (1864–1920), in: Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozeß sozialwissenschaftlicher Kritik, hg. von Karl Wilhelm Dahm/Volker Drehsen/Günter Kehrer, München 1975, S. 89–154, s.o. S. 41– 95. – Wolfgang Schluchter: Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979. – Religion und gesellschaftliche Entwicklung. Studien zur ProtestantismusKapitalismus-These Max Webers, hg. von Constans Seyfarth/Walter M. Sprondel, Frankfurt a.M. 1973. Zur Identitätstheorie vgl. Alois Hahn: Religion und der Verlust der Sinngebung, Frankfurt a.M. 1974. – Thomas Luckmann: Lebenswelt und Gesellschaft, Paderborn 1980. – Hans Mol: Identity and the Sacred, Oxford 1976, sowie die in Anm. 13 genannte Literatur. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (s.o. Anm. 30), S. 600.

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auch ein Problem. Das Charakteristische der Neuzeit in ihrer Säkularisiertheit zu erkennen, verbietet sich für Troeltsch vornehmlich aus zwei Gründen:98 zum einen, weil ihre Heraufkunft teilweise selbst auf religiöse Wurzeln zurückzuführen ist, Religion also in spezifischer Gestalt „an der Hervorbringung der Moderne mitbeteiligt“ war;99 zum anderen, weil sich die 275 Neuzeit nur dann im vollen Sinne als säkularisiertes Gebilde qualifizieren läßt, wenn eben die neuzeitspezifischen Transformationsgestalten von Religion ausgeblendet bleiben.100 Beide Argumente, die gängigerweise in den Interpretationsfiguren einer Säkularisierungsthese geflissentlich übergangen werden, deuten auf die gleichermaßen komplexitätserzeugende wie -betroffene Rolle der Religion in einer Gesellschaft, deren Signatur gerade ihrer Komplexität wegen nur schwer zu bestimmen ist. So erscheint Troeltsch eine religionssoziologische Frömmigkeitstheorie auszuarbeiten außerhalb einer allgemeinsoziologischen Theorie komplexer Gesellschaften der Neuzeit nicht möglich.101 Soweit das Säkularisierungstheorem aber Momente des neuzeitlichen sozial-religiösen Wandels zu erklären sucht, wird es bei Troeltsch durch eine kultur- und gesellschaftsgeschichtliche Theorie des Differenzierungsprozesses ersetzt, als dessen Folge eben 98

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Zum Säkularisierungsverständnis Troeltschs: Joachim Braun: Historismus und Säkularisierung (s.o. Anm. 84). – Hans-Jürgen Gabriel: Christlichkeit der Gesellschaft? (s.o. Anm. 7) – Hermann Lübbe: Säkularisierung, 2. Auflage, München 1975, S. 73. – Ulrich Ruh: Die Säkularisierung als Interpretationskategorie, Freiburg i.B. 1980, S. 123–171. – Egbert Stolz: Die Interpretation der modernen Welt bei Ernst Troeltsch, Diss. Univ. Hamburg 1974. – Hermann Zabel: Verweltlichung/Säkularisierung, Diss. Univ. Münster 1968. Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (s.o. Anm. 85), S. 23. – Vgl. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften I (s.o. Anm. 86). – Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV (s.o. Anm. 33), S. 21–33.202–254.261–296.783–801. – Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (s.o. Anm. 30). – Hermann Fischer: Luther und seine Reformation in der Sicht Ernst Troeltschs, in: NZSTh 5 (1963), S. 132–172. – Wolfgang Trillhaas: Perspektiven und Gestalten des neuzeitlichen Christentums (s.o. Anm. 18), S. 9–24.25–47. Vgl. hierzu besonders Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 1–21.91–108.109–133.146–182.227–327.837–862. – Ernst Troeltsch: Religion (s.o. Anm. 30). Zur Gesamtproblematik vgl. Trutz Rendtorff: Gleichgültigkeit oder Ablehnung – die Unkirchlichen, in: Alte Botschaft – neue Wege, hg. von HansJoachim Girock, Stuttgart 1966, S. 37–44. Zum hier zugrunde gelegten Begriff der komplexen Gesellschaft vgl. insbesondere René König: Das Fischer Lexikon Soziologie, Frankfurt a.M. 1967 (erweiterte Ausgabe), S. 155–159.

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die Komplexität der Gegenwart in ihren sozialen und religiösen Dimensionen gelten kann: „Jeder heutige Versuch der Selbstbesinnung und Selbstorientierung ist darauf angewiesen, unsere Welt in erster Linie rein historisch zu begreifen als eine von bestimmten geschichtlichen Kräften hervorgebrachte Formation, als eine Zusammen- und Ineinanderschiebung verschiedener Schichten, bei der erst hinterher der Versuch einer möglichst zusammenfassenden Konstruktion aus leitenden Gesichtspunkten versucht werden kann.“102 Religionssoziologisch können diese leitenden Gesichtspunkte als strukturelle Differenzierungsfaktoren interpretiert werden, die – teils religiös inauguriert, teils auf die religiöse Ausgestaltung zurückwirkend – zugleich die charakteristische Eigenart der neuzeitlichen Gesellschaft geprägt haben und darum insgesamt die von Troeltsch angestrebte soziologische „Zusammenschau des Religiösen mit den Gesamtbedingungen des Lebens“ zu bieten in der Lage sind.103 Troeltschs Analyse arbeitet selbst hauptsächlich mit drei solchen Differenzierungsprinzipien: a) In den vielfältigen Untersuchungen zu den Wechselwirkungen und Beeinflussungsverhältnissen zwischen Religion einerseits sowie Wirtschaft, Politik, Recht, Kunst, Wissenschaft etc. andererseits reflektiert er einen für die moderne Gesellschaft charakteristischen strukturellen Entflechtungsprozeß, in dessen Folge sich eine relative „Verselbständigung der nationalen, geistigen, sozialen und wirtschaftlichen Interessen“ und Funktionen herausgebildet hat,104 „die zunehmende ‚Auffächerung‘ des gesellschaftlichen Gesamtbewußtseins in eine Menge einzelner Kultursektoren . . . , die relativ unabhängig voneinander funktionieren und relativ 276 autonom sind“105. Troeltsch ist diesen Vorgängen gesellschaftlicher Desintegration nicht nur detailliert nachgegangen, sondern hat überdies auch deutlich gezeigt, wie dadurch das Verhältnis der Religion zu den anderen Lebensbereichen einer 102 103 104 105

Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV (s.o. Anm. 33), S. 298. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. VII. Ebd., S. 166. René König: Das Fischer Lexikon Soziologie (s.o. Anm. 101), S. 70; zum Desintegrationsbegriff vgl. ebd., S. 21: Desintegration ist „eine besondere Art der Herauslösung bestimmter Gruppen aus den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen“ und ihrer Tendenz zur Verselbständigung in sozialen Teilbereichen, die nach Funktionsprimaten unterschieden sind; vgl. hierzu insgesamt auch Niklas Luhmann: Funktion der Religion (s.o. Anm. 95). Für Troeltsch rücken damit die einzelnen Lebensbereiche „in den Rang eines höchsten, durch sich wertvollen Gutes, das nur seinem eigenen Gesetz folgen darf“, ein (Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit [s.o. Anm. 30], S. 614; vgl. auch Ernst Troeltsch: Die Sozialphilosophie des Christentums, Gotha/Stuttgart 1922, S. 33).

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unter den Emanzipationsbedingungen der Aufklärung verselbständigten Gesellschaft überhaupt erst zu einem Problem heranwachsen konnte. Nicht zuletzt wollte Troeltsch hierbei auch im Differenzierungsgeflecht der modernen Gesellschaft eine solche Eigenständigkeit der Religiosität herausarbeiten, die sich weder auf nur eine ihrer Organisationsgestalten noch auf andere nichtreligiöse Lebenskonstellationen erschöpfend zurückführen läßt. Im Gegensatz zu den abolitionistischen Interessen der Religionskritik etwa Feuerbachs oder Kautskys ging es Troeltsch um die gesellschaftliche Angemessenheit und Zweckmäßigkeit („Kompossibilität“) sowohl der Mentalitätsgehalte als auch der organisatorischen Ausformungen von Frömmigkeit (Wissen und Handeln), gerade um den Zusammenhang und die Gesamtheit einer religiös gefärbten Lebensführung unter gesellschaftlichen Differenzierungsbedingungen profilieren zu können. So hat in diesem spezifischen Bezugsrahmen besonders der Protestantismus seine Eigenart und seine Kompatibilität mit den gesellschaftlichen Lebenssektoren der Neuzeit durch die Herausbildung eines asketischen Berufsethos und einer idealistischen Güterethik zu bewahren versucht, um sich als „eine der neuaufstrebenden Welt wesensverwandte Religiosität“ zu erweisen.106 b) Im Zuge der funktional-segmentären Differenzierung von Gesellschaft wurde auch „die Religion zum Gegenstand eines gesonderten Interesses und einer besonderen Arbeit“107, die sich innerhalb eigens dazu organisierter Kirchen vollzieht: in Organisationen also, die weitgehend unabhängig von der Zustimmung und Beteiligung ihrer Mitglieder und frei vom „Zwang der Zugehörigkeit“ funktionieren.108 Mit dieser organisatorischen „Verkirchlichung der Religion“109, die aus Gründen geschichtlicher Kontinuität und gesellschaftlicher Selbstbehauptung notwendig wird, ist für Troeltsch einerseits auch deren „Veräußerlichung“ verbunden:110 „Die 277 Kirchen sind Schalen, welche allmählich den Kern verholzen, den sie schützen.“111 Andererseits provozieren sie als Protest und Reaktion immer wieder auch neue Bewegungen der Frömmigkeit, deren Pluralität dadurch insgesamt gesteigert wird: „Sie treiben immer andere Gruppenbildungen“ hervor, „die man als Sekten und freie mystische Vereine, Klöster und 106

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Ernst Troeltsch: Die Bedeutung des Protestantismus für die Entstehung der modernen Welt (s.o. Anm. 85), S. 340. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 149. Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (s.o. Anm. 30), S. 628. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 165. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften I (s.o. Anm. 86), S. 166. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 175.

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Orden, Erweckungsbewegungen und freie Massenerregungen kennt“112. Soziologisch stellt sich hier das moderngesellschaftliche Strukturproblem der Desorganisation113 insofern, als sich fortan Religion in der Kirche nur noch unvollständig organisiert findet und sich darum etwa im „Christentum außerhalb der Kirche“114 nunmehr ein eigener reflexionswürdiger Problemtitel soziologischer Frömmigkeitstheorie herausbildet. Hier also hat die wirkungsträchtige Typologie von Kirche, Sekte und Mystik bei Troeltsch ihren systematischen Ort, die er schon darum auf eine grundsätzliche Bejahung des religiös-konfessionellen Pluralismus hinauslaufen läßt, weil die christliche Idee genuin durchaus „verschiedene Möglichkeiten solcher Selbstorganisation“ enthält.115 c) Neben der bereichsspezifisch-funktionalen Pluralisierung der Lebensräume und der Vervielfältigung organisatorischer Verwirklichung religiöser Ideensysteme spielt schließlich für Troeltsch noch ein drittes Strukturmoment eine ausschlaggebende Rolle im modern-gesellschaftlichen Differenzierungsprozeß, nämlich der Wandel in der kulturellen Orientierungsstruktur, der zu einer zunehmenden Intellektualisierung des Glaubens, zur vielfältigen öffentlichen Popularisierung von Frömmigkeitsentwürfen und zu möglichen surrogathaften Synkretismen aus christlichen und außerchristlichen Elementen führt116 und durch eine enorme Steigerung 112 113

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Ebd., S. 171. „Desorganisation“ meint makrosoziologisch den Umstand, daß eine gesamtgesellschaftliche Funktion nicht in den eigens zu deren Erfüllung bereitstehenden Organisationen aufgeht (vgl. René König: Das Fischer Lexikon Soziologie [s.o. Anm. 101], S. 71): „Die Selbstverständlichkeit der modernen Lebensanschauung falle mit denen der Kirche nicht mehr zusammen“ (Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II [s.o. Anm. 18], S. 982). Darin liegt der gesellschaftliche Möglichkeitsgrund für religiös-konfessionellen Pluralismus und distanzierte Kirchlichkeit. Vgl. hierzu die in Anm. 131 genannte Literatur! Trutz Rendtorff: Christentum außerhalb der Kirche. Konkretionen der Aufklärung, Hamburg 1969. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV (s.o. Anm. 33), S. 722. Zur KirchenSekten-Typologie vgl. Peter Dienel: Zwischen Sekte und Kirche, in: Soziologie der Kirchengemeinde, hg. von Dietrich Goldschmidt, Stuttgart 1960, S. 171–179. – Carl Mayer: Sekte und Kirche, Heidelberg 1933, sowie im Vergleich mit Max Weber: Stephen D. Berger: Die Sekten und der Durchbruch in der modernen Welt, in: Religion und gesellschaftliche Entwicklung. Studien zur Protestantismus-KapitalismusThese Max Webers, hg. von Constans Seyfarth/Walter M. Sprondel, Frankfurt a.M. 1973, S. 241–263. – Bryan R. Wilson: Religion in Sociological Perspective, Oxford 1982, S. 89–120. Vgl. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV (s.o. Anm. 33), S. 328.

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des auch außerkirchlich geprägten Frömmigkeitspluralismus insgesamt eher kulturell-geistige Desorientierung117 zur Folge hat. Sosehr auch jede Möglich 278keit für sich die Vereinheitlichung zu lebensorientierenden Ideen im Sinne hat, „die über der breiten Alltags- und Erfahrungswirklichkeit walten“118, so wird doch andererseits durch deren Heterogenität insgesamt die kulturell-gesellschaftliche Integration nachhaltig in Frage gestellt. 2. Angesichts der beschriebenen durch Differenzierung erzeugten sozial-religiösen Komplexität verlagert sich das Integrationserfordernis immer mehr von der makrogesellschaftlichen Ebene auf die Ebene des Individuums.119 Individuation als „die betont eigenverantwortliche, kreative und selbstproduktive Stellung des Individuums gegenüber den gesellschaftlichen Gruppen und deren Werten und Normen“120 ist auch für Troeltsch die ebenso zwangsläufige wie problematische Folge neuzeitspezifischer Differenzierungsprozesse.121 Troeltsch geht es nun darum, diese Diagnose in eine produktive Theorie der neuzeitlichen Subjektivität umzumünzen, weil es ihm unumgänglich erscheint, „einen sehr weitgehenden Einfluß diesem modernen Individualismus und Subjektivismus einzuräumen“ – und zwar: „prinzipiell und mit gutem Gewissen“122, weil für ihn hier 117

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Vgl. zum Gesamtkomplex: René König: Das Fischer Lexikon Soziologie (s.o. Anm. 101), S. 149 f. Vgl. bei Troeltsch zum Gesichtspunkt der Intellektualisierung Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften IV (s.o. Anm. 33), S. 313 und Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (s.o. Anm. 30), S. 470; zum Gesichtspunkt der Popularisierung Ernst Troeltsch: Religion (s.o. Anm. 30), S. 546.548; zum Gesichtspunkt der surrogathaften Synkretismusbildungen ebd., S. 547.545. – Gesammelte Schriften, Band II (s.o. Anm. 62), S. 1–21.22–44.227–241.837–842. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 1. Zum modernreligiösen Individualismus vgl. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 109–133. – Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (s.o. Anm. 30), S. 470. In ähnlicher Tendenz wie Troeltsch definiert Trutz Rendtorff: Ethik I, Stuttgart 1981, S. 52, Frömmigkeit: „Religion ist als Frömmigkeit die individuelle Konkretion der Selbstbestimmung des Menschen im Blick auf die Wirklichkeit des Lebens, die zugleich seine Freiheit und Unabhängigkeit gegenüber der vorhandenen Welt begründet und so zur erneuten und selbständigen Wahrnehmung der ethischen Aufgabe ermutigt.“ Günter Hartfiel: Individuation, in: Günter Hartfiel: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1972, S. 290. Vgl. zu diesem Gesamtkomplex vor allem die ausführliche Studie von Gerhold Becker: Neuzeitliche Subjektivität und Religiosität. Die religionsphilosophische Bedeutung von Heraufkunft und Wesen der Neuzeit im Denken Ernst Troeltschs, Regensburg 1982. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 121.

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mit den Begriffen von Freiheit und Subjektivität Epochenindizes der Neuzeit bezeichnet sind, die unauflöslich mit spezifischen protestantischen Frömmigkeitsverständnissen verbunden sind.123 So kann Troeltsch den Vorgang der individuellen Autonomie als potentielle Aufhebung sozialer Fremdbestimmung, das Subjektivitätsprinzip als graduelle Überwindung persönlicher Selbstentfremdung beschreiben und schließlich deren Wurzeln in jenem Bereich der Frömmigkeit verorten, in dem die „religiöse Gesamtpersönlichkeit“124 die Funktion eines Schlüsselbegriffs einnimmt: „Die Religion als solche umfaßt und durchdringt den ganzen Menschen,125 sie kann sich in der subjektiven Frömmigkeit mit allen Seiten des sittlichen und geistigen 279 Lebens harmonisch verbinden, ja sie ist der einzige Untergrund, aus dem heraus sich Leben und Persönlichkeit einheitlich gestalten läßt, weil nur in ihr die harmonische Einheit des Daseins überhaupt erlebt wird.“126 Troeltsch beschreibt hierin nicht die tatsächliche Realisation eines Umstandes, sondern den „subjektiven Bestand persönlicher Frömmigkeit“127 als einen Problemtitel bei der Herausbildung, Stabilisierung und Wiederherstellung von personal-sozialer Identität, auf die Frömmigkeit ebenso konstitutiv wie funktional bezogen ist: „Das innere Drängen der Zeit . . . geht auf eine Wiedergewinnung der Persönlichkeit.“128 Es ist dies ein Problemtitel, gerade weil eine Analyse der Frömmigkeitsformen im Zusammenhang der neuzeitlichen kultur- und gesellschaftsgeschichtlichen Differenzierungsprozesse die prekäre Lage zutage fördert, auf deren Untergrund sich der Prozeß menschlicher Identitätsfindung konkret abspielt: erzwungen, aber auch erschwert und behindert durch die geschilderten Tatbestände und Folgen einer vorwiegend nach Funktionsprimaten in relativ voneinander selbständige Lebensbereiche aufgefächerten Gesellschaftsstruktur; erzwungen, aber auch erschwert und behindert durch eine solche auf emanzipatorische Individualisierung hin tendierende allgemeine Optionsmöglichkeit gegenüber Sinndeutungen aller Art,129 123

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Vgl. Gerhold Becker: Neuzeitliche Subjektivität und Religiosität (s.o. Anm. 121), S. 180. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 122 u.ö. Über den sachlichen Zusammenhang vom Bild des „ganzen Menschen“ und dem Frömmigkeitsbegriff vgl. Dietrich Rössler: Der „ganze“ Mensch, Göttingen 1962. – Dietrich Rössler: Art.: „Mensch, ganzer“, in: HWP 5 (1980), Sp. 1106–1111. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 149. Ernst Troeltsch: Rez. von: Friedrich Reinhard Lipsius: Die Vorfragen der systematischen Theologie, in: DLZ 22 (1901), S. 72. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 33. Ähnlich wie Troeltsch das Kennzeichen des modernen Individualismus in „einem

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die immer mehr hauptsächlich nach Maßgabe subjektiver Ich-Erfahrung statt durch objektive Vermittlungen wahrgenommen wird;130 erzwungen, aber auch erschwert und behindert schließlich durch eine auf der Basis des neuzeitlichen Vertragsgedankens beruhenden Partizipationsfreiheit in einem prinzipiell pluralistisch organisierten Gesellschaftsgeflecht, in dem eine Vielzahl religiös-sozialer Gruppen, Organisationen und Bewegungen einander konkurrierend wie komplettierend gegen- und nebeneinander stehen.131 280 Troeltsch weiß sehr wohl, daß unter solchen gleichzeitigen Voraussetzungen der gesellschafts- und kulturgeschichtlichen Differenzierung einerseits, der prekären Problematik neuzeitlicher Subjektivität und personell-sozialer Identität andererseits „eine neue geistig-ethische Grundlage für das Gesamtleben . . . nicht aus dem Stegreif gemacht“ wird132. Hier sieht er vielmehr die konstruktive Aufgabe einer anderen, praktischethischen Reflexion beginnen, welche die Möglichkeitsbedingungen einer bewußten Pflege von Frömmigkeit noch einmal auf eigene Weise zum Gegenstand hat, wozu der klassische Religionssoziologe Troeltsch lediglich die Prolegomena beizusteuern suchte: „Die ‚Geschichte der christlich kirchlichen Kultur‘ ist Troeltsch . . . Anlaß gewesen, das christliche Ethos

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neuen Aneignungsprinzip“ sieht (Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit [s.o. Anm. 30], S. 470), bezeichnet gegenwärtig Peter L. Berger die „Privatisierung“ von Religion als „häretischen Imperativ“ (Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980). Vgl. dazu auch die Diskussion im Anschluß an Helmut Schelsky: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?, in: ZEE 1 (1957), S. 153–174. Zur Parallelität des heutigen Verständnisses von Erfahrungsreligion und „Erfahrung“ als dem „einzigen Prüfstein wirklicher Religiosität“ bei Ernst Troeltsch (Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit [s.o. Anm. 30], S. 664) vgl. Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft (s.o. Anm. 8), S. 270–281. Insgesamt zum Sachverhalt: Horst Jürgen Helle: Tendenzen zu einer Religiosität der Erfahrbarkeit, in: Chancen der Religion, hg. von Rainer Volp, Gütersloh 1975, S. 69–75. Zur Partizipationsfreiheit des Individuums auch im religiösen Bereich: Ernst Troeltsch: Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit (s.o. Anm. 30), S. 631. 637. Dieser Umstand findet sich gegenwärtig vielfältig verhandelt als religiössozialer Pluralismus, z. B. bei Peter L. Berger: Der Zwang zur Härese (s.o. Anm. 129). – Dietrich Rössler: Positionelle und kritische Theologie, in: ZThK 67 (1970), S. 215–231. – Hugo Staudinger: Pluralistische Gesellschaft und religiöse Wertorientierung, in: Religion im Umbruch, hg. von Jakobus Wössner, Stuttgart 1972, S. 75– 122. Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II (s.o. Anm. 18), S. 27.

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unter durchschauten geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen neu zu formulieren.“133

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Wilfried Gerhard: Ernst Troeltsch als Soziologe (s.o. Anm. 7), S. VII. Zum Konvergenzpunkt einer praktischen Theologie bei Troeltsch vgl. Karl-Ernst Apfelbacher: Frömmigkeit und Wissenschaft (s.o. Anm. 8), S. 72 f., sowie die Bemerkungen bei Gerold Becker: Neuzeitliche Subjektivität und Religiosität (s.o. Anm. 121), S. 51.66f.86–90.305. Tatsächlich betrachtete Troeltsch die Verfolgung seiner analytischen wie ethischen Erkenntnisinteressen als Voraussetzung dazu, „erst einmal die Situation klären (zu) helfen, deren volles Verständnis nötig ist für eine Neugestaltung unseres religiösen Lebens“ (Gesammelte Schriften II [s.o. Anm. 18], S. 228). Wie eine solche praktische Theorie in concreto dann bei Troeltsch aussieht, die sich schwerpunktmäßig um den Kompromißgedanken, den Begriff einer Verantwortungsethik und eine praktisch-theologische Theorie der Volkskirche zentriert, muß einer weiteren Studie vorbehalten bleiben.

Protestantische Religion und praktische Rationalität. Zur Konvergenz eines ethischen Themas in der Praktischen Theologie Otto Baumgartens und Soziologie Max Webers

1. Thematische Konvergenz um Ursprung interdisziplinärer Programme Es gehört zu den wenigen Übereinkünften im gegenwärtigen Selbstverständnis der Praktischen Theologie, daß in ihr als wissenschaftlicher Theorie der religiösen Praxis in Kultur und Gesellschaft „die Einbeziehung der Sozialwissenschaften . . . nicht zur Disposition“ steht.1 So allgemein diese Konstitutionsbedingung der praktisch-theologischen Interdisziplinarität mittlerweile auch anerkannt scheint, so umstritten bleiben doch konkrete Art und Bedeutung ihrer Realisierung. Zumindest zielt die programmatische Interdisziplinaritätsforderung einer Praktischen Theologie, die in ihrer wissenschaftlichen Selbstverortung so lange Zeit mit der „Aschenbrödel“-Metapher zu kokettieren wußte, auch auf solchen Reputationsgewinn und Legitimationsnachweis, durch die sie sich ihrer beiläufigen Appendixfunktion im Bezugsrahmen der Gesamttheologie wie der Wissenschaften überhaupt zu entledigen trachtet.2 Innertheologisch rückte jedenfalls ihre Emanzipation etwa von Dogmatik und Kirchengeschichte immer dort in den Mittelpunkt, wo sie sich im Rekurs auf außertheologische „Wirklichkeitswissenschaft“ entschieden als „jener Zweig theologischer Arbeit“ verstand, „der für einen Realismus der Theologie sorgt“3 sowie „der Wahrnehmung der Sache der Theologie in ihrer

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Karl-Fritz Daiber: Grundriß der Praktischen Theologie als Handlungswissenschaft, München/Mainz 1977, S. 120. Vgl. Dietrich Rössler: Die interdisziplinäre Forschung als theologisches Programm, in: Die Theologie in der interdisziplinären Forschung, hg. von Johann Baptist Metz/Trutz Rendtorff, Düsseldorf 1971, S. 73–75. – Zur Aschenbrödel-Metapher in der Praktischen Theologie vgl. Wolfgang Steck: Der Pfarrer zwischen Beruf und Wissenschaft, München 1974, S. 22. Hans-Otto Wölber: Religion ohne Entscheidung. Volkskirche am Beispiel der jungen Generation, Göttingen 1959, S. 219.

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Protestantische Religion und praktische Rationalität

Gegenwärtigkeit“ dient.4 Die Universalisierung der praktisch-theologischen Themen geschieht dann kaum noch in der Weise des Anspruchs einer von allen empirisch-lebenswirklichen Voraussetzungen losgelösten Dogmatik, sondern vollzieht sich dadurch, daß sie für die gesamte Theologie eben jene Realitätserfahrung entscheidend zur Geltung bringt, die sie als Zweig der Theologie zum ausdrücklichen Thema hat. Wo sie dabei der Einsicht folgt, daß sich „die Identität des Christentums und der Theologie . . . überhaupt erst bilden dadurch, daß sie in den Prozeß einer universalen theoretischen und praktischen Wirklichkeitserfassung eintreten“5, entfällt zugleich die Brauchbarkeit jener vorwiegend 198 didaktisch motivierten Raster, in denen bis dahin die vielfältigen Praxiserfahrungen aus Geschichte und Gegenwart zum traditionell untergliederten Themenkanon einer Pastoraltheologie verdichtet wurden. So nehmen gegenwärtig die praktisch-theologischen Untergliederungen wie Homiletik, Poimenik, Kybernetik, Diakonik usw. nurmehr gleichsam die Funktion von Startlöchern wahr: Von ihnen aus wird zunehmend die gesamte Spannbreite der kulturell-gesellschaftlichen Praxiserfahrung desjenigen christlichen Lebens überhaupt zum Gegenstand praktisch-theologischer Denkungsart erhoben, das die Grenzen eines strikten Kirchlichkeitsverständnisses in charakteristischer Weise mehr oder weniger weit überschreitet.6 Dabei verliert auch die theologische Borniertheit gegenüber einem ebenso befürchteten wie inkriminierten „Soziologismus“ in dem Maße an Boden, wie sich die Themen der Praktischen Theologie als Themen einer übergreifenden Lebenspraxis entpuppen, denen mit traditionell-theologischen Denk- und Interpretationsfiguren allein nicht beizukommen ist. Eine sich hingegen unter interdisziplinären Vorzeichen aufbauende Wissenschaft versteht sich dann selbst vorwiegend als allgemeine Lebenserfahrung im Modus der theoretischen Reflexion in fachspezialisierten Perspektiven, deren Leitthematik insgesamt „jene ur4

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Gerhard Ebeling: Studium der Theologie. Eine enzyklopädische Orientierung, Tübingen 1977, S. 118. Trutz Rendtorff: Christentum ohne Kirche? (1971), zitiert nach: Trutz Rendtorff: Theorie des Christentums. Historisch-theologische Studien zu seiner neuzeitlichen Verfassung, Gütersloh 1972, S. 149. Daß die Überbietung der Pastoraltheologie und ihrer Einzelaspekte stets auch damit verbunden war, für die Praktische Theologie nicht nur ein wissenschaftliches Niveau, sondern auch ein breiteres Themenspektrum zu gewinnen, zeigen: Christof Bäumler: Probleme der Theoriebildung Praktischer Theologie, in: Einführung in die Praktische Theologie, hg. von Rolf Zerfaß/Norbert Greinacher, München/Mainz 1976, S. 77–95. – Wolfhart Pannenberg: Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973, S. 426–424. – Wolfgang Steck: Die wissenschaftliche Situation der Praktischen Theologie, in: WPKG 64 (1975), S. 65–80.

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sprünglichen Fragestellungen (ausmachen), aus denen sich die Disziplinen erst herausgebildet haben“, ohne daß dies unbedingt auch in den einzelnen Geschichten der Fachgebiete hinlänglich zu Bewußtsein käme.7 Gelebte Religiosität unter den Verstehens- und Handlungsbedingungen der neuzeitlichen Gesellschaft bildet ein solches exemplarisches Thema, das zugleich die Herkunfts- und Entwicklungsgeschichte gleichermaßen der Praktischen Theologie wie auch der Soziologie bezeichnet; denn ihre disziplinäre Verselbständigung verdanken beide Fachgebiete weitgehend dem Umstand, daß sie sich in spezifischer, nicht nur erkenntnisinteressierter Weise an Phänomenen ein und derselben gesellschaftlichen Religionsproblematik der Neuzeit abgearbeitet haben.8 Demgegenüber erweisen sich Versuche, die Differenz der Disziplinen primär in die Unterschiedlichkeit wissenschaftstheoretischer Begründungen oder methodologischer Zuschnitte – etwa nach Kriterien der Geistes- bzw. Handlungswissenschaftlichkeit oder der induktiv-beschreibenden bzw. deduktiv-normierenden Arbeitsweise – hineinzuverlegen, als sekundäre „Frontbegradigungen“, welche die Sachproblematik des interdisziplinären Dialogs zwischen Praktischer Theologie und Soziologie eher zu verstellen als zu klären in der Lage sind.9 Durch die nachträgliche Verteilung formal-divergenter Gesichtspunkte auf mehr schiedlich als friedlich getrennte Sachgebiete wird somit 7

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Friedrich H. Tenbruck: Der Fortschritt der Wissenschaft als Trivialisierungsprozeß, in: Sonderheft 18 der KZSS, S. 23. Dieser von Soziologen in der Regel hartnäckig geleugnete Umstand wird deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, welch eine eminente Rolle die Religionsthematik nicht nur bei Max Weber, sondern ebenso etwa auch bei Georg Simmel, Wilhelm Dilthey, Ernst Troeltsch, Werner Sombart oder Emile Durkheim gespielt hat. Daß hierbei ein in seinem Grundverständnis auch für die neuzeitliche Theologie bestimmender Religionsbegriff maßgeblich war, zeigt Hans-Joachim Birkner: Beobachtungen und Erwägungen zum Religionsbegriff in der neueren protestantischen Theologie, in: Fides et communicatio. Festschrift für Martin Doerne, hg. von Dietrich Rössler, Göttingen 1970, S. 9–20. – Vgl. hierzu insgesamt ausführlich: Volker Drehsen: Neuzeitliche Konstitutionsbedingungen der Praktischen Theologie. Aspekte der theologischen Wende zur sozialkulturellen Lebenswelt christlicher Religion. Band 1, Diss. Univ. Tübingen 1984; Band 2, Habil.-Schrift Univ. Tübingen 1985. Typisch hierfür sind die Versuche, den Wissenschaftscharakter der Praktischen Theologie vermeintlich historisch innerhalb des Koordinatensystems des sog. Positivismus-Streits (vgl. Theodor W. Adorno u. a.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied/Berlin 1969) einzuordnen, wie es jüngst Godwin Lämmermann (Godwin Lämmermann: Praktische Theologie als kritische oder als empirisch-funktionale Handlungstheorie?, München 1981) bzw. breitflächiger Norbert Mette (Norbert Mette: Theorie der Praxis, Düsseldorf 1978) versucht haben.

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entschärft, was in den Ursprüngen beider Disziplinen gerade die Kontur und Dynamik der ihnen zugrunde liegenden konvergenten Leitthematik ausgemacht hatte. Daß diese Kontur und Dynamik eben den Bemühungen entstammen, bestimmte lebensweltliche Erfahrungen hier wie dort in der realitätserprobenden Dogmenfreiheit und gegenwartsorientierenden Praxisdienlichkeit eines eigentümlichen Wissenschaftstyps zu verobjektivieren, läßt sich vorzüglich und exemplarisch am Verhältnis von Otto Baumgarten und Max Weber aufweisen. 199 Deren Lebenswerke verkörpern in einer für ihr jeweiliges Fachgebiet repräsentativen Weise zugleich die thematische Konvergenz, die bis heute sowohl für die Praktische Theologie als auch für die Soziologie mit der moderngesellschaftlichen Religionsproblematik angezeigt ist. 2. Grundzüge der praktisch-theologischen Religionsthematik bei Otto Baumgarten Baumgarten vertrat eine spezifische Auffassung von Praktischer Theologie, die sich selbst am Anfang einer neuen Epoche wähnte: „Es will so scheinen, als ob wir in der neuesten Gegenwart zu einem neuen Betrieb und veränderten Umfang der Praktischen Theologie gelangen sollten“.10 Vom Vorausgegangenen unterscheidet sich dieser Neuentwurf sowohl in seinen programmatischen Absichten als auch in einer veränderten Einschätzung jener Bedingungen, unter denen eine Verwirklichung des praktischtheologischen Programms statthaben kann: Die programmatische Wende spiegelt sich zum einen in einer thematischen Erweiterung wider („veränderter Umfang“); den veränderten Verwirklichungsbedingungen trägt zum anderen eine methodologische Umstellung Rechnung („neuer Betrieb“). Beides bestimmt schließlich die innertheologisch-enzyklopädische Plazierung der praktisch-theologischen Disziplin innerhalb der Gesamttheologie: Für 10

Vgl. Otto Baumgarten: Art.: „Praktische Theologie“, in: RGG1, Band 5 (1913), Sp. 1720–1726, 1723. Baumgarten selbst verstand sich nur als Repräsentant einer praktisch-theologischen Richtung, die in ähnlicher Weise vor allem Paul Drews und Friedrich Niebergall programmatisch vertreten hatten und in deren Zentrum die sachliche wie methodische Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Perspektiven in die Praktische Theologie stand; vgl. Otto Baumgarten: Protestantische Seelsorge, Tübingen 1931, S. 3. – Wilhelm Rudolph: Paul Drews – der „Vater der evangelischen Kirchenkunde und religiösen Volkskunde“, Diss. Univ. Leipzig 1967. – Jörg V. Sandberger: Pädagogische Theologie. Friedrich Niebergalls Praktische Theologie als Erziehungslehre, Göttingen 1972. – Wolfgang Steck: Das homiletische Verfahren, Göttingen 1974.

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Baumgarten steht sie unmittelbar weder in einem Verhältnis der Abhängigkeit noch der Analogie zu Dogmatik und Kirchengeschichte, erschöpft sich andererseits jedoch nicht in bloßer Pastoraltheologie. Dogmatik erscheint hier als Reflexionsausdruck eines kirchlichen Bewußtseins, dessen distinkte Realisationsgestalten aus der Vergangenheit die Kirchengeschichte beschreibt; dagegen beschränkt sich Pastoraltheologie weitgehend darauf, „eine Rumpelkammer für die Informationen zur Amtsführung“ der Pfarrer zu sein.11 In dem Bestreben, die „Kluft zwischen wissenschaftlicher Überund sozialer Unterproduktion“ zu überwinden,12 beansprucht Praktische Theologie, gleichsam weniger als systematisch-historische Grundlagenwissenschaft, aber auch mehr als anwendungswissenschaftliche „Kunstlehren der amtlichen Funktionen“ der Kirche zu sein.13 Ihr Thema bildet vorrangig nicht so sehr die gelehrte noch verwaltete als vielmehr die individuell wie sozial wirklich gelebte christliche Religiosität als Inbegriff derjenigen von ihr thematisierten Praxis, auf die sich das praktisch-theologische Interesse an Bestandsaufnahme, Erklärung und Beeinflussung gleichermaßen konzentriert. Demnach charakterisieren hauptsächlich drei Grundzüge den von Baumgarten vertretenen Typ Praktischer Theologie. a) Die praktisch-theologische Wende zur Empirie der gelebten Religion Den Ausgangspunkt der praktisch-theologischen Theoriebildung Baumgartens stellt „das empirische Studium der wirklichen Menschen“14 und 200 die tatsächliche „Orientierung über das konkrete Leben“ der Kirche dar,15 die der „viel zu abstrakten theoretischen Haltung der Praktischen Theologie“ und damit zugleich auch deren praktischer „Erfolglosigkeit“ vorzubeugen suchen.16 Realitätsferne und Ineffizienz dieser praktisch-theologischen Disziplin erscheinen als Folge ihrer allzu distanzlosen Anbindung an die 11 12

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Otto Baumgarten: Die protestantische Seelsorge (s.o. Anm. 10), S. 1. Otto Baumgarten: Die Bedeutung des englischen Einflusses für die deutsche praktische Theologie, in: ZprTh 15 (1893), S. 242. Otto Baumgarten: Art.: „Praktische Theologie“ (s.o. Anm. 10), Sp. 1723. Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte, Tübingen 1929, S. 70. Paul Drews: Das Problem der Praktischen Theologie. Zugleich ein Beitrag zur Reform des theologischen Studiums. Tübingen 1910, S. 9. Vgl. Otto Baumgarten: Art.: „Praktische Theologie“ (s.o. Anm. 10). Im breiteren Kontext erscheint die Praktische Theologie hier lediglich als theologischer Reflex eines „allgemeinen Strukturwandels der Wissenschaft, der von der propositional definierten Systemwissenschaft zur prozedural definierten Forschungswissenschaft führt“ (Herbert Schnädelbach: Philosophie in Deutschland 1831–1933, Frankfurt

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Dogmatik bzw. Systematische Theologie, in denen sich nach wie vor der „deutsche Hang zur Ideologie“17 und der „deduktive Einheitsdrang“ eines abstrakt- „konstruktiven Idealismus“18 kristallisieren, ohne dadurch jedoch verhindern zu können, „daß die große Mehrzahl der Geistlichen mit einem Salto mortale aus der wissenschaftlichen Theorie in die traditionelle Praxis stürze“.19 Demgegenüber sucht eine um die empirische Kirchenkunde bereicherte Praktische Theologie die „Einführung in die konkreten Zustände und Verhältnisse ihres religiös-kirchlichen Lebens in der Gegenwart, mit Einschluß der kirchlichen Statistik“, zu geben;20 Kirchenkunde erscheint

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a.M. 1983). Der leitende Gesichtspunkt – die wissenschaftliche Wende zum „Primat der Erfahrung vor der Theorie“ (ebd., S. 114) – erschließt sich für Baumgarten zunächst und vor allem am Werk Herders (Otto Baumgarten: Herders Lebenswerk und die religiöse Frage der Gegenwart, Tübingen 1905): Mit Herder teilt Baumgarten die „Abneigung gegen Konstruktionen“ (ebd., S. 29), den „kräftigen realistischen Zug“, der die „Erfassung der vielverwobenen Fäden des Lebens“ bedeutet (ebd., S. 31) und damit das aufklärerische Interesse an der „völligen Umkehr der idealistisch-deduktiven Betrachtung in eine rein anthropologisch-induktive“ aufnimmt (ebd., S. 34); d. h.: „Herabführung der Philosophie aus den metaphysischen Abstraktionen zu der Wirklichkeit menschlicher Erfahrungen, . . . Verdrängung der deduktiv-synthetischen durch die analytisch-empirische Methode“ (ebd., S. 35). Mit Herder hatte zumindest im Prinzip „eine ganz neue Wertschätzung des empirischen, in der raumzeitlichen Erfahrungswelt eingeschlossenen Weltbildes“ ihren Durchbruch: „Die Psychologie und Anthropologie fingen an, naturwissenschaftlich betrieben zu werden“ (ebd., S. 35 f.), was sie „völlig gleichgültig gegen ein System (machte), das, von obersten Begriffen deduziert, alle Kategorien des Denkens umfasste“ (ebd., S. 45). Otto Baumgarten: Die Bedeutung des englischen Einflusses für die deutsche praktische Theologie (s.o. Anm. 12), S. 242. Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 18; vgl. 16 f.46. Otto Baumgarten: Art.: „Praktische Theologie“ (s.o. Anm. 10), Sp. 1723. Diese Einsicht verband die Neukonzipierungsprogramme der Praktischen Theologie aufs engste mit gesamttheologischen Studienreformprogrammen, die seinerzeit durch Wilhelm Bornemanns zunächst anonym erschienene Schrift „Die Unzulänglichkeit des theologischen Studiums der Gegenwart“ (Leipzig 1886) ihren Auftakt erfuhr. Wie sehr sich in der Praktischen Theologie die nur exemplarische Reflexion eines allgemeinen Zusammenhangs widerspiegelte, ist abzulesen an der Schrift des WeberSchülers Theodor Litt: Berufsstudium und ,Allgemeinbildung’ auf der Universität, Leipzig 1920. – Zur Geschichte der theologischen Studienreformprogramme vgl. Wolfgang Herrmann: Theologische Ausbildung und ihre Reform, Münster 1976. – Markus Braun: Reformation des Theologie-Studiums, Hamburg 1966. Otto Baumgarten: Art.: „Praktische Theologie“ (s.o. Anm. 10), Sp. 1724. Vgl. Johannes Witte: Art.: „Statistik, kirchliche“, in: RGG1, Band 5 (1913), Sp. 893–897. – Mar-

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hier als die wissenschaftlich angemessene Beschreibungsart einer faktisch gegebenen religiösen Äußerungsvielfalt, die sich durch systematischtheologische Subsumptionen nicht erschöpfend einfangen läßt. Anstelle der theologischen Lehrdominanz tritt das Primat religiös-kirchlicher Lebenserfahrung, anstelle der Ableitungen aus dem dogmatischen oder enzyklopädischen System die empirische Wirklichkeitsdeskription des kirchlichen Lebens: „Wichtiger als . . . die viel erörterte Frage der Einteilung und Gliederung der Disziplin war mir ihre nahe Fühlung mit den Aufgaben des wirklichen Lebens; die mehr deskriptive als deduktive, die Probleme mehr aus dem Leben aufgreifende als aus der Idee der Kirche und des geistlichen Amtes ableitende Methode entsprach . . . meinem tiefliegenden Mißtrauen gegen den Trug der Idee“.21 Diese epistemologische Wende zur Empirie folgt der durchaus theologisch begründeten Einsicht, daß die gelebte Religion, auch in der Kirche, in sich allemal reicher, differenzierter und mannigfaltiger ausfällt, als ein dogmatischer Begriff von ihr zu vermitteln vermag, und daß eben die darin sich manifestierende „Leiblichkeit, Verleiblichung, die Äußerung in Formen und Sinnbildern, das Ende der Wege Gottes ist“22. Die theologische Wende zur Empirie erscheint als wissenschaftlicher Reflex des christlich-religiösen Indigenisationsgedankens.23 Die praktisch-theologische Berücksichtigung der „reichen Mannigfaltigkeit des religiösen Lebens und der Glaubensan-

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tin Schian: Art.: „Kirchenkunde“, in: RE3, Band XXIII (1913), S. 756–763. – Johannes Schneider: Art.: „Statistik, kirchliche“, in: RGG2, Band 5 (1931), Sp. 764-768. Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 98. Otto Baumgarten: Religiöses und kirchliches Leben in England, Leipzig/Berlin 1922, S. 121. Mit dem Diktum „Das Ende der Wege Gottes ist die Leiblichkeit“ nimmt Baumgarten einen Zentralsatz Friedrich Carl Oetingers auf (S. 59; vgl. Friedrich Carl Oetinger: Art.: „Leib, soma“, in: Friedrich Carl Oetinger: Biblisches und Emblematisches Wörterbuch, Stuttgart 1776, S. 407). Es ist bemerkenswert, daß derselbe Gedanke, den Baumgarten hier aus dem angelsächsisch-theologischen Fundus eines „nach Verleiblichung verlangenden Christentums“ reimportiert (Otto Baumgarten: Die Bedeutung des englischen Einflusses für die deutsche praktische Theologie [s.o. Anm. 12], S. 243), in jüngster Zeit (1972) von Ernst Lange ebenfalls aus der angloamerikanischen Missionswissenschaft herangezogen wurde: „In der grenzüberschreitenden Bewegung der Mission muß das Christentum sich in immer neuen soziokulturellen Zusammenhängen einkörpern, verleiblichen, gesellschaftlich verwurzeln. Indigenisation ist mehr als ‘Anpassung’. Sie entspricht dem Vorgang der Inkarnation, wie die Christologie ihn verwendet“ (Ernst Lange: Kirche für die Welt, München 1981, S. 214).

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schauungen aufgrund der Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrungen“24 hat die grundsätzliche Anerkennung der „Gleichberechtigung verschiedener Grundrichtungen“ ihrer dogmatischen Artikulation zur konsequenten Folge.25 Da in dieser Perspektive Kirche keine „ganz geschlossene Überzeugungsgemeinschaft“ mehr darstellen kann, „sondern eine höchst gemischte Vereinigung von verschiedenst entwickelten Elementen, die sich in sehr verschiedenem Grade der Annäherung und des Gehorsams gegenüber der christlichen Wahrheit befanden“,26 muß sie auch „verzichten auf die Auferlegung des Bekenntnisjochs . . . Sie kann nur noch eine Gemeinschaft der Gott und die Wahrheit suchenden, 201 neuen Offenbarungen und Erkenntnissen, neuen Erfahrungen und Erlebnissen offenen Seelen sein oder sie wird zur Winkelsache“.27 In einer grundsätzlichen Offenheit gegenüber der Differenziertheit religiös-kirchlicher Glaubensäußerungen, die durch heterogene Motive, Bedürfnisse, Interessen und Fähigkeiten in Sachen Religion mitgeprägt sind, sucht die Praktische Theologie Baumgartens in einer Art empirisch-realistischen Bestandsaufnahme eben diese theologisch legitime wie religiös faktisch gelebte Pluralität kirchlicher Lebensobjektivationen zu erfassen und darin die Struktur und Funktion kirchlich geprägter Religiosität zu durchleuchten. b) Gelebte Religion im Verflechtungszusammenhang von Kultur und Gesellschaft Daß dabei „die innere Geschichte des deutschen evangelischen Kirchenwesens im Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur- und politischen Geschichte“ steht,28 hat für die Praktische Theologie unter Beibehaltung ihres grundsätzlichen „christlichen Realismus“29 eine weitere Entschränkung ihrer Thematik und methodologische Anreicherung zur Folge: Nicht allein die kirchlichen Zustände, auch nicht in ihrer realen Differenziertheit, bilden ihren Gegenstand, sondern darüber hinaus auch die von Kirchlichkeit emanzipierten religiösen Phänomene in ihren sozial-kulturellen Verflechtungszusammenhängen. Denn es besteht zumindest „auf protestantischer Seite ein gewaltiger Unterschied zwischen dem, was offizielle, in Unterricht 24 25 26 27 28 29

Otto Baumgarten: Der Aufbau der Volkskirche, Tübingen 1920, S. 96. Ebd., S. 97. Ebd., S. 100. Ebd., S. 48. Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 109. Otto Baumgarten: Die Bedeutung des englischen Einflusses für die deutsche praktische Theologie (s.o. Anm. 12), S. 242.

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und Predigt verkündigte Frömmigkeit ist, und dem, was im Volk, in der Gemeinde wirklich lebt“.30 Dieser Unterschied begründet die Kirchendistanz wie Kirchenabstinenz sowohl in religiös-sittlichen Mentalitätsgehalten als auch in religiös-sittlichen Verhaltensmanifestationen. Dies herauszuarbeiten wird zur Aufgabe einer praktisch-theologisch orientierten „religiösen Volkskunde“, die „frei von kirchenregimentlichen und konfessionellen Interessen“31 „Kenntnis und . . . Verständnis der wirklichen, konkreten religiösen und sittlichen Volkszustände“ zu vermitteln sucht.32 Das Auslösemoment einer solchen thematischen wie methodologischen Erweiterung der Praktischen Theologie bildet die neuzeitliche Erfahrung eines doppelten Emanzipationsschubes, durch den die Palette möglicher Religionsäußerungen „von der bewußten Weiterbildung des Kirchenglaubens“33 bis zu „völlig unkirchlichen Kreisen“34 ausgedehnt wurde. Es sind vor allem „zwei Kreise, die den Kern des Widerstandes gegen die Volkskirche bilden und deren Wiedergewinnung für die Kirche deshalb das entscheidende Problem ist: die Arbeiterschaft und die gebildete Welt“35. In dieser kirchlichen Emanzipation des Proletariats und Bürgertums kommt nachhaltig und global zum Ausdruck, 30

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Otto Baumgarten: Art.: „Volksfrömmigkeit: II. Evangelische“, in: RGG1, Band 5 (1913), Sp. 1738–1745, 1739. Ebd. Paul Drews: „Religiöse Volkskunde“, eine Aufgabe der praktischen Theologie, in: MkiPr 1 (1901), S. 2. Die Verwendung der Bezeichnung „religiöse Volkskunde“ ist bei Baumgarten wie bei seinen gleichgesinnten Fachgenossen schillernd: Einerseits soll dadurch gleichsam programmatisch in gewisser Gegenläufigkeit zur statistischen Mediatisierung der Kirchenkunde der idiographische Gesichtspunkt bewahrt werden und bedeutet dann „eine stete Berücksichtigung des Nationalen, zeitlich, örtlich, klimatisch, kulturell Bedingten“ (Otto Baumgarten: Herders Lebenswerk [s.o. Anm. 16], S. 49); andererseits verwendet Baumgarten den Begriff als Abbreviatur für das, was dann Max Weber „Kulturwissenschaft“ nennt (Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von Johannes Winckelmann, 3. Auflage, Tübingen 1968, S. 146–214) und wird von Baumgarten in diesem weiteren Verständnis wiederum auf eine Art religionssoziologische Stratifikationstheorie eingeschränkt (Otto Baumgarten: Protestantische Seelsorge [s.o. Anm. 10], S. 179– 182). – In der schillernden Verwendung der Abbreviatur „Religiöse Volkskunde“ spiegeln sich die Spannungen des Selbstverständnisses der Volkskunde überhaupt wider; vgl. dazu: Ingeborg Weber-Kellermann: Deutsche Volkskunde zwischen Germanistik und Sozialwissenschaften, Stuttgart 1969. Otto Baumgarten: Art.: „Volksfrömmigkeit: II. Evangelische“ (s.o. Anm. 30), Sp. 1739. Otto Baumgarten: Der Aufbau der Volkskirche (s.o. Anm. 24), S. 38. Ebd., S. 58.

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„daß bestimmte geistige und soziale Fragen in der Kirche nur mangelnde oder partielle Aufnahme gefunden haben“36. Diese die Aspekte der neuzeitlichen Religionsproblematik überhaupt signalisierenden Fragestellungen aufzunehmen, wird für diejenige Praktische Theologie geradewegs zur 202 Überlebensfrage, deren Aufgabe darin besteht, „die Gemeinden zusammenzuhalten und in enger Fühlung zu halten mit dem Leben des Volks, damit sie Sammelpunkte des religiösen Bedürfnisses und Quellstuben der Volkserneuerung werden“37. Es geht dabei also um die Rekonstruktion der intellektuellen wie sozialen Gründe der Unkirchlichkeit, die im Bürgertum wie im Proletariat gleichsam ihre repräsentativen Trägerschichten gefunden haben. So wird in der Emanzipation des Bürgertums die mögliche Entflechtung des Zusammenhangs von Religion und moderner Kultur bzw. Zivilisation ansichtig.38 Denn die Mentalität des historisch gebildeten Bürgertums einerseits ist geprägt von der „kritischen Zersetzung des Historischen“, von derjenigen „Erkenntnis der zeitgeschichtlichen Bedingtheit der Anschauung und Zielsetzungen“39, 36

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Trutz Rendtorff: Gleichgültigkeit oder Ablehnung – die Unkirchlichen, in: Alte Botschaft – neue Wege, hg. von Hans-Joachim Girock, Stuttgart 1966, S. 37–44, 39. Es ist bezeichnend für die gesamte Richtung der von Baumgarten vertretenen Praktischen Theologie, daß sie partielle Entkirchlichungserfahrungen gerade ihrer Unausweichlichkeit wegen nicht zu einer lamentierenden Sicht globaler Säkularisierungsprozesse prolongiert, sondern an deren Symptomen so etwas wie eine theoretische Bringschuld der Theologie entdeckt, die Martin Rade lapidar charakterisiert: „Die theologische Wissenschaft auf den Kathedern soll ihrerseits den Forderungen der Gegenwart gerecht werden: in der Ethik, in der Praktischen Theologie, auch in den anderen Disziplinen“ (ChW 4 [1890], Sp. 581). Dieser Gegenwartsanspruch wird von Baumgarten für die Theologie dahin präzisiert, sie habe „in sich die Einheit von Wahrheit und Tat, von klassischer Bildung und christlicher Selbst- und Weltbeurteilung zu erreichen“ (Otto Baumgarten: Herders Lebenswerk [s.o. Anm. 16], S. 105). Otto Baumgarten: Der Aufbau der Volkskirche (s.o. Anm. 24), S. 92. Werner Elert: Der Kampf um das Christentum, München 1921, S. 258 f., charakterisiert die Gesamtsituation: Seit den siebziger Jahren bestand eine „tiefe Diastase zwischen Christentum und allgemeiner Kultur . . . , die keineswegs das Ergebnis einer einseitigen Emanzipation der nichtchristlichen Kulturgrößen“ war, sondern auch durch „die Isolierung des Christentums in der Erweckungsbewegung und in der sich anschließenden konfessionellen und biblizistischen Theologie“ verursacht wurde. Baumgarten konnte sich also im Einklang mit breiten Strömungen der protestantischen Theologie fühlen, wenn er – wie Herder – die „innere Versöhnung von Bildung und Christentum“ als das Programm seines Lebenswerkes bezeichnete (Otto Baumgarten: Herders Lebenswerk [s.o. Anm. 16], S. III). Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 67.

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deren Erosionswirkungen vor allem auch Christentum und Kirche ausgeliefert sind. Daß dadurch überhaupt Autorität und Tradition in Mißkredit gerieten,40 läßt für die Praktische Theologie die zeitgenössische Akkommodation des Christentums, die „Zusammenschau damaliger und heutiger Zustände und Bedürfnisse“, erneut zum Problem werden:41 zum Problem der „hochnötigen Einheit von Religion und Kultur, von Volkskirche und höherer Bildung“42, soll auch weiterhin die Geschichte des Christentums im „Zusammenhang mit der allgemeinen Kulturgeschichte“ bewahrt bleiben.43 In analoger Weise gilt es gegenüber der naturwissenschaftlich-technischen Intelligenz andererseits, die sich aufgrund ihres kausalistischen Weltbildes der Naturerklärung und -beherrschung gegenüber Fragen religiöser Weltund Lebensanschauung weitgehend agnostizistisch verhält, die praktischtheologische Aufgabe in der Art zu formulieren, daß „die religiöse und christliche Position als voll vereinbar mit einer geschichtlichen und naturwissenschaftlichen Erfassung der Wirklichkeit . . . zu vertreten“ ist.44 Auch in dieser Hinsicht wird die „Übung der für die Praxis wesentlichen Kraft des Zusammen- und Gleichnisschauens zwischen den Zeugnissen des urkräftigen, ursprünglichen Auftretens des christlichen Prinzips in der Zeit des Urchristentums und der Reformation und zwischen den Bedürfnissen der kirchlichen Gegenwart“45 zum Erfordernis einer Zeit, deren Weltbild maßgeblich vom historisch wie naturwissenschaftlich-technisch gebildeten Bürgertum geprägt wird.46 Schließlich kennzeichnet die kirchliche Emanzipation des Proletariats den drohenden Hiatus zwischen organisierter Religion 40 41 42 43 44 45 46

Ebd., S. 70. Ebd., S. 69. Ebd., S. 37. Otto Baumgarten: Art.: „Praktische Theologie“ (s.o. Anm. 10), Sp. 1724. Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 52. Otto Baumgarten: Art.: „Praktische Theologie“ (s.o. Anm. 10), Sp. 1725. Die Problemanzeigen, die der Theologie durch die kirchliche Emanzipation des Bürgertums aufgegeben waren, wurden dann vor allem auch von Ernst Troeltsch unter den Stichworten „Historismus“ und „Naturalismus“ systematisch aufgenommen (vgl. Ernst Troeltsch: Die christliche Weltanschauung und ihre Gegenströmungen, in: Ernst Troeltsch: Gesammelte Schriften II, Tübingen 1913, S. 227–327) und spielten nicht zuletzt in Webers Soziologie als Probleme des ethischen Relativismus und der prinzipiellen Berechenbarkeit aller Dinge eine zentrale Rolle (Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre [s.o. Anm. 32], S. 582–613). In praktisch-theologischer Perspektive hebt Baumgarten darüber hinaus auf die realgesellschaftlichen Gründe derjenigen schichtspezifischen Emanzipation von Kirche ab, die er vor allem in der allmählichen Autonomisierung aller Bildungsinstitutionen und in den Folgen der Technik ausmacht: „Dazu kommt die im Zeitalter der

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und moderner Gesellschaft: Die trennende Auseinandersetzung entzündet sich hier hauptsächlich an den Grundfragen der ökonomischen Verwirklichung sozialer Gerechtigkeitspostulate und der politischen Gewährung von Partizipationsrechten überhaupt.47 So warnt denn Baumgarten auch „vor

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Eisenbahnen unaufhaltsame Freizügigkeit, der Zug nach der Großstadt, ihren Kulturgenüssen und Versuchungen, die Atomisierung der Gesellschaft, die Lockerung der festen Erziehungseinflüsse der höheren auf die niederen Stände, der Meister auf die Lehrlinge, der Herrschaften auf die Dienstboten: so gibt es Scharen von isolierten Leuten“ (Otto Baumgarten: Protestantische Seelsorge [s.o. Anm. 10], S. 56). Vgl. Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 63. Gerade in der sozialen Frage unterstreicht Baumgarten, wenn auch in einer durch karitative Gesinnung abgemilderten Form, die praktisch-theologische Bringschuld der Kirche, die bis dahin weithin parteiisch war, wenn auch „aus echter preußischer Loyalitäts- und Militärfrömmigkeit“ (Otto Baumgarten: Der Aufbau der Volkskirche [s.o. Anm. 24], S. 12). Zu Recht hingegen „empfanden Tausende mit dem Evangelisch-sozialen Kongreß das Unhaltbare des Herrenstandpunktes im Arbeitsverhältnis, der Entpersönlichung und Vorenthaltung der Selbst- und Mitbestimmungsrechte an die Arbeiter“ (ebd., S. 14): „Die christliche Kirche hat sich versündigt an dem arbeitenden Volk nicht bloß durch die Anpassung der Predigt an die weltlichen Doktrinen des Staates; . . . sie hat sich auch dadurch an dem arbeitenden Volk versündigt, daß sie die Frohbotschaft des Evangeliums von der Königsherrschaft Gottes über die Menschheit einschränkte auf die stille Innerlichkeit einzelner Seelen, statt sie hineinzutragen in die realen Verhältnisse der Masse, des ganzen Volkes, daß sie sich fesseln ließ durch die Rücksichten auf einen Opportunismus der privilegierten Gewalten, statt ihnen rücksichtslos entgegenzutreten mit dem Prophetismus der Volksgerechtigkeit“ (ebd., S. 14). Der Unterschied zu Weber ist hier deutlich, der die Pointe schärfer setzt: Die Arbeiter verlangen auch von der Kirche keineswegs „Nachsicht und würden sie zurückweisen, sondern sie fordern Anerkennung ihres Rechtes, über diejenigen Dinge und so zu denken, über die und wie die sogenannten ,gebildeten Stände’ denken. Nicht nur verstehen und nachsichtig beurteilen, sondern berücksichtigen und als berechtigt anerkennen sollten wir es, daß sich ihr Intellekt von der Gebundenheit an die Tradition emanzipiert hat . . . Nicht Almosen und nicht Abhilfe im Wege der Wohltätigkeit verlangt der Arbeiter für seine wirtschaftliche Notlage, sondern er beansprucht das Recht auf ein größeres Maß des Anteils dieser Erde“. Auch seine geistige Emanzipation erheischt Respekt „nicht durch ‚nachsichtiges‘ Hinnehmen der gegebenen Thatsache, sondern durch positives energisches Anerkenntnis der intellektuellen Selbständigkeit und Selbstverantwortlichkeit“ (Max Weber: Zur Rechtfertigung Göhres, in: ChW 6 [1892], Sp. 1104– 1109, 1107). Nach Webers Ansicht schloß dieser Umstand konsequenterweise jede Chance eines kirchlichen Reintegrationsprogrammes aus, von dem Baumgarten vielleicht noch heimlich, Stoecker jedoch ganz offen geträumt hatten; tatsächlich bekannte Baumgarten, von der progressiven sozialpolitischen Betätigung „eine Wiedergewinnung der Arbeiterschaft für den Staat und die Kirche“ erwartet zu haben

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der grundsätzlichen Bescheidung des geistlichen Amtes auf die direkt religiösen Angelegenheiten“48, was nicht nur den „Prediger der passiven Tugenden einfach zum Kapitalistenpastor in den Augen der Notleidenden“ degradieren,49 sondern überhaupt ignorieren würde, „daß die Menschen, um deren christliche Haltung sie (sc. die kirchlichen Seelsorger) besorgt sind, in ihren gesamten Lebensverhältnissen und Interessen 203 teils Produkt, teils wirkende Ursache sozialer und ökonomischer Situationen sind“, die mit „den schwierigsten ethischen Problemen“ der Gegenwart zusammenhängen.50 Die thematische Entschränkung der Praktischen Theologie zielt

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(Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 215; vgl. zur sozialen Frage insgesamt: ebd., S. 315–361. – Otto Baumgarten: Protestantische Seelsorge [s.o. Anm. 10], S. 57–61. – Otto Baumgarten: Der Seelsorger unserer Tage, Leipzig 1891. – Zu Webers Stellung: Marianne Weber: Max Weber. Ein Lebensbild. Tübingen 1926, S. 132–138). Otto Baumgarten: Der Seelsorger unserer Tage, Leipzig 1891; zitiert nach: Seelsorge, hg. von Friedrich Wintzer, München 1978, S. 43. Otto Baumgarten: Der Seelsorger unserer Tage (s.o. Anm. 48), S. 46. Otto Baumgarten: Der Seelsorger unserer Tage (s.o. Anm. 48), S. 42. Hierin sieht Baumgarten die Motive und Wurzeln der Inneren Mission gegeben, denen er sich nach wie vor verbunden fühlt: „Die Gesichtspunkte der Inneren Mission sind zu allgemeiner Geltung gekommen . . . durch die soziale Not . . . : daß nämlich das massenhafte Auftreten der Not und des Abfalls vom Christentum zum regelmäßigen Bestand unseres modernen Volkslebens gehört“ (Otto Baumgarten: Protestantische Seelsorge [s.o. Anm. 10], S. 55–61). – Vgl. auch Otto Baumgarten: Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens“ in der praktischen Theologie, in: ZprTh 14 (1892), S. 50–68. – In der Natur der Sache liegt für Baumgarten wie für Weber das Gebot begründet, unter den Geistlichen „auch solche nicht unmittelbar dem kirchlichen Leben als solchem angehörende Fragen zur Diskussion zu stellen, welche einer fördernden Einwirkung seitens der kirchlichen Kreise . . . zugänglich sind“ (Otto Baumgarten: Der Seelsorger unserer Tage [s.o. Anm. 48], S. 42). Voraussetzung dazu ist jedoch, die Pfarrer und Theologen vor „sozialpolitischem Dilettantismus“ oder „dilettantischem Naschen auf diesem Gebiet“ – soweit es geht – zu schützen (ebd., S. 43). Aus den gleichen Motiven heraus begründete Max Weber seine Mitarbeit an der eben zu diesem Zwecke von Baumgarten herausgegebenen Schriftenreihe „Evangelisch-soziale Zeitfragen“: „Ich halte das Unternehmen für ein immerhin nützliches, gleichgültig, was dabei herauskommt, schon deswegen, weil es eine Kooperation von Theologen und anderen Kategorien einschließt. Es kann gar keinem Zweifel unterliegen, daß gerade die tatkräftigeren und idealistischen jüngeren Geistlichen dem Zuge der Zeit, auf sozialem Gebiete, auch in anderer Weise als durch Belehrung und spezifische Seelsorge zu wirken, definitiv anheimgefallen sind . . . Ferner: dem Theologen ist es sicher heilsam und der Achtung vor ihrem Stande förderlich, wenn sie, wie hier, genötigt werden, relativ nüchtern die Sprache anderer

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also insgesamt auf die Erfassung, Durchleuchtung und Erklärung der im weitesten Sinne „inneren Geschichte des deutschen evangelischen Kirchenwesens im Zusammenhang mit der allgemeinen Kultur- und politischen Geschichte“51. Der Einsicht in die beschriebenen emanzipativen Entflechtungsprozesse, die zwischen Religion einerseits und moderner Kultur wie Gesellschaft andererseits ablaufen, entstammt das genealogische Interesse an den religiössozialen Bedingungszusammenhängen sowie das praktisch-theoretische In-

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Sterblicher zu sprechen“ (Max Weber: Brief an Hermann Baumgarten 1891, zitiert nach: Eduard Baumgarten: Max Weber. Werk und Person, Tübingen 1964, S. 74). Es besteht also gerade auf diesem sozialpolitischen Gebiet eine erhöhte Kompetenzerwartung an die Geistlichen, der Baumgarten nicht zuletzt durch seine praktischtheologische Neukonzeption zu entsprechen sucht: „Voraussetzung solcher seelsorgerischen Wirksamkeit . . . ist liebeswarmes und fachgerechtes Studium der sozialen Situation, die die Zeit beherrscht“ (Otto Baumgarten: Der Seelsorger unserer Tage [s.o. Anm. 48], S. 41). Weber verdeutlicht diese Motivation, indem er darauf hinweist, „daß, wenn unter den heutigen sozialen Spannungsverhältnissen ein Geistlicher sozialpolitisch ,dilettirt’, er dies nicht aus Neigung zum Dilettantismus, sondern dem Zwang der Not gehorchend thut, weil es schon jetzt und in zunehmendem Maße unmöglich wird, den Einfluß der materiellen Interessenkonflikte auf die sittlichen Grundlagen des Volkslebens zu ignorieren oder eine ‚reinliche Scheidung‘ durchzuführen . . . Aber eben deshalb ist vielleicht keine Eigenschaft zur Zeit den Geistlichen mehr vonnöten, als die volle Nüchternheit des Urteils, wie sie nur die Erkenntnis der wirtschaftlichen Voraussetzungen einer sozialen Erscheinung und der Schwierigkeiten, die sich der sozialpolitisch erwünscht erscheinenden Lösung entgegenstellt, mit sich bringt. Die Beförderung dieser Einsicht in die realen Machtfaktoren und nicht der fruchtlose Versuch einer Unterdrückung des Strebens nach sozialer Bethätigung ist zugleich das schlechterdings einzige Mittel, von wirklich bedenklichem Dilettantismus, d. h. dem aus der Unkenntnis der wirtschaftlichen Ursachen einer Krankheitserscheinung hervorgehenden Versuch, an ihren Symptomen herumzuquacksalben, abzuhalten“; darum ist es Webers Bestreben, daß die Geistlichen „den vollen Umfang der wirtschaftlichen Schwierigkeiten zur Anschauung zu bringen und darauf hinzuwirken suchen, daß die Probleme überhaupt in ihrer Tragweite richtig erkannt und die praktischen Fragen richtig gestellt werden“ (Otto Baumgarten: Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin im Herbst dieses Jahres, in: ChW 7 [1893], Sp. 767). Wo dies nicht erreicht werde, so prognostiziert Weber, verfestige sich das bedauerliche Desiderat, „daß heute junge Theologen mit Angehörigen anderer akademischer Berufe nicht ohne eine stillschweigende Reserve sich zusammenfinden können, und daß ein unbefangenes Zusammenarbeiten an sozialen Aufgaben annähernd unmöglich zu werden drohte“ (Max Weber: Zur Rechtfertigung Göhres [s.o. Anm. 47], Sp. 1109): Für Baumgarten eine Schreckensvision! Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 109.

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teresse an deren Folgen: „Es handelt sich hier um ineinander übergehende und wechselseitig sich bedingende Zusammenhänge“52, deren Auswirkungen sich in unterschiedlichen idealtypischen Kristallisaten von Religiosität beschreiben lassen.53 Idealtypen der Frömmigkeit stellen gleichsam Konstruktionsmodelle ihrer Kompatibilität mit den sozial-kulturellen Bedingungen der Neuzeit dar; als differenzierte Einstellungs- und Handlungsentwürfe von Religion geben sie Aufschluß darüber, „wie gewisse Schichten für das eine und für das andere prädisponiert sind“54 und wie sie sozusagen als exemplarischer Fall überhaupt „diese gewaltigen Zusammenhänge des religiös-persönlichen und des kirchlichen Lebens mit der gesamten Kulturbewegung ins Auge zu fassen“ verlangen,55 um „in das Verständnis der religiösen und kirchlichen Zustände und Entwicklungen auch den sozialen und wirtschaftlichen Faktor als einen ganz wesentlichen einzuschließen“.56 52

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Otto Baumgarten: Der Einfluß der sozialen Verhältnisse auf die Entwicklung der Frömmigkeit und Kirchlichkeit, in: Verhandlungen des 25. Evangelisch-sozialen Kongresses in Nürnberg, April 1914, Göttingen 1914, S. 17. Vgl. von Otto Baumgarten: Religiöses und kirchliches Leben in England (s.o. Anm. 22), S. 5. – Otto Baumgarten: Protestantische Seelsorge (s.o. Anm. 10), S. 179 u.ö. Weber hatte formuliert: „Von meinem Laienstandpunkt aus erschiene es mir als ein gewaltiger Fortschritt, wenn es gelänge, die überaus verschiedenen Ansprüche, mit denen die verschiedenen Klassen der Bevölkerung dem geistlichen Amt entgegentreten und entgegentreten müssen, in psychologische Beziehung zu ihrer wirtschaftlichen und sozialen Interessenposition zu setzen“ (Max Weber: Zur Rechtfertigung Göhres [s.o. Anm. 47], Sp. 1108). Eben diese verschiedenen Erwartungen und Interessen in „Idealtypen“ einzufangen und untereinander sowie insgesamt im Rahmen der geschichtlich-gesellschaftlichen Gesamtzusammenhänge in wechselseitige Beziehungen zu setzen, wird der Praktischen Theologie, d. h. ihrer religiös-volkskundlichen Arbeitsweise, von Baumgarten zur methodischen Aufgabe gemacht. Für den Praktischen Theologen ist ein Verständnis dafür unumgänglich, „wie die sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnisse der verschiedenen Gegenden auf die Gestaltung ihres religiösen Einzel- und Gemeinschaftslebens eingewirkt haben“ (Otto Baumgarten: Der Einfluß der sozialen Verhältnisse auf die Entwicklung der Frömmigkeit und Kirchlichkeit [s.o. Anm. 52], S. 19). Otto Baumgarten: Der Einfluß der sozialen Verhältnisse auf die Entwicklung der Frömmigkeit und Kirchlichkeit (s.o. Anm. 52), S. 18. Ebd., S. 17. Ebd., S. 16. Einerseits ist dieses umfassende Verständnis notwendig, um „die Hemmungen der Christlichkeit durch Kultur, Unkultur, Hyperkultur, durch soziale und wirtschaftliche Situationen“ zu erkennen (Otto Baumgarten: Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens“ in der praktischen Theologie [s.o. Anm. 50], S. 61); andererseits ist die Kenntnis der Bedingungsverhältnisse die Voraussetzung für die Einsicht, daß verschiedene Frömmigkeitstypen, „um zu einer weltgeschichtlichen

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Für Baumgarten markiert die Einführung der religiösen Volkskunde – eine andere Titulatur für Soziologie57 – in die Praktische Theologie deren unabdingbaren Übergang „von der individualistischen zur sozialen Betrachtungsweise“58, die „das Netz der Beziehungen zu beachten (hat), in das der Einzelne mit seinen Anschauungen, Selbstbeurteilungen und Billigungen eingespannt ist“59. Diese machen geradezu „die Naturbedingungen eines christlichen Volkslebens“60 aus; denn: „Christentum, Religion überhaupt, ist nicht rein persönlicher, unmittelbarer Verkehr der Seele mit Gott, sondern schließt notwendig Welt- und Selbstbeurteilung unter der Idee Gottes ein,

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Größe zu werden, es nötig haben, daß die Bewegungen im innersten, auf Gott und die Überwelt bezogenen Seelen sich treffen mit gleichgerichteten Bewegungen in sozialen und innerweltlichen Gebieten“ (Otto Baumgarten: Der Einfluß der sozialen Verhältnisse auf die Entwicklung der Frömmigkeit und Kirchlichkeit (s.o. Anm. 52), S. 19); eben dies sind im Weber’schen Sinne die „Wahlverwandtschaften“, die „zwischen gewissen sozialen Situationen und gewissen religiösen Gemeinschaftsund Nichtgemeinschaftstrieben“ bestehen (Otto Baumgarten: Der Einfluß der sozialenVerhältnisse auf die Entwicklung der Frömmigkeit und Kirchlichkeit [s.o. Anm. 52], S. 21). Vgl. Friedrich Niebergall: Zwei Stimmen zur Reform der Praktischen Theologie, in: EvFr 13 (1913), S. 305–312, bes. S. 311. Otto Baumgarten: Protestantische Seelsorge (s.o. Anm. 10), S. 2. Ebd., S. 178. Otto Baumgarten: Die Bedeutung des englischen Einflusses für die deutsche praktische Theologie (s.o. Anm. 12), S. 242. – Es gilt – und hier folgt Baumgarten hauptsächlich den Einsichten Troeltschs und Webers – in diesem Zusammenhang, den Notwendigkeitscharakter des Sozialen und Kulturellen zu sehen, um dessen Gestaltungsmöglichkeit auszuloten. Daß „die Industrialisierung unseres Volkes, die fortschreitende Zurückdrängung des Landes gegenüber der Stadtkultur, die fortschreitende Zurückdrängung der ackertreibenden zugunsten der industriell tätigen Bevölkerung“ Entwicklungen als etwas darstellen, „was wir nicht aufhalten können was durchaus wie ein Naturgesetz sich vor unseren Augen vollzieht“ (Otto Baumgarten: Der Einfluß der sozialen Verhältnisse auf die Entwicklung der Frömmigkeit und Kirchlichkeit [s.o. Anm. 52], S. 22), verlangt auch im religiösen Weltverhalten Anerkenntnis der besonders von Troeltsch hervorgehobenen Tatsache, daß „auf diesem sozialen und wirtschaftlichen Gebiet sich gewisse Gesetze unausweichlich vollziehen“ (ebd., S. 23). Auch Weber hatte bestätigt: „Das soziale Leben, das eine so starke Wirkung auf unser religiöses und insbesondere unser kirchliches Leben hat, entzieht sich in den wichtigsten, entscheidensten Beziehungen unserer wenigstens einzelnen Beeinflussung“ (ebd., S. 25). Die rückhaltlose Anerkenntnis dieses Umstandes mußte Baumgarten wie Weber „gegenüber manchen Illusionen kirchlicher Sozialpolitiker (als) ein Fortschritt zum Realismus“ erscheinen (Max Weber: Was heißt Christlich-Sozial? in: ChW 8 [1894], Sp. 473).

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ist also bedingt durch das Welt- und Selbstleben, das sich fortgehend entwickelt. Wandelt sich das Weltbild, verändert sich die Selbsterfassung, das psychologische Vermögen der Welt- und Selbstbeherrschung, so werden neue Momente des Lebens in das Verhältnis zu Gott, in den Verkehr mit Gott hineingezogen, neue Interessen und Fragen werden zu Gewissensanliegen, damit zu Faktoren unserer religiösen Lebensanschauung“61. Die wissenschaftliche Erkenntnis dieses intrikaten Verflechtungszusammenhangs, die durch „ein frühes Sicheinkapseln ins theologische Fachstudium“ verunmöglicht wird62 und darum methodologisch ihre interdisziplinäre Anlage geradezu verlangt, ist eine wesentliche Voraussetzung der Verwirklichung praktisch- 204theologischer Programme, die den globalen Anspruch des Christentums auch in seinen Repräsentationsorganen von Theologie und Kirche zu sichern suchen. c) Religiöse Sozialisation in der Perspektive neuzeitlicher Subjektivität Für Baumgarten gestaltet sich eben dieses Programm näherhin als theoretisches Programm des praktischen Aufbaus der Volkskirche, das unter den erkannten Bedingungen der Neuzeit seine Realisation nur finden kann, wenn und insofern es den Filter der allgemein herrschenden Subjektivität zu passieren vermag.63 Denn „hinter dieser ganzen Kirchenscheu nicht religionsloser moderner Menschen steckt eben der starke Individualismus . . . Daß jeder nach seiner eigenen Façon selig werden soll, daß es darum auch keinen rechten Sinn hat, sich von einem anderen seine Façon aufdrängen zu lassen, 61 62 63

Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 143. Eigenzitat. Ebd., S. 52. Subjekt(e)ivität als Neuzeitsignatur bezeichnet für Baumgarten durchaus unterschiedlich akzentuierte Momente (vgl. auch Anm. 75): Sie ist zunächst angesichts der positionell sich pluralistisch anbietenden Möglichkeitsvielfalt religiöser Sinndeutungen der zunehmend wahrscheinlicher werdende Aneignungsmodus von Religion überhaupt: „die Verlegung des Ausgangspunktes aus den Objekten in den Menschen, der sie empfindet und denkt“ (Otto Baumgarten: Herders Lebenswerk und die religiöse Frage der Gegenwart [s.o. Anm. 16], S. 26). Andererseits weist eben dieser subjektive Aneignungsmodus insofern bestimmte Regelmäßigkeiten auf, als durch ihn nunmehr bestimmte Persönlichkeitsmerkmale wie Geschlecht, Rasse, Region, Alter, Temperament, psychische Dispositionen, die Art und Weise des adaptierten Frömmigkeitstypus wesentlich mitprägen (vgl. dazu Friedrich Niebergall: Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule, in: ZThK 19 (1909), S. 411–474, bes. S. 430 ff.). Auf diesem Sachverhalt beruht die Psychologie als Seelenkunde.

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das ist in die Konstitution des modernen Menschen übergegangen“64, dem eine auf Wirksamkeit durch Wirklichkeitsnähe bedachte Praktische Theologie Rechnung zu tragen hat. Subjektive Erfahrung und individuell geprägte Lebensausdeutung bezeichnen auch auf religiösem Terrain die globalen Möglichkeitsbedingungen einer „Verwirklichung des Christentums in der Welt durch Ämter der Gemeinde“65. Für die Praktische Theologie hat dieser Umstand zur Konsequenz, daß schließlich auch die psychologische Denkweise zu einer sie konstituierenden Perspektive werden muß, sofern sie auf eine ihrerseits sozial-kulturell bedingte „Pflege innerlich freier und charaktervoller Christlichkeit“ der Persönlichkeiten reflektiert.66 Die Aufgabe der Religionspsychologie besteht in der „Darstellung der verschiedenen Individualitäten in ihrer Entwicklung und bleibenden Ausprägung“67. Und ihre Integration in die Praktische Theologie trägt dem Tatbestand Rechnung, daß 64 65 66

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Otto Baumgarten: Der Aufbau der Volkskirche (s.o. Anm. 24), S. 23 f. Otto Baumgarten: Art.: „Praktische Theologie“ (s.o. Anm. 10), Sp. 1720. Ebd., Sp. 1723. Die theologische Bejahung des Individualismus kann sich zumindest teilweise auf die christliche „Überzeugung von dem unendlichen und einzigen Wert des Individuums“ und seiner Seele berufen (Otto Baumgarten: Herders Lebenswerk und die religiöse Frage der Gegenwart [s.o. Anm. 16], S. 2). Im Lichte dieser Überzeugung erscheint Religionspsychologie als „Anatomie der subjektiven Religion“ und ist damit zugleich die Voraussetzung der Pathologie und Therapie“ der Seelenführung (so Friedrich Niebergall: Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule [s.o. Anm. 64], S. 413; vgl. Otto Baumgarten: Protestantische Seelsorge [s.o. Anm. 10], S. 114–124.125–141.211–234). Denn nach Baumgarten ist Religion „nicht eins mit Sittlichkeit noch mit Tüchtigkeit; sie ist eine Form, eine Beziehung und Richtung unseres Bewußtseins, die bei den verschiedenen Individuen verschieden stark angelegt ist“ (Otto Baumgarten: Herders Lebenswerk und die religiöse Frage der Gegenwart [s.o. Anm. 16], S. 53). Die Praktische Theologie zielt in dieser Hinsicht wie die Sittenlehre auf die subjektive „Abrundung, die möglichste Erhebung des konkreten Einzelnen zur charaktervollen Einheit der Anschauung“ (ebd., S. 11), zur Einheitlichkeit, Stärke und Bestimmtheit „seiner religiös-sittlichen Welt- und Selbstbeurteilung“ (ebd., S. 57). Gerade im affirmativen Eingehen auf dieses subjektiv-ethische Kristallisat von Religiosität liegen zudem für Baumgarten die indirekten – wenngleich nahezu einzig wahrnehmbaren – Wirksamkeitschancen eines objektiv subjektivierten Christentums beschlossen, dessen paradigmatisch gelebte Gestalt er u. a. in der Frömmigkeit Bismarcks erblicken kann: in dessen „auf das Ethische, Tätige, Wirkliche gerichteten Natur“, die ein „durchweg willensmäßiges Christentum“ – ein Schlüsselbegriff in der Baumgartenschen Christentumsauffassung! – repräsentiert (Otto Baumgarten: Art.: „Bismarck“, in: RGG1, Band 1 [1909], Sp. 1264–1268, 1265). Paul Drews: Dogmatik oder religiöse Psychologie?, in: ZThK 8 (1898), S. 134–151, 146.

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die Akzeptanz christlicher Frömmigkeitsentwürfe u. a. auch eine Funktion subjektiver Erfahrung und individuellen Verarbeitungspotentials ist: „Nur die Überzeugung fruchtet ihm (sc. dem modernen Menschen), die unter Kampf und Widerspruch tief in der eigenen Seele reift, als ihre Wahrheit im Unterschied von der Wahrheit anderer, als ihre heutige Wahrheit im Gegensatz zu der, die ihr früher gewiß war. Selbst erlebt, selbst erstritten, immer neu erkämpft will diese innere Wahrheit werden“68. Nicht also die institutionellen Vorgaben der verwalteten Religion, sondern die subjektive Aneignung nach Maßgabe individueller Erfahrungserlebnisse und die entsprechenden Auswahlmechanismen bestimmen vorrangig über Reichweite und Gestalt der gelebten Religiosität; besonders der Protestantismus, die durch ihn repräsentierte Mentalität der Neuzeit, erbaut „sich ihre innere Welt selbst“, sucht sich diese „aus vielerlei Bausteinen“ zusammen,69 und geht damit grundsätzlich den Weg „aus der festen, objektiven Gewißheit in die freie, subjektive Wahl“70, die „aufgrund der Mannigfaltigkeit der religiösen Erfahrungen“ erfolgt.71 Nicht die traditionellen Muster überkommener Religiosität, „nicht soziales Pflichtgefühl, sondern sozialer Lebens- und Selbsterhaltungsdrang wird die Laienwelt 205 zur Trägerin der Volkskirche machen“72. Die Praktische Theologie wird entsprechend ihre Aufmerksamkeit nicht nur auf die kirchlichen „Selbstdarstellungen und Selbstverständigungen religiösen Besitzes“ beschränken können,73 sondern wird sich in verstärktem Maße vor allem auf Sozialisationsanstrengungen der Kirche konzentrieren müssen, um die Bedürfnis- und Interessenslagen des modernen Menschen darin stärker berücksichtigen zu können.74 Für die Praktische Theologie selbst bedeutet das Eingehen auf solche Erfordernisse eine auf psychologischer Grundlage erfolgende zunehmende 68 69 70 71 72 73 74

Otto Baumgarten: Der Aufbau der Volkskirche (s.o. Anm. 24), S. 48. Ebd., S. 23. Ebd., S. 27. Ebd., S. 100. Ebd., S. 57. Ebd., S. 122. Baumgartens praktisch-theologischer Standpunkt des „christlichen Realismus“ sucht durchweg einem Illusionismus entgegenzuwirken, nicht aber einem sozialkulturellen Konformismus das Wort zu reden: Die Kirche soll agieren „mit Verständnis und Entgegenkommen für jede Form menschlicher Entwicklung, Schwachheit, Not, ohne doch darin aufzugehen und die höhere Zielbestimmung zu verlieren: die himmlische Berufung in Christo!“ (Otto Baumgarten: Zur Rechtfertigung „modern-christlichen Wesens“ in der praktischen Theologie [s.o. Anm. 50], S. 62); eben darum aber muß der Seelsorger „doch jene Welt kennen, aus deren verschie-

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Pädagogisierung ihrer Arbeitsweisen.75 So ändert sich beispielsweise nicht nur der Charakter ihrer Predigtlehre, indem sich deren Themenschwerpunkte von Fragen des dogmatischen Lehranspruchs der Predigt auf solche der Erlebniswelt der Predigthörer und der Wahrhaftigkeit des

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den abgestuften Umarmungen er das innere Leben der ihm Befohlenen befreien soll“ (ebd., S. 55): „Der Seelsorger muß die normalen Reaktionsweisen des Durchschnitts kennen, um die Art und den Grad der Beeinflussung richtig zu wählen“ (Otto Baumgarten: Protestantische Seelsorge [s.o. Anm. 10], S. 178). Die Richtung der Beeinflussung folgt der Grundüberzeugung, „daß das Christentum doch im letzten Grunde transzendent und individuell ist“ (ebd., S. 60): Sie zielt auf „Individualität“, insofern es „die Hauptaufgabe des Seelsorgers ist, die Seelen besonders zu nehmen und die Gelegenheit auszunützen, wo Gott sie besonders nimmt“ (ebd., S. 193), und bewahrt damit vor „Massenanbetung“ (ebd., S. 192). Sie zielt andererseits aber ebenso auf „Transzendenz“; denn „nicht um Ausbildung der Seelen zur vollen Auswirkung aller Anlagen in Harmonie, sondern um Rettung der fern von Christus, fern von Gott verlorenen Seele handelt es sich. Dieser religiöse Absolutismus, der auf der negativen Beurteilung des Welt-, des Natur- und Kulturwesens beruht, trägt im Neuen Testament alle Seelsorge“ (ebd., S. 5) und schiebt darin „aller Kulturseligkeit“ von vornherein einen Riegel vor (ebd., S. 192), um der realen Bedingungen religiöser Freiheit ansichtig werden zu können. Denn letztlich geht es bei der realwissenschaftlichen Auffassung von Praktischer Theologie für Baumgarten um die entscheidende Frage, „ob die sozialen, wirtschaftlichen, kulturellen Verhältnisse derartig sind, daß es den Leuten leicht oder schwer wird, aus diesen Weltbeziehungen sich zu erheben zu der Beziehung zum ewigen Grund, ob sie eine größere oder geringere Leichtigkeit haben, sich diesen Zusammenhängen zu entziehen und zu dem letzten Grund der Dinge zu stehen . . . “ (Otto Baumgarten: Der Einfluß der sozialen Verhältnisse auf die Entwicklung der Frömmigkeit und Kirchlichkeit [s.o. Anm. 52], S. 20). Die Pädagogisierungstendenz der Praktischen Theologie ist für die von Baumgarten vertretene Richtung Ausdruck ihrer enzyklopädischen Mittelstellung: „Der Erziehungsgedanke bezeichnet den Mittelweg zwischen Gelehrsamkeit und Handreichung“ (Jörg V. Sandberger: Pädagogische Theologie [s.o. Anm. 10], S. 114) und setzt als solcher die gleichmäßige Berücksichtigung der Wirkungsabsichten wie der realen Wirkungschancen im eigenen akademischen ebenso wie in dem von ihr thematisierten religiös-kirchlichen Wirkungskontext voraus. So hält Baumgarten der deutschen Theologie den „inneren Trieb zur Popularität“ der angelsächsischen Theologie als vorbildliches Spiegelbild vor Augen: Diese ist „populär-pädagogisch gewandt, statt, wie so oft bei uns, vom Volksleben getrennt durch Selbstverbannung in die Studierstube und Fachzeitschrift“ (Otto Baumgarten: Die Bedeutung des englischen Einflusses für die deutsche praktische Theologie [s.o. Anm. 12], S. 245).

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Predigers verlagern;76 darüber hinaus verliert die Homiletik überhaupt ihre Dominanz, die nunmehr auf psychologisch-pädagogische Unterdisziplinen wie Seelsorgelehre, Religionspädagogik oder die Lehre der Volksmission übergeht.77 Auch das enzyklopädische System der Gesamttheologie erfährt dadurch eine charakteristische Wandlung, daß sein immanentes logisches Gefälle nunmehr auf die Wirksamkeit des Christentums in einer umfassend verstandenen Kultur- und Gesellschaftspraxis zielt, der auch die unter der Ägide einer derart erweiterten und neukonzipierten Praktischen Theologie erfolgende „Verarbeitung historischer und systematischer Erkenntnisse für die kirchliche Praxis“ zu dienen hat.78 Unter den sozial-kulturellen Bedingungen der Neuzeit ist diese kirchliche Praxis durch die der religiös-sittlichen „Verwirklichung des Christentums in der Welt dienenden praktischen Funktionen“ der Kirche definiert;79 Kirche erscheint hier nicht allein in restriktiven Perspektiven ihrer Tradition oder ihres dogmatischen Anspruchs, sondern in denjenigen allgemeinen Verflechtungszusammenhängen, die zur Abschätzung ihrer faktischen Wirksamkeit zu berücksichtigen sind, um Religion auch in der Neuzeit noch als personprägende Lebensmacht zur Geltung zu bringen, d. h. um „die Radien vom Zentrum des christlichen Lebens nach allen Punkten der Peripherie des Weltlebens zu ziehen und in allen Einzelhandlungen die Grundrichtung zu verwirklichen“80, für die christlicher Glaube und christliche Ethik stehen. Formelartig hat Baumgarten entsprechend die Aufgabe des von ihm repräsentierten Verständnisses der Praktischen Theologie so zusammengefaßt: Sie wird „eine lebendige Brücke bilden müssen von der Theorie der Religion zu ihrer kirchlichen Praxis“.81 Die Thematik der 76

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Vgl. Otto Baumgarten: Predigt-Probleme. Hauptfragen der heutigen Evangeliumsverkündigung, Tübingen 1904. Vgl. Otto Baumgarten: Der Seelsorger unserer Tage (s.o. Anm. 48), S. 41: „Es muß mit dem Vorurteil gebrochen werden, als sei die Predigt die einzige Verkündigungsform des Wortes Gottes . . . Nur der Seelsorger seiner Gemeinde kann so der Wahrheit der Situation gemäß reden, weil er sie kennt, darin lebt . . . Dann wird aus der Predigt, dieser vornehm stolzen, geschmückten Herrscherin auf dem theologischen Büchermarkt, eine schlichte, dienende Magd der Seelsorge an dieser Gemeinde und für diese Zeit“. – Zu Baumgartens Homiletik vgl. auch Friedrich Wintzer: Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der „dialektischen Theologie“ in Grundzügen, Göttingen 1969, S. 167–170. Otto Baumgarten: Art.: „Praktische Theologie“ (s.o. Anm. 10), Sp. 1724. Ebd., Sp. 1721. Ebd., Sp. 1725. Ebd. Baumgartens Praktische Theologie ist insgesamt dem Anspruch nach eine rea-

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Praktischen Theologie ist gerade um ihrer praktischen Wirksamkeit willen grundlegend und konsequent bestimmt durch eine sozialwissenschaftlichinterdisziplinär angelegte Theorie der Religion in der modernen Kultur und Gesellschaft: So weit also wird die Praktische Theologie nach Auffassung Baumgartens den Rahmen ihrer Theorie spannen müssen, um der von ihr thematisierten kirchlichen Praxis, ihrer gegenwärtigen Wirklichkeit, in ihren ethischen Konsequenzen ansichtig zu werden. Denn darauf läuft der listisch orientierte Ekklesiologie, in der die Selbstgestaltung der Kirche aus ihrem transitorischen Zweck heraus begründet wird, den sie für den übergreifenden Lebenszusammenhang zu erfüllen sucht, in dem sie faktisch, doch nicht immer begriffen, eingebunden ist; d. i. ein Aufbauprogramm der evangelischen Volkskirche, die einerseits ihre Universalität als die eines universalen Angebots bewahrt, indem sie in ihrer Selbsterbauung jener Skepsis entgegenzuwirken sucht, „als ob die evangelische Kirche wesentlich ein Herrschaftsgebiet gewisser in sich abgeschlossener, mit ihrem Besitz an religiösen Gütern gesättigter, fertiger und sich überschätzender Christen statt eine Erziehungs- und Sammelanstalt für alle Gott und ihr Seelenheil suchenden, in der Zeit und Welt und mit sich selbst unbefriedigten, ehrlich ringenden Geister sei“ (Otto Baumgarten: Der Aufbau der Volkskirche [s.o. Anm. 24], S. 38 f.). Andererseits versucht der von Baumgarten umrissene Typ Praktischer Theologie, die Kirche vor faktischen Totalitätsansprüchen zu schützen, ohne daß sie dabei unter den Bedingungen der Neuzeit zugleich auf ihren „volksmissionarischen“ Impetus resignativ verzichten müßte: „Vielleicht müssen wir bei Volk und Volkskirche aufhören, einen Massenbegriff vor Augen zu haben . . . Genug, wenn die Volkskirche, die wir erstreben, in dem Sinne dem ganzen Volk zugewandt ist, daß es aus allen Schichten des Volks die lebendigen, treibenden, führenden Kräfte an sich zieht, die dann das gesamte Leben des Volkes durchsäuern mit den Kräften und Forderungen des Evangeliums“ (ebd., S. 29). Diesem Globalziel eines integrierten opinion-leadership-Konzepts ist eine von der Praktischen Theologie her intonierte Theologie insgesamt zuzuordnen, deren weitere Bestimmung besteht „in der Überwindung der theologischen Enge durch eine populäre und soziale Auffassung des religiösen und kirchlichen in seiner Wechselbeziehung mit dem gesamten, psychologisch-menschlich erfaßten Bildungs- und Gesellschafts-Leben der gebildeten wie der arbeitenden Nation, und damit zusammenhängend in der Erweckung eines neuen Triebes, das weit gefaßte Christentum als das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit mitten hineinzutragen ins wogende Volks- und Wirtschaftsleben der Gegenwart“ (Otto Baumgarten: Die Bedeutung des englischen Einflusses für die deutsche praktische Theologie [s.o. Anm. 12], S. 249). Vgl. hierzu auch Baumgartens von ihm selbst als „die Quintessenz meiner Gedanken und Erfahrungen auf kirchlichem Gebiet“ bezeichnete Schrift „Die Gefährdung der Wahrhaftigkeit durch die Kirche“ (Gotha/Stuttgart 1925; Zitat: Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 113), die Karl Barth mit dem zweifelhaften Kompliment bedachte: „die gräßlich liberale Broschüre von Baumgarten“ (Karl Barth – Martin Rade. Ein Briefwechsel, hg. von Christoph Schwöbel, Gütersloh 1981, S. 211).

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gesamte Aufwand der praktisch-theologischen Neukonzipie 206rung bei Baumgarten hinaus: auf die Durchdringung und Durchsetzung „der Wirklichkeit und Wirkungskraft eines über alle theologischen Spitzfindigkeiten und Streitigkeiten erhabenen Christentums Christi“82, das auch unter den neuzeitlichen Bedingungen von Kultur und Gesellschaft noch seine über die religiösen Subjekte vermittelte Realgestalt zu behaupten vermag. 3. Grundzüge der soziologischen Religionsthematik bei Max Weber Vergleicht man Baumgartens Grundanlage der Praktischen Theologie mit der Soziologie Webers, so sind charakteristische Strukturparallelitäten in den Fragestellungen wie in den Zielsetzungen unübersehbar. Beide teilen das betont praktisch-ethisch geleitete Interesse an der theoretischwissenschaftlichen Wirklichkeitserkenntnis und die damit verbundene skeptische Abneigung gegen alle selbstgenügsame Spekulation und Metaphysik.83 Wenn auch beider Stärke nicht gerade auf dem Gebiet empirischer Feldforschung zu finden ist, so gilt diesem doch unverkennbar in gleicher Weise ihre grundsätzliche Sympathie. Webers Vorstellungen von Wis82 83

Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 36 f. Die gesamte Anlage der Praktischen Theologie legt bei Baumgarten offen, daß ihn „kein intensives gelehrtes Bedürfnis und Interesse“ zum „Übergang vom geistlichen zum akademischen Beruf“ trieb (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 81), sondern Baumgarten wie Weber von dem Wunsch beseelt war, „dem gesellschaftlichen Handeln in einer konkreten historischen Epoche Möglichkeiten einer dezidiert wissenschaftlichen Orientierung an die Hand zu geben“ (Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie. Eine Einführung, München 1975, S. 19). Motive und Erwartungen hinsichtlich der akademischen Tätigkeit fallen bei beiden recht ähnlich aus. So schrieb Weber, nachdem er „eine ganz außerordentliche Sehnsucht nach einer praktischen Tätigkeit“ bekannt hatte (Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 75): „wissenschaftliche Tätigkeit ist für mich zu fest mit dem Begriff einer Ausfüllung der Mußestunden verknüpft, so sehr ich einsehe, daß die Teilung der Arbeit es mit sich bringt, daß man sie erfolgreich nur bei Hingabe der ganzen Persönlichkeit betreiben kann. – Ich hoffe, daß mir die pädagogische Seite des Dozentenberufs, das mir unentbehrliche Gefühl praktisch tätig zu sein und damit Befriedigung geben wird“ (ebd., S. 79 f.). Auch Marianne Weber bestätigt dieses betont praktische Interesse bei Weber (Marianne Weber: Max Weber [s.o. Anm. 47], S. 173 f.): „Seine Neigung richtet sich eindeutiger ins handelnde als ins kontemplative Leben . . . Die Erkenntnis der Wirklichkeit, ihre Beherrschung durch den Verstand kann für diesen Mann nur die Vorstufe sein für ihre unmittelbare Gestaltung durch Handeln.“

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senschaftlichkeit vermitteln zwar den Eindruck höheren Anspruchs und stärkerer Konsequenz als die Baumgartens; andererseits hat Baumgarten von seiner diesbezüglichen Abhängigkeit gegenüber Weber – nicht nur im Gebrauch Weber’scher hermeneutischer Schlüsselbegriffe wie „Idealtypus“, „Wahlverwandtschaft“ u. ä. – keinen Hehl gemacht.84 Die auffälligste Übereinstimmung besteht jedoch in deren thematischem Leitinteresse, das gleichermaßen auf die „Religion als Lebensmacht“ im neuzeitlichen Geflecht von Kultur und Gesellschaft gerichtet ist85 und hier wie dort in vergleichbarer Art seine entfaltete Behandlung erfährt: Im Mittelpunkt steht auch bei Weber primär die gelebte Religion als prägender Faktor kultureller wie gesellschaftlicher Praxisorientierung, nicht etwa Religion als akademisch-dogmatisch ausformuliertes oder traditionell mit institutionalisiertem Geltungsschutz versehenes Lehr- und Handlungssystem, was auch Weber wie Baumgarten zu ganz bestimmten Positionen der 84

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Marianne Weber schildert Max Webers Verhältnis zu Otto Baumgarten folgendermaßen: „Dieser junge Mann gehört der dogmatisch-freien theologischen Richtung an, ist geistig sehr bewegt, fein organisiert, menschlich reif und zieht den jüngeren Vetter sogleich stark in den Kreis seiner religiösen Interessen. Weber begibt sich zum zweiten- und letztenmal in die Einflußsphäre eines älteren, überlegenen Freundes“ (Marianne Weber: Max Weber [s.o. Anm. 47], S. 71). Marianne Weber bezieht sich hier vor allem auf das 1882 gemeinsam in Heidelberg verbrachte Semester, als Otto Baumgarten in der Tat eine nicht unbedeutsame Rolle bei der Erweiterung des theologischen Horizonts Webers durch theologische Lektüre und deren ausführliche Diskussion gespielt hat (vgl. Anm. 155). Andererseits pflegte Baumgarten zeit seines Lebens die geistige Überlegenheit Webers anzuerkennen: „Der nahe Umgang mit meinem Vater, der durch und durch, aber im weitesten Sinne, Gelehrter, Forscher und Theoretiker war, und mit Vetter Max Weber, der mich immer wieder durch sein philosophisches, konstruktives und Massen von Literatur bewältigendes Genie frappiert, konnte mir keine Selbsttäuschung aufkommen lassen über die Grenzen meiner theoretischen Begabung“ (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 79). In diesem Zusammenhang ist auch eine Anekdote für das intellektuelle Verhältnis der beiden zueinander aufschlußreich, in der Baumgarten von Webers Reaktion auf seine Schrift „Über Kindererziehung. Erlebtes und Gedachtes“ (Tübingen 1905) berichtet: Weber hat „mir seinen Ärger nicht vorenthalten über die Mittelmäßigkeit und Geringfügigkeit der Ansprüche, die ich an die Intelligenz und Selbständigkeit der Jugend stellte“. Baumgarten suchte sich tatsächlich mit seiner Schrift eher an den „besseren Durchschnitt“ zu wenden: „So erwiderte ich ihm: ‚Es müssen auch solche bedacht werden, die bei Deinen übermäßigen Ansprüchen unter den Schlitten kommen‘“ (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 129 f.). Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1, Tübingen 1920 u.ö., S. 566.

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Theologie und Kirchlichkeit in Distanz gebracht hat. Überhaupt galt auch Webers Aufmerksamkeit nicht partikular-distinkten Sozialgebilden oder philosophischen Begriffen von Religion, sondern deren vielfältigen Ausdrucksformen in ihrem jeweiligen Verhältnis zu den kulturell und gesellschaftlich differenzierten Bedingungs- und Beeinflussungskonstellationen der allgemeinen Geschichte und Gegenwart. Dabei konzentrierte sich schließlich auch Webers Erkenntnisinteresse auf die Frage nach dem Schicksal der Person und ihrer sittlichen Freiheit, die auch für ihn nicht unabhängig von der geschichtlichen Religionsentwicklung zu betrachten war. Entscheidend für die Beurteilung des Verhältnisses zwischen Max Weber und Otto Baumgarten ist jedoch der Umstand, daß all diese Aspekte bei Weber sowenig wie bei Baumgarten eine nur marginale Rolle gespielt haben. 207 a) Die Schlüsselbedeutung der Religion in der Einheit der Weber’schen Soziologie Tatsächlich ist die jüngste Phase der Max-Weber-Forschung vor allem dadurch charakterisiert, daß parzellierende Interpretationen oder segmentärinstrumentalistische Ausbeutungen seines Werkes zunehmend abgelöst werden durch die Frage nach dessen innerer Einheit. Dabei wird dieses Problem immer weniger wissenschaftstheoretisch-methodologisch angegangen. Ebensowenig lassen sich gleichsam in einem meristischen Handstreich einzelne Teilstücke seiner Soziologie zu deren Herzstück proklamieren.86 Vielmehr rücken Versuche zur Rekonstruktion der systematisch-thematischen 86

Vgl. Dieter Henrich: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, Tübingen 1952, S. 1: Webers Werke „gedrängter Inhalt und ihr unsystematischer Aufbau machen es schwer, sie in der Einheit eines konsequenten Gedankens zu sehen“, was jedoch versucht werden muß, wenn „ein begründetes Urteil über die universale Bedeutung seines Werkes, auch für die Philosophie, gewonnen werden soll“. Henrich hat mit seiner frühen Arbeit weitgehend die Richtung vorgegeben, an der sich auch die späteren Rekonstruktionsbemühungen noch orientierten, wenn Henrich auf Alexander von Schelting: Max Webers Wissenschaftslehre, Tübingen 1934, zurückgehend konstatiert: „Das Prinzip der Wissenschaftslehre Max Webers aber ist zugleich das Prinzip einer Anthropologie. Es ist ein bestimmter Begriff des Menschen als eines vernünftigen Wesens“ (Dieter Henrich: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers, S. 3). Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84), S. 15, faßt einen – bewußten oder unbewußten – Konsens zusammen, wenn er hier anmerkt: „Dieter Henrich hat es – erfolgreich – unternommen, die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers durch den Rückgang auf dessen ethische Prinzipien zu erweisen“. In diesem Interesse an der Einheit des Weber’schen

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Kohärenz seines fragmentarischen Werkes in dem Maße in den Vordergrund, wie diese nicht mehr als unmittelbar gegebene erkannt zu werden vermag. Es zielen diese Unternehmungen hauptsächlich auf eine Rekonstruktion der thematischen Konsistenz aus der Entwicklungsgeschichte seines Werkes heraus, jedoch nicht mehr in der Perspektive seiner Wirkungsgeschichte. Dabei bildet sich ein weitgehender Konsens darüber, daß gerade der Religionssoziologie im Weber’schen Werke eine „zentrale Stellung“87, wenn nicht gar „die Priorität“ zukommt.88 Die religionssoziologischen Fragen bilden nicht nur werkbiographisch einen thematischen Leitfaden, der

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Werkes macht sich durchaus eine polemische Spitze gegen die Geschichte der üblichen Weberrezeption geltend: „Die kontroverse Beanspruchung Webers scheint . . . im wesentlichen darauf zurückzugehen, daß die mannigfachen Elemente, die Weber in einen einheitlichen Zusammenhang zu bringen bemüht war, im Zuge der Rezeption wieder isoliert, in neue Zusammenhänge versetzt oder – zumindest – mit je verschiedenem relativen Gewicht versehen werden“ (Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie [s.o. Anm. 84], S. 9). Vgl. hierzu auch etwa Dirk Käsler: Einführung in das Studium Max Webers, München 1979. – Arnold Zingerle: Max Webers historische Soziologie. Aspekte und Materialien zur Wirkungsgeschichte, Darmstadt 1981. Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers. Eine Darstellung ihrer Entwicklung, Berlin 1980, S. 4. Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84), S. 103. – Die Präferenz der Religionssoziologie im Weber’schen Gesamtwerk arbeiten vor allem heraus die Interpretationen etwa von Reinhard Bendix: Max Weber, München 1964. – Volker Drehsen: Religion und die Rationalisierung der modernen Welt: Max Weber, in: Das Jenseits der Gesellschaft. Religion im Prozeß sozialwissenschaftlicher Kritik, hg. von Karl-Wilhelm Dahm/Volker Drehsen/Günter Kehrer, München 1975, S. 89–154; s.o. S. 41–95. – Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers (s.o. Anm. 88). – Wolfgang J. Mommsen: Universalgeschichtliches und politisches Denken bei Max Weber, in: HZ 201 (1965), S. 557–612; wieder in: Wolfgang J. Mommsen: Max Weber: Gesellschaft, Politik und Geschichte, Frankfurt a.M. 1974, S. 97–143. – Bärbel Meurer: Mensch und Kapitalismus bei Max Weber, Berlin 1974. – José A. Prades: La Sociologie de la Religion chez Max Weber, Louvain/Paris 1969. – Jean Séguy: Max Weber et la sociologie historique des religions, in: ASRel 17 (1972), S. 71–104. – Friedrich H. Tenbruck: Die Genesis der Methodologie Max Webers, in: KZSS 11 (1959), S. 573–630. – Friedrich H. Tenbruck: Das Werk Max Webers, in: KZSS 27 (1975), S. 663–702. – Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84). – Vgl. insgesamt den Diskussionsüberblick bei Constans Seyfarth: Zur westdeutschen Diskussion der Religionssoziologie Max Webers seit den sechziger Jahren, in: Religion in den Gegenwartsströmungen der deutschen Soziologie, hg. von Karl-Fritz Daiber/Thomas Luckmann, München 1983, S. 18–37.

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sich durch das Webersche Gesamtwerk zieht: „Die in frühester Jugend begonnene Beschäftigung Max Webers mit der Frage nach der möglichen Auffassung und Funktion der christlichen Religion in der modernen Welt setzt sich bis an sein Lebensende fort“89. Darüber hinaus stellt auch sachlogisch die Religionsthematik die Verknüpfungen her, durch die nahezu alle Teilstücke der Weber’schen Soziologie einander zuzuordnen sind; Reinhard Bendix konnte in diesem Zusammenhang geradezu von einer bloßen „Fortsetzung der Religionssoziologie“ sprechen90. Das mag eine einseitige und übertriebene Beurteilung sein; jedenfalls scheint die Religionssoziologie bei Weber gleichsam so etwas wie das Zentralnervensystem seiner Soziologie überhaupt zu bilden – und zwar nicht zuletzt insofern, als die Religionssoziologie vor allem das Thema anschlägt, „das Weber am nachhaltigsten beschäftigt hat und das nahezu kontinuierlich seine gesamte wissenschaftliche Lebenstätigkeit durchzieht“91. Die strukturierende Leitthematik besteht demnach in der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Rationalität: die Rationalität, deren Genese und Entwicklung von Weber entscheidend mit Religion in Zusammenhang gebracht wird; und vice versa: die Religion, deren Schicksal und Chance für ihn maßgeblich in Abhängigkeit von der gesellschaftlichen Entwicklung der Rationalität bestimmt gesehen wird. Die religionssoziologische Grundmelodie des Weberschen Gesamtwerkes kann also als sukzessive Entfaltung dieser Leitthematik interpretiert werden.92 208 89 90 91 92

Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84), S. 116. Reinhard Bendix: Max Weber (s.o. Anm. 90), S. 215. Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers (s.o. Anm. 88), S. 5. Vgl. Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers (s.o. Anm. 88), S. 4: Das Thema „Religion und Rationalität“ stellt bei Weber „keine unmittelbare innere, systematische Einheit“ dar, sondern „ein allmählich sich entfaltender und zunehmend sich präzisierender Problemzusammenhang“; vgl. zu dieser von Küenzlen ausführlich dargestellten und begründeten Grundthese: Volker Drehsen, in: ZEE 28 (1984), S. 233–237. – Das Thema der ethischen Rationalität ist bei Max Weber schon früh aufzuspüren, vgl. dazu etwa die Bemerkung von Eduard Baumgarten: Max Weber (s.o. Anm. 50), S. 310: „Es weiß auch jeder Kenner, daß die frühen Illustrationen idealtypischer Konstruktion: Richtigkeitsrationalität, Zweck- und Wertrationalität, Gesinnungs- gegen Erfolgsethik, bleibende Leitthemen der Weberschen Forschung sind“. Im Zusammenhang mit der Religionsproblematik wird dieses Thema in den Vordergrund gestellt etwa bei Günter Abramowski: Das Geschichtsbild Max Webers. Universalgeschichte am Leitfaden des okzidentalen Rationalisierungsprozesses, Stuttgart 1966. – Manfred Hennen: Krise der Rationalität – Dilemma der Soziologie, Stuttgart 1976. – Mathieu Martin Willem Lemmen: De godsdienstsociologie van Max Weber. Haar methode en inhoud aan de hand van het rationaliteitsbegrip, Nijmegen 1977. – Wolfgang Schluchter: Die Entwick-

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b) Die sinnstiftende Rationalität der Religion Durchgängig geht es Weber um die Erhärtung seiner These von der „sinnstiftenden Rationalität der Religion“ in Kultur und Gesellschaft93: Religiöse Mächte und die durch sie erzeugten Pflichtvorstellungen sind stets und überall maßgeblich mitprägende Faktoren der rationalen Lebensführung gewesen, so daß Weber seine religionssoziologischen Studien als „Beitrag zur Typologie und Soziologie des Rationalismus“ verstehen kann.94 Denn sowohl als verhaltensorientierendes Normkonzentrat der Alltagsethik als auch als weltanschauungsorientierendes Deutungskonzentrat der Lebensansicht stellt religiöse Rationalität einen elementaren Bestimmungs- und Wirkungsfaktor der rationalen Gesinnungs- und Tatenrichtung überhaupt dar. Als transzendierender Symbolisationsmodus einerseits abstrahiert Religion von der Irrationalität unmittelbarer Welt- und Selbsterfahrung zu einem übergreifenden Sinnkosmos; denn durch religiöse Sinnstiftung geht Welt- und Selbsterleben, in denen Dinge bloß sind und geschehen, in Weltund Selbstbewußtsein über, in denen die Dinge darüber hinaus auch etwas bedeuten.95 Das religiöse Weltanschauungspostulat besteht im Kern darin, „daß die Welt ein gottgeordneter, also irgendwie ethisch sinnvoll orientierter

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lung des okzidentalen Rationalismus. Eine Analyse von Max Webers Gesellschaftsgeschichte, Tübingen 1979. – Wolfgang Schluchter: Rationalismus der Weltbeherrschung, Frankfurt a.M. 1980. – Religion und gesellschaftliche Entwicklung. Studien zur Protestantismus-Kapitalismus-These Max Webers, hg. von Constans Seyfarth/Walter M. Sprondel, Frankfurt a.M. 1973. – Max Weber und die Rationalisierung sozialen Handelns, hg. von Walter M. Sprondel/Constans Seyfarth, Stuttgart 1981. – Ulrike Vogel: Einige Überlegungen zum Begriff der Rationalität bei Max Weber, in: KZSS 25 (1973), S. 532–550. Vgl. auch die in Anm. 90 genannte Literatur. Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers (s.o. Anm. 88), S. 25. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1 (s.o. Anm. 86), S. 537. Vgl. hierzu Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Studienausgabe, Köln/Berlin 1964, S. 320 f.: „Nicht die Persönlichkeit oder Unpersönlichkeit ‚übersinnlicher‘ Mächte ist das zunächst Spezifische dieser ganzen Entwicklung, sondern: daß jetzt nicht nur Dinge und Vorgänge eine Rolle im Leben spielen, die da sind und geschehen, sondern außerdem solche, welche und weil sie etwas ‚bedeuten‘ . . . Eine Flutwelle symbolischen Handelns begräbt den urwüchsigen Naturalismus unter sich“. Es ist nicht auszuschließen, daß bei diesem Verständnis hermeneutisch auch die zeitgenössische Erfahrung der „Magie“ eines naturwissenschaftlichen Positivismus für Weber eine Rolle gespielt hat.

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Kosmos sei“96, nicht jedoch ein unentrinnbares Chaos oder ein vollständig determinierender Kausalmechanismus. Als verpflichtender Organisierungsmodus andererseits wählt Religion aus heterogenen Handlungsmöglichkeiten und integriert sie zur Konsequenz einer rationalen Lebensführung.97 Webers Interesse konzentrierte sich zeitlebens gerade „auf die Ermittlung derjenigen durch den religiösen Glauben und die Praxis des religiösen Lebens geschaffenen psychologischen Antriebe, welche der Lebensführung die Richtung wiesen und das Individuum in ihr festhielten“98: Religiosität also als „eine bestimmte, konstitutive Komponente des Lebenstils“99, „die existenzielle Umsetzung des religiösen Deutungskosmos in praktische Lebensführung, die reale Entfaltung religiös erzeugter Handlungsenergien“, Religion, nur soweit sie „verhaltensträchtige Antriebskraft freisetzt, Motive begründet, die Auswirkungen provozieren; nur soweit sie bestimmten Handlungen moralische Richtigkeit oder Falschheit attestieren und diese insgesamt als einen Teil ethisch gerichteten Sichverhaltens zur Welt zu erkennen gibt“100, – dieses praktische Verständnis von Religion legt Weber seinen Studien zugrunde: „Nicht die ethische Lehre einer Religion, sondern dasjenige Verhalten, auf welches durch die Art und Bedingtheit ihrer Heilsgüter Prämien gesetzt sind“101, stand im Mittelpunkt der soziologischen Betrach-

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Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1 (s.o. Anm. 86), S. 564. Vgl. hierzu Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (s.o. Anm. 97), S. 322: „Die erste und grundlegende Einwirkung ‚religiöser‘ Vorstellungskreise auf die Lebensführung und die Wirtschaft ist also generell stereotypierend“. Webers genuines Interesse gilt mithin der Frömmigkeit „als eine kontinuierlich, als konstantes Motiv wirkende Grundlage einer spezifischen Lebensführung“. Es ist dieses Grundverständnis, das sich bei Weber unter den diagnostizierten Bedingungen der Entflechtung der Lebenssphären in der Neuzeit dann zum durchgängigen Problem der Verhältnisbestimmung von Religion und Rationalität und darin vorrangig etwa als „das Verhältnis von Religion und gesellschaftlich-politischem Handeln“ ausweitet (Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie [s.o. Anm. 84], S. 120). Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, hg. von Johannes Winckelmann, München/Hamburg 1965, S. 117. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Kritiken und Antikritiken, hg. von Johannes Winckelmann, München/Hamburg 1968, S. 169. Volker Drehsen: Religion und die Rationalisierung der modernen Welt (s.o. Anm. 90), S. 117. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (s.o. Anm. 100), S. 297.

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tungsweise der Religion als maßgeblichem Faktor der praktisch-rationalen Wirklichkeitsbewältigung.102 209 c) „Protestantische Ethik“ und die Emanzipation des kapitalistischen Geistes – Exemplarische Perspektiven Die Pointe der Weber’schen These liegt demnach in der Einsicht, daß sich die allmähliche Rationalisierung der ethischen Daseinsführung als 102

Religiosität galt Weber also grundsätzlich als Möglichkeitsbedingung der Irrationalitätsübersteigung – und zwar in denjenigen unterschiedlichen Kontexten, in denen Irrationalitätserfahrung stattfand: sei es nun in der Abhängigkeit von der äußeren Natur, von inneren Affekten oder von versklavenden Kultur- und Gesellschaftsmächten. – Weber versteht das durch Religion inaugurierte „Entlassensein aus der Irrationalität des Gegebenen“ schlechthin als „Freiheit“ (Dieter Henrich: Die Einheit der Wissenschaftslehre Max Webers [s.o. Anm. 87], S. 44), so daß die anthropologische Pointe der Weber’schen Wissenschaftslehre dahin gesetzt wird, daß „verstehende Wissenschaft“ „die Wissenschaft von möglicher Freiheit“ darstellt (ebd., S. 49); vgl. hierzu insbesondere Hermann Lübbe: Die Freiheit der Theorie. Max Weber über Wissenschaft als Beruf, in: ARSP 48 (1962), S. 343–365. In diesem Grundverständnis ist auch die ambivalente Bedeutung der von Weber zentral in den Mittelpunkt seiner Hermeneutik gestellten „Idealtypen“ begründet: Es „zeigen die brieflichen Erörterungen des jungen Weber, daß es sich auch im ausgereiften Forscher beim Begriffsmittel des Idealtypus . . . immer und prinzipiell um mehr gehandelt hat als um ‘utopische’, d. h. rein gedankliche, unverbindliche Konstruktionen, die lediglich dazu dienten, möglichst scharfe Begriffe (Begriffe extremer Möglichkeiten) zu gewinnen zwecks Ordnung und Beschreibung der Realität“; vielmehr steht neben diesem analytischen Erklärungsinteresse immer auch das Interesse, „daß bei idealtypischen, der Absicht nach nur theoretisch gedachten ‚klaren Möglichkeiten‘ doch auch praktische Vorbildlichkeit anklingt“ (Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 309): „Sie präsentieren Entwürfe möglichen sozialen Handelns. Durch sie werden Wertideen, Motive, Antriebe und Sinnorientierungen des menschlichen Tuns erkennbar . . . Die Konstruktion reiner Typen ist von der Absicht geleitet, das Individuum als einzig realen Handlungsträger aus dem dumpfen Erlebnis der Irrationalität des bloß Gegebenen zu emanzipieren; ihm die Chancen sinnhaften Verhaltens aufzuzeigen und so das Bewußtsein von möglicher Freiheit zu vermitteln“ (Volker Drehsen: Religion und die Rationalisierung der modernen Welt [s.o. Anm. 90], S. 107 f.). Es ist darum nicht verwunderlich, daß „Idealtypen“ in der von Baumgarten u. a. vertretenen Richtung der Praktischen Theologie fundierend in deren Arbeitsweise eingehen konnten; vgl. hierzu besonders Friedrich Niebergall: Die Bedeutung der Religionspsychologie für die Praxis in Kirche und Schule (s.o. Anm. 64), S. 424 ff., sowie dazu Jörg V. Sandberger: Pädagogische Theologie (s.o. Anm. 10), S. 120.

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universalgeschichtlicher Prozeß nicht etwa gegen Manifestationsformen religiöser Herrschaft durchgesetzt habe, wie Interpretationsmodelle der aufklärerischen Religionskritik glauben zu machen versuchten, sondern die Rationalität ihren Erfolg ihrerseits religiösen Impulsen verdankt, „daß nicht der Rationalismus einer autonomen Vernunft, sondern die rationale Ethik einer Religion den Weg in die Moderne wesentlich bestimmt hat“103. In diesem Zusammenhang steht denn auch Webers berühmt-berüchtigte These von der Kompatibilität protestantischer Ethik und kapitalistischen Geistes, aus der die universalgesellschaftliche Dominanz neuzeitlicher Rationalität hervorgegangen sei.104 Die Weber’sche Auffassung vom eigenen ethischen Rationalitätscharakter der Religion wird hier an einer bestimmten Geschichtskonstellation nur exemplifiziert: Besonders die calvinistische Berufsethik, die im Laufe des ausgehenden 16. Jahrhunderts und dann im 17. Jahrhundert in ihrem Einfluß- und Wirkungsbereich zum allgemein bestimmenden Bestandteil der Alltagsethik heranwuchs, galt Weber als Prototyp einer religiös prämierten und getragenen Gesinnungs- und Tatenrichtung, die „keine Flucht vor der Welt“ zuließ, sondern „die Mitarbeit an ihrer rationalen Bezwingung als die religiöse Aufgabe jedes Einzelnen“ erachtete105 und dadurch „gerade das Alltagsleben mit ihrer Methodik zu durchtränken, zu einem rationalen Leben in der Welt und doch nicht von dieser Welt oder für diese Welt umzugestalten“ bestrebt war.106 Es war die-

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Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers (s.o. Anm. 88), S. 39. Die Studien Webers zur „protestantischen Ethik“ sind also – entgegen späterer Überschätzungen – von vornherein beschränkt „auf die Auswirkungen, welche eine bestimmte, nicht repräsentative Ausformung protestantischer Religiosität und Sittlichkeit in einer bestimmten geschichtlichen Epoche und in bestimmten Ländern auf die vorherrschende neuzeitliche Wirtschaftsgesinnung hatte“ (Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie [s.o. Anm. 84], S. 113). Weber selbst hatte gleich zu Beginn seiner Studien den exemplarischen und „provisorischen Charakter dieser Aufsätze“ klargestellt (Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [s.o. Anm. 100], S. 22): Es ging ihm begrenzt durch einen umfassenderen Problemhorizont hier lediglich um die „Bedingtheit der Entstehung einer ,Wirtschaftsgesinnung’: des ‘Ethos’ einer Wirtschaftsform, durch bestimmte religiöse Glaubensinhalte, und zwar an dem Beispiel der Zusammenhänge des modernen Wirtschaftsethos mit der rationalen Ethik des asketischen Protestantismus. Hier wird also nur der einen Seite der Kausalbeziehung nachgegangen“ (ebd. S. 21). Max Weber: Wirtschaftsgeschichte. Aus den nachgelassenen Vorlesungen, München/Leipzig 1923, S. 313. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (s.o. Anm. 100), S. 165.

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ser religiös-ethische Idealtyp der calvinistisch-puritanischen Berufsethik,107 der zu den objektiven Rationalitätserfordernissen des frühkapitalistischen Wirtschaftssystems die größte Affinität („Wahlverwandtschaft“) aufwies und durch den die Etablierung des modern-okzidentalen Rationalismus in nahezu allen Lebensbereichen global wirksam mitbefördert wurde: „Der Geist des Kapitalismus entsprang in seiner wesentlichen Wurzel dem asketischen Protestantismus, der Rationalismus der Neuzeit in seiner umfassenden Bedeutung und Möglichkeit kann ohne Rückführung auf den Rationalismus der protestantischen Ethik nicht erklärt werden“108. Hatte Weber in universalgeschichtlicher Perspektive gleichsam durch ein „evolutionstheoretisches Minimalprogramm“109 die graduell unterschiedlichen Ausprägungsformen religiös-ethischer Rationalität überhaupt dargestellt, die im Spannungsfeld von weltflüchtiger Mystik und innerweltlicher Askese eine mehr oder weniger große Affinität zu den jeweiligen Gesellschafts107

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Der reformatorische Berufsgedanke spielt – im ähnlichen Sinne wie in der zeitgenössischen Theologie Albrecht Ritschls (vgl. Hermann Timm: Theorie und Praxis in der Theologie Albrecht Ritschls und Wilhelm Herrmanns, Tübingen 1967, S. 73 u.ö.) – für Weber eine entscheidende Rolle durch „die Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb der weltlichen Berufe als des höchsten Inhaltes, dem die sittliche Selbstbetätigung überhaupt annehmen könne“ (Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus [s.o. Anm. 100], S. 67): „Die Leistung der Reformation als solcher war zunächst nur, daß . . . der sittliche Akzent und die religiöse Prämie für die innerweltliche, berufliche geordnete Arbeit mächtig schwoll“ (ebd., S. 69 f.), im Calvinismus dann aber mehr noch überhaupt den Akzent „eines Dienstes an der rationalen Gestaltung des uns umgebenden gesellschaftlichen Kosmos“ erhielt (ebd., S. 126). – Es war eben dieser Grundgedanke, der in vergleichbarer Weise Baumgarten dazu gebracht hat, das Vorbildliche an der Frömmigkeit Bismarcks in der „in Gott ruhenden Kraft, unendliche Verantwortlichkeit auf sich zu nehmen“, zu sehen (Otto Baumgarten: Bismarcks Religion, Göttingen 1922. S. 5). In dieser Glaubensausrichtung sieht Baumgarten bei Bismarck den „dem großen Staatsmanne, dem Realpolitiker wesentliche sittliche Grundzug der Willensherrschaft“ verankert, nämlich: „Mut, Verantwortung auf sich zu nehmen . . . , einen starken, festen Glauben an seinen göttlichen Beruf“ (ebd., S. 10). Auch wenn Baumgarten dieses Urteil über Bismarck „nach Auseinandersetzung mit der Skepsis Max Webers“ gefällt haben will (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 280), dann doch sicher nicht im Weber’schen Sinne; vgl. zu Webers BismarckBeurteilung: Max Weber: Gesammelte Politische Schriften. 3. Auflage, hg. von Johannes Winckelmann, Tübingen 1971, S. 311 ff.112 ff.241 ff. u.ö. Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers (s.o. Anm. 88), S. 41. So Constans Seyfarth in: Religion und gesellschaftliche Entwicklung (s.o. Anm. 94), S. 361.

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formationen aufwiesen,110 so zeigte sich in der rationalen Berufsethik des asketischen Protestantismus der historisch einmalige Fall eines solchen religiös-ethischen Habitus, durch den darüber hinaus ein ursprünglich religiös inaugurierter Rationalitätstyp, der sich dem modern-rationalen Betriebskapitalismus fast nahtlos einpaßte, zur allgemeingesellschaftlichen Dominanz hingeführt wor 210den ist: „Eine derart machtvolle, unbewußt raffinierte Veranstaltung zur Züchtung kapitalistischer Individuen hat es in keiner anderen Kirche oder Religion gegeben“111. Webers grundlegendes Religionsverständnis erhielt sein akut-brisantes Profil nicht zuletzt durch die gegenwärtige Erfahrung, daß mittlerweile „die religiöse Wurzel des modernen ökonomischen Menschtums . . . abgestorben“ ist: „Heute steht der Berufsbegriff als caput mortuum in der Welt“112; „aber im Ganzen ist allerdings der heutige Kapitalismus . . . von der Bedeutsamkeit solcher Momente im weitestgehenden Maße emanzipiert“113, und „er bedarf dieser Stütze längst nicht mehr“114, sondern lebt allein aufgrund des „seines religiös-ethischen Sinnes entkleideten Erwerbstrebens“115. Dadurch ist der ursprünglich eigene Rationalitätscharakter der fortlebenden Religion zu den „inneren Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Sphären“ von Kultur und Gesellschaft in Konflikt geraten116, der zunehmend als prinzipielle „Spannung des religiösen Postulats gegen die Realitäten der Welt“ zu erkennen ist:117 „Das bewußt als Inhalt einer Religiosität gepflegte Erlösungsbedürfnis ist stets und überall, nur in sehr verschieden stark festgehaltener Deutlichkeit des Zusammenhangs, entstanden als Konsequenz des Versuchs einer systematischen praktischen 110

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Vgl. hierzu besonders Wolfgang Schluchter: Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1974, sowie die hinter den suggerierten Ansprüchen enttäuschend zurückbleibende Darstellung bei Jürgen Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 1. Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Frankfurt a.M. 1981, S. 225. – Vgl. Volker Drehsen: Religion und die Rationalisierung der modernen Welt [s.o. Anm. 90], S. 147–154. Max Weber: Wirtschaftsgeschichte (s.o. Anm. 107), S. 314. Ebd. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Kritiken und Antikritiken (s.o. Anm. 101), S. 320. Ebd., S. 319; vgl. Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus (s.o. Anm. 100), S. 188. Ebd. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1 (s.o. Anm. 86), S. 541. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (s.o. Anm. 97), S. 448; vgl. auch S. 447.

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Rationalisierung der Realitäten des Lebens“118, d. h. aus dem auf alltägliche Verhaltensorientierung Anspruch erhebenden religiös-ethischen Sinnpostulat, das zugleich die anthropologische Bedeutsamkeit von Religiosität überhaupt ausmacht: nämlich „Konstanz der Werthaltungen, Emanzipation von Affekten und Weltabhängigkeit, die Bewußtheit einer methodisch betriebenen rationalen Konsequenz der Lebensführung“119. In dem Maße jedoch, in dem sich „die Eigengesetzlichkeiten der einzelnen Lebenssphären gegenüber dem religiösen Postulat“ emanzipierten120 und dabei ihren eigenen, relativ unabhängigen Rationalitätstyp ausbildeten, wurde die Religion als „Lebensmacht“121 insofern zum bedrängenden Problem religiöser Selbstthematisierung, als „dadurch die Religion zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt (wurde) und nun erst: die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin“ darstellt.122 Max Weber ist diesen möglicherweise grundsätzlichen Spannungen exemplarisch in den Verhältnissen der Religion zu den Lebenssphären der Familie123, Wirtschaft124, Politik125, Kunst126, Erotik127 und Wissenschaft128 nachgegangen, um gleichsam über die geschichtliche Entwicklung hinaus 118

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Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1 (s.o. Anm. 86), S. 567. Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers (s.o. Anm. 88), S. 35. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (s.o. Anm. 97), S. 448. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1 (s.o. Anm. 86), S. 566. Ebd., S. 564. – Zu den Grenzen, die es verbieten, aufgrund dieses Diktums Weber eine globale Säkularisierungsthese zu imputieren, vgl. Hermann Lübbe: Säkularisierung, 2. Auflage, München 1975, S. 68–72. – Karl Löwith: Die Entzauberung der Welt durch Wissenschaft, in: Merkur 18 (1964), S. 501–519. – Trutz Rendtorff: Die Säkularisierungsthese bei Max Weber, in: Max Weber und die Soziologie heute, hg. von Otto Stammer, Tübingen 1965, S. 241–245. – Trutz Rendtorff: Zur Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie, in: IJRS 2 (1966), S. 51–72. – Volker Drehsen: Religion und die Rationalisierung der modernen Welt (s.o. Anm. 90), S. 147–154. Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1 (s.o. Anm. 86), S. 542. Ebd., S. 544. Ebd., S. 546. Ebd., S. 554. Ebd., S. 556. Ebd., S. 564.

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auch gegenwartsdiagnostisch die Grenzen und Möglichkeitsbedingungen der sinnstiftenden Rationalität von Religion in ihrem ethischen Weltverhalten – und das hieß für ihn: in den Chancen des Kompromisses zwischen religiös-ethischen Ideen und sozialen Interessen – ausleuchten zu können. Sein vorrangiges Interesse galt dabei den Verhältnissen von Religion einerseits und Wissenschaft als konsequentester Ausdruck des Kulturbewußtseins, Wirtschaft als der am nachhal 211tigsten das Alltagsleben prägende Faktor und Politik als Inbegriff der umfassendsten Lebensgestaltung andererseits. Immer wieder ging es Weber dabei um eine möglichst scharfe Fokussierung und Profilierung des ethisch-praktischen Problems, wie es sich für das „Welt“-Verhalten der Religion darstellt.129 So haben 129

So gilt für Weber auch im Bereich der Religion wie überhaupt: „Wir sind Epigonen einer großen Zeit, und es ist uns nicht möglich, auf dem Wege der altklugen Reflexion den ungestümen Drang des Idealismus wieder zu erwecken, der Illusionen bedarf, die durch die klarere Erkenntnis der nüchternen Gesetze des sozialen Lebens in uns zerstört sind“ (Max Weber: Zur Rechtfertigung Göhres [s.o. Anm. 47], Sp. 1109). Diese klare Erkenntnis ist zum einen durch die Unmöglichkeit allgemeingültiger Wertherrschaft bestimmt, die endgültig durch die „Entzauberung“ der Wissenschaft unterhöhlt erscheint: „Wissenschaft lehrt nicht nur nichts über den Sinn der Welt, sie erschüttert auch den Glauben, daß es so etwas gibt“ (Karl Löwith: Die Entzauberung der Welt durch Wissenschaft [s.o. Anm. 125], S. 508). Zum anderen bringt die Erkenntnis die ethische Unzulänglichkeit überpersönlicher und sachgesetzlicher Machtstrukturen in Staat und Gesellschaft zutage, wofür der moderne rationale Betriebskapitalismus nur ein besonders ungeschminktes Beispiel liefert: „Das Charakteristikum der modernen Entwicklung ist der Wegfall der persönlichen Herrschaftsverhältnisse als Grundlage der Arbeitsverfassung und damit der subjektiven, psychologischen, einer religiös-ethischen Deutung und Ausprägung zugänglichen Voraussetzungen der Abhängigkeit der beherrschten Klasse . . . Die moderne Entwicklung . . . setzt an die Stelle dessen zunehmend die unpersönliche Herrschaft der Klasse der Besitzenden, rein geschäftliche an die Stelle der persönlichen Beziehungen, Tributpflichten an eine unbekannte, nicht sichtbare und greifbare Macht an die Stelle der persönlichen Unterordnung und beseitigt damit die Möglichkeit, das Verhältnis der Herrschenden zu den Beherrschten ethisch und religiös zu erfassen . . . Dies, und nicht irgendwelche wirtschaftlichen und sozialen Schäden der Besitzverteilung, ist vom religiösen Standpunkt aus das Problem . . . Es stehen sich nicht mehr einzelne Personen mit individuellen psychologischen Beziehungen, sondern kampfbereite Klassen gegenüber, bei denen die sittlich-religiöse Einwirkung auf das Individuum vorerst versagt“ (Max Weber: Was heißt Christlich-Sozial? [s.o. Anm. 61], Sp. 475). Im Lichte einer solchen Diagnose mußten Weber die theologischen Bemühungen, die Schärfe des Klassenkampfes durch „eine Agitation der Liebe“ abzufedern (vgl. Paul Drews: Mehr Herz fürs Volk!, Leipzig 1891, S. 6), als ein rührender, doch völlig wirkungsloser Versuch erscheinen.

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gleichermaßen die totale „Entzauberung der Welt“ durch deren rationalempirische Erkenntnis und ihre kausal-mechanisch erklärende Auflösung in der Wissenschaft,130 die unerbittlich-konsequente Versachlichung der Gesellschaftsbezüge durch die unpersönliche Macht der Bürokratie131 und die anonym-abstrakten Beziehungen des Kapitalismus132 jede Hoffnung auf absolut-allgemeinverbindliche Sinnstiftung durch Religion endgültig zunichte gemacht: „Das Leben des Buddha, Jesus, Franziskus zu führen, scheint unter den technischen und sozialen Bedingungen rationaler Kultur rein äußerlich zum Mißerfolg verurteilt“133; denn „es tritt der religiösen Ethik eine Welt interpersonaler Beziehungen entgegen, die sich ihren urwüchsigen Normen grundsätzlich gar nicht fügen kann“134. Unter den Bedingungen der modernen Kultur und Gesellschaft stellt sich dann um so dringlicher die Frage, wie „irgendwelche Reste einer in irgendeinem Sinne ‚individualistischen‘ Bewegungsfreiheit zu retten“135, wie „einen Rest des Menschentums freizuhalten von dieser Parzellierung der Seele“ möglich erscheint.136 Es ist dies die zentrale Frage, die für Weber untrennbar mit den Zukunftschancen der Religion verbunden bleibt: „Solange das Bewußtsein 130

131 132 133 134 135 136

Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1 (s.o. Anm. 86), S. 564. Ebd., S. 546. Ebd., S. 544. Ebd., S. 571. Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (s.o. Anm. 97), S. 453. Max Weber: Gesammelte Politische Schriften (s.o. Anm. 109), S. 321. Max Weber: Gesammelte Schriften zur Soziologie und Sozialpolitik, hg. von Marianne Weber, Tübingen 1924, S. 414. – Webers Verfolgung dieses religiös-ethischen Interesses stand stets unter dem Damoklesschwert, seine Einlösung um den Preis der akosmistischen Weltflucht bezahlen zu müssen. Bezeichnend hierfür ist etwa auch seine persönliche Auseinandersetzung mit den Schriften William Ellery Channings, dessen Pazifismus er schroff als „Denkfehler“ ablehnt (so in einem Brief an die Mutter 1885, zitiert in: Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 36), von dessen ursprünglicher Religiosität er sich dennoch faszinieren ließ. Channings Grundrichtung – „Herr sein über die Sinne, Herr sein über die Materie, Herr sein über das Schicksal, über alle Furcht, über die Gewohnheit, unabhängig von jeder Autorität“ (Marianne Weber: Max Weber [s.o. Anm. 47], S. 93) – spiegelt durchaus Webers eigene Überzeugung wider, „daß der Zweck staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen die Entfaltung der autonomen Persönlichkeit sei“ (ebd. S. 94): „Der Standpunkt, auf welchem diese (sc. Channings) theoretische Partien stehen, ist ein ziemlich naiver, vielleicht kindlich zu nennender, aber die praktischen Resultate, die er daraus zieht, sind teilweise so direkt einleuchtend, und der klare und ruhige Idealismus, der sich ihm aus der Betrachtung, wie er sich ausdrückt, ‚des

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besteht ‚daß wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen‘ (Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, S. 180), solange bleibt ein Thema der Soziologie: Religion und Gesellschaft“137. 4. Max Weber und Otto Baumgarten: Gemeinsamer Horizont in unterschiedlicher Akzentuierung Die neuzeitliche Religionsthematik in ihrer betont ethischen Perspektive haben Max Weber ebenso wie Otto Baumgarten jeweils zur Evaluierung eines Wissenschaftstyps geführt, in dem das Problem gelebter Religiosität unter den moderngeschichtlichen Bedingungen von Kultur und Gesellschaft zum zentralen Gegenstand erhoben ist: Die Praktische Theologie Baumgartens verstand sich dabei als derjenige realwissenschaftliche Zweig der Theologie, der vornehmlich die gegenwärtigen Sozialisationsanstrengungen kirchlicher Praxis im weitesten Kontext der allgemeinen Religion zu beleuchten sucht, um auf diese Weise die religiös-sittlichen Wirkungschancen gelebter Christentumsreligion in klarem Bewußtsein abschätzen zu können. Auch Webers Soziologie ist aus ihrem religionssoziologischen Herzstück heraus in der Absicht entwachsen, gleichsam kontrafaktisch zur eigenen Gesellschaftsdiagnose die Möglichkeit wie Notwendigkeit religiöser Lebenswelter-

137

unendlichen Wertes der einzelnen Menschenseele‘ ergibt, ist so erfrischend und jedem, auch dem der Auffassung Fernstehenden, so verständlich, daß an der Universalität der Auffassung und an ihrem Begründetsein auf wirklichen Bedürfnissen des menschlichen Seelenlebens kein Zweifel bestehen kann“ (zitiert nach: Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 29 f.). Es war vielleicht diese persönlich, religiöse Grundgestimmtheit, die Webers Blick für die freiheitsbedrohenden Entwicklungen der kapitalistisch-bürokratischen Gesellschaft schärfte, mit denen Weber ja geradezu kaltschnäuzig umzugehen pflegte: „Armee und Beamtentum waren in Deutschland die beiden Institutionen, mit deren Hilfe der Staat das Leben des einzelnen in einem bis dahin nie dagewesenen Maß regelten“ (Donald G. MacRae: Max Weber, München 1975, S. 45); für Weber galt jedoch, daß er „den geregelten, zur Routine gewordenen Ablauf der Dinge in einer säkularisierten Welt als bedrückend und einengend (empfand), ihre mechanisierte Ordnung schien ihm unerträglich . . . Er liebte die Freiheit . . . Im Grunde sei ein Fortbestehen dieser Freiheit in einem Zeitalter der Rationalität, der Bürokratie und Massendemokratie kaum zu erwarten“ (ebd., S. 111 f.). Gleichwohl ihren Spuren nachzugehen, war für Weber so etwas wie die persönliche Rechtfertigung des gewaltigen Aufwands, den er in seine wissenschaftliche Tätigkeit investierte. Gottfried Küenzlen: Die Religionssoziologie Max Webers (s.o. Anm. 88), S. 130.

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fahrung mit Gründen auszustatten, 212 die auf eine religiös motivierte, jedoch rational vertretbare Lebensführung überhaupt hinzuleiten sucht. Die Konzeption der Weber’schen Soziologie ist ebenso wie die der Praktischen Theologie Baumgartens Resultat beider Bemühungen um „eine wechselseitige Vermittlung von wissenschaftlichen und lebenspraktischen Vollzügen“138, die in der neuzeitlichen Religionsproblematik ihren gemeinsamen thematischen Nenner finden; hier wie dort geht es darum, „daß eine auf Beschreibung und Erklärung sozialer Realität zielende Wissenschaft mit dem Realitätsbewußtsein der gesellschaftlich Handelnden zu vermitteln ist“139, dessen problematische Erfahrungen sich für Weber wie für Baumgarten genuin im Kontext der Religion ergeben haben.140 Die Konvergenz der lebensweltlichen Thematik und seiner wissenschaftlichen Entfaltung in der Soziologie Webers und der Praktischen Theologie Baumgartens ist keineswegs von zufälliger Art: Sie stellt vielmehr die Folge und den Ausdruck analoger Aufarbeitungsversuche gegenüber einem familialen Sozialisationshintergrund dar, der Max Weber und Otto Baumgarten 138 139 140

Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84), S. 16. Ebd., S. 17. Johannes Weiß (ebd. S. 103) hat für Weber festgestellt: „Die religionssoziologische Fragestellung Webers, um welche sein Gesamtwerk zentriert ist, gründet ihrerseits in konkreten vorwissenschaftlichen (‚lebensweltlichen‘) Erfahrungen. Die Bedeutung seiner prinzipiellen Reflexionen über die Voraussetzungen und Möglichkeiten empirischer Kultur- und Sozialwissenschaft liegt in diesem Zusammenhang darin, eine solche Fundierung zu rechtfertigen, ja: als notwendig zu erweisen.“ Mit ähnlichen Gründen stattete auch Baumgarten seinen Übergang aus der pastoralen Praxis ins theologische Lehramt aus, wenn er dabei hoffte, „durch die Vertretung einer wirklichen praktischen Theologie gegenüber zukünftigen Praktikern der kirchlichen und seelsorgerlichen Praxis dienen zu können zu einer klareren und bewußteren Erfassung ihrer Aufgaben im Zusammenhang mit einem vollen Überblick über das Gesamtgebiet des deutschen Volks- und Geschichtslebens“ (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 80). In dieser gemeinsamen Motivlage war wohl auch dieselbe Kompetenzerwartung verwurzelt, die sowohl Weber als auch Baumgarten den zeitgenössischen Theologen und Pastoren entgegenbrachten. Zwischen Theologen und Sozialwissenschaftlern konstatieren beide „gerade in der jüngeren Generation ein vollkommen verständnisloses Aneinandervorübergehen“: die Tatsache also – so Weber –, „daß unsere theologischen Altersgenossen in einer geistigen Welt leben, zu der für uns jede Brücke fehlt“ (Max Weber: Zur Rechtfertigung Göhres [s.o. Anm. 47], Sp. 1109). Er wird nicht zuletzt seinen Vetter Otto Baumgarten vor Augen gehabt haben, wenn er dennoch „Ausnahmen, aber eben Ausnahmen“ erblickt: „Verwandtschaftliche Bande und solche persönlicher Freundschaft führen auch die jüngere Generation der Theologen hin und wieder mit dem einen oder anderen von uns zusammen“ (ebd.).

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gemeinsam war: Beider Mütter – Helene Weber und Ida Baumgarten – waren Schwestern und gleichermaßen Schlüsselfiguren im religiösen Früherlebnis ihrer Söhne. Wie Otto Baumgarten dadurch grundlegend „das praktische, sittlich-soziale Interesse an der Verwirklichung des Evangeliums“ vermittelt bekam141, so erfuhr auch Max Weber durch seine Mutter eine Religiosität, die „betont undogmatisch, antiinstitutionell“, andererseits aber auch „durch eine starke Besinnung auf die sozial-ethischen Gehalte des biblischen Christentums und das Bemühen (gekennzeichnet war), denselben unter den gegebenen politisch-sozialen Verhältnissen zur Anerkennung und Wirksamkeit zu verhelfen“.142 Diese Impulse zum politischen Gestaltungswillen wurden durch die nationalliberale Tradition, die sowohl Webers als auch Baum141 142

Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 7. Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84), S. 107. Sowohl Baumgarten als auch Weber haben den nachhaltigen Einfluß des elterlichen Sozialisationsklimas gerade auf ihre religiöse Entwicklung anerkannt und daraus auch später für ihre jeweiligen Religionsverständnisse entscheidende Prägungen erfahren. So schrieb Otto Baumgarten: „Man unterschätze nicht die suggestive Wirkung einer starken phantasie- und gefühlvollen Verkündigung, eines eng geschlossenen, durch Erbschaft und Verwandtschaft nahetretenden, ins ganze Familienleben verketteten Frömmigkeitslebens“ (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 32). In ähnlicher Weise finden sich bei Weber in der Charakterisierung der Träger protestantischer Ethik durchaus Züge der eigenen Sozialisationserfahrung: „In diesen Fällen liegt zweifellos das Kausalverhältnis so, daß die anerzogene geistige Eigenart, und zwar hier die durch die religiöse Atmosphäre der Heimat und des Elternhauses bedingte Richtung der Erziehung, die Berufswahl und die weiteren beruflichen Schicksale bestimmt hat“ (Max Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus. Kritiken und Antikritiken [s.o. Anm. 101], S. 32) – freilich nicht so, daß dies „in so voller Durchreflektiertheit dieses Zusammenhangs, ganz gewiß nicht als ein bewußter Besitz in jedem einzelnen lebte, welcher in der Luft, die diese religiösen Mächte erzeugten, aufwuchs“ (ebd., S. 307), aber doch meist unbewußt „aus ihrem eigenen religiösen Leben, aus ihrer religiös bedingten Familientradition, aus dem religiös beeinflußten Lebensstil ihrer Umwelt heraus“ (ebd. S. 318). – In diesem Sinne vermutete Marianne Weber: „Vielleicht ist diese Richtung seines Erkenntnistriebes: die dauernde Auseinandersetzung mit dem Religiösen – diejenige Form, in der die genuine Religiosität seiner mütterlichen Familie in ihm fortlebt“ (Marianne Weber: Max Weber [s.o. Anm. 47], S. 350). Für Weber kommt hinzu, daß die Erfahrung der elterlichen Eigenarten durch die in Distanz erfahrene Parallelität im Hause Baumgarten noch verstärkt wird, mit dessen Mitgliedern Weber jeweils eine weitgehend selbständige und intensive Beziehung unterhielt: mit Ottos Bruder Fritz die Jugendfreundschaft (vgl. die Briefe bei Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], ab S. 6 passim), mit Ottos Schwester Emmy die erste platonisch-erotische Begegnung (vgl. ebd., S. 99 f.), zu Ottos

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gartens Vater verkörperten, erheblich verstärkt.143 Beide Familien wiesen also eine solche spezifische Konstellation in der Rollenverteilung der jeweiligen Eltern auf, die sich für das thematische Erkenntnisinteresse von Otto Baumgarten und Max Weber nachhaltig auswirken sollte und die Baum-

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Vater Hermann die politischen Affinitäten (vgl. Marianne Weber: Max Weber [s.o. Anm. 47], S. 85; vgl. hierzu ausführlich auch Wolfgang Mommsen: Max Weber und die deutsche Politik, Tübingen 1959, S. 1–22) sowie zu Ottos Mutter Ida eine gerade für die Religiosität Webers andauernde und bedeutsame Beziehung (Marianne Weber: Max Weber [s.o. Anm. 47], S. 88; vgl. S. 90: „Ohne daß es ihm [sc. Max Weber] deutlich zu Bewußtsein kommt, nimmt Idas Gewicht für seine innere Entwicklung zu. Er dankt ihr später dauernd das Erkennen seiner Mutter . . . So erschließt ihm jetzt die Berührung mit Ida und das Verständnis ihrer Eigenart auch Helenes Wesen“). Deren Tochter schreibt Weber später zum Tode der Mutter Ida: „Wenn ich sage, daß Deine Mutter auch mir eine zweite Mutter gewesen ist, so weißt Du, liebste Freundin, ja mehr als sonst jemand, wie tief innerlich wahr das ist. Ich vermöchte heut überhaupt die unauslöschlich tiefen Eindrücke und persönlichkeitsbildenden sittlichen Einflüsse, die ich in Eurem Straßburger Hause empfangen habe, mit allen ihren Nachwirkungen gar nicht wegzudenken aus meinem Leben, ohne daß alles, was mir heut im Leben teuer ist und hoch steht, in’s Wanken geriete“ (ebd., S. 91). – Auf diesem Hintergrund konnte Weber schon früher immer wieder feststellen: „Ich selbst fühle mich im Baumgartenschen Haus wohl und heimatlich und bin, wie ich schon sagte, überzeugt, daß ich sehr viel daraus mitnehmen werde“ (Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 20); „Mein Verkehr im Baumgartenschen Hause wird wirklich für mich immer angenehmer und wertvoller. Namentlich da mir von allen Seiten großes Vertrauen gezeigt wird“ (ebd., S. 30). Durch solche und ähnliche Äußerungen sieht sich Eduard Baumgarten: Max Weber (s.o. Anm. 50), S. 316, zu der Bemerkung veranlaßt: „Im Kreis der Familie (sc. Webers und Baumgartens) hat er (sc. Weber) seine Menschenkenntnis entwickelt, sein beobachtendes Auge für typische menschliche Handlungsweisen trainiert; eigene menschliche Handlungen – in Nachahmung und Gegensatz – geformt.“ Hierin ist schließlich nicht zuletzt auch die freundschaftliche Affinität zwischen Max Weber und Otto Baumgarten verwurzelt, deren Grund der Letztere folgendermaßen charakterisiert: „Wer Marianne Webers Lebensgeschichte von Max Weber gelesen hat, besitzt eine voll zutreffende Anschauung von diesem beglückenden Zusammenhang der weiteren Familie. Natürlich bildeten sich innerhalb der weiteren Verwandtschaft noch intimere Freundschaftsbande, in denen die Blutbeziehungen weit durch die geistigen Auseinandersetzungen überboten wurden“ (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 458). Otto Baumgarten hat einmal die politische Kulturauffassung seines Vaters folgendermaßen charakterisiert: „Die große Linie seiner Geschichtsperspektive führte von der im Individualgewissen wurzelnden Reformation und dem in der Individualbildung wurzelnden Humanismus über die Renaissance der Antike im Zeitalter unserer Klassiker und des Verpflichtungsgefühls der Gebildeten gegen das zur

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garten gleich gültig für beide folgendermaßen charakterisiert: „Der Mutter starke und stille Frömmigkeit und des Vaters nur im Großen und Vollen der deutschen Bewegung lebender politischer Charakter kämpften um ihre (sc. der Kinder) von kleinkreisiger Eitelkeit unberührte Seele“144. Baumgarten

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Selbstverwaltung zu erziehende Volk im Zeitalter des Freiherrn von Stein und Dahlmann hin zu der konstitutionellen Monarchie und einer ebenso nationalen wie freiheitlichen Bildung der deutschen Nation in allen ihren Schichten, aber unter bestimmender Führung der Intellektuellen und in ihrem Verantwortungsgefühl gebildeten Schichten“ (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 15). Vgl. zu Hermann Baumgarten: Georg G. Iggers: Deutsche Geschichtswissenschaft, München 1971, S. 161 f. – Erich Marcks: Biographische Einleitung, in: Hermann Baumgarten: Historische und politische Aufsätze und Reden, Straßburg 1883, S. V ff. – Wilhelm Wiegand: Art.: „Baumgarten, Hermann“, in: ADB 55 (1910), S. 437–451. – Otto Baumgarten vergegenwärtigt sich die elterlichen Einflüsse als „die verschiedenen Linien, obenan die von dem absolut-religiösen und dem historisch-politischen Pol ausgehenden“, die sein ganzes Leben durchzogen (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 19) – und zwar so, daß sie trotz ihrer spannungsreichen und jeweils anerkannten Eigenständigkeit zu vermitteln waren: „Wer der bisherigen Entwicklung meines Lebens gefolgt ist, wird in diesem Entschluß (sc. Pfarrer zu werden) . . . das Schlußglied jener Kette der inneren Dialektik der beiden Strömungen erkennen, die in mir zusammentrafen: der religiösen und der historisch-politischen: Führer zu werden zu der unserem Volke so hochnötigen Einheit von Religion und Kultur, von Volkskirche und höherer Bildung . . . “ (ebd., S. 37). In der Weber’schen Erziehung ergaben sich ähnliche Spannungen: „Man kann . . . sagen, daß eine ähnliche Rolle, wie sie der Vater bei der Einführung Max Webers in die politische Problematik hatte, die Mutter hinsichtlich der Fragen der Religion besaß“ (Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie [s.o. Anm. 84], S. 106). Aber gerade die distanziert sich wiederholende Erfahrung der parallelen Elternkonstellation im Hause Baumgarten hat Weber dazu gebracht, die darin angelegte Spannung sehr viel konfliktuöser zu erleben als Otto Baumgarten: „Dem Sohn wurde erst auf dem Umweg über das Straßburger Haus: (am schärfsten herausgearbeiteten Typus der Tante) ein Gegensatz und Konflikt durchsichtig, der zwischen seinem Vater und seiner Mutter und zudem in seiner eigenen Natur lebte . . . Unter diesem Aspekt erschien ihm jetzt der Gegensatz des Lebens seines Vaters und des Lebens seiner Mutter“ (Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 307 f.). Ähnlich urteilt Donald G. MacRae: Max Weber (s.o. Anm. 140), S. 25 f.: Der Eltern „politische und religiöse Ansichten gehörten damals zu den Widersprüchen, die das Denken des jungen Mannes bestimmten.“ In diesem „Milieu (waren) genügend Faktoren wirksam, um aus ihm einen Menschen zu machen, der ein Leben lang in einem Netz von teils ererbten, teils durch die Zeit bedingten Widersprüchen verfangen blieb. Webers Soziologie ist unter anderem ein Dokument seiner Versuche, sich aus diesem Netz zu befreien“. Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 1.

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bestätigt hier auch ausdrücklich die folgenreiche innere Analogie seiner Sozialisationserfahrungen mit denen Max Webers, wie sie später von dessen Ehefrau Marianne geschildert wurden: „Marianne Weber hat durchaus richtig neben der Spannung, die der Gegensatz von Religion und Kultur in diese . . . Familie gebracht, die ungemein reiche Befruchtung jugendlicher, nach Form und Klarheit ringender Seelen geschildert, die neben vielen anderen jungen Männern, Freunden der Söhne, auch Max Weber durch beide Eltern, auch gerade durch ihre sich ergänzenden stark ausgeprägten Persönlichkeiten erfuhr“145. In der parallelen Elternkonstellation, im jeweils mütterlichen Typ des homo religiosus wie im jeweils väterlichen Typ des homo politicus, war bereits die Grunddisposition angelegt, der sich die Kon 213vergenz der wissenschaftlichen Lebensthematik von Baumgartens Praktischer Theologie und Webers Soziologie verdankt.146 Nicht nur die Zentralität des Inter145 146

Ebd., S. 9. Für das Verständnis der Weber’schen Lebensthematik „Religion und Rationalität“ erscheint – nicht zuletzt im Vergleich zu der Otto Baumgartens – die versuchte Aufarbeitung seiner durch Sozialisationsklima und Wechselbeeinflussungen in den Häusern Baumgarten und Weber vermittelten Erfahrungen weit ergiebiger, als die Zentralität und spezifische Entfaltung der Religionsthematik aus seiner persönlichen Frömmigkeit heraus abzuleiten. Im Blick auf Webers eigene Religiosität gibt es eine Unmenge an Spekulationen und Vermutungen, die sich überdies auf eine nur spärliche und obendrein noch widersprüchliche Materialbasis beziehen können (vgl. hierzu etwa die Zusammenstellung bei Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie [s.o. Anm. 84], S. 103 f.). Webers Selbsteinschätzung kommt vor allem in zwei berühmt gewordenen Äußerungen zum Ausdruck. Nach der Lektüre der Channing’schen Schriften bekennt er: „Seit verschiedenen Jahren, die ich zurückdenken kann, ist es das erste Mal, daß etwas Religiöses für mich ein mehr als objektives Interesse gewonnen hat, und ich glaube, meine Zeit doch nicht nutzlos verbracht zu haben, indem ich die Bekanntschaft dieser großen religiösen Erscheinung machte“ (1884, zitiert nach: Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 30; er fügt dann aufschlußreich hinzu: „Jedenfalls bin ich Baumgartens [sic!] zu großem Dank verpflichtet, welche mir diese anregende Lektüre verschafft haben. Der Tante Ida scheint es große Freude zu machen, daß dieser, ihr Liebling, mir so imponiert, der anscheinend sonst bei wenigen ihrer Bekanntschaft rechten Anklang findet. Offenbar entspricht seine Weltanschauung der ihrigen am meisten . . . “). Viele Jahre später (1908) schreibt er dem Fachkollegen Ferdinand Tönnies: „Ich bin zwar religiös absolut unmusikalisch und habe weder Bedürfnis noch Fähigkeit, irgendwelche seelischen ‚Bauwerke‘ religiösen Charakters in mir zu errichten . . . , aber ich bin nach genauer Prüfung weder antireligiös noch irreligiös“ (ebd., S. 670). Zweifellos war Weber stets eine solche Religiosität suspekt und mit den neuzeitlichen Bedingungen der Gesellschaft inkommensurabel, die von vornherein in der einen oder anderen Weise auf ihre Rationalitätskomponente Verzicht leistet. Zukunftsträchtige

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esses an Religion überhaupt, sondern auch die spezifische Art der Aufnahme und Entfaltung der dadurch bedingten Leitthematik ihres Lebenswerkes sind in diesem gemeinsamen frühen Erfahrungshorizont verankert und bestimmten die sich auch später, wenngleich variiert, durchaus als wirksam erweisende Affinität in dem praktischen Wissenschaftsprogramm, „die Vermittelbarkeit von möglichst exakter Wissenschaft und möglichst unverkürzter Lebenswelt (auf der Wissens- und Handlungsebene) zu sichern“147. Die allmählich zunehmende Einsicht in die Grenzen sowohl dieser Vermittelbarkeit als auch der Vermittlung von religiöser Ethik und „Welt“-Verhalten hat dann dafür gesorgt, daß die Konvergenz der wissenschaftlichen Leitthematik bei Weber und Baumgarten auch über die frühen, besonders familialen Umwelterfahrungen hinaus in ihren Grundzügen konstant geblieben ist. Es war dies zum einen die wissenschaftlich rationale Grenze „des noch möglichen Begriffs vom Christentum“148, die bei Weber im Postulat der „intellektuellen Redlichkeit“, bei Baumgarten im Stichwort der „Wahrhaftigkeit“ und des „geschichtlichen Wahrheitsgewissens“149 entscheidend wurde und beider Neigungen zum liberaltheologischen Erbe des Kulturprotestantismus beeinflußt hat.150 Zum anderen sahen beide eine Grenze der Vermittelbarkeit in der Unmöglichkeit, irgendein

147 148 149 150

Religiosität sah er vielmehr im rationalen Prophetentum. Denn nur „prophetische Religion erhebt sich auf dem Grunde einer intensiven Besinnung des Menschen über die Welt und seine Stellung darin. Sie ist die Religion des in höchster geistiger Wachheit . . . auf seine Lage in der Welt reflektierenden Menschen . . . Prophetische Religion ist so durch ein Höchstmaß an Rationalität gekennzeichnet in dem doppelten Sinne, daß 1. die Welt als durchaus ‚weltliche‘ aufgefaßt wird und 2. die Lebensführung der hochbewußten und also verantwortlichen Kontrolle durch das Individuum unterstellt ist“ (Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie [s.o. Anm. 84], S. 132): „Eine echte Prophetie schafft eine systematische Orientierung der Lebensführung an einen Wertmaßstab von innen heraus, dergegenüber die Welt als das nach der Norm ethisch zu formende Material gilt“ (Max Weber: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Band 1 [s.o. Anm. 86], S. 521). Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84), S. 19. Ebd., S. 128. Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte (s.o. Anm. 14), S. 13.91 u.ö. Im Jahre 1882 verbrachte Max Weber sein erstes und Otto Baumgarten sein letztes Semester in Heidelberg. Neben den regulären Studien und allerlei Allotria finden beide Vettern „Zeit zu häufiger gemeinschaftlicher Lektüre“ (Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 16), wodurch Max Weber „ziemlich tief in die Theologie“ hineingerät (Jugendbrief o. J., S. 48): „Meine Lektüre besteht aus Strauß, Schleiermacher und Pfleiderer (‚Paulinismus‘)“ (ebd.). Die brieflichen Bemerkungen, die Weber hier wie an anderen Stellen macht (ausführlich äußert er sich z. B. über den

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Verhältnis zwischen Religion und moderner Kultur sowie Gesellschaft weiterhin unmittelbar begründen zu können. Daß sie dabei gleichermaßen einem religiös-sozialen Eskapismus („Akosmismus“) wie einem Strauß’schen Mythos-Begriff in einem Brief an seinen Bruder Alfred: Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 42), sowie seine späteren Freundschaften mit Theologen (wie etwa Adolf von Harnack, Paul Göhre oder Friedrich Naumann) lassen die Affinität in der liberaltheologischen Grundeinstellung zwischen Baumgarten und Weber erkennen, die nicht zuletzt auf einen intensiven Austausch zurückgeht (vgl. hierzu allgemein: Hans-Joachim Birkner: „Liberale Theologie“, in: Kirche und Liberalismus im 19. Jahrhundert, hg. von Martin Schmidt/Georg Schwaiger, Göttingen 1976, S. 33–42.). Auch Baumgarten bestätigt im Rückblick auf das gemeinsame Heidelberger Semester: „Äußerst belebend wirkte dann auch das tägliche Zusammensein mit meinem eben in sein erstes Semester getretenen Vetter Max Weber“ (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 62). Weber mag gerade in dieser theologischen Bildungsgemeinschaft mit Baumgarten manche wertvollen Anregungen und Interpretationsfiguren an die Hand bekommen haben, die ihn zur theoretisch-reflexiven Aufarbeitung seiner eigenen religiösen Sozialisationserfahrungen gedient haben mochten. Weber hat seine Nähe zur liberalen Theologie des öfteren zum Ausdruck gebracht. In dem erwähnten Brief an Ferdinand Tönnies (s.o. Anm. 151) schrieb er: „Ihnen muß z. B. konsequenterweise ein liberaler . . . Theologe als typischer Repräsentant einer Halbwahrheit das Verhaßteste von allem sein, –; mir ist er . . . – unter Umständen mag ich ihn für inkonsequent, konfus usw. halten . . . – menschlich unendlich wertvoller und interessanter als der intellektuelle . . . Pharisäismus des Naturalismus, der ja so unsäglich typisch ist, und in dem . . . weniger Leben ist als in jenem“ (Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 670). In diesem Sinne hat Weber auch seinen Vetter in Schutz genommen; von Berlin aus schrieb er dessem Vater Hermann Baumgarten: „Während Otto hier Pfarrer war, habe ich meine Freunde tunlichst in Berührung mit ihm gebracht, und ich kann nur mit Genugtuung berichten, daß der Eindruck seiner eben doch vielseitig anregenden Persönlichkeit durchweg den gewünschten Erfolg hatte. Es ist mir sehr oft nachher gesagt worden: ‚Ja, wenn unsere Geistlichen in größerer Zahl so beschaffen wären, so stände es anders mit unserem Verhältnis zur Kirche.‘ Ich gestehe, dann der Wahrheit etwas Zwang angetan zu haben, indem ich bestritt, daß es sich um eine nicht generelle Erscheinung handelte“ (ebd., S. 75). Das Baumgarten und Weber in ihren theologischen Positionen Verbindende war also das Programm, das sie gemeinsam vertraten: die Versöhnung von Kultur und Christentum, die sich gegen jede akosmistische Ausprägung von Religion wandte, wie sie eine – an sich durchaus sympathische – entdogmatisierte und entinstitutionalisierte religiöse Gesinnungsethikik zu fördern eigen war. Demgegenüber betonten Weber und Baumgarten gleichermaßen das auf politisch-kulturelle Wirksamkeit drängende Christentum und eine dementsprechende Theologie: „Die Größe der christlichen Religion“, schreibt Weber seinem Bruder Alfred zur Konfirmation, „ist eine der Hauptgrundlagen, auf denen alles Große beruht, was in dieser Zeit geschaffen

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religiös-sozialen Konformismus zu entgehen suchten, beeinflußte schließlich auch ihre grundsätzliche Übereinstimmung und Annäherung in gesellschaftlich-politischen Fragen, bei denen es beiden vor allem um „eine wertinterpretierende Besinnung auf die Möglichkeit einer . . . Verbindung von Christentum und praktischer Politik“ ging151. Angesichts der in

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ist; die Staaten, welche entstanden, alle große Taten, welche dieselben geleistet, die großen Gesetze und Ordnungen, welche sie aufgezeichnet haben, ja auch die Wissenschaft und alle großen Gedanken des Menschengeschlechts haben sich hauptsächlich unter dem Einfluß des Christentums entwickelt“ (ebd., S. 24 f.); und: „als christliches Gemeindeglied nimmst Du das Recht und die Pflicht auf Dich, an Deinem Teil an der Entwicklung der großen christlichen Kultur und damit der ganzen Menschheit zu arbeiten . . . Wir Jüngeren können dies zunächst dadurch versuchen, daß wir danach streben, uns für den Dienst im Interesse der menschlichen Gesellschaft geeignet zu machen, uns diejenigen Geisteskräfte zu verschaffen, welche dazugehören, um ein tüchtiger Mitarbeiter an dem Werke und der Weiterentwicklung der Welt zu sein“ (ebd.). Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84), S. 114, kommentiert hier zutreffend: „Diese gegenseitige Durchdringung von Religion und Kultur gilt nicht als historisch und vergangen, sondern als die dem zeitgenössischen Christentum aufgegebene Form der Wirksamkeit“. Die Austauschbarkeit mit den praktisch-theologischen Intentionen Baumgartens liegt hier auf der Hand. Zu Webers theologisch-religiösem Hintergrund vgl. insgesamt: Paul Honigsheim: Max Weber. His Religious and Ethical Background and Development, in: Church History 19 (1950), S. 219–239. Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84), S. 120. – Auch Webers gesellschaftspolitisches Engagement war weitgehend von Otto Baumgarten veranlaßt oder vollzog sich zumindest in enger Zusammenarbeit mit ihm: So etwa seine Mitarbeit am Evangelisch-sozialen Kongreß (vgl. Marianne Weber: Max Weber [s.o. Anm. 47], S. 140) und an dessen offiziösem Organ, der von Baumgarten herausgegebenen Schriftenreihe „Evangelisch-soziale Zeitfragen“, „dessen Programm ich mit Max Weber zusammen entworfen hatte“ (Otto Baumgarten: Meine Lebensgeschichte [s.o. Anm. 14], S. 215), das gemeinsame Engagement beim Hafenarbeiterstreik von 1898, bei dem sich ein Solidaritätsausschuß bildete, „zu dem Max Weber, Friedrich Naumann, Tönnies, Lehmann-Hohenburg, Jastrow und ich gehörten und der einen Aufruf zur Geldsammlung erließ, um den Arbeitern nicht etwa zum Sieg, wohl aber zur schiedsgerichtlichen Entscheidung ihrer Klagen zu verhelfen“ (ebd., S. 219), sowie schließlich die sporadischen Beiträge Webers in der „Christlichen Welt“ (Max Weber: Zur Rechtfertigung Göhres [s.o. Anm. 47]. – Max Weber: Die Evangelisch-sozialen Kurse in Berlin [s.o. Anm. 50]. – Max Weber: Die Erhebung des Evangelisch-sozialen Kongresses über die Verhältnisse der Landarbeiter Deutschlands, in: ChW 7 [1893], Sp. 535–540. – Max Weber: Was heißt Christlich-Sozial? [s.o. Anm. 61] u. a.) – all das zeugt von der Affinität zwischen Weber und Baumgarten auch in sozialpolitischen Fragen, in der beide eine Alternative zu einer karitativ-gesinnungsethisch verkürzten Bergpredigt-Sozialpolitik ei-

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Protestantische Religion und praktische Rationalität

der Neuzeit sich zunehmend verschärfenden „Spannung des religiösen Postulats gegen die Realitäten der Welt“152 erscheint Max Weber wie Otto Baumgarten „nunmehr jeder Versuch, in der modernen Kultur und Gesellschaft unmittelbar religiöse Sinngehalte zu verwirklichen, als inkonsequent und unhaltbar. Dabei wird entweder die fortschreitende Rationalisierung als Grundgesetz der Zeit verkannt, oder aber die Religion ist bis zur Unkenntlichkeit an die Zeitbedürfnisse angepasst“153. Um diesen Fehlleistungen gleichermaßen entgegenzutreten, sahen sich Weber wie Baumgarten – jeder auf seine Art und in seinem Wirkungsbereich – veranlaßt, den von ihnen jeweils vertretenen Wissenschaftstyp – der spezifischen Soziologie hier, der spezifischen Praktischen Theologie dort – als vermittelndes Zwischenglied zu begründen, dessen verbindende Thematik die mögliche Ausweitung der gesinnungsethisch fundierten protestantischen Religiosität zu einem solchen die kulturelle Gesamtlage theoretisch integrierenden Deutungskonzentrat war, das angesichts der aktuellen problematischen Gesellschaftskonstellation gleichwohl als Grundlage eines verantwortungsethisch-politischen Normkonzentrats gelten 214 konnte.154 Die Soziologie Max Webers und die Praktische Theologie Otto Baumgartens stimmten also in der aus ihren lebensgeschichtlichen Quellen entfalteten Intention überein, die mittlerweile ins Prinzipielle

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nerseits (vgl. z. B. Otto Baumgarten: Politik und Moral, Tübingen 1916, S. 107. – Max Weber: Gesammelte Politische Schriften [s.o. Anm. 109], S. 549) wie zu einer moderat-konservativen, das Proletariat nur domestizieren wollenden „Thronund-Altar“-Politik à la Stoecker andererseits erblickten (Max Weber: „Ist nun die Stoeckersche Richtung dauernd die einzige, welche auf diesem Gebiet Opferfähigkeit zeigt, so ist damit ihr Sieg auch dogmatisch entschieden“; zitiert nach: Eduard Baumgarten: Max Weber [s.o. Anm. 50], S. 74). – Ansonsten amüsierte Weber zuweilen auch der pausbäckige Eifer, mit dem die Pfarrer auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß – dessen Präsident übrigens Otto Baumgarten von 1912–1921 war (Gottfried Kretschmar: Der Evangelisch-soziale Kongreß, Stuttgart 1972, S. 115) – um die soziale Frage rangen; in einem Brief berichtet er: „Es macht meiner Mutter immer viel Freude, die oft etwas naiven, meist aber originellen Pastoren sich katzbalgen zu hören. Es hat auch etwas Erfrischendes, wenn man sieht, wie beneidenswert leicht sie über wirtschaftliche Probleme, die uns das Hirn zermartern, im Vertrauen auf das bessere Verständnis des lieben Gottes hinwegkommen, ohne daß man sie eigentlich der Oberflächlichkeit zeihen könnte.“ (Marianne Weber: Max Weber [s.o. Anm. 47], S. 141). Max Weber: Wirtschaft und Gesellschaft (s.o. Anm. 97), S. 448. Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84), S. 129. Otto Baumgarten hat gewissermaßen in subkutanem Einverständnis mit Weber seine gesamte Praktische Theologie dem Anspruch und Programm nach als eine Art

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hineinreichende Spannung zwischen den Möglichkeiten einer religiössittlich bestimmten Persönlichkeit und den Rationalitätserfordernissen der sozialkulturellen Weltwirklichkeit durch die reflexive Vermittlung der Wissenschaft zu überwinden, um den religiös-ethischen Gestaltungswillen angesichts der zunehmenden rationalen Eigengesetzlichkeiten der Lebenssphären nicht ins Leere laufen zu lassen. Die in dieser praktischen Grundintention zusammenlaufenden Wissenschaftsdisziplinen der Soziologie und Praktischen Theologie haben zumindest bei Max Weber und Otto Baumgarten in der Thematik „einer rationalen Erwägung der unter den bestehenden Bedingungen (den theologisch-wissenschaftlichen wie den allgemein kulturellen, politischen und gesellschaftlichen) denkbaren und vertretbaren Möglichkeiten christlichen Lebens“155 ihren gemeinsamen Entstehungszusammenhang und Erfahrungshintergrund, dem Weber mit seiner Soziologie wie Baumgarten mit seiner Praktischen Theologie in der Frage nach der praktischen Realität wie Realisierbarkeit menschlicher

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Verantwortungsethik des religiös-kirchlichen Handelns im Weber’schen Sinne konzipiert, um dessen „Abwendung von der Wirklichkeit und die Verachtung der Rücksichtnahme darauf“ zu meiden, was Weber als Haupteigentümlichkeit des gesinnungsethischen Handelns ansah (Max Weber: Jugendbriefe, Tübingen o. J., S. 81). Wenn – wovon Weber und Baumgarten gleichermaßen ausgingen – die kulturellen und gesellschaftlichen Verhältnisse, von denen ein rationales Kulturbewußtsein und eine rational-realistische Gesellschaftspolitik ihren Ausgang nehmen mußten, „im erwähnten Sinne religiös-ethisch inkommensurabel sind, dann ist eben die Absicht einer unmittelbaren Ausdeutung des Christentums für sozialpolitische Zwecke im Prinzip verfehlt“ (Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie [s.o. Anm. 84], S. 123), und es bedarf dann einer zusätzlichen Reflexionsgestalt, die eine „wertinterpretierende Besinnung auf die Möglichkeit einer derartigen Verbindung von Christentum und praktischer Politik“ sowie kultureller Praxis zu vermitteln vermag (ebd., S. 120). Eben diese Funktion erfüllen in paralleler Ausrichtung die Sozialwissenschaft Webers und die Praktische Theologie Baumgartens, wenn sie versuchen, begrifflich-reflektiert „das Wirkliche gewissenhaft zu erfassen, um das Mögliche beherzt zu ergreifen, auf der Hut zu sein vor allen Ideologien und Illusionen und innerhalb der Schranken des Erdenlebens kleine Schritte vorwärts zu machen“ (Otto Baumgarten: Politik und Moral [s.o. Anm. 157], S. 152). So gesehen stellt weder für Baumgarten noch für Weber Verantwortungsethik prinzipiell eine Alternative zur früh in den Elternhäusern erfahrenen gesinnungsethischen Religiosität dar, sondern ist – diese einschließend und überbietend – unter den gleichzeitig bewußten Bedingungen von geschichtlicher Wirklichkeit und ethischem Anspruch eine Art realistischer „Disziplinierung dieses Idealismus“ (ebd., S. 151); vgl. hierzu Wolfgang Schluchter: Rationalismus der Weltbeherrschung (s.o. Anm. 94), S. 9–40.41– 74. Johannes Weiß: Max Webers Grundlegung der Soziologie (s.o. Anm. 84), S. 115.

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Protestantische Religion und praktische Rationalität

Gestaltungs- und Lebensfreiheit im klaren Bewußtsein der Bedingungen und Folgen ihrer systematischen Bedrohung eine für die neuzeitliche Religionsproblematik symptomatische, disziplin- und fächerübergreifende, sowie nach wie vor ethisch zentral bedeutsame Pointe aufgesetzt haben.

Neue Religiosität aus der Sicht eines Soziologen. Aspekte homiletischer Prolegomena

Wann immer die Praktische Theologie in ihrer Predigttheorie über die Sicht einer pastoralen Begrenztheit hinauszukommen suchte, sah sie sich zu „einer umfassenden Reflexion der religiösen und kirchlichen Praxis der Gegenwart“ überhaupt veranlaßt.1 Die Deutung von Religion war stets ein fester Bestandteil der homiletischen Prolegomena. Seit einiger Zeit stehen nun dabei solche Fragen der neuen Religiosität im Mittelpunkt, deren Allgemeinbedeutung auch für die Homiletik zunächst einer sozialwissenschaftlichen Klärung bedarf.2 Neue Religiosität in gesellschaftlicher Perspektive im weitesten Sinne beschränkt sich nämlich nicht auf die Vielzahl der Gruppen, die wir uns „neue Jugendreligionen“ zu nennen angewöhnt haben. Neue Religiosität – das umfaßt auch neue religiöse Erweckungsbewegungen innerhalb der Kirche, nicht nur im konkurrenzhaften Umfeld der Kirche. Und um diese neue Religiosität in soziologischer Perspektive verstehen zu können, aber auch, um das neu erwachte Interesse vor allem der Religionssoziologen und Praktischen Theologen an der neuen Religiosität begreifen zu lernen, ist es zunächst notwendig zu erhellen, was sich in dieser neuen Religiosität in sozialer Form denn eigentlich zum Ausdruck bringt. Welchen gesellschaftlichen Bedingungen unterliegt diese neue Religiosität? Welche sozialen Konstellationen hat sie überhaupt hervorbringen lassen können? Und was signalisiert die neue Religiosität in ihren Merkmalen selbst im Hinblick auf den Charakter dieser Gesellschaft, die sie produziert? Was sagt das Aufkommen der neuen Religiosität für die Bedeutung der Religion in unserer Gesellschaft überhaupt aus? Und wie macht sich in den partikularen, in sich vielfach widersprüchlichen Erscheinungen dieser neuen Religiosität gleichwohl eine 1 2

Wolfgang Steck: Das homiletische Verfahren, Göttingen 1974, S. 145. Angesichts der Fülle der vorliegenden Literatur zu diesem Thema bieten reichhaltig informierende Übersichten vor allem: Religiöse Gruppen. Alternativen in Großkirchen und Gesellschaft, hg. von Joachim Lell/Ferdinand W. Menne, Düsseldorf 1976. – Karl E. Nipkow: Neue Religiosität, gesellschaftlicher Wandel und die Situation der Jugendlichen, in: ZP 27 (1981), S. 379–402.

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Neue Religiosität aus der Sicht eines Soziologen

allgemein gesellschaftliche, wenn auch widerspruchsvolle Problemlage deutlich? Ende der Säkularisierung? Als die neue Religiosität Ende der sechziger und zu Anfang der siebziger Jahre einen neuen Aufschwung nahm, wurde allmählich – wenn auch zaghaft – vieles in Zweifel gezogen, was wir bis dahin über die gesellschaftliche Bedeutung und die gesellschaftlichen Bedingungen von Religion gedacht, erforscht und spekuliert hatten.3 Die damals nahezu ungebrochen herrschende Auffassung, daß wir es bei den anglo-amerikanischen und mitteleuropäischen Gesellschaften weitgehend mit säkularisierten Gesellschaften zu tun hätten, war so nicht mehr aufrechtzuerhalten angesichts der Beobachtung, daß sich innerhalb wie außerhalb der überkommenen Kirchen für die Religion selbst ein tiefgreifender Wandlungsprozeß vollzog. Das Säkularisierungsverständnis war am traditionellen Kirchenleben abgespiegelt.4 Säkularisierung war die Formel, die den Prozeß der kirchlichen Milieuverengung beschreiben sollte, die Tatsache also, daß diejenigen, die sich noch aktiv zur Kirche rechneten, in ihrer Gesamtheit nicht mehr eigentlich die ganze Gesellschaft repräsentierten, sondern nur noch einen Torso bildeten: einen Torso, zusammengesetzt aus sozialen Gruppen, die im kirchlichen Gemeindeleben die Linderung des Schmerzes ersehnten, den ihnen andernorts die Gesellschaft zugefügt hatte: die nicht berufstätigen Frauen und nicht ernstgenommenen Kinder, die aus dem Produktionsprozeß ausge 3gliederten alten Menschen, die in ihrem Status bedrohten Beamten und 3

4

Ein relativ frühes Dokument der Analyse und Auseinandersetzung, konzentriert auf die sich neu anbahnenden religiösen Strömungen, bietet die nach wie vor lesenswerte Studie von Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Institution, Person und Weltanschauung, Freiburg i.B. 1963, bes. S. 65–77. – In früherer Zeit sah sich die Praktische Theologie schon einmal veranlaßt, sich mit der indikatorischen Funktion neuer Religiosität auseinanderzusetzen. So schrieb Paul Drews: Die freien religiösen Gemeinden der Gegenwart, in: ZThK 11 (1901), S. 484–527, 484 im Hinblick auf die freireligiöse Bewegung, sie sei „eine nicht zu unterschätzende symptomatische Erscheinung innerhalb des gährenden religiösen Lebens in unserer Mitte . . . Denn was in diesen Kreisen zum offenen Ausbruch kommt, was und wie hier kritisiert und negiert wird, das und so kritisieren und negieren Tausende in unserem Volk, ohne sich gerade diesen Gemeinden deshalb anzuschließen“. Die theologische und soziologische Säkularisierungsdebatte ist mittlerweile gut dokumentiert in: Säkularisierung, hg. von Heinz-Horst Schrey, Darmstadt 1981.

Neue Religiosität aus der Sicht eines Soziologen

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die vom sozialen Abstieg gefährdeten Kleinbürger. Und eben diese Kreise wurden uns gemeinhin als Querschnitt des normalen Predigtpublikums vorgestellt.5 Mit Säkularisierung sollte auch der Umstand beschrieben werden, daß die Kirchen im Hinblick auf die Gesamtgesellschaft von einem umfassenden Funktions- und Bedeutungsverlust ergriffen waren und ihr Einflußbereich in anderen gesellschaftlichen Teilbereichen zunehmend schrumpfte. Säkularisierung war schließlich auch gleichbedeutend mit Transzendenzverlust: Immer weniger Menschen glaubten, was ihre Kirchen verkündeten, immer kleiner wurden die Kreise, die sich an die offizielle kirchliche Moral hielten, immer weniger Menschen bedeutete Religiosität in ihrem Leben überhaupt noch etwas. Und es gab darunter ganz besonders säkularisierte Menschengruppen: Man denke etwa an die Arbeiter, man denke an die Intellektuellen, man denke an die Jugendlichen. Hier waren die Trägergruppen einer mehr oder weniger aggressiven, einer mehr oder weniger erfolgreichen Religionsund Kirchenkritik versammelt, die immer schon in die Homiletik als bedenkenswerter Umstand der „abwesenden Predigthörer“ eingingen.6 Mit dem Aufkommen der neuen Religiosität geriet die Richtigkeit solcher Diagnosen ins Schwanken. Die Einsicht wuchs, daß das, was Religion gegenwärtig in der modernen und werdenden Industriegesellschaft ist, sich nicht mehr mit der bisher plausiblen Überzeugungskraft aus ihrer überkommenen kirchlichen Sozialgestalt ableiten läßt. Nicht nur hat sich die kirchliche Szenerie selbst in weiten Teilen des christlichen Europa quer durch alle Konfessionen erheblich differenziert – man denke nur an den Aufschwung, den das katholische Wallfahrtswesen erfahren hat, man denke an den Aufschwung der evangelischen Kirchentage, man denke an Taizé und Friedensbewegung. Vielmehr haben sich gegenüber dem traditionellen kirchlichen Christentum auch neuartige Alternativen und Abwandlungen von Frömmigkeit herausgebildet, die durchaus mit gesellschaftlicher Bedeutung ausgestattet sind. Am nachhaltigsten ist vielleicht das, was wir gemeinhin in dem Sammelbegriff eines alternativen Lebensstils oder auch einer alternativen Bewegung fassen. Wachsende Kontakte mit nicht-christlichen Religionen, gefördert durch die immense Bedeutung der weltweit verknüpften Massenmedien, spezifische Vergesell5

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Vgl. hierzu etwa die Untersuchungen von Justus Freytag: Die Kirchengemeinde in soziologischer Sicht, Hamburg 1959, sowie von Reinhard Köster: Die Kirchentreuen. Erfahrungen und Ergebnisse einer soziologischen Untersuchung in einer großstädtischen evangelischen Kirchengemeinde, Stuttgart 1959. Vgl. hierzu vor allem Werner Jetter: Wem predigen wir?, Stuttgart 1964, sowie Jens M. Lohse: Kirche ohne Kontakte, Stuttgart 1967.

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schaftungsformen und gegenseitige Anpassungs- wie Austauschprozesse zwischen kirchlich geprägter Religiosität einerseits und anderen kulturellen Lebensformen der Bevölkerung andererseits lassen überdies die religiöse Landschaft immer uneindeutiger, immer bunter, immer zerklüfteter erscheinen, als das an normaler traditioneller Kirchlichkeit gewonnene Säkularisierungsbild einst suggerierte. Kirchlichkeit ist eben heute kein Normalfall mehr, Kirchenaustritte und besondere jugendliche Gesellungsformen – auch auf religiöser Basis – bilden sich zeitlich parallel heraus, Phänomene der Volksfrömmigkeit sind in mannigfacher Gestalt feststellbar, neue Äußerungsformen von Kulturreligion können zur Kenntnis genommen werden,7 und in diesem breiten, mannigfachen Spektrum nun auch die neue Religiosität als ein weiterer Baustein im Mosaik der religiösen Szene. Kein religiöser Substanzverlust Auf diesem Hintergrund verlieren einige bis dahin durchaus plausibel erscheinende Diagnosemodelle und Interpretationsmuster zu Funktion und Bedeutung der Religion in der neuzeitlichen Gesellschaft zunehmend ihre Eindeutigkeit, wenn nicht sogar Einsichtigkeit. Die Entkirchlichung der Gesellschaft muß offenbar nicht zugleich auch ihre Profanisierung bedeuten. Der kirchliche Substanzverlust ist wohl nicht zugleich auch ein Substanzverlust an Religiosität überhaupt. Diese Einsicht wirft die Frage nach der Funktion, nach der Zukunft und Bedeutung der Religion in der modernen Gesellschaft erneut auf. Auch das ist neu an der neuen Religiosität, daß sie unser gängiges Religionsverständnis in Frage stellt, indem sie eine Alternative darstellt zu dem, woran sich bislang unser Religionsbegriff gebildet hat. Die Identität von Religion und Kirchlichkeit kann nicht mehr unhinterfragt behauptet werden. Und daß diese Identität heute nicht mehr so eindeutig besteht, daß Religiosität nicht mehr nur in der Sozialgestalt von Kirchlichkeit aufgeht, sondern sich neue gesellschaftliche Änderungsformen sucht, scheint primär mit den Wandlungsprozessen zusammenzuhängen, die die gegenwärtige Gesellschaft durchlaufen hat und in deren Verlauf sich auch die sozialen Möglichkeitsbedingungen von Religion verändert haben. Die Art ihrer Wahrnehmung und Einschätzung war stets zugleich ein Auslösemoment spezifischer kirchlicher Reaktionstypen, die sich nicht zuletzt in

7

Vgl. hierzu den querschnittartigen Überblick: Kursbuch der Weltanschauungen, hg. von Horst Bürkle, Berlin 1980.

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homiletischen Konzeptionen zum theologischen Selbstverständnis ausformuliert fanden.8 Neue Religiosität bringt offenbar eine Bewegung zum Ausdruck, in der zunächst und vor allem die identitätsbedrohenden Folgen des modernen Gesellschaftswandels auf personaler Ebene einem Verarbeitungsversuch unterliegen. Diese These enthält drei Unterstellungen: 1. Der Aufschwung der neuen Religiosität, das relativ starke, neu erwachte Interesse der Religionssoziologen und Praktischen Theologen an dieser neuen Religiosität hängt mit den Folgen des gesellschaftlichen Wandels zusammen, ge 4nauer mit dem momentan durch Wandel erreichten Grad an gesellschaftlicher Differenzierung. 2. Die Folgen dieses gesellschaftlichen Wandels verdichten sich in dem, was man heute vielfach die Identitätsproblematik unserer Zeit nennt. 3. Die neue Religiosität ist Ausdruck des Versuchs, eben diese Identitätsproblematik auf spezifisch religiösem Wege zu lösen. Persönliche Identität und gesellschaftliche Differenzierung Zunächst also zu den gesamtgesellschaftlichen Auslösemomenten für die neue Religiosität, die Folgen einer gesellschaftlich-kulturellen Differenzierung sind, deren Auswirkungen für die Einschätzung der neuen Religiosität nicht unwichtig erscheinen. Sie haben sich zugleich auf den Stellenwert kirchlicher Verkündigung in Kultur und Gesellschaft ausgewirkt.9 Drei Aspekte der sozialen Differenzierung sind in diesem Zusammenhang besonders zu betonen: 1. Soziale Differenzierung bedeutet in der modernen Gesellschaft zunächst einmal die Entflechtung und relative Verselbständigung institutionalisierter Lebensbereiche, wie etwa Wirtschaft, Politik, Recht, Wissenschaft, 8

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Eine aufschlußreiche Darstellung dieser Zusammenhänge findet sich vor allem bei Friedrich Wintzer: Die Homiletik seit Schleiermacher bis in die Anfänge der „dialektischen Theologie“ in Grundzügen, Göttingen 1969. Vgl. zum Gesamtsachverhalt Thomas Luckmann: Religion in der modernen Gesellschaft, in: Religion im Umbruch, hg. von Jakobus Wössner, Stuttgart 1972, S. 3–15. – Heinrich Ludwig: Die Kirche im Prozeß der gesellschaftlichen Differenzierung, München 1976. – Niklas Luhmann: Funktion der Religion, Frankfurt a.M. 1977. – Volker Drehsen: Protestantische Frömmigkeit im neuzeitlichen Strukturwandel der Öffentlichkeit, in: Religionsgeschichte in der Öffentlichkeit, hg. von Abdoldjavad Falaturi u. a., Köln 1983, S. 78–113; s.o. S. 257–281.

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Bildung und dann eben auch Religion und Kirche. Jeder dieser Lebensbereiche stellt eigene, autonome Anforderungen an die Lebensführung einzelner innerhalb ihrer Bereiche. Und nicht immer sind diese unterschiedlichen Anforderungen miteinander in Einklang zu bringen. Schon Max Weber hatte seinerzeit beispielsweise auf die Unverträglichkeit zwischen katholischmittelalterlichem Zinsverbot und kaufmännischem Verhalten deutlich hingewiesen – also auf den Widerspruch zwischen Religion und Wirtschaft. Je differenzierter eine Gesellschaft ist, desto größer wird dieses Konfliktpotential, das auf einer Vielzahl unterschiedlicher Wert- und Handlungssysteme beruht. Wenn beispielsweise heute vielfach auf eine sehr geringe Affinität zwischen religiösen Werten einerseits und beruflichen oder auch politischen Werten andererseits hingewiesen wird, so scheint genau diese Differenzierung der Lebensbereiche dafür die Ursache zu sein.10 2. Innerhalb dieser Ausgliederung relativ selbständiger Lebensbereiche hat nun eine weitere Differenzierung der Funktionen stattgefunden, von denen wiederum jede für sich je eigene Anforderungen an die Lebensführung der Funktionsträger stellt. Im Bereich der Wirtschaft ist die Trennung der Funktionen von Planung, Produktion und Vertrieb am augenfälligsten. Die Gewaltenteilung innerhalb des Staates ist jedem Schulkind geläufig. Aber von den gleichen Differenzierungsprozessen sind auch andere Funktionswerte, etwa das Wissen oder die Moral, betroffen. Die Produktion, Vermittlung und Aneignung beispielsweise von religiösem und moralischem Wissen ist in verschiedene Vollzüge auseinandergefallen; ja, einzelne Züge wurden eigens professionalisiert. Durch diese Verberuflichung kam eine Ungleichheit in der Verteilung auch des religiösmoralischen Wissens zustande. Wenn heute vielfach auf die Nichtübereinstimmung zwischen kirchlichen Dogmen und persönlichem Glauben bei religiösen Typen hingewiesen wird, so scheint eine Ursache auch darin zu liegen, daß sich auch innerhalb des religiös-moralischen Systems, wie in jedem anderen gesellschaftlichen System auch, eine Differenzierung der Wissensverteilung etabliert hat, deren Ausdruck eben die erwähnte Diskrepanz zwischen offizieller Lehre und gelebtem Glauben ist.11 3. Und schließlich eine letzte Differenzierungsart, die auch die Religion betrifft und am Phänomen der neuen Religiosität sichtbar wird: das ist das Auseinanderfallen der Erfahrungsbereiche, was vielfach heute in polaren Begrifflichkeiten beschrieben wird, etwa die Trennung von Freizeit und Be10

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Dieser Aspekt wird vor allem beleuchtet bei Gerhard Schmidtchen: Gottesdienst in einer rationalen Welt, Stuttgart 1973. Vgl. hierzu etwa Joachim Matthes: Kirche und Gesellschaft, Reinbek 1968, S. 76– 84.

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ruf, von Arbeit und Familie, von Öffentlichkeit und Privatheit. In all diesen Sphären oder lebensverschiedenen Erfahrungsbereichen werden Situationsverarbeitungen und Handlungsführungen anders strukturiert. Wer beispielsweise Religion als Beruf betreibt, also Theologe oder Pfarrer ist, kann mit Hilfe seines religiösen Wissens seine Lebensführung ganz anders religiös strukturieren als jemand, der wohl gläubig ist, aber einem säkularen Beruf nachgeht. Die Dialektik zwischen praktischer Erfahrung einerseits und deren objektiver religiöser Symbolisation andererseits führt hier jeweils zu anderen Ergebnissen. Hinter dem, was man also früher unhinterfragt als den Prozeß der Säkularisierung bezeichnet hat, stehen vielfältige Arten der gesellschaftlichen Differenzierung, die die Einheit der Weltanschauung und Lebensführung des einzelnen bedrohen. Die Auseinanderflechtung der institutionellen Lebensbereiche, die Entflechtung und Hierarchisierung der sozialen Funktionen und der Pluralismen der Orientierungsmodelle, die Privatisierung der Lebensführung erschwe 5ren im Resultat für den einzelnen die Einheit seiner alltäglichen Welterfahrung und Lebensansicht. Eben darum aber scheint es der neuen Religiosität in erster Linie zu gehen: um die Einheit des Handelns im Alltag, um die Konsistenz seines Verständnisses und Sinns, um die Integration der Alltagserfahrung. Das Einheitsinteresse der neuen Religiosität zeigt sich, wo sie nicht spezifisch kirchliche Elemente der Alltagswelt in sich aufnimmt, gleichwohl aber auch deutliche religiöse Aufladung zu erkennen gibt. Darin erweist sich der eigentümliche Standort der neuen Religiosität in der modernen differenzierten Gesellschaft: Einerseits ist sie gekennzeichnet durch eine Distanz, durch eine Emanzipation von offizieller Kirchlichkeit, wie durch das dezidierte Bemühen, Elemente des Alltagslebens zu integrieren. Andererseits kommt sie aber nicht immer unabhängig von kirchlichen Norm- und Wissenssystemen zustande und hält sich offensichtlich auch in Distanz zu den dominanten, herrschenden Gesellschaftswerten. Neue Religiosität realisiert sich in Distanz zu jenen Sozialfaktoren, die die angestrebte Einheit des Alltagslebens und der Weltansicht nicht mehr von vornherein verbürgen können. Wo die Kirche nun selbst als einer dieser einheitssprengenden Faktoren angesehen wird, weil sie nur eine neben vielen anderen Rollenerwartungen an den einzelnen hegt, tritt die Distanz auch zu den Kirchen auf.12 Unter dem Anspruch einer einheitlichen Lebensführung 12

Schon Richard Rothe warnte die Kirche davor, ihre Glieder in die fromme Schizophrenie hineinzutreiben, „indem sie aus dem Einen Menschen zwei machen will, neben den wirklichen Menschen, welcher der an sich sittlichen Gemeinschaft ganz angehört, noch einen zweiten Menschen fingiert (nämlich in demselben Individu-

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und integrierten Weltansicht wird also auch die Möglichkeit einer Religiosität ohne Kirche sichtbar. Das bringt uns zu der Frage: Wie konstituiert sich die Einheit der Sinnwelt, deren Interesse die neue Religiosität offenbar vertritt, und in welchem Verhältnis steht sie zur gesellschaftlich organisierten Kirche und ihrer Verkündigung? Individualität statt Rollenspiel Die Einheit der Sinnstiftung, wie sie für die Alltagserfahrung erforderlich ist, wird offenbar weder von der Gesellschaft als ganzer noch von einer eigens dafür ausdifferenzierten Institution mehr garantiert. Unter den geschilderten gesellschaftlichen Bedingungen der Differenzierung stellen die Kirchen jedenfalls nicht mehr notwendigerweise diejenigen homogenen sozialen Größen dar, die plausible Modelle einer einheitlichen Lebensführung in eindeutiger Weise repräsentieren. Nicht nur sind sie selbst dem Zwang vielfältiger Differenzierung unterlegen, sondern ihr Monopolanspruch auf Sinninterpretation ist durch den konfessionellen wie ideologischen Pluralismus in der Gesellschaft unterhöhlt und noch mehr unterhöhlt durch die Möglichkeit zwischenkultureller Kontakte. Wie Peter L. Berger, der amerikanische Religionssoziologe, schon 1965 vermutete, wird Sinndeutung auch von genuin religiöser Natur zu einer Angelegenheit von Angebot und Nachfrage: Der Konsument bestimmt tendenziell die Ausgestaltung des Angebots; die Privatisierung der Nachfrage korreliert nahezu zwangsläufig mit dem Pluralismus des Angebots.13 Drei Tendenzen scheinen im Hinblick auf die besondere Eigenart der neuen Religiosität in diesem Zusammenhang bedeutsam: 1. Sinnstiftung ist weitgehend nur noch auf dem Wege privater Optionen möglich, da keine öffentliche Instanz mehr ein Monopolrecht darauf beanspruchen kann. Oder anders gesagt: Weil für bestimmte Sinnsysteme jeder institutionelle Geltungsschutz entfällt, geht Sinndeutung als solche zwangs-

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um), der ihr (der Kirche) angehöre“ (Notiz aus dem Nachlaß, zitiert nach: Dieter Hoffmann-Axthelm: Die Freundlichkeit des Objektiven. Zur Kirchentheorie Richard Rothes, in: EvTh 29 [1969], S. 307–333, 332 f.). Zur gegenwärtigen Problematik des Sachverhalts vgl. Inge Peter-Habermann: Kirchgänger-Image und Kirchgangsfrequenz, Meisenheim 1967, sowie zu den homiletisch bedeutsamen Gesichtspunkten: Volker Drehsen: Das öffentliche Schweigen christlicher Rede, in: Andreas Feige: Erfahrungen mit Kirche, Hannover 1982, S. 318–346. Peter L. Berger: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1973, S. 122–146.

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läufig in die Entscheidungsgewalt, in die Dispositionsgewalt des Individuums über. Anstelle institutionell wirksamer Vorgaben treten individuell angeeignete Dezisionen. Sinndeutungsmodelle tragen im wahrsten Sinn des Wortes nur noch den Charakter eines fakultativen Angebots. Gleichwohl ist 2. dieses Sinndeutungsangebot durchaus vorhanden, wird auch von den institutionalisierten Religionen und religiösen Gruppen aufrechterhalten und in Anspruch genommen. Kirchen erscheinen nach wie vor – jedenfalls in unserer Gesellschaft – als Lieferanten von Lebenssinn. Andernfalls wäre die relativ geringe Austrittsneigung nicht zu erklären, die für die volkskirchliche Situation in Mitteleuropa charakteristisch ist. Im Normalfall gilt, daß die Kirchen immer noch die primäre Adresse sind, wo es um Fragen transzendent fundierter Sinnvergewisserung geht. Im Zwang zur privaten Option wendet das Individuum seine Aufmerksamkeit also nach wie vor dem Angebot objektiv bereitstehender kirchlicher Institutionen zu. Nur hat diese Zuwendung ihre Eindeutigkeit, wenn 6 man so will, ihren selbstverständlich automatischen Charakter verloren. Sie geschieht vielmehr in der Weise einer Selektion.14 Und die Art und Weise der Selektion erlaubt es, in einem weiteren Sinn von der Privatisierung der Religion zu sprechen. 3. Es sind nämlich dabei vorrangig Probleme der Führung des je eigenen Lebens, die die Art und Weise der individuellen Auswahlprozesse jeweils weitgehend steuern und bestimmen und zumindest die Kriterien der subjektiven Wahl abgeben. Aus dem Angebot objektiv bereitstehender Sinndeutungsmuster wird angenommen, was für die subjektive Lebensführung aufgrund der eigenen individuellen Erfahrung wichtig und nützlich ist.15 Unumstritten scheint mir zu sein, daß das objektive, wenn auch pluralistische Angebot der Kirchen seine Realisation nur noch durch eine privatisierte Filtrierung erfährt, daß diese Filtrierung selbst nach Maßgabe privater Betroffenheit subjektiver Erfahrung erfolgt und daß eben diese strukturelle wie inhaltliche Komponente der Privatisierung wesentliche Merkmale der neuen Religiosität ausmacht, jener neuen Religiosität, die sich wohl noch vielfach auf das organisierte Religionssysteme bezieht, das in den Kirchen repräsentiert ist, aber eben Distanz und Nähe, Verbundenheit und Emanzipation, Mitgliedschaft und Kündigung nach eigenem subjektivem Gusto bestimmt. Reichweite und Prägungskraft der Institution Kirche hängen nicht mehr allein von deren Leistungs- und Durchsetzungsvermögen ab, sondern

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Vgl. hierzu vor allem die jüngste Studie von Andreas Feige: Erfahrungen mit Kirche, Hannover 1982, S. 59–78. Vgl. hierzu Dietrich Rössler: Die Vernunft der Religion, München 1976, S. 13–20.

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auch von den Mehrheitsverhältnissen je privater Optionen, die ihrerseits wieder sozialen Bestimmungsfaktoren unterliegen. Diesen Umstand repräsentieren Phänomene der neuen Religiosität, die deutlich privatistische Züge zeigen. Anders gesagt: Kirchenmitgliedschaft wird als struktureller Hintergrund wohl selbstverständlich in Kauf genommen, dessen Realisierung und Aktualisierung aber ist von privaten Optionen und je situativ gegebenen Veranlassungsmomenten abhängig. Sinn konstituiert sich unter den Bedingungen der differenzierten modernen Gesellschaft nicht mehr durch die subjektive Entsprechung zu den objektiven institutionellen Vorgaben, nicht mehr durch unmittelbare Rezeption institutionell bereitstehender Lehren und Lebensformen. Sinn konstituiert sich vielmehr in einem individuell bestimmten, selbstreflexiven Prozeß, in dem sich die tendenziell subjektive Vermittlung von sozialer Selbsterfahrung, Situationsausdeutung und kultureller Wertdeutung unter Verarbeitung religiöser Aussagen und Symbole vollzieht.16 Häretischer Wahlzwang Neue Religiosität erscheint demnach als ein Phänomen, bei dem latente Mitgliedschaft in den Kirchen – jedenfalls in der Regel – durch akute Selbstreflexion gebrochen wird. Und je nachdem, von welchem sozialen Standpunkt aus die Reflexion erfolgt, erscheinen die kirchlichen Institutionen dann in ihrem Angebot als akzeptabel oder nicht mehr akzeptabel, bis hin zur Gleichgültigkeit. Aber nach wie vor bleibt weitgehend der Bezug zur Kirchlichkeit erhalten, auch in den Phänomenen der neuen Religiosität; entweder in der Perspektive, daß so, wie die Kirchen sind, sie gut und genügend und nur verbesserungsbedürftig oder mit neuem Leben zu erfüllen sind, oder in der Perspektive, daß so, wie die Kirchen sind, sie durch Alternativen zu ersetzen seien. Zieht man eine Zwischenbilanz, so läßt sich sagen: Die Differenzierung der Gesellschaft in eine Vielzahl von Lebensbereichen, von denen jeder für sich jeweils autonome Forderungen an die Lebensführung einzelner richtet, konfrontiert eben diesen einzelnen mit Problemen einer einheitlichen Lebensführung im Alltag. Neue Religiosität hängt offenbar wesentlich mit diesen Fragen einer einheitlichen, ganzheitli16

Diesen Aspekt hat besonders Helmut Schelsky in den Mittelpunkt seines religionssoziologischen Ansatzes gerückt: Ist die Dauerreflexion institutionalisierbar?, in: ZEE 1 (1957), S. 153–174.

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chen Weltansicht und Lebensführung zusammen, in der der parzellierende Rollenzwang der Gesellschaft eben unterlaufen werden soll. Der Rückgriff auf religiöse vereinheitlichende Sinndeutungsmuster geschieht aber nicht mehr automatisch durch Sozialisation, sondern fakultativ durch individuelle Entscheidung. Das Individuum wählt seine Religion selbst aus anhand eines reichhaltigen Warenhauskatalogs angebotener Sinndeutungsmuster. Noch einmal Peter L. Berger: Er hat diesen Vorgang in seinem neuesten Buch den „Zwang zur Häresie“ genannt.17 Berger zeigt darin, daß der religiöse Glaube, einst vom Schicksal, von der Gesellschaft, von der Tradition bestimmt, heutzutage vom häretischen Imperativ, d.h. von der Wahl des einzelnen, festgelegt wird und festgelegt werden muß, weil keine gesellschaftliche Institution – auch keine kirchliche mehr – einen Monopolanspruch auf Sinninterpretation erheben kann. Dieser häretische Wahlzwang erklärt die Vielfalt und Buntheit neureligiöser Erscheinungen bis hin zur Aufnahme 7 anderer als christlich-religiöser Elemente. Und er erklärt, warum Fragen der subjektiv-individuellen Lebensführung ungleich mehr im Mittelpunkt der neuen Religiosität stehen als etwa Fragen der Kosmologie, des Weltsystems, der überindividuellen Geschichtskonstruktionen oder auch der politischen Theologie. Aichelin hat einmal diesen Zustand mit folgenden Worten beschrieben: „Im Zuge dieser Gegenkonzeption zu den offiziellen Sinndeutungsangeboten der überkommenen Kirchen werden von den Angehörigen dieser jungen Generation in völliger Unbekümmertheit die religiösen Entwürfe aller Zeiten – Rückgriff beispielsweise auf mittelalterliche Armutsbewegungen – durchwühlt und die Religionsstifter und Gurus aller Zonen für sich in Anspruch genommen.“18 Und das Wahlkriterium bei diesem Vorgang der Selektion ist das, was sich mit der unmittelbaren subjektiven Lebenserfahrung in Einklang bringen läßt. Und das muß nicht immer identisch sein mit dem, was die traditionsreichen Kirchen predigen und lehren. Im Gegenteil: in ihrem theologischen Rationalisierungszwang, in ihrer lange herausgebildeten Neigung, Glaubenserfahrung dogmatisch zu intellektualisieren und liturgisch zu standardisieren, scheinen sie immer mehr Menschen um die Erfahrung der inneren Welt zu betrügen. Der sozialen Verstümmelung zum Rollenträger entspricht die religiöse Verstümmelung zum Kirchgänger. 17

18

Peter L. Berger: Der Zwang zur Häresie. Religion in der pluralistischen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1980. Helmut Aichelin: „Die Seele kann so schnell nicht fliegen“. Kritischer Dialog mit der neuen Religiosität, in: Der unverbrauchte Gott. Neue Wege zur Religiosität, hg. von Ingrid Riedel, Bern 1976, S. 35–63, 42.

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Sprunghaftigkeit der Lebensgeschichten Auf ein weiteres Moment der modernen Gesellschaftsentwicklung muß noch hingewiesen werden: auf den hohen Grad an Mobilität, das relativ häufige Vorkommen also der Orts- und Rollenwechsel, die ein einzelner im Verlaufe seines Lebens vorzunehmen hat. Die Soziologen sprechen in diesem Zusammenhang von der vertikalen und von der horizontalen Mobilität; – horizontale als die räumliche Mobilität, die durch die Vergünstigung der Verkehrsmittel hervorgebracht worden ist, und die vertikale Mobilität als die Vergrößerung der sozialen und beruflichen Aufstiegschancen. Auch diese beiden Äußerungsarten von Mobilität können identitätsbedrohend für den einzelnen sein. Denn Identität – so wissen wir – bildet und stabilisiert sich nicht anders als in jenem unmittelbaren Bezugsgruppenumfeld, zu dem ich als einer, der Identität hat, gehöre: in der Familie, im Kreis der Gleichaltrigen, im Kreis der Arbeitskollegen oder im Freundeskreis. Aber meine Einbindung in diesen Kreis der Kreise ist ständig durch Mobilität bedroht. Die Verwandtschaftsverhältnisse sind räumlich weit auseinandergezogen, die Arbeitskollegen wechseln mit jedem Berufspositionswechsel, um nur zwei Beispiele zu nennen. Durch räumliche Mobilität und soziale Aufstiegschancen geht jedesmal auch ein Stück sozialer Heimat verloren, was dann auch ständig erneut die Einheit und Kontinuität meiner Lebensgeschichte in Frage stellt. Die Einheit und Kontinuität in der symbolischen Strukturierung meines Lebenslaufes steht eben an solchen Punkten des Überganges zur Disposition.19 In gesellschaftlich vorstrukturierten Situationen ist dies im Normalfall nicht weiter problematisch. So greift die Mehrzahl unserer Bevölkerung in absehbaren Krisensituationen eines normalen Lebenszyklus immer noch auf Lösungsangebote kirchlicher Amtshandlungen zurück. Und eben dies erklärt, warum gerade kirchliche Amtshandlungen im Vergleich zu anderen kirchlichen Äußerungsformen noch so relativ stabil sind. Mit graduellen Unterschieden vermögen sie durchaus, in normalen, d.h. absehbaren Krisensituationen einer Lebensgeschichte Hilfestellung zur Bewältigung anzubieten und damit den einzelnen in anfälligen Situationen wieder in seine Gesellschaft einzugliedern, gleichsam die Statusübergänge in ihrem Krisenpotential abzufedern.20

19

20

Vgl. hierzu Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Soziale Mobilität und persönliche Identität, in: Thomas Luckmann: Lebenswelt und Gesellschaft, Paderborn 1980, S. 142–160. Vgl. hierzu Peter Cornehl: Frömmigkeit – Alltagswelt – Lebenszyklus, in: WPKG

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Anders aber, wo diese vorstrukturierten Lösungsangebote nicht mehr durchgreifen, wo die biographischen Kriseneinbrüche nicht mehr absehbar sind, wo nicht mehr nur Positionsübergänge und Rollenwechsel rituell begleitet werden können, sondern wo durch Bekehrung und Konversion unter dem Eindruck tiefgreifender, unvorhergesehener Krisenerfahrungen ganze Lebensgeschichten neu geschrieben, neu konstruiert, neu erlebt werden. Auch solche Bekehrungen, Totalbrüche in der Biographie, der absolute Neuanfang, der nicht selten für die neue Religiosität so charakteristisch ist, haben ihre sozialen Ursachen, haben ihre sozialen Begleitumstände und sozialen Folgen.21 Und das führt zu einer zweiten These zur soziologischen Einschätzung der neuen Religiosität: Neue Religiosität stellt den Ausdruck eines spezifischen sozialen Verhaltens dar, in dem die Folgen des modernen gesellschaftlichen Mobilitätszwanges durch eine Gegenkultur aufzufangen versucht werden; eine Gegenkultur, in die man norma 8lerweise nur durch Bekehrung gelangt. Soziologisch scheinen an diesem Sachverhalt zwei Dinge sehr wichtig zu sein: 1. Bekehrung bedeutet nicht nur eine Veränderung des Selbstverständnisses, gleichsam einen Persönlichkeitswechsel. Eine Bekehrung bedarf vielmehr, um dauerhaft zu sein, auch eines sozialen Milieuwechsels. Bekehrung ist nicht nur der Neuentwurf einer sozialen Weltansicht. Es wird hierbei nicht nur ein Glaubenssystem gegen ein anderes ausgetauscht; etwa so, wie ein Wissenschaftler eine Hypothese gegen eine andere eintauscht, wenn diese zur besseren Erklärung eines Sachverhaltes, zur besseren Lösung eines Problems tauglich ist. Bekehrung meint vielmehr auch die totale Änderung der Lebensweise, eine Transformation der sozialen Existenz. Hierin sind alle Umstände verwurzelt, die man kirchlicherseits so gerne als die Gefährlichkeit der neuen Jugendreligionen zu bezeichnen pflegt: jene Umstände der Trennung von der alten Welt, die radikale Lösung vom Elternhaus, die teilweise totale Verweigerung von Arbeit und Berufsausübung, die Umstellung des Selbstbewußtseins, häufig dann später reproduziert mit den Formeln: „Früher war ich . . . aber heute bin ich . . .“, die Änderung der Verhaltenswei-

21

64 (1975), S. 388–401. – Volker Drehsen: Die „Heiligung“ von Lebensgeschichten, in: PthI 2 (1981), S. 101–139. Vgl. hierzu Volker Drehsen: Krisenbewältigung durch Wandel zur Frömmigkeit. Die Evangelisation Werner Heukelbachs als soziologische Fallstudie, in: WzM 26 (1974), S. 49–63. – Günter Kehrer: Soziale Bedingungen für nicht-kirchliche religiöse Gruppen in der Bundesrepublik, in: Zur Sozialgeschichte der Bundesrepublik Deutschland, hg. von Günter Kehrer, München 1980, S. 93–116.

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sen (beispielsweise das Leben aus gutbürgerlichen Kreisen wird verlagert in ein Leben in Armut – bewußter Armut), die Annahme eines anderen Glaubenssystems.22 Neben diesen Loslösungstendenzen treten dann auch neue soziale Bindungsprozesse auf, etwa die Identifikation mit neuen Leitfiguren und Vorbildern, mit charismatischen Führern und Gurus, die nicht selten eine autoritäre Personifikation des neuen Weltbildes bilden. Die Identifikation mit solchen religiösen Führern ist sozialpsychologisch geradezu zwingend, weil nur so das Alle-Fäden-hinter-sich-Abkappen seelisch, psychisch und sozial erträglich wird. Die neue Gruppe Notwendig ist aber auch die Einbindung in eine neue, sozial überschaubare und stabil bleibende Gruppe, die stets aufs neue durch ständigen Kontakt, durch ständiges Gespräch, durch Aufrechterhaltung der Konversationsmaschine das neue Lebensbild schützt, bestätigt, bewahrt und in plausibler Weise praktiziert. Wichtig ist zur Integration in diese neue Gruppe, daß jeder seine Zugehörigkeit auch öffentlich demonstriert, das Engagement in der Gruppe und der Missionseifer nach außen. Bekehrung meint also nicht nur einen Einstellungswechsel, den Austausch von Weltanschauung und Glaubenssystemen, sondern auch die Veränderung der sozialen Selbsteinordnung, die Umstellung sozialen Verhaltens, die Einbindung in ein neues Netz sozialen Gruppenlebens. 2. Diese neue soziale Existenzform und Lebensansicht wird nicht selten als Gegenentwurf zu derjenigen Gesellschaft und Welt legitimiert, die man durch Bekehrung verlassen hat.23 Bekehrung in dieser Sicht ist die Lösung von allen oder doch von vielen vorher eingegangenen Sozialbindungen. Und dieser Horizontwechsel kann dem einzelnen plausibel erscheinen, weil man der Gesellschaft, von der man sich gelöst und dissoziiert hat, gerade die Ursachen der Identitätsbedrohung zuschreibt, die man durch Bekehrung aufzufangen versucht, die also die Bekehrung gewisserweise selbst erst veranlaßt hat. In der Kritik an der dominanten Kultur der modernen Gesellschaft, von der man sich durch Bekehrung nicht selten löst, bildet sich so folgerichtig ein völlig neues Wertsystem als Gegenentwurf heraus, 22

23

Vgl. hierzu Peter L. Berger/Thomas Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a.M. 1969, bes. S. 167–174. Vgl. hierzu besonders Bert Hardin/Günter Kehrer: Das Phänomen „Jugendreligionen“, in: betrifft: erziehung 11 (1978), S. 12–42.

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dem der Charakter eines Heilsversprechens eignet. Gegen den Kult eines nicht selten als egoistisch empfundenen Individualismus tritt dann der strikte Gehorsam in der Gruppe bis hin zum Führerprinzip auf, die Solidarität mit und das totale Engagement in der neuen Gruppe. Gegen die erfahrene Isolation und die Beziehungskonflikte in der Kleinfamilie wird die Kommune des Gruppenverbandes eingetauscht bis hin zu den extremen Lebensformen, Kommunenformen zwischen Promiskuität oder auch totaler Geschlechtsaskese. Gegen die fast sakrale Wertschätzung der Arbeit, der Leistung in der dominanten Gesellschaft setzen Gruppen der neuen Religiosität nicht selten das Armutsideal und die Meditation. Gegen den Totalanspruch einer steril-rational arbeitenden Wissenschaft wird die innere Erfahrung, die erlebte Subjektivität, die wärmende Atmosphäre von Selbsterfahrungsgruppen gesetzt. Gegen den Machbarkeitswahn hochgezüchteter Technologien wird der Traum vom alternativen Lebensstil aufgeboten. Neue Religiosität ist also auch ein Gegenentwurf zur etablierten Sozialität, nicht selten die sozial verkörperte Anmahnung der gesellschaftlich hochgehaltenen Ideale, die eine Gesellschaft aber realiter und faktisch so selten erfüllen kann oder will, in jedem Fall nicht erfüllt in der Erfahrung dieser Neureligiösen. Neue Religiosität hält gleichsam die Aufforderung präsent, das Ich 9 in die Gesellschaft zurückzuholen, wo dieses durch sozial überorganisierte Rollenmuster aus- oder gleichgeschaltet zu werden droht. Diese Form der Religiosität als Sakralisierung menschlichen Identitätsverlangens hält also gewissermaßen die Unverzichtbarkeit der Identitätsidee trotz ihrer bereits vorhandenen gesellschaftlichen Verwirklichungsansätze als dennoch zu verwirklichende Forderung aufrecht.24 Die Einheit, die Freiheit und die lebensgeschichtliche Kontinuität des Handelns sind unter den Bedingungen der neuzeitlich modernen Gesellschaft vor allem die prekären, kritischen Identitätswerte, auf die die neue Religiosität als soziales Phänomen funktional bezogen bleibt. Und dies ist auch der Punkt, wo sich unser Religionsverständnis im Blick auf diese neue Religiosität gründlich korrigieren lassen muß: Religion ist der Versuch, menschliche Identität in allen ihren Dimensionen unter den identitätsbedrohenden Bedingungen der modernen Gesellschaft zu sakralisieren.25 Je unstrukturierter diese sozialen Identitätsbedingungen erlebt und erfahren werden, desto 24

25

Unter homiletischen Gesichtspunkten hat vor allem Ernst Lange diesen Sachverhalt beleuchtet: Was nützt uns der Gottesdienst?, in: ders.: Predigen als Beruf, Stuttgart 1976, S. 83–95. Vgl. hierzu die Ansätze von: Alois Hahn: Religion und der Verlust der Sinngebung, Freiburg i.B. 1974. – Franz-Xaver Kaufmann: Kirche begreifen, Freiburg i.B. 1979,

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mehr wächst die Wahrscheinlichkeit, daß sich die religiöse Sakralisierung menschlicher Identität außerhalb der Bahnen überkommener Kirchengestalten vollzieht. Dieser Trend sollte für die Kirchen weniger eine Bedrohung als vielmehr eine Herausforderung an ihre religiöse, theologische, vor allem aber auch homiletische Potenz darstellen.

S. 156–159. – Hans Mol: Identity and the Sacred, Oxford 1976. – Dietrich Rössler: Die Vernunft der Religion (s.o. Anm. 15), S. 47–52.

Nachweise

Zur sozial-kulturellen Bedeutung der Gruppe. Materialien zu einer sozialethischen Betrachtungsweise (1970) In: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 59 (1970), S. 355–365.

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Kontinuität und Wandel der Religion. Die strukturell-funktionale Analyse in der deutschen Religions- und Kirchensoziologie nach 1945. Versuch einer problemgeschichtlich und systematisch orientierten Bestandsaufnahme (1983)

378

Nachweise

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Die „Normativität“ neuzeitlicher Frömmigkeitsgeschichte. Zur aktuellen Bedeutung der klassischen Religionssoziologie Ernst Troeltschs (1984) In: Protestantismus und Neuzeit, hg. von Horst Renz und Friedrich Wilhelm Graf (Troeltsch-Studien, Band 3), Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn 1984, S. 257–280.

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Neue Religiosität aus der Sicht eines Soziologen. Aspekte homiletischer Prolegomena (1984) In: Zeitschrift für Gottesdienst und Predigt 2 (1984), Heft 5, S. 2–9.

Personenregister Abramowski, Günter 60, 82, 339 Acton, John Lord 42 Adorno, Theodor W. 315 Agulla, Juan Carlos 58 Ahlers, Botho 298 Ahlheim, Klaus 221, 284 Aichelin, Helmut 371 Albert, Hans 47, 52, 195 Albert, Heinrich 206 Albrecht, Günter 218 Altermatt, Alberich M. 270 Amos 67 Antoni, Carlo 41 Apfelbacher, Karl-Ernst 285, 289, 298 f., 302, 310 f. Argyle, Michael 102 Arndt, Johann 268 Arndt, Manfred 215 Arnold, Gottfried 258 Aron, Raymond 41 Babbie, Earl R. 120 Bäumer, Gertrud 45 Bäumler, Christof 314 Bahr, Hans-Eckehard 216, 221, 231 Bahrdt, Hans Paul 8 Baier, Horst 253 Balthasar, Hans Urs von 269 Bargheer, Friedrich W. 8 Barnes, Harry E. 284 Barth, Karl 334 Bartley, William Warren 197 Bassermann, Heinrich 295 Bauer, Clemens 259 Baumgarten, Eduard 41, 44, 58, 326, 335, 339, 342, 348 f., 351 f., 354–356, 358 Baumgarten, Emmy 351 f.

Baumgarten, Fritz 351 Baumgarten, Hermann 61, 352 f., 356 Baumgarten, Ida 351 f. Baumgarten, Otto 61, 265, 296, 316– 337, 344, 349–359 Baumgartner, Joachim 270 Baumotte, Manfred 288, 292 Bean, Frank D. 250 Becker, Gerhold 308 f., 311 Beerling, Reinier Franciscus 71 Bell, Daniel 148 Bellah, Robert N. 234 Bendix, Reinhard 60, 72, 77, 83, 338 f. Berelson, Bernard R. 10 f. Berger, Brigitte 144 Berger, Peter L. 109, 129, 131–139, 141–149, 155, 170, 181, 183, 191, 195, 214, 217, 224, 226, 231, 233, 239, 242, 250, 264, 310, 368, 371 f., 374 Berger, Stephen D. 307 Bergmann, Joachim E. 201 Bergstraesser, Arnold 46, 207 Bernay, Maria 45 Bernsdorf, Wilhelm 202, 218 Besnard, Philippe 71 Bienfait, Werner 55 Bierstedt, Robert 19 Birkner, Hans-Joachim 166, 287, 298, 315, 356 Birnbaum, Norman 172 Birnbaum, Walter 295 Bismarck, Otto Fürst von 330, 344 Black, Max 201 Blies, Hans-Ludwig 55 Bloch, Ernst 45 Blumenberg, Hans 166 Bodenstein, Walter 299

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Personenregister

Boos-Nünning, Ursula 125 Bormann, Günther 196 Bormann-Heischkeil, Sigrid 196 Bosse, Hans 74, 221, 284 Bouma, Gary D. 109 Bourdieu, Pierre 60 Bousset, Wilhelm 295 f. Braun, Joachim 300, 304 Braun, Markus 318 Brentano, Lujo 47, 72 Brinkmann, Carl 163 Brocher, Tobias 8–10 Broom, Leonard 120 Brunmayr, Erich 255 Brunner, Otto 162 Buddha, Siddharta Gautama 94, 348 Bürkle, Horst 364 Burckhardt, Jacob 42 Cain, Maureen E. 6, 252 Campiche, Roland J. 264 Camus, Albert 141 Cazeneuve, Jean 182, 246, 249 Channing, William Ellery 348, 354 Claessens, Dieter 184 Clanton, Gordon 131, 133 Clemen, Carl 295 Clews, Rosemary Arrowsmith 250 Cohn, Werner 238 Comte, Auguste 65, 167 Cooley, Charles H. 6, 191 Cornehl, Peter 248, 372 Cottrel, Leonard S. 120 Crader, Kelly W. 123 Cromwell, Oliver 42 Dahlmann, Christoph 353 Dahm, Karl-Wilhelm 188, 202, 216, 220 f., 245, 250, 253, 303, 338 Dahrendorf, Ralf 47, 97, 107, 184, 201, 206 f., 209 f., 222, 229, 232, 236 Daiber, Karl-Fritz 248, 286, 288, 313, 338 Davis, Kingsley 202, 226, 238

Davy, Georges 16 De Jong, Gordon F. 123 Delbrück, Hans 74 Demerath, Nicholas J. 123 Denney, Reuel 192 Deppe, Frank 185 Dickson, William J. 6 Dieckmann, Johann 52, 55, 82 Dienel, Peter 307 Dienst, Karl 233 Dilthey, Wilhelm 3, 53, 88, 315 Dobbelaere, Karel 161, 224 Döbert, Rainer 202, 243 Dostojewskij, Fjodor 95 Dreitzel, Hans Peter 184 f., 236 Drescher, Hans-Georg 302 Drewe, Paul 232 Drews, Paul 258, 264 f., 295, 316 f., 321, 330, 347, 362 Duchrow, Ulrich 162 Durkheim, Emile 10, 15–19, 21–28, 37–40, 61, 85, 99, 136, 148, 170, 178, 181 f., 223–226, 236, 239, 283, 315 Dux, Günter 60, 62, 226, 235, 242 f., 289 Ebeling, Gerhard 162, 298, 314 Eckardt, Arthur R. 102 Ehrenfeuchter, Friedrich A. 258, 261, 291–293, 297 Eichmann, Adolf 146 Eisenstadt, Shmuel Noah 71 Eisermann, Gottfried 202 Elert, Werner 322 Engelhardt, Hans Dietrich 202, 232 f., 235, 238, 243 Engelmann, Hartmut 300 Engels, Friedrich 15, 159 Engisch, Karl 41 Erikson, Erik H. 8, 180, 248 Evans-Pritchard, Edward E. 18, 234 Falaturi, Abdoldjavad 365 Faulkner, Joseph E. 123

Personenregister

Feige, Andreas 288 f., 368 f. Ferber, Christian von 47, 52 Ferguson, Adam 7 Festinger, Leon 254 Feuerbach, Ludwig 37 f., 306 Fichter, Joseph H. 123, 212 Fischer, Hermann 304 Fischer, Wolfgang 286 Fischer, Wolfram 242, 248 Form, William Humbert 7 Forster, Karl 276 Foster, Bruce D. 120 Franck, Sebastian 70 Franziskus von Assisi 94, 348 Frazer, James George 17 Freud, Sigmund 2, 84, 179, 223 Freyer, Hans 1 Freytag, Justus 212–214, 286, 363 Fröhlich, Werner D. 9 Fürstenberg, Friedrich 71, 164, 241, 263, 276 f., 279, 285 Fukuyama, Yoshio 123 Fustel de Coulanges, Numa Denis 167 Gabel, Joseph 83 Gablentz, Otto Heinrich von der 218, 225 Gabriel, Hans-Jürgen 285, 304 Gabriel, Karl 288 Gadamer, Hans-Georg 148 Gambetta, Léon 25 Gaudet, Hazel 11 Gehlen, Arnold 10, 138, 149 Geiger, Theodor 2, 4, 7 Gennep, Arnold van 182, 220, 249 George, Stefan 95 Gerhard, Wilfried 285, 301, 311 Gerhardt, Uta 184, 236 Gerth, Hans 180 Gibbs, James O. 123 Giddings, Franklin H. 7 Girndt, Helmut 58, 175, 244 Girock, Hans-Joachim 304, 322 Gladstone, William 42

381

Glazer, Nathan 192 Glock, Charles Y. 97–99, 102, 119–127, 181, 197 Gluckman, Max 182, 249 Goddijn, Walter 104 Göhre, Paul 356 Goethe, Johann Wolfgang von 42 Goffman, Erving 180 Goldschmidt, Dietrich 19, 109, 147, 172, 212, 307 Goode, William J. 8, 202, 207, 226 Gorer, Geoffrey 97 Gottl-Ottlilienfeld, Friedrich von 53 Goudsblum, Johan 202 Gouldner, Alvin W. 202, 211 Grab, Hermann J. 52 Graf, Friedrich Wilhelm 296 Green, Robert W. 71 Greinacher, Norbert 212, 314 Greiner, Franz 147, 212 Gremmels, Christian 181, 183, 293 Greschat, Martin 301, 303 Groethuysen, Bernhard 27 Gronemeyer, Reimer 189 Grossman, J. D. Nathan 224 Günther, Hans R. G. 258 f., 262, 295 Gumplowicz, Ludwig 3, 5 Habermas, Jürgen 52, 82, 175, 180 f., 198, 202, 216, 224, 235 f., 345 Hadden, Jeffrey K. 120 Hahn, Alois 186, 303, 375 Halbwachs, Maurice 16, 177 Hanselmann, Johannes 261 Hare, Alexander Paul 6, 11 Hariou, Maurice 16 Harnack, Adolf von 61, 356 Hartfiel, Günter 308 Hartmann, Heinz 202 Hausrath, Otto 61 Heiler, Friedrich 259 Heilfurth, Gerhard 274 Heimpel, Hermann 44 Heintz, Peter 9

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Personenregister

Heisenberg, Werner 54 Helle, Horst Jürgen 242, 244, 248, 255, 289, 310 Helmer, Hans-Josef 71 Helvétius, Claude Adrien 162, 164 Hennen, Manfred 339 Henrich, Dieter 52, 337, 342 Herbart, Johann Friedrich 5 Herberg, Will 97–105, 107–109, 117 f., 120 f., 123, 125 f., 170 Herbert von Cherbury, Edward Baron 162 Herder, Johann Gottfried von 318, 322 Herrmann, Wolfgang 318 Hess, Hans-Eberhard 298 Heuss, Theodor 44 Hild, Helmut 220 Hill, Michael 60, 66, 78, 131 Hinneberg, Paul 290 Hobbes, Thomas 236 Hoffmann-Axthelm, Dieter 368 Hofstätter, Peter Robert 3, 5 f., 10 f. Holbach, Paul Henri Thiry Baron d’ 162, 164 Homans, George Caspar 6, 10, 13 Honigsheim, Paul 41, 44–46, 60, 72, 86, 357 Hubert, Henri 16 Hufnagel, Gerhard 43, 52 Iggers, Georg G. 353 Israel, Joachim 82 Jäger, Hans Ulrich 1 Jaffé, Edgar 45 Janoska-Bendl, Judith 55, 185, 237 Janowitz, Morris 11 Jaspers, Karl 41, 45 Jastrow, Ignaz 357 Jellinek, Georg 45, 72 Jensen, Stefan 202 Jeremia 67 Jesaja 67 Jetter, Werner 363

Joas, Hans 184 Jonas, Friedrich 202, 206, 228, 233, 235 f. Kadelbach, Gerd 5 Käsler, Dirk 41, 284, 338 Kantzenbach, Friedrich Wilhelm 162 Karrenberg, Friedrich 206 Katterle, Siegfried 194 Katz, Elihu 11 Kaufmann, Franz-Xaver 194, 286 f., 303, 375 Kaulbach, Friedrich 222 Kautsky, Karl 75, 306 Kehrer, Günter 108, 129, 176, 190, 194, 202, 217, 219, 229–231, 233 f., 238, 243–245, 254, 286, 303, 338, 373 f. Keller-Hüschenmenger, Max 273 Kellermann, Paul 202, 208, 232 Kellner, Hansfried 137, 144 Kennedy, John F. 104 Kierkegaard, Sören 95, 173 Kirn, Otto 270 Kiss, Gábor 202, 207, 237 f. Kleon 66 Klostermann, Ferdinand 222, 283 Klügl, Johann 83 Knevels, Wilhelm 26 König, René 2 f., 6–9, 16, 19, 23, 41, 44, 47, 52, 163, 185, 195 f., 206, 225, 230, 274, 304 f., 307 f. Köster, Reinhard 156, 216, 219, 250, 363 Kohli, Martin 248 Korf, Gertraud 83 Kortzfleisch, Siegfried von 268, 274, 288 Koselleck, Reinhart 163 Krappmann, Lothar 180, 184, 248 Krause, Gerhard 258, 292, 295 Krawietz, Werner 222 Krenn, Kurt 241 Kretschmar, Gottfried 358

Personenregister

Kruijt, Jakob P. 104 Küenzlen, Gottfried 338–340, 343 f., 346, 349 Kühn, Arthur 248 Lämmermann, Godwin 315 Laeyendecker, Leo 123 Landmann, Michael 26 Landshut, Siegfried 83 Lange, Ernst 253, 319, 375 Lask, Emil 45 Lau, Franz 259 Lauwers, Jan 161, 170, 224 Lazarsfeld, Paul Felix 10 f. Le Bon, Gustave 2 Le Bras, Gabriel 171, 205 Lee, Gary R. 120 Lefringhausen, Klaus 1, 3 f. Lehmann-Hohenburg, Johannes 357 Lell, Joachim 361 Lemmen, Mathieu Martin Willem 339 Lenk, Kurt 83, 163 Lennert, Rudolf 60, 63, 92 Lenski, Gerhard E. 97–99, 104, 109– 115, 118–121, 123–125, 277, 280 Lepsius, M. Rainer 203, 218, 244 Lerner, Max 97 Lessing, Eckhard 299 Leuenberger, Robert 269 Levita, David J. de 180 Lidz, Theodor 12 Lindinger, Helge 218 Linton, Ralph 10, 180 Lipset, Seymour M. 102 Lipsius, Friedrich Reinhard 309 Litt, Theodor 318 Locke, John 162, 236 Loewenstein, Karl 45 f. Löwith, Karl 83 f., 89, 346 f. Lohff, Wenzel 238 Lohse, Jens M. 245, 252, 363 Loose, Gerhard 26 Luckmann, Thomas 129, 131, 133, 137–139, 142, 144, 147–151, 154–

383

156, 172, 181, 183, 186, 191, 221, 225, 233, 235, 239, 242, 247 f., 250, 264, 275, 286–288, 303, 338, 362, 365, 372, 374 Ludwig, Heinrich 205, 223, 235, 243, 247, 253, 303, 365 Ludz, Peter C. 259 Lübbe, Hermann 84 f., 87, 91, 169, 172, 342, 346 Luhmann, Niklas 83, 175, 188, 216, 218, 220, 224, 235, 239, 241, 243, 247, 253, 283, 303, 305, 365 Lukács, Georg von 45 Luther, Martin 42, 71, 267 Macha, Josef 131 Machiavelli, Niccolò 42, 81 MacRae, Donald G. 349, 353 Maier, Hans 169 Malinowski, Bronisław 176, 178, 182, 201, 230 f., 233, 238 Mann, Thomas 42 Mannheim, Karl 137, 231 Marcks, Erich 353 Marcuse, Herbert 82 Marcuse, Ludwig 97 Marhold, Wolfgang 171, 216 f., 220, 231, 242, 248, 286 Marsch, Wolf-Dieter 190, 199, 216, 237 Marty, Martin E. 102 Marx, Karl 15, 71 f., 74, 83, 86 f., 95, 127, 159–161, 181, 197 Matthes, Joachim 19, 60, 104 f., 109, 120, 125, 129, 145, 151, 163 f., 171 f., 174, 176, 193 f., 202, 204, 211–214, 220–222, 227, 230, 233 f., 239, 242, 246, 253, 276, 278 f., 284, 286, 366 Mauss, Marcel 16 Mayer, Carl 307 Mayntz, Renate 202, 232 Mayo, Elton 6, 10 Mead, George H. 180, 191 Meister Eckhart 95

384

Personenregister

Menges, Walter 212 Menne, Ferdinand W. 248, 361 Merton, Robert K. 6, 83, 99, 120, 202, 229, 234, 277 Meslier, Jean 162, 164 Mette, Norbert 315 Metz, Johann Bapist 313 Meurer, Bärbel 338 Meyer, Johannes 295 Micha aus Moreschet 67 Michels, Roberto 49 Milanesi, Giancarlo 202, 210 Miller, Delbert Charles 7 Mills, Charles W. 180 Mitscherlich, Alexander 3, 8 f., 11–13, 183, 188 Mitscherlich, Margarete 183 Moberg, David O. 104 Mörth, Ingo 209, 226, 228, 235, 241– 243, 255, 285 f. Mohaupt, Lutz 238 Mol, Hans 246, 248, 303, 376 Molitor, Hansgeorg 257, 259 f., 262, 265, 288 Mommsen, Wolfgang J. 46, 338, 352 Montesquieu, Charles de 162 Monzel, Nikolaus 212 Moore, Wilbert E. 202 Müller, Friedrich Max 167 Müller, Horst 36 Napoléon Bonaparte 67 Nash, David 134 Naumann, Friedrich 61, 356 f. Neander, Joachim 258, 261 Nelson, Geoffrey Kenneth 250 Neuhaus, Richard J. 144 Niebergall, Friedrich 265, 316, 328– 330, 342 Nietzsche, Friedrich 3, 26 Nipkow, Karl Ernst 361 Nolte, Ernst 46 Nottingham, Elizabeth 225

Oberndörfer, Dieter 97 O’Dea, Thomas F. 181, 226, 231, 234, 236, 279 Oelmüller, Willi 251 Oetinger, Friedrich Carl 319 Oettingen, Alexander von 170 f. Oppen, Dietrich von 251 Ortega y Gasset, José 2, 188 Otto, Gert 222 Otto, Rudolf 259 Packard, Vance O. 192 Palyi, Melchior 163 Pannenberg, Wolfhart 131, 269, 285, 300 Pareto, Vilfredo 84, 236 Parsons, Talcott 60, 72, 98, 176, 178, 201–210, 213, 220 f., 223–226, 231– 239, 241, 256, 283 Paulus 183 Perikles 67 Peter-Habermann, Inge 252, 368 Pfister, Bernhard 41 Pfleiderer, Otto 60, 355 Pickering, William S. F. 182, 246, 249 Platon 85 Plessner, Helmuth 45, 138 Pollis, Nicholas P. 6, 252 Popitz, Heinrich 184, 237 Prades, José A. 60 Preuß, Hans 258 f. Preuß, Hugo 46 Pullberg, Stefan 137 Quételet, Lambert A. 171 Quinley, Harold E. 120 Rabe, Horst 257, 288 Radcliffe-Brown, Alfred R. 202 Rade, Martin 296, 322, 334 Rammenzweig, Guy W. 237 Reifenberg, Benno 44 Reiser, Helmut 181 Reitsema, Gaathe W. 285

Personenregister

Rendtorff, Trutz 91, 116, 169, 172, 175, 185, 197, 199, 212, 220, 223, 236 f., 239, 246, 252 f., 286–288, 298, 303 f., 307 f., 314, 322, 346 Renz, Horst 296 Rex, John 235 Rich, Arthur 1 Rickert, Heinrich 53 Riedel, Ingrid 371 Riesman, David 192 Rilke, Rainer Maria 95 Ringeling, Hermann 199 Ringer, Benjamin B. 120 Ritschl, Albrecht 297, 344 Rocher, Guy 202 Röhrich, Lutz 274 Rössler, Dietrich 166, 169, 237, 246, 249, 252, 257 f., 261, 263, 270 f., 278, 287, 289, 292, 298, 309 f., 313, 315, 369, 376 Roethlisberger, Fritz J. 6 Rossi, Peter H. 37 Roth, Guenther 72, 83 Rothe, Richard 297, 367 Rothert, Hans-Joachim 264 Roucek, Joseph Slabey 66, 69 Rousseau, Jean-Jacques 162 Roy, Ralph F. 250 Rudolph, Wilhelm 316 Rüegg, Walter 10 Rüschemeyer, Dietrich 205, 224 Ruh, Ulrich 304 Saint-Simon, Claude-Henri de 162, 164 Salomon, Gottfried 3 Sandberger, Jörg V. 316, 332, 342 Sarason, David 290 Savramis, Demosthenes 129 Schaaf, Julius J. 53, 284 Schäfer, Dietrich 25 Schaeffler, Richard 159 Scharfenberg, Joachim 181, 183 Schatz, Oskar 148, 172 Scheler, Max 137, 173

385

Schelsky, Helmut 8, 10 f., 116, 147, 204, 212, 236, 250, 254, 279, 310, 370 Schelting, Alexander von 52, 337 Schian, Martin 318 Schibilsky, Michael 248 Schieder, Wolfgang 258, 260, 264 f., 288 Schiller, Karl 51 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 60, 258, 262, 264 f., 267 f., 270, 297, 355 Schluchter, Wolfgang 201, 303, 339, 345, 359 Schmidt, Gert 43 Schmidt, Gustav 285 Schmidt, Martin 292, 356 Schmidtchen, Gerhard 366 Schmoller, Gustav von 48 Schnädelbach, Herbert 317 Schneider, Johannes 319 Schneider, Louis 100, 170, 211 Schreuder, Osmund 203, 207, 211 f., 218, 243 Schrey, Heinz-Horst 287, 362 Schülein, Jürgen 289 Schütte, Hans-Walter 181 Schütz, Alfred 137 f., 185 Schulz, Gerhard 46 Schwaiger, Georg 356 Schwöbel, Christoph 334 Séguy, Jean 26, 60, 285, 301, 338 Sell, Karl 258, 294 Semler, Johann Salomo 115, 258, 261 Seyfarth, Constans 71, 303, 307, 338, 340, 344 Sheehan, James J. 259 Shils, Edward A. 11 Simiand, François 16 Simmel, Georg 15, 25–32, 34–40, 45, 49, 53, 61, 72, 83, 85, 99, 136, 148, 176, 178, 181, 185, 201, 223, 236, 265, 315 Smelser, Neil J. 142 Smith, William R. 167

386

Personenregister

Sombart, Werner 45, 72, 78, 97, 163, 315 Spaleck, Gerhard 285, 301 Spencer, Herbert 17, 167, 233 Spener, Philipp Jakob 268, 271 Spiegel, Yorick 220, 246 Spiess, Emil 285 Spörri, Hubert M. 300 Sprondel, Walter M. 71, 283, 303, 307, 340 Stahl, Friedrich Julius 169 Stammer, Otto 41, 346 Stark, Rodney 119 f. Staudinger, Hugo 310 Steck, Wolfgang 313 f., 316, 361 Steding, Christoph 42, 46 Stein, Karl Reichsfreiherr vom und zum 353 Stenger, Hermann 250 Stern, William 9 Stoecker, Adolf 324, 358 Stolz, Egbert 304 Stonequist, Everett V. 191 Stoodt, Dieter 188, 216 f., 248 Stouffer, Samuel Andrew 11 Strauss, Anselm L. 180 Strauß, David Friedrich 60, 355 Strotzka, Hans 12 Süssmilch, Johann P. 171 Sumner, William Graham 5 Sumpf, Joseph 17 Sundén, Hjalmar 288 Swammerdam, Jan 85 Tardieu, André 97 Tenbruck, Friedrich H. 5–7, 34, 48, 53, 55, 62, 176, 184, 203–205, 217, 222 f., 226, 237 f., 242, 244 f., 250, 252, 264, 315, 338 Thung, Macly A. 230 Tillich, Paul 105 Tilmann, Raban 131, 172, 205, 221, 232, 243 Timm, Hermann 181, 344

Tindal, Matthew 162 Tiryakian, Edward A. 211 Tisot, Henri 13 Tocqueville, Alexis de 42, 107 Tönnies, Ferdinand 110–112, 118, 354, 356 f. Topitsch, Ernst 47 Treitschke, Heinrich von 25, 48 f. Trillhaas, Wolfgang 131, 262 f., 274, 287 f., 304 Troeltsch, Ernst 42, 45, 53, 61, 223, 259, 265, 283–285, 287, 289–292, 294–311, 315, 323, 328 Tylor, Edward Burnett 17, 167 Ulrich, Hans Günter 248 Vaskovics, Laszlo A. 215 Vierkandt, Alfred 179 Voegelin, Eric 54 Vogel, Ulrike 340 Vogler, Paul 148 Volp, Rainer 283, 310 Voltaire (François-Marie Arouet) 162 Vrijhof, Pieter H. 181, 224, 230, 248 Wach, Joachim 259, 262 Wagner, Adolph 48 f. Wallisch-Prinz, Bärbel 203 Walther, Christian 301 Weber, Alfred 356 Weber, Helene 95, 351–354 Weber, Marianne 44 f., 47, 60, 325, 335 f., 348, 351 f., 354, 357 f. Weber, Max 25, 41–44, 46, 48–51, 53, 56 f., 59–65, 69–78, 81–91, 93–95, 99, 129, 132, 136, 148, 170, 176, 181, 185, 189, 195 f., 204, 218, 223 f., 236, 254, 283 f., 303, 307, 315 f., 318, 321, 323–328, 335–337, 339–345, 347, 349–359 Weber, Max (sen.) 353 f. Weber, Wilhelm 47 Weber-Kellermann, Ingeborg 321

Personenregister

Wehler, Hans-Ulrich 285 Weigert, Andrew J. 225 Weiß, Johannes 335, 337–339, 341, 343, 350 f., 353–355, 357–359 Weissenfels, Urs 3 Weizsäcker, Carl Friedrich von 54 Wendland, Heinz Dietrich 1 Werckshagen, Carl 290 Weyand, Alfons 212 Whyte, William H. 101, 188 Wiegand, Wilhelm 353 Wiese, Leopold von 1 Wilhelm II., König von Preußen, Deutscher Kaiser 46, 82 Williams, Robin M. 97, 106 Wilson, Bryan R. 307 Winckelmann, Johannes 41, 43, 54, 58, 60, 83, 321, 341, 344 Windelband, Wilhelm 45, 53 Winter, Gibson 181 Wintzer, Friedrich 263, 295, 325, 333, 365 Witte, Johannes 318 Wölber, Hans-Otto 217, 219, 293, 313 Wössner, Jakobus 60, 148, 175 f., 215, 241, 275, 286 f., 310, 365 Wolff, Kurt H. 37 Wood, James R. 250 Wrede, William 295 Wurzbacher, Gerhard 215 Yinger, John M. 178, 225, 230, 234, 243, 284 Zabel, Hermann 304 Zahn, Gordon C. 102, 119 Zerfaß, Rolf 222, 283, 314 Zetterberg, Hans L. 120, 241 Zilleßen, Horst 169 Zimmer, Friedrich 295 Zimpel, Gisela 189 Zingerle, Arnold 208, 224, 338 Zollschan, George K. 234 Zulehner, Paul M. 220, 246

387

Sachregister Aberglaube 270, 273, 281 Abhängigkeit 33, 124, 150, 176 f., 179, 190, 198, 254 f., 347 Affekte 58, 79, 179, 342, 346 Aggression 122 Akkommodation 323 Aktivismus 106, 267 Alltag 9, 20, 80, 85, 107, 274, 367, 370 Alltagsethik 63, 340, 343 Alltagsleben 66, 68, 70, 107, 113 f., 116, 152, 176, 273, 275 f., 278, 280, 289, 343, 347, 367 Alltagspraxis 32 Alltagsverhalten 99, 114, 217 Altertum 55 Altruismus 58 Amerika, USA, Vereinigte Staaten 45 f., 80, 97 f., 100, 102 f., 105 f., 108, 110, 131, 133, 135, 202 Amerikanertum 103, 105 Amerikanisierung 207 Amerikanismus 105 f., 133, 135 Amt 319, 325, 327 Amtshandlungen 220 –, kirchliche 212, 372 Anerkennung 191, 214, 294, 320, 324, 351 –, soziale 191 f. Angst 17, 122, 146, 168, 178 Anthropologie 16, 45, 136, 151, 318, 337 Antike 56, 303, 352 Antisemitismus 15, 25, 49 Arbeit 56, 70, 79 f., 114, 219, 289, 335, 367, 373, 375 Arbeiterbewegung 168 Arbeitswelt 154, 187 Architektur 62

Armee 349 Armut 97, 102, 374 Askese 49, 70 f., 79 f. –, innerweltliche 65, 70, 79, 91, 94, 344 Atheismus 131 Aufklärung 161 f., 164–167, 174, 256 f., 265, 270, 306 Autonomie 113, 157, 169, 270, 309 Autorität(en) 23, 50, 107, 126, 130, 323, 348 Beamtentum 349 Beginen 70 Beichte 95 Bekehrung 17, 124, 373 f. Beruf 71, 80, 93, 154, 220, 335, 344, 366 f. Berufseintritt 182 Berufsethik 343–345 Berufsethos 79 –, asketisches 306 Berufsleben 80, 253 Berufsmensch 82 Bestattung 124 Betriebskapitalismus 62, 301, 345, 347 Bewußtsein 4, 10, 20, 47, 54, 57, 71, 75, 108, 130, 136, 139, 144, 172, 174 f., 177, 252, 276 f., 294, 315, 317, 330, 342 –, religiöses 108, 178–180, 183, 186, 190, 193–195, 198, 217 Bildung 68, 171, 217, 261, 270, 277, 293, 322 f., 353, 366 Biographie 36, 63, 144, 157, 182–184, 190, 192, 249 f., 373 Bourgeoisie 106, 166 Brauch 59 Buddhismus 69

390

Sachregister

Bürgerstaat 153 Bürgertum 106, 164, 166–168, 321– 323 Bürokratie 82–85, 88, 94, 116, 189, 237, 349 Calvinismus 42, 56, 66, 77 f., 80 f., 94, 344 Chaos 85, 140 f., 341 Charakter 4, 12, 354 Charisma 66–68, 76 Charismatiker 67 f. Christentum 152 f., 167–169, 172, 199, 231, 247, 267 f., 291, 294, 307, 319, 322 f., 325, 328–330, 332–334, 351, 355–357, 363 –, liberales 61, 95 –, religionsloses 145 Christentum Christi 335 Christentumsgeschichte 116, 140 Christentumstheorie 287 Christlichkeit 327, 330 Cliquen 6 collegia pietatis 268, 271 Communauté de Taizé 363 corpus christianum 165 Dämon(en) 63, 89 Dankopfer 20 Dauerreflexion 250 Demokratie 25, 106, 237 Denominationen 98 Desintegration 13, 218 f., 231 f., 234, 246, 275, 277, 305 Desorganisation 169, 234, 247, 278– 280, 307 Devotionalismus 114, 123, 276 Dezisionismus 42 Diakonie 218 Diakonik 314 Dialektik 142, 162, 353, 367 Diesseits 64, 79, 141, 159, 185, 193, 198, 252 Differenzierung 69, 152 f., 161, 176,

187, 204 f., 273, 303, 306, 308, 310, 365–368, 370 Differenzierungsprozeß, Differenzierungsprozesse 111, 143, 274, 304, 307–309, 366 Distanz 2 f., 9, 19, 50, 61, 63, 103, 133, 136, 162 f., 168, 177, 185, 195, 198, 217, 244, 252, 288, 337, 351, 367, 369 Disziplinierung 23, 359 Dogma, Dogmen 51, 116, 123 f., 268, 294, 300, 366 Dogmatik 35, 52, 124, 217, 262, 292, 294, 298, 300, 313 f., 317 f. Dominikaner 70 Drei-Stände-Theorie 271 Dynamik 75, 102, 106, 316 –, soziale 165, 193, 266 Effizienz 190 Ehe 59, 114, 140, 219 Eigeninteressen 58 Ekklesiologie 293, 334 Elend 168 –, soziales 102, 105 Emanzipation 9, 63 f., 82, 165 f., 263, 297, 313, 321–324, 342, 346, 367, 369 Empirie 206, 265, 286, 317, 319 England 17, 77, 162 Enkulturation 9, 221 Entfremdung 35, 89, 127, 141, 197, 199 Entkirchlichung 143, 154, 171 f., 322, 364 Entsakralisierung 154 Entscheidung(en) 9, 50, 52, 57, 67, 87 f., 92, 217, 227, 357, 371 Entwicklung 12, 17 f., 34, 62, 71, 75 f., 78, 81 f., 86, 91, 101, 110, 117, 122, 132, 153, 165, 167–169, 186, 205 f., 215, 218, 238, 241, 262, 284, 291– 293, 296, 327 f., 330 f., 339 f., 346 f., 349, 351–353, 357 Entzauberung 67, 84 f., 91 f., 94, 132,

Sachregister

143, 154, 347 f. Entzweiung 266, 268, 271, 274 Erfahrung 32, 63 f., 122, 124 f., 145, 150 f., 153, 156, 179, 187 f., 190, 196 f., 206, 216, 245, 248 f., 253, 263, 278, 287, 290, 299, 301, 310, 316, 318, 320 f., 330 f., 334, 340, 345, 350 f., 353 f., 367, 369, 371, 375 –, religiöse 124 Erfolg 59, 106, 134, 196, 343 Erfolgsethik 339 Erkenntnis 21 f., 24, 38 f., 47, 50 f., 54, 88, 129, 170, 173, 178, 186, 206, 216, 240, 293, 298, 301, 320, 322, 326, 329, 333, 335, 347 f. Erkenntnisinteresse 54, 62, 160, 165, 221, 283, 303, 311, 337, 352 Erlebnis 32, 57, 64, 112, 124, 179, 186, 225, 320, 342 Erlösung 92, 141 Erlösungsbedürfnis 345 Erotik 346 Erster Weltkrieg 15, 45 f. Erwählung 78 f. Erweckungsbewegung(en) 98, 266, 307, 322 Erwerbstrieb 73 Erziehung 9, 81, 111, 113 f., 116, 134, 171, 177, 216, 324, 332, 334, 351, 353 Ethik 12, 66, 94, 107, 299–302, 322, 333, 343, 351 –, religiöse 64, 69, 348, 355 Europa 2, 44, 47, 72 f., 98, 167, 207, 363 Evangelisch-sozialer Kongreß 44, 95, 324, 357 f. Evangelium 133, 324, 334, 351 Evolutionismus 19, 168, 229, 233 Existentialismus 45, 145 Existenzphilosophie 157 Familie 6, 8–10, 12, 26, 111, 113 f., 149, 157, 171, 182, 185, 215, 278, 351 f., 354, 367, 372

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Familienleben 4, 154, 219, 351 Faschismus 42, 49 Feste 20 f., 25 Festlichkeit(en) 20–22, 24, 134 Feudalismus 164, 167 Fortschritt 17, 25, 50, 86, 153, 156, 163, 166, 168 f. Frankreich 16 f., 25, 97, 110, 162, 164, 171 Franziskaner 70 Freiheit 34, 50, 57, 66, 82, 87, 89, 93, 106, 144, 155, 157, 196, 199, 254 f., 308 f., 332, 337, 342, 349, 375 Freizeit 104, 111, 134, 154, 185, 212, 366 Fremdbestimmung 82, 293, 309 Freude 95, 179, 354, 358 Friedensbewegung 363 Frömmigkeit 35 f., 77 f., 80, 114 f., 126, 219, 257–274, 276–281, 285 f., 288– 296, 298 f., 301, 303, 306, 308–310, 321, 327 f., 330, 332, 341, 344, 353 f., 363 Frömmigkeitsbegriff 262, 297, 309 Frömmigkeitsforschung 258–260 Frömmigkeitspluralismus 294, 296 f., 308 Frömmigkeitspraxis 294, 298, 302 f. Frömmigkeitstradition 263 Frömmigkeitstyp 264, 274–276, 278– 281, 290, 327, 329 Fundamentalismus 126 Funktionär 4, 117 Gefühl(e) 24, 33, 124, 133, 178 f., 193, 268, 303, 335 Gefühlsenergien 29, 179 Gehorsam 57, 113, 255, 320, 375 Geisteshaltung 62, 74 Geldhandel 76 Gemeinschaft 20 f., 30, 39, 102, 111, 133 f., 219, 226, 269, 289, 320, 367 Generationenkonflikt 48, 130 Genossenschaft 59

392

Sachregister

Gerechtigkeit 31, 69, 141, 334 Gesamtpersönlichkeit 309 Geschichte 16 f., 28, 30, 33, 48, 52, 57, 74 f., 89, 136, 141, 143 f., 150, 159, 255, 257, 274, 286–288, 292, 299 f., 314, 320, 323, 326, 337 Geschichtlichkeit 149, 196 Geschichtsprozeß 81 Geschichtsschreibung 53, 261 Gesellschaft 1–3, 5, 7–9, 15, 18, 22– 25, 27–40, 52, 55, 57, 66, 71, 73, 76, 82, 85–90, 93–95, 97, 99–101, 103 f., 106, 108, 110–119, 121 f., 132–136, 138–145, 148–157, 163–183, 185– 199, 206 f., 209–211, 213–219, 225– 227, 229–232, 234–236, 239–243, 245–247, 250–255, 257, 264 f., 269, 274–276, 286 f., 289–291, 296 f., 301, 304–306, 313, 315, 320, 324, 326, 334–336, 340, 345, 347, 349, 354, 356–358, 361 f., 364–372, 374 f. Gesellschaftsanalyse 61, 186, 230 Gesellschaftskritik 127, 197 Gesellschaftsnormen 8 Gesellschaftstheorie 98, 160, 164, 176, 203 f., 213, 226, 228, 235, 240, 265 Gesetz(e) 30, 53, 107, 140, 143, 155, 217, 222, 291, 305, 328, 347, 357 Gesetzmäßigkeiten 53, 56 Gesinnung 73, 261, 293, 298, 300, 324 Gesinnungsethik 93 f., 196, 339, 356 Gesundheit 107, 186 f. Gewissen 8, 107, 133, 178 Gewißheit 79, 138, 140, 177, 244, 331 Glaube 17, 22, 24, 27, 36, 51, 56, 69 f., 77–80, 84, 94, 98, 106 f., 112, 114 f., 121–126, 132, 136, 141, 159, 168, 177, 183, 215, 268–270, 272, 278, 288, 307, 333, 344, 347, 366, 371 Glaubensgemeinschaften 98 Glaubenssatz, Glaubenssätze 20–22, 79, 121, 123 Glaubenssystem(e) 104, 112 f., 373 f. Glaubensvorstellungen 23, 25

Glück 31, 37, 107, 144 Glückseligkeit 163 Gnade 141 Gnadenwahl 78 Gorleben 255 Gotik 62 Gott, Götter 16, 20–24, 26 f., 31, 33– 35, 37, 63, 66 f., 70 f., 78 f., 85, 93, 95, 107, 122, 140 f., 145 f., 169, 196, 263 f., 319 f., 324, 328 f., 332–334, 344, 358 Gottesdienst 98, 124, 140, 261 Gottesdienstbesuch 122, 212 Gottesgedanke 27 Gottesstaat 153 Großstadt 110–112, 117, 125, 324 Gruppe(n) 1, 3–14, 21 f., 69, 98, 102– 106, 113, 115–118, 120, 122, 134, 143, 156, 187, 191, 196, 206, 213, 225, 233 f., 238, 251, 253, 259, 264, 276, 280, 295, 300, 305, 308, 310, 361 f., 369, 374 f. Gruppendynamik 3, 157, 225, 250 Güter, soziale 34 Güterethik 306 Handeln, soziales 57, 59 f., 176, 178 f., 225, 236, 243, 247, 342 Handlungsbegriff 57 Handlungschancen 57, 59 Heil 31, 33 f., 37 Heiliger, Heiliges 20, 22 f., 42, 124, 147, 151 f., 219, 226, 293 Heilsversprechen 375 Heirat 22, 182, 220 Hermeneutik 62, 91, 342 Herrschaft 16, 34, 55, 57, 60, 64, 71, 83, 92, 166, 189 f., 195 f., 255, 343, 347 Herrschaftswille 79 Historisierung 265, 299 Historismus 323 Hochkultur(en) 152 Holocaust 255

Sachregister

Homiletik 295, 314, 333, 361, 363 Humanismus 352 Ideal(e) 40, 58, 152, 375 Idealtyp(us) 55–57, 60, 83, 91, 267, 336, 342, 344 Identität 27, 30 f., 36, 40, 87, 93, 103, 118, 156, 180–187, 189–193, 195– 197, 199, 210, 251, 253, 265, 268, 272, 303, 309 f., 314, 364 f., 372, 375 Identitätsbewußtsein 95, 154, 183, 185, 190 Identitätserfahrung 278 f. Identitätssicherung 181, 251 Ideologie(n) 50, 52, 75, 85 f., 97, 106, 138, 154, 165, 188, 196, 215, 218, 318, 359 Ideologiekritik 194, 197, 272 Immanenz 146 Imperativ, kategorischer 57 Imperialismus 42 Indigenisation 319 Individualethik 3 Individualismus 3 f., 42, 106, 308 f., 329 f., 375 Individualität 23, 30, 116, 126, 148, 180 f., 183–185, 191 f., 249, 278, 330, 332, 368 Individuation 183, 308 Individuum, Individuen 1–12, 23, 27 f., 30, 33 f., 38, 40, 54, 57, 75, 80, 87– 90, 107, 114, 116, 120–122, 126, 144, 150, 155–157, 181, 183, 188 f., 208– 210, 217, 236 f., 247, 251, 254, 263, 268, 278 f., 301, 308, 310, 330, 341 f., 345, 347, 355, 367, 369, 371 Industrialisierung 2, 110, 143, 171, 328 Industriegesellschaft 110, 113, 117, 154, 216, 363 Industriestaat 301 Inkarnation 143, 319 Innerlichkeit 262, 324 Institution(en) 35, 48, 59, 112, 115 f., 126, 130, 136, 139 f., 149, 152–154,

393

157, 164, 171, 209, 221, 236 f., 248, 254, 263, 267–269, 271, 275, 280, 287, 301, 349, 368–371 Institutionalisierung 151 f., 208, 213, 267, 279 Institutionsmuster 29 Instrument 56, 130, 132 Integration 9, 13, 15, 21, 85, 103, 105 f., 108, 133, 141, 208 f., 216–218, 221 f., 230–232, 249, 308, 367, 374 Intellektuelle(r) 69 f., 138, 353, 363 Intentionalität 58 Interaktion(en) 59, 139, 177, 210 Interesse(n) 1, 7, 15, 42, 45, 47, 54, 59– 61, 64–66, 68, 75, 95, 99–101, 106, 108, 121, 129, 157, 161–164, 166– 170, 173–175, 182, 193 f., 198, 204, 206, 220–222, 224, 237, 240, 260, 263, 265, 272–274, 281, 283, 287 f., 300, 305 f., 317 f., 320 f., 325–327, 329, 335–337, 341 f., 347 f., 351, 354, 357, 361, 365, 368 Internalisierung 138 f., 150 Intuition 53 Ironie 185 Israel 143 Jainismus 69 Jenseits 24, 33, 35, 64, 70, 140 f., 145, 175, 185, 193, 198, 252 Jesuiten 70 Jesus-People 144 Judentum 76 f., 112 Jugendliche 7, 216, 363 Jugendreligionen 361, 373 Kampf 59, 70, 86, 289, 331 Kanonisierung 43 Kapitalismus 55 f., 71–74, 76–78, 80– 83, 85, 88–90, 94 f., 344 f., 348 –, okzidentaler 56, 61, 72 Kategorie(n) 1, 7, 30, 60, 111, 154, 166, 206, 226, 241, 296, 318, 325 Katholizismus 18, 80, 95, 106, 112,

394

Sachregister

124, 164, 167 Kausalität 106, 242 Kind(er) 8, 12 f., 33, 134, 146, 156, 171, 215 f., 256, 362 Kirche(n) 18, 35, 39, 48, 55, 57, 59, 61, 80, 93, 98 f., 101, 104 f., 108, 116 f., 121–124, 126, 130–136, 143–145, 148, 152 f., 156 f., 159, 162, 164 f., 168–174, 185, 193, 198 f., 205, 211– 213, 216–219, 222, 230, 247, 261– 263, 268, 271–276, 281, 285 f., 288 f., 292 f., 296, 298 f., 302, 306 f., 317, 319–324, 329, 331, 333 f., 345, 356, 361–363, 366–371, 376 Kirchenapologetik 281 Kirchenbegriff 263, 291 Kirchendistanz 321 Kirchendisziplin 294 Kirchengemeinde 125, 147, 156 f., 213 f., 219 Kirchengeschichte 292, 295, 313, 317 Kirchenglaube 321 Kirchenkritik 363 Kirchenkunde 318, 321 –, empirische 318 Kirchenmitgliedschaft 101, 370 Kirchensoziologie 148, 173 f., 201–205, 214, 221–224, 239–242, 255 f., 286, 288 Kirchentreue 156, 172, 195, 215 f., 250, 276, 287 Kirchenverfassung 294 Kirchenzucht 212 Kirchenzugehörigkeit 220 Kirchlichkeit 99, 115, 118 f., 130 f., 135, 148, 164, 166, 169 f., 172–175, 186, 193–195, 197, 199, 213 f., 220, 228, 248, 267, 269, 272, 275–277, 285– 288, 290, 303, 320, 327 f., 337, 364, 367, 370 –, distanzierte 276, 307 Klassenkampf, Klassenkämpfe 95, 271, 347 Klassenzugehörigkeit 114, 194

Klerus 18, 162, 271 Kloster 57, 70 f., 306 Kollektiv 4, 12, 189, 207 Kollektivverhalten 2, 7 Kollektivwillen 38 Kommunikation 117, 139, 152, 177 f., 187, 189, 251, 253 Kommunismus 105 Komplexität 53 f., 87, 110, 152 f., 187, 195–197, 254, 289, 304 f., 308 Kompossibilität 306 Kompromiß 70, 311 Konfession(en) 18, 49, 90, 103–105, 112, 114, 117–119, 135, 144, 233, 260 f., 363 Konfirmation 156, 182, 356 Konformismus 331, 357 Konformitätsdruck 181, 183, 185, 251 Konkurrenz 28, 59, 69, 143, 154, 187, 215, 246, 275 Konstruktion, idealtypische 55, 339 Konsumverzicht 79 Kontemplation 70 Kontingenz 64, 245 Kontingenzbewältigung 243, 255 Kontrolle 79, 92, 111, 212, 228, 355 –, soziale 10, 107, 209, 278 Konvention(en) 59, 67, 111 f. Konvergenz 313, 316, 350, 355 Konversation 187, 374 Konversion 136, 373 Kosmologie 371 Kreativität 9, 284 Kreatürlichkeit 79 Kreaturvergötterung 79 Krieg 30, 183 Kult(us) 16, 20, 25, 38, 106, 375 Kultur 7 f., 11, 16, 18, 34, 50, 55, 65, 69, 75, 83, 91, 94, 103, 105, 107 f., 118, 121, 138 f., 149, 155, 175, 209, 227, 232, 258, 265, 276, 286, 292 f., 299, 310, 313, 320, 322 f., 326 f., 334– 336, 340, 345, 348 f., 353 f., 356–358, 365, 374

Sachregister

Kulturbedeutung 54–56, 60, 72, 91 Kulturgebilde 7, 12 Kulturgeschichte 68, 323, 326 Kulturgüter 9, 50 Kulturmensch(en) 73, 349 Kulturprotestantismus 355 Kulturreligion 99 f., 105–108, 118, 125, 133, 142, 170, 199, 364 Kulturreligiosität 217 Kulturstil 280 Kultursystem 209 f. Kulturwerte 88, 301 Kulturwissenschaft 53, 55, 60, 62, 257, 321, 350 Kunst 16, 32 f., 305, 346 Kybernetik 314 Laizismus 18 Lebenserfahrung 300, 314, 319, 371 Lebensführung 62–64, 66, 77, 79, 88, 95, 113, 249, 306, 340 f., 346, 350, 355, 366–371 Lebensgeschichte 12, 219, 278, 352, 372 f. Lebenshaltung 66, 69, 79 Lebensmacht 333, 336, 346 Lebensphilosophie 29 Lebenspraxis 144, 159, 266, 314 Lebenssinn 237, 245, 369 Lebensstabilität 138 Lebensstil 80, 102, 351, 363, 375 Lebensweise 67, 94, 373 Lebenswelt 76, 82, 215, 242, 253, 303, 315, 349, 355 Lebenswirklichkeit 188 Lebenszyklus 249, 372 Legitimation 139, 210, 216, 218, 226 Legitimität 140, 161, 165 f., 169, 242 Leiblichkeit 149, 319 Leid 63, 141, 179, 210 Liberalismus 42, 231 Liebe 30, 179, 269, 347 Luthertum 70, 79 f.

395

Macht 16, 20–22, 24, 92, 150, 190, 289, 346–348 Magie 65 f., 340 Markt 29, 59, 134 f., 142, 144, 155 Marxismus 130, 168 Massendemokratie 349 Massengesellschaft 1 Massenmedien 11, 101, 143, 171, 363 Massenpsychologie 2–4, 7 Materialismus 74, 168 Meditation 375 Medizinmänner 152 Mehrdimensionen-Modell 119, 123, 125 Mennoniten 77 Menschenbild 236 Meta-Ethik 52 Metaphysik 269, 335 Methodismus 80 Milieu 75, 171, 191, 214, 353, 362, 373 Mission 319, 374 –, Innere 325 Missionswissenschaft 319 Mittelalter 70, 76, 140, 303 Mobilität 106, 110, 113 f., 118, 191 f., 195, 197, 250, 372 f. Modernität 110 f. Mönch 70 Mönchtum 269 Monarchie 353 Moral 24, 51, 93, 95, 106 f., 122, 133, 153, 171, 268, 283, 358 f., 363, 366 Musik 62 Mystik 94, 307 –, weltflüchtige 65, 70, 94, 344 Mythos 42, 356 Nation 16, 25, 97, 334, 353 Nationalität 49, 103 Nationalökonomie 16, 44, 47 f., 53, 72 Nationalsozialismus 7 Natur 21 f., 33, 54, 63, 73, 79, 85, 124, 136, 138, 150, 154, 168, 342 Naturalismus 65 f., 323, 340, 356

396

Sachregister

Naturbeherrschung 29 Naturerklärung 323 Neo-Idealismus 53 Neubildung 95, 300 Neukantianismus 53 Neuzeit 55, 71, 76, 170, 247, 266, 281, 303 f., 306, 309, 315, 327, 329, 331, 333 f., 341, 344, 358 Nordamerika 72 f., 105 Norm(en) 8, 10–13, 23, 108, 116, 139, 153, 173, 178, 210, 212, 216, 220, 246, 288, 308, 348, 355 Nutzen, sozialer 163 Öffentlichkeit 5, 254, 268, 271, 367 Offenbarung 132, 159, 269, 293, 320 Okzident 62 Operationalisierung 125, 227 f., 244, 287 Orden 307 Ordnung(en) 23, 29, 33, 59, 133, 135 f., 140, 144, 146, 152, 163 f., 178, 180, 196, 208, 216, 221 f., 232, 267, 292, 342, 349, 357 –, hierarchische 64, 178 Organisation(en) 56, 84, 102, 104, 112, 116–119, 134, 152, 174, 185, 190, 193, 196, 207, 215, 218, 262, 271, 278, 280, 301, 306 f., 310 Orient 72 Orthodoxie 114 f., 123, 126, 133, 136, 199, 272, 276 Paradigma 60, 91, 211, 239, 289 Parlamentarismus 45 Pastoraltheologie 314, 317 Pazifismus 348 peer group 7 Pension 182 Persönlichkeit(en) 6, 30, 42, 47, 68, 77, 80, 120, 126, 184, 237, 274, 290, 309, 330, 335, 340, 348, 354, 356, 359 Persönlichkeitssystem 208–210 Person(en) 2, 6, 8–10, 12, 16, 40, 68,

80, 88 f., 122, 141, 148, 154, 157, 181, 186, 191, 197, 209 f., 232, 238, 287, 337, 347 Pfarrer 124, 317, 325, 353, 356, 358, 367 Pflichttreue 58 Phänomenologie 138, 273 Philosophie 27 f., 44, 153, 159 f., 164, 167, 257, 318, 337 Pietismus 80, 260, 266–269, 272 Pluralismus 51, 67, 85, 97, 99, 103 f., 110, 117, 142 f., 195, 233, 307, 310, 368 Pluralität 5, 155, 306, 320 Poimenik 314 Politik 46, 49, 51 f., 81, 90, 92 f., 98, 111, 185, 187, 205, 209, 215, 305, 338, 346 f., 357–359, 365 Polytheismus 50, 67, 85, 88 Positivismus 42, 51, 85, 168, 315, 340 Prädestination 78 Pragmatismus 97, 297 Praxis 32, 77, 87, 105, 114, 121 f., 124 f., 174, 194, 196, 198, 212, 215, 221, 268, 270, 272, 295 f., 313, 317 f., 323, 333 f., 341, 349 f., 359, 361 praxis pietatis 270 Predigt 61, 68, 321, 324, 332 f. Predigtlehre 332 Predigttheorie 361 Prestige 122, 192 Priester 24, 68 f., 124, 152 Priesterhierarchie 68 Priesterreligion 66 Priestertum 65, 69, 271 Privatfrömmigkeit 261 Privatisierung 92, 134, 155, 157, 170, 247, 254, 310, 367–369 Privatleben 5, 44, 154, 192 Privatsphäre 112 f. Profanisierung 154, 364 Propheten 42, 49, 57, 66–71, 94, 355 Prophetie(n) 66–69, 355 –, jüdische 66, 76

Sachregister

Prophetismus 324 Protestantismus 26, 55, 77, 81, 112, 260, 306, 331, 343–345 Psyche 297 Psychoanalyse 1, 122, 130, 157 Psychologie 133 Psychotherapie 145 Puritaner 71, 82 Puritanismus 77 f., 80 f. Quäker 77 Quäkertum 80 Quietismus 79, 190 Rationalisierung 41, 61, 66, 82, 84, 89, 110, 154, 166, 342, 346, 358 Rationalisierungsprozeß 63, 170 Rationalismus 42, 55, 63, 66, 82, 92, 272, 340, 343 f. Rationalität 52, 60, 63, 65, 73, 76 f., 80, 84, 88 f., 92, 339–341, 343 f., 347, 349, 354 f. Realismus 293, 313, 320, 328, 331 Realität 35, 52, 55 f., 125, 132, 146, 177, 179, 195, 212 f., 258, 263, 342, 345 f., 350, 358 f. Realitätsbewußtsein 350 Recht 16, 59, 92, 98, 250, 305, 357, 365 Rechtfertigungslehre 267 reconquista 145 Reduktion 3, 190, 264 Reflexivität 58, 247 Reformation 70, 74, 143, 162, 260, 266 f., 323, 344, 352 Regel(n) 16 f., 20, 23, 30 f., 57, 66, 83, 107, 113, 124, 160, 298 Regelkreis, anthropologischer 138 f., 144 Regression 156 Religion(en) 15–28, 31–40, 47, 60–65, 67–69, 76 f., 84, 90–92, 94 f., 98 f., 101–104, 106–113, 115–127, 129, 131–137, 139–145, 147–157, 159– 171, 173–183, 186–190, 193 f., 197–

397

199, 210 f., 214, 218–222, 225–232, 234 f., 237–242, 244–247, 251, 253 f., 256 f., 259–262, 264, 268–270, 272, 274 f., 278 f., 281, 285 f., 288–291, 294, 296–301, 304–310, 320, 322 f., 326–331, 333 f., 336 f., 339–343, 345– 350, 353–358, 361–364, 366–369, 371 –, gelebte 247, 317, 319 f., 336 –, natürliche 162 f. –, primitive 17–19 –, prophetische 355 –, unsichtbare 156, 288 Religionsbegriff 146, 149, 170, 225– 228, 233, 285, 287, 298, 315, 364 Religionsdefinition 160, 224 Religionsgeschichte 262, 265 Religionsgeschichtsschreibung 261 Religionskritik 36, 38, 127, 132, 135, 159–164, 167–169, 193, 199, 281, 306, 343, 363 Religionspädagogik 333 Religionspsychologie 263, 288, 330 Religionssoziologie 25 f., 28, 34 f., 37– 39, 43, 47 f., 60–63, 65, 69, 71, 90, 98 f., 108, 115 f., 125–127, 129–132, 147 f., 159, 164 f., 170, 173 f., 181, 193 f., 197–199, 201, 203, 223 f., 231– 234, 236, 239 f., 265, 275, 283, 285 f., 291, 296 f., 302 f., 338 f. Religionsstifter 371 Religionssystem(e) 67, 241, 369 Religionstheorie 24–26, 28 f., 31, 34, 43, 60, 90, 94, 100, 112, 118, 131, 148, 165, 175, 204, 208, 223 f., 230, 232 f., 236, 239, 242 f., 263 Religionswissenschaft 257 Religiosität 27, 32, 35 f., 64, 68, 92, 99, 102, 114 f., 117, 119 f., 122 f., 125– 127, 130, 143, 149, 156 f., 160, 162, 167, 170, 172, 175, 190, 193 f., 197, 222, 225, 227–229, 231, 234, 237, 239 f., 242 f., 247–249, 254 f., 268, 270, 272 f., 275, 277, 286–289, 297,

398

Sachregister

303, 306, 308, 315, 317, 320, 327, 330 f., 341–343, 345 f., 348 f., 351 f., 354 f., 358 f., 361–371, 373, 375 –, magische 65 Renaissance 42, 85, 231 Revolution(en) 25, 141, 161 f., 166, 169 rites de passage 182 Ritus, Riten 20 f., 23, 124, 140, 179, 182, 218, 220, 246 Rolle 10, 13, 184, 208 f., 237, 251 f. Rollenbegriff 209, 236, 251 Rollendiffusion 13, 252 Rollendistanz 252 Rollenfunktionen 88 Rollenkonfusion 13, 252 Rollenspiel 150, 185, 209, 252 f., 368 Säkularisation 143, 145, 166 Säkularisierung 90–94, 102, 108, 112, 118, 129, 142–145, 148, 154 f., 166, 168–175, 186, 195, 242, 304, 322, 362–364, 367 Säkularität 94 Sakralisierung 210, 221, 375 f. Schicksal 44, 85, 89, 93, 148, 157, 183, 185, 249, 267, 337, 348, 371 Schwärmertum 95, 267 Seele(n) 24, 33 f., 36, 63, 87 f., 198, 259, 320, 324, 328–332, 334, 348 f., 353 f., 371 Seelsorge 68, 183, 325, 331–333 Sein 4, 36, 50 f., 85 Sekte(n) 98, 121, 124, 145, 234, 306 f. Sektentum 80 Selbstbewußtsein 10, 17, 164, 166 f., 169, 185, 251, 340, 373 Selbstentfremdung 83, 140, 298, 309 Selbsterfahrung 182, 340, 370, 375 Selbstorganisation 307 Selbstreflexion 198, 370 Selbstverwirklichung 33, 38, 89, 157, 183, 189, 196 Sexualität 157, 187 Sinn 23, 32, 51, 58, 60, 64, 66, 84–86,

88, 92, 133, 139, 141, 144, 150, 156, 183, 186, 220, 237, 244, 347, 349, 369 f. Sinnbezüge 62 Sinnkonstitution 289 Sinnlosigkeit 63, 70 Sinnprovinzen 157, 185, 252 Sinnstiftung 58, 63, 85, 89, 91 f., 177, 183, 340, 348, 368 Sitte(n) 59, 263, 278, 292 f. Skeptizismus 42 Sollen 50 f. Soziale Frage 322, 358 Sozialethik 1, 3, 14, 194 Sozialforschung 148, 171, 204–206, 208, 211, 213 f., 218, 220–224, 240 f., 274, 295 Sozialisation 113, 178, 215 f., 218, 251, 371 –, kirchliche 215 f. –, religiöse 114 f., 329 Sozialisationsprozeß 215, 244 Sozialisationszwang 268 Sozialisierung 9, 150 f., 287 Sozialität 149, 174 f., 178, 180, 186, 228, 245 f., 287, 375 Sozialordnung 141, 163, 199 Sozialphilosophie 28 Sozialprestige 279 Sozialpsychologie 1, 5, 121, 126 Sozialsystem 209 f. Sozialtechnologie 169 Sozialwissenschaft(en) 35, 130, 160, 165 f., 186, 201, 205 f., 224, 257, 313, 350, 359 Soziologie 1–3, 5, 16 f., 24 f., 27–29, 31, 34, 39, 43, 45, 48, 51, 53–57, 59, 110, 119, 126, 130, 145, 148, 156, 160, 163–165, 167 f., 172–174, 184, 191 f., 194 f., 198 f., 201, 203–205, 223 f., 227, 235–237, 240, 283, 298, 301 f., 315 f., 323, 328, 335, 337, 339 f., 349 f., 353 f., 358 f. –, empirische 16

Sachregister

–, formale 29 Soziologismus 24, 194, 314 Spanien 77 Spekulation 206, 225, 297, 335 Spiel 32, 140, 146 Sprache 102, 139, 149, 325 Staat 18, 48, 55, 57, 62, 98, 130, 144, 153, 159 f., 264, 268, 324, 347, 349 Staatskirchentum 95 Stadtkultur 67, 328 Statistik 45 –, kirchliche 318 Status 9 f., 54, 113 f., 162, 296, 362 Strafe 10, 22, 178 Strukturanalyse 112, 226, 236 Strukturfunktionalismus 201, 203–205, 207 f., 212, 220–226, 228 f., 232–235, 237 f., 240, 256 Strukturmerkmal 2, 4, 7, 38, 211, 280 Strukturwandel 110 f., 221, 257 Subjekt(e) 4, 38, 55, 119 f. Subjektivismus 308 Subjektivität 116, 267, 290, 308–310, 329, 375 Subjektivitätsprinzip 309 Subkultur(en) 104, 115, 117–120, 192, 234, 280 f. Symbol(e) 21, 23 f., 106, 121, 149, 247, 370 Synkretismus 307 f. Synthese 30, 97, 105, 231, 302 System(e) 5, 21, 42, 77, 80, 82, 87, 89– 91, 104 f., 112 f., 115, 121, 123, 165, 167, 205–211, 217, 221, 232, 235 f., 238, 241, 245, 253, 269, 276, 318, 333, 366 Systemtheorie 202, 236, 241 Täufertum 80 Taufe 124, 156, 182 Technik 17, 29, 32, 79 f., 168, 323 Tertiarier 70 Theodizee 141, 190, 218 theologia practica 269

399

Theologie 24, 27, 71, 115, 130, 133, 135, 145, 159, 164, 167, 195, 257, 265, 267, 269–275, 285, 291–294, 296–302, 313–315, 322, 329–332, 334, 337, 349, 355 f. –, liberale 356 –, lutherische 267 –, natürliche 147 –, politische 371 –, Praktische 292 f., 295–297, 311, 313– 318, 320–323, 325, 327, 330–335, 342, 349 f., 354, 358 f., 361 f., 365 –, spekulative 269 –, Systematische 285, 318 Tod 18, 63, 68, 129, 141, 145, 183, 220, 246 Totalität 32 f., 85–87, 89, 153 Totem 21 f. Totem-Tiere 22 Totemismus 18, 20, 22 Tradition 2, 67, 102, 134, 150, 153, 205, 223, 257, 263, 267 f., 295, 297, 323 f., 333, 371 –, religiöse 21 Transzendenz 62, 78, 107, 131, 144– 146, 153, 199, 332 Transzendenzerfahrung 157 Transzendierung 9, 150 f. Transzendierungsvermögen 255 Trauung 124, 156, 182 Trieb(e) 8, 31, 79, 334 Triebanlage 11 Triebstruktur 179, 246 Triebverzicht 246 Trinität 143 Typologie 5 f., 65, 123, 289, 307, 340 Überbau-Unterbau-These 74 f. Ultramontanismus 18 Umbildung 297, 300 Umwelt 7, 79, 82, 117, 121, 125, 127, 136, 150, 197, 209, 250, 263, 292, 351, 355 Unfrömmigkeit 277

400

Sachregister

Universität 45, 49, 104, 130, 171, 189 Unkirchlichkeit 322 Unsterblichkeit 34 Urbanisierungsprozeß 110 f. Urchristentum 323 Vaterland 11, 25 Veralltäglichung 66, 68, 76 Verantwortung 2, 4, 87, 93, 149, 155, 344 Verantwortungsethik 94, 311, 359 Verein für Socialpolitik 44, 48 Vereinsfrömmigkeit 281 Vergesellschaftungsprozeß, Vergesellschaftungsprozesse 27, 33 Verhalten 4, 9 f., 12 f., 33, 36, 57–59, 65, 67 f., 107, 109 f., 114 f., 117, 121, 123, 125, 162, 176, 179, 184, 192, 203, 205, 217, 251, 267 f., 276, 278, 286, 288, 341 f., 366, 373 f. Verhaltensmuster 10, 113, 117, 248, 276, 278 Verhaltenssteuerung 245 Verkirchlichung 306 Verkündigung 333, 351, 365, 368 Vermassung 2 f., 103, 188 Vernunft 25, 36, 52, 81, 93, 114, 159, 162 f., 343 –, instrumentelle 92 Versöhnung 31, 69, 322, 356 Verstädterung 110, 112, 118, 143, 171 Vertrauen 146, 210, 352, 358 Verwaltung 49, 69, 83, 92 Volksglauben 164 Volkskirche 98, 311, 321, 323, 329, 331, 334, 353 Volkskultur 274 Volkskunde 257, 260, 321 –, religiöse 264, 295, 321, 328 Volksmission 333 Vorurteil(e) 50, 155, 333 Wahlfreiheit 155, 268, 275 Wahrheit 146, 153, 159, 163, 177, 198,

291, 320, 322, 331, 333, 356 Wallfahrtswesen 363 Weltaktivität 79 Weltanschauung 49 f., 67, 84 f., 88, 110, 114, 150, 217, 221, 298 f., 301, 354, 367, 374 Weltbewußtsein 63, 137 Weltbild(er) 75, 115, 143 f., 318, 323, 329, 374 Weltflucht 70, 79, 348 Weltfrömmigkeit 281 Weltgeist 59, 156 Weltordnung 70, 141 Weltverhalten 65, 69 f., 80, 328, 347 Wert(e) 25, 50, 105 f., 114, 121, 134, 139, 149, 153, 165, 178, 199, 210, 215 f., 276, 301, 308, 330, 349 Wertkonsens 209–211, 213 f., 234 Wertorientierung 113 Wertrationalität 339 Wertsystem(e) 52, 106, 110, 187, 215– 217, 221, 366, 374 Werturteilsfrage 46, 48 Werturteilsfreiheit 47, 50, 57, 60, 90, 131 Werturteilsstreit 47 f., 52, 85 Wertvorstellungen 9, 178 Wille Gottes 34 Wirklichkeitserfahrung 188 Wirklichkeitserkenntnis 55, 294, 297, 335 Wirklichkeitswissenschaft 56, 313 Wirtschaft 77, 79, 84, 92, 111, 114, 130, 135, 149, 305, 347, 365 f. Wirtschaftsethos 343 Wirtschaftsgesinnung 74, 78, 343 Wirtschaftsleben 76, 80, 276 Wirtschaftsmensch 73, 80 f. Wirtschaftssystem 72–74, 79, 82, 344 Wissen 16 f., 51, 81, 125, 138, 159, 176 f., 217, 244, 269 f., 306, 366 Wissenschaft 5, 15–19, 24, 28, 31–33, 36, 38 f., 41, 46 f., 50–52, 54, 57, 61 f., 69, 79–82, 84–86, 90, 92, 94, 111,

Sachregister

132, 160, 168, 171, 173 f., 187, 225, 258, 270 f., 297–300, 305, 314 f., 317, 322, 342, 346–348, 350, 355, 357, 359, 365, 375 Wissenssoziologie 137–139, 142 Zauberer 152 Zeitgeist 19 Zivilreligiosität 217 Zweckrationalität 339 Zweireichelehre 162 Zweiter Weltkrieg 45, 98, 101, 103, 170, 205

401