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German Pages 110 [159] Year 1985
VLADIMIR SOLOV'EV
Der Sinn der Liebe
Übersetzt von Elke Kirsten in Zusammenarbeit mit Ludolf Müller mit einer Einleitung von Ludwig Wenzier und einem Nachwort von Arsenij Gulyga
FELIX MEINER VERLAG HAMBURG
PHILOSOPHISCHE BIBLIOTHEK BAND 373 Titel der Originalausgabe: Smysl ljubvi (1892 –1894)
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INHALT
Einleitung: Leidenschaft, die Glaube wird. Vladimir Solov'evs Philosophie der Liebe. Von Ludwig Wenzier ......................................... VII Daten zu Leben und Werk Vladimir Solov'evs .......... XXXVIII Bibliographische Hinweise ................................... XL V Editorische Hinweise ............................................ IL Vladimir Solov'ev Der Sinn der Liebe Erster Aufsatz .................................................... . Zweiter Aufsatz ................................................. 11 Dritter Aufsatz .................................................. 23 Vierter Aufsatz .................................................. 35 Fünfter Aufsatz .................................................. 53 Anmerkungen zur Übersetzung. Von Ludolf Müller ........... 69 Nachwort: Die ewige Sonne der Liebe. Von Arsenij Gulyga ........................................... 87 Register ......................................................... 105 I. Namen- und Sachregister ................................. 105 Il. Register der Bibelstellen ................................... 109
EINLEITUNG Leidenschaft, die Glaube wird
Vladimir Solov'evs Philosophie der Liebe ·Solov'evs Aufsatz vom .Sinn der Liebe« ist die bemerkenswerteste aller seiner Schriften und sogar die einzige originelle Äußerung über die Eros-Liebe in der Geschichte des christlichen Denkens. [ ... ] Solov'ev ist der erste christliche Denker, der den individuellen und nicht nur den Gattungssinn der Liebe zwischen Mann und Frau wirklich anerkannte.« 1 Sicher kann man hinter dieses Urteil ein Fragezeichen setzen. 2 Immerhin macht es aufmerksam auf ein Werk, das ebenso wie sein Verfasser größte Beachtung verdient. Es ist keine Übertreibung, wenn man Solov'ev »als den bedeutendsten Denker nicht nur Rußlands, sondern der slawischen Völker insgesamt« bezeichnet. J I. Einheit als Gespräch
Eine Annäherung an das vielseitige Werk von Solov'ev sei hier versucht auf dem Weg über jenen Gedanken, der die verbindende und das Ganze bewegende Mitte seines Denkens bildet; dies ist der Gedanke der All-Einheit. 4 Dieser zentrale Gedanke ist nicht als einfache Formel oder als bündiger Begriff zu fassen. Er stellt ein komplexes Ganzes aus eigenster Erfahrung und begrifflicher Deutung dar, das Ganze einer Geschichte. Doch in diese Geschichte kann man eintreten, wenn man die Begriffe, die Solov'ev verwendet, als ·Mitteilungsgesten«5 versteht, als symbolische Ausdrücke, die eine ursprüngliche Erfahrung deuten. Mit dem Begriff der All-Einheit ist diese ursprüngliche Erfahrung nur benannt. Im .Sinn der Lie-
Nikolaj Berdjaev: .Die russische Idee•, 1982, S. 169. 'Vgl. Fedor Stepun: ·Mystische Weltschau•, 1964, S. 56. 3 Gercl-Klaus Kaltenbrunner: Wladimir Solowjews Wiederkehr, m: Stimmen der Zeit 200 (1982), S. 424-427, hier S. 424. 4 Vgl. S. 79, Anm. 103. 5 Fedor Stepun: ·Mystische Weltschau•, 1964, S. 19. 1
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be« wird Solov'ev exemplarisch jene eigentümliche Struktur der Wirklichkeit aufdecken, die der Begriff meint. Zunächst zeigt sich Solov'evs Grundintuition in der Form der Kritik, als »Kritik abstrakter Prinzipien«: »Unter abstrakten Prinzipien verstehe ich jene Teil-Ideen [ ... ], die, vom Ganzen abgezogen und in ihrer Ausschließlichkeit behauptet, ihren Wahrheitscharakter verlieren und, indem sie in Widerspruch und Kampf miteinander geraten, die Menschenwelt in jenen Zustand geistiger Disharmonie stürzen, in dem sie sich bis jetzt befindet.« 6 Die Kritik aber stützt sich notwendig »auf ein gewisses positives Verständnis dessen, was das wahrhaft Ganze oder All-Eine ist«. 7 Für dessen Bestimmung ist es entscheidend zu sehen, daß es zwei einander völlig entgegengesetzte Weisen von Einheit gibt. »Die wahre oder positive All-Einheit nenne ich eine solche, in der das Eine nicht auf Kosten aller[ ... ] existiert, sondern zum Nutzen aller. Die falsche, negative Einheit unterdrückt oder absorbiert die in sie eingehenden Elemente und erweist sich so selbst als Leere; die wahre Einheit erhält und stärkt ihre Elemente, indem sie sich in ihnen als die Fülle des Seins verwirklicht.« 8 Den vollendeten Zustand wie auch die Voraussetzung einer solchen Einheit bildet die Freiheit. Deren Bedingung wiederum ist das Verhältnis zum Absoluten oder zu Gott. Nur wenn die Wesen, zu deren Bestimmung das Bewußtsein von Freiheit und Unbedingtheit gehört, alle in gleicher Weise in Beziehung stehen zu einem schlechthin Unbedingten, nur dann wird ihre eigene, noch potentielle Unbedingtheit durch diese gemeinsame Beziehung so relativiert, daß sie einander nicht im Verhältnis der bloßen Gewalt oder des gegenseitigen Sich-Ausschließens begegnen müssen, sondern fähig werden zur gegenseitigen Annahme, zu einem Verhältnis, das Solov'ev mit den Begriffen der Solidarität und der Liebe beschreibt.9 Will man von leitenden Ansätzen gegenwärtigen Denkens aus einen Zugang finden zu Solov'evs Idee der All-Einheit, die zunächst als bloße Aufnahme neuplatonischen und idealistischen DG, Bd. 1, S. 13. DG, Bd. 1, S. 13f. 8 RG2, Bd. 7, S. 74, Anm. 1. 9 Vgl. DG, Bd. 1, S. 602f.; Bd. 7, S. 350f. 6 7
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Gedankengutes erscheinen könnte, so dürfte dies am ehesten von der Erfahrung des Sprachgeschehens 10 aus gelingen. Solov'ev sieht die Wirklichkeit als das Geschehen einer immer neu sich ereignenden Einheit, die durch den Menschen vermittelt wird. "Der Mensch oder die Menschheit ist ein wesen, das in sich[ ... ]eine gött· liehe Idee, das heißt die All-Einheit oder absolute Fülle des Seins enthält und das diese Idee [ ... ] vermittels vernunftgemäßer Freiheit in der materiellen Natur verwirklicht.« 11 Verwirklicht wird die Ein· heit in den Grundvollzügen des Menschen, die Solov'ev nach der traditionellen idealistischen Vermögenslehre durch Vernunft, Wille und Gefühl bestimmt sieht, und zwar jeweils im materiell-sinnlichen, im sozial-ethischen und im mystisch-religiösen Bereich. Die Verbindung aller Dimensionen der Wirklichkeit zur All-Einheit nimmt so die Gestalten der freien Theosophie, der freien Theokratie und der freien Theurgie an. Eine solche Einheit aber, in die alle Dimensionen der Wirklichkeit eingehen und in der kein Wesen das andere verdrängt, sondern gerade »im anderen« die "fülle seines Seins« erreicht, ist nur denkbar im Modus eines »Gesprächs«, eines »Weltgesprächs«, das zugleich Weltgestaltung und Interaktion ist. Entscheidend bei Solov'evs Konzeption der freien All-Einheit ist der Umstand, daß sie der Mensch nicht von sich aus entwerfen kann; vermöge seiner eigenen Gewalt und Einigungskraft könnte er nur eine negative Einheit schaffen. Die All-Einheit als Verhältnis der Freiheit aber ist dem Menschen nur denkbar kraft eines Auftrags, der von der »Seienden All-Einheit«, von Gott, erteilt wird. Der Mensch kann nur das »Zweite Absolute« sein, das erste Absolute ist Gott. Das erste Absolute >>ist das All-Eine«, das zweite -der Mensch- »wird zu dem All-Einen« 12• Der Mensch kann die Idee der All-Einheit nur empfangen in der Form des Appells. Dieser Appell ergeht vermittelt durch die gegebene Wirklichkeit, insDas Problern der sprachlichen Konstitution von Wirklichkeit ist noch weit von einer Klärung entfernt und an dieser Stelle nicht zu behandeln; zur Notwendigkeit des •Sprachdenkens• als eines Denkens der geschehenden Sprache vgL Franz Rosenzweig: •Kleinere Schriften«, Berlin 1937, S. 373-398: Das neue Denken. II DG, Bd. 1, s. 286. 12 DG, Bd. 1, S. 475. 10
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besondere durch den unbedingten Anspruch des anderen Menschen. Was dergestah den Menschen angeht, das hat auf eine ursprüngliche Weise die Gestalt der Sprache, genauer: des Gesprächs vieler Stimmen, unter denen der Auftrag der All-Einheit gewissermaßen als jene Stimme vernommen wird, die gerade das Gespräch als ethisches Verhältnis, als Verbindung aller anderen Stimmen in der gegenseitigen Anerkennung ihres Anspruchs, gebietet und ord· net. Vernommen wird diese Idee oder Stimme der All-Einheit darum nur in dem Maße, als ein Mensch bereit ist, ihrem Auftrag zu folgen. Was Solov'ev über das Phantastische in der Literatur schreibt, das kann als Paradigma auch für die einzigartige Erfahrung der von Gott kommenden Idee der All-Einheit gelesen werden: »Was aus dem Jenseits herübergreift, kann mit einem feinen Faden verglichen werden, der in das gesamte Gewebe des Lebens unfaßbar eingeflochten ist und vor dem aufmerksamen Blick überall aufblitzt, vor jenem Blick, der fähig ist, diesen Faden in dem groben Muster der äußeren Kausalität zu unterscheiden, mit der dieser Faden stets oder beinahe stets für einen unaufmerksamen oder voreingenommenen Blick zusammenfließt.« 13 Solov'ev gebraucht hier spontan jene Metapher des Gewebes oder "Textes«, die in der neueren Sprach- und Literaturwissenschaft, aber auch in der hermeneutischen und poststrukturalistischen Philosophie eine so fundamentale Bedeutung gewonnen hat. 14 Gerade die Überlegungen zum »Sinn der Liebe« zeigen beispielhaft das Vorgehen eines Denkens, das im aufmerksamen Sich-Einlassen auf das »Gewebe« der geschehenden Wirklichkeit Dimensionen und Verhältnisse aufdeckt, die zunächst verborgen sind und die sich nur dem suchenden Gespräch mit der Wirklichkeit erschließen. Insbesondere die Wirklichkeit des Göttlichen gibt sich immer nur in einem merkwürdigen Zugleich von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, von Anwesenheit und Abwesenheit kund. Nur für den, der zu hören und zu sehen bereit ist, offenbart sich die Wirklichkeit als durchdrungen von dem göttlichen Auftrag, "DG, Bd. 7, S. 379. 14 Vgl. Philippe Forget (Hrsg.): »Text und Interpretation«. Deutschfranzösische Debatte mit Beiträgen von J. Derrida u.a., München 1984 ( = UTB 1257); R. Kühn: •Lektüre, Lesart«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 5, Darmstadt 1980, Sp. 231-234.
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sie in das »Gespräch« der gegenseitigen Anerkennung und Bejahung zu verwandeln. Man kann sogar fragen, ob es nicht genau das »Aufblitzen• dieser Erfahrung ist, die sich bei Solov'ev verdichtet zur Vision der Sophia, der Weisheit Gottes in der Gestalt des Ewig-Weiblichen. Alle diese Beobachtungen, die naturgemäß weiter auszuführen wären, lassen erkennen, daß in Solov'evs Idee der All-Einheit der Begriff einer monologischen Vernunft überschritten wird, ohne daß allerdings der Begriff einer dialogischen Vernunft schon ausdrücklich ausgearbeitet wird. II. Liebe verstehen Solov'evs "Sinn der Liebe« gibt Anlaß, sich grundsätzlich die Schwierigkeiten bewußt zu machen, vor die sich eine philosophische Sinnerhellung des Phänomens der Liebe gestellt sieht, aber auch die möglichen Ansätze zu erkunden, von denen aus diese Aufgabe anzugehen ist. Eigenart und Ursprünglichkeit des Entwurfs von Solov'ev können auf der Grundlage solcher Vorüberlegungen deutlicher hervortreten. Zu lieben und geliebt zu werden, dies ist dem Menschen auf der einen Seite das am meisten Erwünschte; zugleich ist es das Unerklärlichste und Rätselhafteste, das einem Menschen widerfahren kann. Zu lieben und geliebt zu werden ist jene Erfahrung, in der ein Mensch sich auf die intensivste Weise mit sich identisch fühlt, und doch überfällt ihn dieses Erlebnis als etwas Unbegreifliches, als ein "Daimonion«, das »Von außen• in den Menschen eindringt. Es zeigt sich dem Verstehenwollen des Menschen als das ihn zuinnerst Bewegende und als das Vertrauteste und zugleich weigert es sich jedem erschöpfenden Beschreiben oder Erklären. "Was in seinem ganzen Reichtum wesentlich unerschöpflich ist, das ist auch in seinem geringsten Tun wesentlich unbeschreibbar [ ... ].« 15 Doch genau diese eigentümliche Grenze, an die das Denken angesichts der
Sören Kierkegaard: .Gesammelte Werke•. Hrsg. von Emanuel Hirsch und Hayo Gerdes. Abt. 19: Der Liebe Tun. Bd. I, Gütersich 1983, S. 5. 15
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Liebe stößt, nötigt es, »das schärfste Bewußtsein dieses Problems zu nehmen« 16. 1. Vielgestaltigkeit .und Einheit der Liebe
Um Liebe zu verstehen, gilt es, sowohl ihre ganze Vielgestaltigkeit und Vieldeutigkeit wie auch deren Hinordnung auf eine noch nicht erreichte und doch angezielte Einheit der Phänomene und Dimensionen in den Blick zu bekommen. In den Zeugnissen und Deutungen der Dichter kann der Philosoph vor allem die Fülle der Gestalten und Schicksale entdecken. Was jedoch die innere Einheit dieses in so vielfältigen und widersprüchlichen Formen auftretenden Phänomens ausmacht, dies herauszufinden stellt sich als eine Aufgabe dar, die das Denken mannigfachen Irritationen aussetzt. Sicher ist zunächst nur, daß es sich verbietet, Liebe auf ei· ne ihrer Erscheinungsformen oder Dimensionalitäten zu reduzieren. Die Einheit der Liebe ist von jenem Geschehen her zu suchen, das den einen, alles umfassenden Grundvollzug der menschlichen Existenz ausmacht. In der Liebe steht immer das Ganze dieser Existenz in Frage. Dies zeigt sich schon daran, daß keine andere Erfahrung den Menschen tiefer betrifft und erschüttert. Und es zeigt sich an der geheimen - oft übersehenen - Gegenspielerin der Liebe, der Angst vor dem Tode. Erscheint der Tod als die äußerste Bedrohung der menschlichen Existenz, so verspricht die Liebe eine höchste Erfüllung. Aus dem Zusammenhang mit der menschlichen Existenz im Ganzen bestimmt sich der Sinn der Liebe. Erst dieser Sinn gründet die Einheit der Phänomene. Der Sinn der Liebe ist nicht einfach gegeben. Er ereignet sich erst da, wo es zur Entsprechung, zur gelingenden Übereinstimmung eines Anspruchs und einer Antwort, eines Angebotes und einer Erwartung kommt. Es ist der Sinn der Liebe, solche Entsprechungen zu ermöglichen. Weil es auf den verschiedenen ..Ebenen« der menschlichen Existenz zu diesen EntGabriel Marcel: •Notes pour une philosophie de l'amour«, in: Revue de Metaphysique et deMorale 59 (1954), S. 374-379, hier S. 379. 16
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sprechungen kommt, deshalb gibt es die unterschiedlichen Gestalten der Liebe. Was dabei irritiert, ist der Umstand, daß Inhalt oder Ziel aller gelingenden Entsprechungen letzten Endes wieder die Liebe ist. Als Sinn der Liebe erweist sich so die Ermöglichung neuer Liebe oder die »Unendlichung« von Liebe. Nur in der Einheit der »unendlichen Geschichte« von Liebe kann sich die Einheit aller Weisen der Liebe gründen. Die weitere Frage, was dann die Einheit dieser Geschichte trägt und rechtfertigt, muß philosophisch offen bleiben. 2. Das Grundverhältnis: Bejahtwerden im Bejahen
Liebe ist wesenhaft Verhältnis, das Verhältnis eines Liebenden zu einem Geliebten. Als Verhältnis hat es zwei Ursprünge, die aber nicht in einem Verhältnis symmetrischer Gegenseitigkeit stehen. Der Liebende ist auf andere Weise Ursprung des Verhältnisses als der Geliebte. Es gibt zwar die Möglichkeit der Gegenliebe, aber diese ist dann, streng genommen, eine zweite Liebe, in welcher der Liebende seinerseits zum Geliebten wird. Sucht man nach einer ersten Bestimmung für das Verhältnis der Liebe, so stellt es sich dar als ein Angezogenwerden von einem anderen Menschen. Wer liebt, der fühlt sich auf eine ihm unerklärliche Weise hingeneigt zu einem anderen Menschen. Er »mag« ihn. Das Angezogenwerden oder Mögen kommt von außen über den Liebenden, es überfällt ihn geradezu. Dennoch erfährt er es nicht als etwas Ungewolltes. Es weckt seine lebhafteste Resonanz und Zustimmung. Er bejaht es von ganzem Herzen und er bejaht vor allem den Menschen, an den ihn dieses Gefühl bindet. Dieses Bejahen geschieht mit allen Fasern seines Wesens, in seinem Bewußtsein ebenso wie in seinem Fühlen und Wollen. »Liebe zeigt sich ursprünglich als die freie und umfassende, alle Kräfte inanspruchnehmende Tat, mit der Menschen einander selbst bejahen.« 17 Der Begriff des Bejahens hat sich zur Beschreibung des Verhältnisses wie von selbst eingestellt. Man kann fragen, ob er nicht geeignet ist, den Grundvollzug von Lieben überhaupt zu erschließen. Bernhard Casper: »Liebe•, in: Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Bd. 2, München 1973, S. 860-867, hier S. 865. 17
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Dem Bedenken, ob dies nicht doch eine zu einfache Bestimmung von Liebe sei, kann mann man entgegenhalten, daß sich der Akt des Bejahens auf eine meist gar nicht beachtete Weise in alle Akte und Verhaltensweisen des Menschen einschreibt und daß das Ja dieses Bejahens mit vielen »Stimmen« und in ganz unterschiedlichen "Tonlagen«, in vielen Gestimmtheiten und »Ebenen« des menschlichen Daseins, gesprochen wird. Vor allem aber trägt das Bejahen in sich selbst die Struktur des Dialogs; es ist, wie noch zu zeigen sein wird, nur möglich als Antwort. Es müßte also möglich sein, den unverwechselbaren Klang und die einzigartige Dramatik, mit der ein solches Ja in der Liebe gesprochen wird - gesprochen wird, indem es gelebt wird -, hörbar und sichtbar zu machen. 18 Ist man einmal darauf aufmerksam geworden, den Begriff des Bejahens zur Auslegung des Geschehens von Liebe abzuwenden, dann kann man den Begriff oder Äquivalente bei einer ganzen Reihe von Autoren entdecken. Auch Solov' ev gebraucht den Begriff an entscheidenden Stellen, vgl. S. 48, der Sache nach auch S. 17f. Als eine zentrale Kategorie zur Deutung des menschlichen Daseins hat Paul Tillich den Begriff eingeführt: der .Mut, sich zu bejahen als bejaht• ist wesentlicher Ausdruck des Glaubens; vgl. Paul Tillich: •Gesammelte Werke•. Bd. 11, Stuttgan 1969, hier besonders S. 117-132; allerdings wird bei Tillich der Akt des Bejahens selbst nicht mehr in seiner Struktur reflektiert. Unmittelbar auf das Geschehen der Liebe wendet Roland Banhes den Begriff an; er sieht die entscheidende Eigenschaft des .Diskurses der Liebe. darin, •der wenn auch winzige Raum einer Bejahung zu sein•; vgl. Roland Banhes: •Fragmente einer Sprache der Liebe•. Übers. von HansHorst Henschen, Frankfun a.M. 1984, S. 13, vgl. S. 57. Grundlegende Einsichten für den Versuch, das Geschehen der Liebe durch Kategorien der Sprachlichkeil auszulegen, sofern darunter jede Art von Kommunikation zu verstehen ist, verdankt die vorliegende Einführung insbesondere zwei Denkern, in deren Werk dem Geschehen der Sprache wie der Erfahrung der Liebe eine zentrale Rolle zukommt, nämlich Franz Rosenzweig und Emmanuel Levinas. Es ist im vorgegebenen Rahmen nicht möglich, auf ihre Positionen und auf Entsprechungen zum Denken Solov'evs eigens einzugehen. Zur ersten Orientierung sei für Rosenzweig verwiesen auf Bernhard Casper: •Erfahrung und Liebe•, in: Werner Licharz (Hrsg.), •Lernen mit Franz Rosenzweig•, Frankfurt a.M. 1984, S. 94-111; für Levinas können Stephan Strasser: .Erotiek en fruchtbaarheid in de filosofie van Emmanuel Levinas•, in: Tijdschrift voor Filosofie 37 (1975), S. 3-47, sowie Alain Finkielkraut: •La sagesse de l'amour•, 18
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Gerade die mögliche Vielstimmigkeit des Bejahens erlaubt es zu beschreiben, wie sich in einer Liebesbeziehung die beiden personalen Ursprünge der Beziehung, Du und Ich, gegenseitig bedingen und verschränken und wie in dieses Verhältnis wiederum alle jene Bereiche eingehen, in denen sich menschliches Dasein vollzieht. So wird das Ja zum geliebten Menschen zunächst gesprochen im Bereich der Sinnlichkeit, die in sich wiederum mannigfaltige Aspekte aufweist. Sinnlichkeit und Sexualität offenbaren ihre Bedeutung jedoch erst im Bereich des ethisch-personalen Verhältnisses und dieses wiederum findet seinen Ort im Horizont des religiösen Verhältnisses, des Verhältnisses zum Transzendenten oder Göttlichen. Keine dieser Dimensionen läßt sich auf die andere zurückführen, aber jede ist auf die andere angewiesen, um sich überhaupt auftun zu können. 19 Eine alte Tradition unterscheidet Sexus, Eros und Agape als grundlegende Gestalten oder Stufen der Liebe. Sie lassen sich den drei genannten Dimensionen, in denen sich das Verhältnis der Liebe entfaltet, zuordnen. Entscheidend ist jedoch, daß diese Stufen der Liebe in ihrer konkreten Erscheinung wesenhaft ambivalent sind, weil es zu ihrem Vollzug gehört, jeweils ineinander übergehen zu können. Ein weiterer Vorzug des Begriffs der Bejahung besteht darin, daß er erkennen läßt, wie der Akt der Liebe nicht einfach dem intentionalen Wollen des liebenden Subjektes entspricht. Die Bewegung geht vielmehr vom geliebten Menschen aus. Der Liebende wird vom Geliebten angegangen und angerührt. Das Bejahen des Geliebten kann nur antworten auf dieses Berührtwerden. Antworten aber ist nur da möglich, wo ihm eine Bitte oder eine Einladung, ein Angebot vom anderen Menschen her, entgegengekommen ist. AlParis 1984, genannt werden. -Aus der Fülle der Literatur zum Thema der Liebe sei hier nur auf zwei Titel hingewiesen, die in Ansatz und Sehweise besonders geeignet erscheinen, zum Verständnis der Philosophie der Liebe bei Solov'ev beizutragen; es sind dies Bernhard Weite: »Dialektik der Liebe«, Frankfun a.M. 2 1984, und Josef Pieper: »Über die Liebe«, München 4 1977. - Zahlreiche Ansätze für eine weiterführende Diskussion der von Solov'ev gegebenen Deutung der Liebe ließen sich vor allem auch bei Gabriel Marcel und Max Scheler finden. ,. Vgl. ihre ausführliche Behandlung in den folgenden Abschnitten Il. 3.-5.
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lerdings wird der Sachverhalt dadurch kompliziert, daß das Berührtwerden nicht von einem personalen Akt des anderen ausgehen muß, sondern rein emotional von seiner Erscheinung, von seiner Gestalt geweckt werden kann. Doch genau in diesem Angegangenwerden ist dann der Appell des anderen enthalten, ihn als ihn selbst zu achten. Wo jedoch Einladung oder Bitte mitgetragen ist vom personalen Selbst dessen, von dem sie ausgehen, da schließen sie sich gegenseitig noch einmal auf eine merkwürdige Weise ein. Das Angebot enthält dann die Bitte, sich beschenken zu lassen. Und umgekehrt kann in der Bitte um eine Gabe selbst wieder die Geste des Gebens entdeckt werden; denn da, wo die Bitte ursprünglich und aufrichtig vorgebracht wird, drückt sie dem, an den sie sich richtet, die Gabe des Vertrauens aus.
3. Sinnlichkeit in der Spannung von Leben und Tod Jener Bereich, in dem das Sich-hingezogen-Fühlen zu einem anderen Menschen zuerst und am nachdrücklichsten erfahren wird, ist der Bereich der Sinnlichkeit. Liebe besteht so sehr in Bewegungen des Fühlens und des Gestimmtseins, daß dies geradezu ihr Wesen auszumachen scheint. Dabei ist das sinnliche Erlebnis der Liebe von einer verwirrenden Vieldeutigkeit. Es äußert sich in Stimmungen, Gefühlen, triebhaften Bedürfnissen, ohne daß sogleich deutlich wäre, weshalb und wie sinnliches Begehren und Empfinden dennoch Liebe genannt werden darf. Für eine weitere Deutung der Sinnlichkeit ist mitentscheidend der Umstand, daß Sinnlichkeit erfahren wird in der Spannung von Bedürfnis und Erfüllung, von schmerzhaft empfundenem Mangel und lustvollem Genießen. Lust und Unlust, Sympathie und Antipathie bilden eine erste, unmittelbar und impulsiv gelebte Bewegung von Bejahen und Verneinen, von Annehmen und Ablehnen. Nur wegen dieser ihr innewohnenden Spannung von unmittelbar gefühlter Annahme und Ablehnung kann die Sinnlichkeit zum Medium werden, in dem sich das von der ethischen Person bewußt gesprochene Ja oder Nein zu einem anderen ausdrücken kann. Kraft ihrer Sinnlichkeit können Menschen einander berühren, angehen, können sie einander verwunden oder »heil« machen.
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Ihre eigentliche Dynamik und Unerbittlichkeit erhält diese zur Sinnlichkeit gehörende Spannung von Mangel und Erfüllung dadurch, daß sie letzten Endes in der Spannung von Leben und Tod steht. Ein Bedürfnis drückt im Grunde den Gegensatz zwischen Lebenwollen und Sterbenmüssen aus. Wo Sinnlichkeit in der Weise des Hungers, des unerfüllten Bedürfnisses verspürt wird, da bedeutet dieses Entbehrenmüssen in letzter Konsequenz, daß ein Mensch sterben muß an dem, was ihm vorenthalten wird. Wo Sinnlichkeit dagegen in der Weise des Genießens erlebt wird, da erhält ein Mensch sein Leben von dem, was er genießt, ob dies nun Nahrung oder empfangene Zärtlichkeit ist. Erst gelebte Sinnlichkeit macht Bitte und macht Gabe möglich. Einen Menschen liebend zu bejahen bedeutet dann, ihm das zuzusprechen und zu geben, wessen er zum Leben bedarf; es heißt, ihm - nicht nur mit Worten, sondern in der Tat - zu sagen: »Es ist gut, daß es dich gibt.«ZO Die Bedürftigkeit des Menschen, seine Verwundbarkeit und Sterblichkeit, sind die unverzichtbaren Voraussetzungen dafür, daß Menschen einander Liebe erweisen können. In besonderem Maße gilt dies für jene Lebensgemeinschaft, die auf das Verhältnis der Geschlechter gegründet ist, für die Sexualität. Das mythische Wort, daß sich Thanatos, der Tod, zeige, wenn Eros seine Maske abnimmt, läßt sich auch umkehren: Hinter der Maske des Todes kann sich seinerseits Eros verbergen, der sein Ja gegen das Nein des Todes stellt, Eros, der dem Tod das Leben abtrotzt. 21 Ihre endgültige Deutung erhält die Sinnlichkeit zwar erst im ethischen Verhältnis des Bejahens und Verneinens. Doch gibt es auch die Erfahrung der Sinnlichkeit, die dem Kampf von Leben und Tod entzogen scheint, die ästhetische Erfahrung, in der das Sinnliche als Schönheit genossen wird in einem nichtlibidinösen Vgl. Josef Pieper: ·Über die Liebe«, München 4 1977, S. 39, 75, 92. 21 Sigmund Freud hat zwar erkannt, daß Libido und Thanatos etwas miteinander zu tun haben, er konnte aber den Zusammenhang der sinnlich-geschlechtlichen Liebe mit der Dramatik von Leben und Tod nicht wirklich klären; vgl. Paul Ricoeur: »Die Interpretation. Ein Versuch über Freud«. (Deutsch von Eva Moldenhauer), Frankfurt a.M. 1969, 1974, S. 289-317.- Zur Problematik dieses ganzen Abschnittes vgl. Ferdinand Ulrich: •Leben in der Einheit von Leben und Tod«, Frankfurt a.M. 1973. 20
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Wohlgefallen, welches, von der Angst um sich befreit, »interesselos« und doch aufs höchste fasziniert ist. Auch dies ist eine der Stimmen, in denen Bejahen und Bejahtwerden vernommen wird. Die Tatsache, daß ein Mensch dem anderen im Bejahen das Leben zusagt und gibt, findet ihre ungeahnte Erfüllung und Überbietung in der Fruchtbarkeit. Mit feinem Gespür stellt Kant fest, daß der Zusammenhang von geschlechtlicher Liebe und Zeugung neuen Lebens über jede rationale Erklärbarkeit hinausgeht: »So ist mir nämlich die Natureinrichtung: daß alle Besaamung in beyden organischen Reichen zwey Geschlechter bedarf, um ihre Art fortzupflanzen, jederzeit als erstaunlich und wie ein Abgrund des Denkens für die menschliche Vernunft aufgefallen [ ... ].« 22 Die Entstehung neuen Lebens ist für die Vernunft so unerklärbar wie das Leben selbst, aber sie entspricht vollkommen dem Sinngehalt des liebenden Bejahens. 4. Selbstsein vom anderen her: Du und Ich
Liebe als das sinnlich-emotionale Angezogenwerden von einem Menschen geschieht von vornherein im Horizont des personalen Verhältnisses. Nur in der Beziehung der Sittlichkeit erhält Sinnlichkeit ihre Bedeutung. Bejahung im eigentlichen Sinn kann nur geschehen als ein Akt der Freiheit. Nur so tritt der Mensch als er selbst in Erscheinung. Das bloß naturhaft-triebhafte Sich-hingezogen-Fühlen zu einem anderen Wesen ist noch keine Bejahung dieses Wesens; es ist allenfalls deren Voraussetzung. Am Bejahen muß der Liebende als er selbst beteiligt sein. Nur ein Selbst kann das in der Liebe enthaltene Ja sprechen. Darum »wird durch die Liebe [... ] das Selbst des Liebenden offenbar. In der Liebe zeigt der liebende Mensch, wer er ist«. 23 Wie das Ja zum anderen nur von einem Selbst gesprochen werden kann, so kann es im vollen Sinne auch nur gesagt werden zu einem Wesen, das ein Selbst ist. Denn letzten Endes ist es genau »Kant's Briefwechsel«. Bd. III [ ... ], Berlin, Leipzig 2 1922, 5.11 (Brief an Friedrich Schiller vom 30.3.1795). 23 Bernhard Casper: »Liebe«, in: Handbuch philosophischer Grundbe· griffe. Bd. 2, München 1973, S. 865. 22
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dieses Selbstsein, das im Bejahen anerkannt wird. Zwar kann man einen Menschen durchaus bejahen wegen bestimmter Vorzüge, etwa deswegen, weil er schön oder angenehm oder klug ist. Aber es kommt dann jeweils darauf an, ob ich ihn nur wegen dieser Vorzüge bejahe oder ob ich die Vorzüge deswegen schätze, weil sie seine Vorzüge sind, weil er selbst darin zum Vorschein kommt. Wenn ich den anderen nur wegen seiner Vorzüge »mag«, bejahe ich gar nicht ihn selbst, ich bejahe nur, was für mich gut ist, ich bejahe im Grunde nur mich selbst. Fragt man weiter, was denn das Selbst eines Menschen ausmache, so muß genau diese seine Fähigkeit, einen anderen bejahen zu können, genannt werden. In seinem Ja ist er durch niemanden zu ersetzen. Darum macht genau dieses Ja, zu dem er aufgefordert ist und in dem er unvertretbar ist, das Selbst, die Einmaligkeit eines Menschen aus. Und da dieses Bejahen in der intensivsten Weise in der Liebe geschieht, wird im Grunde die Fähigkeit eines Menschen zur Liebe geliebt, wenn er als er selbst geliebt wird. ,.Alle Liebe liebt nur Liebe«, 24 nicht als Gegenleistung, sondern als das unableitbare Geschenk, das Menschen in dieser höchsten und kostbarsten Möglichkeit füreinander sein können. Im Verhältnis des Ich zum Du geht es nicht um Gegenseitigkeit oder Austausch des Bejahens, sondern es öffnet sich darin eine ganz neue Dimension, die Unvordenklichkeit und Unableitbarkeit des Liebenkönnens und des Geliebtwerdens.
5. Die erschaffende und gebietende Liebe Gottes Die Tatsache, daß Menschen einander liebend bejahen können, ist selbst noch einmal der Deutung fähig. Das Bejahen des anderen erfolgt nicht einfach aus dem Belieben oder aus der autonomen Großzügigkeit des Liebenden, sondern er findet sich von vornherein unter einer Verpflichtung, die er zwar verletzen kann, die aber unabweisbar und unbedingt gilt. Die Aufforderung, den geliebten Menschen unbedingt zu bejahen, ist mit der Ex:istenz dieses Menschen gegeben, zugleich aber kommt sie auf eine merkwürdige 24 Jean
Paul: »Werke in zwölf Bänden•. Bd. 7, München 1975, S. 220.
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Weise aus einer anderen Dimension als nur von der Existenz des anderen Menschen her. Der Sachverhalt ist von äußerster Subtilität, in keiner Weise demonstrierbar, stets als bloße Illusion zu verdächtigen. Und doch bleibt in diesem Sachverhalt so viel an unreduzierbarem Bedeutungsgehalt, an nicht unterdrückbarem Anspruch bestehen, daß es erlaubt ist, darin eine weitere Stimme zu vernehmen, die Stimme eines Bejahens, das beiden sagt: Es ist gut, daß ihr seid - ihr sollt einander lieben! Das Verhältnis zwischen zwei Menschen darf verstanden werden als ins Dasein gerufen von einer verborgenen, absoluten Macht; diese kann oder will in keiner Weise bewiesen werden aus der Erfahrung der Liebe; aber sie erlaubt es, uns dem unbedingten Ja, das sie zu uns spricht im Gebot der Liebe, anzuvertrauen. Die Tatsache, daß es Liebe gibt, darf gedeutet werden als der Ausdruck einer anderen, »ersten«, weil göttlichen Liebe, die uns einlädt, im Vertrauen auf das unbedingte Ja Gottes selbst das Ja zum geliebten Menschen zu wagen.2s III. Solov'evs Deutung der Liebe In seiner Abhandlung »Der Sinn der Liebe« 26 geht Solov'ev nicht eigens auf die Frage ein, welches der weiteste Zusammenhang sei, in bezug auf den der Sinn der Liebe zu erkunden sei. Der Horizont für diese Frage ist für ihn als selbstverständlich gegeben, es ist das Ganze der menschlichen Existenz und die mit ihr wesenhaft verbundene Idee der All-Einheit. Vgl. Emmanuel Levinas: .Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie•. Übersetzt, hrsg. und eingeleitet von Wolfgang Nikolaus Krewani, Freiburg, München 1983, besonders S. 209-260. 26 Die folgenden Erönerungen beschränken sich darauf, die entscheidenden Linien und Probleme herauszuarbeiten. Für die Diskussion weiterer Probleme sei vor allem auf das Nachwon von Arsenij Gulyga verwiesen; ebenso auf die Ausführungen, die Fedor Stepun: •Mystische Weltschau., 1964, S. 56-67, Solov'evs ·Sinn der Liebe• gewidmet hat. Die im folgenden Text in Klammern gesetzten Seitenzahlen verweisen auf die vorliegende Ausgabe. 25
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Wahrheit - All-Einheit - Liebe
An der menschlichen Existenz aber ist nicht schon auf den ersten Blick deutlich, welches ihrer Momente die entscheidende Hinsicht für die Sinndeutung der Liebe abgibt. Das erweist sich an einer zur Zeit Solov'evs weitverbreiteten Theorie, derzufolge der Sinn der geschlechtlichen Liebe vor allem darin bestehe, »ein dienendes Mittel bei der Vermehrung der Gattung« zu sein (S. 1). Zwar hat die geschlechtliche Liebe unbestreitbar etwas mit der Zeugung von Nachkommenschaft zu tun, doch wesensnotwendig wäre dieser Zusammenhang nur, wenn Menschsein vorrangig darin bestünde, Gattungswesen zu sein. Ebensowenig ist es der Sinn der Liebe, dem Ziel des welthistorischen Prozesses zu dienen und eine für diese Ziele »besonders geeignete Nachkommenschaft« hervorzubringen (S. 4). Vielmehr muß der Sinn der Liebe gesucht werden im Ausgang von jener Erfahrung des »subjektiven Gefühls«, in welcher auf eine ursprüngliche Weise aufgeht, daß die Liebe »einen eigenen, unbedingten Wert für unser persönliches Leben hat« (S. 11). Nicht der Gattungszugehörigkeit, sondern der Subjektivität des Individuums kommt eine unbedingte Bedeutung zu. Zuallererst in bezug auf sie ist nach dem Sinn der Liebe zu fragen. Grundgelegt ist die unbedingte Bedeutung der individuellen Subjektivität im höchsten Vermögen des Menschen, in der Vernunft. »Die unbedingte Würde des Menschen besteht in der ihm zweifellos eigenen absoluten Form [ ... ] des vernünftigen Bewußtseins.« (S. 12) Vernunft ist ihrerseits nicht leere, bestimmungslose Form, sondern konstitutiv für das Vermögen der Vernunft ist der Bezug zur Wahrheit. Vernunft ist wesenhaft »Vernunft der Wahrheit«, sie ist Verlangen nach Wahrheit. Der Begriff der Wahrheit hat bei Solov'ev, wie in der russischen Philosophie überhaupt, einen spezifischen Klang. 27 Wahrheit ist für Solov'ev immer auch ethische Wahrheit. In der Wahrheit wird die Wirklichkeit nicht nur offenbar, wie sie ist, sondern so, wie sie sein soll. Die Wahrheit ist dem Menschen zur Verwirklichung aufgegeben (vgl. S. 12, 14f.). Zum Begriff der Wahrheit (pravda), der im russischen Denken zugleich »Gerechtigkeit• bedeutet, vgl. Wilhelm Goe.rdt: »Russische Philosophie•, 1984, S. 449-470. 27
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Das Vermögen der Wahrheit macht den Menschen auf der einen Seite fähig, als er selbst, als unverwechselbares Individuum, dem Ganzen der Wirklichkeit gegenüberzutreten. Zugleich macht das Vermögen der Wahrheit den Menschen fähig, zu diesem Ganzen in eine neue Beziehung zu treten, in die Beziehung einer bewußt vollzogenen Einheit. Das Bewußtsein der Wahrheit ist als solches immer auch schon Bewußtsein von Gemeinschaft (vgl. S. 14-16). Indem der Mensch diese Einheit schafft, ist er, in der Terminologie des Neuplatonismus und des Deutschen Idealismus ausgedrückt, »Seele der Welt« und »sich verwirklichende Potenz der absoluten All-Einheit« (S. 14). Herauszufinden, welcher Art diese Einheit ist und welches die konkreten Bedin,gungen ihrer Verwirklichung, dies stellt das eigentliche Ziel der Uberlegungen Solov'evs dar.
2. Die Überwindung des Egoismus durch die Leidenschaft des Eros Ebenso entscheidend wie der Gedanke von der freien Einheit der Menschen in der Anerkennung der anderen ist jedoch die Tatsache, daß der faktische Zustand der Menschheit dieser Idee ganz und gar widerspricht. »Ursprünglich und unmittelbar« findet sich der Mensch vor ,.als abgesondertes Teilchen des Weltganzen [ ... ] und behauptet diese sein Einzelsein im Egoismus als ein Ganzes für sich [... ].« 28 Dieser Selbstbehauptungswille stellt sich als eine zweideutige Verfaßtheit des Menschen dar. Auf der einen Seite ist er mit der menschlichen Existenz gegeben und für diese Existenz notwendig. Das Recht des Egoismus oder seine "Wahrheit« besteht darin, daß der Mensch tatsächlich die Fähigkeit hat, der absoluten Wahrheit in sich Raum zu geben. In dieser Fähigkeit ist jeder Mensch »etwas unbedingt Unersetzliches« und für die Verwirklichung der AllEinheit unverzichtbar (vgl. S. 17). ,.Die Grundlüge und das Böse des Egoismus besteht nicht in diesem absoluten Selbstbewußtsein«, sondern darin, anderen diese unbedingte Bedeutung abzusprechen (vgl. ebda.). Jedoch geht der Mensch gerade dann, wenn er dem anderen seine unbedingte Bedeutung bestreitet, auch seiner zs 15; vgl. DG, Bd. 2, S. 70.
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eigenen Unbedingtheit verlustig. Wirklich unbedingt ist der Mensch erst dann, wenn er es nicht nötig hat, die Unbedingtheit des anderen zu leugnen, wenn er sich vielmehr in die Unbedingtheit des anderen hinein transzendieren kann, indem er sie frei anerkennt (vgl. S. 18). Das Verhältnis zum anderen müßte also derart sein, daß der andere nicht als Grenze des eigenen Anspruchs erscheint, sondern als Möglichkeit, sich selbst in die Existenz des anderen hinein zu überschreiten, ohne dadurch den anderen oder sich selbst auszulö· schen. Von der Haltung des bloßen Selbstbehauptungswillens aus scheint ein solches Verhältnis unmöglich zu sein. Zwar vermag die Vernunft, rein theoretisch das Recht des anderen anzuerkennen. Aber diese bloß theoretische Einsicht bewirkt noch keine Änderung des naturhaften Egoismus (vgl. S. 19). Dieser scheint unüberwindlich. Um die »im tiefsten Zentrum unseres Seins verwurzelt[e]« Kraft des Egoismus faktisch und wirksam zu überwinden, müßte sich mit der theoretischen Einsicht in die Wahrheit vom Recht des anderen eine Kraft verbinden, die ebenso elementar und naturhaft wie der Wille zur Selbstbehauptung, diesem Willen aber zugleich radikal entgegengesetzt ist. Diese Kraft ist die Liebe, und zwar die geschlechtlich bestimmte Liebe, der Eros. »Es gibt nur eine Kraft, die den Egoismus von innen her, an seiner Wurzel, treffen kann und ihn auch wirklich mit seiner Wurzel ausreißt; das ist die Liebe, und vor allem die geschlechtliche Liebe.« (S. 18) Das Drängen der Liebe bewegt einen Menschen dazu, in seinem faktischen Verhalten die unbedingte Bedeutung eines anderen anzuerkennen. Entscheidend ist jedoch, daß diese Anerkennung nicht nur faktisch geschieht, sondern sich verbindet mit der Einsicht der Vernunft. Sonst würde das Drängen der geschlechtlichen Liebe nur eine »äußere« Verbindung bewirken, wie dies im Tierreich der Fall ist (vgl. S. 16). Demgegenüber zeichnet sich die menschliche Liebe dadurch aus, daß sie den Menschen nicht nur als Gattungswesen betrifft, sondern ihn ausdrücklich als Individuum bestätigt, ihn aber zugleich von der Ankettung an seinen naturhaften Egoismus befreit. »Allgemein gesprochen ist der Sinn der menschlichen Liebe die Rechtfertigung und Rettung der Individualität durch die Opferung des Egoismus.« (S. 16) Es verdient Beachtung, daß diese Einsetzung und Rechtfertigung
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der Individualität in einem eigenartigen Zusammenspiel von Aktivität und Passivität erfolgt. Damit die Wahrheit von der freien Einheit der Menschen sich verwirklichen kann, ist sie angewiesen auf die freie Zustimmung der Individuen. Diese Zustimmung kann aber nicht einfach der selbstherrlichen Entscheidung des Individuums entspringen. Sie wäre sonst immer noch infiziert von seinem naturhaften Egoismus. Zu dieser Zustimmung kann der Mensch nur aufgerufen, »erweckt« werden, sie muß den Charakter des Antwortens haben. In solchem Antworten »kann« der Mensch mehr, als er von sich allein aus vermöchte. Er wird in seiner Verfaßtheit grundlegend verwandelt. Wenn ein Liebender den geliebten Menschen anerkennt, so ist dies keine Leistung seines Egoismus, sondern es entspringt aus dem passiv erlittenen Überwundenwerden des Egoismus durch die Leidenschaft der Liebe. Die Liebe »hebt direkt und wirklich solch ein ungerechtes Verhalten [sc. des Egoismus] auf, indem sie uns veranlaßt, nicht im abstrakten Bewußtsein, sondern im inneren Fühlen und im praktischen Wollen anzuerkennen, daß der andere unbedingte Bedeutung für uns besitzt.« (S. 18) Durch die Liebe wird der Liebende aus sich selbst herausgerissen, sein Daseinsinteresse ist nicht mehr auf ihn selbst konzentriert, sondern es hat seinen Mittelpunkt im anderen. Und erst dadurch, daß ein Mensch mit seinem ganzen Denken und Fühlen und Wollen »im anderen« lebt, erfährt er sich selbst als erfüllt, erhält sein eigenes Dasein wahrhaft unbedingte Bedeutung.»[ ... ] indem wir das Zentrum unseres Lebens in der Tat über die Grenzen unserer empirischen Gesondertheit hinaustragen, offenbaren und verwirklichen wir ebendadurch unsere eigene Wahrheit, unsere unbedingte Bedeutung, die ja in der Fähigkeit besteht, die Grenzen unseres faktischen, phänomenalen Seins zu überschreiten, in der Fähigkeit, nicht nur in uns, sondern auch im anderen zu leben.« (S. 19) Eine solche verwandelnde Überwindung des Egoismus geschieht grundsätzlich in jeder Form von Liebe, in der geschlechtlich bestimmten Liebe zwischen Mann und Frau jedoch in einer ausgezeichneten Gestalt. Der Grund dafür liegt in der spezifischen Dif ferenz, die sich auftut im Unterschied der Geschlechter. In ontologischen Kategorien oder in den üblichen Unterscheidungenzweier Arten oder Gattungen ist der sexuelle Unterschied von Mann und
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Frau überhaupt nicht faßbar. 29 Diese außerordentliche Bedeutung der Geschlechterdifferenz läßt Solov'ev zumindest ahnen, wenn er zeigt, wie sich einzig im Unterschied der Geschlechter ein Verhältnis vollziehen kann, das ein Höchstmaß von Entsprechungen mit einem Höchstmaß von bleibender Unterschiedenheit verbindet: Jenes Wesen, das wir lieben, •muß jenen ganz wesentlichen Inhalt haben, den auch wir haben, aber es muß ihn auf eine andere Art oder eine andere Weise, in einer anderen Form haben, so daß jede Äußerung unseres Wesens [ ... ] in diesem anderen e\ner entsprechenden, aber nicht gleichen Äußerung begegnen kann [ ... ].« 30
3. Die Entdeckung des Ebenbildes Gottes Die leidenschaftliche Gewalt der Liebe veranlaßt den Menschen zwar, die unbedingte Bedeutung des Geliebten anzuerkennen, aber sie hat die fatale Eigenschaft, vergänglich zu sein. »Der Gegenstand der Liebe bewahrt in der Wirklichkeit nicht jene unbedingte Bedeutung, welche die verliebte Träumerei ihm verleiht. [ ... ]Auf einmal oder allmählich verschwindet das Pathos der Liebesbegeisterung [ ... ].« (S. 23f.) Doch genau damit kann sich wahre Liebe nicht abfinden. An diesem Punkt beginnt vielmehr ihre eigentliche Aufgabe. Sie besteht darin, »daß sie jenen Sinn der Liebe, der anfangs nur im Gefühl gegeben ist, in der Tat rechtfertigt« (S. 25f.). Das aufgegebene .Werk der Liebe« ist im unmittelbaren Gefühl der Liebe schon vorgezeichnet, wenn man dieses Gefühl richtig zu deuten versteht: Die Liebe sieht den geliebten Menschen •in einem idealen Licht«, .das ganz anders ist als das, in welchem unbeteiligte Menschen ihn sehen« (S. 28f.). Solov'ev insistiert darauf, daß es sich dabei nicht um eine Illusion handelt. Die Liebe sieht tatsäch-
29 Weil die Differenz der Geschlechter auf keine ihr übergeordnete Einheit zurückführbar ist, kann man in ihr ein grundlegendes Paradigma von Anderheit schlechthin sehen; vgl. Emmanuel Levinas: ·Die Zeit und der Andere•. Übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Ludwig Wenzler. Harnburg 1984, S. 56-61. Jo S. 19; Hervorhebung L. W.
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lieh - in unmittelbar gefühlter Gewißheit - etwas, was andere
nicht sehen. Der Umstand, daß diese gefühlte Gewißheit wieder vergeht, spricht nicht gegen die Wahrheit dessen, was der Liebende gesehen hat. Und zwar deswegen nicht, weil sich »das wahre Wesen des Menschen« nicht erschöpft »in seiner empirisch gegebenen Erscheinung« (S. 29). Es gibt im Menschen etwas, was den Menschen als Menschen konstituiert und doch nicht einfach sichtbar gegeben ist; dies ist sein Verhältnis zum Absoluten, zu Gott. "Wir wissen, daß der Mensch außer seiner tierischen, materiellen Natur noch eine ideale hat, die ihn mit der absoluten Wahrheit oder mit Gott verbindet.« (ebda.) Kraft dieses Verhältnisses ist der Mensch .. Bild Gottes«: »neben dem materiellen und empirischen Inhalt seines Lebens trägt jeder Mensch das Bild Gottes in sich, das heißt, eine besondere Form des absoluten Inhalts.« (ebda.) Indem Solov'ev den aus der Bibel übernommenen Begriff des Bildes Gottes 31 sogleich erläutert als die Form eines absoluten Inhalts, gibt er einen entscheidenden Hinweis, wie das Verhältnis, das den Menschen zum Bild Gottes macht, näher zu denken sei. Form und Inhalt entsprechen sich. Dieses Entsprechen drückt ein dialogisches Verhältnis aus. Der Begriff des Bildes Gottes meint die Fähigkeit des Menschen, Gott entsprechen zu können. Indem der Mensch auf das Angegangenwerden durch Gott antwortet, wird er zur Form des von Gott ihm mitgeteilten Inhaltes, zur Form der Gemeinschaft mit Gott, und bildet als Form diesen Inhalt ab. Dieses Verhältnis zum Absoluten begründet die unbedingte Bedeutung des Menschen. Wenn der Liebende in seiner Liebe die Unbedingtheit des Geliebten fühlt, dann berührt er darin auf eine noch anfängliche und unentfaltete Weise das Bild Gottes im Menschen. Soll die Liebe nicht mit ihrem ersten Gefühl vergehen, dann ist es ihre Aufgabe, dieses zunächst nur passiv empfundene und von fern geahnte Bild Gottes »in sich und im anderen[ ... ] Gestalt werden zu lassen« (S. 30; vgl. schon S. 28). Daß der Liebende den geliebten Menschen im Licht eines Idealbildes sieht, ist schon in zahlreichen Abhandlungen zum Phänomen der Liebe festgestellt worden. Entscheidend ist, wie die Liebenden mit dieser Situation umgehen. Das, was im Verhältnis der Liebe gesehen wird, Jl
Vgl. die Anmerkungen 53 und 26 von Ludolf Müller.
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ist nicht als Endpunkt und nicht als Besitz zu betrachten, sondern als Verheißung und als Auftrag. Wenn der Liebende im Geliebten unbestreitbar ein ideales Bild sieht, das anderen unsichtbar bleibt, dann vollzieht er in diesem Erblicken einen Akt des Glaubens und der Hoffnung (vgl. S. 30-33). Die Liebe selbst entfaltet sich zu solchem Glauben. Von der Haltung dieses Glaubens wird es abhängen, ob und wie die Verwirklichung des geschauten Ideals gelingt. Die Liebe ist dabei einer zweifachen Gefahr ausgesetzt. Sie kann jenes Bild, das sie im Geliebten erblickt, zum bloßen Entwurf machen, dem man den geliebten Menschen angleichen möchte, ohne auf ihn selbst und seine eigensten Möglichkeiten einzugehen. So aber würde man im anderen letzten Endes nur die eigene Schöpfung lieben. Wollte man wegen dieser möglichen Fehlhaltung dem geschauten Ideal jedoch gar keine Bedeutung beimessen, dann wäre dies genauso ungerecht gegenüber dem geliebten Menschen. Der andere ist darauf angewiesen, daß wir ihm entgegenkommen mit der Vorgabe des Vertrauens und der Hoffnung und in behutsamem Eingehen auf die jeweils gegebene Situation dazu beitragen, die im idealen Bild angelegten Möglichkeiten zu entfalten. 32
4. Die übermenschliche Aufgabe der Liebe: Überwindung des Bösen und des Todes Von der so gestellten Aufgabe der Liebe her entwickelt Solov'ev einen Gedanken, der auf den ersten Blick absolut wirklichkeitsfremd zu sein scheint und der in der Diskussion von Solov'evs Deutung der Liebe am meisten Widerspruch gefunden hat. Es ist der Gedanke, daß Liebe den Tod überwinden kann. Dem Glauben an die unbedingte Bedeutung des geliebten Menschen und der Verpflichtung, in ihm »die Ganzheit des menschlichen Wesens« (S. 32) wiederherzustellen, stehen zwei Tatsachen entgegen, die als unüberwindliche Hindernisse für die Verwirklichung des im Idealbild Geschauten erscheinen. Die beiden HinderAnsprechende Überlegungen dazu bei Dorothee Sölle: •Atheistisch an Gott glauben. Beiträge zur Theologie«, Olten, Freiburg i.Br. 1968, S. 26·36: ·Zur Dialektik der Liebe«; vgl. auch Bernhard Weite: .Dialektik der Liebe«, Frankfun a.M. 1973, S. 27-63. 32
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nisse sind die Zerstörungskraft des Todes und die unbestreitbare faktische »Leere• oder Unvollkommenheit jedes menschlichen Lebens. Jeder Mensch ist sterblich, jeder Mensch ist fehlbar. An diesen beiden Tatsachen muß, so scheint es, am Ende jede Liebe scheitern. Doch genau damit kann sich die Liebe nicht abfinden. »Einen Menschen lieben heißt ihm sagen: du wirst nicht sterben.« 33 Auch angesichts der Fehlbarkeit des geliebten Menschen wird die Liebe nicht resignieren. Zwar verschließt sie nicht die Augen vor der Schuld und dem Versagen des geliebten Menschen. Aber sie wird ihm ständig die Möglichkeit der Umkehr zutrauen. Liebe wünscht und hofft, daß der Geliebte so liebenswürdig werde, wie sie ihn sieht. Solov'ev zeigt, daß der Wunsch, der geliebte Mensch möge nie sterben, und der Wunsch, er möge vollkommen sein, zusammengehören. Der Wunsch nach Vollkommenheit ist im Wunsch nach Unsterblichkeit als dessen Voraussetzung enthalten. Denn der Unsterblichkeit würdig ist nur jenes Leben, das einen »absoluten, sich selbst genügenden• Inhalt hat. 34 Der einzige Inhalt aber, der durch sich selbst ewige Dauer fordert und rechtfertigt, ist die Liebe selbst. Kein anderer Inhalt des menschlichen Lebens, und seien es die höchsten Leistungen auf dem Gebiet der Kunst, der Wissenschaft, der Politik, würde eine endlose Wiederholung rechtfertigen oder auch nur erträglich erscheinen lassen. Mit dem ihm eigenen Sarkasmus zeichnet Solov'ev die gespenstisch anmutende Vorstellung des Genies, des Feldherren, des Künstlers, die endlos ihre Schöpfungen und Taten wiederholen. Genau in der Wiederholung würden alle diese Taten und Werke sinnlos (S. 34f.). Einzig das Verhältnis der Liebe wird durch seine ewige Dauer nicht überholt, sondern erst wirklich erfüllt. Doch welche Möglichkeiten hat die Liebe, ihren Widerstand gegen den Tod und gegen die Fehlbarkeit des Menschen durchzusetzen? Wird die Liebe nur als menschlicher Vollzug gesehen, dann ist sie mit einer solchen Aufgabe überfordert. Nur der Glaube an Gabriel Marcel: •Geheimnis des Seins•. Autorisierte Übertragung von Hanns von Winter, Wien 1952, S. 472. 34 Vgl. S. 35 sowie die Wiederaufnahme und Vertiefung dieses Gedan· kens S. 57-59; dazu DG, Bd. 2, S. 13-25. 33
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Gott könnte eine solche Überwindung des Todes und des Bösen für möglich halten. Es müßte sich also zeigen lassen, daß in der Liebe des Menschen eine Kraft am Werke ist, die von Gott kommt, und daß der Glaube an diese Kraft zur Liebe selbst gehört. Um zu sehen, wie die in der Liebe wirksame Kraft Gottes den Tod überwinden könnte, muß man zuerst einmal verstehen, was im Tode geschieht und welches die entscheidende Auswirkung des Todes auf den Menschen ist. Solov'ev sieht das Wesen des Todes darin, daß er jede Art von Einheit und von Verbindung zerstört. »Der Tod ist, allgemein gesprochen, eine Desintegrierung des Wesens, ein Zerfall der Faktoren, die es bilden.« (S. 37) Diese Zerstörung von Einheit manifestiert sich schon im biologischen Bereich, im eigentlichen Sinne erweist der Tod seine zerstörende Kraft aber im sozialen Bereich, im Verhältnis zum anderen Menschen. 35 Auch in der Trennung der Geschlechter sieht Solov'ev eine Manifestation der einheitszerstörenden Kraft des Todes. Dazu ist allerdings zu bemerken, daß die Differenz der Geschlechter nicht schon als solche negativ beurteilt werden darf; sie ist vielmehr, wie Solov'ev an anderer Stelle (vgl. S. 64) ausdrücklich feststellt, die notwendige Voraussetzung dafür, daß es Liebe als Verhältnis überhaupt geben kann. Nur dann, wenn noch die Haltung des Egoismus bestimmend ist für das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, ist ihre Differenz auch »Anfang des Todes« (S. 37). Soll die Zerstörung, die der Tod bewirkt, überwunden werden, so kann dies nur geschehen durch eine Kraft der Vereinigung, die stärker ist als die vom Tod bewirkte Trennung. Doch dem Menschen sind nur Verbindungen möglich, die er entweder kraft seiner animalischen Natur oder kraft seiner sozialen Verfaßtheit vollzieht. Exemplarisch für diese beiden Arten von Verbindung stehen die physiologisch geschlechtliche Vereinigung und die soziale Vereinigung des Ehebandes. Beide Weisen von Verbindung sind der trennenden Macht des Todes gegenüber ohnmächtig (S 41f.). Aus dem Verhältnis zu Gott jedoch kommt dem Menschen die Kraft zu einer Verbindung, die den Tod überdauern kann. Die Wirklichkeit einer solchen »Vereinigung in Gott [ ... ], die zur U nsterblichkeit führt« (S. 42f.), ist nur dem Glauben erfahrbar. Das "Vgl. S. 36; ausführlicher in DG, Bd. 2, S. 15-18, 77, 103.
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Denken als Denken kann allenfalls bis zu der Grenze gelangen, an der es die Möglichkeit einer solchen "Vereinigung in Gott« einsieht; sie zeigt sich als die Möglichkeit, in der menschlichen Liebe die Liebe Gottes mitzuvollziehen. 36
5. Den anderen »in Gott bejahen«: der Mitvollzug der Liebe Gottes in der Verbindung von Eros und Agape Möglich wird eine solche "Vereinigung in Gott« dadurch, daß Gott von Ewigkeit her die Vereinigung mit dem Menschen gewollt hat. »Jene ideale Einheit, zu der unsere Welt hinstrebt«, ist keine unwirksame Wunschvorstellung, sondern sie »ist wahrhaftig da, als der ewige Gegenstand der Liebe Gottes, als sein ewiges anderes« (S. 51). Weil Gott den Menschen zur Einheit mit sich bestimmt hat, ist »für Gott« auch die Vollkommenheit des zur Einheit bestimmten Menschen »schon wirklich« (S. 50). Eine solche Aussage ist nur nachvollziehbar, wenn man sie versteht als die Verheißung einer Zukunft, die dem Menschen von Gott zugedacht ist. Für Gott ist diese Zukunft schon wirklich, nicht kraft einer unentrinnbaren Vorsehung, sondern weil Gott selbst darauf vertraut, daß sich der Impuls seiner »ersten« Liebe durchsetzen wird und daß der Mensch einmal die vollkommene Antwort auf diese Liebe geben wird. Es ist entscheidend, daß die Liebe Gottes dem menschlichen Liebenkönnen »vorangeht«: »Dieses lebendige Ideal der göttlichen Liebe, das unserer Liebe vorangeht, enthält in sich das Geheimnis ihrer Idealisierung. Hier ist die Idealisierung des niederen Wesens zugleich die beginnende Realisierung des höheren, und Es geht also nicht darum, nur »Spekulativ die Notwendigkeit desTodes zu überwinden•, wie Bernhard Schultze meint in seiner Rezension des Werkes von Edith Klum: •Natur, Kunst und Liebe in der Philosophie Vladimir Solov'evs•, München 1965, in: Orientalia christiana periodica 32 (1966), S. 551-554, hier S. 554. Nicht in der spekulativen Kraft des Denkens, sondern in der Tat des Glaubens, der sich verbindet mit der Liebe Gottes, sieht Solov'ev die Möglichkeit zur Überwindung des Todes. Generell zur Möglichkeit der Überwindung des Todes durch die Liebe vgl. Franz-Josef Nocke: •Liebe, Tod und Auferstehung. Über die Mitte des Glaubens•, München 1978. 36
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darin besteht die Wahrheit des Liebespathos.« (S. 51). Der Liebende sieht den Geliebten so, wie Gott ihn sieht, er »idealisiert« ihn; aber ebendamit empfängt er die Möglichkeit, wenigstens anfänglich zur Realisierung dieses Ideals beizutragen. Wer einen Menschentrotz seiner Unvollkommenheit und trotz seiner Vergänglichkeit in einem idealen Licht sieht und liebt, der liebt im Grunde das, was Gott an diesem Menschen schon immer geliebt und schon immer gesehen hat. Er sieht und liebt ihn »in Gott«: Wir »mÜssen[ ... ] also unter dem Glauben an den Gegenstand unserer Liebe verstehen, daß wir von ihm behaupten, daß er seine Existenz in Gott hat und daß er in diesem Sinn unendliche Bedeutung besitzt.« (S. 48). Dies besagt nichts anderes, als daß der Liebende die Liebe Gottes nachvollzieht. Er liebt - wenn auch nur anfänglich und unvollkommen - den anderen, weil Gott ihn liebt und wie Gott ihn liebt. Auf diese Weise geschieht in der Liebe eines Menschen etwas, was über das Vermögen des Menschen hinausgeht. Er nimmt teil an der Liebe Gottes - und damit auch an der Kraft dieser Liebe. Er sieht nicht nur den geliebten Menschen als »in Gott« existierend, sondern auch sein eigenes Lieben geschieht »in Gott«, als ein »Bejahen in Gott«: »Einer gegebenen Person unbedingte Bedeutung zuerkennen oder an sie glauben (ohne das ist wahre Liebe unmöglich), das kann ich nur, wenn ich sie in Gott bejahe [ ... ].« (ebda.) Die räumliche Metapher des »in Gott«, die Solov'ev hier gebraucht, drückt das einzigartige Verhältnis des Glaubens aus. Im Glauben tritt der Mensch ein in den »Raum« der Liebe Gottes, in das unendliche Gespräch, zu dem Gott den Menschen geschaffen hat und das die Geschichte zwischen Gott und Mensch bildet. Weil Gott selbst die Beständigkeit dieses Verhältnisses der Liebe garantiert, kann es der Zerstörungskraft des Todes widerstehen. Das Ja der Liebe zu einem Menschen weiß sich gehalten vom Ja der Liebe Gottes, das stärker ist als jedes Nein des Todes. Wenn der Liebende im Geliebten das sieht und liebt, was der andere kraft seines Geliebtseins durch Gott ist, dann hat dies noch eine weitere Konsequenz, die bei Solov'ev nur angedeutet ist, die aber in ihrer Bedeutung für eine Philosophie der Liebe eigens hervorzuheben ist. Es ist die Konsequenz, daß begehrende und schenkende Liebe, Eros und Agape, sich gegenseitig einschließen können. Zwar sieht die begehrende Liebe- im Gegensatz zur sehen-
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kenden -den Geliebten zunächst nur als ein Wesen, von dem der Liebende Ergänzung und Erfüllung empfängt. Doch die beiden Gestalten können und müssen sich verbinden, weil es zum Wesen der Liebe gehört, daß der geliebte Mensch unter beiden Hinsichten geliebt wird, beiden Haltungen entspricht: »Der Gegenstand der wahren Liebe ist nicht einfach, sondern ein doppelter: Wir lieben erstens jenes ideale Wesen [ ... ], das wir in unsere reale Welt einführen müssen, und zweitens lieben wir jenes natürliche, menschliche Wesen, das das lebendige, persönliche Material für diese Realisation abgibt und das dadurch idealisiert wird[ ... ]. Auf solche Weise ist wahre Liebe untrennbar sowohl eine aufsteigende wie auch eine absteigende Liebe [ ... ].« (S. 51) In der Geschichte des philosophischen und theologischen Nachdenkens über die Liebe waren die beiden Gestalten einander oft als unvereinbar gegenübergestellt worden. Aber Eros ist von Anfang an nicht einseitig auf das Ich bezogen. Er hat von Anfang an den Charakter des Antwortens und ist damit grundsätzlich geöffnet für die Beziehung der Verantwortung, des ethischen Verpflichtetseins. Eros kann zwar immer entarten zum bloßen Besitzen- und Genießenwollen des anderen. Aber ebenso kann aus der Kraft seiner Leidenschaft die Dynamik des Glaubens entbunden werden, die sich dann zum Mitvollzug der schenkenden, absteigenden Liebe Gottes entfaltet. Liebe ist Leidenschaft, die zum Glauben wird, wenn sie erkennt, daß sie schon in ihrem ursprünglichen Bewegtsein Leidenschaft für den anderen ist, leidenschaftliche Bejahung des anderen. 6. »Im anderen wie in sich selbst leben«: Liebe als Modell
Die Liebe kann wirklich die Grenzen überwinden, die der Egoismus zwischen den Menschen aufrichtet. Was in der Liebe zwischen zwei Menschen auf eine zunächst nur diese beiden Menschen betreffende Weise geschieht, das eröffnet die grundsätzliche Möglichkeit eines nichtegoistischen Verhältnisses zwischen Menschen. Es gehört zum Wesen des Liebesverhältnisses, sich auf die Umwelt hin zu öffnen. Würde sich die Überzeugung von der Wiedergeburt des Menschen und von der Überwindung des Todes einzig auf das geliebte Du und auf das eigene Schicksal der Liebenden
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richten, dann wäre eine solche Liebe immer noch eine Art »Egoismus zu zweit« (S. 54). Die Rettung der Liebenden ist nur möglich zusammen mit der Rettung und Wiedergeburt aller. Der einzelne kann gar nicht absehen vom Schicksal der ganzen Menschheit, und zwar nicht nur deswegen, weil er vom Zustand seiner physischen und sozialen Umwelt abhängig ist. Sondern deswegen, weil er infolge der Erfahrung, die er selbst mit der Liebe gemacht hat, gar nicht mehr anders kann als solidarisch zu sein mit der gesamten Menschheit. Wer wirklich gelernt hat, zu einem Menschen ja zu sagen, der vermag, grundsätzlich zu allen ja zu sagen. Er kann sich diesem Antworten- und Bejahenmüssen, seiner Ver-antwortung für die anderen, gar nicht entziehen. 37 Rettung und Wiedergeburt aller können indes nur geschehen, wenn die Wirklichkeit grundlegend verwandelt wird. Der Zustand der gesamten Wirklichkeit ist zunächst dadurch bestimmt, daß alle Wesen in ihrer gegenseitigen Verneinung undurchdringlich sind füreinander. Solov'ev bezeichnet diesen Zustand der gegenseitigen Undurchdringlichkeit als »materielle« Existenz (vgl. S. 59-62). Dies ist nicht in erster Linie als Aussage über die physikalische Welt zu lesen, sondern kennzeichnet jene Verfaßtheit der Wirklichkeit, die durch die personale Existenz des Menschen konstituiert wird. Den Gegensatz dazu würde ein Verhältnis bilden, in dem einer das Leben des anderen mitträgt, ohne dadurch in seiner eigenen Existenz entfremdet zu werden. »Wenn die Wurzel der falschen Existenz darin besteht, daß die Wesen füreinander undurchdringlich sind, das heißt, sich gegenseitig ausschließen, dann ist das wahre Leben dasjenige, wo eins im anderen lebt wie in sich selbst [ ... ].« (S. 63) Wenn ein solches »im anderen leben wie in sich selbst« möglich sein soll, ohne daß die Partner der Beziehung in ihrer eigenen Existenz dadurch ausgelöscht oder sich entfremdet werden, dann ist dies wiederum -wie schon das »Bejahen in Gott« -nur denkbar nach dem Modell des Gesprächs. In einem Gespräch trägt eine Äußerung die andere und geht zugleich aus ihr hervor; jedes Wort ist Antwort und wird hervorgerufen, also zu seinem »Leben« gebracht, von dem, was zu ihm gesagt wird. Die Antwort nimmt das
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Vgl. S. 56-59; DG, Bd. 6, S. 308.
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Gesagte auf ihre Weise in sich auf, es lebt in ihr weiter und wird in ihr zugleich mit neuem Sinn oder neuem Leben erfüllt. 38 Um auf das unableitbar Neue und gegenüber der »natürlichen« Ordnung Außergewöhnliche, weil sie Verwandelnde dieses in der Liebe fundierten Verhältnisses hinzuweisen, führt Solov'ev einen neuen Begriff dafür ein, den der Syzygie (vgl. S. 64f.). Ausdrücklich betont Solov'ev, daß dieses syzygische, in seinem Ursprung erotische Verhältnis auch die Natur einschließen müsse (vgl. S. 66f.). 7. Idee und Wirklichkeit der Liebe
Blickt man auf die Überlegungen Solov'evs zum »Sinn der Liebe« zurück, so wird man dies möglicherweise mit einem zwiespältigen Gefühl tun. Auf der einen Seite kann man sich der inneren Konsequenz, der Tiefe und Kühnheit des Gedankens nicht verschließen. Auf der anderen Seite ist man geneigt, dem Ausruf zuzustimmen, mit dem Papst Leo XIII. Solov'evs Schrift »L'idee russe«, und die darin entwickelte Vorstellung von der Vereinigung der Kirchen aufgenommen haben soll: »Bella idea, ma fuor d'un miraculo ecosa impossibile« 39 - »eine schöne Idee, aber ohne ein Wunder ist es ein Ding der Unmöglichkeit.« Solov'ev selbst hat in der Haltung gegenüber der Frage, ob und wie sich das Ideal der All-Einheit verwirklichen lasse, eine grundlegende Wandlung durchgemacht. Die Überlegungen zum »Sinn der Liebe« erscheinen als eine wichtige Etappe im Prozeß dieser Klärung. Von Anfang an war Solov'evs Schaffen geleitet von der Vision einer Welt, in der sich alle Wesen in einer Beziehung des gegenseitigen, durchaus erotisch gestimmten Bejahens befinden: »Ich sah das All, und alles war nur Eines, War meiner ew'gen Freundin holdes Bild [ ... ].« 4 o Daß Kommunikation im strengen Sinn ein Gezeugt- und Geborenwerden bedeutet, dies kann insbesondere die Psychologie in den konkreten Bedingungen und Vollzügen des Menschseins aufzeigen; vgl. etwa, von Jacques Lacan inspiriert, Denis Vasse: »Un parmi d'autres•, Paris 1978. 39 Vgl. V. Solov'ev: •Pis'ma« [Tom], Peterburg 1923, S. 119. 40 DG, Erg. Bd., S. 273. 38
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Die Vision dieses Ideals war für Solov'ev in allen Perioden seines Schaffens dieselbe geblieben. Gewandelt aber hat sich sein Verständnis des weges, auf dem dieses Ziel erreicht wird. Zunächst war Solov'ev überzeugt, daß sich die All-Einheit, sobald ihre Idee einmal erfaßt ist, in einem bruchlosen, kontinuierlichen Wachstum, als notwendige Evolution eines gegebenen Ansatzes, von selbst durchsetzen müsse. 41 Solov'ev hat in dieser Konzeption schlic.ht jenes entscheidende Moment übersehen, das die Idee eines Zieles von seiner Verwirklichung trennt, die Zustimmung des Menschen. 42 Dies ist in gewissem Sinne nicht einmal erstaunlich. Wem eine große Idee aufgegangen ist, der ist von ihrer Wahrheit so überzeugt, daß die Zustimmung für ihn selbst kein Problem darstellt. Das Aufgehen des Ideals und die Zustimmung sind hier ein und derselbe Vorgang. Die Bereitschaft, sich in den Dienst des erblickten Ideals zu stellen, ist zugleich das »Organ•, mit dem ein solches Ideal als verpflichtender Anruf vernommen wird. Das Problem der Zustimmung ist nicht in erster Linie das der eigenen Zustimmung, sondern das der Zustimmung der anderen. Diese Zustimmung aller hat Solov'ev im »Sinn der Liebe• als notwendige Bedingung für die Verwirklichung der Liebe und für die Verwandlung der Welt durch die Liebe aufgezeigt. Dem »Sinn• der Liebe müssen alle zustimmen, wenn Liebe die Welt verwandeln soll - ein wahrhaft utopisches Ziel und nach menschlichem Ermessen nicht zu erreichen. Solov'ev hat im »Sinn der Liebe• dieses Problem der Verwirklichung unzweideutig artikuliert in der Unterscheidung von Ziel und weg. Das Ziel, ein Verhältnis der Liebe nicht nur in der sozialen, sondern auch in der natürlichen Umwelt herzustellen, ist »an Vgl. Ludolf Müller: Nachwort, in DG, Bd. 8, S. 615-617; Ludwig Wenzler: »Die Freiheit und das Böse nach Vladimir Solov'ev•, 1978, s. 323-328. 42 Es scheint in der Natur des Denkens zu liegen, zum Übersehen des Moments der Verwirklichung zu tendieren; dies zeigt sich etwa in der Kritik, die Ludwig Feuerbach und Kar! Marx am Denken Hegels üben; kennzeichnend auch der Entwurf einer »Philosophie der Tat«, mit dem August von Cieszkowski 1838 das Denken Hegels zu vollenden sucht; vgl. August von Cieszkowski: »Prolegomena zur Historiosophie«. Mit einer Einleitung von Rüdiger Bubner und einem Anhang von Jan Garewicz, Harnburg 1981 (=Philosophische Bibliothek; 327). 41
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und für sich klar« (S. 67). Offen aber sind »die Wege, auf denen dieses Ziel für den einzelnen Menschen zu erreichen ist« (ebda.). Solov'ev sieht jetzt, »daß die Wege der Geschichte nicht direkt in das Reich Gottes hinüberführen •. 43 Im vorgegebenen Rahmen will Solov'ev nicht mehr eigens auf diese Wege eingehen. Seinen Ausführungen lassen sich jedoch zwei Hinweise entnehmen, die seine Sicht des Problems kennzeichnen. Dies ist einmal die Überzeugung, daß jede Tat eines Menschen, die von der Liebe bewegt ist, zumindest ein Bild, also eine zeichenhafte Vorwegnahme »der All-Einheit Gestalt werden« lasse (S. 67). Und es ist zum anderen die Einsicht, daß der Glaube an die Macht der Liebe »sich ununterbrochen gegen jene reale Umwelt behaupten« muß (S. 55), deren Gesetz der Kampf aller gegen alle ist. »Gegen diese feindlichen Kräfte [aber] hat die Liebe nur eine Verteidigungswaffe - die Geduld bis zum Ende.« (ebda.) Wenn man unter Liebe die unbedingte Anerkennung des anderen versteht, dann gehört solche Geduld zum eigensten wesen der Liebe. Denn die Anerkennung des anderen muß in der Achtung seiner Freiheit so weit gehen, daß sie es auch erträgt, wenn der andere seine Zustimmung zu einem Verhältnis der Liebe oder des Friedens verweigert, auch wenn sie darunter zutiefst zu leiden hat. Liebe äußert sich in letzter Konsequenz darin, daß man abwarten kann, bis der andere seine Zustimmung zum Verhältnis des gegenseitigen Bejahens gibt. Geduld läßt dem anderen Zeit und wartet auf sein Ja - im äußersten Falle bis in den Tod hinein. Solches Wartenkönnen ist möglich, weil es um den Sieg der Liebe weiß. In diesem Wissen zeigt sich eine weitere, wesenhaft zur Liebe gehörende Haltung: die Hoffnung. Es gibt sogar einen Punkt, an dem Geduld und Hoffnung den Sieg der Liebe über den Tod in einem konkreten Zeichen erfahren können: Jetzt schon erweist die Liebe ihre Macht über den Tod darin, daß sie die Angst vor dem Tod überwindet: »Spürst du in dir diese Kraft voller Klarheit, Brauchst du nicht fürchten, was tödlich dir droht.« 44 Ludolf Müller in: Wladimir Solowjew: »Übermensch und Antichrist•, 1958, S. 149. 44 DG, Erg. Bd., S. 238; wohl im Jahre 1893 verfaßt. 43
Einleitung
XXXVII
Wo der Tod sich nicht mehr verbünden kann mit der Angst des Menschen um sich selbst, da ist ihm ein wesentliches Moment seiner zerstörenden Macht genommen. Wo ein Mensch aus Liebe zu einem anderen den Tod nicht mehr fürchtet, da beginnt schon der Triumph der Liebe über den Tod. Geduld und Hoffnung, die aus der Liebe erwachsen, greifen über das Sterben hinaus. Genau diese Verbindung von entsagenkönnender Geduld und von ausgreifender Hoffnung, die sich gehalten weiß von dem, was ihr liebend entgegrnkommt, spricht sich aus in Solov'evs letztem Gedicht, verfaßt in der ahnend gefühlten Nähe des eigenen Todes: »Ach, manches gleißende Trugbild entschwand; Wahrhaft verheißende Hoffnung hielt stand .
•, DG, Erg. Bd., S. 281.
Was dir genommen ist, Lasse es ruhn. Das, was im Kommen ist, Fordert dich nun.« 45
DATEN ZU LEBEN UND WERK VLADIMIR SOLOV'EVS
Für die Biographie Solov'evs sei vor allem auf den Ergänzungsband zu DG verwiesen: »Solov'evs Leben in Briefen und Gedichten«. Hrsg. von Ludolf Müller und Irmgard Wille, München 1978. Ausführlichere tabellarische Übersichten über die Lebensdaten Solov'evs finden sich im genannten Ergänzungsband, S. 361-368, und bei Ludwig Wenzler: »Die Freiheit und das Böse nach Vladimir Solov'ev«, Freiburg, München 1978, S. 368-378.- Chronologische Daten sind im sog. »alten Stil«, das heißt, nach dem Julianischen Kalender, angegeben, der in Rußland bis zum 1./14. Februar 1918 gültig war. Die Daten »neuen Stils« erhält man, wenn man zwölf Tage hinzuzählt (nach dem 16. Februar/1. März 1900 sind es dreizehn Tage). 1853 1864 1869 1871
1873
16./28.1.: VS wird in Moskau geboren; sein Vater war der berühmte Historiker Sergej Michajlovi~ Solov'ev. bis 1869: Besuch des Gymnasiums. Zeitweilig religiöse Krise. bis 1873: Studium an der Universität Moskau, zunächst an der Physikalisch-mathematischen, dann an der Philosophischen Fakultät. bis Ende 1873: Briefwechsel mit seiner Kusine Ekaterina (Katja) Romanova über grundsätzliche ethische und religiöse Fragen und über seinen Lebensplan; einige Zeit war VS mit Katja verlobt. September, bis Juni 1874: VS studien als Laie an der Geistlichen Akademie in Sergiev Posad (heute Zagorsk). Er übersetzt Kants »Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik«. November: Der mythologische Prozeß im alten Heidentum. Die erste Periode im Schaffen Solov'evs (1874-1882) kann man als die theosophische bezeichnen. Er arbeitet die
Daten zu Leben und Werk
XXXIX
theoretischen Grundlagen seines Werkes aus, geleitet von den Zielvorstellungen des integralen Erkennens und der freien Theosophie. 1874
1875
1876 1877
Magisterdissertation Die Krise der westlichen Philosophie.
Gegen die Positivisten.
19.11.: Wahl zum Dozenten an der Moskauer Universität. 27.1.: Antrittsvorlesung Metaphysik und positiVe Wissen· schaft. Beginn des dichterischen Schaffens. 21.6. bis Juni 1876: Auslandsreise zu Studienzwecken. 29.6. bis 18.10. in London; VS arbeitet im Lesesaal des Britischen Museums; Vision der Sophia; reist unvermittelt nach Ägypten, bleibt bis März 1876 in Kairo; in der Wüste eine erneute Vision der Sophia. März bis Mai: Neapel, Sorrent, Paris; im Juni Rückkehr nach Moskau. Vorlesung Drei Kräfte. Widerspruch der Slawophilen. Februar: Abschied von der Universität Moskau. Ab März Mitarbeiter beim Ministerium für Volksbildung in St. Petersburg.
- Die philosophischen Prinzipien des ganzheitlichen Wis· sens (unvollendet). Arbeit an der Doktordissertation Kritik der abstrakten Prinzipien (1877 bis 1880). 1878
1879 1880
Bis 1887: Unerfüllte Liebe zu Sof'ja Petrovna Chitrovo. 29.1. bis 2.4.: Zwölf öffentliche »Vorlesungen über die Philosophie der Religion«, später veröffentlicht als Vorle· sungen über das Gottmenschentum (1879-1881); unter den Zuhörern sind Dostoevskij und gelegentlich Tolstoj; Beginn der Freundschaft mit Dostoevskij. VS übersetzt den Goldenen Topf von E.T.A. Hoffmann. 4.10.: Tod des Vaters. VS verteidigt seine Doktordissertation; Privatdozent.
XL
1881
1882
Ludwig Wenzier
20.11.: Die historischen Taten der Philosophie. 28.1.: Tod Dostoevskijs; VS hält die erste der Drei Reden über Dostoevskij (1881-1883). 28.3.: VS wendet sich gegen die Todesstrafe, die an den Mördern von Zar Alexander II. - Attentat am 1.3. vollstreckt werden soll. Aufgrund der folgenden Angriffe gibt VS um seinen Abschied ein; im November wird dem Gesuch stattgegeben. Bekanntschaft mit dem Rabbiner Faivel' Gec; VS lernt bei ihm Hebräisch, um die Bibel und den Talmud zu lesen. Er befaßt sich verstärkt mit religiösen Fragen und wird auf das Problem der Kirchentrennung aufmerksam. 25.2.: VS hält seine letzte Vorlesung .. Der Lebenssinn des Christentums«; sie geht ein in Die geistlichen Grundlagen des Lebens {1882-1884). Fortan lebt VS als Privatgelehrter und Publizist, meist bei Freunden oder im Hotel, vor allem in Moskau und St. Petersburg, oft auch auf den Landgütern seiner Freunde; besonders lieb wird ihm das Gut Pustynka bei St. Petersburg. In der zweiten Periode seines Schaffens, der theokratischen (1882-1890), befaßt sich VS mit der Erscheinungsgestalt und der praktisch-sozialen Aufgabe der Kirche sowie der Pflicht der Kirchen zur Vereinigung; er setzt sich mit den Ideen des Slawophilenturns und des russischen Nationalismus auseinander.
1883
-Der große Streit [zwischen Ost und West] und die christ· liehe Politik. - Über die kirchliche Frage aus Anlaß der Altkatholiken. Zahlreiche Aufsätze zu politischen Fragen, gesammelt als Die nationale Frage in Rußland. 1. Teil (1883-1888).
1884 1885
-Das Judentum und die christliche Frage. - Das neutestamentliche Israel. Bis 1887: Arbeit am 1. Band von Geschichte und Zukunft der Theokratie.
Daten zu Leben und Werk Solov'evs
1886
1887
1888
1889
XLI
Gegen antisemitische Angriffe: Der Talmud und die neue-
ste Literatur über ihn [... ]
Mai bis September: auf Reisen; im Juni in Wien, dann in Agram (heute Zagreb) beim katholischen Kanonikus Francisk Ra~ki; VS trifft wiederholt mit Bischof Josip Strossmayer zusammen, der wie VS stark an der Kirchenunion interessiert ist. In Rußland wird alles, was VS zur Kirchenunion schreibt, von der Geistlichen Zensur verboten. Januar: VS erhält aus Frankreich die Anregung, seine religiösen Ideen auf französisch darzulegen; er beginnt die Arbeit an La Russie et l 'eglise universelle ( 1889). April: In Rußland werden alle Exemplare des in Agram gedruckten 1. Bandes von Geschichte und Zukunft der Theokratie beschlagnahmt. April bis November: Reise nach Frankreich. 13./25.5.: VS trägt in Paris L 'idee russe vor. Juli: Der hl. Vladimir und der christliche Staat. Bis 1891: Die nationale Frage in Rußland. 2. Teil. Im November und Dezember wieder in Agram; er trifft erneut Bischof Strossmayer; beide sind entmutigt, ihre Hoffnungen auf eine Vereinigung der Kirchen haben sich zerschlagen. Januar: VS kehrt nach Moskau zurück. Mai: Rußland und die universale Kirche erscheint.
- Die Schönheit in der Natur. September: VS siedelt nach St. Petersburg um; er schließt sich dem liberalen Kreis um die Zeitschrift »Vestnik Evropy« [Bote Europas] an. In der dritten Periode (1890-1900) seines Schaffens, der theurgischen, wendet sich VS auf der Grundlage gereifter Erfahrung wieder stärker philosophischen Fragen zu; er entwirft eine vollständige Ethik und verfaßt grundlegende Schriften zu Fragen der Ästhetik, der Literaturkritik und der Erkenntnistheorie. Ab 1898 verstärkt sich seine
Ludwig Wenzier
XLII
eschatologisch-apokalyptische Sicht der Geschichte. 1890
1891
1892
VS tritt zusammen mit Lev Tolstoj öffentlich gegen den Antisemitismus auf. - China und Europa. -Japan. -Die lyrische Dichtung. Aus Anlaß der letzten Gedichte von Fet und Polonskij. - Der allgemeine Sinn der Kunst. bis 1893 lebt VS meist wieder in Moskau; er beteiligt sich an Hilfsaktionen gegen die Hungersnot. - Die Armut des Volkes und die öffentliche Hilfe. Juli: VS übernimmt die Redaktion des philosophischen Teiles des »Enzyklopädischen Wörterbuchs« von Brokgauz-Efron (86 Halbbände); ca. 180 der Artikel schreibt er selbst (bis 1900); einige haben den Umfang von kleinen Abhandlungen. - Erste Buchausgabe der Gedichte. 19.10.: Vom Verfall der mittelalterlichen Weltanschauung (1901). bis 1893: Liebe zu Sof'ja Michajlovna Martynova; zahlreiche Gedichte. Bis 1894 erscheinen die fünf Aufsätze zu Der Sinn der Lie·
be.
1893
1894
- G. W.F. Hege! (Lexikonartikel). Juli bis Dezember: Reise nach Schweden, Schottland, Frankreich. -Der erste Schritt zur positiven A.'sthetik (1894). - ].N. Danilevskij. - ]ohannes Duns Scotus (Lexikonartikel). 5.12.: Vortrag in Paris: »Die wahren Grundlagen des französisch-russischen Abkommens«. Im Januar wieder in St. Petersburg. - Die buddhistische Stimmung in der Poesie. - I. Kant (Lexikonartikel).
Daten zu Leben und Werk Solov'evs
1895 1896
1897
1898
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28.7. bis 2.8.: Brief an Lev Tolstoj über die Auferstehung Christi. -Die russischen Symbolisten (1895). Bis 1897 erscheinen fortlaufend die Kapitel zu Die Recht· fertigung des Guten. Eine Moralphilosophie. September bis Mai 1895 lebt VS meist in dem St. Petersburg benachbarten Teil Finnlands. -Die Poesie Tjutlevs. -Die Poesie des Grafen A:K. Tolstoj. - A. Comte (Lexikonartikel.)- Die &deutung des Staates. - Der Byzantinismus und Rußland. 18.2.: VS schließt sich in Moskau der römisch-katholischen Kirche an, um zeichenhaft für seine Person die Vereinigung der Kirchen zu vollziehen; er bleibt jedoch Mitglied der orthodoxen Kirche. - Die Poesie Polonskijs. Eine kritische Untersuchung. - Wtmn lebten die jüdischen Propheten? - Mohammed, sein Leben und seine religiöse Lehre. November bis Januar 1897 wieder in Finnland (Vyborg). VS verspürt eine verstärkte apokalyptische Unruhe. Bis 1898: Sonntags· und Osterbriefe (darunter »Das Geheimnis des Fortschritts«). - Der &griff Gottes (Zur Verteidigung der Philosophie Spi· nozas). - Pu~kins Schicksal. Bis 1899: Theoretische Philosophie. Winter bis Anfang Januar 1898: Wieder in Finnland (Vyborg). Übersetzung der Werke Platons, zusammen mit seinem Bruder Michail. VS verfaßt dazu eine Gesamteinführung und Abhandlungen zu einzelnen Dialogen (Bd. 1: 1899; Bd. 2: 1903). 7.3.: Vortrag in St. Petersburg: Die Idee der Menschheit bei August Comte. 22.3.: Vortrag »Platon und die Philosophie der Liebe«. - Platon (Lexikonartikel).
XLIV
1899
1900
Ludwig Wenzier
- Das Lebensdrama Platons. März bis Mai: VS reist noch einmal nach Ägypten. Literarische Polemik gegen Nietzsche und Tolstoj. 26. bis 29.9.: VS schreibt das autobiographische Gedicht Drei Begegnungen. 14.12.: Vortrag über N.G. Cerny~evskij (1968). 27.12.: Rede über den polnischen Dichter Adam Mickie· wzcz. März bis Juni: Zuerst bei Freunden in Cannes, dann in der Schweiz; in Cannes schreibt VS das erste der Drei Gespräche. Im Juni kehrt VS nach St. Petersburg zurück; Todesahnungen. Den Sommer verbringt er auf dem Gut Pustynka. Ab August verschlechtert sich sein Gesundheitszustand. September: Die Idee des Übermenschen. Oktober: Lermontov. November: Das zweite der Drei Gespräche erscheint. Dezember: Die Bedeutung der Poesie in den Gedichten Pu~ kins. Im Winter meist in St. Petersburg, gelegentlich in Moskau; VS beendet die Drei Gespräche und die Kurze Erzählung vom Antichrist. - Swedenborg. - Willensfreiheit (Lexikonartikel). 26.2.: VS liest in St. Petersburg die Kurze Erzählung vom Antichrist vor; stößt auf Unverständnis. Mai: Die Drei Gespräche erscheinen. Im Sommer wieder auf dem Gut Pustynka. Am 14.7. kommt VS nach Moskau, wo er erkrankt. Er wird auf das Gut Uskoe gebracht, das seinem Freund, dem Fürsten Sergej Trubeckoj, gehört. Dort stirbt VS am 31.7./13.8.
BIBLIOGRAPHISCHE HINWEISE
Die bis 1978 erschienene Literatur von und über Solov'ev ist in den beiden nachstehend angeführten Bibliographien fast vollständig verzeichnet. Bei den Werken Solov'evs wird die am leichtesten zugängliche und zugleich umfangreichste der russischen Ausgaben angeführt sowie die neueste Ausgabe der französischen Schriften, die auch bisher Unveröffentlichtes enthält. Er folgen die maßgebliche deutsche Übersetzung der ·Deutschen Gesamtausgabe der Werke Vladimir Solowjew• (zitiert DG) sowie die Übersetzungen einiger weiterer Schriften, die nicht in DG enthalten sind (dazu Ludolf Müller: Nachwort, in DG, Bd. 8, S. 619f.). Die Auswahl aus der Sekundärliteratur umfaßt einmal Werke, die besonders für eine erste Orientierung geeignet und leicht zugänglich sind, sodann Arbeiten, die das Werk Solov'evs auf eine interpretatorisch fruchtbare Weise unter spezifischen Gesichtspunkten erschließen, schließlich einige Titel, die noch nicht in den beiden Bibliographien verzeichnet sind.
I. Bibliographien
Bibliografija. - In: Solov'ev, Vladimir: Sobranie so~inenij. Tom dvenadcatyj [Gesammelte Werke. Zwölfter Band], Brjussel' [Bruxelles] 1970, s. 641-674. Diese Bibliographie um faßt ca. 830 Titel. Sie wird ergänzt durch die folgende, die ca. 870 weitere Titel verzeichnet: Neue Solov'ev-Bibliographie. - In: Wenzler, Ludwig: Die Freiheit und das Böse nach Vladimir Solov'ev, Freiburg, München 1978, S. 394456. II. Werke Solov'ev, Vladimir Sergeevi~: Sobranie so~inenij [ ... ] Vtoroe izdanie [Gesammelte Werke. ... Zweite Auflage]. Tom 1-10, S.-Petersburg 1911-14. Fototipi~eskoe izdanie [Fototypische Ausgabe], Brjussel' [Bruxelles]: Izd. -~izn's Bogom•, Foyer Oriental Chretien, 1966. Tom 11./12. Brjussel' 1969, 1970 [Ergänzungsbände]. Solov'ev, Vladimir Sergeevi~: Pis'ma [ ... ][Briefe ... ]. Tom 1-4, S.-Petersburg 1908, 1909, 1911, 1923. [Nachdruck als:] Pis'ma i prilo~enie. Foto-
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Ludwig Wenzier
tipi~eskoe izdanie [Briefe und Beilage. Fototypische Ausgabe], Brjussel'
1970 [4 Bände in 1 Band; leicht gekürzter und zugleich erweiterter Nachdruck]. Solov'ev, V[ladimir] S[ergeevi~]: Stichotvorenija i ~uto~nye p'esy. Gedichte und Scherzdramen. Nachdruck der Ausgaben Moskau 1922 [vielmehr: 1921 und 1922], München: Fink, 1968 ( =Siavische Propyläen; 18). Solov'ev, Vladimir: La Sophia et les autres ecrits fran~ais, edites et representes par Fran~ois Rouleau, Lausanne: L'Age d'homme, 1981. Solov'ev, Vladimir: Deutsche Gesamtausgabe der Werke, Hrsg. von Wladimir Szylkarski, Wilhelm Lettenbauer, Ludolf Müller[ ... ]. Bd. 1-8 u. Erg.Bd., Freiburg i.Br. [später München]: Wewel, 1953-1980. Solowjew, Wladimir: Die historischen Taten der Philosophie. Aus dem Russischen übersetzt und eingeleitet von E. Keuchel. 2. Auflage, Berlin 1925. Soloviev, V[ladimir]: Crise de Ia philosophie occidentale. Introduction et traduction par Maxime Herman, Paris 1947. Solowjew, Wladimir: Übermensch und Antichrist. Über das Ende der Weltgeschichte. Aus dem Gesamtwerk Solowjews ausgewählt und über· setzt, eingeleitet und erläutert von Ludolf Müller, Freiburg i.Br. 1958 ( = Herder-Bücherei; 26). Solowjow, Wladimir: Dostojewskij. -In: 66 [sechsundsechzig] russische Essays. Hrsg. und übersetzt von Erich Müller-Kamp, München [1967], S. 219-243. Solowjow, Wladimir: Recht und Sittlichkeit. Übersetzung, Erläuterung und Einleitung [ ... ]von Hans Helmut Gäntzel, Frankfurt a.M. 1971 (=Quellen der Philosophie; 13). III. Ausgewählte Sekundärliteratur Stnimooukhoff, D[mitrij]: Vladimir Soloviev et son oeuvre messianique, [Lausanne:] L'Age d'homme, [1975], [Nachdruck der Ausgabe: Paris 1935]. Schultze, Bernhard: Russische Denker. Ihre Stellung zu Christus, Kirche und Papsttum, Wien 1950, S. 253-290: Vladimir Sergeevi~ Solov'ev. Mo~ul'skij, K[onstantin]: Vladimir Solov'ev. ~izn' i u~enie. Izdanie vto· roe [V. S. Leben und Lehre. 2. Auf!.], Pari! 1951. Müller, Ludolf: Solovjev und der Protestantismus. Mit einem Anhang V. S. Solovjev und das Judentum. Nachwort von Wladimir Szylkarski, Freiburg i.Br. 1951. Balthasar, Hans Urs von: Herrlichkeit. Eine theologische Ästhetik. Zweiter Band: Fächer der Stile, Einsiedeln 1962, S. 645-716: Solowjew.
Bibliographische Hinweise
XLVII
Schestow, Lew: Spekulation und Offenbarung. Essays und kritische Betrachtungen. Deutsch von Hans Ruoff, Hamburg, München 1963, S. 33-135: Spekulation und Offenbarung. Die religiöse Philosophie Wl. Solowjews. Stepun, Fedor: Mystische Weltschau. Fünf Gestalten des russischen Symbolismus, München 1964, S. 13-92: Wladimir Solowjew. Gäntzel, Hans Helmut: Wladimir Solowjows Rechtsphilosophie auf der Grundlage der Sittlichkeit, Frankfurt a.M. 1968 (=Juristische Abhand· lungen; 8). Schlippe, Georg von: Vladimir Solov'ev: Smyslljubvi [Der Sinn der Liebe]. - In: Kindlers Literaturlexikon. Bd. VI, Zürich 1971, Sp. 15941596. Knigge, Armin: Die Lyrik VI. Solov'evs und ihre Nachwirkung bei A. Belyj und A. Blok, Amsterdam 1973 ( = Bibliotheca Slavonica; 12). Cioran, Samuel D.: Vladimir Solov'ev and the knighthood of the divine Sophia, Waterloo, Ontario, Canada: Laurier, 1977. Solov'ev, S[ergej] M[ichajlovi~]: ~izn' i tvor~eskaja evoljucija Vladimira Solov'eva [Leben und schöpferische Entwicklung V. S.s], Brjussel' [Bruxelles]: Izd .• ~izn' s Bogom«, Foyer Oriental Chretien, 1977. Gleixner, Hans: Vladimir Solov'evs Konzeption vom Verhältnis zwischen Politik und Sittlichkeit. System einer sozialen und politischen Ethik, Frankfurt a.M., Bern, Las Vegas 1978 ( Regensburger Studien zur Theologie; 11). Nigg, Walter: Heilige ohne Heiligenschein, Olten, Freiburg i.Br. 1978, S. 56-82 und 248f.: Wladimir Solowjew als sophianischer Pilger. Wenzler, Ludwig: Die Freiheit und das Böse nach Vladimir Solov'ev, Freiburg, München 1978 (=Symposion; 59). Colloque Vladimir Soloviev [1975]. -In: Nouvelles de !'Institut Catholique de Paris 1979, No. 1, mars, S. 3-117. Dahm, Helmut: Grundzüge russischen Denkens. Persönlichkeiten und Zeugnisse des 19. und 20. Jahrhunderts, München 1979, S. 16-46: Der systematische Entwurf von Vladimir Solov'ev. Bulgakov, Sergej: Was bietet die Philosophie von Vladimir Solov'ev dem Bewußtsein der Gegenwart? - In: Dahm, Helmut: Grundzüge russischen Denkens, München 1979, S. 321-338. Kaltenbrunner, Gerd-Klaus: Wladimir Solowjews Wiederkehr. - In: Stimmen der Zeit 200 (1982), S. 424-427. Berdjaev, Nikolaj: Die russische Idee. Grundprobleme des russischen Denkens im 19. Jahrhundert und zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Eingeleitet, übersetzt und erläutert von Dietrich Kegler, Sankt Augustin 1983 (=Texte zur Philosophie; 5). Losev, A[leksej] F[edorovi~]: VI. Solov'ev, Moskva: Mys!', 1983. Goerdt, Wilhelm: Russische Philosophie. Zugänge und Durchblicke,
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Ludwig Wenzier
Freiburg, München 1984, S. 471-517: Wladimir Solowj6w. Lilienfeld, Fairy von: Sophia - die Weisheit Gottes. Über die Visionen des Wladimir Solowjew als Grundlage seiner •Sophiologie•.- In: Una Saneta 39 (1984), S. 113-129.
EDITORISCHE HINWEISE
Die vorliegende Neuübersetzung der fünf Aufsätze Solov'evs über den »Sinn der Liebe« beruht auf dem Text der Erstdrucke, die in der Zeitschrift »Voprosy filosofii i psichologii« (»Fragen der Philosophie und der Psychologie«) in den Heften 14 und 15 (1892), 16 und 17 (1893) und 25 (1894) erschienen sind und die allein Anspruch auf Authentizität erheben können. Es war nicht Aufgabe dieser Ausgabe, die Solov'evs Text allein in deutscher Übersetzung darbietet, alle Fragen der Textkritik zu erörtern, die sich aus den Abweichungen zwischen den Erstdrucken und den Nachdrucken des russischen Textes in der ersten und zweiten Auflage der »Gesammelten Werke« Solov'evs ergeben (hierzu sei auf einen in Vorbereitung befindlichen Beitrag von Ludolf Müller in der »Zeitschrift für slavische Philologie« verwiesen). In eckige Klammern [] sind Zusätze der Übersetzerin eingeschlossen, die das Verständnis des Textes erleichtern sollen. Auf die Fußnoten Solov'evs wird durch hochstehende Kleinbuchstaben im fortlaufenden Text verwiesen. Die ebenfalls hochgestellten Ziffern verweisen auf die »Anmerkungen zur Übersetzung«, die im Anschluß an den Text zusammengefaßt wiedergegeben werden; sie bieten sprachliche und sachliche Erläuterungen, Nachweise von Zitaten und Hinweise auf Parallelstellen in anderen Werken Solov'evs. Die Ausgaben der Werke Solov'evs werden durch die folgenden Siglen bezeichnet: E
Erstdruck der fünf Aufsätze über den »Sinn der Liebe« in der Zeitschrift »Voprosy filosofii i psichologii« (»Fragen der Philosophie und der Psychologie«) in den Heften 14 und 15 {1892), 16 und 17 (1893) und 25 (1894). RG2 Russische Gesamtausgabe der Werke Solov'evs »Sobranie so~inenij« (»Gesammelte Werke«), 2. Auflage, Moskau 1911-13. DG Wladimir Solowjew, »Deutsche Gesamtausgabe«, hrsg. v. W. Szylkarski, W. Lettenbauer und L. Müller, München 1953ff., Bd. 1-8 und ein Ergänzungsband (Erg.B.).
L
Editorische Hinweise
Bei der Übersetzung wurde außer der deutschen Übersetzung von Wladimir Szylkarski in DG, Bd. 7, S. 201-272, die französische Übersetzung von T.D.M. herangezogen, die 1946 im Verlag Aubier erschienen ist (V. Soloviev, »Le sens de l'amour«). Beide Übersetzungen beruhen nicht auf den Erstdrucken, sondern auf dem von zahlreichen Fehlern entstellten Text der ersten Auflage der Gesammelten Werke (»Sobranie so~inenij«) Solov'evs, Band 6, S. 364-418. Der Text der zweiten Auflage enthält außer den aus der ersten Auflage übernommenen noch weitere Fehler. Ludolf Müller
DER SINN DER LIEBE
ERSTER AUFSATZ (Einleitende Bemerkungen)
Gewöhnlich wird der Sinn der geschlechtlichen Liebe darin gesehen, daß sie ein dienendes Mittel bei der Vermehrung der Gattung sei. Ich halte diese Ansicht für falsch - nicht nur auf Grund irgendwelcher ideeller' Erwägungen, sondern vor allem auf Grund naturgeschichtlicher Tatsachen. Daß die Vermehrung von Lebewesen ohne geschlechtliche Liebe auskommen kann, geht schon daraus hervor, daß sie überhaupt ohne Teilung in Geschlechter auskommt. Ein bedeutender Teil der Organismen sowohl des Pflanzen- wie auch des Tierreichs vermehrt sich auf ungeschlechtliche Weise: durch Teilung, durch Knospen- und Sporenbildung, durch Pfropfung. Allerdings vermehren sich die höheren Formen der beiden organischen Reiche auf geschlechtliche Weise. Aber erstens können die sich auf solche Art vermehrenden Organismen - sowohl pflanzliche wie zum Teil auch tierische - sich gleichfalls auch auf ungeschlechtliche Art vermehren (das Pfropfen bei Pflanzen, die Parthenogenese bei höheren Insekten); und zweitens, wenn man dies außer acht läßt und als allgemeine Regel annimmt, daß sich die höheren Organismen durch das Mittel der geschlechtlichen Vereinigung vermehren, müssen wir den Schluß ziehen, daß dieser geschlechtliche Faktor nicht mit der Vermehrung an sich verbunden ist (die auch ohne ihn erfolgen kann), sondern mit der Vermehrung der höheren Organismen. Daraus folgt, daß man den Sinn der geschlechtlichen Differenzierung (und der geschlechtlichen Liebe) keinesfalls in der Idee des Lebens der Gattung und seiner Vermehrung suchen darf, sondern nur in der Idee des höheren Organismus. Eine überraschende Bestätigung hierfür finden wir in der folgenden hochbedeutsamen Tatsache. Im Bereich der Tiere, die sich aus-
2
Der Sinn der Liebe
schließlich auf geschlechtliche Weise fortpflanzen (die Abteilung der Wirbeltiere), wird die Kraft der Vermehrung um so geringer, je höher wir auf der Stufenleiter der Organismen hinaufsteigen, die Kraft der geschlechtlichen Anziehung wird dagegen immer größer. In der untersten Klasse dieser Abteilung- bei den Fischen erfolgt die Vermehrung in riesigen Ausmaßen: die Keime, die jährlich von jedem Weibchen hervorgebracht werden, zählen nach Millionen; diese Keime werden vom Männchen außerhalb des Körpers des Weibchens befruchtet, und die Art und Weise, wie das geschieht, erlaubt es nicht, eine starke geschlechtliche Anziehung anzunehmen. Von allen Wirbeltieren vermehrt sich diese Klasse der Kaltblütler zweifellos am meisten und zeigt dabei am wenigsten Liebesleidenschaft. Auf der folgenden Stufe - bei den Amphibien und Reptilien - ist die Vermehrung sehr viel unbedeutender als bei den Fischen, obwohl diese Klasse wegen einiger ihrer Arten in der Bibel nicht ohne Grund zu den Lebewesen gerechnet wird, von denen es wimmelt (schäräz schirzu) 10 , aber schon bei diesen Tieren finden wir bei geringerer Vermehrung engere geschlechtliche Beziehungen ... Bei den Vögeln ist die Kraft der Vermehrung sehr viel geringer, nicht nur im Vergleich mit den Fischen, sondern z.B auch im Vergleich mit den Fröschen; dagegen erreichen die geschlechtliche Anziehung und gegenseitige Anhänglichkeit von Männchen und Weibchen hier eine in den beiden unteren Klassen noch nicht vorhandene Entwicklungsstufe. Bei den Säugetieren oder Lebendgebärenden ist die Vermehrung bedeutend schwächer als bei den Vögeln, die geschlechtliche Anziehungskraft aber ist, wenn auch bei der Mehrzahl weniger beständig, so doch weitaus intensiver. Beim Menschen schließlich ist die Vermehrung im Vergleich zum gesamten Tierreich am allergeringsten, die Geschlechtsliebe dagegen erreicht größte Bedeutung und höchste Kraft, indem sie die Beständigkeit der Beziehung (wie bei den Vögeln) mit der Spannung der Leidenschaft (wie bei den Säugetieren) vereinigt. Somit stehen die Geschlechtsliebe und die Vermehrung der Gattung in umgekehrtem Verhältnis zueinander: Je stärker die eine, um so schwächer die andere. Allgemein gesprochen entwickelt sich das ganze Tierreich, von dieser Seite aus betrachtet, in folgender Ordnung: Unten eine riesige Kraft der Vermehrung, wobei völlig fehlt, was der Geschlechtsliebe ähnlich wäre (selbst die Aufteilung in Geschlechter fehlt);
Erster Aufsatz
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dann tritt bei den vollkommeneren Organismen eine geschlechtliche Differenzierung auf und ihr entsprechend eine gewisse geschlechtliche Anziehung - die anfangs äußerst schwach ist, sich dann auf den weiteren Stufen der organischen Entwicklung aber ständig in dem Maße verstärkt, wie die Kraft der Vermehrung abnimmt (d.h. in direktem Verhältnis zur Vollkommenheit der Organisation und im umgekehrten Verhältnis zur Kraft der Vermehrung), bis schließlich auf der obersten Stufe - beim Menschen die stärkste geschlechtliche Liebe möglich wird, sogar .unter völligem Ausschluß der Vermehrung. Wenn wir aber auf diese Weise an den zwei Enden des Lebens der Tiere auf der einen Seite Vermehrung ohne jede geschlechtliche Liebe und auf der anderen Seite geschlechtliche Liebe ohne jede Vermehrung finden, so ist völlig klar, daß diese beiden Erscheinungen nicht in eine untrennbare Verbindung miteinander gebracht werden können - es ist klar, daß jede von ihnen ihre selbständige Bedeutung hat und daß der Sinn der einen nicht darin bestehen kann, Mittel für die andere zu sem. Das gleiche ergibt sich, wenn man die geschlechtliche Liebe ausschließlich in der menschlichen Welt betrachtet, wo sie unvergleichlich mehr als im Tierreich jenen individuellen Charakter annimmt, kraft dessen gerade diese Person des anderen Geschlechts für den Liebenden eine unbedingte Bedeutung hat als etwas Einziges und Unersetzliches, als Zweck an sich.
li. Hier begegnen wir einer populären Theo(ie, 2 welche, indem sie die geschlechtliche Liebe im allgemeinen als ein Mittel des Gattungsinstinkts oder als Werkzeug der Vermehrung ansieht, die Individualisierung des Liebesgefühls beim Menschen im besonderen als eine Art List oder Verführung zu erklären sucht, die die Natur oder der Weltwille anwenden, um ihre besonderen Ziele zu erreichen. In der Welt der Menschen, wo die individuellen Besonderheiten eine sehr viel größere Bedeutung erhalten als im Tier- und im Pflanzenreich, hat die Natur (oder auch der Weltwille, der Wille zum Leben, oder auch der unbewußte oder überbewußte Weltgeist) nicht nur die Erhaltung der Gattung im Auge, sondern er
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Der Sinn der Liebe
will im Rahmen der Gattung auch eine Vielzahl von möglichen speziellen oder Gattungstypen und individuellen Charakteren verwirklichen. Aber außer diesem allgemeinen Ziel - eine möglichst große Mannigfaltigkeit der Formen zu entwickeln - hat das Leben der Menschheit, als historischer Prozeß verstanden, die Erhöhung und Vervollkommnung der menschlichen Natur zur Aufgabe. Dazu ist nicht nur notwendig, daß es möglichst viele verschiedene Musterstücke der Menschheit gibt, sondern daß ihre besten Musterstücke zur Welt kommen, die nicht nur an sich, als individuelle Typen, wertvoll sind, sondern auch durch ihr erhöhendes und verbesserndes Wirken auf die übrigen. Jene Kraft also - wie auch immer wir sie nennen mögen -die den kosmischen und historischen Prozeß bewegt, ist bei der Vermehrung des Menschengeschlechts nicht nur daran interessiert, daß ununterbrochen menschliche Einzelwesen ihrer Art gemäß 3 in genügender Anzahl geboren werden, sondern auch daran, daß gerade diese bestimmten und nach Möglichkeit bedeutenden Individualitäten in genügender Anzahl geboren werden. Hierfür genügt jedoch nicht mehr eine einfache Vermehrung auf dem Wege einer zufälligen und unterschiedslosen Vereinigung von Einzelwesen verschiedenen Geschlechts: Für die Hervorbringung eines individuell bestimmten Geschöpfs ist die Vereinigung individuell bestimmter Erzeuger notwendig, und folglich erweist sich auch der allgemeine Geschlechtstrieb, der der Erhaltung der Art bei den Tieren dient, als unzureichend. Da es sich in der Menschheit nicht nur um die Erzeugung von Nachkommenschaft überhaupt handelt, sondern auch um das Hervorbringen einer bestimmten, für die Erreichung der Weltziele besonders geeigneten Nachkommenschaft, und da eine bestimmte Person diese erforderliche Nachkommenschaft nicht mit einer jeden Person des anderen Geschlechts hervorbringen kann, sondern nur mit einer bestimmten, so muß diese eine Person für sie eine besondere Anziehungskraft besitzen, ihr als etwas Ausschließliches, Unersetzliches, Einziges erscheinen, das fähig ist, ihr höchste Glückseligkeit zu schenken. Und eben dies ist jene Individualisierung und Exaltation des geschlechtlichen Instinkts, durch die sich die menschliche Liebe von der tierischen unterscheidet; die eine wie die andere aber wird in uns von einer fremden, wenn auch vielleicht höheren Macht erregt, die damit ihre eigenen, außerhalb unseres persönlichen Bewußtseins liegenden Ziele verfolgt - sie
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wird erregt als eine irrationale, schicksalhafte Leidenschaft, die von uns Besitz ergreift und die wie eine Luftspiegelung verschwindet, wenn sie nicht mehr gebraucht wird! Wenn diese Theorie richtig wäre, wenn die Individualisierung und Exaltation des Liebesgefühls ihren ganzen Sinn, ihre einzige Ursache und ihr Ziel außerhalb dieses Gefühls hätten, nämlich in den (für die Weltziele) erforderlichen Eigenschaften der Nachkommenschaft, dann würde daraus logisch folgen, daß der Grad dieser Individualisierung und Exaltation des Liebesgefühls oder die Kraft der Liebe in direktem Verhältnis steht zum Grad dessen, was typisch und bedeutsam ist an der Nachkommenschaft, die aus ihr hervorgeht: je bedeutender die Nachkommenschaft, desto stärker müßte die Liebe der Eltern gewesen sein; und umgekehn: je stärker die Liebe, die zwei bestimmte Menschen verbindet, umso bemerkenswener müßte die Nachkommenschaft sein, die wir nach dieser Theorie von ihnen erwanen dürften. Wenn das Liebesgefühl überhaupt vom Weltwillen wegen der jeweils erforderlichen Nachkommenschaft erregt wird und wenn es nur das Mittel ist, diese Nachkommenschaft hervorzubringen, dann ist doch klar, daß in jedem einzelnen Fall die Stärke des Mittels, das von der bewegenden kosmischen Macht gebraucht wird, der Wichtigkeit des von ihr angestrebten Zieles angemessen sein muß. Je mehr der Weltwille an dem, was zur Welt kommen soll, interessiert ist, umso stärker muß er die beiden dazu notwendigen Erzeuger zueinander hinziehen und miteinander verbinden. Nehmen wir an, es handle sich um die Gebun eines Weltgenies, das eine ungeheure Bedeutung im historischen Prozeß haben soll. Die höchste Macht, die diesen Prozeß leitet, ist offenbar an dieser Gebun, verglichen mit anderen, um so viel mehr interessien, als dieses Weltgenie eine Erscheinung ist, die im Vergleich zu den gewöhnlichen Sterblichen selten ist; und folglich muß auch die Stärke der geschlechtlichen Anziehung, mit der sich der Weltwille (nach dieser Theorie) • Ich habe das allgemein Wesentliche der Ansicht dargelegt, die von mir abgelehnt wird, ohne auf nebensächliche Unterschiede, die sie bei Schopenhauer, Hartmann und anderen aufweist, einzugehen. In einer unlängst erschienenen Broschüre ·Der Hauptfaktor der Erblichkeit• (Moskau, 1891) versucht Herr Walter 4 durch historische Tatsachen zu beweisen, daß große Menschen die Frucht starker gegenseitiger Liebe sind.
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in diesem Fall das Erreichen des für ihn so wichtigen Ziels sichert, ebenso sehr über das gewöhnliche Maß hinausgehen. Natürlich können die Verfechter dieser Theorie den Gedanken über ein genaues quantitatives Verhältnis zwischen der Wichtigkeit einer bestimmten Person und der Stärke der Leidenschaft ihrer Eltern mit der Begründung ablehnen, daß beides keine genaue Messung zulasse; es ist aber (vom Standpunkt dieser Theorie aus) ganz unbestreitbar, daß der Weltwille, wenn er an der Geburt irgendeines Menschen außergewöhnlich interessiert ist, auch außergewöhnliche Maßnahmen ergreifen muß, um das gewünschte Resultat zu sichern; d.h. nach dem Sinn der Theorie muß er in den Eltern eine außergewöhnlich starke Leidenschaft erwecken, die imstande ist, alle Hindernisse zu ihrer Vereinigung zu überwinden. In der Wirklichkeit finden wir jedoch nichts dergleichen - keinerlei Wechselbeziehung zwischen der Stärke der Liebesleidenschaft und der Bedeutung der Nachkommenschaft. Vor allem begegnen wir der für diese Theorie völlig unerklärlichen Tatsache, daß die stärkste Liebe oft unerwidert bleibt und nicht nur keine bedeutende, sondern überhaupt keine Nachkommenschaft hervorbringt. Wenn Menschen, von einer solchen Liebe getrieben, Mönche werden oder Selbstmord begehen, wozu hat sich der Weltwille, der an der Nachkommenschaft interessiert ist, hier so bemüht? Selbst wenn sich der feurige Wertherb nicht getötet hätte, so bliebe seine unglückliche Leidenschaft dennoch ein unerklärliches Rätsel für die Theorie der qualifizierten Nachkommenschaft.5 Die außergewöhnlich individualisierte und exaltierte Liebe Werthers zu Charlotte zeigte (vom Standpunkt dieser Theorie aus), daß er gerade mit Charlotte eine für die Menschheit besonders wichtige und notwendige Nachkommenschaft hätte hervorbringen müssen, um derentwillen der Weltwille diese ungewöhnliche Leidenschaft überhaupt erst in ihm erregt hat. Aber warum ist dieser allwissende und allmächtige Wille 6 nicht auf den Gedanken gekommen oder warum war er nicht imstande, auch auf Charlotte in dem gewünschten Sinne einzuwirken, ohne deren Teilnahme Hier und weiterhin erläutere ich meine Überlegung an Beispielen, die vorwiegend den großen Schöpfungen der Dichtkunst entnommen sind. Sie haben vor den Beispielen aus dem wirklichen Leben den Vorzug, daß sie nicht einzelne Erscheinungen, sondern ganze Typen darstellen. b
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Werthers Leidenschaft völlig zwecklos und unnütz war? Für eine teleologisch wirkende Substanz love's labour lost 7 anzunehmen, ist völliger Unsinn. Eine besonders starke Liebe ist meistens unglücklich, unglückliche Liebe aber führt gewöhnlich zum Selbstmord in der einen oder anderen Form; und ein jeder dieser zahllosen Selbstmorde aus unglücklicher Liebe widerlegt offenkundig jene Theorie, nach der starke Liebe nur zu dem Zweck erregt wird, koste es, was es wolle, die geforderte Nachkommenschaft hervorzubringen, deren Wichtigkeit durch die Stärke dieser Liebe bezeichnet wird, während in Wirklichkeit in all diesen Fällen die Stärke der Liebe gerade dazu führt, daß nicht nur eine wichtige, sondern überhaupt jegliche Nachkommenschaft ausgeschlossen ist. Die Fälle von unerwiderter Liebe sind zu häufig, als daß man in ihnen nur eine Ausnahme sehen könnte, die unbeachtet bleiben kann. Und selbst wenn es so wäre, würde das der Sache wenig nützen; denn auch in jenen Fällen, in denen auf beiden Seiten eine besonders starke Liebe in Erscheinung tritt, führt sie nicht zu dem von der Theorie verlangten Ziel. Nach der Theorie müßten Romeo und Julia 8 entsprechend ihrer großen gegenseitigen Leidenschaft irgendeinen sehr bedeutenden Menschen erzeugen, mindestens einen Shakespeare; in Wirklichkeit war es aber bekanntlich umgekehrt: Nicht sie haben Shakespeare hervorgebracht, wie das der Theorie nach sein müßte, sondern er sie, und noch dazu ohne alle Leidenschaft - auf dem Wege des geschlechtslosen Schöpferturns. Romeo und J ulia sind wie die Mehrzahl der leidenschaftlich Liebenden gestorben, ohne irgendjemanden hervorgebracht zu haben, Shakespeare aber, der sie hervorgebracht hat, wurde, wie auch sonstige große Menschen, nicht von einem wahnsinnig verliebten Paar geboren, sondern stammte aus einer ganz gewöhnlichen Durchschnittsehe (er selbst war wohl von einer starken Liebesleidenschaft ergriffen, wie man das unter anderem aus seinen Sonetten ersehen kann, jedoch ist daraus keinerlei bedeutende Nachkommenschaft hervorgegangen). Die Geburt von Christoph Kolumbus war für den Weltwillen vielleicht noch wichtiger als die Geburt Shakespeares; 9 doch von irgendeiner besonderen Liebe seiner Eltern wissen wir nichts; aber wir wissen von seiner eigenen starken Leidenschaft zu Donna Beatrice Enriquez; und obwohl er von ihr einen unehelichen Sohn Diego hatte, vollbrachte dieser
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Sohn nichts Großes, sondern schrieb nur die Biographie seines Vaters, was auch jeder andere hätte tun können. Wenn der ganze Sinn der Liebe in der Nachkommenschaft liegt und die höchste Macht die Angelegenheiten der Liebe lenkt, warum verhinden diese dann, anstatt sich um die Vereinigung der Liebenden zu bemühen, im Gegenteil gleichsam absiehdich diese Vereinigung, als wenn ihre Aufgabe gerade darin bestünde, den wahrhaft Liebenden um jeden Preis selbst die Möglichkeit zu nehmen, Nachkommenschaft zu erzeugen: Sie veranlaßt sie, sich auf Grund eines verhängnisvollen Mißverständnisses in Grabgewölben zu erstechen, ertränkt sie im Hellespont 10 und führt sie auf jede mögliche andere An und Weise zu einem vorzeitigen und kinderlosen Ende. In den seltenen Fällen aber, wo eine starke Liebe keine tragische Wendung nimmt, wo das verliebte Paar glücklich bis zum Alter lebt, bleibt es trotzdem unfruchtbar. Ein richtiges poetisches Empfinden für die Wirklichkeit veranlaßte sowohl Ovid als auch Gogol', Philemon und Baucis, Afanasij Ivanovi~ und Pulcherija Ivanovna ohne Nachkommenschaft bleiben zu lassen.11 Es ist unmöglich, eine direkte Entsprechung zwischen der Stärke der individuellen Liebe und der Bedeutung der Nachkommenschaft anzuerkennen, wenn bloße Existenz von Nachkommenschaft bei einer solchen Liebe nur ein seltener Zufall ist. Wie wir sahen, ist es erstens etwas sehr Gewöhnliches, daß eine starke Liebe unerwidert bleibt; zweitens führt eine starke Leidenschaft, wenn sie gegenseitig ist, zu einem tragischen Ende, ohne Nachkommenschaft hervorgebracht zu haben; drittens bleibt eine glückliche Liebe, wenn sie sehr stark ist, gewöhnlich auch unfruchtbar. In jenen seltenen Fällen aber, in denen eine ungewöhnlich starke Liebe Nachkommenschaft hervorbringt, erweist diese sich als höchst mittelmäßig. Als allgemeine Regel, von der es fast keine Ausnahmen gibt, kann man feststellen, daß eine besondere Intensität der geschlechtlichen Liebe entweder überhaupt keine Nachkommenschaft zuläßt oder daß sie nur eine solche zuläßt, deren Bedeutung durchaus nicht der Spannung des Liebesgefühls und dem außerordentlichen Charakter der Beziehungen, die von ihm verursacht werden, entspricht. Den Sinn der geschlechtlichen Liebe in der zweckentsprechen-
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den Erzeugung von Kindern zu sehen, bedeutet, diesen Sinn nur dort anzuerkennen, wo es überhaupt keine Liebe gibt, und wo es sie gibt, ihr jeden Sinn und jede Rechtfertigung zu nehmen. Diese vermeintliche Theorie der Liebe erweist sich, wenn man sie mit der Wirklichkeit konfrontiert, nicht als Erklärung, sondern als Verzicht auf jede Erklärung. III Die Macht, die das Leben der Menschheit lenkt, die von den einen Weltwille, von den anderen unbewußter Geist genannt wird und die in Wirklichkeit die göttliche Vorsehung 12 ist, sorgt zweifellos dafür, daß die für ihre Ziele notwendigen providentiellen Menschen im rechten Augenblick erzeugt werden, indem sie in den langen Reihen der Generationen die Vereinigungen der Erzeuger veranlaßt, die in Hinblick auf die zukünftige, nicht nur nahe, sondern auch entfernteste Nachkommenschaft notwendig sind. Für diese providentielle Auswahl der Erzeuger werden die verschiedensten Mittel angewandt, aber die Liebe im eigentlichen Sinn, das heißt die ausschließliche, individualisierte und exaltierte geschlechtliche Anziehung, gehört nicht zu diesen Mitteln. Die biblische Geschichte 13 mit ihrem wahren, tiefen Realismus, der den idealen Sinn der Tatsachen nicht ausschließt, sondern ihn in ihren empirischen Einzelheiten verkörpert - die biblische Geschichte gibt in diesem Fall wie immer ein Zeugnis, das für jeden Menschen mit historischem und künstlerischem Sinn wahrhaft und lehrreich ist, ganz unabhängig von religiösen Überzeugungen. Die zentrale Tatsache der biblischen Geschichte, die Geburt des Messias, setzt mehr als jede andere einen providentiellen Plan in der Auswahl und Vereinigung der einander folgenden Erzeuger voraus, und in der Tat konzentriert sich das Hauptinteresse der biblischen Erzählungen auf die vielfältigen und erstaunlichen Schicksale, durch die die Geburten und Verbindungen der »Väter Gottes« bewirkt wurden.' Aber in diesem ganzen komplizierten System der Mittel, die in der Ordnung der historischen Erschei'So werden in der kirchlichen Sprache vorwiegend die heiligen Joa· chim und Anna 14 genannt, aber auch die übrigen Vorfahren der Gottes-
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nungen die Geburt des Messias bestimmt haben, war für die Liebe im eigentlichen Sinn kein Platz; sie kommt natürlich in der Bibel vor, doch nur als selbständige Tatsache, nicht aber als Werkzeug des christogonischen Prozesses. 15 - Die Heilige Schrift sagt nicht, ob AbrahamSarahaus starker, flammender Liebe geheiratet hatd, jedenfalls aber wartete die Vorsehung, bis diese Liebe vollständig erkaltet war, um von den hundertjährigen Eltern ein Kind des Glaubens und nicht der Liebe erzeugen zu lassen. 17 Isaak heiratet Rebekka nicht aus Liebe, sondern gemäß dem vorher gefaßten Beschluß und Plan seines Vaters. 18 Jakob liebt Rahel, 19 aber diese Liebe erweist sich als unnötig für die Erzeugung des Messias. Er muß von Juda abstammen, dem Sohn Jakobs, der nicht von Rahel, sondern von Lea geboren wird, die von ihrem Mann nicht geliebt wird. 20 In dieser Generation war es für die Erzeugung der Vorfahren des Messias notwendig, daß Jakob sich gerade mit Lea vereinigte; aber um diese Vereinigung zu erreichen, erregte die Vorsehung in Jakob keine starke Liebesleidenschaft zu der künftigen Mutter des »Gotteserzeugers« Juda; die höchste Macht zerstört nicht die Freiheit des Herzensgefühls, sondern läßt ihn Rahellieben, für seine notwendige Verbindung mit Lea aber bedient sie sich eines Mittels ganz anderer Art: der eigennützigen Schlauheit einer dritten Person - nämlich des Laban, der seine familiären und ökonomischen Interessen verfolgt. 21 Juda selbst aber muß sich, um neben seiner früheren Nachkommenschaft einen weiteren Vorfahren des Messias zu zeugen, im Alter noch mit seiner Schwiegertochter Tamar verbinden. 22 Da eine solche Verbindung ganz und gar nicht in der Ordnung der Dinge lag und unter gewöhnlichen Bedingungen nicht hätte erfolgen können, so wird das Ziel mit Hilfe eines äußerst seltsamen Abenteuers erreicht, das für oberflächliche Leser der Bibel sehr anstößig ist. Von Liebe kann in diesem Abenteuer überhaupt nicht die Rede sein. - Nicht Liebe verbindet Rahab, die Hure von Jericho mit dem jüdischen Ankömmling; 23 sie gibt sich ihm zuerst berufsmäßig hin, dann wird die zufällige Verbindung aber durch ihren Glauben an die Macht des neuen Gottes mutter tragen bei kirchlichen Schriftstellern manchmal diese Bezeichnung. d Offenbar wird dies durch das bekannte Abenteuer in Ägypten ausgeschlossen, das bei starker Liebe psychologisch unmöglich gewesen wäre. 16
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und den Wunsch nach Schutz für sich und die Ihren gefestigt. Nicht Liebe vereinigte den Urgroßvater Davids, den Greis Boas mit der jungen Moabiterin Rut, 24 und nicht aus einer echten, tiefen Liebe, sondern nur aus einer zufälligen, sündhaften Laune des alternden Herrschers wurde Salomon 25 geboren. In der heiligen ebenso wie in der profanen Geschichte erscheint die geschlechtliche Liebe nicht als Mittel oder Werkzeug historischer Ziele; sie dient nicht dem Menschengeschlecht. Wenn daher das s1.1bjektive Gefühl uns sagt, daß die Liebe ein selbständiges Gut ist, daß sie einen eigenen, unbedingten Wert für unser persönliches Leben hat, so entspricht diesem Gefühl auch in der objektiven Wirklichkeit die Tatsache, daß eine starke individuelle Liebe niemals ein Hilfsmittel zur Erreichung von Zielen der Gattung ist; diese werden ohne sie erreicht. In der allgemeinen wie in der heiligen Geschichte spielt die geschlechtliche Liebe (im eigentlichen Sinne) keinerlei Rolle und übt keine direkte Wirkung auf den historischen Prozeß aus: Ihre positive Bedeutung muß im individuellen Leben verwurzelt sein. Welchen Sinn aber hat sie hier?
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Sowohl bei den Tieren als auch beim Menschen liegt in der geschlechtlichen Liebe die höchste Entfaltung des individuellen Lebens. Da aber bei den Tieren das Gattungsleben entschieden das Übergewicht über das individuelle Leben hat, so kommt auch die höchste Anspannung des letzteren nur dem Gattungsprozeß zugute. Nicht daß die geschlechtliche Anziehung nur das Mittel für die einfache Wiederhervorbringung oder Vermehrung der Organismen wäre, sie dient vielmehr mit Hilfe der geschlechtlichen Rivalität und der Selektion zur Hervorbringung von vollkommeneren Organismen. Man hat sich bemüht, der geschlechtlichen Liebe auch im Bereich des Menschlichen solche Bedeutung zuzuschreiben, aber, wie wir sahen, völlig unbegründet. Denn in der Menschheit hat die Individualität eine selbständige Bedeutung und
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kann in ihrer stärksten Äußerung nicht nur ein Werkzeug der Ziele des historischen Prozesses sein, die für die Individualität etwas Äußerliches sind. Oder besser gesagt: das wahre Ziel des geschichtlichen Prozesses ist nicht von der Art, daß die menschliche Persönlichkeit ihm nur als ein passives und vergängliches Werkzeug dienen könnte. Die Überzeugung von der unbedingten Würde des Menschen ist nicht auf Eigendünkel gegründet und auch nicht auf der empirischen Tatsache, daß wir kein vollkommeneres Wesen in der Ordnung der Natur kennen. Die unbedingte Würde des Menschen besteht in der ihm zweifellos eigenen absoluten Form (Gestalt)2 6 des vernünftigen Bewußtseins. Ebenso wie das Tier ist der Mensch sich der Zustände, die er früher erlebt hat und jeweils erlebt, bewußt; ebenso wie das Tier sieht er sie auf die eine oder andere Weise miteinander in Zusammenhang stehen und nimmt auf der Grundlage dieses Zusammenhangs in seinem Verstand zukünftige Zustände voraus; darüber hinaus aber besitzt er die Fähigkeit, seine Zustände und Handlungen und überhaupt alle Tatsachen zu bewerten, und zwar nicht nur in ihrem Verhältnis zu anderen einzelnen Tatsachen, sondern auch im Verhältnis zu allgemeinen, idealen Normen; sein Bewußtsein wird nicht nur von den Erscheinungen des Lebens, sondern darüber hinaus noch von der Vernunft der Wahrheit 21 bestimmt. Indem der Mensch seine Handlungen mit diesem höchsten Bewußtsein in Übereinstimmung bringt, kann er sein Leben und seine Natur unendlich vervollkommnen, ohne die Grenzen seiner menschlichen Form zu überschreiten. Und eben deshalb ist er das höchste Wesen der natürlichen Welt und das wirkliche Ende des kosmogonischen Prozesses; denn abgesehen von jenem Wesen, 28 das die ewige und absolute Wahrheit selbst ist, ist unter allen Wesen jenes das höchste, das fähig ist, die Wahrheit zu erkennen und in sich selbst zu verwirklichen - das höchste nicht in relativem, sondern im unbedingten Sinne. Welchen vernünftigen Grund könnte man für die Erschaffung neuer, ihrem Wesen nach vollkommenerer Formen ausdenken, wenn es schon eine Form gibt, die zu unendlicher Selbstvervollkommnung fähig ist, da sie die ganze Fülle des absoluten Inhalts aufnehmen kann? Mit dem Erscheinen einer solchen Form kann der weitere Prozeß nur in neuen Stufen der Entwicklung dieser Form bestehen und nicht in ihrer Ablösung durch irgendwelche Geschöpfe anderer Art,
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durch andere, noch nicht dagewesene Formen des Seins. Darin liegt der wesentliche Unterschied zwischen dem kosmogonischen und dem historischen Prozeß. Der erste schafft (bis zum Auftreten des Menschen) immer wieder neue Arten von Lebewesen, wobei frühere zum Teil als erfolglose Versuche vernichtet werden, zum Teil aber mit dem Neuen in äußerlicher Weise zusammenexistieren und zufällig aufeinanderstoßen, ohne irgendeine wirkliche Einheit zu bilden, weil ihnen ein gemeinsames Bewußtsein fehlt, das sie mi•einander und mit der kosmischen Vergangenheit verbinden würde. Ein solches gemeinsames Bewußtsein tritt erst in der Menschheit auf. Im Reich der Tiere ist der kontinuierliche Übergang von den niederen Formen zu höheren, bei all seiner Regelund Zweckmäßigkeit, eine für sie selbst absolut äußere und fremde Tatsache, die für sie überhaupt nicht existiert: Der Elefant und der Affe können nichts von dem komplizierten Prozeß geologischer und biologischer Transformationen wissen, der ihr wirkliches Erscheinen auf der Erde bewirkt hat; der verhältnismäßig höhere Grad des einzelnen und individuellen Bewußtseins bedeutet hier keinerlei Fortschritt im allgemeinen Bewußtsein, das bei diesen klugen Tieren genauso vollständig fehlt wie bei der dummen Auster; das komplizierte Gehirn eines höheren Säugetieres dient der Selbsterleuchtung der Natur in ihrer Ganzheit genausowenig wie die keimhaften Nervenknoten irgendeines Wurmes. In der Menschheit dagegen macht durch das erhöhte individuelle (religiöse und wissenschaftliche) Bewußtsein das allgemeine Bewußtsein Fortschritte. Der individuelle Geist ist hier nicht nur ein Organ des persönlichen Lebens, sondern auch ein Organ der Erinnerung und der Ahnung für die ganze Menschheit und sogar für die ganze Natur. Jener Hebräer, der schrieb: »Dies ist das Buch von der Entstehung des Himmels und der Erde« (elläh toledot haschamajim vehaarätz)29 und weiter: »Dies ist das Buch von der Entstehung des Menschen« (zäh sefer toledot haadam), 30 drückte nicht nur sein persönliches und nationales Bewußtsein aus - durch ihn leuchtet zum ersten Mal in der Welt die Wahrheit von der Einheit der ganzen Welt und der ganzen Menschheit auf.< Und alle weiteren FortWenn man sagt, diese Worte seien von Gott eingegeben, so ist das kein Einwand, sondern nur eine Übersetzung meines Gedankens in die theologische Sprache. e
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schritte des Bewußtseins bestehen nur in der Entwicklung und Inkarnierung dieser Wahrheit, sie brauchen aus dieser allumfassenden Form nicht herauszutreten, und sie können nicht aus ihr heraustreten: Was kann die vollkommenste Astronomie und Geologie anderes tun, als die Genesis von Himmel und Erde vollständig zu rekonstruieren? Ebenso kann die höchste Aufgabe der historischen Erkenntnis nur sein, jenes »Buch der Geburten des Menschen«, d.h. den genetischen, kontinuierlichen Zusammenhang im Leben der Menschheit zu rekonstruieren, und schließlich kann unsere schöpferische Tätigkeit kein höheres Ziel haben, als diese von Anbeginn geschaffene und verkündete Einheit von Himmel, Erde und Mensch in sinnlich wahrnehmbaren Bildern zu inkarnieren.31 Die ganze Wahrheit - die positive Einheit von allem - ist von Anbeginn im lebendigen Bewußtsein des Menschen angelegt, und sie verwirklicht sich stufenweise im Leben der Menschheit mit bewußter Kontinuität {denn eine Wahrheit, die sich ihrer Herkunft nicht erinnert, 32 ist keine Wahrheit). Dank der unendlichen Dehnbarkeit und Unzerreißbarkeit seines kontinuierlichen Bewußtseins kann der Mensch mit sich selbst identisch bleiben und doch gleichzeitig die ganze grenzenlose Fülle des Seins ergreifen und verwirklichen; und darum sind keinerlei höhere Arten von Wesen als Ablösung für ihn nötig und möglich. In den Grenzen seiner gegebenen Wirklichkeit ist der Mensch nur ein Teil der Natur; aber ständig und folgerichtig verletzt er diese Grenzen; in seinen geistigen Erzeugnissen - Religion und Wissenschaft, Sittlichkeit und Kunst - erweist er sich als Zentrum des allgemeinen Bewußtseins der Natur, als Seele der Welt, als sich verwirklichende Potenz der absoluten All-Einheit, und folglich kann höher als er nur dieses Absolute selbst in seinem vollkommenen Akt oder seinem ewigen Sein, d.h. [höher als er kann nur] Gott sem. II
Der Vorrang des Menschen vor den übrigen Wesen der Natur ist die Fähigkeit, die Wahrheit zu erkennen und zu verwirklichen; er besitzt diese Fähigkeit nicht nur als Gattung, sondern auch als Individuum: jeder Mensch ist fähig, die Wahrheit zu erkennen und
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zu verwirklichen, jeder kann eine lebendige Spiegelung des absoluten Ganzen, ein bewußtes und selbständiges Organ des universalen Lebens werden. Auch in der übrigen Natur ist die Wahrheit (oder das Bild Gottes) vorhanden, aber nur in ihrer objektiven, den Einzelwesen unbekannten Allgemeinheit; sie gestaltet sie und wirkt in ihnen und durch sie als schicksalhafte Macht, als das ihnen selbst unbekannte Gesetz ihres Seins, dem sie sich unwillkürlich und unbewußt unterwerfen; für sich selbst, in ihrem inneren Gefühl und Bewußtsein, können sie sich nicht über ihre gegebene Einzelexistenz erheben, sie finden sich nur in ihrer Gesondenheit, in der Getrenntheit von allem - folglich außerhalb der Wahrheit; und darum kann die Wahrheit oder das Allgemeine hier nur im Wechsel der Generationen triumphieren, im Beharren der Gattung und im Untergang des individuellen Lebens, das der Wahrheit in sich nicht Raum geben kann. Die menschliche Individualität aber wird gerade deshalb, weil sie der Wahrheit in sich Raum geben kann, von dieser nicht aufgehoben, sondern sie wird im Triumph dieser Wahrheit 33 erhalten und verstärkt. Dafür aber, daß das individuelle Wesen in der Wahrheit -der All-Einheit -seine Rechtfenigung und Bestätigung findet, genügt es nicht, daß es das bloße Bewußtsein der Wahrheit besitzt - es muß auch in der Wahrheit sein, ursprünglich und unmittelbar aber ist der individuelle Mensch, ebenso wie das Tier, nicht in der Wahrheit: Er findet sich als abgesondenes Teilchen des Weltganzen vor und behauptet dieses sein Einzelsein im Egoismus als ein Ganzes für sich, er will alles sein in der Getrenntheit von allem außerhalb der Wahrheit. Der Egoismus, als das reale Grundprinzip des individuellen Lebens, durchdringt dieses ganz, lenkt es, bestimmt alles in ihm konkret, und daher kann das theoretische Bewußtsein der Wahrheit allein auf keine· Weise das Übergewicht über ihn bekommen und ihn aufheben. Solange die lebendige Krall;_ des Egoismus im Menschen nicht einer anderen lebendigen, ihr entgegengesetzten Kraft begegnet, ist das Bewußtsein der Wahrheit nur eine äußerliche Erhellung, der Abglanz eines fremden Lichtes. Wenn der Mensch nur in diesem Sinne der Wahrheit Raum geben könnte, dann wäre die Verbindung seiner Individualität mit ihr [der Wahrheit] nicht ein inneres und unzerreißbares Band; sein eigentliches Wesen bliebe wie das der Tiere außerhalb der Wahrheit und wäre wie dieses (in seiner Subjektivität) zum
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Untergang verurteilt, würde nur als Idee in Gedanken des absoluten Geistes erhalten bleiben. Die Wahrheit als lebendige Kraft, die vom inneren Wesen des Menschen Besitz ergreift und ihn wirklich aus der falschen Selbstbehauptung herausführt, heißt Liebe. Die Liebe als wirkliche Aufhebung des Egoismus ist die wirkliche Rechtfertigung und Rettung der Individualität. Die Liebe ist größer als das vernünftige Bewußtsein, aber ohne dieses könnte sie nicht wirken als innere, rettende Kraft, die die Individualität erhöht, sie aber nicht aufhebt. Nur dank dem vernünftigen Bewußtsein (oder, was dasselbe ist, dem Bewußtsein der Wahrheit) kann der Mensch sich selbst, d.h. seine wahre Individualität, von seinem Egoismus unterscheiden, und deshalb findet er, wenn er diesen Egoismus opfert und sich der Liebe hingibt, in dieser nicht nur eine lebendige, sondern auch lebenschaffende Kraft und verliert nicht zusammen mit seinem Egoismus auch sein individuelles Wesen, sondern im Gegenteil, er verewigt es. Da den Tieren das eigentliche vernünftige Bewußtsein fehlt, findet die Wahrheit, die sich in der Liebe realisiert, im Tierreich keine innere Stütze für ihr Wirken und kann nur direkt, als äußere, für die Tiere schicksalhafte Kraft wirken, die sich ihrer bemächtigt als blinder Werkzeuge für Ziele der Welt, die ihnen selbst fremd sind; hier erscheint die Liebe als ein einseitiger Triumph des Allgemeinen, des Gattungsmäßigen über das Individuelle, insofern als bei den Tieren ihre Individualität mit dem Egoismus in der Unmittelbarkeit des Einzeldaseins zusammenfällt und deshalb auch mit ihm zusammen untergeht.
III Allgemein gesprochen, ist der Sinn der menschlichen Liebe die
Rechtfertigung und Rettung der Individualität durch die Opferung des Egoismus. Auf dieser allgemeinen Grundlage können wir auch unsere spezielle Aufgabe lösen: den Sinn der geschlechtlichen Liebe zu erklären. Nicht umsonst werden die geschlechtlichen Beziehungen nicht nur Liebe genannt, sondern sie sind, wie allgemein anerkannt wird, Liebe im hervorragenden Sinn des Wortes, Typus und Ideal jeder anderen Liebe (siehe das Hohelied Salomos, 34 die Apokalypse).
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Die Lüge und das Böse des Egoismus bestehen durchaus nicht darin, daß sich ein bestimmter Mensch zu hoch einschätzt, sich eine unbedingte Bedeutung und eine unendliche Würde verleiht: Darin hat er recht, weil jedes menschliche Subjekt als selbständiges Zentrum lebendiger Kräfte, als Potenz (Möglichkeit) einer unendlichen Vollkommenheit, als Wesen, das in seinem Bewußtsein und in seinem Leben der absoluten Wahrheit Raum geben kann- weil jeder einzelne Mensch in dieser Eigenschaft eine absolute Bedeutung und Würde besitzt, weil er etwas unbedingt Unersetzliches ist und sich nicht zu hoch einschätzen kann (nach dem Worten des Evangeliums: »Was kann der Mensch geben, womit er seine Seele wieder eintauschen könnte?« 35 ). Sich diese unbedingte Bedeutung nicht zuerkennen, ist dasselbe wie Verzicht auf die Menschenwürde; dies ist der Grundirrtum und der Anfang allen Unglaubens: Wer so kleinmütig ist, daß er nicht einmal imstande ist, an sich selbst zu glauben - wie kann er dann an irgendetwas anderes glauben? Die Grundlüge und das Böse des Egoismus bestehen nicht in diesem absoluten Selbstbewußtsein und der Selbsthochschätzung des Subjekts, sondern darin, daß es, während es gerechterweise sich selbst unbedingte Bedeutung zuschreibt, ungerechterweise anderen diese Bedeutung verweigert; während es sich selbst als Mittelpunkt des Lebens betrachtet, was es in der Tat auch ist, verlegt es die anderen an die Peripherie seines Seins und beläßt ihnen nur einen äußerlichen und .relativen Wert. Im abstrakten, theoretischen Bewußtsein läßt natürlich jeder Mensch, der nicht geistesgestört ist, immer die volle Gleichberechtigung der anderen mit sich zu; aber im praktischen Bewußtsein, 36 in seinem inneren Gefühl und in der Tat behauptet er einen unendlichen Unterschied, eine völlige Inkommensurabilität zwischen sich und den anderen: Er ist an und für sich alles, sie sind an und für sich nichts. Dabei kann der Mensch gerade bei einer solchen ausschließlichen Selbstbehauptung das gar nicht wirklich sein, was er zu sein behauptet. Jene unbedingte Bedeutung, jene Absolutheit, die er, allgemein gesprochen, mit Recht sich selbst zuerkennt, aber zu Unrecht den anderen abspricht, hat an sich nur potentiellen Charakter- es ist nur eine Möglichkeit, die ihre Verwirklichung verlangt. Gott ist alles, d.h. er besitzt in einem einzigen absoluten Akt den ganzen positiven Inhalt, die ganze Fülle des Seins. Der Mensch (der Mensch im allgemeinen und jeder indivi-
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duelle Mensch im besonderen), der faktisch nur dieser und nicht ein anderer ist, kann nur dann alles werden, wenn er in seinem Bewußtsein und seinem Leben jene innere Scheidewand wegnimmt, die ihn vom anderen trennt. »Dieser« kann »alles« nur zusammen mit den anderen sein; nur zusammen mit den anderen kann er seine unbedingte Bedeutung verwirklichen -kann er ein untrennbarer und unersetzlicher Teil des all-einen Ganzen, ein selbständiges, lebendiges und eigenartiges Organ des absoluten Lebens werden. Die wahre Individualität ist ein bestimmtes Abbild der AllEinheit, eine bestimmte Art, alles andere aufzunehmen und sich anzueignen. Indem der Mensch sich außerhalb von allem anderen behauptet, beraubt er eben dadurch seine eigene Existenz ihres Sinnes, nimmt er sich seinen wahren Lebensinhalt und verwandelt seine Individualität in eine leere Form. Auf diese Weise ist der Egoismus keineswegs Selbstbewußtsein und Selbstbehauptung der Individualität, sondern im Gegenteil Selbstverneinung und VerderbenY Metaphysische und physische, historische und soziale Bedingungen der menschlichen Existenz wandeln unseren Egoismus auf vielerlei Art ab und mildern ihn, indem sie ihm starke und vielfältige Grenzen setzen, die ihn daran hindern, sich in reiner Form und in all seinen entsetzlichen Folgen zu äußern. 38 Aber dieses ganze komplizierte System von Hindernissen und Korrektiven, das von der Vorsehung 39 vorherbestimmt und von Natur und Geschichte verwirklicht wird, läßt die eigentliche Grundlage des Egoismus unberührt, die ständig unter der Hülle der persönlichen und gesellschaftlichen Sittlichkeit hervorschaut und gelegentlich auch in voller Klarheit zutagetritt. Es gibt nur eine Kraft, die den Egoismus von innen her, an seiner Wurzel treffen kann und ihn auch wirklich mit seiner Wurzel ausreißt; das ist die Liebe, und vor allem die geschlechtliche Liebe. Die Lüge und das Böse des Egoismus bestehen darin, daß man unbedingte Bedeutung ausschließlich sich selbst zuerkennt, sie bei den anderen aber leugnet; der Verstand zeigt uns, daß dies unbegründet und ungerecht ist, die Liebe aber hebt direkt und wirklich solch ein ungerechtes Verhalten auf, indem sie uns veranlaßt, nicht im abstrakten Bewußtsein, sondern im inneren Fühlen und im praktischen Wollen anzuerkennen, daß der andere unbedingte Bedeutung für uns besitzt. Indem wir in der Liebe die Wahrheit des anderen nicht abstrakt, sondern wesenhaft
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erkennen, indem wir das Zentrum unseres Lebens in der Tat über die Grenzen unserer empirischen Gesondertheit 40 hinaustragen, offenbaren und verwirklichen wir eben dadurch unsere eigene Wahrheit, unsere unbedingte Bedeutung, die ja gerade in der Fähigkeit besteht, die Grenzen unseres faktischen, phänomenalen Seins zu überschreiten, in der Fähigkeit, nicht nur in uns, sondern auch im anderen zu leben. Jede Liebe ist eine Offenbarung dieser Fähigkeit, aber nicht jede verwirklicht sie in gleichem Maße, nicht jede reißt den Egoismus in gleich radikaler Weise aus. Der Egoismus ist nicht nur eine reale, sondern er ist die Grundkraft unseres Seins, eine Kraft, die im tiefsten Zentrum unseres Seins verwurzelt ist und von dort aus unsere ganze Wirklichkeit durchdringt und um faßt - eine Kraft, die unentwegt in allen Einzelheiten und Kleinigkeiten unserer Existenz wirkt. Um den Egoismus wirklich zu treffen, muß man ihm unbedingt die ebenso konkret bestimmte und unser ganzes Wesen durchdringende, alles in ihm ergreifende Liebe entgegenstellen. Jenes andere, das unsere Individualität aus den Fesseln des Egoismus befreien soll, muß in einer Wechselbeziehung mit dieser ganzen Individualität stehen, muß ein ebenso reales und konkretes, völlig objektiviertes 41 Subjekt wie wir selber sein und muß sich gleichzeitig in allem von uns unterscheiden, um tatsächlich ein anderes zu sein, d.h. es muß jenen ganz wesentlichen Inhalt haben, den auch wir haben, aber es muß ihn auf eine andere Art oder eine andere Weise, in einer anderen Form haben, so daß jede Äußerung unseres Wesens, jeder unserer Lebensakte in diesem anderen einer entsprechenden, aber nicht gleichen Äußerung begegnen kann, so daß das Verhältnis des einen zum anderen ein voller und beständiger Austausch, eine volle und beständige Behauptung seiner selbst im anderen, eine vollkommene Wechselwirkung und Gemeinschaft sein kann. Nur dann wird der Egoismus nicht nur im Prinzip, sondern in seiner ganzen konkreten Wirklichkeit getroffen und aufgehoben. Nur bei dieser sozusagen chemischen Vereinigung zweier Wesen von gleicher Art und gleicher Bedeutung, aber von allseitiger Verschiedenheit in der Form, ist (wie in der natürlichen, so auch in der geistigen Ordnung) die Schaffung eines neuen Menschen, eine tatsächliche Verwirklichung der wahren menschlichen Individualität möglich. Eine solche Vereinigung oder zum mindesten die nächste Möglichkeit einer solchen Vereinigung fin-
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den wir in der geschlechtlichen Liebe, weshalb wir ihr auch eine außerordentliche Bedeutung zuschreiben, als der notwendigen und unersetzlichen Grundlage aller weiteren Vervollkommnung, als der unumgänglichen und ständigen Bedingung, unter der allein der Mensch wirklich in der Wahrheit sein kann. IV Bei voller Anerkennung der großen Wichtigkeit und der hohen Würde der anderen Arten der Liebe, durch die ein falscher Spiritualismus und ein impotenter Moralismus die Geschlechtsliebe ersetzen möchten, 42 sehen wir doch, daß nur diese letztere die zwei Grundforderungen erfüllt, ohne die eine entschiedene Aufhebung der Selbstheit in einer vollen Lebensgemeinschaft 43 mit dem anderen unmöglich ist. In allen übrigen Arten der Liebe fehlt entweder die Gleichartigkeit, Gleichheit und Wechselwirkung zwischen dem Liebenden und dem Geliebten oder aber die allseitige Verschiedenheit der einander ergänzenden Eigenschaften. So läßt sich in der mystischen Liebe der Gegenstand der Liebe letzten Endes auf die absolute Indifferenz zurückführen, die die menschliche Individualität verschlingt; 44 hier wird der Egoismus nur in jenem sehr ungenügenden Sinn aufgehoben, wie er aufgehoben wird, wenn der Mensch in den Zustand eines tiefen Schlafes verfällt. In den Upanishaden und dem Vedanta wird die Vereinigung der individuellen Seele mit dem Weltgeist mit dem Schlaf verglichen und manchmal sogar direkt mit ihm identifiziert. 45 Weil der lebendige Mensch und der mystische »Abgrund« der absoluten Indifferenz zwei völlig verschiedenartige und inkommensurable Größen sind, ist zwischen ihnen keine Lebensgemeinschaft möglich, ja sie können nicht einmal gleichzeitig existieren: wenn der Gegenstand der Liebe vorhanden ist, dann fehlt der Liebende - er ist verschwunden, hat sich selbst verloren, ist gleichsam in einen tiefen, traumlosen Schlaf versunken, und wenn er wieder zu sich zurückkehrt, dann verschwindet der Gegenstand der Liebe, und statt der absoluten Indifferenz tritt die bunte Vielfalt des wirklichen Lebens die Herrschaft an, und in deren Hintergrund steht der Egoismus jenes Menschen, der nun auch noch durch geistigen Hochmut geschmückt ist. 46 - Die Geschichte
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kennt übrigens auch solche Mystiker und ganze mystische Schulen, bei denen der Gegenstand der Liebe nicht als absolute Indifferenz verstanden wurde, sondern wo er konkrete Formen annahm, die lebendige Beziehungen zu ihm erlaubten, aber - das ist sehr bemerkenswert -diese Beziehungen erhielten hier den völlig klaren und folgerichtig durchgeführten Charakter der Geschlechtsliebe ... 47 Die Elternliebe - besonders die Mutterliebe - nähert sich, was die Kraft des Gefühls und die Konkretheit des Gegenstandes betrifft, der Geschlechtsliebe, kann aber aus anderen Gründen nicht die gleiche Bedeutung für die menschliche Individualität haben wie diese. Sie ist bedingt durch das Faktum der Fortpflanzung und das Gesetz des Generationenwechsels, das das Leben der Tiere beherrscht, das aber im Leben der Menschen eine solche Bedeutung [die Bedeutung eines Gesetzes] nicht hat oder jedenfalls nicht haben sollte. Bei den Tieren verdrängt die nachfolgende Generation direkt und schnell ihre Vorgänger und entlarvt die Sinnlosigkeit von deren Existenz, um gleich darauf ihrerseits durch ihre eigenen Nachkommen dessen überführt zu werden, daß auch ihre Existenz sinnlos war. Die menschliche Mutterliebe, die manchmal jenen hohen Grad von Selbstaufopferung erreicht, den wir in der Liebe eines Huhnes finden, 48 ist ein einstweilen zweifellos noch notwendiges Überbleibsel dieser Ordnung der Dinge. In jedem Fall ist es unzweifelhaft, daß es in der Mutterliebe eine volle Gegenseitigkeit und Lebensgemeinschaft schon deshalb nicht geben kann, weil die Liebende und die Geliebten zu verschiedenen Generationen gehören, weil für die letzteren das Leben in der Zukunft liegt, mit neuen, selbständigen Interessen und Aufgaben, zwischen denen die Vertreter der Vergangenheit nur als blasse Schatten erscheinen. Es genügt, daß die Eltern für die Kinder nicht in dem gleichen Sinn Lebenszweck sein können, in dem es die Kinder für die Eltern sind. Die Mutter, die ihre ganze Seele den Kindern zuwendet, opfert natürlich ihren Egoismus, aber sie verliert damit gleichzeitig auch ihre Individualität; in den Kindern aber unterstützt die Mutterliebe zwar deren Individualität, aber sie erhält und verstärkt sogar deren Egoismus. - Abgesehen davon gibt es in der Mutterliebe eigentlich keine Anerkennung der unbedingten Bedeutung des Geliebten, keine Anerkennung seiner wahren Individualität; denn ei-
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ner Mutter ist ihr Kind zwar teurer als alles andere, aber es ist ihr teuer eben nur, weil es ihr Kind ist- nicht anders als bei Tieren; das heißt, hier ist die vermeintliche Anerkennung der unbedingten Bedeutung des anderen in Wirklichkeit durch die äußere, physiologische Verbindung bedingt. Noch weniger können die übrigen Arten der Sympathiegefühle Anspruch darauf erheben, die Geschlechtsliebe zu ersetzen. Der Freundschaft zwischen Personen des gleichen Geschlechts fehlt die allseitige formale Verschiedenheit der einander ergänzenden Eigenschaften, und wenn diese Freundschaft nichtsdestoweniger eine besondere Intensität erreicht, dann verwandelt sie sich in ein widernatürliches Surrogat der Geschlechtsliebe. Was den Patriotismus und die Liebe zur Menschheit betrifft, so können diese Gefühle an und für sich bei all ihrer Wichtigkeit wegen der Inkommensurabilität des Liebenden mit dem Geliebten den Egoismus nicht lebenswirksam und konkret aufheben: weder die Menschheit noch sogar das Volk können für den einzelnen Menschen ein so konkreter Gegenstand wie er selbst sein. Sein Leben dem Volk oder der Menschheit zu opfern, ist natürlich möglich, aber einen neuen Menschen aus sich zu schaffen, eine wahre menschliche Individualität zu offenbaren und zu verwirklichen ist auf der Grundlage dieser extensiven Liebe unmöglich. Hier verbleibt trotz allem das eigene, alte egoistische Ich im realen Mittelpunkt, und Volk und Menschheit werden als ideale Gegenstände an die Peripherie des Bewußtseins verlegt. Dasselbe ist von der Liebe zur Kunst, zur Wissenschaft usw. zu sagen. 49 Nachdem ich mit wenigen Worten auf den wahren Sinn der Geschlechtsliebe und ihren Vorzug vor anderen, verwandten Gefühlen hingewiesen habe, muß ich erklären, warum sie in der Wirklichkeit so schwach verwirklicht wird, und zeigen, auf welche Weise ihre volle Verwirklichung möglich ist. Hiermit werde ich mich in den folgenden Aufsätzen befassen.
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Der Sinn und die Würde der Liebe als eines Gefühls bestehen darin, daß sie uns veranlaßt, wirklich, mit--unserem ganzen Wesen einem anderen jene unbedingte, zentrale Bedeutung zuzuerkennen, die wir kraft des Egoismus nur in uns selbst empfinden. Die Liebe ist nicht als eines unserer Gefühle wichtig, sondern sie ist es dadurch, daß durch sie unser ganzes Lebensinteresse aus unserem in ein anderes Sein verlegt, daß das Zentrum unseres persönliches Lebens selbst verlagert wird. Das ist jeder Liebe eigentümlich, der Geschlechtsliebe1 aber in ganz besonderer Weise; sie unterscheidet sich von anderen Arten der Liebe sowohl durch die größere Intensität, ihre Fähigkeit, den Menschen in höherem Maße zu überwältigen, wie auch durch die Möglichkeit einer volleren und umfassenderen Gegenseitigkeit; nur diese Liebe kann eine wirkliche und unzerreißbare Vereinigung zweier Leben zu einem herbeiführen, und nur über sie ist im Wort Gottes gesagt: »Die zwei werden zu einem Fleisch werden«, 51 d.h. sie werden zu einem realen Wesen werden. Das Gefühl verlangt eine solche Vollständigkeit der Vereinigung, [einer Vereinigung,] die innerlich und endgültig ist, aber weiter als dieses subjektive Verlangen und Streben geht die Sache gewöhnlich nicht, und selbst dieses erweist sich nur als vorübergehend. In der Wirklichkeit aber findet anstatt der Poesie einer ewigen und zentralen Vereinigung nur eine mehr oder weniger lange dauernde, aber doch zeitlich begrenzte, eine mehr oder weniger enge, aber doch äußerliche, oberflächliche Annäherung zweier begrenzter Wesen im engen Rahmen der Prosa des Alltags statt. Der Gegenstand der Liebe bewahrt in der Wirklichkeit nicht jene unbedingte Bedeutung, welche die verliebte Träumerei ihm verleiht. Ich bezeichne mit dem Won Geschlechtsliebe (aus Mangel einer besseren Bezeichnung) eine ausschließliche Anhänglichkeit (sowohl eine gegenseitige wie auch eine einseitige) zwischen Menschen verschiedenen Geschlechts, die zueinander in einem Verhältnis von Mann und Frau stehen können; 50 die Frage nach der Bedeutung der physiologischen Seite der Sache will ich da bei nicht im voraus in irgendeiner Weise entscheiden. f
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Für den Blick eines Außenstehenden ist das von Anfang an klar; aber der unwillkürliche Anflug von Spott, der unvermeidlich das Verhalten eines Außenstehenden zu Verliebten begleitet, erweist sich bloß als eine Vorwegnahme ihrer eigenen Enttäuschung. Auf einmal oder allmählich verschwindet das Pathos der Liebesbegeisterung, und es ist noch gut, wenn die Energie der altruistischen Gefühle, die in ihr zutage getreten war, nicht umsonst verlorengeht, sondern sich, nachdem sie ihre Konzentrienheit und den hohen Aufschwung verloren hat, in zersplittener und verdünnter Form auf die Kinder übenrägt, die für die Wiederholung des gleichen Betrugs geboren und aufgezogen werden. Ich sage ••Betrug«- [und verstehe dies] vom Standpunkt des individuellen Lebens und der unbedingten Bedeutung der menschlichen Persönlichkeit aus, wobei ich die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der Erzeugung von Kindern und des Wechsels der Generationen für den Fonschritt der Menschheit in ihrem kollektiven Leben voll anerkenne. Aber die Liebe selbst ist dabei eigentlich ganz überflüssig. Daß aus einer starken Liebesleidenschaft Kinder hervorgehen, ist nur ein Zufall, und zwar ein ziemlich seltener; die historische und die alltägliche Erfahrung zeigen zweifellos, daß Kinder von ihren Eltern trefflich gezeugt, heiß geliebt und wunderbar aufgezogen werden können, auch wenn letztere niemals ineinander verliebt waren. Folglich verlangen die gesellschaftlichen und die universalen Interessen der Menschheit, die mit dem Wechsel der Generationen verbunden sind, durchaus nicht das höhere Pathos der Liebe. Und inzwischen erweist sich im individuellen Leben das schönste Aufblühen dieses Lebens als eine taube Blüte. Die ursprüngliche Kraft der Liebe verlien hier ihren ganzen Sinn, wenn ihr Gegenstand von der Höhe eines unbedingten Zentrums einer verewigten Individualität herabsinkt auf die Stufe eines zufälligen und leicht ersetzbaren Mittels zur Hervorbringung einer neuen, vielleicht ein wenig besseren, vielleicht aber auch ein wenig schlechteren, in jedem Fall aber relativen und vergänglichen Generation von Menschen. Wenn man also nur auf das schaut, was gewöhnlich geschieht, auf den tatsächlichen Ausgang der Liebe, dann muß man zugeben, daß sie nur ein Traum ist, der zeitweise von unserem Wesen Besitz ergreift und verschwindet, ohne in irgendein Werk übergegangen zu sein (denn Kindererzeugung ist nicht eigentlich das Werk der
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Liebe}. Wenn wir aber aufgrund dessen, was vor Augen liegt, zugeben müssen, daß sich der ideale Sinn der Liebe in der Realität nicht verwirklicht, müssen wir dann auch zugeben, daß er sich überhaupt
nicht verwirklichen läßt?
Wenn wir einfach die Natur des Menschen betrachten, der in seinem vernünftigen Bewußtsein, in seine~ sittlichen Freiheit und in seiner Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung unendliche Möglichkeiten besitzt, so haben wir nicht das Recht, im voraus anzunehmen, irgendeine Aufgabe sei für ihn nicht ausführbar, es sei denn, sie enthielte in sich einen inneren, logischen Widerspruch oder etwas, das dem allgemeinen Sinn des Weltalls und dem zweckmäßigen Gang der kosmischen und historischen Entwicklung nicht entspräche. Es wäre völlig ungerecht, die Möglichkeit der Verwirklichung der Liebe nur aus dem Grund zu verneinen, weil sie bisher noch niemals verwirklicht worden ist; denn in derselben Lage befand sich einstmals auch vieles andere, zum Beispiel alle Wissenschaften und Künste, die bürgerliche Gesellschaft, die Lenkung der Naturkräfte. Sogar das vernünftige Bewußtsein selbst war, bevor es im Menschen zur Tatsache wurde, im Reich der Tiere nur ein dumpfes und erfolgloses Streben. Wieviele geologische und biologische Epochen vergingen in vergeblichen Versuchen, ein Gehirn zu schaffen, das fähig wäre, Organ für die Verkörperung des vernünftigen Denkens zu werden. Die Liebe ist für den Menschen vorläufig dasselbe, was die Vernunft für die Tierwelt war: Sie existien als Keim oder Anlage, aber nicht in Wirklichkeit. Und wenn gewaltige Weltperioden - Zeugen der noch nicht verwirklichten Vernunft- die Vernunft nicht hindenen, sich schließlich zu verwirklichen, so gibt uns die Tatsache, daß sich im Laufe der verhältnismäßig wenigen Jahnausende, die die historische Menschheit durchlebt hat, die Liebe nicht hat verwirklichen lassen, nicht das Recht, daraus zu schließen, daß sie sich auch in Zukunft nicht verwirklichen werde. Nur eins muß man gut im Gedächtnis behalten: Wenn die Wirklichkeit des vernünftigen Bewußtseins im Menschen erschienen ist, aber nicht durch den Menschen, so muß die Realisierung der Liebe, als die höchste Stufe zum eigentlichen Leben der Menschheit selbst, nicht nur in ihm, sondern auch durch ihn erfolgen. 52 Die Aufgabe der Liebe besteht darin, daß sie jenen Sinn der Lie-
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be, der anfangs nur im Gefühl gegeben ist, in der Tat rechtfertigt; gefordert wird eine solche Vereinigung zweier gegebener begrenzter Wesen, die aus ihnen eine absolute, ideale Persönlichkeit macht. Diese Aufgabe enthält nicht nur keinerlei inneren Widerspruch und nichts, was dem Sinn des Weltalls nicht entspräche, sondern sie ist direkt von unserer geistigen Natur gestellt, deren Besonderheit gerade darin besteht, daß der Mensch, ohne aufzuhören, er selbst zu sein, in seiner eigenen Form einem absoluten Inhalt Raum geben, eine absolute Persönlichkeit werden kann. Aber um von dem absoluten Inhalt (der in der religiösen Sprache ewiges Leben oder Reich Gottes genannt wird) erfüllt zu werden, muß die menschliche Form selbst in ihrer Ganzheit wiederhergestellt (integriert) werden. In der empirischen Wirklichkeit gibt es den Menschen als solchen überhaupt nicht - er existiert nur in einer bestimmten Einseitigkeit und Begrenztheit, als männliche oder weibliche Individualität (und auf dieser Grundlage entwickeln sich dann alle übrigen Unterschiede). Aber der wahre Mensch in der Fülle seiner idealen Persönlichkeit kann offenbar nicht nur Mann oder nur Weib, sondern er muß die höhere Einheit von beiden sein. Diese Einheit zu verwirklichen oder den wahren Menschen als freie Einheit des männlichen und weiblichen Prinzips zu schaffen, die beide ihre formale Gesondertheit behalten, aber ihren wesenhaften Zwist und Zerfall überwunden haben, dies ist die eigentliche nächste Aufgabe der Liebe. Wenn wir die Bedingungen betrachten, die zu ihrer wirklichen Lösung erforderlich sind, so werden wir uns überzeugen, daß nur die Nichtbeachtung dieser Bedingungen die Liebe immer wieder zum Scheitern führt und Anlaß gibt, sie als Illusion zu betrachten. II
Der erste Schritt zur erfolgreichen Lösung einer jeden Aufgabe ist, daß sie bewußt und richtig gestellt wird; aber die Aufgabe der Liebe ist niemals bewußt gestellt und deshalb ist auch nie ein richtiger Versuch zu ihrer Lösung unternommen worden. Die Liebe betrachtete und betrachtet man nur als eine gegebene Tatsache, als einen Zustand (normal für die einen, krankhaft für die anderen), den der Mensch erlebt, der ihn aber zu nichts verpflichtet; aller-
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dingswerden hieran zwei Aufgaben geknüpft: die, daß man die geliebte Person physiologisch besitzen und daß man mit ihr zusammen leben soll, wobei die letztere Aufgabe einige Verpflichtungen auferlegt; aber damit wird die Angelegenheit schon den Gesetzen der tierischen Natur einerseits und den Gesetzen des bürgerlichen Zusammenlebens andererseits unterstellt, die Liebe aber, vom Anfang bis zum Ende sich selbst überlassen, verschwindet wie eine Fata Morgana. Gewiß ist die Liebe vor allem eine Tatsache der Natur (oder eine Gabe Gottes), ein unabhängig von uns entstehender natürlicher Prozeß; aber daraus folgt nicht, daß wir uns zu dieser Tatsache nicht bewußt verhalten könnten und müßten und daß wir diesen natürlichen Prozeß nicht selbsttätig zu höheren Zielen lenken sollten. Auch die Gabe des Wortes gehört dem Menschen von Natur an, die Sprache wird nicht ausgedacht, ebensowenig wie die Liebe. Es wäre aber äußerst traurig, wenn wir uns zur Sprache nur wie zu einem natürlichen Prozeß verhielten, der von selbst in uns vor sich geht, wenn wir so sprächen wie die Vögel singen, uns den natürlichen Verbindungen von Lauten und Worten hingäben und es ihnen überließen, die unwillkürlich durch unsere Seele ziehenden Gefühle und Vorstellungen auszudrücken, wenn wir aus der Sprache nicht vielmehr ein Werkzeug machten für die folgerichtige Entwicklung bestimmter Gedanken und ein Mittel, vernünftige und bewußt gesetzte Ziele zu erreichen. Bei einem ausschließlich passiven und unbewußten Verhalten zur Gabe des Wortes hätten sich weder Wissenschaft noch Kunst noch das bürgerliche Gesellschaftsleben ausbilden können, ja die Sprache selbst hätte sich infolge ungenügender Anwendung dieser Gabe nicht entwickelt und wäre in ihren bloß keimhaften Äußerungen steckengeblieben. Die gleiche, ja sogar eine noch größere Bedeutung, als sie das Wort für die Bildung des menschlichen Gemeinschaftslebens und der Kultur hat, besitzt die Liebe für die Erschaffung der wahren menschlichen Individualität. Und wenn wir im ersten Bereich (dem gesellschaftlichen und kulturellen) einen wenn auch langsamen, so doch unzweifelhaften Fortschritt bemerken, während die menschliche Individualität von Anbeginn der historischen Zeiten bis heute in ihren faktischen Beschränkungen unverändert bleibt, so liegt die erste Ursache dieses Unterschieds darin, daß wir uns zur sprachlichen Tätigkeit und zu den Erzeugnissen des Wortes immer bewußter und selbsttätiger verhalten,
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während die Liebe nach wie vor völlig im dunklen Bereich dumpfer Affekte und zwanghafter Triebe belassen wird. Wie die wahre Bedeutung des Wortes nicht im Prozeß des Sprechens an sich besteht, sondern in dem, was gesprochen wird - in der Offenbarung der Vernunft der Dinge durch Worte und Begriffe, so besteht die wahre Bedeutung der Liebe nicht in dem einfachen Erleben dieses Gefühls, sondern in dem, was durch dieses Gefühl geschieht - in dem Werk der Liebe: Es genügt nicht, daß der Liebende für sich die unbedingte Bedeutung des geliebten Gegenstandes fühlt, sondern er muß ihm diese Bedeutung tatsächlich geben oder mitteilen, muß sich mit ihm in dem wirklichen Erschaffen einer absoluten Individualität vereinen. Und wie die höchste Aufgabe der sprachlichen Tätigkeit schon im voraus bestimmt ist durch die Natur der Worte, die notwendig allgemeine und bleibende Begriffe, nicht aber einzelne und vergängliche Eindrücke darstellen, und wie folglich die Worte, da sie ja schon an sich eine Zusammenfassung von vielem in eines sind, uns zum Verständnis des Sinns des Alls hinführen - so ist in ähnlicher Weise auch die höchste Aufgabe der Liebe bereits im Liebesgefühl selbst vorausgesagt, das notwendig vor jeder Verwirklichung seinen Gegenstand in die Sphäre absoluter Individualität hineinführt, ihn in idealem Lichte sieht, an seine Unbedingtheit glaubt. Auf solche Weise besteht die Aufgabe in beiden Fällen (auf dem Gebiet der Erkenntnis durch das Wort und auf dem Gebiet der Liebe) nicht darin, daß wir uns von uns aus etwas völlig Neues ausdenken, sondern nur darin, daß wir folgerichtig weiter und bis zu Ende führen, was schon keimhaft in der Natur der Sache, in der Grundlage des Prozesses gegeben ist. Aber während sich das Wort in der Menschheit entwickelt hat und noch entwickelt, sind die Menschen in bezug auf die Liebe bis jetzt bei den bloß natürlichen Ansätzen stehengeblieben und stehen noch immer dort und begreifen selbst diese Ansätze nur mangelhaft in ihrem wahren Sinn. III
Es ist allen bekannt, daß, wo geliebt wird, unbedingt eine besondere Idealisierung des geliebten Gegenstandes stattfindet, so daß dieser sich dem Liebenden in einem Licht darstellt, das ganz anders ist
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als das, in welchem unbeteiligte Menschen ihn sehen. Ich spreche hier vom Licht nicht nur im metaphorischen Sinn, es geht hier nicht nur um eine besondere sittliche und geistige Bewertung, sondern darüber hinaus um eine besondere sinnliche Wahrnehmung: Der Liebende sieht tatsächlich etwas anderes, nimmt mit seinen Augen etwas anderes wahr als die anderen. Auch für ihn verschwindet allerdings dieses Licht der Liebe bald, aber folgt daraus, daß es falsch, daß es nur eine subjektive Illusion war? Das wahre Wesen des Menschen überhaupt und jedes einzelnen Menschen erschöpft sich nicht in seiner empirisch gegebenen Erscheinung - dieser These kann man von keinem Gesichtspunkt aus vernünftige und stichhaltige Gründe entgegensetzen. Für den Materialisten und Sensualisten nicht weniger als für den Spiritualisten und Idealisten ist das, was scheint, nicht identisch mit dem, was ist, und wenn es sich um zwei verschiedene Arten des Scheinenden handelt, so ist die Frage immer berechtigt, welche von diesen Arten mehr mit dem, was ist, zusammenfällt oder die Natur der Dinge besser ausdrückt. Denn das Scheinende oder überhaupt das in die Sichtbarkeit Tretende ist eine wirkliche Beziehung oder Wechselbeziehung zwischen dem Sehenden und dem Gesehenen und wird folglich von den Eigenschaften beider Seiten bestimmt. Die äußere Welt des Menschen und die äußere Welt des Maulwurfs- sie bestehen beide nur aus relativen Erscheinungen oder in die Sichtbarkeit tretenden Dingen; dennoch wird kaum jemand ernsthaft daran zweifeln, daß die eine dieser zwei erscheinenden Welten der anderen überlegen ist, mehr dem entspricht, was ist, der Wahrheit näher ist. Wir wissen, daß der Mensch außer seiner tierischen, materiellen Natur noch eine ideale hat, die ihn mit der absoluten Wahrheit oder mit Gott verbindet. Neben dem materiellen und empirischen Inhalt seines Lebens trägt jeder Mensch das Bild Gottes 53 in sich, d.h. eine besondere Form des absoluten Inhalts. Dieses Bild Gottes wird von uns theoretisch und abstrakt in der Vernunft und durch die Vernunft erkannt, aber in der Liebe wird es konkret und lebendig erkannt. Und wenn diese Offenbarung des idealen Wesens, das gewöhnlich von der materiellen Erscheinung verdeckt wird, sich in der Liebe nicht auf ein bloßes inneres Gefühl beschränkt, sondern manchmal auch in der Sphäre der äußeren Empfindungen spürbar wird, dann müssen wir anerkennen, daß die Liebe eine
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umso größere Bedeutung besitzt: daß sie der Beginn der sichtbaren Wiederherstellung des Bildes Gottes in der materiellen Welt, der Beginn der Verkörperung des wahren, idealen Menschentums ist. Wenn die Kraft der Liebe zu Licht wird 54 und die Form der äußeren Erscheinungen umwandelt und durchgeistigt, so offenbart sie uns ihre objektive Macht; alles andere aber liegt dann bei uns: Wir selbst müssen diese Offenbarung verstehen und sie nutzen, damit sie nicht ein flüchtiger und rätselhafter Schimmer irgendeines Geheimnisses 55 bleibt. Der geistig-physische Prozeß der Wiederherstellung des Bildes Gottes in der materiellen Menschheit kann sich keineswegs von selbst, ohne unser Mitwirken vollziehen. 56 Sein Beginn, wie der von allem Guten in der Welt, entspringt in dem für uns dunklen Gebiet der unbewußten Prozesse und Beziehungen; dort liegen der Keim und die Wurzeln des Lebensbaums, aber aufziehen müssen wir ihn durch eigenes, bewußtes Tun; für den Anfang genügt die passive Empfänglichkeit des Gefühls, dann aber ist tätiger Glaube notwendig, sittliche Tat und Mühe, um sich diese Gabe der lichten und schöpferischen Liebe zu erhalten, sie zu festigen und zu entwickeln, um so mit ihrer Hilfe in sich und im anderen das Bild Gottes Gestalt werden zu lassen und aus zwei begrenzten und sterblichen Wesen eine absolute und unsterbliche Individualität zu schaffen. Wenn die der Liebe unvermeidlich und unwillkürlich eigentümliche Idealisierung uns durch das, was empirisch sichtbar ist, hindurch das ferne, ideale Bild des Gegenstandes unserer Liebe zeigt, so natürlich nicht dazu, daß wir uns nur an ihm ergötzen, sondern daß wir mit der Kraft des wahren Glaubens, der tätigen Vorstellungskraft und des realen Schöpferturns nach diesem wahren Vorbild die Wirklichkeit, die ihm nicht entspricht, umformen und es in einer realen Erscheinung Gestalt werden lassen. 57 Aber wer hat schon jemals in bezugauf die Liebe an etwas Derartiges gedacht? Die mittelalterlichen Minnesänger und Ritter begnügten sich bei ihrem starken Glauben und ihrer schwachen Vernunft damit, daß sie das Ideal ihrer Liebe einfach mit einer bestimmten Person identifizierten, wobei sie vor der Tatsache, daß die beiden sich offensichtlich nicht entsprachen, die Augen verschlossen. Dieser Glaube war ebenso fest, aber auch ebenso unfruchtbar wie jener Stein, auf dem »in immer gleicher Position« der berühmte Ritter von Grünwaldus »am Schloß Amaliens« 58 saß.
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Außer mit einem solchen Glauben, der zu nichts weiter Anlaß gab, als das vermeintlich verkörperte Ideal andächtig zu betrachten und entzückt zu besingen, war die mittelalterliche Liebe freilich auch mit Durst nach Taten verbunden. Aber diese kriegerischen und Zerstörerischen Taten konnten, da sie keinerlei Beziehung zu dem Ideal hatten, das sie begeisterte, nicht zu seiner Verwirklichung führen. Sogar jener blasse Ritter, 59 der sich ganz dem Eindruck der himmlischen Schönheit, die sich ihm offenbart hatte, hingab, ohne daß er sie mit irdischen Erscheinungen vermengt hätte - auch er ließ sich durch diese Offenbarung nur zu solchen Taten begeistern, die mehr dem Schaden seiner fremdstämmigen Feinde als dem Nutzen und Ruhm des »Ewigweiblichen« dienten. »Lumen coeli! Saneta rosa! Rief er wild und feurig, und sein Drohwort machte wie Donnergetöse die Muselmanen betroffen.« Um die Muselmanen betroffen zu machen, dazu war es natürlich nicht nötig, eine »dem Verstand unfaßbare Vision« zu haben. Aber dieser Zwiespalt zwischen den himmlischen Visionen des Christentums und den »wilden und feurigen« Kräften im wirklichen Leben hat auf dem ganzen Mittelalter gelastet, bis schließlich der berühmteste und letzte der Ritter, Don Quijote de Ia Mancha, 60 nachdem er viele Hammel getötet und nicht wenige Windmühlenflügel zerbrochen, aber die Kuhmagd von Tobosa nicht im geringsten dem Ideal der Dulcinea nähergebracht hatte, zu einem zwar richtigen, aber nur negativen Bewußtsein seines Irrtums gelangte; und wenn jener typische Ritter 61 bis zu seinem Ende seiner Vision treu blieb und »wie ein Wahnsinniger starb«, so ging Don Quijote aus seinem Wahn nur über zur traurigen und hoffnungslosen Enttäuschung an seinem Ideal. Diese Enttäuschung Don Quijotes war das Vermächtnis des Rittertums an das neue Europa. Sie wirkt auch in uns und bis zum heutigen Tage. Nachdem die Idealisierung des Gegenstandes der Liebe aufgehört hat, die Quelle wahnsinniger Heldentaten zu sein, begeistert sie zu überhaupt keinen Taten mehr. Sie erweist sich nur noch als Lockmittel, das uns veranlaßt, die physische Vereinigung mit dem Geliebten und das Zusammenleben mit ihm zu begehren,
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und sie verschwindet, sobald dieses durchaus nicht ideale Ziel erreicht ist. Das Licht der Liebe dient niemandem als Leuchte, die den Weg zum verlorenen Paradies wiese; man sieht es als die phantastische Beleuchtung eines kurzen Liebes-»Prologs im Himmel« 62 an, die später von der Natur zur rechten Zeit ausgelöscht wird, als völlig unnötig für die folgende irdische Vorstellung. In Wirklichkeit löschen wir dieses Licht selbst aus, weil unsere Liebe, die die wahre Ordnung der Dinge verkehrt, schwach und unbewußt ist. IV Die äußere Vereinigung, die des alltäglichen Lebens und besonders die physiologische, hat keine bestimmte Beziehung zur Liebe. Es gibt sie ohne Liebe, und es gibt Liebe ohne sie. Sie ist für die Liebe nicht notwendig als unerläßliche Bedingung und als selbständiges Ziel, sondern nur als ihre endgültige Realisierung. 63 Wenn diese Realisierung als Ziel für sich vor das ideale Anliegen der Liebe gestellt wird, vernichtet sie die Liebe. Jeder äußere Akt oder jede äußere Tatsache ist an sich ein Nichts; die Liebe ist etwas nur dank ihrem Sinn oder ihrer Idee, als Wiederherstellung der Einheit oder Ganzheit der menschlichen Persönlichkeit, als Schaffung einer absoluten Individualität. Die Bedeutung der äußeren Akte und Tatsachen, die mit der Liebe verbunden und die für sich allein nichts sind, wird von ihrem Verhältnis zu dem bestimmt, was die Liebe selbst und ihr Anliegen bildet. Wenn eine Null hinter eine ganze Zahl gestellt wird, so vergrößert sie diese ums Zehnfache, wird sie aber vor die Zahl gestellt, so vermindert sie sie in dem gleich Maße, macht sie zu einer Bruchzahl, nimmt ihr durch die Verwandlung in einen Dezimalbruch den Charakter einer ganzen Zahl; und je mehr solcher Nullen dem Ganzen vorausgeschickt werden, desto kleiner ist der Bruch, desto mehr nähert sich die Zahl selber der Null. Das Gefühl der Liebe ist an sich bloß ein Antrieb, der uns eingibt, daß wir die Ganzheit des menschlichen Wesens wiederherstellen können und sollen. Jedes Mal, wenn in einem menschlichen Herzen dieser heilige Funke entzündet wird, erwartet die ganze seufzende und sich quälende Kreatur die erste Offenbarung der Herrlichkeit der Kinder Gottes. 63• Aber ohne das Wirken des
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bewußten menschlichen Geistes erlischt der Funke Gottes, und die betrogene Natur bringt neue Generationen von Menschenkindern zu neuen Hoffnungen hervor. Diese Hoffnungen werden so lange nicht in Erfüllung gehen, bis wir bereit sind, alles das vollkommen anzuerkennen und bis zu Ende zu verwirklichen, was die wahre Liebe verlangt, was in ihrer Idee enthalten ist. Wenn wir uns zur Liebe bewußt verhalten und uns wi:klich entschließen, ihre Aufgabe zu erfüllen, so stellen sich uns vor allem zwei Tatsachen in den Weg, die uns anscheinend zur Ohnmacht verurteilen und denen Recht geben, die die Liebe für eine Illusion halten. Gemäß dem grundlegenden Sinn des Gefühls der Liebe bejahen wir in diesem Gefühl die unbedingte Bedeutung einer anderen Individualität und dadurch auch die unbedingte Bedeutung unserer eigenen. Aber die absolute Individualität kann nicht vergänglich sein, und sie kann nicht leer sein. Die Unvermeidlichkeit des Todes und die Leere unseres Lebens sind völlig unvereinbar mit jener im Liebesgefühl enthaltenen gesteigerten Bejahung der eigenen Individualität und der eines anderen. Wenn das Liebesgefühl stark und völlig bewußt ist, kann es sich nicht mit der Gewißheit des bevorstehenden Alterns und Sterbens der geliebten Person und unseres eigenen Alterns und Sterbens aussöhnen. Indessen wird jene unbezweifelbare Tatsache, daß die Menschen immer und überall gestorben sind und noch sterben, von allen oder fast allen 64 als absolut unverbrüchliches Gesetz angenommen (so daß es sogar in der formalen Logik üblich ist, diese Gewißheit für die Aufstellung eines Muster-Syllogismus zu benutzen: »Alle Menschen sind sterblich, Cajus ist ein Mensch, folglich ist Cajus sterblich.«) Zwar glauben viele an die Unsterblichkeit der Seele; aber gerade das Gefühl der Liebe zeigt am besten die Unzulänglichkeit dieses abstrakten Glaubens. Der körperlose Geist ist nicht ein Mensch, sondern ein Engel; wir aber lieben einen Menschen, eine ganze menschliche Individualität, und wenn die Liebe der Beginn der Durchlichtung und Vergeistigung dieser Individualität ist, so verlangt sie notwendig, daß diese Individualität als solche erhalten werde, verlangt ewige Jugend und Unsterblichkeit dieses bestimmten Menschen, dieses in einem leiblichen Organismus verkörperten lebendigen Geistes. Ein Engel oder reiner Geist bedarf nicht der Durchlichtung und der Vergeistigung; durchlichtet und vergeistigt wird nur das Fleisch, und das Fleisch ist der not-
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wendige Gegenstand der Liebe. Vorstellen kann man sich alles, was beliebt, aber lieben kann man nur etwas Lebendiges, Konkretes, und wenn man es wirklich liebt, kann man sich nicht mit der Gewißheit seiner Zerstörung aussöhnen. Wenn aber die Unvermeidbarkeit des Todes mit der wahren Liebe unvereinbar ist, dann ist die Unsterblichkeit völlig unvereinbar mit der Leere unseres Lebens. Für die Mehrheit der Menschheit ist das Leben nur ein Wechsel von schwerer mechanischer Arbeit und grobsinnlichen, das Bewußtsein betäubenden Vergnügungen. Jene Minderheit aber, die die Möglichkeit hat, sich nicht nur um die Mittel, sondern auch um die Ziele des Lebens tätig zu kümmern, benutzt statt dessen ihre Freiheit von mechanischer Arbeit hauptsächlich zu sinnlosem und unsittlichem Zeitvertreib. Ich brauche mich nicht über die ungewollte und unbewußte Leerheit und Unsittlichkeit dieses ganzen Scheinlebens auszulassen, nachdem es großartig in »Anna Karenina«, im »Tod des Ivan Il'i~· und in der •Kreutzersonate• dargestellt worden ist.g Zu meinem Gegenstand zurückkehrend weise ich nur auf jene unmittelbar einleuchtende Überlegung hin, daß für ein solches Leben der Tod nicht nur unvermeidlich, sondern auch äußerst erwünscht ist: Kann man sich denn die unendlich fortdauernde Existenz irgendeiner Dame der höheren Gesellschaft oder irgendeines Sportsmanns oder Kartenspielers vorstellen, ohne daß einen entsetzliche Schwermut befiele? Die Unvereinbarkeit der Unsterblichkeit mit einer solchen Existenz ist auf den ersten Blick klar. Aber bei größerer Aufmerksamkeit müssen wir dieselbe Unvereinbarkeit auch in bezugauf andere, dem Anschein nach erfülltere Existenzen anerkennen. Wenn wir anstatt der Dame der höheren Gesellschaft oder des Spielers am entgegengesetzten Pol große Menschen nehmen, Genies, die der Menschheit unsterbliche Werke geschenkt oder die das Schicksal der Völker verändert haben, so werden wir sehen, daß der InUnsere •Gesellschaft•, darunter auch die Damen der höheren Gesellschaft, hat mit Entzücken diese Werke gelesen, besonders die ·Kreutzerso· nate•; aber schwerlich hat auch nur eine dieser Damen nach dieser Lektü· re irgendeine Einladung zu einem Ball abgelehnt -so schwer ist es, allein durch Moral, und sei es auch in vollkommener künstlerischer Form, die reale Wirkung des gesellschaftlichen Milieus zu ändern.•s g
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hait ihres Lebens und die historischen Früchte, die daraus erwachsen sind, nur insofern Bedeutung besitzen, als diese Früchte ein für alle Mal gegeben sind, und daß diese Genies bei unendlicher Fortsetzung ihrer individuellen Existenz jeden Sinn verlören. Die Unsterblichkeit der Werke verlangt offensichtlich keines~egs die ununterbrochene Unsterblichkeit der Individualitäten, die sie schufen, sie schließt sie sogar direkt aus. Kann man sich einen Shakespeare vorstellen, der endlos seine Dramen verfaßt, oder einen Newton, der endlos fortfährt, die Himmelsmechanik zu erforschen, ganz zu schweigen von der Unsinnigkeit einer. unendlichen Fortsetzung einer Tätigkeit, wie sie Alexander den Großen oder Napoleon berühmt gemacht hat? Es ist offensichtlich, daß Kunst, Wissenschaft, Politik, wenn sie auch einzelnen Bestrebungen des menschlichen Geistes Inhalt geben und zeitweilige historische Bedürfnisse der Menschheit befriedigen, doch durchaus nicht imstande sind, der menschlichen Individualität einen absoluten, sich selbst genügenden Inhalt zu verleihen, und daß sie deswegen auch nicht der Unsterblichkeit dieser Individualität bedürfen. Der Unsterblichkeit bedarf nur die Liebe, und nur sie kann diese erreichen. Wahre Liebe ist jene, die nicht nur im subjektiven Gefühl die unbedingte Bedeutung der menschlichen Individualität in einem anderen und in sich bejaht, sondern die diese absolute Bedeutung auch in der Wirklichkeit rechtfertigt, uns tatsächlich von der Unvermeidlichkeit des Todes befreit und unser Leben mit absolutem Inhalt erfüllt.
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»Dionysos und Hades sind ein und dasselbe«, hat der tiefste Denker der antiken Welt 66 gesagt. Dionysos, der junge und blühende Gott des materiellen Lebens in der vollen Spannung seiner überschäumenden Kräfte, der Gott der erregten und fruchtbaren Natur, ist dasselbe wie Hades, der bleiche Herrscher über das düstere und stumme Reich der abgeschiedenen Schatten. Der Gott des Lebens und der Gott des Todes sind ein und derselbe Gott. Das ist ei-
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ne Wahrheit, die für die Welt der natürlichen Organismen unbestreitbar ist. Die im individuellen Wesen aufschäumende Fülle der Lebenskräfte ist nicht dessen eigenes Leben, es ist ein fremdes Leben, das Leben der Gattung, die dem individuellen Wesen gegenüber gleichgültig und schonungslos ist, die für dieses Wesen der Tod ist. 67 Auf den niederen Stufen des Tierreichs ist das völlig klar; hier existieren die Einzelwesen nur, um Nachkommenschaft hervorzubringen und dann zu sterben; bei vielen Arten überleben sie den Fortpflanzungsakt nicht, sie sterben sogleich auf der Stelle, bei anderen Arten überleben sie ihn nur für eine sehr kurze Zeit. Aber wenn dieser Zusammenhang zwischen Geburt und Tod, zwischen der Erhaltung der Gattung und dem Untergang des Einzelwesens ein Gesetz der Natur ist, so beschränkt und schwächt andererseits die Natur selbst in ihrer fortschreitenden Entwicklung dieses ihr Gesetz mehr und mehr; die Notwendigkeit für das Einzelwesen, als Mittel zur Erhaltung der Gattung zu dienen und nach Erfüllung dieses Dienstes zu sterben, bleibt, aber die Wirkung dieser Notwendigkeit äußert sich nach dem Maße der Vervollkommnung der organischen Formen, nach dem Maße der wachsenden Selbständigkeit und Bewußtheit der individuellen Wesen immer weniger direkt und ausschließlich. So wirkt das Gesetz der Identität von Dionysos und Hades - der Identität des Lebens der Gattung und des Todes des Individuums- oder, was dasselbe ist, das Gesetz des Gegensatzes und des Widerstreits zwischen Gattung und Einzelwesen am stärksten auf den niederen Stufen der organischen Welt; mit der Entwicklung der höheren Formen aber wird es schwächer und schwächer; aber wenn dem so ist, muß dann nicht mit dem Erscheinen der unbedingt höchsten organischen Form, die ein selbstbewußtes und selbsttätiges Wesen umhüllt, ein Wesen, das sich von der Natur absondert, sich zu ihr wie zu einem Objekt verhält und folglich zu innerer Freiheit den Forderungen der Gattung gegenüber fähig ist -muß mit dem Erscheinen dieses Wesens nicht das Ende dieser Tyrannei der Gattung über das Einzelwesen eintreten? Wenn die Natur im biologischen Prozeß bestrebt ist, das Gesetz des Todes mehr und mehr einzuschränken, muß dann nicht der Mensch im historischen Prozeß dieses Gesetz vollständig aufheben? Es ist ohne weiteres klar, daß der Mensch, solange er sich vermehrt wie das Tier, auch stirbt wie das Tier. Aber andererseits ist
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ebenso klar, daß die einfache Enthaltung vom Geschlechtsakt keineswegs vom Tod befreit: es sterben Personen, die ihre Jungfräulichkeit bewahn haben, es sterben auch die Verschnittenen; die einen wie die anderen zeichnen sich nicht einmal durch besondere Langlebigkeit aus. Das ist auch verständlich. Der Tod ist, allgemein gesprochen, eine Desintegrierung des Wesens, ein Zerfall der Faktoren, die es bilden. Aber die Trennung der Geschlechter- die durch ihre äußere und vorübergehende Vereinigung im Geschlechtsakt nicht beseitigt werden kann - diese Trennung des männlichen und des weiblichen Elementes des menschlichen Wesens ist schon an und für sich ein Zustand der Desintegration und der Anfang des Todes. Im geschlechtlichen Getrenntsein verharren bedeutet auf dem Weg des Todes verharren, wer aber diesen Weg nicht verlassen will oder kann, der muß ihn mit natürlicher Notwendigkeit bis zum Ende gehen. Wer die Wurzel des Todes behütet, der wird unvermeidlich auch seine Frucht schmecken. Unsterblich kann nur der ganze Mensch sein, und wenn die physiologische Vereinigung die Ganzheit des menschlichen Wesens nicht wirklich wiederherstellen kann, so muß also diese falsche Vereinigung ersetzt werden durch die wahre Vereinigung, keineswegs aber durch Enthaltung von jeder Vereinigung, das heißt keineswegs durch das Bestreben, die getrennte, zerfallene und folglich sterbliche menschliche Natur in statu quo zu erhalten. Worin besteht nun die wahre Vereinigung der Geschlechter und wie wird sie verwirklicht? Unser Leben ist in dieser Hinsicht so fern von der Wahrheit, daß als Norm hier nur die weniger extreme, weniger schreiende Anormalität angenommen wird. Das muß noch erläuten werden, bevor wir weitergehen. II
In der letzten Zeit sind in der psychiatrischen Literatur Deutschlands und Frankreichs einige Spezialwerke erschienen, die dem gewidmet sind, was der Autor eines dieser Werke 68 »Psychopathia sexualis« genannt hat, das heißt: den verschiedenanigen Abweichungen von der Norm in den geschlechtlichen Beziehungen. Diese Schriften sind, abgesehen von ihrem speziellen Interesse für Juristen, Mediziner und die Kranken selbst, noch durch etwas anderes
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interessant, woran wahrscheinlich weder ihre Autoren noch die Mehrzahl der Leser gedacht haben, nämlich dadurch, daß bei diesen Abhandlungen, die von angesehenen Gelehrten von wahrscheinlich makelloser Sittenreinheit geschrieben worden sind, das Fehlen jedes klaren und bestimmten Begriffs von der Norm der geschlechtlichen Beziehungen überrascht, das Fehlen jeder klaren Vorstellung von dem, was auf diesem Gebiet sein soll und warum es sein soll; und deshalb erweist sich auch die Bestimmung der Abweichungen von der Norm, das heißt der eigentliche Gegenstand dieser Untersuchungen, als zufällig und willkürlich angenommen. Als einziges Kriterium der Erscheinungen erweist sich, ob sie üblich sind oder unüblich: Diejenigen triebhaften Wünsche und Verhaltensweisen im Bereich der Sexualität, die verhältnismäßig selten sind, werden für pathologische Abweichungen gehalten, die eine ärztliche Behandlung erfordern, diejenigen aber, die üblich und allgemein gebräuchlich sind, werden als Norm vorausgesetzt. Dabei erreicht diese Verwechslung von Norm und üblicher Abweichung, die Identifizierung dessen, was sein soll, mit dem, was gemeinhin geschieht, hier zuweilen ein hohes Maß an Komik. So finden wir in dem kasuistischen Teil eines dieser Werke unter mehreren Nummern die wiederholte Anwendung des folgenden therapeutischen Verfahrens: Man veranlaßt den Kranken teils durch eindringlichen medizinischen Rat, vorzugsweise aber durch hypnotische Suggestion, seine Einbildungskraft mit der Vorstellung eines entblößten Frauenkörpers oder mit anderen unanständigen Bildern von nonna/-geschlechtlichem Charakter (sie!) zu beschäftigen, und die ärztliche Behandlung wird dann für gelungen, die Heilung für vollständig gehalten, wenn der Patient unter dem Einfluß dieser künstlichen Erregung anfängt, gern, oft und erfolgreich Lupanare zu besuchen ... Es ist erstaunlich, wieso diese an~esehe nen Gelehrten sich nicht wenigstens von der einfachen Uberlegung haben hemmen lassen, daß der Patient, je erfolgreicher eine Therapie dieser Art sein wird, umso leichter vor die Notwendigkeit gestellt werden kann, sich von einem medizinischen Spezialisten an einen anderen um Hilfe zu wenden, und daß der Triumph des Psychiaters dem Dermatologen große Scherereien bereiten kann. Die in medizinischen Büchern untersuchten Entartungen des geschlechtlichen Gefühls sind für uns wichtig als äußerste Entwick-
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lung des gleichen, was in den Alltagsgebrauch unserer Gesellschaft Eingang gefunden hat, was als erlaubt und normal gilt. Diese nicht üblichen Erscheinungen zeigen nur in krasserer Form die gleiche innere Häßlichkeit, die unseren üblichen Beziehungen auf diesem Gebiet eigentümlich ist. Dies könnte man durch eine Betrachtung aller speziellen Entartungen des geschlechtlichen Gefühls beweisen; aber ich hoffe, daß man mir in dieser Angelegenheit die Unvollständigkeit der Argumentation verzeihen wird, und werde mir erlauben, mich auf eine einzige, weiter verbreitete und _weniger abstoßende Anomalie auf dem Gebiet des geschlechtlichen Gefühls zu beschränken. Bei vielen Menschen, fast immer männlichen Geschlechts, wird dieses Gefühl vorwiegend, manchmal aber auch ausschließlich, durch diesen oder jenen Körperteil einer Person des anderen Geschlechts (zum Beispiel Haare, Hände, Fuß) oder sogar durch äußere Gegenstände - bestimmte Teile der Kleidung und ähnliches - hervorgerufen. Diese Anomalie hat die Bezeichnung »Fetischismus in der Liebe>natürlichen« Befriedigung eines »natürlichen« Bedürfnisses ist? III Das alles sage ich nicht zur Rechtfertigung der widernatürlichen, sondern zur Verurteilung vermeintlich natürlicher Arten der Befriedigung des Geschlechtsgefühls. Überhaupt darf man, wenn man von Natürlichkeit oder Widernatürlichkeit spricht, nicht vergessen, daß der Mensch ein kompliziertes Wesen ist, und daß das, was für das eine der Prinzipien oder Elemente, die ihn bilden, natürlich ist, für das andere widernatürlich und folglich für den ganzen Menschen unnormal sein kann. Für den Menschen als Tier ist eine unbegrenzte Befriedigung seiner geschlechtlichen Bedürfnisse mit Hilfe der bekannten physiologischen Handlung völlig natürlich, aber der Mensch als sittliches Wesen findet, daß diese Handlung im Gegensatz zu seiner höheren Natur steht, und schämt sich ihrer72 ••• Dem Menschen als Gesell· schaftstier13 ist es natürlich, die physiologische Funktion, die sich auf andere Personen bezieht, durch die Forderungen des sozialsittlichen Gesetzes zu beschränken. Dieses Gesetz beschränkt und verhüllt von außen her die tierische Verrichtung, macht sie zu einem Mittel für ein soziales Ziel -für die Bildung des Familienverbandes. Aber das Wesen der Sache wird dadurch nicht geändert. Der Familienverband ist trotzdem auf der äußeren, materiellen Vereinigung der Geschlechter gegründet: Er läßt das MenschTier74 in seinem früheren, desintegrierten Zustand der Halbheit,1 5 der notwendig zu weiterer Desintegrierung des menschlichen Wesens, das heißt zum Tode führt. i
Siehe oben.
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Wäre der Mensch über seine tierische Natur hinaus nur ein sozial-sittliches Wesen, so würde von diesen zwei einander widerstreitenden Elementen - die in gleicher Weise für ihn natürlich sind - das erstere den endgültigen Sieg davontragen. Das sozialsittliche Gesetz und seine grundlegende Objektivation - die Familie76 -schließen die tierische Natur des Menschen in Grenzen ein, die für den Fortschritt der Gattung notwendig sind, sie bringen das sterbliche Leben in eine Ordnung, aber sie öffnen nicht den Weg zur Unsterblichkeit. Das individuelle Wesen verzehrt sich und stirbt in der sozial-sittlichen Ordnung des Lebens ebenso, als wenn es ausschließlich dem Gesetz des triebhaften Lebens unterworfen bliebe. Der Elefant und der Rabe erweisen sich sogar als bedeutend langlebiger als der tugendhafteste und akkurateste Mensch.i Aber im Menschen gibt es außer der tierischen Natur und dem sozial-sittlichen Gesetz noch ein drittes, höheres Prinzip- das geistige, mystische 80 oder göttliche. Dieses Prinzip ist auch hier, auf dem Gebiet der Liebe und der geschlechtlichen Beziehungen, jener »Stein, den die Bauleute verworfen haben« und »der zum Eckstein geworden ist«. Vor der physiologischen Vereinigung in der tierischen Natur, die zum Tode führt, und vor dem gesetzlichen Verband in der sozial-sittlichen Ordnung, der nicht vom Tode errettet, muß die Vereinigung in Gott stehen, die zur i Zu den Diskussionen über Tod und Todesangst, die kürzlich geführt worden sind, 77 muß man bemerken, daß es außer Angst und Gleichgültigkeit- die eines denkenden und liebenden Wesens gleichermaßen unwürdig sind - noch eine dritte Beziehung dazu gibt - den Kampf und den Sieg über den Tod. Es geht dabei nicht um den eigenen Tod, um den sich sittlich und physisch gesunde Menschen natürlich wenig sorgen, sondern um den Tod anderer, geliebter Wesen; ihrem Tod gegenüber kann sich der, der sie liebt, nicht gleichgültig verhalten (Siehe Joh. 11,33-38). 78 Resignation in dieser Hinsicht wäre nur in dem Fall eine Forderung der Vernunft, wenn der Tod für den Menschen der absolut unausweichliche Ausgang wäre. Aber das wird immer nur vorausgesetzt, aber niemals bewiesen, und dies nicht ohne Grund: denn es ist unmöglich, es zu beweisen ... Daß der Tod unter bestimmten Bedingungen unausweichlich ist, darüber besteht natürlich kein Streit: aber daß diese Bedingungen die einzig möglichen sind, daß man sie nicht ändern kann, und daß folglich der Tod eine unbedingte Unausweichlichkeit ist -dafür gibt es nicht einmal den Schatten eines vernünftigen Grundes. 79
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Unsterblichkeit führt, weil sie sich nicht damit begnügt, das sterbliche Leben der Natur durch ein menschliches Gesetz zu beschränken, sondern weil sie macht, daß es wiedergeboren wird durch die ewige und unvergängliche Kraft der Gnade. Dieses dritte, in der wahren Ordnung aber erste Element mit den mit ihm verbundenen Forderungen ist völlig natürlich für den Menschen in seiner Ganzheit, als für ein Wesen, das am höchsten, göttlichen Prinzip teilhat und zwischen ihm und der Welt vermittelt. Die zwei niederen Elemente aber- die tierische Natur und das sozi;1le Gesetz-, die an ihrem Platz gleichfalls natürlich sind, werden widernatür· lieh, wenn man sie gesondert von dem höheren nimmt und sie an seine Stelle treten läßt. Auf dem Gebiet der geschlechtlichen Liebe ist nicht nur jede sich über die Ordnung hinwegsetzende und einer höheren geistigen Weihe ermangelnde Befriedigung der sinnlichen Bedürfnisse nach Art der Tiere (ganz zu schweigen von verschiedenen ungeheuerlichen Erscheinungen der geschlechtlichen Psychopathie) widernatürlich, sondern gleichfalls des Menschen unwürdig und widernatürlich sind auch jene Verbindungen zwischen Personen verschiedenen Geschlechts, die nur auf Grund des bürgerlichen Gesetzes und ausschließlich für die Erreichung moralisch-gesellschaftlicher Ziele geschlossen und aufrechterhalten werden, wo aber das eigentlich geistige, mystische Prinzip im Menschen beiseite geschoben wird oder untätig bleibt. Aber gerade eine solche, vom Standpunkt des ganzen menschlichen Wesens aus widernatürliche Verkehrung dieser Beziehungen herrscht ja in unserem Leben und wird als normal angesehen; und die ganze Verurteilung trifft die unglücklichen Psychopathen der Liebe, die nichts weiter tun, als diese allgemein anerkannte und herrschende Entartung bis zu lächerlichen, häßlichen, manchmal abstoßenden, meist aber vergleichsweise unschädlichen Extremen zu führen. IV Jene vielfältigen Entartungen des geschlechtlichen Instinkts, mit denen sich die Psychiater beschäftigen, sind nur wunderliche Abarten der allgemeinen und allesdurchdringenden Entstellung dieser Beziehungen in der Menschheit -jener Entstellung, durch die die Herrschaft der Sünde und des Todes aufrechterhalten und ver-
Der Sinn der Liebe ewigt wird. Obwohl alle drei für den Menschen in seiner Ganzheit natürlichen Beziehungen oder Verbindungen zwischen den Geschlechtern, nämlich die Verbindung im tierischen Leben oder nach der niederen Natur, dann die Verbindung unter der Moral des Alltagslebens oder unter dem Gesetz und endlich die Verbindung im geistigen Leben oder die Vereinigung in Gott - obwohl alle diese drei Beziehungen in der Menschheit bestehen, so werden sie doch auf widernatürliche Weise verwirklicht, nämlich getrennt voneinander, in einer ihrem wahren Sinn und ihrer wahren Ordnung entgegengesetzten Reihenfolge und in ungleichem Maß. An erster Stelle erscheint in unserer Wirklichkeit das, was in Wahrheit an der letzten stehen müßte - die tierische, physiologische Verbindung. Sie wird als Grundlage der ganzen Sache angesehen, während sie nur ihre äußerste Vollendung sein sollte. 81 Für viele fällt hier die Grundlage mit der Vollendung zusammen: weiter als bis zu tierischen Beziehungen gehen sie gar nicht; für andere erhebt sich auf dieser breiten Grundlage der sozial-sittliche Überbau des gesetzlichen Familienverbandes. Hier wird das Mittelmaß des Alltags als Gipfel des Lebens angesehen, und das, was im zeitlichen Prozeß als freier, sinnerfüllter Ausdruck der ewigen Einheit dienen sollte, wird zum unfreiwilligen Strombett eines sinnlosen, materiellen Lebens. 82 Und schließlich bleibt dann als seltene und ausschließliche Erscheinung für wenige Erwählte die reine, geistige Liebe übrig, der aller wirkliche Inhalt schon im voraus durch die anderen, niederen Verbindungen weggenommen ist, so daß sie sich mit einer träumerischen und unfruchtbaren Empfindsamkeit, ohne jede reale Aufgabe und ohne Ziel im Leben, begnügen muß. Diese unglückselige geistige Liebe erinnert an die kleinen Engel der alten Malerei, die nur Kopf und Flügelehen und sonst nichts haben. Diese Engel tun nichts, weil sie keine Hände haben, und sie können sich nicht vorwärts bewegen, weil die Kraft ihrer Flügelehen nur dazu ausreicht, sie unbeweglich in einer bestimmten Höhe zu halten. In einer ebenso erhabenen, aber gleichfalls äußerst unbefriedigenden Lage befindet sich die geistige Liebe. Die physische Leidenschaft hat etwas vor, was sie tun will, wenn es auch etwas ist, dessen man sich schämen muß; der gesetzliche Familienverband tut gleichfalls ein einstweilen notwendiges Werk, wenn auch von mittelmäßigem Wert. Die geistige Liebe aber, so wie sie bisher aussieht, hat notorisch überhaupt kein Werk zu tun, und
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deshalb ist es nicht so erstaunlich, daß für die Mehrzahl der Menschen, die etwas zu tun haben, gilt: »Sie glauben an keine Liebe oder nehmen's für Poesie.« 83 Diese ausschließlich geistige Liebe ist offenbar eine ebensolche Anomalie wie die ausschließlich physische Liebe und der ausschließlich für das Alltagsleben geschlossene Bund. Die absolute Norm ist die Wiederherstellung der Ganzheit des menschlichen Wesens, und ob diese Norm nun nach der einen oder nach der anderen Seite verletzt wird, das Ergebnis ist in jedem Fall eine anormale, widernatürliche Erscheinung. Die angeblich geistige Liebe ist nicht nur eine anormale, sondern auch eine völlig zwecklose Erscheinung, denn jene Trennung des Geistigen vom Sinnlichen, zu der sie hinstrebt, wird auch ohne sie auf die beste Art und Weise vom Tod vollzogen. Die wahre geistige Liebe aber ist nicht eine schwache Nachahmung und Vorwegnahme des Todes, sondern der Triumph über den Tod - nicht die Trennung des Unsterblichen vom Sterblichen, des Ewigen vom Zeitlichen, sondern die Verwandlung des Sterblichen in Unsterbliches, die Aufnahme des Zeitlichen ins Ewige. Die falsche Geistigkeit ist Verneinung des Fleisches, die wahre Geistigkeit ist dessen Wiedergeburt, Rettung und Auferstehung. V
»An dem Tage, da Gott den Menschen schuf, schuf er ihn nach de_m Bilde Gottes, als Mann und als Weib schuf er sie.« 84 »Dieses Geheimnis ist groß, ich rede aber von Christus und von der Kirche.« 85 Nicht auf irgendeinen abgesonderten Teil des menschlichen Wesens, sondern auf die wahre Einheit seiner beiden grundlegenden Seiten, der männlichen und der weiblichen, bezieht sich ursprünglich das geheimnisvolle Bild Gottes, nach dem der Mensch geschaffen ist. Wie Gott sich zu seiner Schöpfung verhält, wie Christus sich zu seiner Kirche verhält, so soll sich der Mann 86 zur Frau verhalten. So allgemein bekannt diese Worte auch sind, so wenig wird jedoch ihr Sinn verstanden. Wie Gott das Weltall schafft, wie Christus die Kirche baut 87 , so soll der Mann seine weibliche Ergänzung schaffen und bauen. Daß der Mann das aktive, die Frau
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aber das passive Prinzip darstellt, daß der Mann bildend auf Verstand und Charakter der Frau wirken soll - das sind natürlich Binsenweisheiten; wir haben aber nicht dieses oberflächliche Verhältnis, sondern jenes »große Geheimnis« 88 im Auge, von dem der Apostel spricht. Dieses große Geheimnis besteht darin, daß es zwar keine Identität, wohl aber eine wesentliche Analogie zwischen der Beziehung des Menschen [zum Gegenstand seines schöpferischen Handelns] und der Beziehung Gottes [zu diesem Gegenstand] gibt. Denn schon die Art, wie Christus die Kirche baut, unterscheidet sich von der, wie Gott als solcher89 das Weltall erschafft. Gott schafft das Weltall aus Nichts, 90 d.h. aus der reinen Potenz des Seins oder aus der Leere, die allmählich gefüllt wird, das heißt: die vom Wirken Gottes die realen Formen der intelligiblen Dinge empfängt; dagegen baut Christus die Kirche aus einem Material, das schon vielgestaltig geformt und beseelt und in seinen Teilen selbsttätig ist und dem nur das Prinzip eines neuen, geistigen Lebens in einer neuen, höheren Sphäre der Einheit mitgeteilt werden muß. Der Mensch 91 schließlich hat für sein schöpferisches Wirken in der Person der Frau ein Material, das dem Grade der Aktualisation 92 nach ihm selbst gleich ist, vor dem er nur den potentiellen Vorzug der Initiative, nur das Recht und die Verpflichtung des ersten Schritts auf dem Weg zur Vollkommenheit, nicht aber die wirkliche Vollkommenheit voraus hat. Gott verhält sich zum Geschöpf wie das All zum Nichts, d.h. wie die absolute Fülle des Seins zur reinen Potenz des Seins; Christus verhält sich zur Kirche, wie die aktuelle Vollkommenheit zur Potenz der Vollkommenheit, die zur wirklichen Vollkommenheit gestaltet wird; das Verhältnis zwischen Mann und Frau 93 aber ist das zweier verschieden wirkender, aber gleichermaßen unvollkommener Potenzen, die die Vollkommenheit nur durch einen Prozeß der Wechselwirkung erreichen. Mit anderen Worten: Gott empfängt vom Geschöpf nichts für sich, das heißt keinerlei Zuwachs, sondern gibt ihm alles; Christus erhält von der Kirche keinerlei Zuwachs im Sinne der Vollkommenheit, sondern gibt ihr alle Vollkommenheit, aber er erhält von der Kirche Zuwachs im Sinne der Fülle Seines kollektiven Leibes; 94 der Mensch endlich und sein weibliches alter ego ergänzen sich gegenseitig nicht nur im realen, sondern auch im idealen Sinn, indem sie die Vollkommenheit nur durch Wechselwirkung erreichen. Der Mensch kann das Bild Gottes im
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lebendigen Gegenstand seiner Liebe nur auf die Weise aufbauend wiederherstellen, daß er dieses Bild zugleich auch in sich selbst wiederherstellt; aber dafür hat er die Kraft nicht in sich selbst, denn wenn er sie hätte, so würde er ja der Wiederherstellung nicht bedürfen; da er aber diese Kraft nicht in sich selbst hat, muß er sie von Gott erhalten. Folglich ist der Mensch (der Mann 95 ) in bezug auf seine weibliche Ergänzung nicht an und für sich das schöpferische, aufbauende Prinzip, sondern er ist es nur als Vermittler oder Leiter der göttlichen Kraft. Eigentlich baut auch Ch_ristus die Kirche nicht mit irgendeiner besonderen, eigenen Kraft, sondern mit derselben schöpferischen Kraft der Gattheit; da er aber selbst Gott ist, besitzt er diese Kraft seiner Natur nach und actu, 96 wir aber besitzen sie durch Gnade und Aneignung, indem wir in uns nur die Möglichkeit (die Potenz) zu ihrer Aufnahme haben. Indem ich dazu übergehe, die grundlegenden Momente im Prozeß der Verwirklichung der wahren Liebe, d.h. im Prozeß der Integration des menschlichen Wesens oder der Wiederherstellung des Bildes Gottes in ihm darzulegen, sehe ich voraus, daß viele das nicht begreifen und verwundert fragen werden: Warum soll man sich anläßlich einer so einfachen Sache, wie die Liebe es ist, in solche unzugänglichen und phantastischen Höhen versteigen? Wenn ich die religiöse Norm der Liebe für phantastisch hielte, so würde ich sie natürlich auch nicht vorschlagen. Ebenso würde ich mich, wenn ich nur die einfache Liebe im Auge hätte, das heißt die gewöhnlichen, durchschnittlichen Beziehungen zwischen den Geschlechtern - das, was gemeinhin ist, und nicht das, was sein soll -, natürlich aller Betrachtungen über diesen Gegenstand enthalten, denn zweifellos gehören diese einfachen Beziehungen zu jenen Dingen, von denen einmal jemand gesagt hat: Es ist nicht gut, das zu tun, aber noch schlimmer, sich darüber zu unterhalten. Aber die Liebe, wie ich sie verstehe, ist im Gegenteil eine außerordentlich komplizierte, verdunkelte und verworrene Sache, die ei-· ne ganz bewußte Prüfung und Untersuchung verlangt, bei welcher man sich nicht um Einfachheit, sondern um Wahrheit kümmern muß. Ein fauler Baumstumpf ist zweifellos einfacher als ein vielästiger Baum, und eine Leiche ist einfacher als ein lebender Mensch. Das einfache Verhältnis zur Liebe wird durch jene endgültige und äußerste Vereinfachung97 vollendet, die Tod heißt. Ein solches unvermeidliches und unbefriedigendes Ende der >>einfa-
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chen« Liebe veranlaßt uns, für sie nach einem anderen, komplizierteren Prinzip zu suchen. VI Das Werk der wahren Liebe gründet vor allem auf dem Glauben. Der tiefste Sinn der Liebe besteht, wie schon gezeigt wurde, darin, daß man einem anderen Wesen unbedingte Bedeutung zuerkennt. Aber in seinem empirischen Sein, das der realen sinnlichen Wahrnehmung unterliegt, besitzt dieses Wesen keine unbedingte Bedeutung: Es ist unvollkommen nach seiner Würde und vergänglich in seiner Existenz. Folglich können wir seine unbedingte Bedeutung nur im Glauben behaupten, der eine gewisse Zuversicht des ist, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht. 97 ' Worauf bezieht sich der Glaube nun aber im vorliegenden Fall? Was bedeutet es eigentlich, an die unbedingte und damit zugleich auch unendliche Bedeutung dieser individuellen Person zu glauben? Zu behaupten, daß sie an sich, als solche, in dieser ihrer Besonderheit und Getrenntheit absolute Bedeutung besitzt, wäre ebenso unsinnig wie gotteslästerlich. Natürlich ist das Wort ••Vergötterung« in der Sphäre der Liebesbeziehungen sehr gebräuchlich, aber auch das Wort »Verrücktheit« findet in diesem Gebiet seine legale Anwendung. Indem wir dem Gesetz der Logik folgen, das die Identifizierung sich widersprechender Definitionen nicht gestattet, und ebenso dem Gebot der wahren Religion, das den Götzendienst verbietet, müssen wir also unter dem Glauben an den Gegenstand unserer Liebe verstehen, daß wir von ihm behaupten, daß er seine Existenz in Gott hat und daß er in diesem Sinn unendliche Bedeutung besitzt. Es versteht sich, daß diese transzendente Beziehung zu seinem anderen, 98 diese gedankliche Übertragung des anderen in die Sphäre der Gottheit die gleiche Beziehung zu sich selbst voraussetzt, die gleiche Übertragung seiner selbst in die absolute Sphäre und seine Bejahung in ihr. Einer gegebenen Person unbedingte Bedeutung zuerkennen oder an sie glauben (ohne das ist wahre Liebe unmöglich), das kann ich nur, wenn ich sie in Gott bejahe, folglich, indem ich an Gott selbst glaube und an mich als an jemanden, der den Mittelpunkt und die Wurzel seines Seins in Gott hat. Dieser dreieinige Glaube 99 ist in gewisser
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Hinsicht schon ein innerer Akt, und durch diesen Akt wird die erste Grundlage zur wahren Wiedervereinigung des Menschen mit seinem anderen und zur Wiederherstellung des Bildes des dreieinigen Gottes in ihm (oder in ihnen 100) gelegt. Der Akt des Glaubens unter den tatsächlichen Bedingungen der Zeit und des Raumes ist das Gebet (im grundlegenden, nicht im technischen Sinn dieses Wortes 101 ). Die untrennbare Vereinigung von mir selbst mit meinem anderen in dieser Beziehung 102 ist der erste Schritt zur wirklichen Vereinigung. An und für sich ist dieser Schritt.klein, aber ohne ihn ist alles Weitere und Größere unmöglich. Da für Gott, den ewigen und untrennbaren, alles zusammen und gleichzeitig ist, alles in einem, so bedeutet die Behauptung, daß ein individuelles Wesen in Gott sei, daß man es nicht in seiner Getrenntheit, sondern in allem oder genauer: in der Einheit des Alls bejaht. Aber weil dieses individuelle Wesen in seiner gegebenen Wirklichkeit nicht in die Einheit des Alls 103 eingeht, sondern getrennt von ihm existiert, als eine materiell abgesonderte Erscheinung, so unterscheidet sich der Gegenstand unserer gläubigen Liebe notwendig von dem empirischen Objekt unserer instinktiven Liebe, wenn er auch untrennbar mit ihm verbunden ist. Es ist dies ein und dieselbe Person in zwei verschiedenen Aspekten oder in zwei verschiedenen Sphären des Seins, in der idealen und in der realen. Das erstere 104 ist einstweilen nur eine Idee. Aber in der wahren, gläubigen und sehenden Liebe wissen wir, daß diese Idee nicht willkürlich von uns ausgedacht ist, sondern daß sie die Wahrheit des Gegenstandes ausdrückt, die nur noch nicht verwirklicht ist in der Sphäre der realen Erscheinungen. Diese wahre Idee des geliebten Gegenstandes schimmert zwar in den Augenblicken des Liebespathos durch die reale Erscheinung hindurch, aber in einer klareren Gestalt erscheint sie zunächst nur als Gegenstand der Einbildung. 105 Die konkrete Form dieser Einbildung, das ideale Bild, in das ich die geliebte Person im gegebec nen Moment einhülle, wird natürlich von mir geschaffen, aber sie wird nicht aus dem Nichts geschaffen, und die Subjektivität dieses Bildes als solchen, das heißt, des Bildes, wie es jetzt und hier vor den Augen meiner Seele erscheint, beweist nicht im geringsten den subjektiven, das heißt nur für mich existierenden Charakter des eingebildeten 106 Gegenstandes selbst. Wenn für mich, der ich mich diesseits der transzendenten Welt befinde, ein bestimmter idealer
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Gegenstand nur als Erzeugnis meiner Einbildung erscheint, so stört das seine volle Realität in einer anderen, höheren Sphäre des Seins nicht. Und obwohl sich unser reales Leben außerhalb dieser höheren Sphäre befindet, so ist unser Geist ihr doch nicht ganz fremd, und wir können einen gewissen spekulativen Begriff von den Gesetzen ihres Seins haben. Und dies ist das erste, grundlegende Gesetz: Wenn in unserer Welt die getrennte und isolierte Existenz Tatsache und Aktualität ist, die Einheit aber nur Begriff und Idee, so besitzt umgekehrt dort die Einheit oder genauer: die AllEinheit Wirklichkeit, die Getrenntheit und Gesondertheit dagegen existieren nur potentiell und subjektiv. Hieraus aber folgt, daß das Sein dieser Person in der transzendenten Sphäre nicht ein individuelles im Sinn des hiesigen realen Seins ist. Dort, das heißt in der Wahrheit, ist die individuelle Person nur ein lebendiger und wirklicher, aber nicht abtrennbarer Strahl der einen idealen Leuchte - der all-einen Wesenheit. Diese ideale Person oder die personifizierte Idee ist nur die Individualisierung der All-Einheit, die unteilbar zugegen ist in jeder dieser ihrer Individualisierungen. Wenn wir uns also die ideale Form des Gegenstandes unserer Liebe einbilden, so teilt sich uns unter dieser Form die all-eine Wesenheit selbst mit. Wie aber müssen wir sie denken? VII
Gott als der eine, der sein anderes, 107 das heißt alles, was nicht er selbst ist, von sich unterscheidet, vereint dieses alles mit sich, indem er es sich zusammen und zugleich vorstellt in absolut vollkommener Form, folglich als Eines. Diese andere Einheit, unterschieden, wenn auch nicht abtrennbar von der ursprünglichen Einheit Gottes, ist in bezug auf Gott eine passive, weibliche Einheit, da hier die ewige Leere 108 (die reine Potenz) die Fülle des göttlichen Lebens empfängt. Wenn aber im Grunde dieser ewigen Weiblichkeit 109 das reine Nichts liegt, so ist für Gott dieses Nichts ewig durch das Bild der absoluten Vollkommenheit verdeckt, das sie von der Gottheit empfängt. Diese Vollkommenheit, die sich für uns nur erst verwirklicht, ist für Gott, das heißt in der Wahrheit, schon wirklich. Jene ideale Einheit, zu der unsere Welt hinstrebt, die das Ziel des kosmischen und des historischen Prozesses
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ausmacht -sie kann nicht nur der subjektive Begriff von irgendjemandem sein (von wem auch?); sie ist wahrhaftig da, als der ewige Gegenstand der Liebe Gottes, als sein ewiges anderes. Dieses lebendige Ideal der göttlichen Liebe, das unserer Liebe vorangeht, enthält in sich das Geheimnis ihrer Idealisierung. 11 o Hier ist die Idealisierung des niederen Wesens zugleich die beginnende Realisierung des höheren, und darin besteht die Wahrheit des Liebespathos. Die volle Realisierung aber, die Verwandlung des individuellen weiblichen Wesens in einen von seiner lichtstrahlenden Quelle untrennbaren Strahl der ewigen, göttlichen Weiblichkeit, wird die wirkliche, nicht nur subjektive, sondern auch objektive Wiedervereinigung des individuellen Menschen mit Gott, die Wiederherstellung des lebendigen und unsterblichen Bildes Gottes in ihm sein. Der Gegenstand der wahren Liebe ist nicht einfach, sondern ein doppelter: Wir lieben erstens jenes ideale Wesen (ideal nicht im abstrakten Sinn, sondern im Sinn der Zugehörigkeit zu der anderen, höheren Sphäre des Seins), das wir in unsere ideale 111 Welt einführen müssen, und zweitens lieben wir jenes natürliche, menschliche Wesen, das das lebendige, persönliche Material für diese Realisation abgibt und das dadurch idealisiert wird - nicht in dem Sinne, als sei dies nur unsere subjektive Einbildung, sondern in dem Sinne, daß es wirklich objektiv umgewandelt und wiedergeboren wird. Auf solche Weise ist wahre Liebe untrennbar sowohl eine aufsteigende wie auch eine absteigende Liebe (amor ascendens und amor descendens, oder jene zwei Aphroditen, die Platon in richtiger Weise voneinander unterschieden, aber fälschlich getrennt hat 112 'Aq>pocSiTTJ oupnvin und 'Aq>pocSitT] navcST]~oc;). - Für Gott hat sein anderes (d.h. das Weltall) von Ewigkeit her die Gestalt 113 der vollkommenen Weiblichkeit, aber er will, daß diese Gestalt nicht nur für ihn da sei, sondern daß sie sich für jedes individuelle Wesen, das fähig ist, sich mit ihr zu vereinigen, realisiere und verkörpere. Zu einer solchen Realisierung und Verkörperung strebt auch die ewige Weiblichkeit selbst, die nicht ein bloßes tatenloses Bild 114 im Geist 115 Gottes ist, sondern ein lebendiges geistiges Wesen, das die ganze Fülle der Kräfte und Wirkungen besitzt. Der ganze kosmische und historische Prozeß ist ein Prozeß ihrer Realisierung und Verkörperung in einer großen Mannigfaltigkeit von Formen und [Entwicklungs-]Stufen.
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Der Sinn der Liebe
In der Geschlechtsliebe, sofern sie wahrhaft verstanden und wahrhaft verwirklicht wird, erhält diese göttliche Wesenheit das Mittel zu ihrer endgültigen, äußersten Verkörperung im individuellen Leben des Menschen, eine Möglichkeit 116 zur allertiefsten und zugleich alleräußerlichsten, real spürbaren Vereinigung mit ihm. 117 Daher rührt jener Schimmer unirdischer 118 Seligkeit, jenes Wehen einer nicht-hiesigen Freude, von denen sogar eine unvollkommene Liebe begleitet wird und die sie, auch wenn sie unvollkommen ist, zum größten Genuß der Menschen und Götter machen- hominom divomque voluptas. 119 Daher rührt auch das unendlich tiefe Leiden der Liebe, wenn sie keine Kraft hat, ihren wahren Gegenstand festzuhalten und sich immer mehr und mehr von ihm entfernt. Hier erhält auch jenes Element der Vergötterung und der grenzenlosen Hingabebereitschaft seinen rechtmäßigen Platz, das der Liebe so eigentümlich ist und das so wenig Sinn hat, wenn es sich nur auf ihren irdischen Gegenstand, in seiner Getrenntheit vom himmlischen, bezieht. Die mystische Grundlage des doppelten oder besser gesagt: des zweiseitigen Charakters der Liebe löst die Frage nach der Möglichkeit der Wiederholung der Liebe. Der himmlische Gegenstand unserer Liebe ist nur einer, immer und für alle ein und derselbe- die ewige Göttliche Weiblichkeit; 120 da aber die Aufgabe der wahren Liebe nicht darin besteht, diesen höchsten Gegenstand bloß zu verehren, sondern darin, ihn in einem anderen, niederen Wesen von der gleichen weiblichen Form, jedoch von irdischer Natur zu realisieren und zu verkörpern, dieses Wesen aber nur eins von vielen ist, so kann dessen einzigartige Bedeutung für den Liebenden natürlich auch vergänglich sein. Aber ob das so sein soll und warum, das entscheidet sich erst in jedem individuellen Fall und hängt nicht von der einen und unwandelbaren mystischen Grundlage des wahren Liebesprozesses ab, sondern von seinen weiteren sittlichen und physischen Bedingungen, die wir nun betrachten müssen.
Fünfter Aufsatz
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FÜNFTER AUFSATZ
Das unwillkürliche und unmittelbare Gefühl enthüllt uns den Sinn der Liebe als der höchsten Offenbarung des individuellen Lebens, das in der Vereinigung mit einem anderen Wesen seine eigene Unendlichkeit findet. Genügt nicht diese einen Augenblick währende Offenbarung? Ist es denn ein Geringes, wenn man wenigstens einmal im Leben die unbedingte Bedeutung des eigenen Ich gefühlt hat? »Und ich weiß, wenn ich zu Zeiten auf die Sterne blicke, daß wir- du und ich- wie Götter auf sie geschaut haben.« 121 Dies ist auch für das bloße poetische Gefühl kaum ausreichend, aber das Bewußtsein der Wahrheit und der Wille zum Leben können sich in gar keiner Weise damit zufrieden geben. Eine nur einen Augenblick währende Unendlichkeit ist ein unerträglicher Widerspruch für den Geist, eine Glückseligkeit nur in der Vergangenheit ist Leiden für den Willen. Es gibt jene Augenblicke des Aufleuchtens eines anderen Lichtes, nach denen >>Noch dunkler ist die Finsternis des alltäglichen Lebens, Wie nach grellem herbstlichen Wetterleuchten.