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German Pages 238 [236] Year 2005
HERMAEA GERMANISTISCHE FORSCHUNGEN NEUE FOLGE HERAUSGEGEBEN VON JOACHIM HEINZLE UND KLAUS-DETLEF MÜLLER
BAND 106
HEE-JU KIM
Der Schein des Seins Zur Symbolik des Schleiers in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre«
MAX N I E M E Y E R VERLAG T Ü B I N G E N 2005
Die vorliegende Arbeit wurde mit dem Jahrespreis 2003 der Wissenschaftlichen Gesellschaft Freiburg ausgezeichnet.
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-15106-4
ISSN 0440-7164
© Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2005 http://www.niemeyer.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Johanna Boy, Brennberg Druck: Guide Druck GmbH, Tübingen Buchbinder: Geiger, Ammerbuch
Inhalt
Einleitung I.
Aus der Welt der Herkunft 1. Die Familiendynamik 2. »Jüngling am Scheideweg« 3. Theatralisierte Liebe aus Theaterliebe 4. Parallelwelt der Liebe: Die Melina-Episode 5. Das Bild vom kranken Königssohn
II.
In 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9.
III. In 1. 2. 3. 4.
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der Zeichenwelt der Vorsehung 67 Die Schleiersymbolik 67 Der mystische Schleier 70 Der goldene Schleier 72 Auch ein Schleier für Philine im Moratorium der I d e n t i t ä t . . . . 78 Der Schleier der Amazone 90 »Epoche ohne Epoche« 99 Die >HamletWilhelm Meister und kein Ende< - der Titel von Goethes 1813 und 1816 entstandenem dreiteiligem Essay >Shakespeare und kein Endes in dem er in Anspielung auf seine frühere Rede >Zum Shäkespears Tag< (1771) auf eine umfassende Würdigung seines großen Vorbilds zu sprechen kommt, läßt sich mit einem gewissen Recht auch auf Goethe selbst und insbesondere auf seinen Roman >Wilhelm Meisters Lehrjahre< übertragen. Goethes Roman erfreut sich bis heute des anhaltenden Interesses literaturwissenschaftlicher Forschung. Diese Wirkungskonstanz verdankt sich nicht nur der Stellung, die das für lange Zeit zum Prototyp des sog. Bildungsromans erklärte Werk traditionsbildend in der deutschen Literaturgeschichte einnimmt.1 Auch sein komplexes Sinnpotential hat immer wieder Interpretationsanstrengungen provoziert. So zeichnete sich in den vergangenen Jahren neben den auf die Bildungsproblematik fokussierten Untersuchungen eine Forschungstendenz ab, mit unterschiedlichen methodischen Ansätzen neue Deutungszugänge zum Roman zu eröffnen. Soziokulturelle, ideengeschichtliche, mythologische, intertextuelle, psychoanalytische, ikonographische, aber auch diskursanalytische Studien haben - verschränkt mit thematischen Akzentverschiebungen - beachtliche Ergebnisse vorgelegt. Gleichwohl stellt der so häufig interpretierte Roman immer noch eine Herausforderung für Goethe-Philologen dar. Die prinzipielle Unabschließbarkeit der Deutungen, welche die >Lehrjahre< zu einer Art Experimentierfeld ambitionierter Interpreten macht, ist vom Roman selbst intendiert. Zwar scheint er angesichts seiner eingängigen Handlung auf den ersten Blick im Horizont der Allgemeinverständlichkeit zu operieren - diesen Eindruck vermittelt schon ein kursorischer Vergleich der >Lehrjahre< mit
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Die Bezeichnung >Bildungsroman< wird erstmals von Karl Morgenstern um 1820 den »Lehrjahren« zugewiesen. Z u einem literarhistorischen Gattungsbegriff etabliert sie Wilhelm Dilthey, der die grundlegende Handlungsstruktur des Bildungsromans in der Darstellung eines jungen Mannes sieht, »wie er in glücklicher Dämmerung in das Leben eintritt, nach verwandten Seelen sucht, der Freundschaft begegnet und der Liebe, wie er nun aber mit den harten Realitäten der Welt in Kampf gerät und so unter mannigfachen Lebenserfahrungen heranreift, sich selber findet und seiner Aufgabe in der Welt gewiß wird.« W . Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung. Lessing, Goethe, Novalis, Hölderlin. Vier Aufsätze. Leipzig 1906, S. 327. Zur Begriffsgeschichte des >Bildungsromans< siehe Fritz Martini: Der Bildungsroman. Z u r Geschichte des Wortes und der Theorie. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fiir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 35 (1961), S. 44—63; Jürgen Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder. Untersuchungen zum deutschen Bildungsroman. München 1972, S. 9—23; Rolf Selbmann (Hrsg.): Z u r Geschichte des deutschen Bildungsromans. Darmstadt 1988. I
anderen Werken des Weimarer Dichters wie den >Wahlverwandtschaften, dem >Faust II< und vor allem >Wilhelm Meisters WanderjahrenLehrjahre< und der >Meisterschaftuneigentlichen Sprachen um sein Dichtungsverfahren zu profilieren, ohne den freundlichen Ratgeber in Verlegenheit zu bringen: 2 3
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Eckermann: Gespräche mit Goethe (FA 39, S. 165). Goethes bekannte Bestimmung der allegorischen und der symbolischen Poesie in den M a x i men und Reflexionen* lautet: »Es ist ein großer Unterschied, ob der Dichter zum Allgemeinen das Besondere sucht, oder im Besonderen das Allgemeine schaut. Aus jener Art entsteht Allegorie, wo das Besondere nur als Beyspiel, als Exempel des Allgemeinen gilt; die letztere aber ist eigentlich die Natur der Poesie; sie spricht ein Besonderes aus, ohne ans Allgemeine zu denken, oder darauf hinzuweisen. Wer nun dieses Besondere lebendig faßt, erhält zugleich das Allgemeine mit, ohne es gewahr zu werden, oder erst spät.« (FA 13, S. 368) Schiller: Briefe 1795-1805 (SFA 12, S. 195).
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Der Fehler, den Sie mit Recht bemerken, kommt aus meiner innersten Natur, aus einem gewissen realistischen Tic, durch den ich meine Existenz, meine Handlungen, meine Schriften den Menschen aus den Augen zu rücken behaglich finde. So werde ich immer gerne incognito reisen, das geringere Kleid vor dem bessern wählen, und, in der Unterredung mit Fremden oder Halbbekannten, den unbedeutend e m Gegenstand, oder doch den weniger bedeutenden Ausdruck vorziehen, mich leichtsinniger betragen als ich bin und mich so, ich möchte sagen, zwischen mich selbst und zwischen meine eigne Erscheinung stellen. 5
Mit dem Verweis auf seinen »realistischen Tic« erklärt Goethe, daß der von Schiller beanstandete Mangel nicht etwa auf ein Versehen, sondern auf seine überlegte Absicht und letztlich auf seine poetologische Grundkonzeption zurückzuführen ist. Was der sog. »realistische Tic« impliziert, kann in zweierlei Hinsicht erörtert werden: Zum einen setzt Goethe das realistische Darstellungsverfahren, wie er es versteht, einem eher >idealistisch< geprägten entgegen, das dem alternativen Konzept von Schiller entsprochen hätte; er legt dabei nahe, daß sich die Wirklichkeit des Lebens, wie er sie an der fiktionalen Biographie eines Wilhelm Meister exemplarisch reflektiert, nicht ohne weiteres unter philosophischen Begriffen fassen läßt. Denn die Wirklichkeit, und sei sie auch nur eine literarisch generierte oder reflektierte, sperrt sich aufgrund ihrer Komplexität gegen schlichte Subsumierung unter philosophische Begriffe und gegen eine Darstellung, in der »das Besondere nur als Beyspiel, als Exempel des Allgemeinen gilt« 6 — so Goethes Verdikt gegen die allegorische Dichtung. Die >Lehrjahre< dürfen in ihrer Konzeption also nicht als bloße Instantiierung philosophischer Begriffe verstanden werden. Indem Goethe der Wirklichkeit in ihrer heterogenen, zufälligen und widersprüchlichen Konstitution gerecht zu werden sucht, entspricht er weniger dem vorgegebenen Verständnisrahmen derjenigen, die Wirklichkeit als durch Ideen geprägt begreifen. Das durch Goethes »realistischen Tic« erzeugte Verständnisproblem verunsichert also Leser, die dem Rationalismus begrifflicher Wirklichkeitsfixierung folgen. Verstärkt wird diese Irritation zum anderen durch den Umstand, daß der Romanautor bewußt die Unbestimmtheit zwischen Offenkundigem und Verborgenem inszeniert. Wie in Goethes späterer Äußerung gegenüber Eckermann, so erhebt er schon in seiner früheren gegenüber Schiller die SeinSchein-Dichotomie zum grundlegenden Darstellungsprinzip der >LehrjahreLehrjahre< zu ihrem
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Goethe: Mit Schiller I. Briefe, Tagebücher, Gespräche 1794-1799 (FA 31, S. 208). Goethe: M a x i m e n und Reflexionen! (FA 13, S. 368).
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Leser, so bedeutet dies, daß Goethe den Interpreten mit Hilfe der in seinem R o m a n bewußt eingesetzten Täuschungsmanöver einen großen Deutungsspielraum eröffnet. Er schickt sie auf die Suche, hinter der Darstellung des augenscheinlich Unbedeutenden einen bedeutenden Sinn zu finden. Wie der Reisende angesichts der »Fremden oder Halbbekannten« hinter seiner äußeren Erscheinung seine wahre Person versteckt, so verbirgt Goethe in analoger Weise hinter dem oberflächlichen Anschein des Romans — mit Blick auf den impliziten Leser - dessen >eigentlichen< Gehalt. Die Irritation des Lesers, der sich in seinem Erkenntnisstreben auf das Begriffliche oder das Offenkundige ausrichtet, beides aber nicht durch Reflexion zu vermitteln weiß, ist daher nichts anderes als die notwendige Wirkung, die ein R o m a n hervorrufen muß, in dem die Dialektik von Sinnverhüllung und Sinnverheißung als Konstruktionsprinzip strukturell angelegt ist. A u f raffinierte Weise bringt Goethe seinem Kritiker bei, daß das scheinbar Fehlerhafte gerade seine eigene Wirkungsintention reflektiert. Die >Lehrjahre< sollen den Leser stutzig werden lassen und seine — mit Kant zu sprechen - reflektierende Urteilskraft stimulieren. Schiller hat offensichtlich Goethes ironischen Hinweis auf seinen »realistischen Tic« verstanden und reagiert voller Verständnis dafür, daß im Roman nicht begrifflich ausgesagt werden darf, was dieser an ideellem Gehalt enthält: Dem Inhalte nach, muß in dem Werk alles liegen, was zu seiner Erklärung nöthig ist, und, der Form nach, muß es nothwendig darinn liegen, der innere Zusammenhang muß es mit sich bringen — aber wie fest oder locker es zusammenhängen soll, darüber muß Ihre eigenste Natur entscheiden. Dem Leser würde es freilich bequemer seyn, wenn Sie selbst ihm die Momente worauf es ankommt blank und baar zuzählten, daß er sie nur in Empfang zu nehmen brauchte; sicherlich aber hält es ihn bey dem Buche fester, und führt ihn öfter zu demselben zurück, wenn er sich selber helfen muß. Haben Sie also nur dafür gesorgt, daß er gewiß findet, wenn er mit gutem Willen und hellen Augen sucht, so ersparen Sie ihm ja das Suchen nicht. Das Resultat eines solchen Ganzen muß immer die eigene, freye, nur nicht willkührliche Production des Lesers seyn, es muß eine Art von Belohnung bleiben, die nur dem würdigen zu Theil wird, indem sie dem unwürdigen sich entziehet.7 M i t dieser Äußerung nimmt Schiller seinen früheren Einwand hinsichtlich der vom Roman provozierten Verständnisprobleme zurück, zumal Goethe dem Kritiker ja auf subtile Weise zu verstehen zu gegeben hat, daß dieser gerade aufgrund seines Wunsches nach begrifflicher Eindeutigkeit an der Enthüllung der bewußt verhüllten >Botschaft< des Romans gescheitert ist. Jetzt deutet Schiller das Verständnisproblem ins Positive um und begreift es als eine Herausforderung fur den zu einem souveränen Verständnis zu motivierenden Leser. Schließlich rühmt er sogar das im Roman angewandte Verschlüsselungsverfah-
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Schiller: Briefe 1795-1805 (SFA 12, S. 196f.).
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ren: Das Erkenntnisvermögen des Rezipienten werde unterfordert, wenn ein Roman »die Momente worauf es ankommt blank und baar« erzählen würde. In dieser Studie zu den >Lehrjahren< spüre ich dem in Goethes und Schillers interpretationskritischer Kontroverse erörterten >Spielraum< zwischen Schein und Sein, zwischen Offenkundigem und Verborgenem nach. Mein Vorhaben, die vielfältigen Ambiguitäten des Romans mit Blick auf das von Goethe intendierte Verweisungsgeftige, das sich zwischen einer exoterischen und einer esoterischen Lesart entfaltet, herauszukristallisieren, ist allerdings nicht neu. Schon viele Interpreten haben den Versuch unternommen, hinter dem manifesten Oberflächengeschehen der >Lehrjahre< nach einem tieferen Sinn zu suchen. Mitunter scheint es dabei fast, als folgten sie der ironischen Maxime Goethes: »Im Auslegen seid frisch und munter! / Legt ihr's nicht aus, so legt was unter.«8 Im »Unterlegen« hat sich insbesondere Hannelore Schlaffer hervorgetan.9 Für sie zerfällt der Roman in zwei Ebenen, in eine offensichtliche, auf der sich das Geschehen abspielt und die Romangestalten interagieren, und in eine darunter liegende, auf der die Ikonologie eines mythologischen Hintergrunds palimpsestartig durchschimmere. Demnach werden die prosaischen Verhältnisse des Alltags, all die Begebenheiten und Handlungen, von einer Poesie mythischer Bilder grundiert: In seinen >Wilhelm Meisten-Romanen habe sich Goethe der »Technik der Diaphanie« 10 bedient, um Erfahrungen der bürgerlichen Moderne an Bilder wiederkehrender Mythen zurückzubinden. Aus Schlaffers Sicht entfaltet der Romantext eine doppelte Dimension, eine zeitgenössische und eine zeitlose, eine, welche die entzauberte Welt der Moderne reflektiert, und eine, die durch die eigentümliche Logik mythischer Strukturen bestimmt ist. Andere Forscher sind bei ihrer Ergründung verborgener Sinndimensionen etwas zurückhaltender vorgegangen, indem sie einzelne Motive des Romans auf ihren textinternen Verweisungscharakter und ihre psychische Motivationsstruktur hin untersucht haben. Neben Tassos »Befreitem Jerusalem«, dessen Liebeshandlung vor allem die Frauenbeziehungen des Protagonisten beeinflußt," wurde insbesondere das leitmotivisch den gesamten Roman durchziehende Bild vom kranken Königssohn vielfältiger Betrachtung unterworfen. Um dem Geheimnis dieses in den Roman eingefugten Bildmotivs auf die Spur zu kommen, haben Interpreten auch interdisziplinär gearbeitet. Sie akzentuierten beispielsweise den kunsthistorischen Sachverhalt, daß die Geschichte vom kranken Königssohn ein populäres Sujet der europäischen Malerei des 17. und 18. Jahrhunderts gewesen sei, und führten über Jahrzehnte
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Goethe: >Zahme Xenien II Wilhelm Meisten. Das Ende der Kunst und die Wiederkehr des Mythos. Stuttgart 1980. Ebd., S. 5. Siehe hierzu Hans-Jürgen Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 141-206.
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eine Debatte um die Frage, welches der verschiedenen realen Gemälde Goethe als bildliche Vorlage für seinen Roman verwendet haben mag. 12 Wenn ich trotz der Fülle differenzierter und kenntnisreicher Auslegungen, welche die von Goethe bewußt angewandten Verschlüsselungsverfahren bislang provoziert haben, die >Lehrjahre< erneut einer umfassenden Analyse unterziehe, so wird dieses Vorhaben auch durch die anregende Kraft der vorangehenden Untersuchungen motiviert. Vor allem die in den letzten Jahren geführte Diskussion über die in Goethes Roman entfaltete Bildungsproblematik, welche die traditionelle harmonisierende Deutungstendenz einer entscheidenden Revision unterzogen hat, vermochte meiner Arbeit wichtige Impulse zu geben.13 Die Suche nach Antworten auf die Fragen, die sich aus meiner kritischen Auseinandersetzung mit der Forschungsliteratur ergaben, und der Versuch, die methodischen Schwierigkeiten, argumentativen Lücken und assoziativen Ausschweifungen bestimmter Einzelstudien zu beheben, haben zu einer eigenen Interpretationsperspektive gefuhrt, deren elementare Aspekte und methodischen Ansatz ich im folgenden kurz vorstelle. Zunächst ist festzustellen, daß die Forschungsgeschichte aus guten Gründen den Protagonisten der >Lehrjahre< sukzessive und systematisch >entsubjektiviert< hat. Je intensiver sich die Interpreten mit der Romanhandlung beschäftigten, desto offensichtlicher wurde, wie unbeholfen und unselbständig Wilhelm am
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Vgl. Heinrich Düntzer: »Wilhelm Meisters Lehrjahre< von Goethe. Leipzig 2 I875, S. 129; Georg Gronau: Das Bild vom kranken Königssohn in »Wilhelm Meisten. In: Zeitschrift für bildende Kunst 50 (1915), S. 157-162; Christoph E. Schweitzer: Wilhelm Meister und das Bild vom kranken Königssohn. In: Publications of the Modern Language Association of America 72 (1957), S. 419—432; Helmut Ammerlahn: Goethe und Wilhelm Meister, Shakespeare und Natalie. Die klassische Heilung des kranken Königssohns. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1978, S. 47—84; Erika Nolan: Wilhelm Meisters Lieblingsbild: Der kranke Königssohn. Quelle und Funktion. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1979, S. 132—152.
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Aufgebrochen wird die harmonistische Interpretation erstmals von Karl Schlechta, der in den >Lehrjahren< ein Gegenmodell des Bildungsromans entdeckt und Wilhelms Werdegang als Geschichte des fortwährenden Abstiegs bestimmt. K. Schlechta: Goethes »Wilhelm Meister«. Frankfurt a . M . 1953. Weniger spektakulär, aber differenzierter vertieft Kurt M a y 1957 den kritischen Aspekt und vertritt die Ansicht, der R o m a n selbst formuliere die Kritik an der harmonisch-ganzheitlichen Bildungsidee. K . May: »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Ein Bildungsroman? In: Deutsche Vierteljahrsschrift fiir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 31 (1957), S. 1—37. A u f die utopische Konstruktion und die ironische Destruktion des teleologischen Bildungskonzepts in den »Lehrjahren« geht Klaus-Dieter Sorg in seiner 1983 erschienenen Bildungsroman-Studie ein. K . - D . Sorg: Gebrochene Teleologie. Studien zum Bildungsroman von Goethe bis Thomas Mann. Heidelberg 1983. Nach Günter Säße stellt die harmonisch-allseitige Bildung nicht das normative Darstellungsziel des gesamten Romans dar, sondern gilt lediglich als Postulat des Protagonisten, das romanintern diskutiert und zugleich einer kritischen Reflexion unterzogen wird. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Präskriptiv-Partikulären und dem Deskriptiv-Diskursiven erhellt Günter Säße durch eine klare kategoriale Unterscheidung zwischen der Figuren- und der Reflexionsebene des Romans. G . Säße: V o m »»heimlichen Geist des Widerspruchs«. Der Bildungsroman im 18. Jahrhundert. Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« im Spannungsfeld von Subjektivität und Intersubjektivität. In: Das 18. Jahrhundert. Hrsg. von M o n i k a Fludernik und Ruth Nestvold. Trier 1998, S. 69—90.
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Romangeschehen teilnimmt. Der Protagonist tritt keineswegs als tatkräftiger und wirkungsmächtiger Akteur in Erscheinung, vielmehr scheint er die Vorgänge aus einer Zuschauerperspektive heraus zu verfolgen, wenn er den Ereignissen nicht gerade als passives Objekt, um nicht zu sagen als hilfloses Opfer, unterworfen ist. Schließlich konzipiert der Protagonist bloß anfänglich und im jugendlichen Überschwang seinen prätentiösen Lebensentwurf. Kurz vor der Verwirklichung seiner Hoffnungen gibt er diesen Entwurf in unbedachter Weise wieder auf und begibt sich unter die Fittiche der Turmgesellschaft, um schließlich aus seiner tiefen Frustration befreit und mit dem unverdienten Glück der Verbindung mit Natalie beschenkt zu werden. Provoziert von diesem >GlückspilzKind mit dem Bade ausschütteten man verabschiedete die Zuordnung der >Lehrjahre< zur Gattung des »Bildungsromans« und bezeichnet den Text nun lieber als »Sozialisationsroman« (Hans Rudolf Vaget), »Individuairoman« (Hartmut Steinecke) 14 oder - radikaler noch - als »Zerstörungsroman« (Heinz Schlaffer). 15 Dabei haben schon die zeitgenössischen Interpreten der >Lehrjahre< an der >Heldenhaftigkeit< von Wilhelm Meister gezweifelt. Zunächst erhebt zwar Körner — gemäß der Romantheorie von Blanckenburg - den sich zu einem Mitglied der Turmgesellschaft entwickelnden Wilhelm zum Mittelpunkt des Romangeschehens, indem er im sich vermeintlich organologisch entfaltenden Bildungssubjekt so etwas wie den personalen Garanten fur die Einheit der Handlung zu erblicken glaubt: »Die Einheit des Ganzen denke ich mir als die Darstellung einer schönen menschlichen Natur, die sich durch die Zusammenwirkung ihrer inneren Anlagen und äußern Verhältnisse allmählich ausbildet. Das Ziel dieser Ausbildung ist ein vollendetes Gleichgewicht, Harmonie mit
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Vgl. hierzu die Diskussion im Anschluß an den Beitrag von Hartmut Steinecke: > Wilhelm Meisten und die Folgen. Goethes Roman und die Entwicklung der Gattung im 19. Jahrhundert. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Tübingen 1984, S. 89—119. Heinz Schlaffer: Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen. In: Goethe-Jahrbuch 95 (1978), S. 212—226, hier S. 222.
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Freiheit«. 16 Doch schon Humboldt opponiert in seinem Brief an Goethe vom 24. November 1796 nachdrücklich gegen diese optimistische Figurendeutung Körners und hebt negative Charaktermerkmale Wilhelms hervor: Er [d.i. Körner] scheint in ihm [d.i. Meisters Charakter] einen Gehalt zu finden, mit dem die Ökonomie des Ganzen, wie ich glaube, nicht würde bestehen können, und dagegen hat er, wie mich dünkt, seine durchgängige Bestimmbarkeit, ohne fast alle wirkliche Bestimmung, sein beständiges Streben nach allen Seiten hin, ohne entschiedene natürliche Kraft nach einer, seine unaufhörliche Neigung zum Räsonnieren und seine Lauigkeit, wenn ich nicht Kälte sagen soll, der Empfindung, ohne die sein Betragen nach Marianens und Mignons Tode nicht begreiflich sein würden, nicht genug getroffen. Und doch sind wohl diese Züge für den ganzen Roman von der größten Wichtigkeit. Denn sie sind es, die ihn zu einem Punkte machen, um den sich eine Menge von Gestalten versammeln müssen, die ihn zu einem Menschen werden lassen, der ewig Knoten schürzt, ohne fast je einen durch eigne Kraft zu lösen.17 Wenn Humboldt trotz seines pejorativen Urteils dem Titelhelden doch eine Bedeutung zuspricht, so nur die eines >leeren Mittelpunkts< des Romans: Wilhelm erscheint nicht als eigenständiger Akteur, sondern als fast schon depersonalisierter >Versammlungsort< der übrigen Romangestalten. Humboldt meint, gerade in dem reduzierten Wert des ohne Selbstbestimmung agierenden, nach keinem festen Ziel strebenden und gefühlsarmen Romanhelden liege die Originalität der >LehrjahreMeister< zu einem einzigen Werk unter allen seinen Mitbrüdern macht, daß er die Welt und das Leben, ganz wie es ist, völlig unabhängig von einer einzelnen Individualität und eben dadurch offen für jede Individualität schildert.'8 In Ubereinstimmung mit Humboldt depotenziert auch Schiller, der ansonsten — wie Körner — etwaige Brüche und Widersprüche im Bildungsweg des Helden in harmonisierender Manier auszublenden pflegt, den Stellenwert Wilhelms auf gravierende Weise. In seinem Brief an Goethe vom 28. November 1796 deutet er das scheinbar personale Bedeutungszentrum zu einem beinahe formalen Darstellungsmittelpunkt um: Wilhelm Meister ist zwar die nothwendigste aber nicht die wichtigste Person; eben das gehört zu den Eigenthümlichkeiten Ihres Romans, daß er keine solche wichtigste Person hat und braucht. An ihm und um ihn geschieht alles, aber nicht eigentlich seinetwegen.'9
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Christian Gottfried Körner: Über »Wilhelm Meisters Lehrjahre< (aus einem Brief an den Herausgeber der Hören) (1796). Abgedruckt in: MA 7, S. 650. Wilhelm von Humboldt an Goethe. Abgedruckt in: MA 7, S. 655. Ebd. Schiller: Briefe 1795-1805 (SFA 12, S. 244).
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Aus Schillers Perspektive kreuzen sich bei Wilhelm zwar alle Ereignisse und Begebenheiten des Romans, doch seien sie nicht inhaltlich, sondern strukturell an diese Person gebunden. Die eigentümliche literarische Stärke der >Lehrjahre< gründe demnach in der Vorrangigkeit der Begebenheiten vor dem Romanhelden und der damit einhergehenden inhaltlichen Dezentrierung des Romanpersonals. Der Protagonist der >Lehrjahre< wird nicht erst von heutigen Interpreten, sondern - wie skizziert — bereits von zeitgenössischen häufig an den Rand der Romanhandlung gerückt und dabei entweder als willenloser Zögling der Turmgesellschaft begriffen und auf diese Weise gleichsam entmündigt oder aber als handlungsunfähiger Spielball von Zufällen verstanden und insofern entsubstantialisiert. Wenn die Forschung Wilhelm dennoch ins Zentrum ihrer Aufmerksamkeit gestellt hat, so geschah dies in der Regel, um aufzuzeigen, wie machtlos und weitgehend unwissentlich er den Gegebenheiten und Bedingungen der heterogenen Wirklichkeit unterworfen ist. Uberwiegend aber richtete sich die neuere Forschung auf einzelne Handlungen, Episoden oder auch auf andere Romangestalten - gemäß Schillers Diktum: »An ihm und um ihn geschieht alles, aber nicht eigentlich seinetwegen.« (Hervorhebung von mir) 20 In meiner Untersuchung werde ich einen dieser Forschungstendenz entgegengesetzten Weg einschlagen. Ich werde die häufig peripherisierte Hauptgestalt der >Lehrjahre< wieder ins Zentrum der Deutung stellen und als Romanhelden gewissermaßen >rehabilitieren< — allerdings mit einer Fragestellung, die dem auf ihn hin zentrierten Verweisungsgeflecht unterhalb der Ebene des Offensichtlichen nachspürt. Hierbei schließe ich an Körners Perspektive an, der in der Person Wilhelms den Garanten für die Einheit der Handlung findet. Zwar teile ich nicht Körners Bildungsoptimismus, den er auf ungebrochene Weise auf Wilhelms Lebensgeschichte projiziert. Hinsichtlich der interpretatorischen Grundhaltung aber, den Protagonisten als die Instanz zu verstehen, auf die der Hauptstrang der Romanhandlung fokussiert ist, folge ich dem von Körner inaugurierten und von Dilthey dann kanonisierten Deutungsansatz. Mich interessieren weniger die Begebenheiten, die »an« und »um« Wilhelm geschehen, als vielmehr diejenigen, die sich in ihm ereignen. Anstatt Goethes Roman von den äußeren Begebenheiten her zu lesen, mit denen Wilhelm konfrontiert wird, richtet sich mein Augenmerk dezidiert auf die Bühne in Wilhelms Innern, auf der sich das Drama von Vater und Sohn in den Verdrängungen, Verschiebungen, Verdichtungen und Transformationen psychischer Imagines abspielt.
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Ebd.; so folgt Mathias Mayer der Ansicht von Schiller bei der Bestimmung der Rolle des Protagonisten: »Die »Lehrjahre« sind [...] ein eher symbolischer denn psychologischer Roman, insofern als Wilhelm weniger psychologisch relevanter Handlungsmittelpunkt ist, sondern zunehmend im Roman zu einer funktionalen Größe wird.« M . Mayer: Selbstbewußte Illusion. Selbstreflexion und Legitimation der Dichtung im »Wilhelm Meisten. Heidelberg 1989, S. 60.
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Mein Deutungsverfahren, den Schwerpunkt der Romanhandlung ins Innere des Protagonisten zu verlagern, hat einige Modifikationen der bislang herrschenden Interpretationsansätze zur Folge. In erster Linie ist hierbei das prominente Deutungsmodell betroffen, das mit dem vorgeblichen Widerstreit von Ich und Welt operiert. Die Trennung zwischen einem Bildungssubjekt auf der einen Seite und der dessen Bildungsanspruch widerstrebenden Umwelt auf der anderen Seite wurde postuliert, um eben diesen Antagonismus als entscheidende Antriebskraft der Bildungsgeschichte herauszustellen. Bei der Applikation dieser Antinomie ist man allerdings methodisch nicht sauber genug vorgegangen. Denn die Rekonstruktion jener Welt, mit der sich der Protagonist in seinem Entwicklungsgang auseinanderzusetzen hat, basierte auf einer Auffassung von Wirklichkeit, die sich der Interpret eigenständig aus den Begebenheiten der Romanhandlung erschließt, nicht aber auf derjenigen Wirklichkeit, die der Protagonist als solche wahrnimmt. Der Konflikt zwischen Ich und Wirklichkeit wurde insofern als Konflikt zwischen zwei unabhängigen Entitäten beschrieben, als die eine die Instanz des Sollens und die andere die des Wollens repräsentiert — mit dem Ergebnis, daß der Konflikt entweder in der Versöhnung von Ich und Welt (Dilthey) 21 oder in der Unterwerfung des Ich unter die Welt (Hegel) 22 aufgelöst wird. Doch wenn man den Protagonisten 11
Das entscheidende Merkmal der Bildungsromane ist für Dilthey, daß der Held alle Krisen und Widrigkeiten des Lebens überwindet und am Ende eine Persönlichkeit entwickelt, die sich mit den Gegebenheiten der Welt harmonisch verbindet. Hierbei definiert Dilthey den Bildungsroman vor dem Horizont eines organologischen Bildungsgedankens, der dem deutschen Idealismus entnommen ist: »Eine gesetzmäßige Entwicklung wird im Leben des Individuums angeschaut, jede ihrer Stufen hat einen Eigenwert und ist zugleich Grundlage einer höheren Stufe. Die Dissonanzen und Konflikte des Lebens erscheinen als die notwendigen Durchgangspunkte des Individuums auf seiner Bahn zur Reife und zur Harmonie. Und >höchstes Glück der Erdenkinder< ist die >Persönlichkeit< als einheitliche und feste Form des menschlichen Daseins. Nie ist dieser Optimismus der persönlichen Entwicklung [...] heiterer und lebenssicherer ausgesprochen worden in Goethes Wilhelm Meister: ein unvergänglicher Glanz von Lebensfreude liegt auf diesem Romane und denen der Romantiker.« W . Dilthey: Das Erlebnis und die Dichtung, S. 329.
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Für Hegel steht der Held des Romans unter dem Vorzeichen der Entfremdung in der modernen Gesellschaft. Er wird aus einem ursprünglichen poetischen Weltzustand herausgetrieben, aus welchem das Epos hervorging. Zwischen dem Individuum und seinen Wünschen einerseits und der gesellschaftlichen Wirklichkeit und ihren Zwängen andererseits öffnet sich eine unüberbrückbare Kluft: »Eine der gewöhnlichsten und für den Roman passendsten Kollisionen ist deshalb der Konflikt zwischen der Poesie des Herzens und der entgegenstehenden Prosa der Verhältnisse sowie dem Zufalle äußerer Umstände.« (Hegel: Werke. Frankfurt a.M. 1970. Bd. 15: Vorlesungen über die Ästhetik II, S. 393) In der Auseinandersetzung des schwärmerischen Helden mit der widerspenstigen Umwelt sieht Hegel das Handlungsmovens des Bildungsromans und in der Einordnung des desillusionierten Helden in die gegebenen Verhältnisse das Handlungsziel: »Diese Kämpfe nun aber sind in der modernen Welt nichts Weiteres als die Lehrjahre, die Erziehung des Individuums an der vorhandenen Wirklichkeit, und erhalten dadurch ihren wahren Sinn. Denn das Ende solcher Lehrjahre besteht darin, daß sich das Subjekt die Horner abläuft, mit seinem Wünschen und Meinen sich in die bestehenden Verhältnisse und die Vernünftigkeit derselben hineinbildet, in die Verkettung der Welt eintritt, und in ihr sich einen angemessenen Standpunkt erwirbt.« (Hegel: Werke. Frankfurt a Μ . 1970. Bd. 14: Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 220)
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wieder ins Zentrum der Betrachtung rückt, ihn hierbei aber nicht zur opaken Figur reduziert, die sich mit den Widrigkeiten der Außenwelt auseinanderzusetzen hat, sondern als Schauplatz eines inneren psychischen Geschehens versteht, dann erscheint die Außenwelt als Faktor der Innenwelt und diese wiederum als Medium einer vielfach vermittelten Außenwelt. Um diesem komplexen Wechselspiel in all seinen Facetten gerecht zu werden, gehe ich wie folgt vor: Erstens rekonstruiere ich die antagonistisch formierte Konfliktstruktur konsequent aus der Figurenperspektive des Protagonisten und erhebe zugleich die Konstitution dieser Figurenperspektive zum Gegenstand der Deutung. Denn Wilhelm ist keineswegs der ungewollte Gegner gesellschaftlicher Forderung, so als wäre die Dichotomie von Ich und Welt axiomatisch gesetzt. Vielmehr ist das Gegenteil der Fall: Wilhelm ist — wie genauer zu zeigen sein wird - gerade dasjenige Subjekt, das den genannten Konflikt allererst generiert. Die Wirklichkeit der ökonomisch geprägten Welt, gegen die Wilhelm sich unermüdlich abzugrenzen sucht, ist vorgängig zwar vorhanden; sie gewinnt ihre spezifischen Konturen jedoch erst durch ihn und läßt sich mithin als das von ihm geformte Produkt betrachten. Daher ist es vonnöten, Wilhelms subjektive Wirklichkeitsperspektive oder — etwas forcierter formuliert — seine eigene >Weise der Welterzeugung< systematisch zu beleuchten. Zweitens werde ich, um die Entstehung, die Eskalation und schließlich die Aufhebung des antagonistischen Konfliktbewußtseins als einen weitgehend in sich geschlossenen Prozeß zu erhellen, vornehmlich den personell beschränkten Wissens-, Erlebnis- und Empfindungshorizont Wilhelms betrachten - dies mit dem Ziel, der durch die axiomatische Setzung der Ich-Welt-Dichotomie entpsychologisierten Konfliktanalyse ihre psychologische Dimension wiederzugeben. Hierbei nehme ich die Bemerkung Goethes gegenüber Kanzler Friedrich von Müller über sein Figurenkonzept in einem speziellen Sinne ernst: »Wilhelm sei freilich ein >armer Hundmittleren Helden< konzipiert, der als Dilettant das werden will, wozu er nicht veranlagt ist, und wegen dieser verfehlten Zielsetzung wankelmütig durch das lange Handlungsfeld der >Lehrjahre< wandert, um am Ende als Vater mit guten Vorsätzen und als Bräutigam mit schönen Aussichten dazustehen — die >Wanderjahre< dementieren dann beides. Der Lebens- und Gesinnungswandel, den der anfängliche Theaterenthusiast über mannigfaltige Täuschungen und Enttäuschungen hinweg bis hin zu seinem Eintritt in die Turmgesellschaft vollzieht, bringt fortwährend seine
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FA 36, S. 144. II
zahlreichen Schwächen wie Überspanntheit, Egozentrik, Verantwortungslosigkeit, Unentschlossenheit, Neigung zu erotischen Eskapaden ans Licht. Sie sind allerdings mit keinen schwerwiegenden Folgen verbunden, wenn man von Mariane, deren Tod er mitzuverantworten hat, einmal absieht. Diese Makel, die allesamt auf den nicht »schon abgeschlossenen, festen Charakter« verweisen, dienen Goethe als Medien, um Wilhelm eine innere Biographie so einzuschreiben, daß das Charakterologische zum Fundament des Psychologischen wird. Der psychisch instabile Held ist - mit Blick auf das Handlungskonzept ins Positive gewendet — >fähigLehrjahre< geradezu aus dem inkonstanten Charakter ihres Protagonisten. Vor diesem Hintergrund widmet sich meine Untersuchung der Aufgabe, den zitierten »Wechsel des Lebens«, wie ihn Goethe an dem »armen Hund« Wilhelm exemplarisch dokumentiert, auf seine Psycho-Logik hin transparent zu machen. Drittens unterziehe ich das bislang lediglich als oppositionell begriffene Verhältnis von Ich und Welt einer wechselseitigen Relativierung, so daß in der Folge beide Instanzen in ein komplementäres Verhältnis integriert werden. Die schlichte Gegenüberstellung von Ich und Welt, die von nicht wenigen Interpreten als Deutungskategorie der >Lehrjahre< bemüht wird, muß nämlich modifiziert und vorrangig als ein vom Autor Goethe konstruiertes Erlebnisund Empfindungsmuster der textinternen Gestalt Wilhelm begriffen werden. Der von Wilhelm hergestellte Antagonismus ist es ja, der sein Selbstverhältnis als Verfechter einer ästhetischen Existenz unmittelbar formt und somit einen wesentlichen Teil seines Selbst ausmacht. Weil er sich in erster Linie über seinen Konflikt mit der von ihm als widerspenstig herausgestellten Realität definiert, verlöre sein Selbstverständnis ohne das, wogegen er sich abgrenzen kann, seinen signifikanten Halt. Insofern kann der prima facie prekär und identitätsgefährdend wirkende Konflikt des Protagonisten mit der als unbeugsam erachteten Wirklichkeit geradezu als identitätsstiftend gelten. Wilhelm geht es damit so wie dem lyrischen Ich in Goethes Gedicht >Willkommen und Abschied< (1775), das ebenfalls die Wirklichkeit als widerständig imaginiert, als feindliches Gegenüber, das es zu überwinden gilt, um das Glück der Liebe zu erlangen. Was dem lyrischen Ich als Außenwelt erscheint, ist aber nur Produkt seiner Innenwelt. Nicht die »Nacht schuf tausend Ungeheuer«, sondern das inbrünstige Liebesverlangen des Ich, das sich als Uberwinder seiner nach außen projizierten inneren Hemmungen erfährt und zu einem Helden avanciert, dessen »Mut« »tausendfacher« wird.24
** FA 1, S. 128.
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Das Problem einer Identität, die sich in der Konfrontation mit von außen stimulierten, aber im Innern generierten Wirklichkeitsimagines konturiert, macht das zentrale Thema meiner Untersuchung aus. Behandeln werde ich diese Identitätsthematik einer modernen Psyche, die sich in der Welt und die Welt in sich spiegelt, allerdings nicht durch die Präsentation abstrakter philosophischer oder literaturtheoretischer Reflexionen, sondern vorrangig durch eine auf Wilhelm und seinen Vater fokussierte Analyse der Figurenkonstellation sowie durch eine detaillierte Darlegung der im Roman vielfältig eingesetzten Symbolik, die Psychisches als Bildliches reflektiert. Der Grund fiir ein solches interpretatorisches Vorgehen liegt darin, daß in den >Lehrjahren< die gesellschaftlichen Verhältnisse und Normen, mit denen sich der Protagonist auf eine zugleich identitätsstiftende wie identitätsgefährdende Weise auseinanderzusetzen hat, personal konturiert und mittels signifikanter Symbolverwendungen sinnfällig gemacht werden. Goethe verleiht der von Wilhelm subjektiv erzeugten antagonistischen Sphäre hierdurch die anschauliche Repräsentanz einer Vater-Sohn-Problematik, die als Signatur einer Moderne erscheint, in der die Welt des Herkommens ihre verbindliche Geltungskraft verloren hat und den Jüngling nötigt, sich selbst neu zu >erfindenHamletLehrjahre< das Konfliktfeld von Vater und Sohn bis in ihr letztes Buch. Der schon in der Mitte des Romans verstorbene Vater von Wilhelm lebt sowohl in der Bildgestalt von Antiochus als auch im Geist von Hamlets Vater weiter; auf diese Weise wird die innere Konfrontation bis zu ihrer endgültigen Auflösung symbolisch reflektiert. Hierbei erfährt der Antagonismus eine doppelte Transformation: Zum einen erscheint er als familiales Beziehungsproblem, wobei er seine Spannung und Dynamik vor allem daraus bezieht, daß die vom Vater inkarnierte ökonomische und die vom Sohn repräsentierte ästhetische Lebensanschauung keinesfalls auf zwei paritätische Existenzformen verweisen, ist doch das Ökonomische, das der Roman von Wilhelm abspaltet, die Voraussetzung fiir das Ästhetische, das er wählt, um sich gegen seinen Vater abzugrenzen. Zum anderen wird der im Beziehungskonflikt konkretisierte Antagonismus von Wollen und Sollen symbolisch überwölbt und zugleich ins Zeichensystem der Malerei und der Literatur übersetzt. 13
Das fur die Identitätsproblematik konstitutive Verhältnis des Protagonisten zur Gesellschaft, das in der Vater-Sohn-Problematik ihren familialen Ausdruck findet, untersuche ich mit Hilfe eines Interpretaments, das in der Goethe-Forschung zwar insgesamt häufig, mit Blick auf die >Lehrjahre< allerdings nur sporadisch und eher beiläufig verwendet wurde: der Symbolordnung. Die essentielle Bedeutung der Symbolik für Goethes dichterisches Schaffen wurde zwar immer wieder herausgestellt, aber erst seit den 50er Jahren durch umfängliche Textauslegungen erwiesen. Ein besonderes Verdienst gebührt in diesem Zusammenhang Wilhelm Emrich, der mit seiner kenntnisreichen Studie von 1957 über >Faust II< der symbolorientierten Textanalyse die Bahn geebnet hat. Emrich betonte nachdrücklich, daß »es bei Goethe ein ausgesprochenes Symbol- und Bildnetz gibt, das sich von seiner frühesten Zeit bis ins höchste Alter in streng gesetzlichen Wandlungen zieht, nach überraschend konsequenten Prinzipien in sich zusammenhängt und ganz bestimmte, untrügerische Kriterien fiir die Deutung einzelner Bilder und Gestalten Goethes enthält«.25 In dem so kohärent wie folgerichtig koordinierten Symbolgeflecht, das Goethe in seine Werke hineinwebt, erkennt Emrich den maßgeblichen Deutungshorizont, vor dem die fiktionalen Welten Goethes zu dechiffrieren sind. Das Entfaltungsfeld der Symbolik aber siedelt Emrich ausschließlich in dem Verhältnis zwischen dem verschlüsselnden Autor Goethe und seinem entschlüsselnden Leser an: Goethes Bilder und Gestalten, die als Zeichen für etwas anderes dienen und über ihre konkrete Bedeutung hinausweisen, würden den Leser auffordern, den jenseits ihres >uneigentlichen< Ausdrucks liegenden eigentlichem Sinngehalt zu erfassen.26 Was Emrich vorwiegend an >Faust II< und den >Wanderjahren< exemplifiziert, konstatiert Schings an den >LehrjahrenFaust IIdie Wünsche noch geholfen habenPatent< für die alleinige Nutzung der identitätsträchtigen Symbolik einbüßt und diese ihm nun im Namen seines leiblichen Vaters und seiner sozialen Väter (Turmgesellschaft) widerspricht. Das Medium, das zuvor nur seine eigenen Wünsche bestätigt hat, wandelt sich zum Sprachrohr von Autoritätsinstanzen, die an ein ökonomisch orientiertes Tätigkeitsideal appellieren. Die eklatante Inversion der Botschaft, die der Schleier dem Symbolgläubigen überbringt, wird zum Anstoß, daß in Wilhelm Eigenes und Fremdes, Selbstgestaltung und Fremdbestimmung, Emanzipationsdrang und Pflichtbewußtsein, Wünsche und Autoritäten miteinander kollidieren. In dieser Hinsicht fungiert die Schleiersymbolik für den Protagonisten gleichermaßen als Quelle der Identitätsgenese wie der Identitätskrise; zugleich dient sie dem Leser als Folie, auf der die intrapsychischen Konflikte des Protagonisten externalisiert werden.
FA 19, S. i77f. " Goethe: >Die Leiden des jungen Werthersi, FA 8, S. 22 und 24.
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I. Aus der Welt der Herkunft
i. Die Familiendynamik F ü r W i l h e l m s Interesse a m T h e a t e r ist d i e K o n s t e l l a t i o n seiner F a m i l i e v o n entscheidender B e d e u t u n g . 1 Ihre k o m m u n i k a t i v e n w i e emotionellen Strukturen e r w e i s e n sich z u n ä c h s t als t y p i s c h f u r d i e b ü r g e r l i c h e K e r n f a m i l i e des a u s gehenden 18. Jahrhunderts. N a c h d e m M u s t e r der zeittypischen geschlechtsspezifischen Rollen- u n d A u f g a b e n v e r t e i l u n g zeichnet G o e t h e auch W i l h e l m s E l t e r n h a u s . W ä h r e n d d e r V a t e r die F a m i l i e einerseits n a c h a u ß e n in d i e G e s e l l s c h a f t h i n a u s repräsentiert u n d andererseits d e r e n A n s p r ü c h e u n d
Normen
n a c h i n n e n in d e n f a m i l i ä r e n B i n n e n r a u m h i n e i n v e r m i t t e l t , b i l d e t d i e M u t t e r d a s e m o t i o n e l l e Z e n t r u m d e r F a m i l i e . 2 D e r V a t e r , d e r in d e r I n t i m s p h ä r e d e r H a u s g e m e i n s c h a f t n u r selten p r ä s e n t ist, k ü m m e r t sich u m d i e ö k o n o m i s c h e S i c h e r h e i t d e r F a m i l i e u n d v e r k ö r p e r t f ü r d i e K i n d e r d i e sozialen W e r t e u n d N o r m e n , w ä h r e n d die M u t t e r f ü r das gefuhlsbezogene W o h l e r g e h e n der K i n der sorgt u n d ein emotionelles Verhältnis zu ihnen entwickelt. D i e b e i d e n v o n ihren A u f g a b e n f e l d e r n her definierten Elternteile erlebt W i l h e l m als K i n d in f o r c i e r t e r W e i s e als u n ü b e r b r ü c k b a r e G e g e n s ä t z e , n i c h t a b e r
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Hildegard Emmel geht davon aus, daß die Umarbeitungen der »Lehrjahre« im Hinblick auf die Familie unter anderem darauf zurückzufahren seien, daß Goethe die allzu markanten Parallelen zum >Anton Reiser«, den er zur Zeit der Abfassung der theatralischen Sendung« noch nicht kannte, vermeiden wollte. Dies erkläre, warum die Zwietracht zwischen Wilhelms Eltern, von der die »Theatralische Sendung« geprägt ist, in den »Lehrjahren« verschwunden ist: »Goethe hat in der »Theatralischen Sendung« die Bedeutung des bedrückenden Milieus unterstrichen. Es fällt auf, daß er die Theaterleidenschaft Wilhelms hier fast auf die gleiche Weise motiviert wie Moritz Anton Reisers Drang, Schauspieler zu werden, und dabei das Milieu, dem Wilhelm entstammt, viel tiefer unter das seiner eigenen Herkunft verlegte als in den »Lehrjahren«.« H. Emmel: Was Goethe vom Roman der Zeitgenossen nahm. Z u »Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Bern/München 1972, S. I4f.
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Z u m soziokulturellen Wandel der Auffassung von den Geschlechterrollen siehe Karin Hausen: Die Polarisierung der »Geschlechtscharaktere« - Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbsund Familienleben. In: Werner Conze (Hrsg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart 1976, S. 363—393. Z u m Wandel der Familienstruktur und der Stellung des Kindes siehe Dieter Schwab: Art. »Familie«. In: Otto Brunner, Werner Conze, Reinhart Koselleck (Hrsg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Bd. 2. Stuttgart 1975. S. 253-301; Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied/Berlin 1962; Ingeborg Weber-Kellermann: Die deutsche Familie. Versuch einer Sozialgeschichte. Frankfurt a.M. 1974; Edward Shorter: Die Geburt der modernen Familie. Reinbek bei Hamburg 1977; Philippe Aries: Geschichte der Kindheit. München 1975.
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als korrespondierende und komplementäre Seiten eines Lebensentwurfs. Ihr Dissens fuhrt bei Wilhelm ausgerechnet in einem Bereich, der fur ein heranwachsendes Kind von zentraler Bedeutung ist, dem zweckfreien Spiel, zu einer Desorientierung, die in eine Identitätskrise mündet. Bezeichnenderweise handelt es sich nicht um ein gewöhnliches Kinderspiel, sondern um ein Theaterspiel, das ihm eine Welt kompensatorischer Wunscherfiillung offeriert - Zeichen dafür, wie die familiale Realität ihn bedrückt. Das Theaterspiel, das dem jungen Wilhelm so viel Freude bereitet, ist ein Vergnügen, das die Mutter weckt und fördert, der Vater dagegen abwertet und ablehnt.3 Die divergierenden Haltungen, die die beiden Eltern zum Spiel einnehmen, bieten Wilhelm nicht nur zwei konkurrierende Modelle für seinen eigenen Lebensentwurf, vor allem wird dadurch auch die gravierende Identitätskrise prädisponiert, die Wilhelm als Erwachsener zu durchleben hat. In der Kaufmannsfamilie, in der Wilhelm aufwächst, zielen die Erziehungsvorstellungen des Vaters auf die soziale Existenz des Kindes. Schließlich könne man »einem jungen Menschen keine größere Wohltat erweisen, als wenn man ihn zeitig in die Bestimmung seines Lebens einweiht« (393). Wilhelms Vater wünscht, daß sein Sohn wie er Kaufmann werden soll, um sich im Lebenskampf ökonomisch behaupten zu können. Wilhelms Beziehung zu seinem Vater zeichnet sich während seiner Kindheit durch eine prekäre Mehrdimensionalität aus, die letztlich dazu fuhrt, daß Wilhelm notwendig in ein Dilemma gerät. Die Eigentümlichkeit des Vater-Sohn-Konfliktes besteht zunächst darin, daß dem Vater als Gegner der ästhetischen Neigungen des Sohnes ausgerechnet die mächtige Rolle des patriarchalen Familienoberhaupts zukommt. Die Verbotsinstanz hinsichtlich seiner Theaterleidenschaft, als die der Vater im Roman — vermittelt über Wilhelms Gespräch mit der Mutter — eingeführt wird, stellt zugleich die Autoritätsinstanz dar, von der die Erfüllung von Wilhelms kindlichen Wünschen abhängt. Jedes Mal, wenn der Knabe auf den Besuch einer Theateraufführung hofft, braucht er — zu seinem großen Mißvergnügen — die ausdrückliche Erlaubnis seines Vaters. Noch belastender wird diese Situation
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Eine Parallele zu dieser Konfliktstruktur der Familie findet sich in Karl Philipp Moritz' >Anton Reiserguter< Bürger allen Extremen abhold ist — M a ß Halten«, das ist das durchgängige Credo seiner Lebensanschauung, die auf maximale Effizienz bei minimalem Einsatz ausgerichtet ist.4 Auch ein zweites Prinzip der bürgerlichen« Wertewelt vertritt er auf Kosten seines Sohnes: Man müsse mit allen Freuden haushalten, auch das Vergnügen gehöre rationiert, ansonsten verlöre es an Wirkung. Die Marktgesetze eines reduzierten Angebots, das die Bedürfnisse und damit die Preise steigert, schimmern hier von Ferne durch. Wilhelm erinnert sich: Mein einziger Wunsch war nunmehr [...], eine zweite Auffuhrung des Stücks zu sehen. Ich lag der Mutter an, und diese suchte zu einer gelegenen Stunde den Vater zu bereden; allein ihre Mühe war vergebens. Er behauptete, nur ein seltenes Vergnügen könne bei den Menschen einen Wert haben, Kinder und Alte wüßten nicht zu schätzen, was ihnen Gutes täglich begegnete. (368)
Im Gegensatz zur Mutter, die höchst ambivalent agiert - zum einen als sekundäre Erziehungsinstanz, die die Gebote des Vaters übermittelt, zum anderen als emotionelle Bezugsperson, die sich mit dem Bedürfnis des Sohnes identifiziert - blockiert der Vater aus Prinzip jede enge emotionelle Bindung, die für ihn immer mit Autoritätsverlust verbunden ist. So kommt zur allgemeinen genußökonomischen Lebensmaxime des Vaters noch dessen besondere Erziehungsmaxime hinzu: »man müsse den Kindern nicht merken lassen, wie lieb man sie habe, sie griffen immer zu weit um sich [...], man müsse bei ihren Freuden ernst scheinen, und sie ihnen manchmal verderben, damit ihre Zufriedenheit sie nicht übermäßig und übermütig mache« (372). Was sich als Dämpfung der Affekte ausgibt, dient der Disziplinierung. > Übermaß« und >Ubermut< bedrohen die väterliche Autorität, die auf Herrschaft durch Distanz beruht.
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Diese ökonomische Lebensanschauung von Wilhelms Vater erfährt aus der rebellischen Sicht des Sohnes eine kritische Brechung. Als seine Mutter Wilhelm den Vorwurf seines an Nützlichkeit orientierten Vaters weitergibt, »wozu es [d.i. die übermäßige Leidenschaft fiir das Theater] nur nütze sei«, kontert er, »aber ums Himmelswillen Mutter! ist denn alles unnütz, was uns nicht unmittelbar Geld in den Beutel bringt, was uns nicht den allernächsten Besitz verschafft? Hatten wir in dem alten Hause nicht Raum genug? und war es nötig ein neues zu bauen? Verwendet der Vater nicht jährlich einen ansehnlichen Teil seines Handelsgewinnes zur Verschönerung der Zimmer? Diese seidenen Tapeten, diese englischen Mobilien sind sie nicht auch unnütz? Könnten wir uns nicht mit geringeren begnügen?« (362). Während Wilhelm so auf den Widerspruch zwischen der Lebensmaxime und ihrer Praxis bei seinem Vater eingeht und die Geltung der inkonsequenten Autoritätsinstanz in Frage stellt, stiftet der Erzähler an einer anderen Stelle die Affinitätsverwandtschaft zwischen Vater und Sohn, indem er auf die von Vater und Sohn geteilte »Prunkliebe« (410) verweist. Die Gemeinsamkeit zwischen dem der feudalen Repräsentationskultur gehorchenden alten und dem nach dem Modell des Adels sein Bildungsideal entwerfenden jungen Meister, der seine Person - wie er im Brief an Werner schreibt - mit Blick auf deren äußeren Schein bilden will (siehe 657Q, deutet Stefan Blessin zu Recht als Indiz einer »Regression auf eine vorbürgerliche Entwicklungsstufe«. S. Blessin: Die radikal-liberale Konzeption von >Wilhelm Meisters Lehrjahren«. In: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 49 (1975), Sonderheft 18. Jahrhundert, S. r90-225, hier S. 199.
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Dies hat zur Folge, daß Wilhelm sich als inferior erlebt, als ein dem Vater unterlegenes Kind, das zugleich von ihm abhängig ist. Daß hier ein emotionales Defizit entsteht, das nach Füllung trachtet, verdeutlicht der Roman. Daß diese Füllung nur kompensatorisch zu leisten ist, markiert die besondere Lage des Kindes. Daß sie sich im Medium des Theaters vollzieht, zeigt, wie sehr die Bühne als Raum imaginärer Welten für Wilhelm zu einem Bereich wird, in dem er sich als handlungsmächtig erfahren kann. Die Psychogenese von Wilhelms Theaterenthusiasmus aus solcher kleinfamilialen Autoritätsstruktur erfährt einen zusätzlichen Schub durch das spezifische Dilemma, in dem sich Wilhelm befindet. Er betrübt sich zwar über die väterlichen Verbote, vermag aber nicht, gegen sie zu rebellieren, da er als Sohn auf die Anerkennung des Vaters angewiesen bleibt. Die Autoritätsinstanz, die das Theaterspiel verbietet, ist fur Wilhelm zugleich die Anerkennungsinstanz, die dessen Qualität bewundern soll.5 Wie gespalten Wilhelm sich seinem Vater gegenüber verhält, demonstriert eine Theaterauffuhrung besonders eindringlich. Nach dem vorangegangenen Scheitern der Auffuhrung von Tassos »Das befreite Jerusalems bei der Wilhelm die inszenatorische Umsetzung mißlang, strebt er nach seiner Rehabilitierung und inszeniert zu diesem Zweck das Puppentheater von >David und GoliathLehrjahre< zwar eine intensive emotionelle Mutter-Sohn-Bindung aufzeigen, jedoch keine plausiblen Belege fur Wilhelms Mutterfixierung und die ästhetische Transformation des ödipalen Wunsches liefern. B. Greiner: Puppenspiel und Hamlet-Nachfolge. Wilhelm Meisters >Aufgabe< der theatralischen Sendung. In: Euphorion 83 (1989) H. 3, S. 281-296, hier S. 289.
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Die Mutter weckt auf diese Weise bei ihrem Sohn den Wunsch nach theatralischer Selbstentfaltung, nährt und fördert ihn in seinem kindlichen Theaterspiel.7 Sie lobt, wo der Vater tadelt. Daß dadurch die Mutter-Sohn-Bindung emotional intensiviert wird, veranschaulicht insbesondere das erste Gespräch zwischen ihnen. Nach einer Liebesnacht mit Mariane sieht sich Wilhelm zunächst mit dem väterlichen Verbot aus mütterlichem Mund konfrontiert: »Als Wilhelm seine Mutter des andern Morgens begrüßte, eröffnete sie ihm, daß der Vater sehr verdrießlich sei, und ihm den täglichen Besuch des Schauspiels nächstens untersagen werde.« (361) Die Mutter fungiert, indem sie dem Sohn die angedrohten Strafen des Vaters mitteilt, allerdings nicht nur als Ubermittlungsinstanz zwischen dem mächtigen Theatergegner und dem ohnmächtigen Theaterenthusiasten, sondern sie federt auch das Verbot des Vaters ab, indem sie den Sohn durch sich entschuldigt: »am Ende trag ich, wenn er verdrießlich wird, die Schuld. Wie oft mußte ich mir das verwünschte Puppenspiel vorwerfen lassen, daß ich euch vor zwölf Jahren zum heiligen Christ gab, und das euch zuerst Geschmack am Schauspiele beibrachte!« (362) Die Mutter, die sich mit dem Sohn solidarisiert, da sie sich zur Ursache seines Theaterenthusiasmus macht, verbindet sich im weiteren Gesprächsverlauf immer mehr mit dem Sohn. Beide entfalten eine gemeinsame Welt der Erinnerung, die sie als Einheit gegen die vom Vater repräsentierte Außenwelt der Verbote und Normen zusammenschließt. Aus der Botin der väterlichen Mahnung wird eine verständnisvolle Zuhörerin und aus dem warnenden Gespräch eine beseligende Reminiszenz an gemeinsame Vergangenheit. Angestiftet wird die dialogische Glückseligkeit und emotionelle Nähe zwischen Mutter und Sohn dabei ausgerechnet durch die Abwesenheit des Vaters, der seiner Frau die Schuld fur Wilhelms Entgleisung gibt. Der mütterliche Widerwille gegen die Schuldzuweisung verwandelt sich in Mutterstolz. In Wilhelms Hang zum Theater findet die Mutter ihre eigene Neigung wieder. Zwar kommt der Mutter als sekundärer Erziehungsmacht die Aufgabe zu, dem Sohn das Theaterverbot des Vaters zu überbringen, doch insgeheim freut sie sich über die innere Ebenbildlichkeit zwischen sich selbst und ihrem Sohn; sie macht Wilhelm dar-
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Auf die geschlechtsspezifische Konstitution der kindlichen Wunschstruktur Wilhelms setzt Friedrich A. Kittler im psychoanalytischen Deutungshorizont einen besonderen Akzent: »Die Mutter nahe und der Vater randständig, die Mutter voll >Liebe und Vorsorge^ der Vater borniert-ökonomisch, die Mutter der Phantasie, dem Theater, dem Wunsch offen, der Vater den Theateraufführungen und -besuchen feind —: die Umschrift von Wilhelm Meisters Herkunftsfamilie erfüllt formal alle Kriterien einer Ödipalisierung. Die numerisch reduzierte Familie wird zum kernfamilialen Dreieck, die zwei einzigen Bezugspersonen des Kindes figurieren die mythischen Mächte des Wunsches und der Untersagung. Dem triangulierten Kind ist die Mutter der erste Andere und der Vater ein Dritter, der nachträglich und vergebens eingreift, wenn der Mutterbezug dem Kind schon längst eingeschrieben ist.« F. A. Kittler: Über die Sozialisation Wilhelm Meisters. In: Gerhard Kaiser und F. A. Kittler (Hrsg.): Dichtung als Sozialisationsspiel. Studien zu Goethe und Gottfried Keller. Göttingen 1978, S. 13—124, hier S. 25.
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auf aufmerksam, wie sehr sie beide eine gemeinsame Neigung teilen. Das von ihrem Mann ausgehende Verbot unterläuft sie mit dem Bekenntnis: »Wenn ich gleich selbst [...] manchmal gern ins Theater gehe« (36ifi). Ihr ursprünglicher Auftrag, Wilhelm im Namen des Vaters von seiner theatralischen Fixierung abzubringen, fuhrt zur entgegengesetzten Wirkung. In der gemeinsamen Reminiszenz an glückliche Zeiten erinnert sich die Mutter wie ihr Sohn sie durch das Puppenspiel und seine Rezitationskünste erfreute, und sie »so eine herzliche mütterliche Freude über [...] deine [d.i. Wilhelms] pathetische Rede« (364) empfand. Im Sohn erlebt die Mutter den ihr vom Ehemann verschlossenen Bereich einer Theaterwelt, die den Regeln bürgerlicher Wohlanständigkeit opponiert; in Erinnerung an diese Zeit verjüngt sie sich, indem sie ihre unterdrückte Theaterleidenschaft noch einmal im Medium des Sohns nachempfindet. In diese Empfindungswelt eingetaucht, konterkariert sie die Botschaft ihres Mannes. Sie sagt zwar, was dieser ihr aufgetragen hat, zugleich aber begibt sie sich mit dem Sohn in die verbotene Theaterwelt und imaginiert diese als Welt des Glücks. Auf diese Weise wird die Mutter zur >Mitwisserin< und >Mitsünderin< des aufsässigen Sohnes. Statt Wilhelms unbotmäßige Leidenschaft im Namen des Vaters einzudämmen, gibt sie ihr neue Nahrung. Auf Wilhelms Wunsch, die Wachspüppchen, Initiationsgabe und äußere Repräsentanz seines Theaterenthusiasmus, zu bekommen, schenkt die Mutter sie ihm. So stiftet und festigt das ästhetische Medium Puppentheater die intensive emotionale Bindung zwischen Mutter und Sohn. 8
2. »Jüngling am Scheideweg« Die Ambivalenzen, die Wilhelms Familiensituationen bestimmen, sind beträchtlich und belasten ihn sehr. Da ist zum einen der Vater, dessen ökonomischer Wertewelt Wilhelm auf das Feld des Theaters entfliehen will und auf dessen Anerkennung er aus ist - mit der Folge ständiger Entwertungserlebnisse durch die väterliche Kritik. Da ist zum anderen die Mutter, die ihm als Sprachrohr väterlicher Verbote entgegentritt und zugleich mit ihm in eine durch Erinnerung gestiftete Gefühlswelt eintaucht — mit der Folge, daß die Mutter emotional bekräftigt, was sie explizit untersagt. In der hierdurch hervorgerufenen Gefühlskonfusion und Identitätskrise, die Wilhelm zwischen
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Auch in >Anton Reiser< verkörpert die Mutter des Protagonisten die emotionelle Legitimationsinstanz seiner Wunscherfiillung. Sie schließt gleichsam hinter dem Rücken ihres quietistisch indoktrinierten Ehemanns einen gefühlsmäßigen Pakt mit ihrem Sohn. Anton verspürt, daß nicht er allein dem Genuß an der vom Vater untersagten Romanlektüre frönt, sondern auch seine Mutter. Diese Übereinstimmung schenkt Anton die affektive Berechtigung, sich trotz des väterlichen Verbots auch weiterhin diesem Vergehen zu widmen, und zwar »mit Bewußtsein seiner Mutter«. Sie ist die Gestalt, die seiner Neigung stillschweigend recht gibt. Karl Philipp Moritz: Werke. Bd. 1, S. 109.
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Sohnespflichten, Abgrenzungsversuchen und Anerkennungsbegehren hin und her schwanken lassen, sucht er nach einem festen Halt, nach einem Koordinatenkreuz, das ihm Sicherheit im Erleben und Handeln vermittelt. Wie findet er es? Er stellt es sich selbst her und formt so seine äußere Orientierung als Produkt diffuser Wünsche. Es handelt sich hierbei um sein aus tradierten Versatzstücken fabriziertes Gedicht »Jüngling am Scheideweg«. In und mit diesem löst er die für die bürgerliche Familie konstitutive Ambivalenz auf, zugleich eine vom Vater zu sichernde ökonomische Institution und eine von der Mutter repräsentierte Gefiihlssphäre zu sein, indem er seine Pflichtwelt als abstoßend und seine Wunschwelt als attraktiv gestaltet. Die von beiden Elternteilen verkörperte Opposition von Ökonomischem und Emotional-Ästhetischem findet hier ihre lyrische Verdichtung. Auf der fiktionalen Ebene des Gedichts, in dem »die Muse der tragischen Dichtkunst und eine andere Frauengestalt, in der ich das Gewerbe personifiziert hatte, sich um meine werte Person recht wacker zanken« (383), imaginiert sich Wilhelm am Scheideweg zwischen diesen beiden allegorischen Figuren. Wilhelm beschreibt ihren Wettstreit um sein lyrisches Ich, seine zum begehrten Streitobjekt erhobene »werte Person«, im Stile einer für einen Vierzehnjährigen typischen Schwarz-Weiß-Malerei: Die Personifikation des Gewerbes stellt Wilhelm mit allen Insignien und Requisiten profaner Vorsorge dar, während er die äußere Ausstrahlung und den inneren Glanz der poetischen Muse zelebriert. W i e ängstlich hatte ich die alte Hausmutter geschildert mit dem Rocken im Gürtel, mit Schlüsseln an der Seite, Brillen auf der Nase, immer fleißig, immer in Unruhe, zänkisch und haushältisch, kleinlich und beschwerlich! W i e kümmerlich beschrieb ich den Zustand dessen, der sich unter ihrer Rute bücken und sein knechtisches Tagewerk im Schweiße des Angesichtes verdienen sollte! W i e anders trat jene dagegen auf! W e l c h e Erscheinung ward sie dem bekümmerten Herzen! Herrlich gebildet, in ihrem Wesen und Betragen als eine Tochter der Freiheit anzusehen. Das Gefühl ihrer selbst gab ihr W ü r d e ohne Stolz; ihre Kleider ziemten ihr, sie umhüllten jedes Glied, ohne es zu zwängen, und die reichlichen Falten des Stoffes wiederholten, wie ein tausendfaches Echo, die reizenden Bewegungen der Göttlichen. W e l c h ein Kontrast! ( ^ f . )
Der »Kontrast« der beiden Frauengestalten des allegorischen Gedichts ist in seinem erotischen Valeur wahrlich drastisch. Sie verkörpern extreme Gegensätze des Weiblichen. Die »herrliche« Körperbildung der Muse, die - so Wilhelms Phantasie — ihn begehrt, ruft sein Begehren hervor, ihre »reizenden Bewegungen« fesseln seine Augen, das »Göttliche« erscheint als Erotisches, und das Ideelle als das Sinnliche. Das Kontrastbild hierzu wird von Wilhelm zu einer »alte[n] Hausmutter« degradiert und gänzlich enterotisiert zum Abschreckenden, dem man mit aller Macht zu entfliehen trachtet. Die Funktion dieser Bildimaginationen ist evident: Es sind erotische Wunschprojektionen eines Jüng28
lings, der so seine uneindeutige Wirklichkeit in die Eindeutigkeit der Fiktion überfuhrt - und zwar bezeichnenderweise, indem sich Wilhelm zum Objekt der Zuwendung stilisiert und damit so tut, als sei er dem Werben der Muse affektiv unterworfen. Doch mit welchen Mitteln gestaltet Wilhelm seine diffuse Wunschwelt zur Wirklichkeit einer konkreten Fiktion, genauer: aus welcher Quelle schöpft Wilhelms Phantasie seine Bilder, und wie verbindet er sie? Die »Hausmutter« portraitiert Wilhelm nur vordergründig nach dem tradierten Muster einer alten Frau jenseits erotischer Anziehungskraft, doch bezeichnend ist, daß ihr das männliche Muster einer ökonomischen Existenz zugrunde liegt, zu der sein eigener Vater Modell steht. Wilhelm faßt die im Gedicht gehaltenen Reden des Gewerbes lakonisch zusammen: Vom »knechtische[n] Tageswerk im Schweiße des Angesichtes« (383) und von in Aussicht gestellten »Reichtümer[n]« (384) ist die Rede; für ihn ist dies die Erbärmlichkeit bloßer Habgier. Ferner spricht er von »den warnenden Drohungen der Alten«, auch davon, daß er von ihr »enterbt« werde. (384) Letzteres deutet auf den anstehenden familiären Bruch hin, ersteres reflektiert das Verbot des Vaters im Hinblick auf Wilhelms täglichen Theaterbesuch. Das dem ökonomischen Diskurs entlehnte Vokabular verweist implizit auf den väterlichen Lebensentwurf, der die theatralische Existenz gegenüber dem ordentlichen Broterwerb strikt abweist. In seinem Gedicht imaginiert Wilhelm seine Abwendung von der väterlichen Welt als Entblößung, für welche ihn jedoch die Muse - so seine kompensatorische Phantasie — in überreichem Maß entschädigt: Sein von der väterlichen Instanz »enterbtes« lyrisches Rollen-Ich, das sich »nackt« (ebd.) vorfindet, wird von der Muse der tragischen Dichtkunst Melpomene mit einem goldenen Schleier bedeckt — dies ein Rettungszeichen fiir jenen, der sich vom Ökonomischen losgesagt hat, durch das Ästhetische. Noch ein Zweites wird durch das Wort »nackt« aufgerufen. Es handelt sich um eine Kindheitssituation, in der Wilhelm sich durch seinen eigenen Vater um das großväterliche Erbteil beraubt fühlt. Dieser plünderte das die Imaginationskraft des kleinen Wilhelm anregende Schatzkabinett des Großvaters und verkaufte es. Eine schier traumatische Erfahrung, verbunden mit den »ersten traurigen Zeiten meines Lebens«, war für Wilhelm der Moment, »als alle die Sachen herunter genommen und eingepackt wurden«, und er »die Gegenstände nach und nach verschwinden« sah. (421) Wilhelms Vater gab das durch den Verkauf der Kunstsammlung erworbene Vermögen in die Handlung eines Nachbarn, um es zu vermehren. Danach zieht die Familie in ein neues Haus um, das Wilhelm ohne die Kunstwerke als »leer« empfindet. Nicht erstaunlich ist es, daß Wilhelm in seinem Jugendgedicht diese Schlüsselerfahrung als einen Akt der Enterbung gestaltet,9 den er lyrisch rückgängig macht, indem der
' Bei seinem späteren Rollenstudium des >Hamlet< parallelisiert Wilhelm diese Schlüsselerfahrung in seinen »ersten traurigen Zeiten« (421) mit dem Wendepunkt in der Biographie des däni-
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zunächst der Kunst Beraubte wieder mit einem goldenen Schleier bedeckt wird. Das Wort »nackt« im »Jüngling am Scheideweg« verweist metonymisch auf das als »leer« (362, 421) empfundene, der Kunstgegenstände beraubte Haus.10 Die Nacktheit des Jünglings gleicht der raumbezogenen Selbstwahrnehmung des kleinen Wilhelm. Der Leerheit des neuen Hauses korreliert die geistige Blöße eines Kindes, dem die Reize der Phantasie geraubt wurden. In der Kapitalisierung der Kunstgüter erlebt er die erste Kollision zwischen dem Ökonomischen und dem Ästhetischen, dem Profanen und dem Poetischen. In den Augen des Kindes entstehen zwischen den beiden Polen unvereinbare Gegensätze. Entweder das eine oder das andere, eine Vermittlung zwischen ihnen gibt es nicht — so die dichotomische Sicht von Wilhelms Gedicht. Lebensweltliches ist so auf vielfältige Weise in Wilhelms Selbstvergewisserungsgedicht eingeflossen. Zwar ist die Muse traditionellerweise immer weiblich und erotisch, zugleich aber spielt in deren Modellierung hinein, daß Wilhelms Mutter mit dem Geschenk des Puppentheaters seine Neigung zur Schauspielkunst entzündete. Der Zeitpunkt, zu dem Wilhelm das Geschenk des Puppentheaters erhält, ist hier von besonderer Relevanz. Der Bescherungsakt erfolgt gleich nach dem Umzug der Familie aus dem Haus von Wilhelms Großvater in das vom Vater erworbene neue Haus, das wie das der Kunstgegenstände beraubte Haus des Großvaters »leer« (362) war. Die Kunstsammlung des Großvaters gab dem phantasiebegabten Kind die Möglichkeit, sich mit Gestalten der Kunst zu identifizieren. Im Bild vom kranken Königssohn etwa, das im Haus des Großvaters hing, fand Wilhelm ein solches Identifikationsmuster. Im neuen leeren Haus des Vaters jedoch gab es zunächst nichts, was seine Phantasie zu nähren vermochte. Diesen Mangel behebt nun das Puppentheater. So eröffnet sich Wilhelm die Möglichkeit, im Bereich theatralischer Fiktion poetische Identifikationsmuster zu gewinnen. Von nun an kann er kraft seiner poetischen Imagination fiktionale Welten kreieren, in denen er als Hauptakteur Bedeutsamkeit ohnegleichen erfährt. Wilhelms Strategien, das Ästhetische ins Reich des Realen zu überfuhren, lassen sich besonders gut an seinem Umgang mit der biblischen - ihm als Sujet
sehen Prinzen. W a s er selbst als schmerzhaften Verlust erfahren hat, dichtet er der fiktionalen Gestalt an, u n d zwar als das Initialerlebnis, da5 H a m l e t zu einem Melancholiker bestimmt. S o erzählt W i l h e l m Aurelie: D u r c h das an seinen O h e i m übertragene »Recht zur Krone« »fühlt [er] sich n u n so arm an G n a d e , an G ü t e r n , u n d f r e m d in d e m , was er v o n J u g e n d auf als sein E i g e n t u m betrachten konnte. H i e r n i m m t sein G e m ü t die erste traurige Richtung« (607). 10
David E. Wellbery betont in seiner anregenden Studie über die narrative Struktur der Bildungsr o m a n e die M e t o n y m i s i e r u n g als die wichtigste rhetorisch-stilistische T e n d e n z in der Gestaltung der >Lehrjahre< u n d sieht - in theoretischer A n l e h n u n g an R o m a n J a k o b s o n s T h e s e der m e t o n y m i s c h e n P r ä g u n g realistischer T e x t e — in ihr das Entfaltungsfeld von G o e t h e s »realistischem T i c « als d e m d o m i n a n t e n Figurationsprinzip. D . E . Wellbery: D i e E n d e n des M e n schen. A n t h r o p o l o g i e u n d E i n b i l d u n g s k r a f t im B i l d u n g s r o m a n (Wieland, G o e t h e , Novalis). In: Karlheinz Stierle u n d R a i n e r W a r n i n g (Hrsg.): D a s E n d e . Figuren einer D e n k f o r m . M ü n chen 1 9 9 6 , S. 6 0 0 - 6 3 9 , bes. S. 6izf.
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des Puppentheaters dienenden — Geschichte von >David und Goliath< beobachten. Beim ersten Besuch dieser Komödie gilt die größte Bewunderung des Knaben keinem anderen als David, dessen Taten als außerordentlich heldenhaft: erscheinen. Was Wilhelm allerdings stört, ist die äußere Erscheinung seines Helden: Denn obwohl es Wilhelm zutiefst beeindruckt, auf welch kluge und tapfere Weise David seinen Feind Goliath überwältigt, so verdrießt es ihn »doch bei aller Freude, daß der Glücksprinz so zwergmäßig gebildet sei. Denn nach der Idee vom großen Goliath und kleinen David hatte man nicht verfehlt beide recht charakteristisch zu machen« (363^: Hervorhebung von mir). Doch ungeachtet des äußeren Aussehens Davids tritt Wilhelm auf der Bühne des Theaters an dessen Stelle, um im realitätsenthobenen Raum der Kunst den Kampf gegen seinen feindlichen Vater auszufechten. Am Ende eben des Jahres, während dessen Wilhelm seinem Vater bei der rücksichtslosen Plünderung der Gemäldesammlung des Großvaters machtlos zusehen mußte, kompensiert er mit Hilfe des Puppentheaters seine traumatischen Ohnmachtserlebnisse. Dabei ist es pikanterweise gerade die ihn angeblich abstoßende zwerghafte Bildung Davids, die diesen zur Identifikationsfigur des vor kurzem durch die Allmachtsdemonstration des Vaters schwer verwundeten Sohnes geeignet macht. Wilhelm jubelt als innerer David, wenn »der Kopf des Riesen vor dem kleinen Uberwinder hergetragen wurde« (363). Als ein zweiter David tötet er seinen von Goliath verkörperten Vater. Das Ästhetische, das sich Wilhelm vom Zeitpunkt der Aufführung des Puppentheaters an zum Ziel seiner Selbstverwirklichung setzt, ist das ideale Medium, durch das er die erlittene Niederlage gegen den Vater triumphal zu kompensieren vermag." Die Rache am Vater vollzieht Wilhelm also in der ästhetischen Sphäre, in der er mit dem kleinen David seinen kampferprobten Stellvertreter findet.12
" Die von diesem siegreichen glücklichen Gefühl geprägte Identifikation des kleinen Wilhelm mit David dient Erwin Seitz als Argument gegen die von Hans-Jürgen Schings mit großer Resonanz vertretene These, daß Wilhelms Innenleben für das Tragische und Melancholische disponiert sei. Siehe hierzu E. Seitz: Die Vernunft des Menschen und die Verfuhrung durch das Leben. Eine Studie zu den 'Lehrjahren;. In: Goethe-Jahrbuch 113 (1996), S. 121—137, bes. S. n j f . ; H.-J. Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 141—206, bes. S 152. 12
Auf überzeugende Weise deutet Ulrich Stadler am Beispiel der Identifikation des jungen Wilhelm mit der Puppenspielfigur David zum einen die kompensatorische Funktion ästhetischer Erfährungen und zum anderen die Art, in der dieser Sachverhalt dem Romanleser vermittelt wird: Die »Versuche, vor der gesellschaftlichen Realität in die Sphäre des Scheins auszuweichen«, ermöglichen Wilhelm, »die eigene Unterdrückungssituation auszuhalten, ohne eine reale Entscheidung für oder gegen sich durch einen Auflehnungsversuch heraufzubeschwören. Unbewußt nämlich reproduziert der Romanheld im Medium der Kunst seine eigene Konfliktlage. Der Scheinsphäre des Kunstwerks kommt dabei eine doppelte Funktion zu. Während sie Wilhelm und die übrigen Romanfiguren im Unklaren über deren eigene Situation halten kann, beleuchtet sie diese zugleich fur den Romanleser. Wilhelm registriert nicht, daß er den Gegensatz zu seinem Vater in seinem Theaterspiel aufleben läßt, und er braucht dies auch gar nicht zu registrieren, da die bloß symbolische Form der Gegnerschaft keinerlei Sanktio-
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Vor diesem Hintergrund einer ästhetischen Sublimation familiärer Konflikte ist es nicht weiter verwunderlich, daß Wilhelm auch seinen Einbruch in die Speisekammer, durch den er in Besitz des Dramentextes von >David und Goliath< gelangt, im biblischen Kontext als Sündenfall Adams deutet: Schließlich geht es in beiden Fällen um ein »verbotene[s] Naschwerk« (370). Als seine Mutter versehentlich den Schlüssel zur Speisekammer stecken läßt, dringt Wilhelm ohne Zögern in das Reich der Leckerbissen ein. Er greift: »nach den vielgeliebten gewelkten Pflaumen« und versieht sich mit »einigen getrockneten Äpfeln« (371). Doch dann entdeckt er in einem Kasten die Puppen und »ein geschriebenes Büchelchen, worin die Komödie von David und Goliath aufgezeichnet war« (ebd.). Voller Angst, beim Diebstahl in flagranti ertappt zu werden, steckt er das Büchlein zu sich und macht sich rasch mit seiner »Beute« (ebd.) davon. Wie einst der Vater >seinen< geliebten Besitz (die Kunstsammlung des Großvaters) plünderte, so plündert er nun dessen Schatzraum. Zwar amtiert die Mutter als Hüterin der Speisekammer; deren eigentlicher Besitzer aber ist der Vater.' 3
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nen auslöst«. U . Stadler: Wilhelm Meisters unterlassene Revolte. Individuelle Geschichte und Gesellschaftsgeschichte in Goethes >LehrjahrenLehrjahren< wiederholt mit Begehren assoziiert wird«. F. Schößler: Goethes >Lehr-< und >WanderjahreLehrjahrenSendung< von einer Kernfamilie ersetzt wird, seine inzestuöse Bindung an die Mutter wie auch die Verschiebung des erotischen Begehrens auf das ästhetische zur Folge. Mag diese These auch im ausschließlichen Bezug auf die >Lehrjahre< plausibel klingen, so kann sie doch leicht im Hinblick auf die »Theatralische Sendung< widerlegt werden. Bereits in der >SendungDavid und Goliaths bei deren Aufführung Wilhelm im fiktionalen Medium seine Rache und seinen Ersatzsieg feiern konnte, nun sein geistiges wie auch sein materielles Eigentum. Von nun an beschränkt sich seine Beschäftigung einzig und allein darauf, das Schauspiel wieder und wieder zu lesen, es schließlich auswendig zu lernen und sich lebhaft auszumalen. Am Ende liegen ihm »die großmütigen Reden Davids, mit denen er den übermütigen Riesen Goliath herausforderte, Tag und Nacht im Sinne« (372). Durch diese Strategie wird es Wilhelm möglich, seine verborgene Fehde mit dem Vater — ohne sich durch ihre offene Kundgebung strafbar zu machen — auf einer harmlosen, nämlich der ästhetischen Ebene auszutragen. Rezitiert er Davids heldenhafte Reden, so bemerkt er dabei genau, daß niemand auf sie achtet »als der Vater, der manchmal einen solchen Ausruf bemerkte, und bei sich selbst das gute Gedächtnis seines Knabens pries, der von so wenigem Zuhören so mancherlei habe behalten können« (ebd.). Vor dem Hintergrund der Kindheitserfahrungen Wilhelms wird die Funktion seines Jugendgedichts deutlich. Hat der Sohn einst als Kind den Kampf gegen den Vater und dessen theaterfeindliches Lebensprinzip dadurch verloren, daß er mit seiner Schauspielinszenierung wiederholt versagte und daher seine Theaterleidenschaft nicht rechtfertigen konnte, so verschafft sich der Jugendliche nun die erhoffte Legitimation mit Hilfe poetischer Selbstsuggestion. Die aus den früheren Abwertungen durch den Vater entstandenen psychischen Wunden sucht Wilhelm mit seinen lyrisierten narzißtischen Phantasien zu heilen. Im poetischen Geschehen macht sich das lyrische Ich zum begehrten Objekt einer begehrenswerten Muse, die ihn erhöht. Nicht er, sondern der zur Allegorie der Ökonomie transformierte Vater versagt nunmehr in der Auseinandersetzung mit der attraktiven Muse, die seinen Sohn für sich gewinnt. Wilhelms Konflikt mit der väterlichen Welt wird auf einem imaginären Kampfplatz mit Hilfe allegorischer Figuren ausgetragen, steht also unter
entfremdete Mutter-Sohn-Beziehung in einer Großfamilie keinen Platz hat, wird die fur die Ödipalisierungsthese als zentral erachtete Episode vom Erzähler in fest wörtlicher Übereinstimmung dargestellt, und auch schon hier wird die Rabenmutter als Hüterin der Speisekammer, der Wilhelm jenen »merkwürdigen Schlüssel« entwendet, eingeführt: »Die Kinder haben in einem wohleingerichteten und geordneten Hause eine Empfindung wie ungefähr Ratten und Mäuse haben mögen, sie sind aufmerksam auf alle Ritze und Löcher, wo sie zu einem verbotenen Naschwerke gelangen können; sie genießens mit einer verstohlenen wollüstigen Furcht, und ich glaube, daß dieses ein großer Teil des kindlichen Glücks ist« (FA 9, S. 18).
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dem Vorzeichen ästhetischer Sublimation. Wilhelms Triumph über den Vater ist rein fiktiv;'4 er beruht zugleich auf einem Griff in die Toposarsenale der Uberlieferung — von Originalität und dichterischem Vermögen als Ausweis, daß die Muse Wilhelm tatsächlich den »goldnen Schleier« zugeworfen, d.h. ihn mit dichterischer Schöpfungskraft gesegnet habe, ist keine Spur.15 Wie Wilhelm Mariane gegenüber zugibt, ist die »Erfindung [...] gemein« (383): Es handelt sich bei der Gestaltung des Gedichts um keine originäre Erfindung, sondern um die Variation des bei Xenophon überlieferten Herakles-Mythos des Prodikos.16 Wilhelms Omnipotenzphantasien, die — wie sein Jugendgedicht exemplifiziert — den familiär Unterlegenen zum Triumphator durch List und Geschicklichkeit erheben, wiederholen sich im szenischen Arrangement der David-Goliath-Vorlage. Wilhelm entwirft das Tableau der geistigen Überlegenheit eines nur körperlich Unterlegenen, indem er auf der Kleinstbühne eines Tisches Wachsfiguren so gegeneinander kämpfen läßt, daß der Kleine den Großen besiegt. Wie im Falle der Komödie von >David und Goliath« versteht es Wilhelm auch hier, seine reale Ohnmacht im Feld des Theatralischen dadurch zu kompensieren, daß er seinen Phantasien auch körperliche Repräsentanten verleiht. Mittels dieser Strategie eines kindlichen Eskapismus, der das, was im realen Leben unüberwindlich zu sein scheint, im Bereich des Ästhetischen zu bewältigen sucht, überwindet Wilhelms Einbildungskraft die dominante Autorität des Vaters. Hierauf spielt Wilhelm dann auch in seiner Erzählung Mari-
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Friedrich Nietzsche hat auf die Formel gebracht, was Wilhelm hier praktiziert: Es gibt keine authentische, nicht-vermittelte Wirklichkeit fur den Menschen, er bedarf zur Handhabbarkeit der Realität der sprachlichen Vermittlung, die das Chaos der unüberschaubaren Möglichkeit zur Einfachheit von Alternativen reduziert. Siehe dazu Friedrich Nietzsche: Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne. In: F. Nietzsche: Kritische Studienausgabe. Hrsg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari. Bd. 1. München 1988, S. 873-890. Was Nietzsche radikal formuliert, greift auf eine alte Auffassung zurück, nach der die Sprache mehr ist als nur ein Instrument zur Benennung außersprachlicher Phänomene, da sie als Medium zur Konstruktion der Wirklichkeit fungiert. Zur weltgenerierenden Funktion der Sprache siehe Karl-Otto Apel: Die Idee der Sprache in der Tradition des Humanismus von Dante bis Vico. Bonn 1963.
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In Wilhelms Gedicht wird, wenn man so formulieren will, die >vorahmende< Funktion der Literatur deutlich. Denn hier entfaltet Wilhelm ein literarisch generiertes Szenarium, das der komplexen und widersprüchlichen Wirklichkeit, die ihn vielfältig bestimmt, ein klares Orientierungsraster unterlegt, um dort Eindeutigkeit im Wünschen und Handeln zu gewinnen, wo Vieldeutigkeit und Verwirrung herrschen. Wilhelm betrachtet die Welt >sub specie litterarumMemorabilia IIWilhelm Meisters Lehrjahre«. Heidelberg 1984, bes. S. 83-91.
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ane gegenüber an, in welcher er den Sieg über den übergroßen Widersacher Goliath mit der verdienten Belohnung durch »die schöne Königstochter« (363) verbindet. Wilhelm vermag es, sich in den Armen von Mariane als Uberwinder seines Vaters zu imaginieren - ganz so, als wäre Mariane die Trophäe seines Sieges über seinen eigenen Goliath, seinen Vater. Die Psychodynamik, welche Wilhelms Imagination zugrundeliegt, ist offensichtlich: Die Mutter, mit der sich Wilhelm in Sohnesliebe verbunden fühlt, wird überblendet durch Mariane, die er nicht als eine eigenständige Frau wahrnimmt, sondern als Substitut der Ehefrau des Vaters, den er durch Marianes erotische Zuwendung überwunden zu haben glaubt. So ist Mariane zum einen die heimliche Geliebte, die Wilhelm in einer Mischung aus Theaterbegeisterung und sexueller Attraktion fasziniert, und zum anderen auch körperliche Repräsentanz fiir den Triumph des Sohns über dem Vater. Bezeichnend hierbei ist allerdings, daß es nicht die offene Auseinandersetzung, sondern die Verschiebung ins Imaginäre und ins Geheime ist, welche die Versuche Wilhelms kennzeichnet, sich aus der väterlichen Welt zu lösen.' 7 Das ist nicht erstaunlich; Wilhelm bleibt schließlich auch weiterhin in sozialer und ökonomischer Abhängigkeit vom Vater. Ehe er in der Nacht zu Mariane flieht, hat er tagsüber im Kontor zu arbeiten. Hier zeigt sich eine Theatralik ganz anderer Art: Wilhelm muß möglichst überzeugend den gehorsamen Sohn spielen und dem Vater den Eindruck vermitteln, er würde sein Leben in eben die gesellschaftliche Bahn lenken, die dieser ihm gewiesen hat.
3. Theatralisierte Liebe aus Theaterliebe Das im Spannungsfeld zwischen väterlichem Lebensentwurf und idealem Selbstkonzept entstehende psychische Konfliktpotential des Protagonisten wird im ersten Buch der >Lehrjahre< anhand zweier Handlungsstränge exponiert: an seiner Familien- und an seiner Liebesgeschichte. Dabei stehen sich die beiden Erfahrungssphären einerseits in einem scharfen Kontrast gegenüber,
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In den >Lehrjahren< findet hinsichtlich der divergierenden Lebensanschauungen keine direkte Auseinandersetzung zwischen Wilhelm und seinem Vater statt. Hier ist der Theaterenthusiast ein konfliktscheuer Sohn, der gegen den väterlichen Willen allein in ästhetisch sublimierter Form oder in Abwesenheit des Familienoberhauptes zu opponieren vermag. In der t h e a t r a l i schen Sendung< ist er hingegen noch fähig, seinen Widerwillen gegen das kaufmännische Leben direkt seinem Vater gegenüber an den Tag zu legen: »er war viel zu lebhaft, und aufrichtig als, daß nicht manchmal, selbst gegen seinen Vater, die Verachtung des Gewerbes durchgeblickt hätte. Er hielte es für eine drückende Seelenlast, für Pech, daß die Flügel seines Geistes verleimte, fur Stricke, die den hohen Schwung der Seele fesselten, zu dem er sich von Natur das Wachstum fühlte Manchmal gab's über irgend eine solche Äußerung Streit, zwischen Vater und Sohn, an dessen Ende, der Alte meist erzürnt, der Junge bewegt und die Sache dadurch nichts besser ward, indem jede Partei nur ihrer Meinung gewisser zu werden schien« (FA 9, S. 34).
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andererseits aber durchdringen sie sich gegenseitig. Denn daß der Bürgersohn Wilhelm eine nicht dem bürgerlichen Milieu entstammende Schauspielerin heimlich liebt, hängt mit seinen eigentümlichen Familienverhältnissen zusammen. Sie bestimmen hintergründig Anfang, Höhepunkt und Ausgang seiner Liebesbeziehung. Nur auf den ersten Blick scheint Wilhelms Hingabe an Mariane bedingungsloser Natur zu sein. Doch schon die Tatsache, daß er nur nachts heimlich zu ihr schleicht, während er tagsüber im Kontor arbeitet, wirft ein ironisches Licht auf Wilhelms Liebesenthusiasmus. Nur wenn man die innerfamiliale Beziehungsdynamik, in der Wilhelm aufwächst, näher analysiert, vermag man zu erkennen, wie seine Liebe zu Mariane gleichsam als abhängige Variable seiner Stellung in der Familie fungiert. Die in Wilhelms Elternhaus herrschende spezifische Beziehungsstruktur präformiert seine Liebe zu Mariane über die erotische Dimension hinaus. Diese ist nur altersgemäßer Ausdruck eines innerfamilialen Problems, das er im außerfamilialen Raum beheben will — zwar in veränderter Form und mit verändertem Selbstverständnis, aber doch so, daß die prägende Kraft der Familiensituation auf die neue Beziehung durchschlägt. Für den unbeirrbaren Theaterenthusiasten bedeutet sein Verhältnis mit der Schauspielerin nämlich viel mehr als eine bloß sexuelle Beziehung. In der Liebesgemeinschaft mit Mariane sucht er sich den Wunsch nach einer zweckfreien Sphäre zu erfüllen, die ihm in der Familie einstmals seine Mutter durch das Puppenspiel eröffnete. Mariane fungiert hierbei als eine Projektionsfläche besonderer Art: Die Schauspielerin ist nicht nur Indikator, der »helle Wink des Schicksals« (386), für seinen ästhetischen Selbstentwurf, sondern gleichsam eine zur Geliebten transponierte Mutter. Während die Mutter in der Kindheit seine theatralischen Wünsche weckte und nährte, zugleich aber als Medium der väterlichen Verbotsinstanz fungierte und ihm so als ambivalente Gestalt erschien, findet er in Mariane eine eindeutige Repräsentantin seiner Wunschwelt des Ästhetischen, die nicht vom väterlichen Realitätsprinzip überschattet ist. Der Wechsel der Bezugspersonen geht allerdings mit einer zeitlichen wie räumlichen Separierung einher: Nachts und außer Haus hält er sich bei Mariane auf und folgt dem Lustprinzip, tags und im Kontor hält er sich bei dem Vater auf und gehorcht dem Wirklichkeitsprinzip. In der von ihm stilisierten Gemeinschaft mit Mariane glaubt er, über die Welt der Wünsche freier und intensiver als in »[s] eines Vaters Haus« (ebd.) verfugen und die vom Vater repräsentierte utilitaristische Lebensanschauung mitsamt ihren ökonomischen Forderungen verbannen zu können. So motiviert ihn einerseits seine Liebe zum Theater zur Liebe zu Mariane. Andererseits aber macht er seine Liebe zur Schauspielerin selbst zum Theater.18 Die Thea-
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Vgl. dazu M . Mayer: Selbstbewußte Illusion, S. 63.
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terliebe und die theatralisierte Liebe stehen dabei in einer kausalen Verbindung: Jene fungiert als Ursache für diese. Wilhelm weist Mariane eine Rolle zu, als deren Gegenüber er sich konstellativ definieren kann. Nach Maßgabe seines providentiellen Denkens ist die Schauspielerin ein Fingerzeig des Schicksals, der ihn auf seine Berufung zur Theaterexistenz hinweist. Die zur Schicksalsgesandten Erhobene soll ihn, den angehenden »Schöpfer eines künftigen National-Theaters« (386), an das ihm vorbestimmte Ziel fuhren. Genauer: Wilhelms Glaube an die Vorsehung, in deren Wirkzusammenhänge er seine Geliebte willkürlich einordnet, sichert ihm die Identität eines Menschen, der sich zum Ästhetischen prädestiniert weiß. In dieser Hinsicht ist die Depersonalisierung Marianes ins Rollenhafte nichts anderes als der Preis fur Wilhelms narzißtische Identitätskonstruktion. Um den schicksalssemantischen Stellenwert der Geliebten für sein künstlerisches Sendungsbewußtsein herauszustellen,'9 sieht er über ihre Individualität und ihre wirklichen Lebensverhältnisse gänzlich hinweg — mit der Konsequenz, daß sein realitätsblindes Selbstverständnis letztlich zum desaströsen Ausgang der Liebesbeziehung fuhrt. Da er Mariane auf ihre Funktionalität für sich reduziert und zugleich ihre Beziehung zur schicksalsgeleiteten Fügung hypostasiert, vermag er nicht den Einbruch der profanen Wirklichkeit in seine Konstruktion zu ertragen. Wenn Wilhelm nach dem notwendigen, für ihn allerdings nicht vorhergesehenen Ausgang der Liebesbeziehung in eine langjährige psychophysische Krise gerät, so gründet seine tiefe Depression nicht darin, daß ihn die von ihm aufrichtig geliebte Frau verlassen hat, sondern darin, daß sein Lebensentwurf, in dem Mariane für ihn die Funktion einer leibhaften Muse einnahm, zerbrochen ist. Was er verliert, ist ja nicht eine heißgeliebte Frau, sondern sein über Mariane als Rollenstereotyp definiertes Ich: die konstellativ gewonnene Identität desjenigen, der sich selbst als erkoren von der Muse des Ästhetischen begreift. Die bedeutsame Folge der Trennung von Mariane ist
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Gerwin Marahrens sucht den Ursprung von Wilhelms naivem Schicksalsglauben in seinem feinfühligen Umgang mit der Literatur seit seiner Kindheit und macht darauf aufmerksam, »daß das mit einer sehr sensiblen Phantasie ausgerüstete Kind sich offensichtlich von dichterischen Darstellungen des mythischen Schicksals atmosphärisch gefangennehmen läßt und ihnen nur zu willig Eintritt in seine Seele gewährt«. G . Marahrens: Über die Schicksalskonzeptionen in Goethes >Wilhelm MeisterLehrjahre< von der theatralischen Sendung< deutlich unterscheidet, ist neben der veränderten Familienstruktur vor allem die Art, wie Wilhelms Kindheit präsentiert wird. Während in der >Sendung< ein außerhalb des
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Auf die identitätsträchtige Legierung von Ästhetischem und Erotischem verweist Friederike Eigler: »Wilhelm hat Mariane auf der Bühne zuerst kennengelernt und in seiner Einbildung sind beide Bereiche untrennbar miteinander verwoben, womit ihre gemeinsame Funktion angedeutet ist: Liebesbeziehung und Theaterspiel fungieren als Spiegelbilder seines Begehrens, zwischen denen er eine Identität zu etablieren versucht.« F. Eigler: Wer hat »Wilhelm Schüler« zum >Wilhelm Meister< gebildet? >Wilhelm Meisters Lehrjahre« und die Aussparungen einer hermeneutischen Verstehens- und Bildungspraxis. In: Goethe Yearbook 3 (1986), S. 93-119, hier S. 104.
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Romangeschehens stehender Erzähler sie chronologisch darstellt, verschmelzen die >Lehrjahre< an markanten Stellen Erlebnis- und Darstellungsperspektive des Helden: Wilhelm erzählt seine Kindheitserlebnisse im persönlichen Rückblick. Zunächst beteiligt sich seine Mutter — bisweilen mitredend - an der retrospektiven Erzählung. Entsprechend fungiert sie auch als einzige Zeugin von Wilhelms Kindheit. Die gemeinsame Reminiszenz von Mutter und Sohn bescheinigt zwar ihre intensive emotionelle Bindung, doch endet der Dialog bereits nach kurzer Zeit. Der weitaus größere Teil der Erinnerung wird dem Leser monologisch vermittelt. Dieser Formbruch der Vergangenheitsrekonstruktion geht mit einem Adressatenwechsel einher: Die als Gesprächspartnerin fungierende Mutter wird ersetzt durch die Zuhörerin Mariane. Festzuhalten ist, daß die Inhaltsebene der Kindheitsgeschichte trotz ihrer Formvariation keinen Bruch aufweist. Was sich Wilhelm mit der Mutter dialogisch vergegenwärtigt, setzt sich nahtlos fort in dem, was er Mariane monologisch präsentiert. 21 Wie sind die beiden voneinander zu differenzierenden Präsentationsmodi der Kindheitsrekonstruktion und ihre inhaltliche Kontinuität zu interpretieren? Welchen Stellenwert hat das inhaltliche Kohärenzarrangement bei gleichzeitiger Formwandlung? Erstaunlich ist zunächst, daß die Mutter, die fur Wilhelms Theaterprojekt ja die initiierende Rolle spielt, gleich nach dem Gespräch über seine Kindheit aus dem Roman verabschiedet wird. Sie taucht - in deutlichem Kontrast zum Vater, der selbst noch nach seinem T o d bis in die Träume des Sohnes vordringt - nirgends mehr auf, weder faktisch noch im Innern des Helden. Dieser mit dem Verschwinden der Mutter einhergehende gleitende Ubergang in der narrativen Vermittlung der Kindheitserlebnisse aus der dialogischen
" D e r nahtlose Übergang zwischen den Erzählungen wurde bereits in der bemerkenswerten psychoanalytischen Studie von Friedrich A. Kittler konstatiert. Allerdings schließt er aus dem narrativen Einheitsgebilde direkt auf den sexuellen Einheitswert der beiden Zuhörerinnen, während meine Deutung die Mutter und die Geliebte im Hinblick auf Wilhelms ästhetischen Selbstentwurf als funktional analog gerichtet ansieht. Wenn Kittler in seinem Vergleich der t h e a t r a l i s c h e n Sendung« mit den >Lehrjahren< darauf hinweist, daß Wilhelms Kindheit in der Zweitfassung »privatisiert« wird, da sie nicht der Erzähler, sondern Wilhelm selbst präsentiert, so ist es u m so erstaunlicher, daß Kittler in keiner Weise die subjektive Deutungsdimension mitbedenkt, die sich im sexuellen Diskurs des spätadoleszenten Wilhelm entfaltet. So setzt er sich gänzlich über die Tatsache hinweg, daß der Dialog zwischen Mutter und Sohn zu einem Zeitpunkt stattfindet, als Wilhelm bereits ein erotisches Verhältnis mit Mariane hat. D i e Verschränkung der theatralischen mit der sexuellen Wunschstruktur findet also vor dem Gespräch von Wilhelm und seiner Mutter statt. Will man die Geltung von Kittlers Ödipalisierungsthese retten, so könnte man die >Theatralische Sendung« heranziehen, in der Wilhelms Kindheit ohne retrospektive Deutung unmittelbar vom Erzähler dargestellt wird. In der T a t sind hier Stellen zu entdecken, die das Begehren des kleinen Wilhelm nach dem Theaterspielen mit Worten artikulieren, welche sexualsymbolisch ausgelegt werden können. Doch erfüllt die t h e a tralische Sendung« - wie Kittler selbst betont — die kleinfamiliale Intimität als wichtigste Voraussetzung der ödipalisierung nicht. F. A. Kittler: Über die Sozialisation Wilhelm Meisters, S. 2 9 ff.
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Entfaltung mit der Mutter in die monologische fur die Geliebte verdeutlicht zweierlei: Einerseits transferiert Wilhelm seine Kindheit aus dem Bereich der mütterlichen Teilhabe in die Sphäre der Geliebten, andererseits aber wird diese bloß zur Ratifizierungsinstanz fiir einen gelungenen Lebensweg erhoben, den Wilhelm im Rückblick als Abfolge notwendiger Entwicklungsschritte konstruiert. Damit deutet Wilhelms subjektive Vergegenwärtigung einer sinnvollen Vergangenheit vor zwei wichtigen Bezugspersonen einerseits an, was seine Familien- und Liebesbeziehung insgeheim verbindet: die Zusammengehörigkeit von Mutter und Geliebter. Andererseits markiert sie den Austausch der signifikanten Bezugsperson, über die Wilhelm sein Ich definiert. Worin Einheit und Differenz der beiden Frauen gründen, beleuchte ich nun, indem ich genauer auf die jeweiligen Kontexte eingehe, in denen Wilhelms Dialog mit der Mutter und sein Monolog vor der (am Ende einschlafenden) Geliebten stehen. Das Gespräch mit der Mutter, das mit einem Streit zwischen Wilhelm, dem Empfänger der väterlichen Mahnung, und der Mutter als deren Überbringerin beginnt, endet in einer harmonischen Versöhnung. Das Bekenntnis der Mutter, sie teile die ästhetische Neigung des Sohnes, stiftet eine emotionelle Ubereinkunft, die sich in einem Schenkungsakt manifestiert: Die Mutter überläßt Wilhelm die Marionetten, die Initialzünder seiner Theaterleidenschaft, und spielt damit zum letzten Mal ihre symbolische Rolle als Muse des Theatralischen. Doch da die Mutter zugleich auch als Stellvertreterin des Vaters handelt und zur verräterischen Botin des Ökonomischen mutiert, wird sich Wilhelm in eben diesem Moment seiner unglücklichen Lage bewußt: In dem kunstfeindlichen Haus des Vaters und der diesem unterworfenen Kunstrepräsentantin hat Wilhelms theatralische Sendung< keinen Platz. Bei Mariane hingegen findet er den Ort, an dem er seine Pläne verwirklichen zu können glaubt. Der Ortswechsel geschieht zeichenhaft dadurch, daß Wilhelm die materiellen Repräsentanten seiner Theaterleidenschaft, die Marionetten, vom mütterlichen Besitz in den Gewahrsam der Geliebten transferiert. Als Wilhelm Mariane die Puppen präsentiert, verschafft er sich die Gelegenheit, die Geliebte in seine Wunschwelt einzuweihen. Was die Mutter Wilhelm gegeben hat, waren keine bloßen Gegenstände. Das Geschenk der Mutter wird sogleich für eine kleine Theateraufführung verwendet. Zunächst aber werden alle Puppen von dem Liebespaar durchgemustert. Wie einst Wilhelm fiir die Gestalt des David, so empfindet nun Mariane eine besondere Vorliebe für Jonathan, zieht diesen am Drahte und läßt ihn Liebeserklärungen hersagen. Das Agieren der Puppen scheint Mariane ein »geringes Spiel« (366) zu sein. Für Wilhelm hingegen beginnt damit die Neuinszenierung seines Lebens. Das Spiel mit den Puppen wird auf die Puppenspieler übertragen, Theatersphäre und Liebessphäre vermischen sich, wenn Mariane »zuletzt ihre Liebkosungen von der Puppe auf unsern Freund [d.i. Wilhelm]« (ebd.) überträgt. Das im Medium des Puppenspiels arrangierte Liebesspiel bekommt durch das zufällige Vorbeiziehen einer Festgesellschaft die Aura des Feierlichen. In seiner Hoch41
Stimmung bestellt Wilhelm ein reiches Festmahl. 22 Frische Austern und Champagner sind zur Stelle, »man aß, trank und ließ sich's wohl sein« (367). In dieser Feststimmung fuhrt Wilhelm sein Gedicht »Jüngling am Scheideweg« ein, um die allegorische Muse mit der leibhaften Frau zu assoziieren, genauer: um Mariane in das Sinngefuge seines Lebensentwurfs einzuordnen. Hätte ich denken können, ο meine Geliebte! rief er aus, indem er Marianen fest an sich drückte, daß eine ganz andere, eine lieblichere Gottheit kommen, mich in meinem Vorsatz stärken, mich auf meinem Wege begleiten würde; welch eine schönere Wendung würde mein Gedicht genommen haben, wie interessant würde nicht der Schluß desselben geworden sein! Doch es ist kein Gedicht, es ist Wahrheit und Leben, was ich in deinen Armen finde; laß uns das süße Glück mit Bewußtsein genießen! (384) Wilhelm beteuert zwar, daß Mariane »Wahrheit und Leben« sei, zugleich aber entkleidet er sie ihrer eigenständigen Existenz und macht sie zum Signifikat seines Gedichts. Sie wird ohne Umschweife in die vorgefertigte dichterische Vision integriert. Dieses Spiel von Fiktion und Wirklichkeit ist symptomatisch ftir Wilhelm. V o r der Folie poetischer Selbstvergewisserung glaubt er, sein Ideal sei Wirklichkeit geworden, während er — in Wahrheit gerade umgekehrt - die Wirklichkeit fiktionalisiert. Die Mystifizierung der Geliebten hat deren Depersonalisierung zur Folge. Die Muse der tragischen Dichtkunst, die Wilhelm im Gedicht »Jüngling am Scheideweg« noch vor seiner Begegnung mit Mariane entworfen hat, erhält jetzt zwar einen konkreten Namen. Doch in Mariane erblickt er nur das Signifikat der Göttin, die ihn zum Künstlertum beruft. Durch sie scheint sein im fiktiven Medium des lyrischen Sprechens konzipiertes Selbstbild Wirklichkeit geworden. Wahr und lebendig werden in Mariane die Muse und vor allem ihre Botschaft bezüglich Wilhelms künstlerischer Mission. Die Geliebte ist jedoch weit mehr als nur der Resonanzboden seines idealen Selbstkonzepts. Ihre Gegenwart gewährt dem Theaterenthusiasten eine Identität, die seinem bisherigen und künftigen Leben einen konstanten Sinn verleihen soll. In der durch Mariane verkörperten Göttin schließen sich Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t Wilhelms zu einem Kreis. Seine Lebensgeschichte vermag er in der Art, wie er sie Mariane präsentiert, als Künstlerbiographie zu konstruieren, in der sich der begeisterte Zuschauer des Puppentheaters in stets aufsteigender Linie zum Gründer des Nationaltheaters entwickelt. Es ist kein Zufall, daß Wilhelm die Vereinigung mit Mariane — »Seine reine Seele fühlte, daß sie die Hälfte, mehr als die Hälfte seiner selbst sei. Er war dankbar und hingegeben ohne Grenzen.« (385) - als Kulminationspunkt
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Vgl. zum Festcharakter Teressa Salema: Des Widerspenstigen Zähmung in der Gesellschaft Wilhelm Meisters: Ordnung der Natur oder Ironie der Kultur? In: Sylvia Wallinger und Monika Jonas (Hrsg.): Der Widerspenstigen Zähmung. Studien zur bezwungenen Weiblichkeit in der Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Innsbruck 1986, S. 143—156, bes. S. 146.
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seines bisherigen Lebens begreift. Während er in ihren Armen ruht, sieht er sich auf der H ö h e seiner Entwicklung angekommen, von der herab er seine Vergangenheit als Bildungsgeschichte in aufsteigender Linie imaginiert. 23 V o m endlich erreichten Gipfel der Entwicklung schaut er nicht nur zurück auf den vermeintlich erfolgreich bestandenen Lebensweg, sondern auch voraus in eine glorreiche Zukunft. Es ist eine schöne Empfindung, liebe Mariane, versetzte Wilhelm: wenn wir uns alter Zeiten und alter unschädlicher Irrtümer erinnern, besonders wenn es in einem Augenblicke geschieht, da wir eine Höhe glücklich erreicht haben, von welcher wir uns umsehen und den zurückgelegten Weg überschauen können. Es ist so angenehm, selbstzufrieden, sich mancher Hindernisse zu erinnern, die wir oft mit einem peinlichen Gefühle für unüberwindlich hielten, und dasjenige, was wir jetzt entwikkelt sind, mit dem zu vergleichen, was wir damals unentwickelt waren. Aber unaussprechlich glücklich fühl' ich mich jetzt, da ich in diesem Augenblicke mit dir von dem Vergangnen rede, weil ich zugleich vorwärts in das reizende Land schaue, das wir zusammen Hand in Hand durchwandern können. (367) Aus Wilhelms Sicht ist sein Entwicklungsgang durch seine feste Bindung an Mariane zu einem entscheidenden Abschluß gekommen. Alle »Hindernisse« und Widrigkeiten scheinen nicht nur überwunden, sie werden geradezu als notwendige Stufen seines Bildungsgangs bestimmt. A u f diese Weise erscheint ihm seine Biographie als kontinuierliche Entfaltung eines Subjekts, das sich von einem Ausgangspunkt aus planvoll auf ein bestimmtes Ziel hin entwickelt. In der narrativen Übermittlung seiner Lebensgeschichte an Mariane vollzieht Wilhelm auf diese Weise einen Akt der Sinnstiftung seines eigenen Werdens. Dabei dient zwar sein Bedürfnis, in der Retrospektion dem eigenen Leben einen konstanten Sinn zu verleihen, der Selbstvergewisserung, es verführt ihn aber auch dazu, sich nach dem Muster des bürgerlichen Vervollkommnungsideals über sich, die anderen und die äußeren Verhältnisse hinweg zu täuschen. Der Romankontext verdeutlicht dies, indem er Wilhelms Erzählung ironisch unterminiert. Besonders Marianes Erhebung zur Muse des Ästhetischen
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Albert Berger sieht in Wilhelms Bildungsgeschichte eine teleologische Umkehrung und konstatiert, daß die >Lehrjahre< keinen sich kontinuierlich vervollkommnenden Helden präsentieren, sondern einen, der bereits in seiner ersten Liebesbeziehung den Gipfel der Selbstentfaltung erreicht hat. Allerdings ist einzuwenden, daß nicht der Roman, sondern Wilhelm sich die Bildungsgeschichte zuschreibt - was ein Indiz fur seine illusionäre Selbstsicht ist. A. Berger: Ästhetik und Bildungsroman. Goethes >Wilhelm Meisters Lehrjahre«. Wien 1977. Auf das komplexe Wechselspiel zwischen der beschränkten Figurenperspektive und der sie ironisch unterminierenden Erzählerpräsentation verweist Mathias Mayer: »Was Reiz und Schwierigkeit dieser Abschnitte ausmacht, ist der behutsam angedeutete Kontrast zwischen Wilhelms selbstgefälligem Rückblick auf seine kindlichen Versuche als Schauspieler und Theaterdirektor und seiner durch Eingriffe des Erzählers ins Bewußtsein gehobenen Blindheit gegenüber seiner derzeitigen Situation, in der er es so herrlich weit gebracht zu haben glaubt. [...] Wilhelm spottet seiner selbst und weiß nicht wie, denn er nimmt fur sich den Abschluß eines Erkenntnisprozesses in Anspruch, den er gerade erst begonnen hat.« M . Mayer: Selbstbewußte Illusion, S. 6z.
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wird von der Realität entschieden widerlegt. Gegen Ende von Wilhelms Rede erwacht Mariane durch den Druck seines Armes und die Lebhaftigkeit seiner erhöhten Stimme und verbirgt nur durch Liebkosungen ihre Verlegenheit. Denn sie hatte auch nicht ein Wort vom letzten Teil seiner Erzählung vernommen, in dem er auf sein Gedicht »Jüngling am Scheideweg« zu sprechen kam. Ausgerechnet in dem Augenblick, in dem Wilhelm sie den fiktiven Thron der Muse besteigen läßt, verfällt sie dem Schlaf. Sinnfällig wird hier die Realitätsblindheit des selbstgefälligen Schwärmers. Die Zusammenkunft der Kongenialen entlarvt sich als bloße Einbildung des Geliebten, dessen solipsistische Prätention zum einen die Geliebte überfordert und zum anderen ihn selbst kommunikationsunfähig macht. Gerade an dieser Dialogarmut geht die Liebesbeziehung zugrunde, während sie sich zunächst allerdings an monologischem Reichtum steigert. Bis zum Ende ist ihre Liebe reich an Mißverständnissen. Nach der Entdeckung der vermeintlichen Untreue Marianes bemüht sich Wilhelm nicht einmal um ein klärendes Gespräch. Noch kann er wie nie zuvor in hochfliegenden Theaterplänen schwelgen: »Seine Bestimmung zum Theater war ihm nunmehr klar; das hohe Ziel, das er sich vorgesteckt sah, schien ihm näher, indem er an Marianens Hand hinstrebte« (386). Allein der Erzählkontext durchkreuzt das ekstatische Selbstwertgefiihl dessen, der sich zum Ästhetischen berufen wähnt. Wilhelms Aufforderung an Mariane, die Aussicht auf die glorreiche Zukunft eines Künstlerehepaars »mit Bewußtsein [zu] genießen« (384), wird ihr schlafbedingter Bewußtseinsverlust entgegengestellt, so daß sein überspanntes Sendungsbewußtsein mit einer oxymoralen Wendung unterlaufen wird: Mit »selbstgefälliger Bescheidenheit« sieht Wilhelm »in sich den trefflichen Schauspieler, den Schöpfer eines künftigen National-Theaters, nach dem er so vielfältig hatte seufzen hören« (386). Auf den selbstbetrügerischen Charakter des narzißtischen Tagtraums verweist der Erzähler, indem er die von Wilhelm »klar« erfaßte Bestimmung zum Theater als nebulöse Selbstverklärung entlarvt: »Er bildete aus den vielerlei Ideen mit Farben der Liebe ein Gemälde auf Nebelgrund, dessen Gestalten freilich sehr in einander flössen; dafür aber auch das Ganze eine desto reizendere Wirkung tat.« (386f.) Besondere Beachtung verdient, daß das erste Buch des Romans mit den Worten beginnt: »Das Schauspiel dauerte sehr lange.« (359) Dieser Satz reflektiert zunächst die subjektive Sicht Barbaras in einem situativen Kontext: »Sie erwartete Marianen, ihre schöne Gebieterin, die heute im Nachspiele, als junger Offizier gekleidet, das Publikum entzückte, mit größerer Ungeduld, als sonst« (ebd.). Gespannt ist Barbara darauf, die Schauspielerin mit Geschenken ihres freigiebigen Liebhabers Norberg zu überraschen. So kommt es ihr nur so vor, als ob das Schauspiel heute länger »als sonst« dauern würde, was jedoch nicht der Wirklichkeit entsprechen muß. Situiert der Erzähler den Romanbeginn in Barbaras innerem, subjektivem Wahrnehmungsfeld, so gewinnt der Erzähler der subjektiven Perspektive einer Romangestalt zugleich Raum zur Entfaltung 44
seiner Ironie ab. 24 In Anlehnung an Barbaras inneren Standpunkt wirft er auf das folgende Geschehen einen ironischen Schatten. Marianes Wohnung, in der Barbara auf sie gewartet hat, verwandelt sich mit ihrer Heimkehr gleich in die Bühne eines Liebesdramas. Zwar ist das Theaterstück, in dem Mariane die Rolle eines »junge[n] Offizier[s]« übernimmt, schon zu Ende gespielt, wenn sie nach der Aufführung in ihrer Wohnung eintrifft. Doch wird sie dann ad hoc erneut zur Heldin eines erneuten Liebesdramas, da sie sich die Bühne, die sie soeben verließ, in ihre Wohnung hinein verlängert. Und in dieser Konstellation zerfällt Barbaras Erwartungshaltung gänzlich: alles war in Ordnung, als die Alte den Tritt Marianens auf der Treppe vernahm, und ihr entgegen eilte. Aber wie sehr verwundert trat sie zurück, als das weibliche Offizierchen, ohne auf ihre Liebkosungen zu achten, sich an ihr vorbei drängte, mit ungewöhnlicher Hast und Bewegung in das Zimmer trat, Federhut und Degen auf den Tisch warf, unruhig auf und nieder ging und den feierlich angezündeten Lichtern keinen Blick gönnte. (359f.)
Aufgrund von Marianes befremdender Erscheinung nimmt Barbara sie bloß als ein »weibliche [s] Offizierchen« wahr. Ihre eilige Bewegung erscheint Barbara als »ungewöhnlich«, die von ihr ausgesprochenen Worte sind höchst pathetisch. Das Gespräch der beiden ist zwar auf Marianes akutes Beziehungsproblem mit zwei Liebhabern ausgerichtet. Doch ist Mariane nicht im geringsten bereit, über ihr dringendes Problem zu räsonieren und eine Lösung zu bedenken. Statt dessen gibt sie sich ihrem überschwenglichen Liebesgefiihl gegenüber Wilhelm hin und setzt dieses übertrieben in Szene. Auf Barbaras Rat, die Gunst des reichen Liebhabers nicht zu verscherzen, »sprang Mariane auf sie los und faßte sie bei der Brust« (360) und stellt damit ihre stumme Absage in theatralischer Handgreiflichkeit zur Schau. Kurz: Mariane schauspielert. So wird sich Barbara der Gefahr bewußt, daß Mariane die Grenze zwischen Bühnenwelt und Realität nicht hinreichend beachtet und sich der Gefahr aussetzt, ihre dürftigen Lebensverhältnisse zu verkennen. Halb im Scherz und doch auch halb im Ernst will sie Mariane von der Bühne in die Wirklichkeit zurückholen und überredet sie, sich von ihrem Theaterkostüm — Zeichen sowie Stimulans ihrer Rollenhaftigkeit — zu befreien: »Ich werde sorgen müssen, [...] daß sie wieder bald in lange Kleider kommt [...]. Fort, zieht euch aus!«, denn die Theaterrobe sei »für euch gefährlich«. (360) In dem Moment, in dem die kluge Ratgeberin Mariane aus der riskanten Liebesinszenierung wecken will, indem sie dieser das Kostüm auszieht, entzieht sich diese vehement den helfenden Händen. »Mariane [reißt] sich los« (ebd.) und insistiert darauf, weiterhin in der Rolle einer Verliebten zu verharren. Sie erwarte schließlich noch
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David E. Wellbery deutet den ersten Satz des Romans aus der Sicht des Erzählers, der die visuelle Obsession des Protagonisten konstatiert. D. E. Wellbery: Die Enden des Menschen, S. 617.
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Wilhelms Besuch. Auf Barbaras besorgten Vorwurf hin, sie gebe sich einem »Unmündigen« und »Unvermögenden« hin, nimmt Mariane eine Haltung ein, aus der heraus sie von ihrer lebenserfahrenen, dem geltenden Realitätsprinzip gehorchenden Beschützerin furs Auskosten ihrer »unmäßigen« Liebe nur noch vierzehn Tage bis zur Ankunft ihres mündigen und reichen Liebhabers borgt (361). Die zum Erbetteln der eng befristeten Liebschaft gewählten Worte Marianes sind mit theatralischem Pathos überfrachtete Floskeln. An dieser Stelle betritt Wilhelm die Wohnung, und Mariane fliegt »ihm entgegen«, ohne ihr Theaterkostüm und damit auch die theatralische Rolle der Geliebten abgelegt zu haben. Bezeichnend ist, wie der Erzähler die erste Umarmungsszene des Liebespaars präsentiert. Wilhelm »umschlang [...] die rote Uniform« und »drückte [...] das weiße Atlaswestchen an seine Brust« (361). Die Kleidungsstücke und deren herausragende Farben bringen ihren Träger zum Verschwinden. 25 Hier bieten sich zwei Deutungsmöglichkeiten an, die ineinander greifen. Die erste fokussiert vorrangig auf den theatralischen Blickwinkel Wilhelms, die zweite dagegen auf die dramaturgische Selbstdarstellung Marianes. Als eine dritte Perspektive schließlich läßt sich daraus die des Lesers ableiten, der beide aufeinander treffen sieht, damit vom Leser gleichsam zum objektiven Zuschauer wird und das Medium Roman zugunsten des Mediums Theater wechselt. Das erste Buch der >Lehrjahre< wird damit in doppeltem Sinne des Wortes zum >TheaterromanWilhelm Meisters LehrjahrenAnnees d'Apprentissage de Wilhelm Meister< de Goethe. In: Hommage ä Georges Fourrier. Centre de Recherches d'Histoire et Literature. Paris 1973, S. 195—205.
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nen. Als Schauspielerin ist Mariane nicht nur das, worauf seine Mutter bloß verwies. Mariane spielt vielmehr auch eine ganz besondere Rolle, durch die sie sich in Wilhelms Sicht vor allen anderen Schauspielerinnen auszeichnet. Vor Wilhelms innerem Auge spielt sie die Rolle einer Frau, für die er schon seit seiner Jugend entflammt ist. Das Theaterkostüm des Offiziers, in dem Mariane zum ersten Mal im Sichtfeld des Romanlesers auftaucht, ist - wie es sich im Roman erst viel später herausstellt - identisch mit dem, in dem sie zum ersten Mal ins Blickfeld von Wilhelm als Theaterzuschauer tritt. Für Wilhelm stellt sich so eine assoziative Verbindung zwischen der Schauspielerin und seiner Jugendliebe her. Was Wilhelms Liebesempfindung entfacht, ist zwar nicht Marianes konkrete Offiziersrolle in ihrer konkreten Bühnengegenwart, wohl aber deren Symbolgehalt und Funktion als Signal, das auf eine spezifische Mannweiblichkeit verweist, die in der Sphäre der Poesie verankert ist. Die von einer Frau getragene Mannestracht, der im besonderen noch die Kriegs- und Kampfmetapher eigen ist, verweist auf Wilhelms Sehnsuchtsfigur seit seiner Tasso-Lektüre im vierzehnten Lebensjahr: auf Chlorinde. In der literarischen Echokammer des »Befreiten Jerusalem< sitzend, hat er das hermaphroditische Wesen der kriegerischen Amazone in Marianes Erscheinung hineinprojiziert, während er sich selbst mit Tankred identifizierte. Die Vergabe einer fiktiven Rolle an eine reale Person bringt notwendigerweise immer auch eine fiktive Situierung des eigenen realen Selbst mit sich. Weist Wilhelm Mariane in die Rolle der Chlorinde, so wird er zugleich zu ihrem fiktiven Gegenüber. Ihm wird die Rolle des Tankred zuteil, so wie auch die Muse des Ästhetischen ihn als von ihr erkorenen Jüngling nobilitiert. Wilhelm ist im Hinblick auf seine Neigung zu Chlorinde nicht nur ein bloß rezeptiver Kunstenthusiast. Im gleichen Maße ist er auch ein >produktiver< Ubertragungsexperte der Poesie auf seine Wirklichkeit. Wo er die intimsten Formen und Räume zum Umgang mit Mitmenschen erkundet, sei es im familiären Austausch von Emotionen, Zuneigung und Abneigung, sei es im innigsten Liebesverhältnis, dort gibt er sich einem fiktiven Reich expressiver Gefühle hin. Die poetischen Bilder und Idole offerieren ihm hier zum einen bestimmte Verhaltensmuster und Selbststilisierungsmodelle. Zum anderen werden seine Wirklichkeit und seine Mitmenschen aber auch imaginäre Größen, die von seiner Einbildungskraft jederzeit verwandelt werden können. Als Person verschwindet Wilhelm in der Folge hinter solchem Transfer des Fiktiven ins Reale. Die Substituierung des realen Ich durch fiktive Rollen beeinträchtigt die Identitätsfindung erheblich. Die Authentizität der Person reduziert sich schließlich auf den Akt der Auswahl poetischer Identifikationsvorbilder. Liebt Wilhelm Mariane, so liebt er sie aus Liebe zu einer fiktiven Anderen, die ihn selbst zu einem Anderen macht. Im Grunde wähnt er nur zu lieben, indem er Liebe zitiert. Das Schauspiel, in dem Mariane die Offiziersrolle spielt, setzt sich nach Beendigung des Stücks auf der Theaterbühne 47
anschließend auf einer Alltagsbühne fort, die Wilhelm errichtet. Mariane verkörpert hier sowohl die Rolle der Chlorinde als auch die der poetischen Muse. Auf dieser verlängerten Bühne nun ist Wilhelm Marianes Mitspieler, zunächst als Tankred, dann als der zum Ästhetischen auserwählte Jüngling. In der Tat: »Das Schauspiel dauerte sehr lange.« Die zweite Deutungsperspektive betont, daß Mariane Wilhelms Theatralisierung der Liebesbeziehung nicht nur passiv ausgeliefert ist, sondern daß sie dazu um so geeigneter ist, als sie sich selbst in ihrer Selbst- und Weltwahrnehmung in einem analogen Theatralisierungsbestreben definiert. Dies zeigt sich zum einen daran, daß Mariane in und mit ihren Rollen auch jenseits der Aufführungssituation lebt. So bedarf sie gleichsam stets des passenden Kostüms, was sich an ihrer vehementen Gegenwehr gegen Barbara zeigt. Das Außere, das Kostüm ist konstitutiv für die Innerlichkeit des Befindens, das Attribut prägt wesentlich die Substanz. Oder aber: Es substituiert die Person, so daß sowohl für Wilhelm als auch für den Leser die Ersetzung Marianes durch Uniform und Westchen vollzogen werden kann. Wie sehr Mariane dabei auch selbst als Regisseurin (bzw. sogar als Autorin des von ihr zu spielenden >StücksSündenbockHofmeisterRomeo und JuliaLehrjahre< vgl. auch Joachim von Thüsens detaillierte Analyse, die den ersten Satz »Das Schauspiel dauerte sehr lange« romanintern interpretiert. J . von Thüsen: Der Romananfang in »Wilhelm Meisters LehrjahrenLehrjahre< zum ersten Mal ins Blickfeld gerät. Wilhelms Gespräch mit dem Unbekannten über das Gemälde erfolgt exakt an jenem Abend, an dem Wilhelms erste Liebesbeziehung ihr unverhofftes Ende findet. Der erstmaligen Thematisierung des Bildes kommt demnach eine besonders exponierte Stellung zu. Eine Antwort auf die eben gestellte Frage mag lauten, Wilhelms Reminiszenz an das Bild nehme den unglücklichen Ausgang seiner Liebe vorweg. Beschränkt man jedoch die Bildaussage auf diesen situativen Kontext der Liebeshandlung, so stellt sich das Nachfol-
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Vgl. dazu Kurt Robert Eissler: »The history of this prince is remarkable for the friendly solution of the Oedipus complex that it affords.« K. R. Eissler: Goethe. A Psychoanalytic Study 1775-1786, 2 Bde. Detroit 1963, hier Bd. 2, S. 914; vgl. auch Harold Jantz: Goethe's >Wilhelm Meisten. Image, Configuration, and Meaning. In: Studien zur Goethezeit. Erich Trunz zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Eberhard Mannack. Heidelberg 1981, S. 103-120, bes. S. 115; auch ftir Hans-Jürgen Schings gründet Wilhelms Affinität zum Bild vom kranken Königssohn in einem Ödipus-Komplex, der im Gegensatz zu Sophokles' Original untragisch endet. H.-J. Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone, S. 178; Gerhard Neumann betrachtet das Bild als ikonische Abbreviatur einer Sozialisationshandlung. Das Bild präfiguriere fiir Wilhelm »jene Erziehungsaufgabe, die, in Gestalt des Schmerzes, zuletzt den Übergang aus der Natur in die Kultur, aus dem Trieb in dessen Bändigung findet«. G . Neumann: »Ich bin gebildet genug, um zu lieben und zu trauern«. Die Erziehung zur Liebe in Goethes >Wilhelm Meister*. In: Titus Heydenreich (Hrsg.): Liebesroman — Liebe im Roman. Eine Erlanger Ringvorlesung. Erlangen 1987, S. 41-82, hier S. 49.
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Vgl. Friedhelm Marx: Erlesene Helden. Don Sylvio, Werther, Wilhelm Meister und die Literatur. Heidelberg 1995, S. 165-264, bes. S. i8if.; vgl. auch Hellmut Ammerlahn: Goethe und Wilhelm Meister, Shakespeare und Natalie, S. 47—74, bes. S. 54. 4 ' Vgl. Schings: Wilhelm Meisters schöne Amazone, S. 178. 42 Helmut Ammerlahn weist dem Bild vom kranken Königssohn im Blick auf Wilhelms erste scheiternde Liebesbeziehung eine antizipatorische Funktion zu: »Hier weist das Bild voraus auf Wilhelms traurigen Seelenzustand, seine Krankheit und gefahrvolle aber zugleich bereichernde Verinnerlichung im zweiten und dritten Buch nach dem Verlust Marianes.« H. Ammerlahn: Goethe und Wilhelm Meister, S. 54; vgl. dazu auch Friedhelm Marx: Erlesene Helden, S. 181; Hannelore Schlaffer weist darauf hin, daß Wilhelms Liebe zu Mariane durch die Erinnerung an das Gemälde vom kranken Königssohn prädisponiert wird: »Das Bild vom kranken Königssohn entzündet ihn zur Liebe, die zu erfüllen er auszieht.« H. Schlaffer: >Wilhelm Meisten, S. 30.
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geproblem, daß zum einen die späteren Überblendungen Stratonikes durch Natalie nicht erklärbar sind, und zum anderen der leitmotivische Charakter des Bildsujets außen vor bleibt. Die bisherigen Forschungen zum Bildmotiv greifen von daher zu kurz: Sie reichen im Prinzip nicht über die Konstatierung hinaus, daß Wilhelm sich mit dem kranken Königssohn identifiziert. Kaum berücksichtigt wird hingegen das fundamentale Problem, warum sich Wilhelm gerade mit Antiochus identifiziert. Die Frage, die den weiteren Gedankengang meiner Untersuchung leiten wird, richtet sich nun gerade auf die psychische Disposition Wilhelms, vor deren Hintergrund die variierenden Bildwahrnehmungen der Romanhandlung so erklärt werden können, daß sich eine einheitliche Struktur ergibt. Im vorliegenden Kapitel beschränke ich meine Analyse darauf, zunächst die Grundstruktur von Wilhelms selbstbezogener Bildrezeption darzulegen. Der Handlungskontext des ersten Buches, in den das Gespräch über das Gemälde integriert ist, verdient dabei besondere Beachtung. Erst nachdem diese Grundstruktur von Wilhelms ästhetischer Identifikation geklärt ist, gehe ich auf die verschiedenen Textpassagen ein, in denen die Reminiszenz an das Bild vom kranken Königssohn auf jeweils unterschiedliche Weise virulent wird. Die dabei zu konstatierenden Veränderungen korrespondieren - wie im Detail aufzuzeigen ist - mit entsprechenden Änderungen in Wilhelms Selbstverständnis und Realitätsbezug. 43 Daß das Sujet vom kranken Königssohn in die >Lehrjahre< als Bild und nicht als tradierter Mythos eingeführt wird, ist bezeichnend. Denn Antiochus' Geschichte hebt sich von den anderen Geschichten, die Wilhelm ein Identifikationsvorbild offerieren, dadurch ab, daß sie rein visuell präsentiert wird. Während Wilhelm die Komödie von >David und Goliath< und Tassos >Das befreite Jerusalem« im Medium der mündlichen und schriftlichen Sprache rezipiert, muß er bei der Betrachtung des Gemäldes seinen imaginativen Sinn schärfen, um der auf der Farboberfläche verborgenen Geschichte nachspüren zu können. Dieses Nachspüren aber ist zugleich immer auch ein Erfinden. Im Vergleich mit sprachlich vermittelten Kunstwerken bietet die Hermeneutik der Bildwahrnehmung einen größeren subjektiven Deutungsspielraum. Denn die zum Bild erstarrte Geschichte ist aus ihrer Erstarrung nur dadurch zu befreien, daß Wilhelm kraft seiner Einbildung die Zeitdimension und die psychische Dimension über die Raumdimension des Bildes legt. Goethe nutzt die vom Bild ausgehende Nötigung zur produktiven Umformung in einer zwischen Innenwelt und Außenwelt sowie zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermittelnden Erzählung, um Wilhelms subjektive Bilddeutung als Manifestation seines Selbstverständnisses zu verdeutlichen.
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' Weiter gefuhrt wird die Analyse des Bildbezugs insbesondere im Kap. III, 4 der vorliegenden Arbeit.
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Indem Wilhelm seine persönliche Bildvorstellung als Erzählung verbalisiert, beleuchtet er mit dieser Versprachlichung des Nichtsprachlichen zugleich seine Subjektivität, die die Bildstatik in ein psycho-physisches Geschehen auflöst. So ist das Urteil über das Bild zugleich ein Urteil über Wilhelm, der das Bild zur Erzählung transponiert. Hinzu kommt, daß Wilhelms Dynamisierung der eingefrorenen Personenkonstellation des Bildes nur auf seiner Erinnerung an die Kindheitseindrücke basiert. Zwischen der optischen Bildbetrachtung und dem verbalen Bildkommentar liegt ein Zeitabstand von mehr als zwölf Jahren. Dies legt nahe, daß das damals Betrachtete und die damaligen Betrachtungseindrücke von dem jetzt Erinnerten differieren. Was Wilhelm dem Unbekannten über das Bild berichtet, ist also nicht nur die Vergegenwärtigung des früheren Bildeindrucks, es ist vor allem auch durch seinen gegenwärtigen subjektiven Standpunkt bestimmt. Wilhelms aktuelle Lebenssituation wirkt so entscheidend auf seine Darstellung der Geschichte vom kranken Königssohn ein, daß man den Eindruck gewinnt, Wilhelm spreche eigentlich weniger über Antiochus als vielmehr über sich selbst. Inwiefern Wilhelms Bildreminiszenzen auf sein Selbstbild verweisen, will ich nun im einzelnen nachweisen. Wenn Wilhelm - provoziert durch die sachkundige Bildkritik des Unbekannten — auf den Eindruck zu sprechen kommt, den das Bild einstmals auf ihn machte, so zeigt seine Wiedergabe des Bildsujets ein hohes Maß an selektiver Erinnerung und Abstraktionsgrad. Die Geschichte, »wie der kranke Königssohn sich über die Braut seines Vaters in Liebe verzehrt« (422), fokussiert und verallgemeinert Wilhelm so, daß er sich mit dem kranken Königssohn vorbehaltlos identifizieren kann. Dazu löst er die Konfliktlage der Bildgestalt aus dem konkreten Handlungszusammenhang und abstrahiert sie dahingehend, daß der fur den kranken Königssohn charakteristische Konflikt die ihm eigene Anschaulichkeit einbüßt: Wie jammerte mich, wie jammert mich noch ein Jüngling, der die süßen Triebe, das schönste Erbteil, das uns die Natur gab, in sich verschließen, und das Feuer, das ihn und andere erwärmen und beleben sollte, in seinem Busen verbergen muß, so daß sein Innerstes unter ungeheuren Schmerzen verzehrt wird. Wie bedaure ich die Unglückliche, die sich einem andern widmen soll, wenn ihr Herz schon den würdigen Gegenstand eines wahren und reinen Verlangens gefunden hat. (422f.)
Wenn Wilhelm das Dilemma des Antiochus zwischen familiärer Pflicht und erotischem Bedürfnis in einer Weise darstellt, die — in bezeichnender Abweichung von der literarischen Vorlage des Plutarch — die Aporie der Stratonike zwischen moralischer Pflicht als Ehefrau und emotioneller Zuneigung pointiert, so rückt er dabei die psychische Konfliktkonstellation des Königssohnes, die er im Akt der Identifikation als bestimmend erst produziert, in den Vordergrund und marginalisiert gleichzeitig den konkreten Problemhorizont der Königsfamilie, wie ihn Plutarch erzählt. Die drei an der Handlung beteiligten 60
Figuren werden unter diesem Vorzeichen reduziert. Es handelt sich nicht mehr um einen Königssohn, seinen Vater und dessen Braut, sondern um »ein[en] Jüngling« und »eine[n] andern«, dem sich »die Unglückliche« verpflichtet. Was es mit dieser Generalisierungstendenz auf sich hat, deutet der Unbekannte an: Wie für Kunstlaien charakteristisch, die »nur sich selbst und Ihre Neigung in den Kunstwerken« (423) sehen, habe auch Wilhelm das Bild zum Spiegel seiner Psyche gemacht — eine Kritik, deren auktorialer Gestus offensichtlich ist. Das Gemälde vom kranken Königssohn funktionalisiert Wilhelm in der Tat fur seinen Narzißmus, der die seinen Entwicklungsgang bestimmende Grundproblematik beleuchtet: den Vater-Sohn-Konflikt.44 Nicht von ungefähr heißt der Titel des Bildes der kranke Königs Wj« — der Prinz wird also vorrangig durch seine Familienrolle definiert. Und nicht von ungefähr wird das Bild gerade an jenem Abend zum ersten Mal im Roman thematisch, an dem Wilhelms erste Liebesbeziehung, die ihm als Vehikel zur Ablösung vom Elternhaus (vor allem vom Vater) diente, ihrem desaströsen Ende entgegeneilt. Schließlich kommt es auch nicht von ungefähr, daß Goethe Wilhelms Gespräch mit dem Unbekannten just am Schluß des ersten Buches stattfinden läßt. Wilhelms Bildreminiszenz verbindet nämlich die beiden aufeinander bezogenen Handlungsstränge des ersten Buches — seine Familien- und seine Liebesgeschichte — miteinander und reflektiert das Problem des Ubergangs von der Identität des Sohnes in die des Mannes. In dem einen Handlungsstrang des Bildes, in dem es um die Liebe eines Sohnes geht, der an die Stelle des Vaters treten will, konvergieren die familiäre und die erotische Sphäre, die Wilhelm bislang durch ein heimliches Doppelleben streng auseinanderhalten mußte. Zugleich verdeutlicht die selbstbezügliche Art, wie Wilhelm in seiner Bilderinnerung die beiden Sphären im Falle des kranken Königssohns miteinander kollidieren läßt, die psychische Problematik seines Doppellebens. Das Bild zeichnet sich durch eine Doppeldimensionalität der Figurenkonstellation aus. Familien- und Liebeskonstellation überlagern einander so, daß Solidaritäts- und Konkurrenzverhältnisse miteinander in Widerstreit geraten: Seleukos ist fürsorglicher Vater wie erotischer Nebenbuhler, Antiochus gehorsamer Sohn wie begehrender Nebenbuhler, was Stratonike in die Rolle der Mutter wie der Geliebten rückt. Antiochus begehrt als Nebenbuhler, was ihm als Sohn doch verboten ist. Er will der Mann sein, der den Vater aussticht, um seinen Platz einzunehmen. Hier ist man versucht, Wilhelms vollzogenen erotischen Emanzipationsversuch im Akt der bildlichen Selbstbespiegelung — wie 44
Im Vater-Sohn-Konflikt sieht Hans Dietrich Irmscher das gattungskonstitutive Merkmal für den Bildungsroman. H. D . Irmscher: Beobachtungen zum Problem der Selbstbestimmung im deutschen Bildungsroman am Beispiel von Goethes Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre*. In: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins. Bd. 86/87/88 (1982-84), S. 135—172. Eine profunde Analyse dieses fur den deutschen Entwicklungs- und Bildungsroman relevanten Motivs gibt Gerhard Kaiser: Gottfried Keller. Das gedichtete Leben. Frankfurt a.M. 1981. Siehe auch Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Stuttgart ^1980, S. 6 9 0 - 7 0 7 .
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in der Forschung zu den >Lehrjahren< des öfteren praktiziert — mit psychoanalytischem Instrumentarium zu analysieren. Der Odipus-Komplex drängt sich als Interpretament ja geradezu auf. Betont wird, daß Wilhelm seine Liebe zur Mutter in dem harmlosen Raum der ästhetischen Erfahrung verstohlen zum Ausdruck bringt. Doch diese Deutung greift mit Blick auf die pathetischen Vokabeln, mit denen Wilhelm die verzweifelte Lage des Antiochus skizziert, zu kurz. Denn diese gehen nicht im erotischen Bereich auf: Der Liebeskranke ist »ein Jüngling, der die süßen Triebe, das schönste Erbteil, das uns die Natur gab, in sich verschließen und das Feuer, das ihn und andere erwärmen und beleben sollte, in seinem Busen verbergen muß« (422f.). Auffällig ist, daß die Intensitätsworte wie »Trieb« und »Feuer« und deren semantisches Umfeld aus der Melina-Episode herüberreichen,45 die Wilhelm soeben erlebt hat. Als Wilhelm durch Melinas negatives Urteil über den Schauspielerstand in seinem Selbstentwurf irritiert wird, bekämpft er dies durch die forcierte Flucht nach vorne, indem er Melina die innere Berufung zum Theater ab-, sich selbst dagegen zuspricht. Dabei vergewissert er sich in einem Selbstgespräch seiner theatralischen Sendung mit den Worten: Er sei » mit einem Talente zu einem Talente geboren«, besitze von Natur aus den »innre[n] Trieb, die Lust, die Liebe« zum Theater (406), und »ein teilnehmendes Feuer« »wärmte« ihn dazu (407). Die Ubereinstimmung zwischen der Deutung der psychischen Befindlichkeit vom kranken Königssohn durch Wilhelm und dessen Selbstbildnis vom geborenen Schauspieler ist frappant. Einerseits färbt Wilhelm Antiochus' erotischen Konflikt ästhetisch ein, andererseits grundiert er seinen Drang zum Ästhetischen eigentümlich erotisch. Die diskursive Überblendung folgt aus der Vermengung von Wilhelms Bild-, Wirklichkeits- und Selbstdeutung. Er erblickt im kranken Königssohn »nur sich selbst«; in dessen Liebe erblickt er seine eigene »Neigung« zum Theater, da er die fiktionale Bildkonstellation mit seiner erotisch getönten Leidenschaft furs Theater überformt, für die er Worte aus dem Vokabular des erotischen Begehrens findet. Wilhelms Auslegung von Antiochus' Situation erweist sich
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Das emotionelle Konkurrenzverhältnis zwischen den gleichgeschlechtlichen Familienmitgliedern, von dem die Geschichte des kranken Königssohns handelt, liegt auch in der MelinaEpisode vor, und zwar in der sowohl verdoppelten (Vater/Stiefsohn, Tochter/Stiefmutter) wie auch spiegelverkehrten Form mit einer weiblichen Hauptgestalt: »der Vater, der seine Tochter gerne bei sich behalten hätte, haßte den jungen Menschen, weil seine Frau selbst ein Auge auf ihn geworfen hatte, und diese konnte in ihrer Stieftochter eine glücklichere Nebenbuhlerin nicht vor Augen leiden.« (409: Hervorhebung von mir) Zwar zeigt die Geschichte der mit einem Schauspieler durchgebrannten Bürgerstochter, die zuvor unter ihrer eifersüchtigen Stiefmutter leiden mußte, keine direkten Parallelen zur Bildhandlung auf, die der Geschichte inhärente Familienkonstellation sowie vertrackte Begehrensstruktur fließt jedoch über die zwischen ihnen vermittelnde Wahrnehmungsperspektive Wilhelms in seine Wiedergabe der Bildhandlung ein.
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als Selbstauslegung. Das reale, aber ins Fiktive transformierte Konfliktverhältnis ist doppelt codiert: Es handelt sich gleichermaßen um ein familieninternes und ein erotisches Beziehungsproblem. Zunächst zum Familienkonflikt. Genau wie Antiochus begehrt Wilhelm dasjenige, was ihm als Sohn verboten ist: das Mütterliche. Im Falle des Antiochus ist es die leibhafte Stiefmutter, bei Wilhelm jedoch das, was die Mutter symbolisch verkörpert: das Ästhetische. Hier wie dort fungiert der Vater als Realitätsprinzip und Verbotsinstanz.46 Wilhelms auffällige Fehldeutung, wonach auch Stratonike ein geheimes Verlangen nach dem Sohn ihres Mannes hege, verweist indes auf seine selbstbezogene Bildreminiszenz. Antiochus und Stratonike scheinen Wilhelm im Ausschluß des störenden Dritten ihre Liebe deshalb zu teilen, weil er selbst mit seiner Mutter jenseits des väterlichen Verbots die Neigung zum Theater teilt. In der Liebesbeziehung mit Mariane, in der Wilhelm das Mütterliche zu forcieren und das Väterliche zu verbannen sucht, sieht es in Wirklichkeit kaum anders aus. Daß sich Wilhelms erotisches Begehren im Medium der narrativen Bilderinnerung ästhetisiert, hat auch konkrete Gründe. Kurz vor dem Gespräch mit dem Unbekannten schöpft Wilhelm den Verdacht, Mariane sei ihm untreu. Werner teilt ihm das entsprechende Gerücht warnend mit. Wilhelm bemüht sich zwar, dieses Gerücht nachdrücklich abzuwehren. Doch ist »das schöne Bild Marianens [...] durch Werners Unfreundlichkeit in seiner Seele getrübt und beinahe entstellt« (414). Ihn quält die Möglichkeit, Mariane lasse sich wirklich von einem reichen Kaufmann aushalten. Die latente Unsicherheit Wilhelms, der ja in der Tat nichts Genaues über Marianes wahre Lebensumstände weiß, vermischt sich mit seinem Familienkonflikt und speist die psychischen Energien, die seine Bilderinnerung im Hinblick auf die Vaterinstanz negativ prägen. Denn das Väterliche und Ökonomische, von dem sich Wilhelm in seiner alternativen Lebenssphäre an der Seite der Schauspielerin befreit zu haben meinte, dringt aufgrund der hierfür günstigen Umstände erneut auf Wilhelm ein. Sein Nebenbuhler Norberg ist ja — genau wie sein Vater — ein reicher Kaufmann. 47 So wehrt Wilhelm in der negativen
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Vgl. hierzu Ulrich Stadler: »Wie der Königssohn auf dem Bilde fühlt sich auch der Romanheld in seiner Selbstentfaltung behindert und auf sein Inneres zurückgeworfen. [...] Und daß hier wie dort der mächtige Vater von Anfang an dem Sohn im Wege steht, ist gleichfalls nicht zu übersehen.« U. Stadler: Wilhelm Meisters unterlassene Revolte, S. 3 6 3 . Per 0hrgaard betrachtet zurecht Norberg mit Blick auf seine soziale Position gleichsam als personelle Privation von Wilhelms Selbstentwurf und zugleich als funktionalen Teil dieses Identitätskonzepts: »Und am machtvollsten verkörpert sich die etablierte, erwachsene, bürgerliche Welt in der Gestalt von Wilhelms Nebenbuhler Norberg, »ein junger reicher Kaufmanns der für all das steht, was Wilhelm sich zu werden weigert. Norberg ist Ausdruck einer Spaltung in Wilhelm selbst: dadurch, daß seine Kunstleidenschaft narzißtisch wird, überläßt sie die Wirklichkeit anderen, und der Schluß des ersten Buches illustriert, in wie hohem Maße Norberg eine Funktion von Wilhelm selbst ist.« P. 0hrgaard: Die Genesung des Narcissus. Eine Studie zu Goethe: >Wilhelm Meisters Lehrjahren Kopenhagen Γ 9 7 8 , S. 5 3 .
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Besetzung der Vatergestalt des Bildes auch die drohende Liebesenttäuschung ab und will sich allzu gerne davon überzeugen, daß sich Mariane seinem kaufmännischen Nebenbuhler allein aus finanziellen Interessen widmet, obwohl »ihr Herz schon den würdigen Gegenstand eines wahren und reinen Verlangens gefunden hat«. (423) Es ist daher nur konsequent, daß sich Wilhelms familiärer und sein erotischer Beziehungskonflikt in seiner ästhetischen Identifikation mit dem kranken Königssohn reibungslos miteinander verbinden. Sowohl in der Familie als auch in der Liebesbeziehung verkörpert das Männliche das Ökonomische und das Weibliche das Ästhetische. Wenn man bedenkt, daß Mariane, wie oben bereits ausgeführt, für Wilhelm von Anfang an die mütterliche Geliebte oder die zur Geliebten gewordene Mutter darstellt, so wird verständlich, was ihm die Identifizierung gerade mit der Figur des Antiochus nahelegt. Dessen Leidenschaft nämlich gilt Stratonike, die — und dies ist hier von besonderer Brisanz - sowohl Mutter als auch Geliebte ist. In der Stiefmutter des Antiochus sieht Wilhelm daher die Personalunion von Ästhetischem und Erotischem präformiert, die ihm eine leichte Aneignung gestattet. In der fiktionalen Gestalt der Stiefmutter Stratonike konvergieren Wilhelms Mutter und seine Geliebte Mariane, was in Wilhelms narrativer Bildreminiszenz zu einer signifikanten personellen Verdichtung führt. Darüber hinaus korrespondiert Antiochus' Dilemma zwischen Sohnespflicht und erotischem Wunsch bestens mit Wilhelms gegenwärtiger Aporie zwischen dem väterlichen Lebenskonzept und seinem eigenen Selbstentwurf, der von der Mutter inauguriert und von seiner Geliebten praktiziert wird. Leidet Antiochus heimlich an seiner Liebe zur Stiefmutter, so muß auch Wilhelm seine Beziehung zu Mariane vor dem Vater geheimhalten, da er sich vor einem offenen Konflikt und der direkten Auseinandersetzung mit dem Vater furchtet. In dieser Hinsicht artikuliert das Bild kein primär erotisches Dilemma, es liefert vor allem auf der Folie dieses Dilemmas ein Bild der Situation dessen, der sein eigenes, sich über seine Leidenschaften definierendes Ich nicht auszuleben vermag. Für Wilhelm ist dies die von ihm empfundene theatralische Sendung, die sich — entsprechend den seinem Alter Ego Antiochus zugeschriebenen »süßen Triebe [n]« (422) und dessen »Feuer« (423) - in seinem »Trieb, d[er] Lust, d[er] Liebe« (406) und dem »Feuer« (407) zum Theater äußert und ihm vom Vater verwehrt wird. Die Bildreminiszenz fungiert als Schauplatz von Wilhelms Dilemmata. Dabei werden aber nicht nur die psychischen Konflikte, die sich in der Wirklichkeit einer Lösung widersetzen, auf die Leinwand projiziert.48 Wilhelms Bildrezep-
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Wenn Wilhelm sich nobilitiert fühlt, indem er sich mit einer prinzlichen Leinwandfigur identifiziert, so wird diese Tendenz zur Selbststilisierung bereits vom Erzähler ironisch entlarvt. Schon »in den Knabenjahren [wußte er], sein Zimmer, das er als sein kleines Reich ansah,
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tion und -kommentar verdanken sich auch zwei unterschiedlichen ästhetischen Deutungsleistungen: In Wilhelms subjektiver Beschreibung der Lage des kranken Königssohns dokumentiert sich einerseits sein eigenes Lebensverhältnis, das im Hinblick auf den Vaterkomplex ja schon längst ausgelegt ist und jetzt auf die fiktionale Situation nur transformiert wird. Andererseits abstrahiert W i l h e l m aber auch die fiktive H a n d l u n g bis zur Unkenntlichkeit, indem er die spezifische Lage Antiochus' so weit wie irgend möglich in die N ä h e seiner eigenen Konfliktsituation rückt. Wilhelm beschränkt sich in seinem identifikatorischen Bezug auf Antiochus — dies ist für meine weitere Untersuchung festzuhalten — lediglich darauf, das Siechtum des Liebeskranken und dessen aporetische Lage zu konstatieren. 49 D a ß die naturgegebenen Leidenschaften aus der Potenz zur Entfaltung gebracht werden können, und dies im weiteren Verlauf der Geschichte Antiochus' auch geschieht, bleibt für ihn außer Betracht. Das identitätsstiftende M o m e n t ist für ihn allein der Zustand melancholischer Innerlichkeit. Daß die Heilungsdimension des kranken Königssohns Wilhelms selektivem Identifikationsdrang mit einem aussichtslosen Fall der Melancholie nicht gemäß ist, verdeutlicht auch der weitere Verlauf des Gesprächs mit dem Unbekannten. A u s Wilhelms Sicht, die durch sein Providenzdenken getrübt ist, gilt der Verkauf der großväterlichen Kunstsammlung als Zeichen für die F ü g u n g des Schicksals. Z w a r trau-
stattlich auszustaffieren. Seine Bettvorhänge waren in große Falten aufgezogen und mit Quasten befestigt, wie man Thronen vorzustellen pflegt, er hatte sich einen Teppich in die Mitte des Zimmers, und einen feinern auf den Tisch anzuschaffen gewußt, seine Bücher und Gerätschaften legte und stellte er fast mechanisch so, daß ein niederländischer Maler gute Gruppen zu seinen Still-Leben hätte herausnehmen können. Eine weiße Mütze hatte er wie einen Turban zurecht gebunden, und die Ärmel seines Schlafrocks nach orientalischen Kostüme kurz stutzen lassen. Doch gab er hiervon die Ursache an, dal? die langen weiten Ärmel ihn im Schreiben hinderten. Wenn er Abends ganz allein war, und nicht mehr furchten durfte, gestört zu werden, trug er gewöhnlich eine seidene Schärpe um den Leib, und er soll manchmal einen Dolch, den er sich aus einer alten Rüstkammer zugeeignet, in den Gürtel gesteckt, und so die ihm zugeteilten tragischen Rollen memoriert und probiert, ja in eben dem Sinne sein Gebet kniend auf dem Teppich verrichtet haben.« (410) Wilhelms schauspielerische Übung in seinen »Knabenjahren« in zwar nicht genau festzulegenden, doch mit einem »Thron« assoziierten »tragischen Rollen« in der durchweg »orientalisch« arrangierten Umgebung eines an eine Leinwand erinnernden »Still-Lebens« steht — so meine Deutung - in einem Zusammenhang mit seinem Lieblingsbild, dem Gemälde vom kranken Königssohn. Liest man das erste Buch einmal vom Ende zum Anfang, so könnte die verstohlene Schauspielübung als ein infantiles Rollenstudium Wilhelms entziffert werden. 49
Irmgard Egger betont Wilhelms verengte Bildwahrnehmung, indem sie sich auf das Gemälde von Janus Zick als Bildvorlage bezieht: »nicht der Augenblick der bevorstehenden Heilung wird fur ihn zum kairds des Bildes, sondern jener des Leidens. Zwei entscheidende Zeichen prägen die Szene, zwei signa im Sinne der Medizin bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, wobei Meister das erste, das diagnostische Zeichen richtig liest: die ärztliche Hand am Puls des Kranken als Indiz des Herzleidens. Das zweite — prognostische — Zeichen hingegen, den ausgestreckten Zeigefinger des Arztes in Richtung der errötenden Braut, liest er wieder nur diagnostisch und damit falsch.« I. Egger: Eikones. Zur Inszenierung der Bilder in Goethes Romanen. In: Goethe-Jahrbuch 118 (2001), S. 260-273, bes. S. 272f.
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ert er unverändert dem Verlust des Gemäldes nach, »wenn ich aber bedenke, daß es gleichsam so sein mußte, um eine Liebhaberei, um ein Talent in mir zu entwickeln, die weit mehr auf mein Leben wirken sollten, als jene leblosen Bilder je getan hätten; so bescheide ich mich denn gern, und verehre das Schicksal das mein Bestes und eines jeden Bestes einzuleiten weiß« (423: Hervorhebung von mir).50 Im Hinblick darauf, daß Wilhelm die Leiden des kranken Königssohnes in der verhinderten Entfaltung des »schönste [n] Erbteil [s], das uns die Natur gab«, gegründet sieht, erhält seine auf den Schicks aisbegriff bezogene Deutung des Verkaufs des Bildes besondere Relevanz. Er mußte das Bild, das — aus seiner beschränkten Sicht — allein der Aporie, nicht aber deren Auflösung Ausdruck verleiht, verlieren, um seine theatralische Sendung verwirklichen zu können. Für Wilhelm ist das Bild nicht nur abstrakt im Bezug auf die Eigentümlichkeit eines szenisch fixierenden Mediums, der Malerei, als »leblos« zu bezeichnen. Es fixiert vor allem das melancholische Siechtum des kranken Königssohns in dessen hoffnungsloser Stagnation. 5 ' So deutet Wilhelm den Verlust des die Aporie fixierenden Bildes als einen Gewinn an Entfaltungsraum seiner theatralischen Sendung.
s
° Z u m biographischen Bezug von Wilhelms Schicksalsglauben zu dem des jungen Goethe siehe Hermann Schmitz: Goethes AJtersdenken im problemgeschichtlichen Zusammenhang. Bonn 1959, S. 6ff. 51 Nach Erika Nolan gewährt das im ersten Buch eingeführte Bild vom kranken Königssohn dem Leser der >Lehrjahre< gleichsam einen Wissensvorsprung gegenüber der subjektiv eingeschränkten Sicht Wilhelms, indem es das Entsagungsmotiv der >Wanderjahre< vorwegnimmt: »Wilhelm sieht sich als den kranken Königssohn, der Leser hingegen ahnt, daß es die Figur des Seleukos ist, in der Wilhelms Lebensaufgabe verkörpert ist, nämlich, selbst ein Entsagender zu werden.« E. Nolan: Wilhelm Meisters Lieblingsbild. Der kranke Königssohn. Quelle und Funktion. In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1979, S. 132—152, hier S. 142.
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II. In der Zeichenwelt der Vorsehung
i.
D i e Schleiersymbolik
Neben dem im Roman immer wiederkehrenden Bildmotiv vom kranken Königssohn, das Wilhelms psychische Problemlage spiegelt, gibt es das Dingsymbol des Schleiers, das die dem Entwicklungsgang des Protagonisten inhärente Grundproblematik verdeutlicht. Zwar vermag das Bildmotiv vom kranken Königssohn Wilhelms Konflikt mit seinem Vater im Prozeß der Identitätssuche anschaulich zu kommentieren. Doch geht die Funktion des Bildmotivs über diesen deskriptiven Rahmen nicht weit hinaus - abgesehen vom Schluß des Romans, wo es zum ersten Mal handlungsstiftend wird. Das Schleiermotiv hingegen deckt nicht nur Wilhelms jeweilige psychische Disposition auf, sondern spielt auch fur Entstehung, Eskalation und Aufhebung des Vater-SohnKonflikts eine geradezu bestimmende Rolle. Denn der Schleier ist - anders als das Gemälde vom kranken Königssohn — kein subjektiv handhabbares Assoziationsmedium, über das Wilhelm frei verfügen kann. Zwar verortet Wilhelm den Schleier anfangs in seinem persönlichen Imaginationsbereich, doch entzieht sich dieser zunehmend seiner subjektiven Sinnprojektion und beginnt, Wilhelms verdeckte Identitätskonflikte zu forcieren und letztlich einer ironisch gebrochenen Lösung zuzuführen. Dieser Bedeutungs- und Funktionswandel des Schleiers nimmt seinen Ausgang in dem Moment, in dem Wilhelm zum ersten Mal in seinem Leben mit dem Theater in Kontakt kommt: Als Kind nimmt Wilhelm den Theatervorhang, hinter dem sein erstes Puppenspiel als Faszinosum verborgen ist, als einen »mystische [n] Schleier« (368) wahr. Aus dem mystischen Theatervorhang, der in Wilhelms Kindheit auf die Geheimnisse des Ästhetischen jenseits der profanen Wirklichkeit verweist, wird ein Attribut des Lyrischen, mit dem die poetische Muse aus Wilhelms Jugendgedicht »Jüngling am Scheideweg« dessen Berufung zum Ästhetischen signalisiert, um sich schließlich über drei weitere Stationen (den Uberrock der Amazone, den grauen Schleier des Geistes von Hamlets Vater und den Schleier, der Mignons Leiche bedeckt) in einen Appell zu verwandeln,1 der erwachsene Wilhelm solle die ästhetische
1
Goethes Aussage gegenüber Kanzler Friedrich von Müller, »daß der ganze Roman durchaus symbolisch sei, daß hinter den vorgeschobenen Personen durchaus etwas Allgemeineres, Höheres verborgen liege« (FA 36, S. 143) kommt hinsichtlich des Sachverhalts, daß die einzelnen Statio-
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Sphäre endgültig verlassen. Der Schleier ist fur Wilhelm ein äußerst irritierendes Dingsymbol, das seinen theatralischen Selbstentwurf einerseits entfacht und schicksalssemantisch kodiert, andererseits aber auch rigide desavouiert. Der in Kindheit und Jugend Orientierung stiftende und Ziel setzende halbtransparente Stoff führt den Erwachsenen zu gravierender Desorientierung und Ziellosigkeit. Wilhelms Identitätskrise kulminiert konsequent gerade in dem Moment, in welchem sich die schicksalhafte Botschaft des Schleiers ins Gegenteilige verwandelt. Ihren Abschluß findet die Symbolkette des Schleiers schließlich im Kontext der Exequien Mignons, mit denen auch die ästhetische Lebensform zu Grabe getragen wird. In meiner Untersuchung der >Lehrjahre< nimmt die Analyse der Schleiersymbolik eine zentrale Stellung ein, da sie mit der für Wilhelms Identitätsbildung fundamentalen Vater-Sohn-Problematik verquickt ist. Dies zeigt sich schon daran, daß der Schleier, der ursprünglich mütterlich und weiblich konnotiert war - der mystische Vorhang des Puppentheaters und der goldene Schleier der mütterlich konzipierten Muse des Ästhetischen —, im Moment von Wilhelms entscheidender Identitätskrise zum Sprachrohr der patriarchalisch bestimmten Turmgesellschaft wird. So begleitet der Schleier Wilhelms Weg aus der väterlich-ökonomischen Welt in die weiblich-ästhetische, um ihn am Ende in die sozial-utilitaristische Welt zu weisen — mit allen psychischen Kosten, die Wilhelms Lebenslauf mit seinen Desillusionierungen erzeugt. Dabei ist der graue Schleier, der die Übergangsetappe weg vom Theater und hin zur Turmgesellschaft markiert, nicht nur Reliquie einer fiktiven Vatergestalt, nämlich des Geistes von Hamlets Vater, er läßt auch den ökonomischen Geist von Wilhelms realem Vater auferstehen, der schon immer gegen das Ästhetische opponiert hatte. Die Inschrift des Schleiers »Flieh! Jüngling, fliehk (697) diskreditiert Wilhelms theatralischen Selbstentwurf so sehr, daß er sich schließlich dem verbindlichen Lebenskonzept einer Verantwortung für seinen Sohn Felix beugt und sich der von der Turmgesellschaft repräsentierten utilitaristischen Existenzform verschreibt — wenigstens dem Anspruch nach, wenn auch die Durchführung so manches ironisches Schlaglicht auf ihn wirft. In der bisherigen Forschung zu den >Lehrjahren< fand die Schleiersymbolik trotz ihrer immensen Bedeutsamkeit keine hinreichende Beachtung.1 Nicht
1
nen der Schleiersymbolik in Verbindung mit unterschiedlichen Romanfiguren, die abwechselnd an die Stelle der Muse des Ästhetischen treten - Mariane, Philine, der Geist von Hamlets Vater, Natalie und schließlich Mignon —, entfaltet werden, eine signifikante Bedeutung zu. Z u m Thema des Schleiermotivs gibt es bislang drei wichtige Studien. Wilhelm Emrich untersucht die Symbolik insbesondere im Hinblick auf >Faust IILehrjahreFaust IILehrjahren< speist. Durch die Beziehung zur Schauspielerin Mariane erhält der junge Wilhelm Einblick hinter die Kulissen: Die Werkzeuge menschlicher Reinheit, als Kämme, Seife, Tücher und Pomade waren mit den Spuren ihrer Bestimmung gleichfalls nicht versteckt. Musik, Rollen und Schuhe, Wäsche und italienische Blumen, Etuis, Haarnadeln, Schminktöpfchen und Bänder, Bücher und Strohhüte, keines verschmähte die Nachbarschaft des andern, alle waren durch ein gemeinschaftliches Element, durch Puder und Staub, vereinigt. (411)
Mit dieser detaillierten Aufzählung der vielfältigen Hilfsmittel und Requisiten des Theaters weist der Erzähler auf deren große Bedeutung fiir Wilhelm hin, der die >intime< Atmosphäre hinter der Bühne als Faszinosum wahrnimmt. Das Schleiermotiv wird hier in zweifacher Hinsicht thematisiert. Zum einen zählt der Schleier mitsamt den »Tüchern« und »Bändern« zu den Requisiten. Da Puder und Staub wie ein Schleier wirken, stehen sie zum andern in einer metonymischen Verbindung zum Schleiermotiv. Diese Beobachtung provoziert dazu, die konnotative Symbolebene des Schleiers näher zu betrachten: Durch seine materielle Beschaffenheit bedeckt er das Haupt oder den Körper mit einem zart gespannten Netz, d.h. er verschleiere die Person oder den Gegenstand. Durch den Schleier verschwimmt gleichsam die Rezeption der Realität. Die Grenzen zwischen Sein und Schein gehen fließend ineinander über, so daß das Verschleierte zu einem mystischen Wesen werden kann, das sich nicht eindeutig identifizieren läßt. Eben durch die Tatsache, daß der halbdurchsichtige Flor die wahre Identität einer Person verdecken kann, wird der Schleier als Theaterrequisit unentbehrlich: Er verschleiert die Identität des Schauspielers und >enigmatisiert< ihn dadurch. (Auf diese Wirkung des Schleiers wird am Beispiel des Geistes von Hamlets Vater später einzugehen sein.) Nicht nur die Wahrnehmung dessen, der sich einer verschleierten Person oder einem verschleierten Gegenstand gegenübersieht, auch die Wahrnehmung des Verschleierten selbst wird durch den Schleier eingeschränkt oder gar verhindert. Die Welt wird nur mehr durch das Netz des Schleiers wahrgenommen und beurteilt, was eine zunehmende Subjektivierung der Sicht in Form von Vernebelung zur Folge hat. In dieser Hinsicht assoziiert
durch einander gegenüber gestellte und sich gleichsam in einander abspiegelnde Gebilde den geheimeren Sinn dem Aufmerkenden zu offenbaren.« (FA 10, S. 548)
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sich das Schleiermotiv mit der Nebelmetaphorik, wie etwa dem »glücklichen Nebel« (411) und dem »Gemälde auf Nebelgrund« (386). Explizit taucht der Ausdruck »Schleier« im Roman zum ersten Mal mit Wilhelms Erinnerung an sein erstes Erlebnis des Puppentheaters auf. Der Theatervorhang des Puppenspiels ist Wilhelm als ein »mystische[r] Schleier« (368) im Gedächtnis geblieben, was erstaunlich ist, da doch der Vorhang gerade kein Schleier sein soll, der halbtransparent das Verborgene zugleich als Verheißung suggeriert und so das Begehren durch das aufgeschobene Versprechen der Entblößung steigert. Betrachten wir die entsprechende Szene genauer: Zum Empfang des Weihnachtsgeschenks seiner Mutter wird Wilhelm zusammen mit anderen Kindern vor die Tür gefuhrt. Im Eingang zu einem Zimmer »baute sich ein Portal in die Höhe, das von einem mystischen Vorhang verdeckt war. Erst standen wir alle von ferne, und wie unsre Neugierde größer ward, um zu sehen was wohl blinkendes und rasselndes sich hinter der halb durchsichtigen Hülle verbergen möchte, wies man jedem sein Stühlchen an und gebot uns in Geduld zu warten« (363). Warum nun der Vorhang als Schleier? Was auf der Handlungsebene des Romans als Zufall erscheinen mag - die Mutter hatte vielleicht keinen undurchsichtigen Stoff zur Hand —, ist auf der Ebene der Autorintention wohl motiviert. Es geht um die Psychogenese von Wilhelms Theaterenthusiasmus. Der Blick des auf das Geschenk gespannten Wilhelm kann den Bühnenvorhang zwar nicht durchdringen. Doch bedeckt der halb transparente Stoff des Vorhangs das hinter ihm Verborgene auch nur halb. Dieses teils Verhüllte und teils Enthüllte steigert die kindliche Neugierde um so mehr. Es ist gerade dieses halbe Geheimnis, das Wilhelm anzieht. Es dient ihm als Nährboden der Phantasie. Zwar weiß Wilhelm, daßetwas hinter dem Vorhang ist. Was dieses nun aber ist, entzieht sich einer klaren Identifizierung. Die Neugierde fahndet nur mit Hilfe von vagen Ahnungen nach einem fixierbaren Gegenstand, wobei der Wert dessen, was hinter dem Schleier vermutet wird, währenddessen immer mehr steigt. Wenn sich der Vorhang schließlich hebt und das Puppenspiel beginnt, ist Wilhelms Einbildungskraft bereits derart produktiv stimuliert, daß das nun stattfindende Ereignis auf ihn notwendig einen tiefen Eindruck machen muß. Wilhelms minutiöse Wiedergabe der ersten Puppentheaterauffiihrung ist hierfür ein deutliches Indiz. Der nicht von ungefähr »mystisch« genannte Schleier, der doch ein Entrükkungserlebnis inszeniert, begründet Wilhelms Affinität zum Theater; zugleich aber konterkariert er sie ironisch, da hierdurch Wilhelms Weg der phantasieproduzierten Realitätsverkennung eröffnet wird. Was Wilhelm so anzieht, ist eine halbdurchsichtige Utopie, die zwar erahnt werden kann, sich jedoch nicht eindeutig identifizieren läßt. Ihre vollständige Sichtbar- und Wahrnehmbarkeit würde den Schwärmer aus den Schranken seiner Tagträume und Phantasien weisen. Die vollzogene Identifizierung eines gewissen Gegenstandes ließe der Phantasie nicht den erforderlichen Freiraum. Das Nicht-Konkrete und — zumindest noch — Unbekannte wirkt stets verheißungsvoller als das Fixierte
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und Identifizierte. Das, was sich einer festen Zuordnung entzieht, gestattet eine größere Aktivität an subjektiver Deutung und Einbildung, es nötigt sogar zu dieser. Doch ist die überschwengliche Phantasie mit der Gefahr verbunden, die Wirklichkeit gänzlich zu verkennen. Der Schein eines halb Verborgenen kann das Wahrnehmungssubjekt über sein wirkliches Sein und die Bedingtheit des Lebens hinwegtäuschen.4 Wilhelm, der sich in der Folge der Welt des Ästhetischen verschreibt, affirmiert die Welt des Scheins, deren Existenzgrund in der Täuschung des Publikums besteht. Doch bevor sich Wilhelm als Schauspieler offenkundig in die Welt des Als-Ob begibt, um in bewußter Scheinerzeugung das Theaterpublikum zu faszinieren, ist er bereits einer Selbsttäuschung erlegen. Er verkennt nicht nur sich, sondern auch seine Realität und seine Mitmenschen. Der Schleier, der einst die Bühne des Puppentheaters verdeckte, verschleiert auch den Blick des Theaterenthusiasten. Wenn sich Wilhelm in den Armen der zur Muse des Ästhetischen verklärten Mariane als Gründer eines künftigen Nationaltheaters imaginiert, so schafft er »ein Gemälde auf Nebelgrund, dessen Gestalten freilich sehr in einander flössen; dafür aber auch das Ganze eine desto reizendere Wirkung tat« (386f.). Wilhelms Liebesbeziehung zu Mariane, die ihm als inaugurierte Muse die Identität eines zum Ästhetischen Berufenen verleiht, ist bis zum bitteren Ende »durch den glücklichen Nebel« (411) umgeben. Von Beginn an steht so die Nebelmetaphorik in metonymischer Verbindung mit der Schleiersymbolik.
3. D e r goldene Schleier Der Schleier, der die Differenz zwischen Sein und Schein kaschiert, indem die durch ihn stimulierte Phantasie die klare Grenzziehung aufhebt, erzeugt die gespaltene Realitätsrezeption Wilhelms, der zwischen Wirklichkeitswahrnehmung und illusionärer Wunschprojektion oszilliert. Er imaginiert sich in seinem Selbstvergewisserungsgedicht in die fiktive Rolle als Jüngling am
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Vgl. Patricia Oster: Der Schleier im Text, S. 9: »Der Schleier ist im elementaren Sinne eine Anschauungsform. Der Blick auf den Gegenstand bricht sich an dem Widerstand seiner Textur und erschafft ein Bild aus Wahrnehmung, Wahrnehmungsirritationen und imaginären Supplementen der entzogenen Wahrnehmung. Daraus geht ein Faszinosum hervor, das schon immer die erotische und religiöse Bildphantasie beschäftigte. Besteht das erotische Faszinosum des weiblichen Schleiers in dem Akt des Verhüllens, der es der Imagination erlaubt, Bilder hinter den Schleier zu projizieren, so materialisiert sich im religiösen Schleier das Geheimnis als sinnlicher Hinweis auf die verborgene Gottheit. Dieser Bewegung der Geheimnis bewahrenden und die Imagination anregenden Verhüllung entspricht eine aufklärerische Bewegung der Enthüllung, bei der Entschleierung als emphatischer Akt der Gewinnung der >nackten Wahrheit< selbst erscheint. Der Schleier wird so nicht als ein die Imagination stimulierendes Gewebe, sondern einzig als zu entfernender, den Blick verstellender Widerstand erfahren.«
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Scheideweg, der »den goldnen Schleier« (384) von der Muse der Kunst erhält.5 Das Geschenk des Schleiers durch die Muse stellt für Wilhelm einen Akt der Auserwählung und Bindung dar. Wilhelm vollzieht durch das von ihm selbst geschriebene Gedicht die elitäre Erwählung seiner selbst und setzt damit den Grundstein für seine narzißtische Ich-Nobilitierung, die ihm letztlich als Rechtfertigung seiner Theaterleidenschaft dient. Der nüchterne Blick auf die Welt ist damit für lange Zeit suspendiert. Denn Wilhelm sieht sich nur noch partiell als Mitglied der >bürgerlichen< Gesellschaft, die sein Vater repräsentiert. Vornehmlich versteht er sich als Schützling einer ästhetischen Sphäre, die die Muse inauguriert hat. Fast wie Münchhausen zieht er sich am Schöpf seines eigenen Gedichts aus dem Sumpf der ökonomischen Welt und rettet sich in die vermeintlich >höhere< Sphäre der »tragischen Dichtkunst« (383). Mit ihrem verschleierten Blick nimmt er von nun an seine Umwelt und seine Mitmenschen wahr. Damit verstärkt sich die Sichtweise, die ihm durch das Theater schon als Kind vermittelt wurde. Die Verschleierung des Raumes, der Trug einer anderen Wirklichkeit wird durch das ambivalente Geschenk der Muse zur habituellen, durch und durch theatralisch geprägten Sicht Wilhelms. Damit erhält der Schleier in seiner weiteren motivischen Verwendung einen spezifischen Stellenwert, der zugleich das theatralisch bestimmte subjektive Wirklichkeitsmuster Wilhelms erweitert. Wilhelms »Jüngling am Scheideweg« läßt an Goethes Gedicht >Zueignung< denken. Im Vergleich mit seiner fiktiven Romangestalt Wilhelm hat Goethe in seinem >eigenen< Gedicht, mit dem er seine Werke einleitete, das Verhältnis von Muse und lyrischem Ich kritisch bestimmt. Während sich das lyrische Ich, wie schon Wilhelm in seinem Gedicht, die Rolle eines Auserwählten anmaßt, der das Geheimnis der Wahrheit auch seinem dankbaren Publikum mitteilen will, wirft ihm die als »göttlich« bezeichnete Muse einen bloß mitleidigen Blick zu und apostrophiert ihn ironisch als einen »Ubermenschen«. Die vielzitierten Verse »Dem Glücklichen kann es an nichts gebrechen, / Der dies Geschenk mit stiller Seele nimmt; / Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit, / Der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit« mögen den Eindruck erwecken, als würde die Dichtung hier als privilegierte Vermittlerin der Wahrheit aufgefaßt. 6 Doch sprechen die beiden letzten Strophen eine
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Die Verbindung des Schleiermotivs mit der Poesie wird ebenfalls am Ende des dritten Aktes von >Faust II< gestiftet. Nachdem Euphorion gestürzt ist, entschwindet auch Helena in die Unterwelt. Bezeichnend ist hier die entsprechende Regieanweisung: »Sie umarmt Faust, das Körperliche verschwindet, Kleid und Schleier bleiben ihm in den Armen« (FA 7/1, S. 384). Hier ist der verbleibende Schleier Symbol fiir Helena als Poesiegestalt, die der Imagination Fausts entsprungen war. 6 So versteht Wilhelm Emrich in seiner Interpretation von >Zueignung< den Schleier als Symbol der Wahrheit: »Entscheidend und überraschend an diesem Urbild des Schleiers ist, daß seine ursprüngliche Funktion, das Verschleiern und Verhüllen, nicht mehr in erster Linie gemeint ist. [...] Er klärt auf, erhellt, macht das Verworren-Nebulose transparent. Er ist primär nicht
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ganz andere Sprache: Der Dichtungsschleier dient nicht zur Enthüllung der Wahrheit, sondern vielmehr dazu, die widrige Wirklichkeit erträglicher und auf angenehmere Weise erfahrbar zu machen. Dichtung wird zum schönen Schein, der die Wirklichkeit nicht zeigt, wie sie ist, sondern die »Gruft« verklärend zum »Wolkenbette« wandelt. 7 Was Goethe in seinem Gedicht als Programm klassizistischer Dezenz- und Abdämpfungsgebote gestaltet, taucht sein Roman in ein kritisches Licht: Die Verkennung der Wirklichkeit durch die Poesie. Wilhelm ist hier Täter und Opfer zugleich; Täter, indem er sich den schönen Schein der Dichtkunst imaginiert und Opfer, weil er sich in der Folge häufig von seinen eigenen Trugbildern täuschen läßt. Durchgängig ist das Theatralische mit dem Erotischen assoziiert. Auf der Symbolebene stiftet der Schleier diesen Zusammenhang, den auf der Realebene Mariane repräsentiert. Der Schleier ist ein weibliches Kleidungsstück, das sich von den Männerkleidern vieler im Roman auftretenden Frauengestalten deutlich abhebt. Er ist Träger erotischer Signale, die sich dem Spiel von Enthüllen und Verbergen verdanken, indem er die Grenze zwischen Sein und Schein unscharf werden läßt. Das feine Gewebe des Schleiers hat direkten Hautkontakt, es umhüllt den Körper, ohne ihn jedoch ganz zu verbergen, und bildet so die halb lockende, halb verbietende Grenze zum begehrten Anderen. Die Muse des Gedichts erhält daher auch eine erotische Ausstrahlung, da sie dem Jüngling, um dessen Nacktheit zu bedecken, ihren Schleier zuwirft und gleichzeitig sich selbst entblößt. In einer geschlechtsspezifischen Analyse übernimmt der Schleier damit auch die Funktion eines Verbindungssymbols zwischen Liebenden, er kann ein >Band< sein, das zwei Menschen symbolisch zusammenhält. Als letzte Konsequenz schließlich drängt sich hier die Vorstellung eines Hochzeitsschleiers auf.8 Wenn sich Wilhelm seine künftige Hochzeit mit Mariane ausmalt, so stellt er sich diese wie eine Theaterauffuhrung vor: Die Braut tritt vor die Vorhänge der Bühne — die Kindheitserinnerungen vom ersten Puppenspiel mit seinem »mystischen Vorhang« (363) verbinden sich mit den Erlebnissen von Marianes Bühnenexistenz und evozieren das Phantasma einer neuen Schöpfung der inneren und der äußeren Welt:
Verhüllung der Wahrheit, sondern ihre Erschließung im Bild und sinnlichen Schein.« W . Emrich: Die Symbolik von >Faust IIAufftjhrung< hat einen solipsistischen Charakter, insofern sie vornehmlich Wilhelms Berauschung dient. Wie bei den jugendlichen Theaterexperimenten, von denen er Mariane selbstkritisch berichtet, setzt Wilhelm sich an die Stelle des Haupthelden - und vergißt darüber seine Mitspieler.« F. Marx: Erlesene Helden, S. 168.
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meine Blöße bedeckte.—« (384) Die Entdeckung des Zettels konterkariert dann jedoch in schärfstem Kontrast sein Verlangen, in sich den Enthusiasmus der Liebe und des Theaters mittels des Halstuchs abermals als vergewisserte Wirklichkeit aufzurufen. Die auf dem Zettel übermittelte Botschaft von Marianes kaufmännischem Liebhaber zerstört dieses Konstrukt. Wilhelms psychische Existenz erfährt eine eklatante Zäsur, fast schon einen Riß, der sich als lang andauernde psycho-physische Erkrankung manifestiert, über die der Roman zwar mit wenigen Zeilen hinweggeht, die aber Wilhelm an die Grenze seines Lebens bringt. Nicht zum ersten Mal, aber zum ersten Mal mit der vollen Vehemenz des Scheiterns, muß er erleben, daß sich sein ästhetischer Traum als verfehlte Phantasmagorie erwiesen hat. Aus ihm wird er tief enttäuscht erwachen, um nach langer Genesungszeit in die Welt der Ökonomie, konkret der täglichen Arbeit im Kontor seines Vaters, zurückzukehren. Das Motiv des Schleiers signalisiert dieses Geschehen auf der Ebene durchlaufender Dingsymbole. Zunächst entzieht der »mystische Schleier« (386) des Puppenspiels Wilhelm den realen Familienverhältnissen. Als dann der Zwang zur Ökonomie an ihn herangetragen wird, projiziert er die daraus resultierende Problematik auf das poetische Geschehen im »Jüngling am Scheideweg«. Die dort vollzogene Spaltung von Ökonomie und Poesie überträgt er auf seine reale Liebesbeziehung zu Mariane, indem er ihre materielle Lage zugunsten ihrer ideellen Funktion in seinem imaginären Lebensentwurf abblendet. In der Folge manipuliert Wilhelm in selbstgefälliger Orientierung an der poetischen Gestaltung die Realität gemäß seinen eigenen Wünschen. Das Scheitern dieser Manipulation zeigt einmal mehr, daß die Realität sich dem Uberschwang der Gefühle nicht fugt. Der Versuch einer Poetisierung durch den Halstuchdiebstahl und dessen Scheitern fuhren letztlich zur gänzlichen Desillusionierung und Depoetisierung. An die Stelle des goldenen Schleiers, der das ÄsthetischTheatralische zu sanktionieren vermochte, tritt das profane Halstuch, das das Ästhetisch-Theatralische geradezu desavouiert.
4. A u c h ein Schleier f ü r Philine im Moratorium der Identität Nach der Trennung von Mariane gerät Wilhelm in eine tiefe psychophysische Krise, die mehrere Jahre anhält. Der verräterische Zettel seines Nebenbuhlers hat »in Einem Augenblicke sein ganzes Wesen zerrüttet« (428). In der Bindung an Mariane war es ihm nicht um Liebe als Selbstzweck gegangen, sondern um seine eigene, über sie vermittelte Identität als ein Künstler, der sich von der Muse berufen weiß. Der Erzähler bemerkt mit süffisanter Ironie: »wenn es hart ist, der Liebe eines Weibes zu entsagen, so ist die Empfindung nicht weniger schmerzlich, von dem Umgange der Musen sich los zu reißen, sich ihrer Gemeinschaft auf immer unwürdig zu erklären« (431). Die Geliebte, die als lebende »Gottheit mich [d.i. Wilhelm] zu meinen Wünschen hinüber
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fuhren sollte« (437), wird zur Anklägerin, die durch ihre Untreue das solipsistische Identitätskonstrukt des Schicksalsgläubigen als »Hauptirrtum« (432) entlarvt.12 Wilhelms theatralisches Selbstentfaltungskonzept, das schon in der Familie nicht die erhoffte Resonanz gefunden hat, führt in der erotischen Gemeinschaft erneut ins Leere. Was den Sanktionsverlust der Vorsehung für Wilhelm noch qualvoller macht, ist die Niederlage gegenüber dem ökonomischen Lebensprinzip seines Vaters. In der Liebesbeziehung hatte Wilhelm versucht, das Ökonomische zu verbannen und sich zugleich intensiver an das von der Mutter repräsentierte Prinzip des Ästhetischen zu binden. Doch ausgerechnet ein reicher Kaufmann durchkreuzt diesen ersten Schritt der Emanzipation von der väterlichen Welt. Das hieraus resultierende Beziehungsfiasko bedeutet für Wilhelm die Kapitulation vor dem Vater und dessen ökonomischem Realitätsprinzip. Dies zeigt sich insbesondere an der Art, wie er die Enttäuschung verarbeitet: Nachdem er Mariane verlassen hat, zweifelt er doch niemals an der Lauterkeit ihrer Liebe zu ihm, sondern schreibt die Schuld allein den harten Bedingungen ihrer Lebensverhältnisse zu: »Ihr Stand, ihre Schicksale haben sie tausendmal bei mir entschuldigt. [...] wieviel Umstände können dem größten Fehler Vergebung erflehen?« (438) Bezeichnenderweise ist es wiederum die Ausrichtung an einem literarischen Vorbild, die Wilhelms Reaktion bestimmt: Die verzweifelte Lage der Stratonike, »die sich einem andern widmen soll, wenn ihr Herz schon den würdigen Gegenstand eines wahren und reinen Verlangens gefunden hat!« (423) Wilhelm antwortet auf die — ihn zunächst in den Zustand eines Identitätsvakuums versetzende - Niederlage gegenüber dem väterlichen Prinzip in zweierlei Hinsicht: Zum einen entwickelt er eine außergewöhnliche Aggression gegen sich selbst, zum anderen sublimiert er diese, indem er sich dem väterlichen Zwang vollkommen unterwirft. Mit der Leidenschaft des vormaligen Kunstschwärmers greift Wilhelm nun »sein Talent als Dichter und Schauspieler, mit hämischer Kritik von allen Seiten« (431) an. Sein einstiger Größenwahn schlägt radikal um in eine übertriebene Aversion gegen sich selbst. Da der Verlust der Muse ihm endlich die Augen öffnet, so daß er seine nur mittelmäßige Begabung auch als solche erkennt, wirft er seine früheren poetischen Entwürfe voll Selbstverachtung ins Feuer. Die Niederlage im heimlichen Kampf gegen den Vater bedeutet aus der Perspektive Wilhelms also mitnichten Niederlage des Ästhetischen gegen das Ökonomische. Sie beweist nur, daß seine Person - genau wie die Marianes oder die Melinas — des Ästhetischen 12
Goethe hebt in seiner autobiographischen Aufzeichnung >Bedenklichstes< (1820) den Irrtum als inneres Handlungsmovens des Menschen heraus. Seine genauen Formulierungen sind ohne weiteres auf Wilhelms Glauben an seine theatralische Sendung zu übertragen: »Der wunderbarste Irrthum aber ist derjenige, der sich auf uns selbst und unsere Kräfte bezieht, daß wir uns einem würdigen Geschäft, einem ehrsamen Unternehmen widmen dem wir nicht gewachsen sind, daß wir nach einem Ziel streben das wir nie erreichen können.« (FA 13, S. 335)
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schlicht nicht fähig oder nicht würdig ist. Das Ästhetische ist, so betrachtet, prinzipiell unangreifbar. Alle (negativen) empirischen Erfahrungen mit dem Ästhetischen betreffen allein dessen inadäquate Anhänger, nicht aber es selbst. Seine Hingebung an Mariane als Muse erkennt er so als »Mißgriff«, zu dem ihn »ein jugendlicher Dünkel verleitet hat«. (432) Zwar wird Wilhelm durch seine Erfahrungen desillusioniert und bis in den Selbsthaß getrieben, doch reicht diese Desillusionierung nicht so weit, seine Vorstellung von der utopischen Welt des Ästhetischen zu ändern. Im Gegenteil: So inbrünstig wie nie zuvor schwärmt er für sie. Die Welt der Poesie erscheint ihm heilig und unantastbar, da »das Schicksal den Dichter« »wie einen Gott« über alle irdischen Verhältnisse »hinüber gesetzt« hat (435) :13 »Genugsam in ihrem Innersten ausgestattet bedurften sie [d.i. die Dichter] wenig von außen; die Gabe, schöne Empfindungen, herrliche Bilder den Menschen in süßen, sich an jeden Gegenstand anschmiegenden, Worten und Melodien mitzuteilen, bezauberte von jeher die Welt, und war fur den Begabten ein reichliches Erbteil.« (436) Auch die Unvereinbarkeit der Poesie mit dem profanen Leben wird Wilhelm deutlicher bewußt als je zuvor: U n d so ist der Dichter zugleich Lehrer, Wahrsager, Freund der Götter und der Menschen. Wie! willst du [d.i. Werner], daß er zu einem kümmerlichen Gewerbe herunter steige, er, der wie ein Vogel gebaut ist, um die Welt zu überschweben, auf hohen Gipfeln zu nisten, und seine Nahrung von Knospen und Früchten, einen Zweig mit dem andern leicht verwechselnd, zu nehmen, der sollte zugleich wie der Stier am Pfluge ziehen, wie der H u n d sich auf eine Fährte gewöhnen, oder vielleicht gar an die Kette geschlossen einen Meierhof durch sein Bellen sichern? (43 jf.)
Allerdings vermag Wilhelm die Welt des Dichters nur um den Preis seiner eigenen Person zu sakralisieren: Er, dem das »reichliche Erbteil« (436) des begabten Dichters nicht zuteil wurde, muß sich von der ersehnten Utopie selbst ausschließen. Wähnte Wilhelm einst im Gegensatz zu Melina »miteinem Talente zu einem Talente geboren« (406) zu sein, und konnte er sich mit dem kranken Königssohn, der »das schönste Erbteil« (422f.) in sich verbergen muß, identifizieren, so hat er jetzt einzugestehen, daß seine Selbstauffassung als begabter und bloß durch die äußeren Umstände an der Entfaltung seiner Veranlagung gehinderter Künstler nichts anderes als ein Produkt seiner Phantasie war. Mit der Entlarvung der falschen Muse ist »das Gericht über mich ergangen« (437). Wilhelm muß also einräumen, daß sein Vater, als er gegen seine Theaterleidenschaft opponierte, im Grunde recht hatte.
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Z u r Unzulänglichkeit von Wilhelms überschwenglichem Dichterkonzept, die sich vor allem an der exemplarischen Gestalt des Harfners manifestiert, siehe M o n i k a Fick: Destruktive Imagination. D i e Tragödie der Dichterexistenz in »Wilhelm Meisters Lehrjahren«. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft 29 (1985), S. 207-247; siehe auch Helmut Ammerlahn: Produktive und destruktive Einbildungskraft: Goethes Tasso, Harfner und Wilhelm Meister. In: Orbis litterarum 53 (1998) H . 2, S. 83-104.
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Ein weiteres Motiv für Wilhelms Selbstverachtung liegt in seiner hartherzigen Trennung von Mariane. Schuld an seiner Realitätsverkennung war ja nicht Mariane, sondern einzig er selbst, da er ihr in der Verkennung ihrer eigenen Person die Rolle der Schicksalsbotin zugewiesen hatte. Schuldgefühl und schlechtes Gewissen peinigen ihn: Ich bin zu grausam gewesen, du [d.i. Werner] hast mich in deine Kälte, in deine Härte unbarmherzig eingeweiht, meine zerrütteten Sinne gefangen gehalten und mich verhindert, das fur sie und fur mich zu tun, was ich uns beiden schuldig war. W e r weiß, in welchen Zustand ich sie versetzt habe, und erst nach und nach fällt mir's a u f s Gewissen, in welcher Verzweiflung, in welcher Hülflosigkeit ich sie verließ. (438)
Sein gequältes Gewissen zitiert die - wie er vermutet - im Elend sitzengelassene Geliebte ständig herbei, er glaubt, ihre Vorwürfe zu vernehmen: »Das ist, sagt sie, die Treue, die Liebe, die er mir zuschwur! Mit diesem unsanften Schlag das schöne Leben zu endigen, das uns verband!« (ebd.) Bis Wilhelm später in die Turmgesellschaft eintreten wird, kann er sich nicht einmal in der Welt des Traums von solchen Schuldgefühlen lösen. 14 Wilhelms Autoaggression, die der Einsicht in die vergangene narzißtische Verblendung sowie in die Verantwortungslosigkeit gegenüber Mariane entstammt, trägt mitunter masochistische Züge: Ruft er »alle Szenen des vergangnen Glücks« mit der »größten Lebhaftigkeit« ins Gedächtnis und blickt »auf den schrecklichen Abgrund« zurück, so labt er sich im >Joy of Grief< an den »erzwungene [n] Leiden« und ihrer »zerschmetternden Tiefe« (430). Die masochistische Tendenz, die die Selbstpeinigung zunächst als selbstzweckhaften Genuß des Desillusionierten erscheinen läßt,15 hat freilich einen tieferen Sinn. Wilhelm nötigt sich, so forciert unter dem vergangenen Trauma zu leiden, da er sich insgeheim vor einer weiteren Entgleisung fürchtet. Er verschreibt sich nach der Genesung von seiner psychosomatischen Krankheit jenen Handelsgeschäften, über die er sich zuvor so erhaben gefühlt hatte: »Zum Erstaunen seines Freundes und zur größten Zufriedenheit seines Vaters war niemand auf dem Comptoir und der Börse, im Laden und Gewölbe tätiger, als er; Korrespondenz und Rechnungen, und was ihm aufgetragen wurde, besorgte und verrichtete er mit größten Fleiß und Eifer.« (43if.) Dem äußeren Anschein nach versucht Wilhelm nun endlich, den familiären Pflichten und dem durch Geburt bestimmten sozialen Standort gerecht zu werden. Demgemäß wächst in seinem Vater »immer mehr Hoffnung« (439) auf eine erfolgreiche Zukunft des Sohnes. 14 15
Siehe Kap. II, 4 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Friedhelm Marx: »Wilhelms ästhetische Überhöhung der eigenen Geschichte ist zweifellos eine Reminiszenz an Werthers kunstvolle Selbstinszenierung, die bis zum Selbstmord im Zeichen Emilia Galottis reicht. Goethes zweiter Romanheld tritt allerdings nur andeutungsweise in die Spuren Werthers [...]. Die Selbststilisierung zum unschuldig Leidenden ist auch [...] nicht tragfähig, weil sie von Anfang an künstlich bewirkt ist.« F. Marx: Erlesene Helden, S. 190. 81
Die Innenwelt Wilhelms allerdings spricht eine deutlich andere Sprache: Wilhelm geht den Geschäften des Vaters mit auffallendem Arbeitseifer nach, weil dies eben »der beste Weg [war], dem Labyrinthe, das ihn wieder anzulokken suchte, zu entfliehen« (ebd.). Hier ist eine Art >Reaktionsbildung< eindeutig im Spiel. Aus dem desillusionierten Theaterenthusiasten ist kein betriebsamer Kaufmann geworden, der das Handelsgeschäft zum Hauptzweck seiner Tätigkeit erheben würde. Vielmehr macht Wilhelm gleichsam aus der Not eine Tugend. Obwohl ihn die gescheiterte Identitätssuche innerlich wie äußerlich schwer verwundet hat, erfahren er und seine Affinität zum künstlerischen Leben ihre Genesung. Der äußere Tatendrang, den er im Geschäft: des Vaters an den Tag legt, rührt aus einer inneren Notwendigkeit, die dem lehrreichen Ereignis trotzende Neigung zur ästhetischen Welt unterdrücken zu müssen - ein Hinweis darauf, daß in seinem tiefsten Inneren der Wunsch nach dem Theaterdasein noch keineswegs ausgelöscht ist. Mit der forcierten Hingabe an das Geschäftsleben versucht er freilich vergeblich, sich dem verlockenden >Sirenengesang< des Ästhetischen zu entziehen. Führte er zuvor ein Doppelleben, das ihn tagsüber als pflichtbewußten Sohn und nachts als Theaterliebhaber zeigte, so hielt die geregelte Zeitordnung die beiden Lebenssphären des Ökonomischen und des Theatralischen in einer labilen Balance. Fremderwartungen und eigene Wünsche, äußerer Realitätszwang und inneres Lustprinzip wurden als gleichgewichtig taxiert und tatkräftig befolgt. Dieser Widerstreit zwischen Außen- und Innenwelt verschiebt sich jetzt immer mehr nach innen. Während Wilhelms Innenwelt früher allein vom Theatralischen okkupiert war und damit nur gegen die Forderungen des Ökonomischen der Außenwelt zu kämpfen hatte, ist seine Innenwelt jetzt in sich gespalten, so daß er gegen sich selbst ankämpfen muß. Einerseits weiß Wilhelm jetzt um seine mittelmäßige künstlerische Begabung und ist überzeugt, daß ein Kunstwerk »entweder vortrefflich sein, oder gar nicht existieren soll« (434). Andererseits aber fühlt er sich kaum in der Lage, sich von der ästhetischen Sphäre dezidiert loszusagen. Wilhelms innere Zerrissenheit zwischen Entsagungspflicht und -Unfähigkeit verleitet ihn zu verzweifelten Versuchen, zum einen durch die masochistisch geprägte Vergegenwärtigung der früheren Identitätskrise eine neue selbstwarnend zu antizipieren, und zum anderen durch den manischen Tatendrang im Kontor die zähe Neigung zum Ästhetischen zu überspielen. Mit solchen psychischen Abwehrmechanismen aber verschiebt Wilhelm seine theatralischen Wunschvorstellungen bloß nach innen. Verfeindet ist er ja keineswegs mit der Theaterwelt als solcher, sondern mit sich selbst, da er sich dieser nicht gewachsen sieht und unwürdig fühlt. Trotz des früheren Irrtums, den Wilhelm nun durchschaut hat, bleibt sein Kunstidealismus also bewahrt. Wilhelm distanziert sich nicht von der Welt der Kunst, sondern nur von seinem kunstunfähigen Selbst - mit der Folge, daß die vergangene Oszillation zwischen dem Väterlich-Ökonomischen als Realitätsprinzip der Außen82
welt und dem Weiblich-Ästhetischen als Lustprinzip der Innenwelt gänzlich in die Innenwelt verlagert wird. In Wilhelms Inneren lassen sich daher zwei gegensätzliche Stimmen vernehmen. Die eine plädiert für das aus dem Realitätsprinzip resultierende Entsagungsgebot; die andere spricht für den schwer zu zügelnden Hang zur Kunst, wie er sich aus dem Lustprinzip ergibt. Die frühere Grenze zwischen Sollen im Außen und Wollen im Innern wird jetzt allein im Inneren gezogen. Fiel es Wilhelm zuvor leicht, sich zugunsten des Wollens zu entscheiden, da er an seine von der Muse ja scheinbar bestätigte künstlerische Berufung glaubte, so halten sich Sollen und Wollen nun aufgrund seiner neuen Einsicht in die eigene künstlerische Mediokrität ungefähr die Waage. Vor dem Hintergrund der ambivalenten Innerlichkeit Wilhelms wird sein Rückfall in die Theaterleidenschaft verständlich. Im zweiten Buch der >Lehrjahre< tritt Wilhelm eine Handelsreise an, um im väterlichen Auftrag Schulden einzutreiben. Unterwegs in Gebirgen, die seine »frühsten Jugendträume« (439) zusehends vergegenwärtigen, gibt er sich - wie schon während der Liebesbeziehung mit Mariane - den »liebliche[n] dichterische[n] Bilder[n] uralter Schäferwelt« (410) hin, preist die paradiesische Stimmung der Natur und rezitiert Verse aus dem Pastor fido. Auch die selbstgedichteten Lieder fallen Wilhelm wieder ein - und zwar »mit einer besondern Zufriedenheit« (439). Vergangenes und Künftiges fugen sich in seinem Innern zusammen und werden in einem harmonischen Stimmungsgebilde miteinander verbunden: »Er belebte die Welt, die vor ihm lag, mit allen Gestalten der Vergangenheit, und jeder Schritt in die Zukunft war ihm voll Ahndung wichtiger Handlungen und merkwürdiger Begebenheiten.« (439f.) Die Versöhnung mit der wunden Vergangenheit klingt hier an. Kurz darauf erfährt Wilhelm, daß an dem Ort, an dem er übernachten will, abends eine Komödie aufgeführt wird. In diesem Moment beginnt er, seine frühere selbstgefällige Denkungs- und Empfindungsart wieder anzunehmen: »Wie, rief Wilhelm, in diesen einsamen Gebirgen, zwischen diesen undurchdringlichen Wäldern hat die Schauspielkunst einen Weg gefunden, und sich einen Tempel aufgebaut? und ich muß zu ihrem Feste wallfahrten?« (440)16 Augenscheinlich unterstellt Wilhelm der erneuten zufälligen Begegnung mit der Schauspielkunst eine Art schicksalhafter Notwendigkeit. Durch den Verweis auf eine höhere Macht, von der er sich
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Was ich hier als Regression eines narzißtischen Theaterenthusiasten deute, stellt Margret Walter-Schneider als progressiven Befreiungsakt aus einer Welt der Innerlichkeit heraus: »Mit dem Beginn des z. Buches endet eine Lebensphase, in welcher die begegnenden Menschen und Dinge nicht für das genommen werden, was sie sind, sondern in Gedanken zu dem gemacht werden, was einem angenehm ist. Im 1. Buch lebt Wilhelm ausschließlich in der auf diese Weise entstandenen eigenen Welt. Es ist das Buch der Innerlichkeit, der Illusionsbefangenheit. [...] U n d über den Kapiteln des z. Buches liegt dann das volle, helle, klare Licht des Tages.« M . Walter-Schneider: Die Kunst des Hintergrunds in >Wilhelm Meisters Lehrjahre'. In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft Z4 (1980), S. 87-101, hier S. 9}f.
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geleitet fühlt, enthebt er sich der Verantwortlichkeit für die nun erfolgende Wiederannäherung an seine zeitweise überspielte Theaterleidenschaft und legitimiert so sein künftiges, im Zeichen dieser schicksalsbestimmten Neigung stehendes Handeln.' 7 Während der Reise macht Wilhelm in einem kleinen Landstädtchen Rast, »in welchem er zwar keine Geschäfte hatte, aber eben deswegen sich entschloß, ein Paar Tage daselbst zu verweilen« (442). Seinen Aufenthaltsort wählt er also nicht unter geschäftlichen Aspekten. Dort bleibt er auch länger als geplant, denn zufällig kommt er mit den Resten einer Wandertruppe, mit Philine und Laertes, zusammen, die dabei sind, ihre »wenige gesammelte Barschaft in Ruhe zu verzehren« (445). 18 Wilhelm verfällt in diesem Umfeld dem Bann eines müßiggängerischen, antibürgerlichen Lebens. V o r allem Philine, von der sich Wilhelm angezogen fiihlt, verkörpert eine ganz dem Augenblick hingegebene Existenzform. 19 Sie sehnt sich nach einer permanenten »Veränderung des Orts und der Gegenstände«: »Täglich an einem andern Orte zu essen, war ihr höchster Wunsch.« (471) Wilhelms Aufenthalt trägt die Züge einer Regression in eine naiv-illusionäre Wunschwelt. Das Landstädtchen wird für ihn zu einem Ort, wo er »gleichsam verstohlen seine Wünsche befriedigen, und ohne sich einen Zweck vorzusetzen, seinen alten Träumen nachschleichen konnte« (497). Signifikanterweise lernt er hier auch Mignon und den Harfner kennen. Trotz ständiger Versuche vermag es Wilhelm nicht, sich aus diesem Leben zu lösen. Allmählich bil-
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Vgl. Friedhelm Marx: »Das erstarkte künstlerische Selbstgefühl verdankt sich Wilhelms Überzeugung, aufgrund seiner Leiden zur Dichter-Existenz disponiert zu sein, versteht er doch erst im Schmerz >die Klagen der Dichter, der aus N o t weise gewordenen Traurigem. Wilhelm verbrennt seine Dichtungen, um sich erst recht als Dichter zu fühlen, wodurch der ursprüngliche Trennungsschmerz endgültig zum künstlerischen Initiationserlebnis funktionalisiert wird.« F. Marx: Erlesene Helden, S. 191. Hans-Egon Hass hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die Erzählebene des Romans Wilhelms Glauben an das Schicksal durch häufige Zufallsereignisse zunächst als begründet erscheinen läßt, um dies dann ironisch zu unterlaufen: »Wiederum hat Wilhelm das Theater nicht gesucht, sondern ist ihm zufällig begegnet. Das bleibt fur alle Erfährung und Entwicklung Wilhelms bestimmend: Welt und Menschen kommen gleichsam auf ihn zu. Das gilt auch von der Verbindung mit der Schauspielergesellschaft. Es ist Philine, die ihm durch Friedrich einen Blumenstrauß abbitten läßt und mit der solchergestalt eingeleiteten Bekanntschaft die erste Ursache setzt für alle weiteren Schritte Wilhelms, die ihn tiefer in die Theatersphäre verstrikken. Daß Wilhelm auf solche >neutrale< Weise, d.h. ohne eigentlichen Bezug auf sein ideales Theaterinteresse, wieder an die Theatersphäre herangeführt wird, ist gleichsam eine ironische Tarnung der Schlingen, mit denen das Schicksal Wilhelm wieder für das Theater einfangt. [...] in der [...] Zufallsbegegnung mit der Theatersphäre auf dieser Reise, liegt etwas von der geheimnisvoll gelenkten Möglichkeit der Allgegenwart und dem Spiel wunderbar-notwendiger Zufälle des Märchens: Wilhelms erneute Hinwendung zum Theater erscheint dadurch ganz dem Zusammenhang bewußt und willentlich gelebten Lebens und Wünschens entzogen und nimmt den Charakter einer unausweichlichen, von verborgenen Kräften gelenkten Fügung an.« H.-E. Hass: Goethe. W i l h e l m Meisters Lehrjahren In: Benno von Wiese (Hrsg.): Der deutsche Roman. V o m Barock bis zur Gegenwart. Bd. 1. Düsseldorf 1963, S. 132-210, hier I48f. Goethe beschreibt Philines Charakter 1793 in seinem Notizbuch als »Gegenwärtige Sinnlichkeit, Leichtsinn«, M A 7, S. 616.
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det sich unter Melina eine neue Wandertruppe, der sich dann auch Wilhelm anschließt. Damit glaubt er sich weit genug von seiner Heimat entfernt, um seine Schauspielerexistenz im geheimen ausüben zu können. Wilhelm zeigt sich stets bemüht, einen offenen Bruch mit seinem Elternhaus zu vermeiden, der ihm die Möglichkeit zur Rückkehr verbauen würde. Schon die Heirat mit Mariane sollte ja ohne das Wissen der Eltern vollzogen werden. Mit seinem Leben bei der Wandertruppe befindet Wilhelm sich nun außerhalb der bürgerlichen Gesellschaft in Form eines freien Zusammenlebens, an einem Ort institutionsungebundener Kunstausübung. Die kleine Gemeinschaft, mit der er sich verbindet, trägt alle Züge einer gegenbürgerlichen Subkultur. 2 0 Hier könnte man von einer >Boheme avant la lettre Lehrjahre« gehalten. So gelten etwa für Jürgen Jacobs Wilhelms brieflich offenbarter Entschluß und dessen Motivierung als der markanteste Punkt des Romans: »Es entspricht dem von starkem Individualitätsbewußtsein getragenen Ansatz dieser Frage, daß Wilhelm den Plan der persönlichen Selbstausbildung zu seinem Lebensprogramm macht.« J. Jacobs: Wilhelm Meister und seine Brüder, S. 77. Diese Deutungstendenz kritisiert Koopmann zu Recht, da sie nicht zuletzt die psychische Verfassung des Briefschreibers außer acht lasse, sondern die Briefaussagen auch nicht im dialogischen Kontext sowie im funktionalen Zusammenhang eines »zwangsläufig parteiisch« konzipierten Rechenschaftsberichts relativiere: »Von einer halbwegs objektiven Selbstbestimmungsformel kann also nicht so ohne weiteres die Rede sein, eher von einem Gegenideal, das Wilhelm entwirft, nachdem er von den Lebensmaximen des Jugendfreundes gehört hat.« H. Koopmann: >Wilhelm Meisters Lehrjahre< (1795/96). In: Goethes Erzählwerk. Interpretationen. Hrsg. von Paul Michael Lützeler und James E. McLeod. Stuttgart 1985, S. 168-191, hier S. 171.
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ben findet, gewöhnt sich meist diese Güter als das Erste und Größte zu betrachten, und der Wert einer von der Natur schön ausgestatteten Menschheit wird ihm nicht so deutlich. Das Betragen der Vornehmen gegen Geringere und auch unter einander, ist nach äußern Vorzügen abgemessen; sie erlauben jedem seinen Titel, seinen Rang, seine Kleider und Equipage, nur nicht seine Verdienste geltend zu machen. [...] Denn von jenem Glück, das wir als das höchste erkennen, das aus dem innern Reichtum der Natur fließt, haben sie selten eine erhöhte Empfindung. Nur uns Armen, die wir wenig oder nichts besitzen, ist es gegönnt, das Glück der Freundschaft in reichem Maße zu genießen. (573)
Auch hier, wie so oft, entspringen Wilhelms Uberzeugungen nicht tieferer Einsicht, sondern sind der konkreten Situation geschuldet. Die Enttäuschungen auf dem Grafenschloß waren zuvor die Ursache dafür, daß er die adlige Existenz zugunsten der geselligen Gemeinschaft abwertet. Er greift dabei auf die Topoi der Empfindsamkeit zurück, die insbesondere seit Gellerts M o r a lischen Vorlesungen zum Gemeinbestand bildungsbürgerlicher Intelligenz gehörten.54 In Anbetracht der neuen Situation, die durch Werners Brief und den Tod des Vaters entstanden ist und ihm nahelegt, in die ökonomische Welt zurückzukehren, verkehrt sich Wilhelms Einstellung zum Adel ins genaue Gegenteil: Jetzt verachtet er die bürgerliche Arbeit und bewundert die adlige Existenz. Auch wenn er sich selbst nicht im klaren darüber ist, welche Widersprüchlichkeiten und Ungereimtheiten in seine Argumentation einfließen, sind seine ihm unbewußten, vom Erzähler jedoch deutlich herausgestrichenen Motive evident. Er spaltet die von seinem Vater und Werner verkörperte Welt bürgerlichen Erwerbs ideologisch von sich ab, bewahrt sie aber faktisch zugleich, insofern er auf die regelmäßigen Geldzuwendungen ja keineswegs verzichtet. Die ideologische Abspaltung fuhrt auch dazu, daß er den bürgerlichen Bildungsbegriff, der auf den inneren Menschen zielt, unter der Hand umformt zu einem altständischen Bildungsbegriff, der die äußere Erscheinung des Menschen meint. Nicht von ungefähr spricht er von der »personellen Ausbildung«, die nur dem Adligen vorbehalten ist, und versteht darunter die Formung der körperlichen Erscheinung, die Eleganz des Verhaltens und die Eindrücklichkeit der Stimmführung. Gerade diese Eigenschaften, die aus bürgerlicher Sicht zu bloßen Äußerlichkeiten herabgestuft werden, hebt er als diejenigen hervor, die ihn auszeichnen. Zwar spricht er von »jener harmonischen Ausbildung meiner Natur, die mir meine Geburt versagt« (659), und nimmt damit den bürgerlichen Diskurs der teleologischen Selbstentfaltung in Anspruch, bricht aber zugleich diesen Diskurszusammenhang, indem er die Diskursformation
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Goethe schreibt zu den >Vorlesungen< in >Dichtung und Wahrheitc »Gellerts Schriften waren so lange Zeit schon das Fundament der deutschen sittlichen Kultur und Jedermann wünschte sehnlich jenes Werk gedruckt zu sehen, und da dieses nur nach des guten Mannes Tode geschehen sollte, so hielt man sich sehr glücklich, es bei seinem Leben von ihm selbst vortragen zu hören.« (FA 14, S. 322)
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vom Inneren auf das Äußere umschaltet. Wilhelm, der sich über das Theatralische definiert, muß hier gleichsam eine Wahlverwandtschaft zum Adel verspüren: denn wo der Bürger nur sein kann, wird der Adel zum Scheinen privilegiert. Das Scheinen ist in dieser Hinsicht das >tertium comparationis< zwischen Adels- und Theaterwelt, ebenso wie die oben genannten Aspekte von Formung der äußerlichen Erscheinung und Stimmbildung beiden Diskursen - Adel und Theater - gemeinsam zukommen. Wenn Wilhelm sich, ohne es zu wissen, unzeitgemäß bestimmt, indem er sich auf Elemente der höfischen Wertewelt beruft, so ist dies nur vor dem Hintergrund seiner Situation zu verstehen. Sein Vater ist tot, als Sohn hätte er die Pflicht, in die Fußstapfen des Vaters zu treten, um dessen Geschäfte fortzuführen. Doch von Anbeginn an lebte Wilhelm gespalten zwischen der Welt der Phantasie und der der Realität. Mit dem Tod des Vaters glaubt er, die Phantasiewelt in die Realität überfuhren zu können. Sein Brief an Werner dient dazu, sich selbst fur diesen Ubergang triftige Argumente zu liefern.55 Hierbei verfängt er sich in einem Widerspruch: Einerseits will er seinen Sohnesstatus, der ihn zur väterlichen Welt der Ökonomie verpflichtet, überwinden. Andererseits aber begründet er dies mit Argumenten aus der im übertragenen Sinne >väterlichen< Welt des Herkommens. Er verwendet gleichsam >vormoderne Mittel zum modernen Zwecks um sich als autonomes Individuum zu definieren, das seinen Familienverband verläßt und sich selbst mit Hilfe von Versatzstücken adliger Lebensweise als eine öffentliche Existenz generiert, für die er allerdings noch einen Ort in der Wirklichkeit finden muß.' 6 Besonders bezeichnend für den weiteren Verlauf des Romans ist im Hinblick auf Wilhelms psychische Ambiguität die Bemerkung des Erzählers, Wilhelm werde bei der Abfassung seines apologetischen Briefs durch einen »heimlichen Geist des Widerspruchs« (656) bestimmt. In Werner, dem zum Kaufmann gewordenen Jugendfreund und wohl deshalb auch geschätzten Schwiegersohn seines Vaters, sieht Wilhelm einen Wiedergänger seines Vaters. Indem er gegen Werners Ansinnen, in die Welt der Ökonomie zurückzukehren, rebelliert, rebelliert er zugleich gegen den Vater und dessen Gebote — allerdings mit
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Stefan Blessin verweist zu Recht darauf, daß Wilhelms Entscheidung fur das Theater durch den T o d des Vaters bereits vorweggenommen sei. S. Blessin: Goethes Romane. Aufbruch in die Moderne. Paderborn/München/Wien/Zürich 1996, S. 115. Stefan Blessin übersieht den Widerspruch, der Wilhelms Rechtfertigung seines theatralischen Lebenskonzepts gegenüber Werner zugrundeliegt, und betrachtet den Adel als das ungebrochene Idealbild von Wilhelm. Der Konflikt zwischen Wilhelm und seinem Vater ist für Blessin nur ein scheinbarer, da beide im Grunde das gleiche Lebensziel verfolgen: »Der Adel ist genauso ein Vorbild für den alten wie für den jungen Meister. In einer Hinsicht lebt Wilhelm mit seiner Leidenschaft für das Theater nur aus, was in dem repräsentativen Lebensstil des Vaters schon angelegt ist. Wilhelm tritt gleichsam aus den Dekorationen hervor ins Rampenlicht und erfüllt den unausgesprochenen Wunsch seines Vaters.« S. Blessin: Goethes Romane, S. 119.
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dem Mut eines Feiglings, denn der Vater ist ja tot. Dieser verschobene Aufstand gegen den Vater gelingt Wilhelm jedoch nur scheinbar. Denn mit der Abwendung vom Ökonomischen und der Hinwendung zum Theatralischen hat Wilhelm keineswegs die verinnerlichte Autorität des Vaters überwunden. Sie bleibt in seiner »Epoche ohne Epoche« (651) weiterhin bestimmend. Zwar kann Wilhelm die ehemalige Außenwelt der ökonomischen Existenz in der Person Werners abweisen, doch vermag sich die Innenwelt der ästhetischen Existenz, die jetzt endgültig auch zur Außenwelt werden soll, keineswegs frei von der internalisierten Vaterinstanz zu entfalten. Auf höchst subtile Weise gestaltet Goethes Roman diesen Problemzusammenhang anläßlich der >HamletHamletHamletHamletHamlet< zu seinem ersten Aufführungsstück in Serlos Theater auswählt, deutet er Hamlets Problematik — wie bei seiner früheren Auslegung des Bildes vom kranken Königssohn - als Ausdruck seiner eigenen Selbstauffassung.61 So liegt
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In seinem Essay >Shakespeare und kein Ende!< (1813-16) hat Goethe das Mißverhältnis zwischen Wollen und Sollen, das Wilhelms Grundkonflikt darstellt, als das eigentümliche Thema von Shakespeares Tragödien erfaßt: »Wollen und Sollen suchen sich durchaus in seinen Stücken ins Gleichgewicht zu setzen; Beide bekämpfen sich mit Gewalt, doch immer so, daß das Wollen im Nachteile bleibt.« (FA 19, S. 644) Im Hinblick auf den Vater-Sohn-Konflikt sieht Wilhelm bereits vor seiner >HamletKing Henry IVHamlet< in dramaturgischer Distanz reflektiert, entfaltet zusehends seine affektive Virulenz. Bis zum Zeitpunkt der >HamletHamletHamletLehrjahre< übertragen, wenn dieser Wilhelm nacheifert, der die Dramengestalten Shakespeares in ihrer eigentümlichen Psychodynamik zu durchschauen vermag: »Diese geheimnisvollsten und zusammengesetztesten Geschöpfe der Natur handeln vor uns in seinen Stücken, als wenn sie Uhren wären, deren Zifferblatt und Gehäuse man von Kristall gebildet hätte, sie zeigen nach ihrer Bestimmung den Lauf der Stunden an, und man kann zugleich das Räder- und Federwerk erkennen, das sie treibt.« (552) In der Forschung wird häufig darauf hingewisen, daß Hamlets melancholische Disposition und gesellschaftliche Isolation ihn zum kongenialen Identifikationsmuster Wilhelms macht. So heißt es bei Helmut Koopmann, »es ist Wilhelm selbst, der sich darstellt, da in Hamlet das Schicksal des Außenseiters und Einzählgängers sichtbar wird, der, nicht durch eigenes Verschulden, mit der Welt uneins geworden ist. Wilhelm ist, wenigstens fiir einen Augenblick, tatsächlich Hamlet, der sich in seinem prekären Weltverhältnis, in seiner einsiedlerischen Ausgesetztheit und zwangsweisen Ichbezogenheit eben daraus befreien möchte«. H. Koopmann: Wilhelm Meisters Lehrjahres S. 176. Entgegen dieser Annahme bereitet es Wilhelm zu Beginn seines >HamletHamlet< sich in die Lage des schwermütigen Prinzen zu versetzen. Zwar strebt Wilhelm es an, »nach und nach mit meinem Helden zu einer Person zu werden« (579), doch gelingt ihm dies nur punktuell, so daß er letztlich verzweifelt: »Auch glaubte ich recht in den Geist der Rolle einzudrängen, wenn ich die Last der tiefen Schwermut gleichsam selbst auf mich nähme, und unter diesem Druck meinem Vorbilde durch das seltsame Labyrinth so mancher Launen und Sonderbarkeiten zu folgen suchte. [...] und ich verzweifelte fast, einen T o n zu finden, in wel-
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den realen Konflikt auf den fiktiven und assimiliert auch diesen an jenen: Auf diese wechselseitig vermittelte Weise trägt Wilhelm seinen Vaterkomplex in einer fiktiven Parallelwelt aus, die er wiederum auf seine Realität projiziert. Die Authentizität des durch Poesie affizierten Individuums gerät damit zwar in Verdacht, aber in einer reduzierten Form kommt sie dort zum Ausdruck, wo der Schwärmer trotz allem eigenständig ein ästhetisches Muster als Vorlage der Selbstdeutung nutzt. Die personale Identität eines unter väterlichen Lebensmaximen leidenden Sohnes konstituiert sich über eine Parallelgestalt aus der Welt der Fiktion, die sein Selbstverständnis spiegelbildlich zu reflektieren scheint. So betrachtet, bewegen sich Identität und ästhetische Identifikation auf einer Ebene, in der sich Ich und Rolle wechselseitig bestimmen. Im Prozeß der Selbstdeutung bezieht sich Wilhelm identifizierend auf eine dramatische Gestalt, die seinen eigenen psychischen Standpunkt einzunehmen scheint, bis die Empfindungswelt seines fiktionalen Alter ego in seiner realen Konfliktlage ihre eigene Regie fuhrt. Der leiblich, d.h. real verstorbene Vater gewinnt seine Präsenz in Wilhelms Identitätskrise ausschließlich aus der literarischen Welt, die selbst Geister beheimatet. Der in Wirklichkeit Körperlose lebt in der Innenwelt des Sohnes weiter, die wiederum vom körperlosen Alter ego Hamlet besetzt ist.
8. D e r graue Schleier Die Gestalt des Geistes von Hamlets Vater wird in den »Lehrjahren« von Anfang an mystifiziert. Sie birgt eine sich nie ganz entladende Spannung sowohl fur die Schauspieler am Theater als auch für den Leser. So wird die Herkunft und Identität des Geistes bis zum Ende des Romans nicht vollständig aufgeklärt. Bereits der anonyme Zettel, der das Besetzungsproblem der Rolle des Geistes zu lösen verspricht, ist geheimnisvoll. Geheimnisvoll vollzieht sich auch der Auftritt des Geistes auf der Bühne, der Wilhelm außer Fassung bringt. Geheimnisvoll ist schließlich auch der Abgang des Geistes von der Bühne: »Zuletzt versank der Geist, aber auf eine sonderbare Art: denn ein leichter, grauer, durchsichtiger Flor, der wie ein Dampf aus der Versenkung zu steigen schien, legte sich über ihn weg und zog sich mit ihm hinunter.« (691) Genauso seltsam, wie sich der Geist in die Szene integriert, verschwindet er auch wieder, indem er seine Gestalt mit einem grauen Chiffon verhüllt und darin zu versinken scheint. Was von dem Unbekannten zurückbleibt, ist der außergewöhnliche Eindruck, den sein Auftritt hinterlassen hat, und der graue Schleier: chem ich meine ganze Rolle mit allen Abweichungen und Schattierungen vortragen könnte. In diesen Irrgängen bemühte ich mich lange vergebens« (578f.). Das ausschlaggebende Erlebnis, das Wilhelms Einfiihlungsbemühungen in die Gestalt Hamlet überflüssig macht, ist der T o d von Wilhelms Vater. 113
Wilhelm ging zuletzt mit Aurelien. Auf der Treppe begegnete ihnen der Theatermeister, und sagte: hier ist der Schleier, worin der Geist verschwand. Er ist an der Versenkung hängen geblieben und wir haben ihn eben gefunden. Eine wunderbare Reliquie! rief Wilhelm, und nahm ihn ab. (696: Hervorhebung von mir) Wilhelm ist - ohne irgend etwas von der Herkunft des Geistes, der im Auftrag der Turmgesellschaft handelt, und der Funktion des zurückgelassenen Schleiers zu wissen — sogleich begeistert vom zurückgebliebenen Schleier. Zunächst fühlt er sich nobilitiert, handelt es sich hier doch um ein weiteres Erscheinen des schon seit der Kindheit fur ihn bedeutungsvollen Schleiers, den er nun als Auszeichnung für seine schauspielerische Leistung in der Rolle des Hamlet begreift. 66 Allein Mignon scheint dem nicht zuzustimmen. Als Wilhelm den Schleier empfängt, »fühlte er sich am linken Arme ergriffen und zugleich einen sehr heftigen Schmerz. Mignon hatte sich versteckt gehabt, hatte ihn angefaßt und ihn in den Arm gebissen. Sie fuhr an ihm die Treppe hinunter und verschwand.« (ebd.) Goethe nutzt hier erneut die Schleiersymbolik, um die Romanhandlung nach vorne und zugleich nach hinten zu verketten. Hierbei erfährt der mit dem Schleier verbundene Symbolgehalt eine entscheidende Wendung. U m deutlich herauszustellen, wie der Schleier, der bislang für Wilhelm eine Verheißung des Ästhetischen war, eine gegensätzliche Bedeutung erhält, rekapituliere ich zunächst kurz die zurückliegenden Stadien der Schleiersymbolik. 1) Der Vorhang des Puppentheaters entzündete die Phantasie des kleinen Wilhelm und erweckte in ihm den Wunsch, selbst produktiv am Theater teilzuhaben. 2) In seiner Jugend erhebt Wilhelm den »mystische[n] Schleier« (368) zum Sinnbild künstlerischer Initiation. In seinem Gedicht »Jüngling am Scheideweg« bedeckt die Muse mit ihrem »goldnen Schleier« die Blöße des »enterbt[en] und nackt[en]« Ich. (384) Der Schleier fungiert hier als signifikantes Selbstvergewisserungsemblem seines theatralischen Lebenskonzepts. 3) Wilhelm entwendet Mariane ein Halstuch, das er als goldenen Schleier der Muse - Zeichen seiner Auserwähltheit — imaginiert, um das lyrische Geschehen auf seine Wirklichkeit zu projizieren. 4) Wilhelm schenkt Philine ein Halstuch und hebt damit die Schauspielerin auf den nach seiner Trennung von Mariane leer gewordenen Thron der Muse. 66
In den zusammen mit Schiller unternommenen gattungstheoretischen Reflexionen >Über epische und dramatische Dichtung< hat Goethe 1797 über die »Welt der Phantasien, Ahnungen, Erscheinungen, Zufälle und Schicksalen konstatiert: »Diese steht beiden [d.i. dem epischen wie dem dramatischen Dichter] offen, nur versteht sich, daß sie an die sinnliche [d.i. Erscheinungswelt] herangebracht werde; wobei denn für die Modernen eine besondere Schwierigkeit entsteht, weil wir für die Wundergeschöpfe, Götter, Wahrsager und Orakel der Alten, so sehr es zu wünschen wäre, nicht leicht Ersatz finden.« (FA 18, S. 44öf.) Im Auftreten des Geistes von Hamlets Vater und dessen Schleier hat Goethe gleichsam einen solchen Ersatz, der allerdings psychologisch motiviert ist, gefunden.
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5) Auf der Lichtung bedeckt die schöne Amazone den verwundeten Wilhelm mit einem Uberrock. Wilhelm nimmt dies als Zuwendung der Muse wahr, die seine lyrische Autosuggestion zur Wirklichkeit werden läßt. Den Theaterkontrakt mit Serlo unterschreibt er, während ihm das Erlebnis der leibhaft gewordene Muse vor dem inneren Auge erscheint. In dem Augenblick, in dem er sich qua Vertrag zum ersten Mal an ein institutionelles Theater bindet, meint er, endlich in der Welt des Ästhetischen angekommen zu sein, fur die er sich durch das Schicksal bestimmt weiß. Die Erscheinungsweisen des Schleiers wandeln sich (mystischer Vorhang — goldener Schleier der Muse - Halstuch von Mariane und Philine — Rock der Amazone), während die Funktion des Schleiers als Medium schicksalhafter Bedeutungszuschreibungen konstant bleibt. Mit der unterschiedlichen Gestalt des Schleiers korreliert die Differenz zwischen den einzelnen Botschaften. Um zu zeigen, welche semantischen Konnotationen der Schleier jeweils besitzt, und in welcher Weise sie Wilhelms Wirklichkeitsverhältnis und Selbstverständnis als deren Produkt und Reflex bestimmen, resümiere ich die einzelnen Bedeutungsfelder, die das Schleiermotiv auf spezifische Weise entfaltet. Der geheimnisvolle Schleier, der Wilhelm die Welt der Phantasie und des Scheins eröffnet, verweist auf verlockende und verheißungsvolle Ereignisse, deren Konturen zwar unscharf bleiben, aber versprechen, eine Sphäre zu eröffnen, die die Profanität der Alltagswelt im Blick auf ein Zauberreich transzendiert. Nicht von ungefähr heißt der Schleier »mystisch« - ein Ausdruck, der auf Sakrales hinweist, es zugleich aber der Fixierung entzieht. Das goldene Kleidungsstück der Muse, dessen Halbdurchsichtigkeit »jedes Glied« ihres Körpers »wie ein tausendfaches Echo« - zur Luststeigerung — auch nur halb reflektiert (384), erweckt erotisches Begehren bei dem Jüngling, zu welchem Wilhelm sich im Gedicht »Jüngling am Scheideweg« stilisiert hat. In jenem Augenblick, in dem die göttliche Muse zur theatralischen Initiation ihr Kleidungsstück über den Jüngling wirft, um ihn auszuzeichnen und sich als Entblößte seinem stimulierten erotischen Begehren hinzugeben, endet jäh Wilhelms lyrische Selbsterhöhung, die er im sprachlich evozierten Spiel von Muse und Ich-Figuration vollzieht. Bezeichnenderweise steht hier nur ein Gedankenstrich nach der Zeile: »enterbt und nackt übergab ich mich der Muse, die mir ihren goldnen Schleier zuwarf und meine Blöße bedeckte.—« (ebd.) Diesen bedeutungsvollen Gedankenstrich >realisiert< er dann mit Mariane. So wird das Versprechen der lyrischen Muse auf körperliche Vereinigung durch deren Inkarnation eingelöst. Doch muß Wilhelm bald zu der Erkenntnis gelangen, daß die von ihm erzeugte zeichenhafte Welt, die Mariane gleichsam zur materiellen Repräsentation seiner ideellen Selbsterhöhungskonstruktion erhob, bloß ein Trugbild war. Denn die Legitimierung seiner theatralischen Sendung wird ihm durch die vermeintliche Untreue Marianes, die er zu seiner Muse machte, geraubt. "5
Danach begegnet Wilhelm auf der Waldlichtung der »schönen Amazone«. Dieses Zusammentreffen stellt ein gleichermaßen zurück- wie vorausweisendes Intermezzo dar: Vergangenes wird evoziert, und Künftiges prognostiziert. Die im Rahmen des Gedichts inszenierte Erwählung erlebt erneut ihre vermeintliche Beglaubigung durch die Realität. An die Stelle des ideellen Konstrukts einer Muse, zu der Wilhelm vormals Mariane gemacht hatte, tritt die schöne Amazone. Ihre physische Erscheinung modifiziert die symbolische Dimension des Schleiers erneut. Das Lichtungserlebnis bündelt all die Attraktion, die Theaterwelt und Liebeswelt auf den jungen Wilhelm ausgeübt haben. Die Desillusionierungen durch die erste Liebesbeziehung, die Wandertruppenerlebnisse und die Adelswelt auf dem Grafenschloß verlieren hingegen jäh ihre resignative Potenz. Kindheits- und Jugendvorstellungen leben wieder auf. Doch Wilhelms erneuter Glaube, auserwählt zu sein, wird in ironisches Licht getaucht, da der Schleier der Amazone in Gestalt des »Mannsüberock[s]« (589) männlich konnotiert wird. Nun taucht während der Shakespeare-Premiere der Geist von Hamlets Vater auf und hinterläßt den grauen Schleier. Der Schleier, der bereits in der Lichtungsszene eine männliche Konnotation erhielt, wird jetzt tatsächlich von einem Mann, dem Geist von Hamlets Vaters, getragen. Er spricht darüber hinaus im Geist von Wilhelms Vater und fordert diesen auf, die Theaterwelt zu verlassen. Einen Tag nachdem Wilhelm in den Besitz des grauen Schleiers gekommen ist, entdeckt er dessen Inschrift: »Es war ein grauer Flor, an dessen Saum er eine Schrift mit schwarzen Buchstaben gestickt sah. Er entfaltete sie und las die Worte: Zum ersten und letztenmal! Flieh! Jüngling, flieh!« Diese fast als Drohung erscheinende Warnung bringt Wilhelm ganz außer Fassung: »Er war betroffen und wußte nicht was er sagen sollte.« (697) Die bislang suggerierte Erwähltheit, d.h. die von Wilhelm narzißtisch inszenierte Selbstnobilitierung, die offensichtlich den von ihm herbeigesehnten Höhepunkt seiner theatralischen Sendung markiert, gewinnt hier zum ersten Mal eine eigene Stimme. Die Symbolebene des Romans konterkariert in seiner neuen Lebenssituation jäh die Aussage des Gedichts »Jüngling am Scheideweg«. Jenseits der Figurenperspektive verdeutlicht das narrative Motivgeflecht, daß der Vater, der sich der lyrischen Degradierung seines Wertsystems durch den Sohn ja nicht wiedersetzen konnte, sich mit Hilfe der Botschaft des Schleiers wieder erhebt, um den Sohn vor der Gefahr einer ästhetischen Existenz zu warnen, die ohne gesellschaftliche Perspektive ist.67 Die perhorreszierte »alte
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Die Botschaft des Schleiers deutet Ulrich Stadler mit Blick auf den repräsentativen Charakter von Wilhelms bürgerlichem Vater und dem vermutlich adligen Turmmitglied, das den Geist von Hamlets Vater spielt: »Auf der Bühne ist - das will ihm [d.i. Wilhelm] die Turmgesellschaft zu verstehen geben - die angestrebte Nobilitierung nicht realisierbar. Bliebe Wilhelm auf dem Theater, so bliebe er zugleich in der Sphäre jener falschen Bürgerlichkeit stecken, deren krassester Vertreter der dem Theater scheinbar so fernstehende Werner ist. Wilhelm soll
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Hausmutter«, die graue Frau des Gedichts transformiert sich so in den Appell, der dem »grauen« Schleier eingestickt ist: »Flieh! Jüngling, flieh!«6% Dem Schleier, der der Theaterwelt emblematisch zugeordnet ist, wird seit der Lichtungsszene seine spezifische Aura sukzessiv entzogen. Der halbdurchsichtige Flor, dessen unterschwellige Erotik Wilhelm bislang an das Theater als Ort des Begehrens band, versprach ihm - in ständiger Oszillation zwischen Bekleidetsein und Nacktheit, Verbergen und Enthüllen — die von der Muse versprochene Erfüllung. Doch nun verliert das Versprechen seine subtile Zugkraft. Anstoß hierfür ist ein Ereignis, das auf den ersten Blick kontextuell als disjunkt und dysfunktional erscheint. In eben der Nacht, in der Wilhelm sein triumphales Bühnendebüt als Hamlet feiert und die scheinbare Auszeichnung dafür, den Schleier, mit Freude empfängt, erfährt er noch eine Zuwendung. Nach der Feier legt er sich erschöpft ins Bett. D e r S c h l a f w o l l t e sogleich sich seiner b e m e i s t e r n , allein ein G e r ä u s c h das in seiner S t u b e hinter d e m O f e n zu entstehen schien, m a c h t e i h n a u f m e r k s a m . E b e n s c h w e b t e v o r seiner erhitzten Phantasie das B i l d des geharnischten K ö n i g s ; er richtete sich a u f , das G e s p e n s t a n z u r e d e n , als er sich v o n zarten A r m e n u m s c h l u n g e n , seinen M u n d m i t l e b h a f t e n K ü s s e n verschlossen, u n d eine B r u s t a n der s e i n i g e n f ü h l t e , die er w e g z u s t o ß e n n i c h t M u t hatte. (696)
Es kommt zur sexuellen Vereinigung mit einer Frau, die bis zum Schluß des Romans nicht eindeutig identifiziert wird. Mich interessiert in diesem Zusammenhang aber nicht die Person der Unbekannten, über die in der Forschung lebhaft diskutiert wird. Die Frage, ob es sich um Philine, Mignon oder Aurelie handelt, sei dahingestellt.69
auch nicht töten, d.h. er soll nicht offen gegen jene falsche Biirgerlichkeit revoltieren; er soll sie vielmehr fliehen, und er soll, indem er sich den Männern der Turmgesellschaft anschließt, das bessere Erbteil seiner Bürgerlichkeit einlösen. Die Imitation des alten Meister durch ein Mitglied der Turmgesellschaft bei der Darstellung des alten Hamlet wird damit zu einem — freilich von Wilhelm nicht verstandenen — Hinweis auf die Synthese von Bürgertum und Reformadel, die der Romanheld anstreben soll und in der die geschichtlichen Hoffnungen der >Lehrjahre< kulminieren.« A n dieser spekulativen Interpretation ist nicht zuletzt die Hypothese fragwürdig, daß Wilhelm die Synthese von Bürgertum und Reformadel anstrebt. Problematischer noch erscheint, daß die Analyse der über den Schleier vermittelten Kommunikation den Empfänger der Botschaft außer acht läßt, zumal Wilhelm die Identität des in der >HamletHamletHamletHamletGeschichte vom Schleier* ein, die Goethe den Memoiren Bassompierres entnahm und in seine Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten« einfiigte. Auch in den zeitgleich mit den ersten sechs Büchern der >Lehrjahre< entstandenen >Unterhaltungen< wird der Beischlaf durch einen Schleier beendet, der den ungetreuen Ehemann an seine Pflicht erinnert und seine Geliebte vertreibt (siehe FA 9, S. 1036). Auf die in sich antinomische Struktur von Goethes Grundsymbolen, zu denen auch der Schleier zählt, verweist Wilhelm Emrich: Symbolinterpretation und Mythenforschung, S. 5of.
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Verliert die subjektiv konstruierte symbolische Ordnung der Wirklichkeit ihre Geltung, so gerät das Deutungssubjekt der Realität und das in ihr befangene Selbst in eine gravierende Identitätskonfusion. Das Theaterideal, das mit einer erotischen Wunschprojektion eng verknüpft war, hebt sich selbst auf, wenn es diese Antriebskraft einbüßt. Seine Einsichten in die Wirklichkeitsverhältnisse — Marianes vermeintliche Untreue, das enttäuschende Wandertruppenleben, die Deauratisierung Philines oder die Desillusionierungen auf dem Grafenschloß - konnten Wilhelm bislang nicht von seiner Theatromanie heilen. Dies wird erst dann möglich, als die unterschwellige Wirkung der erotischen Zugkraft der Muse erschöpft ist.74 Nun hat sich das Band zwischen der Muse und ihrem Schützling gänzlich gelöst. Es tritt sukzessiv zurück hinter ein zweites geheimes Band, nämlich das, was den im künstlerischen Sendungsglauben desillusionierten Mann mit seiner heiligen Retterin auf der Lichtung verbindet. Ihr Uberrock, den Wilhelm zu einem neuen Fetisch erhoben hat, gewinnt erst nach der Beischlafszene eine Farbe. Der Schleier der Heiligen ist — wie könnte es anders sein — von unschuldigem Weiß und bringt damit jegliches erotische Begehren des durch ihn bedeckten Jünglings zum Schweigen. Kurz: Die Caritas vertreibt den Eros. (Darauf werde ich an anderer Stelle weiter eingehen.) Bislang habe ich die These, die >HamletLehrjahreHamletHamletvoreilig< seinen Freunden eine Reaktion abzuverlangen. Was hat es mit der »Epoche« auf sich, auf die Goethe etwas überschwenglich verweist? Und: An welcher Stelle genau endet jene Hälfte, die - wie Goethe heuristisch bemerkt - eine epochale Zäsur markieren wird? Um diese Fragen zu klären, analysiere ich die entsprechende Korrespondenz zwischen Goethe, Schiller und Humboldt. W i e von Goethe gewünscht, teilen ihm die beiden nach kurzer Zeit ihre persönlichen Leseeindrücke mit. Wenn ich ihre im Briefwechsel artikulierten Äußerungen näher in den Blick nehme, so richtet sich mein Augenmerk auf die spezifische Lesart, die der jeweilige >Rezensent< vom betreffenden Romanteil entwickelt. Dies erlaubt mir nicht nur, Vergleichspunkte zu meiner eigenen Lesart zu bilden. Wichtiger als die Deutungen der Deutungen von Schiller und Humboldt ist es nämlich, wie der an der Wirkung seines Romankapitels interessierte Goethe seinerseits wiederum auf die ihm mitgeteilten Lektüreeindrücke der literaturgeschulten Vertrauten reagiert. Goethe, der intensiv auf die Urteile seiner Leser eingeht, zeigt sich zunächst darüber erfreut, daß die Reaktionen so ausgefallen sind, wie er es sich erwünscht hatte. Er gibt zu erkennen, welche Textpassage des fünften Buches ihm besonders wichtig war. Die Lektüre->Versuchskaninchen< reagieren besonders auf das Rätsel, wer wohl die Person gewesen sein mag, mit der Wilhelm Geschlechtsverkehr hatte. Ist es nur der erotische Blick des Voyeurs, der die Leserneugierde lenkte? Zunächst ist es auffällig, was den beiden Rezipienten alles nicht wichtig war. Die Buchhälfte handelt von wichtigen Ereignissen: Wilhelms Konfrontation mit dem Tod seines Vaters, sein Brief an Werner, seine öffentliche Einbindung ins Theater und die >HamletHamletHamletvergewaltigende< Muse, die der Sohn »wegzustoßen nicht Mut« (696) hat. Das in Anlehnung an die polarisierte Geschlechtsordnung geschaffene Harmoniegebilde der Phantasiewelt, mit dessen Hilfe Wilhelm sein Sendungsbewußtsein konstruieren und
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In seiner knappen, doch aufschlußreichen Studie über die ungeklärten Identitätsfragen in den >Lehrjahren< spielt Per 0 h r g a a r d sämtliche Identitätsoptionen der unbekannten Person, mit der Wilhelm schläft, gegeneinander aus, indem er die nächtliche Episode u n d die mit ihr zusammenhängenden Andeutungen genau unter die Lupe n i m m t und dabei letztlich zu einem Schluß k o m m t , der meine Akzentuierung der subjektiven Erlebnisperspektive Wilhelms attestiert: »Doch bei genauerem Hinsehen stellt sich heraus, daß nichts ganz eindeutig belegt wird. Fast könnte m a n sogar meinen, daß die ganze Liebesnacht eine Einbildung Wilhelms sei«. P. 0 h r g a a r d : Roman, Bildung, Experiment. Anmerkungen zur Erzählweise in »Wilhelm Meisters Lehrjahren* (mit einem Zusatz über die > Wanderjahre«). In: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 2000, S. 27-49, hier S. 35. 125
strukturieren konnte, löst sich so zunächst in ein Chaos auf, aus dem sich alsbald eine neue Ordnung erhebt, die zuvor Getrenntes zusammenfügt und bislang Zusammengehöriges trennt. Es sind die beiden verschleierten Personen des Romans, der Geist und der nächtliche Besuch, denen es gelingt, Wilhelms theatralisches Wirklichkeitsund Selbstkonzept als Irrtum zu destruieren, indem sie im Medium seiner Phantasie die vom Männlichen repräsentierte Welt des Sollens gegen die vom Weiblichen repräsentierte des Wollens zur Geltung bringen. Aufgrund der so umcodierten Phantasiewelt tritt Nüchternheit anstelle der Theatromanie. Wilhelm empfindet den auf die erotisch-patriarchal vermischte Nacht folgenden Tag so, als wäre aller Glanz aus der Welt verschwunden: »So schlich der Tag nun weiter, und Wilhelmen war noch keiner jemals so alltäglich vorgekommen.« (698: Hervorhebung von mir) Jetzt erst wird sich Wilhelm der Profanität seines Lebens bewußt. Daß er ausgerechnet nach der rätselhaften Beischlafnacht den gewöhnlichsten, den alltäglichsten Tag seines Lebens erlebt, signalisiert die innere Armut, die aus dem Verlust seiner Sendungsgewißheit resultiert. Seine veränderte Realitätswahrnehmung spiegelt im Grunde nur sein verändertes Selbstverständnis: Gewöhnlich kommt ihm der Tag vor, da er sich selbst gewöhnlich geworden ist. Vor dem Hintergrund dieser subtil inszenierten Transformation der von Wunscherfüllung gekennzeichneten, weiblich konnotierten Welt in die durch Pflicht bestimmte, männlich konnotierte Welt, ist Goethes Äußerung zu verstehen, die erste Hälfte des fünften Buches »mache Epoche«. Die Beischlafszene, in der es sich — wie Goethe sagt — um »die wunderlichen und spaßhaften Geheimnisse« handelt, kann als das Epoche machende Geschehnis angesehen werden. Hier findet sich Wilhelm wiederum am »Scheideweg«. Diesmal vollzieht er die Wahl des Weges allerdings nicht im Medium eines selbstkonstruierten Wegweisers, der vermeintlich eindeutig zwischen glücklichem und unglücklichem Ziel unterscheidet, sondern im Medium der »erhitzten Phantasie« (696), der die aufgestickte Botschaft des Schleiers ihre inhaltliche Bestimmtheit gibt — zwar nicht wohin, aber doch wovon weg. Aus dem goldenen Schleier der Muse, wie ihn Wilhelm in seinem Gedicht als Legitimation seiner theatralischen Sendung imaginierte, ist der graue Schleier geworden, mit der Botschaft, ihr zu entsagen und dem Theater zu entfliehen. Bis Wilhelm der Botschaft tatkräftig entspricht und in die Turmgesellschaft eintritt, vergeht aber noch eine Zeit des Übergangs, in der der eskalierende Vater-SohnKonflikt allein die >Nachtseite< des Daseins okkupiert.
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9· Der weiße Schleier Das siebte Buch der >Lehrjahre< markiert auf der Handlungsebene die wichtigste Zäsur im Entwicklungsprozeß des Protagonisten. Der ehemalige Theaterenthusiast gibt sein lang ersehntes und hartnäckig verfolgtes ästhetisches Selbstkonzept endgültig auf, um sich künftig den Pflichten eines Vaters zu verschreiben. Zu dieser Umorientierung gelangt Wilhelm, indem er sein Verhältnis zur Wirklichkeit und zu sich selbst neu bestimmt. Katalysator hierfür ist die Sozietät des Turms. Sie macht Wilhelm nicht zuletzt darauf aufmerksam, daß die prätendierte Identität als Künstler auf seiner illusionären Selbstauffassung und einer schwärmerischen Realitätsverkennung basiert. Mit einem Initiationsritus beendet sie die Bestrebungen des ehemaligen Verfechters eines humanistischen Selbstbildungsideals und löst seine vom Tod des Vaters ausgelöste Identitätskrise auf. Die pädagogischen Maßnahmen der Turmgesellschaft, mit deren Hilfe Wilhelm zu einem tätigen Leben in der Gesellschaft geführt wird, sind dabei von erstaunlicher Subtilität. Um ihr angehendes Mitglied ihrem eigenen Gesellschaftsethos und Tätigkeitsideal gemäß resozialisieren zu können,87 geht die Turmgesellschaft in einem strikten Sinne psychologisch vor: Sie domestiziert das Unbewußte und Verdrängte, das Wilhelms vormalige Entscheidung furs Theater in verborgener Weise beeinflußt und negativ geprägt hatte, in einem genau kalkulierten Verfahren. Hierdurch therapiert sie den psychischen Konflikt, der Wilhelms Selbstsuche bislang beschwert hat, an seiner Wurzel. Diese Behandlung tangiert vorrangig Wilhelms langwierige Auseinandersetzung mit seinem Vater, die er - ohne sich dessen bewußt zu sein - auf imaginären Schlachtfeldern austrägt. Indem die Turmgesellschaft den verdrängten Vater-Komplex an die Oberfläche holt und Wilhelm unmittelbar mit seinem psychischen Problem konfrontiert, gelingt es ihr, ihm seine vormalige Entscheidung fürs Theater, die ja vor allem eine Auflehnung gegen die ökonomische Lebensmaxime des Vaters ist, als eine Fehlentscheidung zu verdeutlichen, die mehr von der Ablehnung der Herkunftswelt als von der Bejahung der theatralischen Existenz bestimmt ist. Im folgenden stelle ich im einzelnen heraus, wie die Psychologik, auf deren Grundlage die Turmgesellschaft Wilhelms VaterKomplex produktiv umzuformieren sucht, strukturiert ist. Noch in der Zeit, in der sich Wilhelm in der »Epoche ohne Epoche« (651) befindet, die mit dem Tod seines Vaters begonnen hat, erhält er den Auftrag der inzwischen verstorbenen Aurelie, ihrem ehemaligen Liebhaber Lothario
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So zelebriert das Turmmitglied Lothario am Schluß des Romans die gelungene Sozialisation von Wilhelm mit dem Appell an ein gemeinnütziges Leben: »Lassen Sie uns, da wir einmal so wunderbar zusammen kommen, nicht ein gemeines Leben fuhren, lassen sie uns zusammen auf eine würdige Weise tätig sein! Unglaublich ist es, was ein gebildeter Mensch für sich und andere tun kann« (990).
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einen Brief zu übergeben. Zeit, um sich dieser Aufgabe zu entledigen, hat er reichlich, in Serlos Theater gibt es für ihn nichts zu tun. Kurz nach der >HamletKopftheater< ist noch intakt. Wie einst, als er im Hinblick auf Mehna vor seinem inneren Auge das Phantasiegeschehen von der verfolgten Liebe inszenierte, so will er sich jetzt in die Rolle einer Moralinstanz begeben und Lothario der Niederträchtigkeit eines unbeständigen Liebhabers bezichtigen.88 Um diese sich ihm als >moralische Schaubühnenveranstaltung< aufdrängende Mission angemessen zu erfüllen, studiert Wilhelm sorgfältig die Rolle eines Sittenrichters ein. Er will keinen Brief übergeben, sondern ein Theaterstück auffuhren, in dem ein Brief übergeben wird. Um seinem theatralischen Zweck nachzukommen, bei der Briefiiibergabe »ein strenges Gericht über den ungetreuen Freund ergehen zu lassen«, schreibt er sich zunächst ein eigenes Stück auf den Leib und formuliert die Anklagerede als »pathetische [n]« Monolog, »da er sich nicht einer zufälligen Stimmung vertrauen wollte«. (726) Doch kommt alles ganz anders als von Wilhelm erwartet. Sein kalkuliertes Rollenspiel schlägt fehl. Wie einstmals, als er in frühen Kinderjahren ein Theaterstück auffuhren wollte, sich selbst dabei ins Zentrum setzte und jede Uberlegungen im Hinblick auf die Mitspieler vergaß, die alle nicht wußten, was sie tun und reden sollten (siehe S. 380), bedenkt Wilhelm auch jetzt nicht, daß ein Theaterspiel des Mitspielers bedarf, und sei es auch nur eines Zerknirsch-
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Friedhelm Marx sieht in Wilhelms Racheaktion gegen Lothario eine mehrfach verschobene Ersatzhandlung: »Die Hamlet-Auffuhrung gelingt nicht zuletzt, weil Wilhelm vom Auftreten des Geistes überrascht, in dessen Stimme seinen Vater zu hören glaubt und dementsprechend auf sich bezieht, was der Bühnenfigur gilt. D a der T o d des Vaters in seinem Fall nicht zu rächen ist, nimmt Wilhelm eine bizzare Umdeutung der Berufung vor: Er macht sich auf den Weg, um Lothario als >Mörder< Aurelies zur Rede zu stellen und vergewissert sich dabei des Geistes seiner verstorbenen Freundin.« F. Marx: Erlesene Helden, S. 203. Diese Deutung setzt jedoch fälschlicherweise voraus, daß eine Mordkonstellation, die — aus Wilhelms parteiischer Sicht - die Hamlet-Handlung mit der Liebeshandlung von Lothario und Aurelie verbindet, ebenfalls sein Verhältnis zum verstorbenen Vater repetiert. Marx, der die Vater-Sohn-Beziehung im >Hamlet< auf die in den >Lehrjahren< mit dem vergleichenden Hinweis überträgt, daß für Wilhelm der T o d seines Vaters anders als der T o d von Hamlets Vater keiner Rache bedarf, übersieht vor allem, daß gerade Wilhelm derjenige ist, der mit dem ausgeprägten Schuldgefühl, seinen Vater vielfältig hintergangen zu haben, Entsühnungsarbeit zu leisten hat. Wilhelms imaginierte Attacke gegen Lothario kann höchstens als verkappte Selbstaggression gedeutet werden, insofern er im Medium des ehr- und verantwortungslosen Liebhabers verzweifelt sein eigenes Schuldbewußtsein bekämpft. Eine alternative und plausiblere Deutung besteht darin, Wilhelms Racheakt nicht dreifach auf die Hamlet-, die Aurelie- und seine authentische Vaterhandlung, sondern allein auf die ersten beiden zu beziehen. Dies stellt heraus, daß Wilhelm Aurelies realen Auftrag mit der fiktionalen Anforderung des Geistes von Hamlets Vater in Verbindung bringt und mithin im selbstgefälligen Rollenspiel die Grenze zwischen Literatur und Wirklichkeit transzendiert.
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ten, der demütig die moralische Anklagerede entgegennimmt. Doch Lothario denkt nicht daran, den ihm von Wilhelm vorgegebenen Part des reuigen Sünders zu spielen. Im Gegenteil: Er empfängt den Brief der in Liebeskummer gestorbenen Geliebten überraschend nüchtern und gewährt dem Schauspieler keinen Raum für eine moralische Selbstinszenierung. Den Abend verbringt Wilhelm danach im Schloß des Gutsbesitzers in getrübter Stimmung, nicht allein wegen des gescheiterten Rollenspiels, sondern auch, da ihn der Schleier des Geistes, den er aus seinem Reisegepäck herausnimmt, verstimmt. Wiederum irritiert ihn die Botschaft des Schleiers »Flieh! Jüngling, flieh!« so sehr, daß er selbstermahnend ausruft, »was soll das mystische Wort heißen? was fliehen? wohin fliehen? Weit besser hätte der Geist mir zugerufen: kehre in dich selbst zurück!« (801) Goethe hat die Szene der Desorientierung sehr sorgfältig komponiert. Wilhelm soll durch die Botschaft des Schleiers nicht nur erkennen, daß seine theatralischen Selbstinszenierungen ein Irrweg sind, sondern auch erfahren, welche familialen Hintergründe ihn auf diesen Irrweg geschickt haben. Nicht von ungefähr läßt ihn Goethe auf eine Bilderwand schauen. Wilhelms Blick streift »die Englischen Kupfer, die an der Wand in Rahmen hingen; gleichgültig sah er über die meisten hinweg, endlich fand er auf dem einen ein unglücklich strandendes Schiff vorgestellt, ein Vater mit seinen schönen Töchtern erwartete den T o d von den hereindringenden Wellen« (ebd.).89 Dieser Kupferstich zieht Wilhelms ganze Aufmerksamkeit auf sich und ruft bei ihm eine überraschende Wirkung hervor: »ein unaussprechliches Mitleiden ergriff unsern Freund, er fühlte ein unwiderstehliches Bedürfnis seinem Herzen Luft zu machen, Tränen drangen aus seinem Auge, und er konnte sich nicht wieder erholen, bis ihn der Schlaf überwältigte.« (801) Was hat es mit diesem forcierten Gefiihlsausbruch auf sich? So sehr Wilhelm auch sonst zu überschwenglichen Empfindungen und pathetischem Selbstausdruck neigt, so ist es doch selten, daß seine Affekte ein solches Ausmaß annehmen. Genau genommen durchlebte Wilhelm bisher nur ein einziges Mal, nach der Trennung von Mariane nämlich, einen vergleichbar heftigen Gefühlsaufruhr. Selbst der Tod seines Vaters konnte ihm keine äußeren Zeichen von Schmerz entlocken. Daher ist es merkwürdig, daß ihn jetzt ein bloßes Gemälde völlig aus dem emotionellen Gleichgewicht bringt. Gründe für die rätselhafte Reaktion Wilhelms benennt der Roman nicht direkt, da er nach jenem nächtlichen Vorfall mit der Darstellung der äußeren Begebenheiten und Umstände fortfährt. Doch davor entfaltet der Erzähler die
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Nach Wilhelm Creizenachs Ermittlung stellt der englische Kupferstich den Untergang des Schiffes »Halsewell« 1786 dar, bei dem der Kapitän Pierce mit seinen Töchtern den T o d fand, ein Ereignis, das sogleich von Künstlern aufgegriffen wurde. Besonders verbreitet waren Kupferstiche nach Bildern von Smirke (1786) und Northcote (1787). W . Creizenach: Goethes Sämtliche Werke. Jubiläums-Ausgabe. Bd. 17, S. 419.
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emotionell angegriffene Innenwelt des Protagonisten als Traum, der in Bildern verschlüsselt, was Wilhelms Unbewußtes bestimmt. Auf den ersten Blick scheint dem Traum allerdings lediglich die narrative Funktion zuzukommen, die die Forschung der >Lehrjahre< immer wieder hervorhebt: Der Erzähler überbrückt die nach dem fünften Buch durch die Bekenntnisse einer schönen Seele< unterbrochene Romanhandlung, indem er mittels des Traums von Wilhelm das siebte Buch mit dem vorangegangenen Geschehen verknüpft. Diese Funktionszuschreibung ist insofern plausibel, als der Traum in der Tat das in den früheren Büchern eingeführte Personal mit seinen eigentümlichen Zügen und in Verbindung mit wichtigen früheren Ereignissen Revue passieren läßt.9° Doch besteht der Traum nicht nur aus einem Ensemble von seltsam gemischten Erinnerungsbildern, die das zurückliegende Romangeschehen resümieren. Der Traum kehrt vor allem Wilhelms innere Geschichte nach außen, greift dabei nicht bloß auf seine Vergangenheit zurück, sondern nimmt zugleich seine Zukunft vorweg, so daß das komplexe Geftige von Wilhelms Werdegang als Ganzes sinnfällig wird. Steht Wilhelm zum Zeitpunkt des Traums der Umbruch seines Lebens unmittelbar bevor, d.i. die Notwendigkeit, seine Daseinssphäre vom Theater hin zur Turmgesellschaft zu wechseln, so reflektiert der Traum die dieser Schwellenlage eigentümlichen psychischen Phänomene: Abschied, Trauer, Unsicherheit, Verheißung und Hoffnung. Vergangenes und Künftiges werden hierbei aus Wilhelms gegenwärtiger Lebenslage heraus in einen in sich stimmigen Zusammenhang hineinsortiert. Die Bilder, die sich hartnäckig dem Zuordnungszugriff entziehen, wirr Geträumtes auf dessen Wirklichkeitsfundamente hin zu dechiffrieren, tangieren gerade die Ereignisse, die zwar nicht real geschehen, jedoch in Wilhelms Innerem ihren Schauplatz finden. Es sind die Ereignisse, die sich in seiner Innenwelt zutragen und ihr Ausdruck geben. Die von Wilhelms Empfindungslage zeugenden »[s]onderbare[n] Traumbilder« (801) verweisen auf verborgene Tiefenschichten seiner Psyche und deren latente Konfliktlage, die in seinem immer wieder virulent werdenden Vatertrauma verwurzelt ist. Wilhelm wird dadurch, daß er nach der Ankunft in der Turmgesellschaft seine Reisetasche auspackt und darin den Schleier mit der eingestickten Botschaft wieder entdeckt, aber nicht nur aufs neue mit der väterlichen Welt konfrontiert, mit der er doch längst abgeschlossen zu haben glaubte. Zugleich bündeln sich an der von der Schleierbotschaft evozierten 5
° Es tauchen auf: die frivole Philine, der habgierige Laertes, die tote Aurelie; angespielt wird auf die von dem wahnsinnigen Harfner ausgelöste Feuersbrunst und Felix' Rettung. Selbst das seltsame Traumbild von Frau Melina - sie »saß unter einem Baum und spielte mit einer Rose, die sie in der Hand hielt« (802) - spiegelt den Eindruck wider, den sie erst kürzlich während der Feier nach der >HamletHamletHamletLehrjahre< auf. Dies ist nur folgerichtig, wenn man mit berücksichtigt, daß Wilhelm durch die bevorstehende, von der Turmgesellschaft arrangierte Anerkennung seiner Vaterschaft eine neue soziale Identität erhält. Der dem Theatralischen verbundene Spätadoleszente tritt in die Pflichtwelt eines Vaters, an die Stelle des poetischen Selbstkonzepts tritt die Lebensmaxime utilitaristischen Handelns.
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D e n G r u n d d a f ü r , weshalb M i g n o n alle theatralischen V o r - u n d Verstellungen ablehnt, sieht Mathias M a y e r i m wirtschaftlichen Bezug des Theaters auf die Gesellschaft. D a s unternehmerisch organisierte T h e a t e r Serlos u n d die in ö k o n o m i s c h e r H i n s i c h t >unreine< K u n s t widerspricht der A u t o n o m i e der K u n s t u n d des Künstlers: »Gegenüber der subjektiven u n d reinen, nicht ökonomisch gestimmten Poesie der Selbstaussprache M i g n o n s stellt das Theater als gesellschaftliche Institution den K o m p r o m i ß zwischen K u n s t u n d Ö k o n o m i e , also vergleichsweise unreine Poesie dar: Serlo w i r d als prototypischer Schauspieler u n d T h e a t e r - U n t e r n e h m e r dargestellt, der stets auf das P u b l i k u m angewiesen ist. Seine K u n s t hat den Z w e c k nicht in der Darstellung der Individualität des Künstlers oder eines objektiven Gegenstandes, sondern ist i m m e r gesellschaftlich-ökonomisch ausgerichtet.« M . M a y e r : Selbstbewußte Illusion, S . 61.
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Der rote Faden der Traumhandlung korrespondiert, wie bislang beobachtet, dem Leitfaden von Wilhelms auf seine Identitätskonzepte bezogenem Werdegang als Ganzem: Seine Konfrontation mit dem ökonomischen Lebensentwurf des Vaters am Beginn der >LehrjahreHamletBeischlaf mit dem Geist< vorangetrieben hat. Der verstorbene Vater, der als gebietender Geist auferstanden ist, an die Schuldgefühle des pflichtvergessenen Sohnes appelliert, ihn aus dem Bannkreis der ästhetisch-providentiellen Phantasmagorien befreit und zur Flucht vom Theater ermahnt hat, entfernt im Traum schließlich die Theatermuse aus dem Sichtfeld des auf diese versessenen Sohnes endgültig. Eine neue Lebensform mit einer künftigen Familienbindung an der Seite der Amazone wird als Surrogat der alten Hoffnung in Aussicht gestellt. Wilhelms Traum operiert mit personal figurierten Abspaltungen, seine Interaktion mit diesen in Nähe und Ferne umfaßt Konfliktsituationen und deren Aufhebung im parallelen Bezug auf Vergangenheit und Zukunft.
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III. In die Welt der Zukunft
i.
Initiationsritus
Ich komme nun zum Freisprechungsritual der Turmgesellschaft und damit zum Ende von Wilhelms »Epoche ohne Epoche« (651). Bewältigt Wilhelm jetzt seine Identitätskrise? Dies scheint der Fall zu sein. Mit Hilfe der Turmgesellschaft gelingt es Wilhelm offenbar, sich von der väterlichen Welt zu emanzipieren und seinen identitätsgefährdenden Vaterkomplex zu überwinden, indem er nach langem Zögern Felix als seinen Sohn anerkennt und selbst die Rolle des Vaters einnimmt, was vom Abbe mit den Worten »Heil Dir junger Mann! Deine Lehrjahre sind vorüber, die Natur hat Dich losgesprochen« (876) feierlich deklariert wird. 1 Doch wie sieht das Szenarium genau aus, das die Turmgesellschaft im Freisprechungsritual arrangiert? Erneut tritt der Geist von Hamlets Vater auf die Bühne. In deutlicher Abweichung von der Dramenvorlage arrangiert die Turmgesellschaft die GeistSzene allerdings neu. An die Stelle der einstmals vom Geist »mit einem tiefen Gefühl des Verdrusses« (691) artikulierten Aufforderung zum Gehorsam tritt nun sein Segen für eine frohe Zukunft: »Ich bin der Geist Deines Vaters, [...] scheide getrost, da meine Wünsche für Dich, mehr als ich sie selbst begriff, erfüllt sind. [...] Lebe wohl, und gedenke mein, wenn Du genießest, was ich Dir vorbereitet habe.« (874) Wiederum glaubt Wilhelm, die Stimme seines Vaters zu vernehmen. So wie sich bei ihm früher über den Gleichklang der Stimmen von theatralischem Geist und verstorbenem Vater das szenische Autoritätsverhältnis psychisch realisierte, so realisiert er jetzt im Medium der theatralisch inszenierten Freisprechung das gegenüber der einstigen >HamletWilhelm Meisters Lehrjahren«. Zur Geschichte des Geheimbundromans und der Romantheorie im 18. Jahrhundert. Bern/Frankfurt a.M. 1975; Peter Christian Ludz (Hrsg.): Geheime Gesellschaften. 2 Bde. Heidelberg 1979/80.
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Außenwelt eine neue Wendung der Inversion gibt. Die durch die realisierte Wunschwelt des Theaters nach innen verdrängte väterliche Autorität wird im Arrangement der Turmgesellschaft nach außen geführt und zur Erlaubnisinstanz für ein glückhaftes Leben umcodiert. Die »Epoche ohne Epoche«, die aus der Diskrepanz zwischen Innen und Außen entstand, scheint Wilhelm also in eben dem Moment bewußt zu beenden, da er mit tatkräftiger Unterstützung der Turmgesellschaft den verbietenden Vater in sich überwindet. Im folgenden rekapituliere ich in Kürze die einzelnen Stadien des Vater-SohnKonflikts, der mit dem Tod des Vaters zur »Epoche ohne Epoche« fuhrt und mit der Initiationszeremonie beendet wird. 1) Eine restriktiv geltende epochale Zäsur markiert der Zeitpunkt, zu dem Wilhelm vom Tod seines Vaters erfährt. Immerhin beginnt er — rechtlich mündig geworden — einen neuen Lebensabschnitt, auch wenn er sich innerlich hierüber noch nicht im klaren sein mag. Hier divergieren zwar die äußere und die innere Epoche um den hohen Preis einer Identitätskrise. Doch damit beginnt Wilhelm eine neue äußere Epoche. 2) Die >HamletHamlet< wird zugleich Wilhelms intrapsychischer Konflikt mit dem autoritären Vater externalisiert. Die Koordination der Internalisierung des äußeren Vorkommnisses und der Externalisierung der inneren Bredouille bringt dabei die äußere und die innere Epoche auf der unbewußten Ebene in Korrelation. Trotzdem speist sich diese Wechselbeziehung weiterhin aus dem Vater-Sohn-Konflikt. 3) Der sich an die >HamletHamletHamletperformativen Selbstwiderspruchsc In genau dem Akt, der ihm Mündigkeit und Selbstbestimmung propositional zuspricht, ist er Gegenstand von Entmündigung und Fremdbestimmung. 3 Dieser Widerspruch aber prägt seinen weiteren Lebensweg: Gerade die Zeit nach der »Epoche ohne Epoche« wird nicht von Autonomie, sondern von Heteronomie bestimmt. Zwar hat sich mit der von der Turmgesellschaft vollzogenen Umformung des gebietenden in den erlaubenden Vater die personifizierte Autoritätsinstanz aufgelöst, der sich Wilhelm durch die Flucht in ästhetische Gegenwelten zu entziehen suchte. Damit hat Wilhelm in gewisser Weise aber auch einen Halt
1
3
Z u dem pädagogischen Einfluß der Turmgesellschaft auf Wilhelms Werdegang und ihrer mikrokosmischen Spiegelung der menschlichen Gesellschaft siehe Rosemarie Haas: Die Turmgesellschaft in >Wilhelm Meisters Lehrjahren', Bern/Frankfurt a.M. 1975; Wilfried Barner: Geheime Lenkung. Z u r Turmgesellschaft in Goethes »Wilhelm Meister*. In: William J. Lillyman (Hrsg.): Goethe's Narrative Fiction: T h e Irvine Goethe Symposium. Berlin/New York 1983, S. 85-109. Der auf Wilhelm bezogene Erziehungserfolg der Turmgesellschaft resultiert nach Friederike Eigler aus der quantitativen Steigerung der väterlichen Autorität: »Auf subtilere und fur Wilhelm undurchsichtigere Weise fuhren die Mitglieder des Turms das fort, was dem leiblichen Vater zunächst mißlungen ist: Auf unterschiedlichen Wegen versuchen sie Wilhelm von dem Dilettantismus seiner Schauspielerei zu überzeugen, und bieten ihm als »Therapie« eine Tätigkeit im Sinne des Gemeinwohls an, ohne daß dessen Inhalt genauer bestimmt würde. Wilhelm ist dem väterlichen Machteinfluß, der schon in seiner Kindheit nie direkt (an-)greifbar war, nur scheinbar entflohen. Mit der »Vervielfältigung* der Väter vergrößert sich die Möglichkeit ihrer Einflußnahme bzw. verkleinern sich Wilhelms Chancen, sich der Fremdbestimmung zu entziehen.« F. Eigler: Wer hat »Wilhelm Schüler* zum »Wilhelm Meister* gebildet? S. ioyf.
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verloren: Es war ja der väterliche Gegenpol, der ihm mit der Möglichkeit, in heimlicher Rebellion zu leben, eine gewisse Stabilität verschaffte — so prekär diese auch immer sein mochte. An die frei gewordene Stelle der Vaterautorität treten nun die mannigfachen Zufälle des Lebens. Sie erlauben es Wilhelm nicht mehr, nach dem zur Selbstvergewisserung entworfenen Muster des »Jünglings am Scheideweg« oppositionelle Wunschwelten zu entwerfen. So einfach, wie er es sich mit seinem Jugendgedicht suggeriert hatte, ist der Komplexität der Außenwelt nicht zu begegnen. Die vom Vater ex negativo gestiftete Gewißheit einer ästhetischen Existenz wird jetzt abgelöst von Ungewißheit, wie sie die Unberechenbarkeit der Verhältnisse erzeugt. Wilhelm will zwar seine Verhältnisse selbst bestimmen, will seinem Sohn ein guter Vater sein, sucht fur ihn die ideale Mutter und schließt sich den ökonomischen Plänen der Turmgesellschaft an. Doch alle diese Bestimmungsversuche enden — hier nehme ich den Schluß des Romans vorweg — letztlich in der Einsicht, daß sich nichts autonom bestimmen läßt. Die auf seinen Sohn Felix bezogenen Erziehungsversuche schlagen fehl — zum Glück, sagt der Roman, denn sonst hätte Felix die vergiftete Milch getrunken und wäre gestorben. Auch Wilhelms Heiratspläne mit Therese scheitern trotz reiflicher Überlegung — zum Glück, sagt der Roman, denn andernfalls hätte er ja nicht Natalie zur Frau nehmen können. Seine ökonomischen Pläne und Absichten verfolgt Wilhelm erst gar nicht weiter. Nur der Zufall in Form des verbalen Schabernacks von Friedrich spielt ihm noch rechtzeitig die richtige Braut zu, so daß der Roman glücklich endet, wenn man die intertextuelle Anspielung auf Saul, den Melancholiker und Selbstmörder, einmal abblendet. Doch noch kurz zuvor befindet sich Wilhelm in der tiefsten Identitätskrise seines bisherigen Lebens. Ohne die ihn ex negativo orientierende Vaterinstanz gerät er in ein heilloses Wirrwarr von Absicht und Ausführung. Tiefste Depression ist die Folge. Drei Seiten vor Ende des Romans findet sich eine Passage, die Wilhelms verzweifelte Seelenlage eindringlich wiedergibt: »Vergebens klagen wir Menschen uns selbst, vergebens das Schicksal an! Wir sind elend und zum Elend bestimmt, und ist es nicht völlig einerlei, ob eigene Schuld, höherer Einfluß oder Zufall, Tugend oder Laster, Weisheit oder Wahnsinn uns ins Verderben stürzen.« (989^ Von Identitätsgewinnung, Selbstentfaltung und Selbstbestimmung findet sich hier keine Spur.
2. D i e entschleierte M u s e — M i g n o n Im letzten Buch der >Lehrjahre< bringt Goethe die Schleiersymbolik zum Stadium ihrer endgültigen Entfaltung. Hier endlich wird das Geheimnis gelüftet, aus welcher realen Quelle der Protagonist jene Zeichenwelt des Schleiers geschöpft hatte, mit deren Hilfe er sein künstlerisches Sendungsbewußtsein anfänglich konstruierte. Anders als die übrigen ästhetischen Erlebnismu148
ster, die Wilhelms Realitäts- und Selbstwahrnehmung präformieren - wie die Geschichte von >David und GoliathDas befreite Jerusalem< und das Gemälde vom kranken Königssohn —, bleibt bis zum abschließenden Teil des Romans im Dunkeln, welcher Wirklichkeitswahrnehmung sich die in Wilhelms Jugendgedicht »Jüngling am Scheideweg« heraufbeschworene und Wilhelm mit einem goldenen Schleier zu ihrem Schützling bestimmende »Muse der tragischen Dichtkunst« (383) verdankt. Wenn Goethe die lange verschwiegene materielle Vorlage der für Wilhelms Selbstvergewisserungslyrik so zentralen Theatermuse schließlich doch noch enthüllt, so verknüpft er durch die erneute Verwendung der Schleiersymbolik den Anfang mit dem Ende des Romans. Zugleich schließt er damit den Kreis der Symbolkette, welche die empirische Handlungswirklichkeit mit einem Netz bedeutsamer Zeichen überzieht und Wilhelm - bewußt oder unbewußt - zur Orientierung dient. Der Schlußpunkt der Symbolverknüpfung wird gesetzt, als Wilhelm das Haus von Natalies Oheim betritt und dort die komplette Kunstsammlung seines Großvaters wiederfindet. Die Kunstwerke, die der junge Wilhelm einst verloren geben mußte, als er von seinem Vater - mit traumatisierender Wirkung — ästhetisch »enterbt« (384) wurde, treten hier auf überraschende Weise erneut vor sein Auge. Während sich das Gespräch, das Wilhelm im ersten Buch der >Lehrjahre< mit dem Turmabgesandten führte, ausschließlich um eines der vielen Kunstwerke, nämlich das Gemälde vom kranken Königssohn, gedreht hatte, fällt ihm nun im letzten Buch ein weiterer Kunstgegenstand auf. Zunächst werden zwar all die »Jugendeindrücke« wieder aufgerufen, die sich an die Kunstsammlung knüpfen - »auch in ihren kleinsten Teilen«, wie der Erzähler hinzufügt. (892) Doch dann schenkt Wilhelm die größte Aufmerksamkeit einer marmornen Statue, von der bislang noch nicht die Rede war. Kaum hatte er mit dem schlafenden Felix auf dem Arm das Haus von Natalies Oheim betreten, erkannte [er] eine Muse, die seinem Großvater gehört hatte, zwar nicht an ihrer Gestalt und an ihrem Wert, doch an einem restaurierten Arme und an den neueingesetzten Stücken des Gewandes. Es war, als wenn er ein Märchen erlebte. (892: Hervorhebung von mir)
Bezeichnend ist nicht nur, daß die Marmorstatue scheinbar ohne jeden erkennbaren Grund in das Blickfeld Wilhelms gerät,4 ehe er dann »zu seinem noch größern Erstaunen [...] das wohlbekannte Bild vom kranken Königssohn an
4
Gerhard Neumann deutet die Marmorstatue im kultursemiotischen Kontext als »das Emblem eben jener Körperlichkeit, an der sich die sozialen Akte der Einkleidung im Roman immer wieder zu bewähren haben, der >Investitur des Individuumsnatürliche< und verklärte Form der Körperlichkeit, der zivilisatorischen Situation der Gegenwart entgegenstellt«. G . Neumann: »Ich bin gebildet genug, um zu lieben und zu trauern«, S. 54.
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der Wand« (892) sieht, sondern auch, daß er sie an bloßen Beiläufigkeiten und Ausbesserungen wie »einem restaurierten Arme und an den neueingesetzten Stücken des Gewandes« identifiziert. Nicht das Kunstwerk als ein Ganzes — weder »Gestalt« noch »Wert« - ruft bei ihm also die Kindheitserinnerungen wach, sondern kleine Restaurierungsdetails. Offensichtlich ist für Wilhelm nicht die ästhetische Ganzheitserfahrung, welche die äußere Erscheinung und den ideellen Wert gemäß der Winckelmannschen Doktrin des ästhetischen Platonismus zur idealischen Schönheit zusammenschließt,5 erinnerungsprägend. Warum aber fungieren Einzelheiten wie Arm und Gewand als Erkennungsmerkmale der über lange Zeit vergessenen marmornen »Muse«? Und weshalb wird Wilhelms Erinnerung nicht vom ästhetischen Erlebnis ihrer künstlerischen Gestaltung, sondern von der profanen Wahrnehmung ihrer handwerklichen Reparatur bestimmt? Zunächst ist festzuhalten, daß in den >Lehrjahren< von zwei Musen in Verbindung mit Kunstwerken die Rede ist — das eine Mal mit Bezug auf die professionelle Bildhauerei, das andere Mal im Hinblick auf die dilettierende Dichtung. Indem der junge Wilhelm in seinem Gedicht »die Muse der tragischen Dichtkunst« (383) nach dem Bild der Statue formt, eröffnet die Bildhauerei der Dichtung deren Akzentuierungsmöglichkeiten. Sowohl der körperliche Ausdruck (»herrlich gebildet«) als auch die Utensilien (»Kronen und Dolche, Ketten und Masken«) der Muse können als erste Hinweise gelten, daß Wilhelm seine kindlichen Eindrücke von der Statue in sein Gedicht überfuhrt. Daher sind ihm nicht von ungefähr ausgerechnet Arm und Gewand der Statue in Erinnerung geblieben. Diese beiden Erkennungsmerkmale rekurrieren nämlich auf die zentrale Handlung der lyrisch beseelten Muse: »enterbt und nackt übergab ich mich der Muse, die mir ihren goldnen Schleier zuwarf und meine Blöße bedeckte.« (384) Deutlich wird also, wie und weshalb Wilhelms Erinnerung nicht von dem gesamten Objekt der Erinnerung bestimmt wird, sondern allein von dessen lyrischer >Verarbeitung< zu den beiden signifikanten Gesten von Zuwendung und Auszeichnung, die mit dem Arm und dem Gewand der sich ihm zuwendenden Muse konnotiert sind. Die Indizien, die erlauben, die Marmorstatue als materielles Substrat der lyrisch formierten Sendungsgöttin zu betrachten, sind so vage nicht, wie es eine kontextlose Betrachtung vermuten läßt. Der Romanzusammenhang verdeutlicht, wie durch Wilhelms besondere Lage die lyrische Transformation der Statue in eine ihn zum ästhetischen Dasein auserwählende Muse motiviert wird. Denn Wilhelms Jugendgedicht reflektiert ein ihn tief verletzendes Kindheitserlebnis in zeichenhafter Umkehr. Der Vater hatte seinerzeit die Kunstschätze verkauft, um mit dem so gewonnenen Geld Geschäfte zu machen.
s
Vgl. Winckelmann: »Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst'.
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Wilhelm fühlte sich dadurch aus der Sphäre der Kunst vertrieben, schließlich boten die leeren Wände des neuen Hauses seiner Phantasie keine Nahrung mehr. Und so formte er eben mit Hilfe seines Gedichtes um, was er zuvor real erlebt hatte. Zwar enterbt das personifizierte Gewerbe im Gedicht den Jüngling, doch wird dieser von der Inkarnation des Ästhetischen, der Muse, gerettet. Es wird aber nicht nur das durch den Vater verursachte >Trauma< ökonomischer Dominanz in Wilhelms lyrischem Phantasma umkodiert. Auch sind die beiden Beteiligten an der Überführung der Kunst in Ökonomie, der enterbende Vater und der enterbte Sohn, nicht die einzigen Ingredienzien des lyrischen Sprechens. Befand sich unter den vom Vater verkauften Kunstwerken auch die Marmorstatue, so zeigt sich, daß auch die dritte im Gedicht auftauchende Person, die Muse der Dichtkunst, ein reales Pendant hat - nämlich die Marmorstatue. 6 Diese wurde zwar vom Vater zu Geld gemacht, vom Sohn aber sogleich im Medium des Gedichts >gerettethappy end< wendet, kann als poetische Wiedergutmachung der realen Niederlage gedeutet werden, die die Muse als Vertreterin des Ästhetischen und ihr Schützling gemeinsam zu erdulden hatten. Die lyrische Allmachtsphantasie kompensiert auf diese Weise zum einen Wilhelms Trauer um die materiell verlorengegangene Muse, zum anderen bindet sie ihn um so fester an die imaginierte Muse, der er von nun an sein inneres Selbst und seine künftige Existenz unterwirft.
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geist. So hat er zuzugestehen, daß der Glaube an seine theatralische Sendung eine Illusion war. Das Wiedersehen mit der Marmormuse, aus der einst die Schicksalsbotin wurde, reflektiert ihren markanten Wertverlust. Woran er sich beim Anblick der Marmorstatue erinnert, sind nur noch die fur ihn einstmals bedeutsamen Relikte, »Arm« und »Gewand«. Den über sie vermittelten »Wert« seiner ästhetischen Auszeichnung jedoch hat er vergessen. Zeichentheoretisch ließe sich deshalb sagen: Die Signifikanten haben ihre früheren Signifikate verloren. Bei der Wiederbegegnung mit der Muse fühlt sich Wilhelm, »als wenn er ein Märchen erlebte« (892). Doch nicht nur das unverhoffte Wiedersehen mit der Marmorstatue überrascht ihn >wie ein Märchens sondern alles, was die Muse einst fur ihn zu verkörpern schien, ist ihm inzwischen zum >Märchen< geworden. Mit der Unmöglichkeit, die Muse wegen ihres ihm die Identität eines Künstlers zuweisenden Wertes würdigen zu können, materialisiert er die Muse, die er vormals im poetischen Medium aus marmorner Erstarrung gelöst hatte, in ihre ursprüngliche Leblosigkeit zurück, weil die anfänglich von Wilhelm konstruierte Welt der Providenz, der sie ja angehört hatte, jetzt sinnentleert ist. In diesem Zusammenhang ist es nur konsequent, daß das Monument der ehemaligen Schicksalsbotin, deren Sendungsnachricht nicht mehr gilt, durch ein neues ersetzt wird. Als Wilhelm kurz nach der Wiederbegegnung mit der Marmormuse in Begleitung von Natalie zum ersten Mal den »Saal der Vergangenheit« (919) besichtigt, schenkt er — scheinbar völlig unmotiviert — einem Kunstwerk besondere Aufmerksamkeit: Der Türe gegenüber sähe man auf einem prächtigen Sarkophagen das Marmorbild eines würdigen Mannes, an ein Polster gelehnt. Er hielt eine Rolle vor sich, und schien mit stiller Aufmerksamkeit darauf zu blicken. Sie war so gerichtet, daß man die Worte, die sie enthielt, bequem lesen konnte. Es stand darauf: Gedenke zu leben. (920) An die Stelle der ästhetischen Schicksalsbotin, die einst aus ihrer marmornen Erstarrung gelöst und mit ihrer zeichenhaften Geste einer erotischen Verheißung Wilhelm zur Theaterexistenz zu berufen schien, tritt nun ein »Marmorbild eines würdigen Mannes«. Nicht nur das Geschlecht der Statue hat sich hierbei ins Gegensätzliche gewandelt. Der neue Bote bedient sich nicht etwa wie die alte Botin der sinnbildlichen Zeichen, sondern der eindeutigeren der Sprache, die man »bequem lesen« kann. Dieser verbindlichen Schriftlichkeit der Botschaft kommt überdies ihre — von Goethe selbst hervorgehobene — verpflichtende Formulierung im Imperativ hinzu: »Gedenke zu leben,«8 Dieses
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Auf diese Lebensmaxime des Oheims bezieht sich Hans-Jürgen Schings in seiner kenntnisreichen Studie über Goethes Figurenkonzeption von Natalie, hinter der sich die Philosophie Spinozas verberge. H.-J. Schings: Natalie und die Lehre des t t t · Zur Rezeption Spinozas in »Wilhelm Meisters LehrjahrenWilhelm Meister< und Spinoza. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Verantwortung und Utopie. Z u r Literatur der Goethezeit, Tübingen 1988, S. 57-66.
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sprachlich generierte Verpflichtungsverhältnis zwischen der männlichen sprechenden Marmorstatue und deren stummem Betrachter knüpft sich außerdem an ein bedeutendes Erlebnis von Wilhelm. Während des Initiationsritus in der Turmgesellschaft, der Wilhelm fast zu einem stummen Zuschauer einer Theaterauffiihrung gemacht hat, trat der Geist von Hamlets Vater, dessen Stimme er als die seines leiblichen Vaters wiedererkennen wollte, auf die Bühne, um dem nun mündig gewordenen Sohn seinen Segen zu geben: »Lebe wohl, und gedenke mein [...].« (874) Die Autoritätskonstellation zwischen dem redend Verpflichtenden und dem stumm Verpflichteten repetiert im Saal der Vergangenheit. Frappierend sind auch die Ähnlichkeiten hinsichtlich der sprachlichen Formulierung. Zwischen den beiden Aussagen herrschen sowohl die lexikalische wie auch die Imperativische Kohärenz. 9 Das »Marmorbild«, das Wilhelm vormals mit seiner lyrischen Sprache zum Leben erweckt hat, um sich seiner ästhetischen Identität zu vergewissern, erhält folglich einen neuen ideellen Stellenwert. Was früher mütterlich, weiblich, erotisch und verführerisch konnotiert war, wird nun durch die ihnen diametral entgegengesetzte Assoziationskette umkodiert; väterlich, männlich, verpflichtend und befehlend. An dieser Uracodierung reflektieren erneut die Folgen jener geheimnisvollen Liebesnacht Wilhelms mit einer Person, die seine Einbildungskraft für den Geist von Hamlets Vater hielt. Seine Wahrnehmung der Dinge hat sich verändert, und zwar um den Preis des narzißtisch geprägten, ästhetischen Selbstentwurfs. Die neue Marmorstatue konsolidiert und versinnbildlicht aber nicht nur den Stellenwert des grauen Schleiers. Noch prägnanter knüpft sie sich direkt an ein anderes früheres Stadium der Schleiersymbolik: die Lichtungsszene nach dem Uberfall. Die Bedeutsamkeit eines scheinbar kontingenten Phänomens — Wilhelms Blick selektiert die Statue ja gleichsam nach einem Zufallsprinzip — steigert sich zusehends, sobald die >IdentitätUnreifeParadigmenwechsel< wird ferner daran bemerkbar, daß zwei konkurrierende Lebensanschauungen in einem Raum repräsentiert sind. Während die Botschaft der Lebenszugewandtheit sich nun eindeutig vernehmen läßt, wird die Bestattung der todessehnsüchtigen Mignon 10 , die die Welt der Poesie inkarniert, schon vorbereitet und so vorab dem Tod geweiht.
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Mignon äußert ihre Todessehnsucht gerade im Saal der Vergangenheit, in dem ihre Bestattung stattfinden und ihr Leichnam aufbewahrt werden wird: »Böses Kind! sagte Natalie, ist Dir nicht alle heftige Bewegung untersagt? sieh, wie Dein Herz schlägt? Laß es brechen! sagte Mignon, mit einem tiefen Seufzer, es schlägt schon zu lange.« (924)
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Vier große marmorne Kandelaber standen in den Ecken des Saals, vier kleinere in der Mitte, um einen sehr schön gearbeiteten Sarkophag, der seiner Größe nach eine junge Person von mittlerer Gestalt enthalten haben sollte. Natalie blieb bei diesem Monumente stehen, und indem sie die Hand darauf legte, sagte sie: mein guter Oheim hatte große Vorliebe zu diesem Werke des Altertums. Er sagte manchmal: nicht allein die ersten Blüten fallen ab, die ihr da oben in jenen kleinen Räumen verwahren könnt, sondern auch Früchte, die uns, am Zweige hängend, noch lange die schönste Hoffnung geben, indem ein heimlicher Wurm ihre frühere Reife und ihre Zerstörung vorbereitet. Ich furchte, fuhr sie fort, er hat auf das liebe Mädchen geweissagt, das sich unserer Pflege nach und nach zu entziehen und zu dieser ruhigen Wohnung zu neigen scheint. (922f.)
Nach dem endgültigen Sinnverlust seines Sendungsglaubens überfällt Wilhelm eine tiefe Melancholie, die ihm sogar den Schlaf raubt: »Wenn alles schlief, ging er in dem Hause hin und her. Die Gegenwart der alten bekannten Kunstwerke zog ihn an, und stieß ihn ab. Er konnte nichts, was ihn umgab, weder ergreifen noch lassen, alles erinnerte ihn an alles, er übersah den ganzen Ring seines Lebens, nur lag er leider zerbrochen vor ihm, und schien sich auf ewig nicht schließen zu wollen.« (95if.) Die Ringmetapher, mit der der Erzähler Wilhelms Frustration Ausdruck verleiht, ist in sich paradox. Einerseits besagt sie, daß dem bisherigen Leben durchaus eine sinnvolle Einheit inhärent gewesen war (der Ring als ehemals unzerbrochener) - andererseits wird eben jener in sich kohärente Zusammenhang destruiert (der Ring als auf ewig zerbrochener)." Also scheint es, als hätte es ein kausales Lebensgefuge als regulative Idee< gegeben, auch wenn es real nicht existierte. Doch nunmehr sieht Wilhelm bloß die Fragmente, ohne sie zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfugen zu können. Diese Erkenntnis vollzieht sich in ihm just zu dem Augenblick, da er der großväterlichen Kunstsammlung gegenübersteht. Zieht man in Betracht, was in Wilhelm vor sich geht, als er die entauratisierte Muse unter den Artefakten wiederfindet, so kann man sich an die Schicksalssemantik erinnern, die Wilhelm auf die Muse der tragischen Dichtkunst projiziert hatte. Der Verkauf
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Schon der vom Puppenspiel begeisterte kleine Wilhelm zeichnet sich durch eine ausgeprägte >hermeneutische< Neugier aus. Hinter dem unmittelbar Erlebten vermutet er einen in sich kohärenten und hermeneutisch erfaßbaren Zusammenhang, dem die Wirkung des Marionettentheaters auf ihn als der Teil untergeordnet ist. So heißt es im ersten Buch: »Nachdem ich etwas erfahren hatte, kam es mir erst vor, als ob ich gar nichts wisse, und ich hatte Recht: denn es fehlte mir der Zusammenhang, und darauf kommt doch eigentlich alles an.« (370). Diese scheinbar nur auf seine Kindheit ruckblickende Bemerkung Wilhelms gegenüber Mariane spiegelt seine Neigung, seine Erlebnisse mit Blick auf den gesamten Lebenszusammenhang hermeneutisch auszulegen. Z u m Zeitpunkt seiner Liebesbeziehung mit Mariane war er sich noch nicht bewußt, daß der postulierte Zusammenhang nur das providentielle Projektionsgebilde seiner theatralischen Sendung ist. Diese narzißtische Verkennung des Lebenszusammenhangs wird im Saal der Vergangenheit als solche erkannt und im Medium der Ringmetapher zum Ausdruck gebracht. Siehe zum Aspekt der hermeneutischen Lebensanschauung, die das Bildungskonzept der Turmgesellschaft prägt, Friederike Eigler: Wer hat >Wilhelm Schulen zum »Wilhelm Meisten gebildet? S. 97f.
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der Kunstsammlung durch seinen Vater, den Wilhelm einst als schmerzhafte Enterbung erfahren hatte, erscheint ihm jetzt als Sinnbild für seine gegenwärtige Lebenslage: Wilhelm sieht sich des Bewußtseins seiner theatralischen Sendung beraubt - sei es aus eigener Schuld, weil das Sendungsbewußtsein ohnehin ein Irrtum gewesen war, sei es aus fremder Schuld, weil die Turmgesellschaft diese Desillusionierung initiiert hat: »Diese Kunstwerke, die sein Vater verkauft hatte, schienen ihm ein Symbol, daß auch er von einem ruhigen und gründlichen Besitz des wünschenswerten in der Welt teils ausgeschlossen, teils desselben durch eigne oder fremde Schuld beraubt werden sollte.« (952: Hervorhebung von mir) Wilhelms verzweifelte Innenschau, die aus seiner Erkenntnis der Differenz zwischen subjektiver Sinnprojektion und objektiver Sinnlosigkeit resultiert, hat Goethe in seiner erkenntnistheoretischen Abhandlung >Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt< als allgemeines anthropologisches Phänomen reflektiert. In dieser Abhandlung, die er 1792 — drei Jahre vor der Vollendung der >Lehrjahre< — verfaßt hat, bedient er sich einer ähnlichen Darstellung, um die auf Gegenstände bezogene Wahrnehmung des Menschen in ihrer egozentrischen Dimension kritisch zu beleuchten. Wilhelms subjektives Verhältnis zu den illusionierenden und desillusionierenden Kunstwerken (ihre Gegenwart »zog ihn an, und stieß ihn ab«), die einstmals seinen Sendungsglauben entfachten, um ihn jetzt zu dementieren, und die emotionellen Folgen des erkannten Irrtums korrespondieren — zum Teil wörtlich — Goethes allgemeiner Darstellung: Sobald der Mensch die Gegenstände um sich her gewahr wird, betrachtet er sie in Bezug auf sich selbst, und mit Recht. Denn es hängt sein ganzes Schicksal davon ab, ob sie ihm gefallen oder mißfallen, ob sie ihn anziehen oder abstoßen, ob sie ihm nutzen oder schaden. Diese ganz natürliche Art die Sachen anzusehen und zu beurteilen scheint so leicht zu sein als sie notwendig ist, und doch ist der Mensch dabei tausend Irrtümern ausgesetzt, die ihn oft beschämen und das Leben verbittern. 12
Die über das Gedicht »Jüngling am Scheideweg« zur theatralischen Muse erhobene Statue, die ihm früher - so seine fiktional gestaltete Imagination - den goldenen Schleier zugeworfen und so die ökonomische Enterbung poetisch kompensiert hatte, hat zur Zeit der Wiederbegegnung längst ihre Kraft verloren, Wilhelms Sendungsbewußtsein zu stützen. Einst war sie für Wilhelm das Zentrum seines auf persönliche Sinnstiftung gerichteten Providenzdenkens gewesen.13 Sie hatte als Dreh- und Angelpunkt seiner theatralischen Selbststili" FA 2.5, S. 26. 13 Bereits im ersten Buch des Romans deutet Wilhelm im Gespräch mit dem Unbekannten die Kunstsammlung seines Großvaters und deren Verlust im Kontext seines Providenzdenkens: »wenn ich aber bedenke, daß es gleichsam so sein mußte, um eine Liebhaberei, um ein Talent in mir zu entwickeln, die weit mehr auf mein Leben wirken sollten, als jene leblosen Bilder je getan hätten; so bescheide ich mich denn gern, und verehre das Schicksal das mein Bestes und eines jeden Bestes einzuleiten weiß« (423: Hervorhebung von mir).
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sierung fungiert, die Kohärenz des von ihm selbst projizierten eigenen Lebensentwurfs garantiert und so in den verschiedenen Lebenssituationen den sinnstiftenden Zusammenhang im Rahmen seiner Selbst-Poetisierung gesichert. Doch jetzt ist für Wilhelm der Sinn, der ihm durch die Muse gesichert schien, zerbrochen.14 Nur noch an den entauratisierten Relikten der Marmorstatue erkennt er die ihm einst als Orientierungsinstanz suggerierte Muse wieder. Ihre »Gestalt« und ihr »Wert« aber sind entschwunden. Und eben dieser Verlust wird Wilhelm bei der Wiederbegegnung mit der Statue transparent: Wird die Marmorstatue als reale Grundlage jener fiktional gestalteten Muse erkannt, diese zugleich aber als solche entauratisiert, so wird der Verlust jenes Sinns, der durch diese Muse gesichert schien, offenbar. Im entfremdeten Verhältnis zur großväterlichen Kunstsammlung entfremdet sich Wilhelm noch weiter von seinem Konzept einer ästhetischen Lebenskohärenz: »Er verlor sich so weit in diesen sonderbaren und traurigen Betrachtungen, daß er sich selbst manchmal wie ein Geist vorkam, und selbst, wenn er die Dinge außer sich befühlte und betastete, sich kaum des Zweifels erwehren konnte, ob er denn auch wirklich lebe und da sei.« (952) In diesem Augenblick erfährt Wilhelm sein Identitätsfiasko, da er den Sinnverlust erkennt. Er hat sich - wie seine veränderte Wahrnehmung zeigt - vom schicksalsgläubigen Musenschützling zum nüchternen Betrachter einer Marmorstatue entwickelt. Was er einstmals in kühnem fiktionalem Entwurf providentiell überformte, erweist sich als Ausgeburt narzißtischer Wunschphantasie. Wilhelm gelangt, ganz wie es die Turmgesellschaft wollte, zu der Einsicht, daß die über die Muse vermittelte Zeichenwelt des goldenen Schleiers ein Irrtum war. Nun könnte man annehmen, die Schleiersymbolik, anhand derer Goethe in den >Lehrjahren< durchgehend das jeweilige Entwicklungsstadium des Protagonisten markiert und reflektiert, sei nun an ihr Ende gekommen. Schließlich haben die kalkulierten Erziehungsmaßnahmen der Turmgesellschaft gefruchtet: 14
Hans-Jürgen Schings blendet die melancholische Bedeutungsdimension der von Wilhelm verwendeten Ringmetaphorik, die sich schon in seiner Rede von der Zerbrochenheit des Rings manifestiert, gänzlich aus und behauptet, gegen Ende der >Lehrjahre< schließe sich der Ring von Wilhelms Leben. Den Ausdruck der tiefen Identitätskrise von Wilhelm positiviert Schings irrtümlicherweise als Glücksmoment der Heilung, der die Kohärenz in Wilhelms Werdegang veranschaulicht: »Die Wiedererkennungen und Wiederfindungen der letzten Bücher, die geradezu eine >Wiederbringung aller Dinge< stiften, sind Ausdruck einer Heilung, sichern sie doch die Kontinuität von Wilhelms Schicksal, von den unauslöschlichen frühesten Eindrücken bis zu ihrer gegenwärtigen Erfüllung. Namentlich die Wiederkehr der Urgeschichten spiegelt den Zusammenhang von Suchen und Finden, der Wilhelms Glück ausmacht. Die Bilder der Innenwelt treten nach außen, die frühesten Prägungen bilden sich zu Konstellationen aus, in die Wilhelm einrückt, bis die heilkräftige Stratonike den Sieg über die tragische Chlorinde und damit über das zerstörerische Bild Tankreds davonträgt, die vollendete Gestalt Natalies den kranken Königssohn von der Rolle Tankreds und Hamlets, von seiner Krankheit befreit.« H.-J. Schings: Agathon - Anton Reiser — Wilhelm Meister. Z u r Pathogenese des modernen Subjekts im Bildungsroman. In: Wolfgang Wittkowski (Hrsg.): Goethe im Kontext. Kunst und Humanität, Naturwissenschaft und Politik von der Aufklärung bis zur Restauration. Ein Symposium. Tübingen 1984, S. 42—68, hier S. 6if.
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Wilhelm hat sich von seiner theatralischen Sendung verabschiedet, sein Dasein als Vater von Felix akzeptiert und sich den pragmatischen Normen der Gesellschaft gefugt. Doch der Schleier taucht, obgleich er seinen ideellen Stellenwert für Wilhelm gänzlich verloren hat, noch ein letztes Mal auf. Erstaunlich ist, daß der Schleier seinem - aus Wilhelms Sicht - bereits vollzogenen Sinnverlust mit heftigem Widerstand zu trotzen versucht. Was Wilhelm als Irrtum und Ausgeburt subjektiver Einbildung erkannt hat, tritt auf einmal so in Erscheinung, als gäbe es schließlich doch die durch den Schleier indizierte Welt der Poesie. Der Ort, an dem er erscheint, sind die Exequien Mignons. Im Roman besaß der Schleier bislang primär eine imaginäre Präsenz als Symbol der theatralischen Sendung Wilhelms, die er in seinem Gedicht »Jüngling am Scheideweg« zum goldenen Schleier der Muse transformiert hatte. Wenn der Schleier dennoch materiell präsent war, so diente er höchstens — wie das Gewand der Marmorstatue - als Vorlage des goldenen Schleiers oder als Surrogat dieses materiell fehlenden Sendungszeichens: Der Vorhang des Puppentheaters wird erst in Wilhelms Erzählung gegenüber Mariane, d.h. im Rückblick, den der bereits sendungsbewußte Mann auf sein Kindheitsfaszinosum wirft, als »mystischer Schleier« bezeichnet. Während er von seiner Kindheit erzählt, interpretiert er den Theatervorhang als Fingerzeig des Schicksals fur den künftigen Theatermacher. Marianes Halstuch, Philines Halstuch, der Uberrock der schönen Amazone und der graue Schleier des Geistes von Hamlets Vater waren Surrogate des bloß ideell präsenten Musenschleiers, an denen Wilhelm jeweils die schicksalhaften Botschaften der Muse abzulesen meinte. Bei der Aufbahrung Mignons, deren Leiche die Turmgesellschaft Wilhelm bis zu diesem Zeitpunkt nicht zu Gesicht kommen läßt, wird er angesichts ihrer ästhetischen Zurichtung zutiefst erschüttert. Zum letzten Mal im Roman fungiert ein Schleier als auslösendes Moment fur Wilhelms emotionale Betroffenheit. Er reagiert auf höchst seltsame Weise auf den Anblick der toten Mignon, welcher der Arzt mit seiner Kunst der Mumifizierung den »Schein des Lebens« verliehen hat:15 Der Abbe »hub den Schleier auf, und das Kind lag in seinen Engelkleidern, wie schlafend, in der angenehmsten Stellung. Alle traten herbei, und bewunderten diesen Schein des Lebens. Nur Wilhelm blieb in seinem Sessel sitzen, er konnte sich nicht fassen; was er empfand durfte er nicht denken, und jeder Gedanke schien seine Empfindung zerstören zu wollen« (958: 15
Patricia Oster stellt im Hinblick auf den Totenschleier Mignons die intertextuelle Verbindung zwischen den >Lehrjahren< und Rousseaus >Nouvelle Helo*ise< her: »Wie in der >Nouvelle Helo*ise< manifestiert sich im Totenschleier Mignons ein Oszillationsverhältnis zwischen Illusion und Realität. Die tote Julie wurde irrtümlicherweise von einem Diener fiir lebendig gehalten, was einen großen Aufruhr auslöste, bis ihre Freundin ihr Antlitz schließlich hinter einem Schleier verbarg, um die Grenze zwischen T o d und Leben eindeutig zu markieren. Auch beim T o d Mignons markiert der über sie gebreitete Schleier die Grenze zwischen Leben und Tod. Während bei Rousseau aber die lebendig erscheinende tote Julie endgültig hinter einem Schleier verborgen wird, offenbart die Entschleierung Mignons einen konservierten »Schein des Lebens«, der als Kunstwerk die Zeit überdauern soll.« P. Oster: Der Schleier im Text, S. 275.
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H e r v o r h e b u n g v o n m i r ) . W i l h e l m ist s i c h t l i c h b e w e g t u n d z u g l e i c h zutiefst irritiert. W i l h e l m s V e r w i r r u n g — sie v e r w i r r t w i e d e r u m d e n Leser, d a d i e b e t r e f f e n d e T e x t p a s s a g e keinerlei H i n w e i s e a u f G r ü n d e f ü r W i l h e l m s m e r k w ü r d i g e K o n f u s i o n g i b t - r ü h r t d a h e r , d a ß er g e n a u in d e m M o m e n t seines L e b e n s , als er i m U m k r e i s der T u r m g e s e l l s c h a f t d e m Ä s t h e t i s c h e n e n d g ü l t i g entsagt z u h a b e n g l a u b t , in d e r G e s t a l t d e r t o t e n M i g n o n n o c h e i n m a l m i t d i e s e m k o n f r o n t i e r t w i r d . A u f s p e z i f i s c h e W e i s e b e g e g n e t er e r n e u t einer m i t S c h l e i e r u n d M a r m o r assoziierten M u s e . I n M i g n o n e r k e n n t er d i e l e i b h a f t i g e M u s e . 1 6 A l l e r d i n g s h a n d e l t es sich u m eine E r k e n n t n i s , d i e a u s g e r e c h n e t in d e m
Moment
stattfindet, als es z u s p ä t ist. A n d e r s als bei all d e n b i s h e r i g e n i m a g i n ä r e n u n d materiellen S y m b o l t r ä g e r n t a u c h t d e r letzte S c h l e i e r o h n e j e d e E r s a t z f u n k t i o n , o h n e alle A t t r i b u t e w i e » m y s t i s c h « , » g o l d e n « u n d » w e i ß « a u f — s o als w ä r e es d e r S c h l e i e r a n sich, v o n d e m alle a n d e r e n S c h l e i e r b l o ß e A b b i l d e r o d e r F ä l s c h u n g e n darstellten. E s ist k e i n Z u f a l l , d a ß W i l h e l m k u r z v o r M i g n o n s T o d e r f a h r e n m u ß t e , w a s in j e n e r N a c h t des o m i n ö s e n B e i s c h l a f s w i r k l i c h g e s c h a h . W i r e r i n n e r n u n s , d a ß W i l h e l m u n m i t t e l b a r v o r dieser S z e n e i m a g i n i e r t e , d e r g r a u e S c h l e i e r k ü n d i g e a n , d i e M u s e w o l l e ihre V e r h e i ß u n g a u f eine erotische V e r e i n i g u n g m i t i h m e i n l ö s e n . 1 7 D o c h statt dessen k a m d e r G e i s t v o n H a m l e t s V a t e r . N u n
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Es ist eklatant, daß Wilhelm unmittelbar nach der Liebesnacht, die er mit der 'falschen Muse< verbracht hat, plötzlich beginnt, fast mit Entsetzen Veränderungen in Mignons Erscheinung wahrzunehmen: »Wilhelm erstaunte über den Anblick des Kindes, ja man kann sagen er erschrak. Sie schien diese Nacht größer geworden zu sein; sie trat mit einem hohen edlen Anstand vor ihn hin und sah ihm sehr ernsthaft in die Augen, so daß er den Blick nicht ertragen konnte. Sie rührte ihn nicht an wie sonst, da sie gewöhnlich ihm die Hand drückte, seine Wange, seinen M u n d , seinen Arm, oder seine Schulter kußte, sondern ging, nachdem sie seine Sachen in Ordnung gebracht, stillschweigend wieder fort.« (697) Der ansonsten mit Deformationszeichen überfrachteten Mignon kommen hier zum ersten Mal die »hohen edlen Züge« einer Heranwachsenden zu und markieren den Anfang eines Verweiblichungsprozesses. Es sieht so aus, als hätte Mignon nach jener bedeutsamen Nacht ihre geschlechtliche Ambiguität abgelegt, indem sie sich als gekränkte Geliebte mit »einer leidenschaftlichen Eifersucht« (904) gegenüber Wilhelm verhält. In der Folge treten ihre virilen Zeichen immer mehr zurück, bis sie kurz vor ihrem T o d schließlich »im langen weißen Frauengewande« (905) erscheint. Diese Verwandlung hat bei Schiller einen nachhaltigen Eindruck hervorgerufen: »Mignon hat gerade vor dieser Catastrophe angefangen weiblicher, weicher zu erscheinen [...]; die abstoßende Fremdartigkeit dieser Natur hatte nachgelaßen, mit der nachlassenden Kraft hatte sich jene Heftigkeit in etwas verloren, die von ihr zurückschreckte.« (Schillers Brief an Goethe vom 2. Juli 1796, S F A 12, S. 180)
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Was Wilhelm nach der Aufführung von Mignons Eiertanz ihr gegenüber empfindet, steht in gewisser Hinsicht im Kontext seines lyrischen Vereinigungsphantasmas mit der ästhetischen Muse. In ihm erwacht die Sehnsucht nach der Einverleibung Mignons als der Inkarnation der Poesie, oder genauer, er wird sich zum ersten Mal dieser Sehnsucht gewahr. Doch unterwirft Wilhelm die nur erahnte Faszination durch Mignon dem sozialkonformen Gefuhlszusammenhang eines fürsorglichen Vaters: »Er empfand, was er schon für Mignon gefühlt, in diesem Augenblicke auf einmal. Er sehnte sich, dieses verlassene Wesen an Kindesstatt seinem Herzen einzuverleiben, es in seine Arme zu nehmen, und mit der Liebe eines Vaters Freude des Lebens in ihm zu erwecken.« (469)
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erfährt Wilhelm, daß in der Tat jene Begegnung mit der Muse hätte stattfinden können. Denn in jener Nacht war Mignon auf dem Weg zu ihm, um ihren lang unterdrückten Wunsch, sich ihm auch körperlich hinzugeben, zu realisieren: »Endlich gab ihr der lustige Abend und die Stimmung des häufig genossenen Weins den Mut das Wagestück zu versuchen, und sich jene Nacht bei Ihnen [d.i. Wilhelm] einzuschleichen.« (903) Allein das Auftauchen einer unbekannten »Nebenbuhlerin« (ebd.) verhinderte die gemeinsame Nacht: »Schon war sie vorausgelaufen, um sich in der unverschlossenen Stube zu verbergen, allein als sie eben die Treppe hinaufgekommen war, hörte sie ein Geräusch, sie verbarg sich, und sah ein weißes, weibliches Wesen in ihr Zimmer schleichen.« (903f.) Erkennt Wilhelm nun die tote Mignon nach der Entschleierung als Muse und erfährt von ihren erotischen Wünschen, die nur durch gesellschaftliche Normen so niedergehalten wurden, dann könnte man annehmen, daß er jetzt aufs neue an der symbolischen Welt der Muse partizipieren wolle und somit erneut einer Selbsttäuschung erliege. Doch dieses Mal wird das Erlebnis nicht als Einbildung desavouiert. Goethe entfaltet das Symbolgeflecht des Schleiers an dieser Stelle jenseits der von der empirischen Ordnung des Handlungsgeschehens garantierten Wahrscheinlichkeit und auch jenseits der von der psychischen Ordnung des Protagonisten Wilhelm bestimmten emotionalen Plausibilität. Auf der hermeneutischen Ebene der romanimmanenten Handlung gewinnt die Schleiersymbolik hier zum ersten und einzigen Mal eine intersubjektive Verbindlichkeit, insofern es nicht mehr allein Wilhelm ist, der in Form einer lyrischen Vision die Muse konfiguriert. Auch die sterbende Mutter Mignons, Sperata, vollzieht im Rahmen der Schleiersymbolik eine Apotheose ihrer Tochter. Bezeichnend ist die zeitliche — und zwar nicht im Blick auf die erzählte Zeit, wohl aber auf die Erzählzeit — Nähe zwischen Mignons Entschleierungen, zwischen der ersten vor Wilhelms Augen während ihrer Exequien und der zweiten vor Sperata. Kurz nach den Exequien läßt Goethe den Leser von Speratas »Vision« erfahren: »ich habe das gute, schöne Geschöpf wieder lebendig gesehen. Es stand auf und warf den Schleier von sich, sein Glanz erleuchtete das Zimmer, seine Schönheit war verklärt, es konnte den Boden nicht betreten, ob es gleich wollte. Leicht ward es empor gehoben, und konnte mir nicht einmal seine Hand reichen. Da rief es mich zu sich, und zeigte mir den Weg, den ich gehen soll.« (973: Hervorhebung von mir) Wie einst die Muse in Wilhelms Gedicht sich des goldenen Schleiers entledigte, um den Jüngling damit zu bedecken, so streift jetzt Mignon ihren Schleier ab und beseelt damit ihre sterbende Mutter. Goethe stilisiert Mignon hier überraschenderweise als Inkarnation eines Höheren, die alles Verständliche der empirischen Ordnung transzendiert — und zwar ohne jedwedes Ironiesignal.18 18
Goethe schreibt am 21. Juni 1796 an Schiller: »Noch rückt das achte Buch ununterbrochen fort, und wenn ich die zusammentreffenden Umstände bedenke, wodurch etwas beinahe unmög-
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Aber nicht allein anhand der von Mignons Mutter erlebten Apotheose stilisiert Goethe Mignon zu einem Garanten für die Gültigkeit der poetisch-symbolischen Weltsicht und -Ordnung. Er bindet zugleich die tote, endlich entschleierte Muse an die Quelle von Wilhelms poetischen Phantasmen zurück — auch der Chorgesang stellt die Verbindung zwischen der lyrischen Muse und der toten Mignon her, verweist er doch auf den goldenen Schleier, der Mignons Leib umhüllt: »seht das leichte reine Gewand! wie blinkt die goldene Binde vom Haupt!« (956) Zwar wird Mignon nicht direkt zur Marmormuse, doch mit Hilfe eines künstlichen Verfahrens wird sie als ein makabres Kunstwerk mumifiziert und konserviert, das nicht zufällig in einem Sarg liegt, der aus Marmor und damit aus dem gleichen Material besteht wie die Muse aus der großväterlichen Kunstsammlung.19 Darauf wird im Text mehrfach hingewiesen: Die Mumie wird in einem »marmorne[n] Behältnis« (958) aufgenommen, der Abbe versenkt sie »in die Tiefe des Marmors« (959) und auch der Chorgesang der Jünglinge,20 der das Ritual der Exequien in einer höchst ästhetischen Atmosphäre spiritualisiert, lautet: »Wohl verwahrt ist nun der Schatz! das schöne Gebild der Vergangenheit! hier im Marmor ruht es unverzehrt.« (ebd.: Hervorhebung von mir) Wird Mignons Leiche als Kunstwerk konserviert, so gewinnt man zwar den Eindruck, als verewige sich die Sehnsucht nach Poesie. Doch anders als die im Gedicht »Jüngling am Scheideweg« zur Muse erhobene Marmorstatue des Großvaters wird Mignon ihrer Leitfunktion für ein ästhetisches Leben beraubt. Als Artefakt ist sie zum betrachtenswerten Objekt der Kunst — im wörtlichen Sinne der Kunst der Einbalsamierung, im übertragenen Sinne sogar der bürgerlichen Kunst - geworden. Für diese wird das Ästhetische zum bloßen Schaustück, dem der unmittelbare Bezug zum Leben genommen ist. Gebannt in eine Art Rahmen - Mignons Sarg - wird das »schöne Gebild der Vergangenliches, auf einem ganz natürlichen Wege, noch endlich wirklich wird so möchte man beinahe abergläubisch werden [...].« (FA 31, S. 200) Die Vision Speratas erlaubt es nicht, ihren mit Wilhelms Selbstvergewisserungslyrik eng verknüpften Aussagegehalt in Frage zu stellen. U m die Vision im Sinne einer subjektiven Einbildung der Kranken interpretatorisch wegzurationalisieren, fehlt es an ironischen Hinweisen. Die >Lehrjahre< bewahren damit ein Residuum der metaphysisch übersteigerten Welt der Poesie, das sich vor jedem rationalisierenden Eingriff der Interpreten schützt. 19
Für Goethe besaß der Marmor eine ganz besondere Qualität. Bevor er die griechischen Statuen in Italien sah, kannte er nur die Gipsabdrucke, die er bei seinen Besuchen des Mannheimer Antikensaales in den Jahren 1769 und 1771 betrachtet hatte. Als er dann nach Italien kam, erschienen ihm die Statuen in neuem Glanz. In seiner italienischen Reise< begründet er seine Faszination: »Der Marmor ist ein seltsames Material, deswegen ist der Apoll von Belvedere im Urbilde so grenzenlos erfreulich, denn der höchste Hauch des lebendigen, jünglingsfreien, ewig jungen Wesens, verschwindet gleich im besten Gips-Abguß.« (FA 15,1, S. 161) Für Goethe manifestiert sich im Glanz des Marmors eine Schönheit, die jede sinnliche Erscheinung auf das ästhetische Ideal selbst verweist.
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Daß das Chorlied ausgerechnet von »Jünglingen« gesungen wird, verdient Beachtung. Schließlich ließ sich Wilhelm in seinem Gedicht »Jüngling am Scheideweg« selbst als ein Jüngling auftreten, den die Muse zum Ästhetischen beruft.
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heit« zwar fur alle Zukunft: bewahrt, zugleich geht aber auch seine Lebendigkeit verloren — ein Zeichen auch fiir das »Ende der Kunstperiode«, von dem Heine später sprechen wird." Die Verbindung Mignons mit der Marmorstatue ist in den >Lehrjahren< auch an anderen Stellen zu belegen. Nicht nur der Marchese berichtet,22 wie sich seine Nichte Mignon schon als Kind in Italien zuweilen davongestohlen habe, um in einer Kirche die marmornen Statuen zu bewundern: »Meistenteils wenn sie zurückkehrte, setzte sie sich unter die Säulen des Portals vor einem Landhause in der Nachbarschaft; man suchte sie nicht mehr, man erwartete sie. Dort schien sie auf den Stufen auszuruhen, dann lief sie in den großen Saal, besah die Statuen [...].« (969) Auch das Italienlied Mignons reflektiert diese Erlebnisse: »Kennst du das Haus? auf Säulen ruht sein Dach, / Es glänzt der Saal, es schimmert das Gemach, / und Marmorbilder stehn und sehn mich an« (503: Hervorhebung von mir). Wilhelm begreift Mignons Lied als Ausdruck eines Kindes, das seine Sehnsucht nach dem Süden, der Heimat der Poesie, eindringlich besingt und hierbei in facettenreicher Variation den Ort, aus dem sie entfuhrt wurde und an den sie mit Wilhelm zurückzukehren hofft, beschreibt. Mignon bezieht sich in der besagten zweiten Strophe insbesondere auf die Kirche, in der sie die Marmorstatuen bewundern konnte. Hierbei projiziert sie auf jene »Marmorbilder«, die vor ihrem inneren Auge der Sehnsucht stehen, die Klage über ihr Schicksal auf eine Weise, daß die Statuen zu ihr selbst zu sprechen scheinen: »Was hat man dir, du armes Kind, getan?« Erst nachdem Mignon die im Grunde an sich selbst adressierte Klage formuliert hat, wendet sie sich an Wilhelm und äußert den Wunsch, mit ihm zusammen in das Land, wo die »Marmorbilder stehn«, zurückzukehren: »Dahin! Dahin! / Mögt ich mit dir, ο mein Beschützer, ziehn!« (ebd.) Ernst zu nehmen ist doch, daß Wilhelm gerade diese Partie von Mignons Italienlied auf signifikante Weise mißdeutet. Er, der ja nichts von diesen Marmorstatuen in der Kirche wissen kann, bezieht Mignons Wort »Marmorbilder« fälschlicherweise auf diejenigen, die er bereits kennt, auf die Marmorstatuen der großväterlichen Kunstsammlung nämlich. In der Folge mißversteht er den Mitleidsgestus der Statuen, den diesen in Wirklichkeit Mignon mit Blick auf ihre eigene unglückliche Lage imaginativ in den Mund legte, als an ihn adressiert: »Ich erinnerte mich der mitleidigen Marmorbilder in Mignons Lied; aber diese Bilder hatten über mich nicht zu trauern, sie sahen mich mit hohem Ernst an, und schlossen meine früheste Zeit unmittelbar an diesen 11
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»Meine alte Prophezeiung von dem Ende der Kunstperiode, die bei der Wiege Goethes anfing und bei seinem Sarge aufhören wird, scheint ihrer Erfüllung nahe zu sein«. Heinrich Heine: Sämtliche Schriften. Bd. 3. Hrsg. von Karl Pörnbacher. München '1996, S. 72. Die Rekonstruktion von Mignons Vorgeschichte, die erst nach ihrem T o d erfolgt und das Rätselhafte ihres Wesens psychologisiert und damit auch rationalisiert, betrachtet Hans-Egon Hass als humanen Akt der Entdämonisierung, der in ihren Exequien zum sakralen Vorgang gesteigert wird. H.-E. Hass: Goethe. iWilhelm Meisters Lehrjahre«, S. I35f.
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Augenblick.« (899: Hervorhebung von mir) In jenem Augenblick nämlich, in dem Wilhelm die Kunstsammlung seines Großvaters wiedersieht, stellt er so die Verbindung zwischen den von ihm ersehnten und den von Mignon ersehnten Marmorbildern her. Es ist nur ein kleines Mißverständnis, es ist jedoch bezeichnend. Nicht nur der Autor Goethe bindet die letzte Erscheinung von Mignon (als eine vor Wilhelms Augen im Marmorsarg ruhende Mumie) zurück an die Marmormuse, welche Wilhelms Sendungsbewußtsein erstmals entfacht hatte, und schließt damit den Kreis der Schleiersymbolik. Auch im Assoziationsfeld des Protagonisten haben sich - aufgrund seiner partiellen Fehldeutung des Italienlieds — Mignon und die Marmormuse miteinander verbunden. Was Wilhelm im Anblick der toten Mignon empfindet, war in dieser Hinsicht schon lange vorbereitet. Damit wird der Konnex zwischen Mignon, die Wilhelm vormals »in der Hitze, ohne Gedanken und Absicht, aus einem dunklen Gefühl, oder wenn man will, aus Inspiration« (456) von der Gewalt der Seiltänzer befreit hat, und dem Urbild der Muse der tragischen Dichtkunst im »Jüngling am Scheideweg«, die bislang seine Selbst- und Weltsicht in verschiedenen Variationen bestimmt hatte, gleich doppelt impliziert. Im Gespräch mit Kanzler Friedrich von Müller äußert Goethe hinsichtlich der >Lehrjahre< über Mignon, daß »doch das ganze Werk dieses Charakters wegen geschrieben sei«.23 Die Frage, warum Goethe ausgerechnet Mignon ins intendierte Zentrum der >Lehrjahre< rückt, läßt sich beantworten, wenn man sie als Figuration einer unnormierten Existenz sieht, gleichsam als die Antithese zur väterlichen Welt des Kommerzes. Als solche aber ist sie mit den Merkmalen einer jenseits der Nützlichkeit angesiedelten Poesie versehen, als derer Inkarnation sie schon von den Romantikern verstanden wurde. 24 Mit Mignons Tod und Aufbahrung wird die Poesie selbst zu Grabe getragen. Und zwar nicht schlicht durch deren Vernichtung, sondern durch deren Ausgrenzung aus dem
23 24
Kanzler Friedrich von Müller im Gespräch mit Goethe (29. Mai 1814), F A 34, S. 346. Schon Friedrich Schlegel hat den Harfner und Mignon zusammen mit Sperata zur »heilige[n] Familie der Naturpoesie« verklärt. F. Schlegel: »Über Goethes Meisten (1798). In: Werke in zwei Bänden. Hrsg. von Wolfgang Hecht. Berlin/Weimar 1980. Bd. 1, S. 137—161, hier S. 160; Novalis hat Mignons T o d in der Sphäre der Turmgesellschaft zutiefst bedauert und darüber hinaus den ganzen Roman verurteilt als »ein[en] Candide, gegen die Poesie gerichtet«. Novalis: Fragmente und Studien (1799/1800). In: Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel. Darmstadt 1978. Bd. 2, S. 751-848, hier S. 807; der Trauer der Frühromantiker über den Untergang des Poetischen schließt sich Heinz Schlaffer an: »Einbalsamiert wie die tote Mignon, erscheint die Lyrik als vergangene Poesie in der hellen und harten Gegenwart des Romans. Da dieser fortgeschrittenen und fortschreitenden Zeit ihr historisches Recht nicht abzustreiten ist, stellt sich der Erzähler auf den Boden der neuen bürgerlichen Gesellschaft. Das in diesem unaufhaltsamen Prozeß die Poesie des Lebens verlorengeht, hält der ironische Vorbehalt bewußt. Esoterische Ironie ist der Status von Poesie im Zeitalter der exoterischen Prosa.« H. Schlaffer: Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen, S. 223.
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Lebenszusammenhang. An die Stelle der vitalen Erscheinung tritt das Artefakt einer mumifizierten Leiche, der man als Produkt ärztlicher Kunst bewundernd gegenübertritt, zugleich aber auf Distanz bleibt. In den Exequien dieser zentralen Gestalt versinnbildlicht Goethe das »Ende der Kunst« als einer das Leben selbst bestimmenden Kraft. Jenes Ende der Kunst hat Goethe vielfach in seinem Werk thematisiert. Nicht nur in >Faust IIWanderjahrenLehrjahren< wird die Absage an das Ästhetische präludiert, nicht nur durch Wilhelms Abwendung vom Theater, sondern vor allem durch die Einsegnung, Balsamierung und >Petrifizierung< von Mignon. 215 Sie, die aus allen sozialen Zusammenhängen herausdrängende, doch zugleich sirenenhaft verlockende Gestalt, wird als schöne Leiche zum Kunstprodukt, das man wie ein Museumsstück betrachtet, ohne sich den Gefahren der vereinnahmenden Faszination existentiell auszusetzen. Anhand der aufs kunstvollste zelebrierten Exequien Mignons analysiere ich im folgenden, wie sich hier in verdichteter Form die Abwendung von der Kunst vollzieht. Die Turmgesellschaft inszeniert die Exequien - wie Wilhelms Freisprechungsritual — als eine Art Theaterstück, das — wie auch zuvor schon — UberIch-Instanzen heraufbeschwört, um so der Poesie einen vom tätigen Leben abgegrenzten Bereich zuzuweisen. Die Aufführung beginnt mit einem Dialog zwischen zwei Chören und vier Knaben. Während die Kinder - »himmelblau mit Silber gekleidet« (956) — im Zentrum der Publikumswahrnehmung stehen, bleiben die beiden Chöre »unsichtbar«. Deren Dialog nimmt einen dynamischen Verlauf: Anfangs wollen sich die Knaben nicht von ihrem »Gespielen« (ebd.) Mignon trennen und bitten eindringlich, »bei ihr [zu] bleiben« (957);27 doch fordert sie der Doppelchor — genau genommen handelt es sich hier um die beiden Chöre, die nur augenblicklich noch als einer erscheinen - zur Rückkehr »ins Leben« auf, bis sie schließlich sich selbst ermahnend von Mignon Abschied nehmen. Die Assoziation Mignons ausgerechnet mit »Knaben« kann dabei zweierlei bedeuten: Aus geschlechtsspezifischer Perspektive betont sie ein25
Daß die Kunst nicht zweckfrei-autonom, sondern dem Handwerk als dessen Dekor unterzuordnen ist, postuliert der Abbe in den >Wanderjahren< in seinem Brief an Wilhelm: »Die Künste sind das Salz der Erde; wie dieses zu den Speisen, so verhalten sich jene zu der Technik. Wir nehmen von der Kunst nicht mehr auf als nur daß das Handwerk nicht abgeschmackt werde.« (FA 10, S. 514)
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Allgemein zur Problematik der Ästhetisierung des Todes siehe Karl Schlechta: Goethes »Wilhelm Meisten. Frankfurt a.M. 1953, S. 70-73; Bernhard E. Hauer: Die Todesthematik in >Wilhelm Meisters Lehrjahren* und »Heinrich von OfterdingenWilhelm Meisters Wanderjahreinneres K n a b e n t u m < , 3 5 d i e p o e t i s c h e S e h n s u c h t z u ü b e r w i n d e n z u g u n s t e n eines tätigen L e b e n s . N u r s c h e i n b a r steht die T r a u e r u m M i g n o n s T o d i m Z e n t r u m der E x e q u i e n . Letztlich w i r d die s e l b s t b e z o g e n e T r a u e r aller A n w e s e n d e n t h e m a t i s c h , d i e d e m , w a s n i c h t allein d u r c h die P e r s o n M i g n o n s v e r k ö r p e r t w i r d , s o n d e r n z u g l e i c h T e i l d e s e i g e n e n Innern ist,'6 zu entsagen haben. E s geht u m die Ü b e r w i n d u n g u n d V e r b a n -
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Es gibt zwar in den >Lehrjahren< mehrere Frauengestalten, die am Motiv der Mannweiblichkeit partizipieren: Mariane, Therese, Natalie und Mignon. Der Androgynität, die Mignon im deutlichen Unterschied zu jenen Erwachsenen in kindlicher Form verkörpert — selbst gegen Naturgesetze, da sie sich dem natürlichen Wachstumsprozeß entzieht —, liegt jedoch die über geschlechtsspezifische Eigentümlichkeiten erhabene Allgemeingültigkeit ihres Wesens zugrunde. Als Knabe und Mädchen in einem inkarniert Mignon einen Teil jedes Menschen, der im Prozeß der Sozialisation die unschuldig-zweckfreie Daseinsform der Kindheit zugunsten zweckorientierten Lebens zu überwinden hat. Wilhelm von Humboldt bezeichnete die Einheit der »Eigentümlichkeiten beider Geschlechter« in einem ästhetisch umgewandten Sinne als »das Vollendete« in seinen beiden 1795 in Schillers >Horen< veröffentlichten Aufsätzen >Über den Geschlechtsunterschied und dessen Einfluß auf die organische Natur< sowie >Über die männliche und weibliche Formhermaphroditische Konfliktzone< für Wilhelm, die dieser bis zum Ende des Romans allmählich überwindet. W . Emrich: Die Symbolik von >Faust IIWilhelm Meisters LehrjahrenWilhelm Meisten hat Herz und Phantasie des Goetheschen Lesepublikums so angesprochen, über keine wurde so viel nachgedacht, geraten und geschrieben, keine ist so häufig nachgeahmt worden und doch so geheimnisvoll geblieben wie Mignon.« 38 - so resümiert im Jahre 1968 Helmut Ammerlahn das Forschungsergebnis der vorausgehenden Jahrzehnte: Mignon als Deutungsliebling und zugleich als ungelüftetes Geheimnis. Auch nach zweieinhalb Jahrzehnten intensivierter Figurenanalyse charakterisiert Ammerlahn Mignon als Gestalt, an der sich seit der Entstehung des Romans die Geister scheiden: »Forscher und Belletristen scheinen zwei feindlichen Lagern anzugehören: entweder werde mit Novalis fur Mignon, den Harfner und das Poetische, aber gegen Natalie und die als ökonomisch-rational-machthungrig verstandene Turmgesellschaft zu Felde gezogen, oder, im Gefolge Schillers, Körners und Morgensterns erkenne man den Turm als eine positive Bildungsmacht an, in dessen Bereich allerdings die beiden Sängergestalten als >pathologisch< erscheinen und zugrundegehen müssen.«39 Wenn Ammerlahn die sich an Mignon entzündende Forschungskontroverse mit einer Kriegsmetapher veranschaulicht, so ist dies durchaus angemessen. Denn die Stellungnahme zu diesem personalisierten Rätsel ist — insbesondere von Seiten der Partei, die Mignon gleich einem zerbrechlichen Kind vor jeder kritischen Interpretation in Schutz nehmen will — mit einfühlendem Affekt verbunden. Die Trauer um ihren Tod machte einerseits häufig Front gegen eine inhumane Turmpädagogik, die »über Leichen geht«.40 Andererseits haben Forscher immer wieder Mignons >AsozialitätAnhängern< zeigt sich ebensowenig frei von der wertenden Ubertreibung einer Schwarz-Weiß-Malerei.
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Endgültig überwindet Wilhelm die Sehnsucht nach der von Mignon personifizierten Poesie erst in den >Wanderjahren< durch die »fromme Wallfahrt« an Mignons Geburtsort - den Lago Maggiore - , mit der er »vor Beginn eines neuen Lebensganges, so manches abzuschließen gedachte« (FA 10, 496).
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Helmut Ammerlahn: Wilhelm Meisters Mignon - ein offenbares Rätsel. Name, Gestalt, Symbol, Wesen und Werden. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fur Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 42 (1968), S. 89-116, hier S. 89. " Helmut Ammerlahn: iPoesy — Poetry - Poetologyo Wilhelm Meister, Hamlet und die mittleren Metamorphosen Mignons. In: Gerhart Hoffmeister (Hrsg.): Goethes Mignon und ihre Schwestern. Interpretationen und Rezeption. N e w York 1993, S. 1-25, hier S. 1. 40 Heinz Schlaffer: Exoterik und Esoterik in Goethes Romanen, S. 219.
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So werden Mignon wiederholt teuflische Züge zugewiesen, wenn beispielsweise Hermann August Korff von der »dunklen, der Vernunft entrückten Dämonie«41 und Helmut Ammerlahn von der »dämonische [n] Sehnsucht auf das Unerreichbare«42 sprechen. Sympathie und Antipathie bestimmen oft das Urteil über Mignon, bisweilen noch bevor man diesem Geheimnis überhaupt näher auf die Spur gekommen ist. Doch gibt es etwas, das die divergierenden Deutungsansätze miteinander verbindet: In Mignon verkörpert sich eine Gestalt, die jenseits der Grenze des menschlichen Verstandesvermögens und des poetologischen Wahrscheinlichkeitsprinzips — sei es als Inkarnation des Poetischen oder als Sinnbild des Dämonischen - zuhause ist und sich eindeutiger Festlegung entzieht. Jedes Bemühen, sie zu rationalisieren, muß notwendig ins Leere gehen. Selbst das nüchtern-analytische Unterfangen einer medizinischen Diagnose, die Mignon »im Strudel der pathologischen Exzesse«43 herumirren sieht, schlägt fehl, denn die Implikation, Mignon könne die Wirklichkeit nicht richtig einschätzen, wird dementiert durch ihre Fähigkeit, Dinge und Sachverhalte zu erfassen, die anderen Romangestalten unzugänglich bleiben. Mignon überragt in ihrem intuitiven Wissen andere Romangestalten, weiß vor allen anderen, die handfester Beweise bedürfen, um Wilhelms Vaterschaft (siehe S. 700), sucht ihren »Beschützer« (503) vor Irrtümern zu beschützen, wenn er — geblendet von der Aura einer >falschen Muse< - den Theaterkontrakt unterzeichnet (siehe S. 66of.), und weist ihn mit der Ubergabe des grauen Schleiers und seines aufgestickten Appells »Flieh! Jüngling, flieh!« (697) auf den Weg in die Zukunft, in die Turmsphäre, obwohl er nur eine kurze Reise anzutreten gedenkt, um den Auftrag der verstorbenen Aurelie auszufuhren (siehe S. 726). Nicht nur gesteigerte Realitätswahrnehmung zeichnet Mignon aus, auch Weisheit und Lebensklugheit sprechen häufig aus ihr, so wenn sie sentenzenhafte Sinnsprüche formuliert; »ich bin gebildet genug [...], um zu lieben und zu trauern« (866), »Die Vernunft ist grausam [...], das Herz ist besser.« (867) Es kommt nicht von ungefähr, daß selbst Schiller, der seit Beginn seiner Romanlektüre Mignon nur selten Aufmerksamkeit geschenkt und sie als »Mißgeburt des Verstandes«44 abqualifiziert hatte, anfing, sich von ihr begeistern zu lassen: »Aus der Masse der Eindrücke, die ich empfangen, ragt mir in diesem Augenblick Mignons Bild am stärksten hervor. Ob die so stark interessierte Empfindung hier noch mehr fordert, als ihr gegeben worden weiß ich
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Hermann August Korff: Geist der Goethezeit. Versuch einer ideellen Entwicklung der klassisch-romantischen Literaturgeschichte. Leipzig 1930. Bd. II, S. 361. Helmut Ammerlahn: Wilhelm Meisters Mignon, S. 112. So Hans-Jürgen Schings in seiner Einführung in: Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Hrsg. von Karl Richter, München 1985—1998 [MA]. Bd. 5: >Wilhelm Meisters Lehrjahren Hrsg. von H.-J. Schings. München 1988, S. 635. Schiller an Goethe, 2. Juli 1796, S F A 12, S. 178.
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jetzt noch nicht zu sagen.«45 Schiller zeigt hier zwar zum ersten Mal ein reges Interesse an Mignon, sieht sich aber nicht in der Lage, es genauer zu bestimmen. Einige Tage später gewinnt er Klarheit. Nun erscheint ihm die bisherige Randfigur mit ihrer »abstoßende [n] Fremdartigkeit« 46 - neben dem Harfner — als Zentralfigur des Romans, als eine »Cometen-Gestalt«, die »ein schönes Planetensystem [...] knüpf[t]«. 47 Bemerkenswert ist, wann genau Schillers Figurendeutung die ausschlaggebende Wendung erfährt. Im Anschluß an die Lektüre des achten und letzten Buches des Romans, das das »poetische Leichenbegängniß« 48 Mignons enthält, wertet Schiller ihre »geheimnisvolle Existenz« auf und erhebt sie zum zentralen Verbindungsglied des gesamten Romangefuges. Die bezeichnendste seiner auf Mignon bezogenen Äußerungen erfolgt indes erst ein Jahr später. Nun halten sich bei ihm ästhetische Faszination und poetologische Reflexion die Waage. Mignons Gestalt bestimmt er in zweierlei Hinsicht: Es ist o f f e n b a r zuviel v o n d e r T r a g ö d i e i m M e i s t e r ; ich m e i n e das A h n d u n g s v o l l e , das U n b e g r e i f l i c h e , das s u b j e c t i v w u n d e r b a r e , w e l c h e s z w a r m i t d e r p o e t i s c h e n T i e f e u n d D u n k e l h e i t a b e r n i c h t m i t d e r K l a r h e i t sich v e r t r ä g t , die i m R o m a n h e r r s c h e n m u ß u n d in d i e s e m a u c h so v o r z ü g l i c h h e r r s c h t . Es i n c o m m o d i e r t , a u f diese G r u n d l o s i g k e i t e n zu g e r a t h e n , d a m a n ü b e r a l f e s t e n B o d e n u n t e r sich zu f ü h l e n g l a u b t , u n d w e i l sich s o n s t alles s o s c h ö n v o r d e m V e r s t a n d e n t w i r r e t , a u f s o l c h e Räthsel zu g e r a t h e n . K u r z m i r d ä u c h t , S i e h ä t t e n sich h i e r eines M i t t e l s b e d i e n t , zu d e m d e r G e i s t des W e r k s S i e n i c h t b e f u g t e . 4 9
Schiller ist der Ansicht, die Unmöglichkeit, Mignon rational zu durchschauen, lasse sie einerseits als »subjectiv wunderbare [s]«5° erscheinen, andererseits gerate mit ihr ein gattungswidriger Bestandteil in das ansonsten transparente Romangeschehen. Im folgenden versuche ich, — ausgehend von der veränderten Einschätzung Schillers — zwei Fragen zu beantworten: Was macht Mignon zu einem solchen Faszinosum, daß nicht nur Schiller sein zunächst negatives 45
Schiller an Goethe, 28. Juni 1796, S F A 12, S. 174t. Schiller an Goethe, 2. Juli 1796, S F A 12, S. 180. * Ebd., S. 178. 48 Ebd., S. 181. 49 Schiller an Goethe, 20. Oktober 1797, S F A 12, S. 333f. s ° Während bei Schiller vom »Wunderbaren« die Rede ist, ordnet Friedrich Schlegel seine Affinität für Mignon noch deutlicher einer sakralen Sphäre zu. Das letzte Buch des Romans bedeutet für ihn »eigentlich das Werk selbst; die vorigen Teile sind nur Vorbereitung. Hier öffnet sich der Vorhang des Allerheiligsten, und wir befinden uns plötzlich auf einer Höhe, w o alles göttlich und gelassen und rein ist, und von der Mignons Exequien so wichtig und so bedeutend erscheinen, als ihr notwendiger Untergang«. Enthusiasmiert von seinem poetischen >Offenbarungserlebnis< partizipiert Schlegel ahnungsvoll an der romaninternen Schleiersymbolik. Als wäre er der kleine Wilhelm selbst, der zum ersten Mal als Zuschauer des Puppentheaters vor dem »mystischen Vorhang« sitzt, sieht er im letzten Buch der >Lehrjahre< den »Vorhang des Allerheiligsten« sich öffnen. Seine Ausdrücke bleiben religiös eingefärbt: Er spricht von einem »Ton einer klagenden Gottheit« und von der »Andacht würdiger Chöre«. F. Schlegel: >Über Goethes Meisten (1798). In: F. Schlegel: Charakteristiken und Kritiken I (1796-1801). Hrsg. von Hans Eichner. München u.a. 1967, S. 126-146, hier S. 146. 46
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Urteil über sie revidiert hat? Und wie - so ist weiter zu fragen - konstituiert sich das Faszinosum im Widerspiel zwischen der >Klarheit< des Romanganzen und der >Dunkelheit< dieser Romangestalt? Um die beiden aufeinander bezogenen Fragen zu beantworten wähle ich einen Umweg. Ich betrachte zunächst die produktionsästhetische Seite und frage, welche Erlebnissubstrate Goethes in die Gestaltung Mignons eingeflossen sind. Dazu halte ich Ausschau nach prägenden Erfahrungen während der zweijährigen Italienreise, welche - so meine These — eine gewichtige Rolle für die Modellierung der Mignon-Gestalt spielen. Das literarische Faszinosum, das die Leser, allen voran Schiller in Bann schlägt, verweist, wie zu zeigen sein wird, auf ein biographisches Erlebnis Goethes. Dieser Verbindung von Literarischem und Empirischem gilt nun mein Augenmerk. Hat Goethe bis zum Beginn seiner Italienreise an der theatralischen Sendung< gearbeitet, so markiert der Zeitraum zwischen 1786 und 1788 die Übergangsphase zu den >LehrjahrenVoyage pittoresque ou description des Royaumes de Naples et de SicileDer Wanderer. Goethe in Italien< macht Norbert Miller darauf aufmerksam, wie eigenartig Goethe von seinem Besuch des Grottenheiligtums berichtet: »Ein merkwürdiges Dokument, das von Naturbeobachtungen im Gebirge ausgeht, um dann unversehens der Magie des Ortes sich zu überlassen.« 55 Dieser auffallenden Magie, die Miller bloß konstatiert, gilt es nachzuspüren. Goethe berichtet detailgenau: Ich sah durch die Öffnungen eines großen, aus Messing getriebenen Laubwerks, Lampen unter dem Altar hervorschimmern, kniete ganz nahe davor hin und blickte durch die Öffnungen. Es war inwendig noch ein Gitterwerk von feinem geflochtenen Messing-Draht vorgezogen, so daß man nur wie durch einen Flor den Gegenstand dahinter unterscheiden konnte. Ein schönes Frauenzimmer erblickt' ich bei dem Schein einiger stillen Lampen. Sie lag wie in einer Art von Entzückung, die Augen halb geschlossen, den Kopf nachlässig auf die rechte Hand gelegt, die mit vielen Ringen geschmückt war. Ich konnte das Bild nicht genug betrachten; es schien mir ganz besondere Reize zu haben. Ihr Gewand ist aus einem vergoldeten Blech getrieben, welches einen reich von Gold gewirkten Stoff gar gut nachahmt. Kopf und Hände von weißem Marmor, sind, ich darf nicht sagen in einem hohen Styl, aber doch so natürlich und gefällig gearbeitet, daß man glaubt sie müßte Atem holen und sich bewegen. Ein kleiner Engel steht neben ihr und scheint ihr mit einem Lilienstengel Kühlung zuzuwehen.' 6
Die »besondere[n] Reize«, die Goethe an das Marmorbild der Heiligen Rosalia fesseln, gehen zunächst von dessen Material, ästhetischer Form und erhabenem Stil aus, dann vom >lebensechten< Gesamtausdruck. Schließlich beflügelt seine Einbildungskraft auch den Engel, der der Heiligen »mit einem Lilienstengel« Kühlung zu verschaffen »scheint«. Das Wechselspiel von belebter und belebender Phantasie entfaltet das Faszinosum immer stärker, seine Attraktion fuhrt « Ebd., S. 256. 55 Norbert Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien. München/Wien 2002, S. 259. 56 Goethe: italienische ReiseMundverbotLehrjahren< ein Abbe auf Mignons Leiche als »das Wunder der Kunst« aufmerksam und »hub den Schleier auf«. (958) Wilhelm reagiert auf »diesen Schein des Lebens« mit einer panischen Empfindungszensur, die sich mit einem hilflosen Denkverbot verbindet: »er konnte sich nicht fassen; was er empfand durfte er nicht denken, und jeder Gedanke schien seine Empfindung zerstören zu wollen.« (ebd.) In der fiktionalen Transformation repetiert Wilhelm Goethes mit dem Zensurzeichen des Gedankenstrichs versehenes Schamgefühl angesichts seiner unschicklichen Phantasie am sakralen Ort. Die Parallelen reichen noch weiter. So kommt die erfrischende Kühlung der ruhenden Rosalia
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Goethe: >Rosaliens HeiligthumLehrjahre< hinwegsetzt, verletze ich bewußt das hermeneutische Grundprinzip des geschlossenen Werkes. Mir geht es darum, eine Gestalt zu beleuchten, die im abgeschlossenen Kosmos des Romans laut Schiller »das Ahndungsvolle, das Unbegreifliche, das subjectiv wunderbare«69 verkörpert und nicht recht zu >fassen< ist, da sie sich allen Zuschreibungen, die der Gesellschaft zur Verfügung stehen - Geschlecht, Alter und Herkunft: — entzieht. Hierauf verweist schon der erste Satz, mit dem Mignon in die >Lehrjahre< eingeführt wird. Bevor ihr Name bekannt wird, stellt Philine sie Wilhelm mit den Worten vor: »Hier ist das Rätsel.« (451) Dem Faszinosum, das Mignons Bestattung auslöst, kommt eine Wirkungskonstanz zu, die die Schranke zwischen Empirie und Fiktion mehrfach bricht. Die ursprüngliche Konstellation zwischen Goethe als Beobachtungssubjekt und der Heiligen Rosalia als Beobachtungsobjekt reproduziert sich aufs neue bei entsprechend neu formierter Wirkungskonstellation, seitdem Goethe sein persönliches Erlebnis in der Grotte auf dem Monte Pellegrino fiktional gestaltet hat. Die Rosalienstatue als Kunstwerk ist nicht nur Quelle von Goethes Phantasmagorie in der Grotte, sie fließt — Bild geworden mit Mignons totem Leib — ins zutiefst ergriffene Gemüt der Turmangehörigen, reißt — Buchstaben geworden - nicht zuletzt die dem tragischen Untergang der Inkarnation der Poesie nachtrauernden Frühromantiker mit sich, bis sie — schließlich ein Idol geworden — anbetende Interpreten um sich versammelt, welche zu Felde ziehen, um ihrer Aura eine widerspruchsfreie Geltungsmacht zu verleihen. Mein figurenkonzeptioneller Quellenverweis könnte den Eindruck erwekken, die ergreifende Anschaulichkeit von Mignons Exequien speise sich direkt aus dem spontanen Erleben des Autors, so als würde Goethe in die fiktionale Welt etwas einfügen, das nicht mit der Gesamtkomposition des Romans zu verbinden ist. Doch dies ist nicht der Fall! Goethe transformiert zwar das Biographische ins Fiktionale, folgt dabei aber einem Kompositionsprinzip, das die empirische Vorlage literarisch dahingehend ummodelliert, daß sie in das gesamte Romangefüge nicht nur bruchlos integriert wird, sondern auch als »Schlußstein des Gewölbes dessen Einsturz verhinderte Das achte Buch des Romans, welches das letzte Stadium der Schleiersymbolik an das erste knüpft und sie damit zu einem geschlossenen Kreis formt, getaltet Goethe auf Anregung des Grottenheiligtums. Das »MarmorbiId« 7 ° der Rosalienstatue, deren »Gewand aus einem vergoldeten Blech getrieben [ist]«,71 spaltet Goethe in drei Romanfiguren, in die Marmor-Muse aus der 69
Schiller an Goethe, 20. Oktober 1797, SFA 12, S. 334. Goethe: >Rosaliens Heiligthums FA 15/2, S. 759. τ Ebd., S. 847. 70
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Kunstsammlung seines Großvaters, in die »Muse der tragischen Dichtkunst« (383), die den jungen Wilhelm im »Jüngling am Scheideweg« »mit ihrem goldnen Schleier« (384) bedeckt und ihn so zum Ästhetischen erkoren hat, und in Mignon, deren schöne Erscheinung der Chor besingt — »seht das leichte reine Gewand! wie blinkt die goldene Binde vom Haupt!« (956) Die über das goldene Gewand der Rosalienstatue hergestellte romanexterne Brücke zwischen der Muse der tragischen Dichtkunst mit »ihrem goldnen Schleier« und der wie eine schöne Statue hergerichteten Leiche Mignons mit der »goldene [n] Binde vom Haupt« mag auf den ersten Blick nicht sehr stabil erscheinen. Stabiler hingegen ist die romaninterne Vernetzung. Um dies zu verdeutlichen, rekapituliere ich Genese und Werdegang jener »Gottheit« (384), welche der Entwicklungsgeschichte des Protagonisten vom Theaterenthusiasten zu einem Mitglied der Turmgesellschaft assoziiert ist: Wilhelm muß in seinem zehnten Lebensjahr hilflos zusehen, wie sein Vater die marmorne Musenstatue aus der Kunstsammlung seines Großvaters mitsamt dem Gemälde vom kranken Königssohn verkauft. Diesem traumatischen Verlust aus der Kindheit verleiht er erst als Jugendlicher Ausdruck, wenn er ein Gedicht verfaßt, das den vergangenen Verlust bloß als Vorstadium einer verheißungsvollen Zukunft modelliert. Als lyrisches Phantasma verlebendigt sich die ihm materiell längst abhanden gekommene Marmormuse in einem sprachlichen Supplement so sehr, daß ihn die Muse der tragischen Dichtkunst mit ihrem Gewand, dem goldenen Schleier, bedeckt und sich zugleich entblößt, um ihn mit dem gestischen Versprechen ihrer beider sinnlichen Vereinigung zur ästhetischen Existenz zu wählen. Der Jüngling begibt sich daraufhin auf die Suche nach dem realen Signifikat des lyrischen Signifikanten, um die Kluft zwischen der ideellen Präsenz der Muse und ihrer realen Absenz zu schließen. Doch trifft Wilhelm auf lauter >falsche Musen< — angefangen von Mariane über Philine bis zur schönen Amazone. Erst nach vielen >Irrungen und Wirrungen< wird das Versprechen der Muse auf eine erotische Vereinigung in der Nacht nach der >Hamletbeschädigte< Marmorstatue aus der großväterlichen Kunstsammlung fiir Wilhelm zur >leeren Hülle< der erträumten Initiation zum ästhetischen Dasein 181
geworden ist, überträgt sich ihr ideeller Gehalt auf die tote Mignon. In ihren Exequien wird nicht nur die Inkarnation der Poesie zu Grabe getragen. Neben dem im Chorgesang artikulierten Appell zum kollektiven Abschied von der poetischen Sehnsucht, der an alle Trauergäste adressiert ist, entfaltet sich auch eine subjektive Sinndimension, die ausschließlich dem Protagonisten des Romans begreiflich ist: Z u Grabe getragen wird vor allem diejenige Existenzdimension Wilhelms, die in ihrem absoluten Anspruch jenseits der sozialen Gebote und der gesellschaftlichen Ordnung angesiedelt ist und in Mignon gleichsam externalisiert wird. Nicht von ungefähr haben die Exequien Mignons fur Wilhelms >innere Geschichte< einen hohen psychischen Stellenwert. Wilhelms ästhetische Lebensanschauung, die sich in Mignon verkörpert, wird endgültig verabschiedet, bevor er mit Felix und Natalie eine Familie zu gründen sucht, um sich damit als verantwortungsbewußter Familienvater und Ehemann in die von einem utilitaristischen Tätigkeitsideal geprägte Gesellschaft zu integrieren. Vor dem Hintergrund der gänzlichen Neuorientierung des Protagonisten wird deutlich, welch ein Tumult sich hinter der Fassade erbaulicher Andacht in seiner Psyche entfaltet, von dem die Textoberfläche nur Indizien preisgibt. Die tote, aber lebendig scheinende Mignon versetzt ihn in eine solche Irritation, daß er sich von der übrigen Trauergemeinde isoliert, die sich zunächst aus purer Neugier Mignon nähert, als der Abbe den Schleier hebt: »Alle traten herbei, und bewunderten diesen Schein des Lebens. Nur Wilhelm blieb in seinem Sessel sitzen« (958). Wilhelm vermag sich nicht in die Schar derjenigen einzureihen, die bloß die Kunst des Arztes bewundern, der Mignon mit seiner Einbalsamierungstechnik den »Schein des Lebens« verlieh. Seine äußere Passivität verdeckt allerdings nur die Heftigkeit seiner inneren Desorientierung. Zwischen spontanem Empfinden und ordnungsstiftendem Denken gerät Wilhelm ganz außer Fassung. Und dies hat Gründe. Wilhelm vermag Mignon, die für ihn externalisiertes Sinnversprechen und erotische Verlockung bedeutet, nicht als ein bloßes Kunstprodukt zu bewundern, dem man mit ästhetischer Distanz gegenübertritt. Fast könnte man meinen, Goethe habe seine einstige Erregung, die noch bei der Schilderung des Rosalien-Erlebnisses mit dem Gedankenstrich und der Selbstermahnung »genug« gebändigt wurde, auf Wilhelm übertragen, der ebenfalls von der in der Grenzzone zwischen Leben und Kunst angesiedelten Mignon fasziniert ist. So ruft der »Schein des Lebens«, der die tote Mignon in ihrem marmornen Sarkophag umgibt, bei Wilhelm in jenem Augenblick, in dem der ihren Leib verhüllende Schleier entfernt wird, ein solches Begehren hervor, daß er zwischen dem Pietätsgebot des Bestattungsrituals und dem subjektiven Verlangen, zwischen Sollen und Wollen, zwischen Denken und Empfinden wehrlos oszilliert.71 Das »Rätsel« (451) genannte Kna-
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In den »Wahlverwandtschaften wird Ottilies Leichnam auf Verlangen Eduards ästhetisch arrangiert, indem ihm der Schein des Lebens verliehen wird. Siehe dazu Thorsten Valk: Melancholie im Werk Goethes. Genese - Symptomatik - Therapie. Tübingen 2002, S. 289.
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benmädchen, das er einst »mit der Liebe eines Vaters« »seinem Herzen einzuverleiben« (469) gesucht hatte, gewann nach seiner Liebesnacht mit einer Unbekannten, die für Mignon gleichsam zur >Urszene< wurde, an weiblichen Zügen, bis der lebendige Schein ihrer Leiche noch einmal das Begehren des Jünglings am Scheideweg provoziert, vor dem sich einst die Muse der tragischen Dichtkunst entschleiert hatte. Goethe überträgt Wilhelm, der das unschickliche Verlangen verzweifelt stillzustellen trachtet, nicht allein seine beschämende Phantasie im Anblick der »schönen Schläferin«. Die >am eigenen Leib< erlebte sinnliche Wirkungsmacht des Marmorbildes der Heiligen Rosalia wird überdies zu einem Verbindungselement, das die im Marmor ruhende Mignon an das marmorne Urbild — die Marmormuse aus der Kunstsammlung des Großvaters — ankoppelt. Die >Lehrjahre< bereiten diese Verbindung, die sich an ihrem Schluß herauskristallisiert, bereits dort vor, wo Mignon in den Roman eingeführt wird. Wilhelm hat Mignon »ohne Gedanken und Absicht, aus einem dunklen Gefühl, oder wenn man will, aus Inspiration« (456) von den Seiltänzern losgekauft. Doch bevor er sich auf diesen - dies ist bemerkenswert - >inspirierten< Handel einließ, wurden bereits »seine Augen und sein Herz« »unwiderstehlich« von Mignon angezogen. (451) Dem Kauf von Mignon geht also eine ästhetische und emotionale Faszination voran. Signifikant ist dabei Wilhelms bezauberter Blick, der ihn bald dazu bewegen wird, Mignon nicht nur aus der Gewalt der Seiltänzer zu befreien, sondern sie auch gleich für sich zu behalten. Der unersättliche Blick - »Wilhelm konnte sie nicht genug ansehen« - berührt mit aller Sorgfalt die Oberfläche ihrer Erscheinung, ihr Körper war gut gebaut, nur daß ihre Glieder einen stärkern Wuchs versprachen, oder einen zurückgehaltenen ankündigten. Ihre Bildung war nicht regelmäßig aber auffallend; ihre Stirne geheimnisvoll, ihre Nase außerordentlich schön, und der Mund, ob er schon für ihr Alter zu sehr geschlossen schien, und sie manchmal mit den Lippen nach einer Seite zuckte, noch immer treuherzig und reizend genug. Ihre bräunliche Gesichtsfarbe konnte man durch die Schminke kaum erkennen. (451) Als würde Wilhelm einem Kunstgegenstand gegenüberstehen, erkundet sein Blick zunächst die proportionalen Verhältnisse des Beobachtungsobjekts. Hierbei wandert die Aufmerksamkeit von dem Ganzen der Erscheinung zu ihren Teilen, von dem Körper zu dessen »Gliedern«, um die harmonische Abgestimmtheit seiner »Bildung« zu prüfen. Dann gilt der Blick den einzelnen Gesichtspartien — der »Stirne«, der »Nase«, dem »Mund« und den »Lippen« - und trachtet gar durch die verstellende Schicht der »Schminke« durchzudringen, um die »Gesichtsfarbe« zu erfassen, bis das Objekt minuziöser Beobachtung schließlich zum Subjekt betörender Wirkung wird - signalisiert durch die grammatikalische Inversion des Subjekt-Objekt-Verhältnisses: »Diese Gestalt prägte sich Wilhelmen sehr tief ein«. Aus diesem »Halbtraum« seiner Faszination vermag ihn erst Philine zu wecken. (451) Angesichts der Parallelen zwi183
sehen der Musenplastik aus der Kunstsammlung von Wilhelms Großvater und Mignon als der Inkarnation der Poesie scheint mir auch erwähnenswert, daß Wilhelms geheimnisvoll arrangierter Kauf von Mignon durchaus symbolisch gedeutet werden kann: Während sein Vater die Statue verkauft, kauft Wilhelm Mignon für »dreißig Taler« (457) von den Seiltänzern los, so daß dieser Kaufakt »aus Inspiration« (456) dem Leser als ein supplementäres Phänomen erscheinen kann. Noch ein zweites Erlebnis Goethes läßt sich als Anregung zur spezifischen Modellierung der Exequien Mignons sowie der affektiven Ergriffenheit Wilhelms deuten. Im Frühling des Jahres 1787 erlebt Goethe innerhalb von etwa drei Wochen die Wirkungsmacht zweier unterschiedlicher Kunstformen, die mit Blick auf ihr Medium und ihre Wirkung diametral entgegengesetzt sind. Bevor Goethe am 6. April in der Rosaliengrotte die sinnbetörende Lebendigkeit der Plastik erfährt, hat er am 16. März in Neapel Lady Hamilton und ihre Kunst kennengelernt, antike Statuen und bekannte Bildwerke in mimischer und gestischer Nachahmung darzustellen. Die bereits seit der Antike in unterschiedlichen Variationen bestehende Kunstform des »lebenden Bildes« (>tableau vivanttableau vivant< chrakterisiert Michael Wetzel den Blick des Betrachters als den des Zuschauers von >peep-showstableau vivant< entfaltet, indem sie sich von ihrer Lebendigkeit löst und sich zum Schein in eine leblose Statue verwandelt, erzeugt die Statue der Rosalia den Schein einer Lebendigkeit, die sie für den Betrachter in eine »schöne Schläferin« verwandelt. Goethe >implantiert< die beiden zwischen Leben und Kunst oszillierenden Erlebnisse seiner literarischen Gestalt Wilhelm, die ebenfalls von der als Schwellenphänomen zwischen Leben und Kunst konzipierten Mignon zutiefst fasziniert ist. Im Hinblick auf diese produktionsästhetische Genese der MignonImago läßt sich Schillers neue Affinität für sie, die erst das letzte Buch des Romans entfacht, nachvollziehen. Es ist nicht Mignon allein, die den Leser zutiefst berührt. In ihrer Gestalt vereinen sich Tod und Leben, menschliches Wesen und wirkendes Kunstwerk in Sein und Schein. Kunst (die Musenstatue aus Marmor), Sehnsucht nach Poesie (die lyrische Sendungsmuse aus dem »Jüngling am Scheideweg«) und Leben (von Mignon) finden in ihr ihren gemeinsamen Nenner, der im Medium des >tableau vivant< sakralisiert wird. Die zur Andacht anregende Musik des Chors, die dem rituellen Rahmen der Exequien gemäß ausstaffierte >Bühne< und die wirkungsvolle Lichtfuhrung sind charakteristische Kunstelemente des >tableau vivantc 7 6 »Die Gesellschaft begab sich in den Saal der Vergangenheit, und fand denselben auf das sonderbarste erhellt und ausgeschmückt. Mit himmelblauen Teppichen waren die Wände fast von oben bis unten bekleidet, so daß nur Sockel und Fries hervorschie-
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täten eher von tableaux morts werden«. M. Wetzel: Mignon. Die Kindsbraut als Phantasma der Goethezeit, S. 220. Norbert Miller erörtert Goethes Erlebnis des >tableau vivant< mit Blick auf die imaginäre Einheit von Ideal und Leben unter dem Vorzeichen zeitlicher Entrückung in die Antike: »Das Ideal als das Leben — wie weit entfernt sich diese betörende und bezwingende Illusion von den Grundsätzen, denen bisher Goethes Bemühen um den Ausgleich von Natur- und Kunstgesetzlichkeit auf der Reise gegolten hatte! Ein Decamerone von plastischen Vorwürfen, von Bilderfindungen, von antikisierenden Themen, von menschlichen Affekten, die den Künstler unabhängig vom Vorbildcharakter des griechischen Altertums machen konnten, war da in wenigen Viertelstunden, auf das Divertissement einer nicht eben unbedenklichen Runde von Lebemännern aufgeblättert. Goethe war hingerissen. Als wollte Neapel die Vollkommenheit seiner Landschaft und die verschwundene Erinnerung an seine griechischen Ursprünge für einen geschichtlichen Augenblick in den Privatgemächern eines Fremden zur Beschwörung Helenas sich verdichten lassen, so entgrenzte sich in der Bewunderung für Emma Harte der modisch-geschmackvolle Salon zur greifbaren Gegenwart des perikleischen Athen«. N. Miller: Der Wanderer. Goethe in Italien, S. 24of. Vgl. hierzu Norbert Miller: Mutmaßungen über lebende Bilder. Attitüde und >tablcau vivant< als Anschauungsform des 19. Jahrhunderts. In: Helga de la Motte-Haber (Hrsg.): Das Triviale in Literatur, Musik und Bildender Kunst. Frankfurt a.M. 1972, S. 106-130, bes. S. 113, Anm. 12. Michael Wetzel hingegen betont, daß »Mignons Ikonizität [...] nicht der fivolen Logik von Tableaux vivants [folgt], sondern [...] am sentimentalischen Prinzip eines utpoesispictura orientiert« ist. M. Wetzel: Mignon, S. 221. 185
nen. A u f den vier Kandelabern in den Ecken brannten große Wachsfackeln, und so nach Verhältnis auf den vier kleinern, die den mittelern Sarkophagen umgaben« Die sakralen Stimmungsbilder der Bestattungszeremonie steigern noch Mignons Aura. W i e eine griechische Statue — erinnert sei hier ihr symbolischer Bezug auf die Marmorstatue - trägt Mignon die Einheit von Menschlichem und Göttlichem in sich. Entfaltet Winckelmann in den 1755 veröffentlichten >Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst den ästhetischen Piatonismus, den er von den italienischen Kunsttheoretikern übernimmt, und sieht in der griechischen Plastik Menschliches und Göttliches vereint, 77 so statuiert Goethe an Mignon gleichsam ein Exempel dieser Vereinigung. Das bei der ersten Begegnung von Wilhelm wie ein Kunstwerk betrachtete Mädchen wird als Leiche so arrangiert, daß sie den Schein einer Lebendigen erzeugt. A n der »im Marmor« »in der angenehmsten Stellung« »schlafend« liegenden Mignon vereinigen sich ein Kunstwerk und seine sprachliche Metamorphose. Die marmorne Muse aus der Sammlung des Großvaters als stoffliches >Urbild< und die lyrisch belebte Muse aus dem »Jüngling am Scheideweg« als dessen phantasmagorisches >Abbild< bilden eine Synthese, um am Ende - zu einem symbolischen Signifikanten von Wilhelms ästhetischem Sendungsbewußtsein amalgamiert — unwiderruflich begraben zu werden. Die Quelle für Wilhelms illusionären Identitätsentwurf als Theatermacher versiegt in Mignons Exequien endgültig. Die zur Frau gereifte Mignon, die im Rahmen der Exequien Wilhelms Begehren hervorruft, hat am Leben einen bloß scheinhaften Anteil und steht im Rahmen des Andachtsgebots. Wird Wilhelm im Anblick dieses >lebenden< Bildes an sein früheres Verlangen nach der erotischen Vereinigung mit der Repräsentantin der ästhetischen Existenz erinnert, so hat er es doch sogleich zum Verstummen zu bringen. Die in den Augenblicken seiner Desillusionierung bereits ideell depotenzierten Musen erwachen an der einst lebendigen Mignon, deren Schein nun an der Schwelle zwischen Leben und T o d schwebt, zum letzten Mal, aber begehrenswerter denn je. Doch erwachen sie nur, um an und mit Mignons totem Leib bestattet zu werden. M i t dem ritualisierten Begräbnis der Repräsentantin der ästhetischen Lebensanschauung wird in Wilhelms Werdegang ein Markstein gesetzt. Wilhelm durchbricht endgültig den Sinnzusammenhang des ästhetischen Daseins und tritt ins tätige Leben. M i t Mignons ästhetisiertem Tod, der fur Wilhelm den >Tod< des Ästhetischen bedeutet, wird Wilhelms theatralischer Identitätsentwurf verabschiedet; dieser wird an ihrem konservierten Leib zur bloßen Reminiszenz verflüchtigt.
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Siehe hierzu die Studie v o n Jochen Schmidt, der Goethes Helena-Konzeption in »Faust II< im Rekurs a u f die kunsttheoretischen Überlegungen W i n k e l m a n n s analysiert. J. Schmidt: G o e thes Faust, S. 24iff.
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Der Augenblick, in dem Wilhelm sein früheres Sehnsuchtsbild der Muse in Form des >tableau vivant< vermenschlicht sieht, ist auch der Augenblick, in dem die endlich Vermenschlichte in die anfängliche Erstarrung zurückkehrt. Die Ambiguität und der doppelte Bezug des >tableau vivant< auf das Bild wie auf das Leben entfaltet Goethe an der toten Mignon mit ihrem »Schein des Lebens«.78 Der sich aus lebensgeschichtlichen Quellen speisende und literarisch gestaltete Problemkomplex von Kunst und Leben, ästhetischem und erotischem Blick, hat auch einen mythologischen Bezug: die Geschichte von Pygmalion. Das in der europäischen Literatur und Kunst beliebte Motiv aus Ovids Metamorphosen hat Goethe im Jahr 1766 in seinem Gedicht >Pygmalion. Eine Romanze< - wohl in süffisanter Absetzung von Rousseaus >Pygmalion< - ironisch aufgegriffen. Die antike Geschichte vom jungen Bildhauer, der sich so sehr in eine von ihm selbst geschaffene Mädchenstatue verliebt, daß er die Liebesgöttin Aphrodite inständig bittet, sie zum Leben zu erwecken, reflektiert sich auf modifizierende Weise in den >Lehrjahrentableau vivanttertium comparationis< scheint allerdings fraglich. Wie läßt es sich erklären, daß Goethe gerade jenen mythologischen Stoff einer Romanze, den er doch zuvor ironisch in seinem Gedicht übernahm, im sakralisierten Kontext von Mignons Exequien aufs neue aufgreift? Bezeichnend ist Goethes in »Dichtung und Wahrheit< formulierte Kritik an Rousseaus melodramatischer Überarbeitung des antiken Motivs in »scene lyriqueWahlverwandtschaften*. Goethes »Journal intime< vom Oktober 1806. In: Euphorion 74 (1980), S. 403-416; Erich Trunz: Die Kupferstiche zu den »Lebenden Bildern< in den »Wahlverwandtschaften^ In: Trunz: Weimarer Goethe-Studien, Weimar 1980, S. 203-217; Helmut Pfotenhauer: Sprachbilder. Untersuchungen zur Literatur seit dem 18. Jahrhundert. Würzburg 2000; Irmgard Egger: Eikones. Zur Inszenierung der Bilder in Goethes Romanen.
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Höchste was Geist und Tat hervorgebracht, durch den gemeinsten Akt der Sinnlichkeit zerstören.75 Goethes rigide Kritik gilt weniger Rousseaus literarischer Rezeption des Pygmalion-Motivs als dem Gehalt des Motivs selbst. 80 An Pygmalion tadelt Goethe jene Künstler, die versuchen, das »höhere Leben« der Kunst zum »irdischen Leben« zu degradieren und die vollkommene Manifestation der Idee »durch den gemeinsten Akt der Sinnlichkeit zu zerstören«. Diese abschätzige Auslegung des traditionsreichen Motivs kann den Eindruck entstehen lassen, Goethe widerspreche nur sich selbst, wenn er doch Wilhelms letzte Begegnung mit Mignon nach diesem Muster modelliert. Dies ist aber nicht der Fall. Goethe übernimmt den Stoff nicht so, wie er überliefert ist, sondern variiert ihn auf spezifische Weise. Das Verhältnis von Natur und Kultur in der PygmalionRomanze Rousseaus, das Goethe zur Kritik veranlaßt, formiert er in seinem Roman neu. Dem Bildhauer Pygmalion warf er das »falsche Bestreben« vor, durch die Belebung des vollkommenen, aber leblosen Mädchens die Idee in die »gemeinste« Sinnlichkeit zu verwandeln und auf billige Weise »Kunst in Natur [aufzulösen]«. Die leblose Mignon unterwirft er hingegen einem inversen Transformationsprozeß: Der Körper des Mädchens wird nach ihrem Tod aus dem Zusammenhang der Natur gelöst und in die Sphäre der Kunst überfuhrt. Auf diese Weise erfährt die dem antiken Motiv inhärente Chronologie, in der sich die erhabene Sinnlichkeit, die im Medium der Kunst manifestiert und bewundert wird, in die triviale einer besitzbaren >Ehefrau< verwandelt, eine gegenläufige Wendung. Mignon, die bis zu ihrem Tod nur >zögernd< Frau werden konnte, wird zu einem Kunstexponat, das Wilhelm nicht in die Alltäglichkeit des Besitzes zu überfuhren vermag. Ihre Sinnlichkeit, die Wilhelm zutiefst ergreift, wird neutralisiert durch den Marmorsarg, der den »Schein des Lebens« in die Ordnung der Kunst ruft. Während der törichte Künstler Pygmalion keinerlei »Befriedigung darin findet, seine Idee außer sich, kunstgemäß dargestellt und ihr ein höheres Leben verliehen zu haben«, gewinnt die einbalsamierte Mignon dieses »höhere Leben«, indem ihre vergängliche Natur in die unvergängliche Kunst überfuhrt wird. Goethe thematisiert die Transformation des Lebens in die Kunst nicht zuletzt deshalb, um das Ideelle nicht ans Profane zu verraten. Sie bedeutet mehr als einen kunsttheoretisch fundierten textinternen Vorgang. So wie die Gestaltung Mignons ein lebensgeschichtliches Substrat hat, so verweist sie wiederum auf die Faszination, die nicht nur Wilhelm, sondern ihrem Autor eigentümlich
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FA 14, S. 533f. Z u Goethes Auseinandersetzung mit dem Pygmalion-Mythos siehe Mathias Mayer: Midas statt Pygmalion: Die Tödlichkeit der Kunst bei Goethe, Schnitzler, Hofmannsthal und Georg Kaiser. In: Deutsche Vierteljahrsschrift fur Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 64 (1990), S. 278—310, bes. S. 285-294. 188
ist. Goethes Geständnis, er habe die >Lehrjahre< nur um ihretwillen geschrieben, 81 und seine Weigerung, die Heimat seiner fingierten Gestalt am Lago Maggiore zu bereisen, 82 erwecken den Verdacht, Goethe generiere in seinem Verhältnis zu Mignon noch eine quasi-autobiographische Variante der Pygmalion-Romanze von Ovid. Denn er verleiht seiner Kunstfigur eine Bedeutsamkeit, wie sie nur Lebende haben können. Wie sehr Goethe — auch außerhalb des geschlossenen Rahmens der >Lehrjahre< — in Mignon eine Figur sieht, die inneren Schmerz hervorruft, den man bloß äußerlich verbirgt, zeigen die beiden letzten Strophen seines Rollengedichts >An MignonMusen-Almanach fiir das Jahr I798< aufnimmt. 83 Mignon hat - so lassen diese Hinweise vermuten - mithin für ihren Autor eben jenen Schein von Lebendigkeit, der auch Wilhelm existentiell affiziert. Die Bedeutungsdimension Mignons spielt in vielerlei Hinsicht an auf ein tief emotionales Verhältnis Goethes zu einer von ihm selbst geschaffenen Kunstgestalt. Die Kluft zwischen dem subjektiv Wunderbaren und dem objektiv Geheimnisvollen öffnet sich zum anderen darin, daß Mignons Exequien unterschiedlich, von Wilhelm einerseits und von dem übrigen Romanpersonal wie dem Romanleser andererseits, wahrgenommen werden. W e m der Zugang zu Wilhelms Perspektive, die durch die Schleiersymbolik disponiert ist, verwehrt bleibt, der kann zwar an der Wirkung des Wunderbaren teilhaben, dessen Ursachen in Wilhelms innerer Geschichte jedoch nicht nachspüren. Objektiv muß Mignon immer rätselhaft bleiben, da sie als Chiffre ausschließlich aus dem Blickwinkel des Protagonisten zu entschlüsseln ist. Das vertrackte Zeichensystem des Romans kann nur dann angemessen decodiert werden, wenn der Leser an der Innensicht des Protagonisten partizipiert. Insofern Wilhelm dem Leser den Blick vorgibt, unter dem das Romangeschehen betrachtet werden muß, fungiert er als Zentrum des Romans, das den disparaten Geschehnissen die Einheit der Handlung stiftet.
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Siehe FA 34, S. 346. Goethe hat nie den Lago Maggiore besucht, sich aber durch Aquarelle des Malers Georg Melchior Kraus und die Lektüre von Reiseberichten über dessen geographische Gegebenheiten kundig gemacht. Siehe FA 10, S. H27f. Nicholas Boyle weist darauf hin, daß Goethe auf seiner zweiten Schweizer Reise (1779) eine »abergläubische Furcht davor« gehabt habe, »den Boden Italiens zu betreten«. So hat Goethe nicht den ihm empfohlenen Weg über den Simplon nach Italien und weiter über den Lago Maggiore zum Gotthard genommen, sondern ist direkt über den Furkapaß zum Gotthard gelangt. Siehe N . Boyle: Goethe 1749-1790. Aus dem Engl, übers, von Holger Fliessbach. Bd. 1. München 1995, S. 359. 8 Ϊ Vgl. F A 1, S. 6 4 7 f .
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4· Revisionen des Selbstbildes Eine der Erzählstrategien, derer sich Goethe bedient, um Wilhelms Werdegang als ständigen Relativierungsprozeß von subjektivem Weltentwurf und objektiver Weltgeltung zu gestalten, ist als Perspektivismus zu bezeichnen. Die literarisch-ästhetischen Identifikationsmuster, die Wilhelm ursprünglich dazu benutzt, seine spezifische Lebenswirklichkeit sowie sein auf sie bezogenes Selbstbild und -ideal zu modellieren, erweisen sich zuletzt als bloße Medien der Selbstverkennung. Deutlich wird dies dadurch, daß Wilhelms anfangs narzißtisch korrumpierter Blick auf sich selbst am Ende durch einen Blick, den eine andere Romangestalt auf ihn wirft, kontrapunktiert und subversiv decouvriert wird. Besonders folgenreich wird dies, wenn der Andere über das gleiche Personenensemble, aus dem auch Wilhelm seine identitätsstiftende Rolle bezieht, verfügt und ihm zugleich innerhalb dieser Konstellation eine ganz andere Rolle zuweist. Im Lebensgang des Protagonisten erfährt auf diese Weise die Rolleninszenierung, mit deren Hilfe Wilhelm im ersten Buch der >Lehrjahre< gleichsam sein Selbst von außen zu konstituieren sucht, im letzten Buch des Romans eine gravierende Revision. Was sich zwischen dem Anfang und dem Schluß des Romans im Hinblick auf Wilhelms Selbstverständnis abspielt, läßt sich an dieser Rollenverschiebung am prägnantesten erkennen. Der »blonde Friedrich« (802), dessen wichtigstes Personenmerkmal eben in einer Äußerlichkeit, seiner Haarfarbe besteht, nimmt in diesem Prozeß eine wichtige Funktion ein. Ausgerechnet ihn, der im Roman einen fast seelenlosen Clown< spielt, konfiguriert Goethe als signifikante Antithese zum Protagonisten. Zwar fungiert Friedrich eine Zeitlang als Wilhelms Nebenbuhler um die Neigung Philines, ebenfalls wird er wie Wilhelm mit den gleichen Zweifeln an der Vaterschaft konfrontiert. Doch erweist sich das >Sorgenkind< der Natalie, die in ihrem Bruder »das Opfer dieser pädagogischen Versuche« (901) (der Turmgesellschaft:) vermutet, besonders darin als extreme Gegenfigur zu Wilhelm, daß er sich aus lauter »langer Weile« (939) dazu entschließt, in einer beliebigen Reihenfolge wahllos Bücher zu lesen. Als der verblüffte Wilhelm ihn fragt, »wo haben Sie Ihre ausgebreitete Gelehrsamkeit her? Ich höre mit Verwunderung der seltsamen Manier zu, die Sie angenommen haben, immer mit Beziehung auf alte Geschichten und Fabeln zu sprechen« (938), berichtet Friedrich von seiner reichlich grotesk wirkenden > Bildungsgeschich tec Er und Philine haben, nachdem sie vom Wandertruppenleben Abschied nahmen, ein altes Schloß gemietet, das auch eine reichhaltige Bibliothek enthielt. In ihrem einsam gelegenen Haus hatten sie doch, wenn wir ausgetobt hatten, manchmal lange Weile, wir wollten lesen, und ehe wir's uns versahen, ward unsere lange Weile noch länger. Endlich hatte Philine den herrlichen Einfall, die sämtlichen Bücher auf einem großen Tisch aufzuschlagen, wir setzten uns gegeneinander und lasen gegeneinander, und immer nur stellenweise, aus einem Buch wie aus dem andern. Das war nun eine rechte Lust! wir
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glaubten wirklich in guter Gesellschaft zu sein, wo man ftir unschicklich hält irgend eine Materie zu lange fortsetzen, oder wohl gar gründlich erörtern zu wollen. Wir glaubten in lebhafter Gesellschaft zu sein, wo keins das andere zum Wort kommen läßt. Diese Unterhaltung geben wir uns regelmäßig alle Tage, und werden dadurch nach und nach so gelehrt, daß wir uns selbst darüber verwunderten. Schon finden wir nichts neues mehr unter der Sonne, zu allem bietet uns unsere Wissenschaft einen Beleg an. Wir variieren diese Art uns zu unterrichten, auf gar vielerlei Weise. Manchmal lesen wir nach einer alten verdorbenen Sanduhr, die in einigen Minuten ausgelaufen ist. Schnell dreht sie das andere herum, und fängt aus einem Buche zu lesen an, und kaum ist wieder der Sand im untern Glase, so beginnt das andere schon wieder seinen Spruch, und so studieren wir wirklich auf wahrhaft akademische Weise, nur daß wir kürzere Stunden haben, und unsere Studien äußerst mannigfaltig sind. (939)
Friedrichs Belesenheit gründet also auf einer bloßen Wissensanhäufung, die kein Ziel verfolgt, keine Reflexion betreibt und keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Schließlich liest er ja »immer nur stellenweise, aus einem Buch, wie aus dem andern«. Ihm ist — entgegen dem vom humanistischen Bildungsideal affizierten Wilhelm - jeder von Selbstentfaltung bestimmte Bildungsimpetus und jede auf organischen Zusammenhang hin orientierte Bildungssystematik fremd. Von Anfang an geht es Friedrich nicht darum, Einsichten in das Wesen einer Sache zu erlangen, oder sich in seinen Anlagen zu entfalten. Ihm und Philine ist es allein wichtig, die Langeweile zu vertreiben. Zwar bleibt damit das auf Verknüpfung ausgerichtete Denkvermögen und die auf Sinn ausgerichtete Wissensakkumulation ungefordert, doch gerade diese Ausschaltung des Verstandes macht eben das Glück der beiden aus. Während Wilhelm aufgrund der immer wieder erfahrenen Diskrepanzen zwischen der Welt der Wünsche und der der Zwänge die handlungshemmende Haltung »des Zauderns und der Ungewißheit« (943) habituell geworden ist, flattert Friedrich über die Bedingtheiten der Realität einfach hinweg, um sich seiner spontanen Laune zu überlassen. Selbst die Vermutung, für seine Beziehung zu Philine habe er »eine harte Mitgift« (940), nämlich die Liebesnacht Philines mit seinem Nebenbuhler Wilhelm, zu bezahlen, um sie für sich gewinnen zu können, tangiert ihn nicht sehr. Er schlüpft in die Rolle des selbstlosen Liebhabers, wenn er repliziert: »wenn man sich so etwas nicht gefallen lassen kann, so muß man gar nicht lieben.« (ebd.) Zieht man in Betracht, aus welch leichtfertigem Zweifel heraus sich Wilhelm vormals von Mariane trennte, so steht die Heiterkeit von Friedrichs Liebe, die auf Kurzweiligkeit und aktuelles Vergnügen aus ist, in deutlichem Kontrast zur existentiellen Dimension von Wilhelms Liebe, die allerdings in ihrer Selbstbezogenheit nicht ihm, sondern Mariane zum Verhängnis wird. Auch zu Philines durchaus Zweifel erregender Schwangerschaft verhält sich Friedrich ganz anders als Wilhelm, der ja lange zögert, bis er seine Vaterschaft endlich anerkennt. Friedrichs Anwendung des Syllogismus — »Die Vaterschaft beruht überhaupt nur auf der Uberzeugung, ich bin überzeugt und also bin 191
ich Vater.« (940) - mag zwar witzig erscheinen. Doch demonstriert er damit auch, wie sehr er sich als Person zu relativieren weiß. Ihm geht es nicht um Einzigartigkeit, die sich dadurch ihrer Qualität vergewissert, daß er der Einzige fur die jeweilige Frau ist, sondern um entspannte Zuwendung, die sich selbst nicht so wichtig nimmt. Bedenkt man, daß es gerade die Eigentümlichkeit Friedrichs ist, seine eigenen Ansprüche zugunsten anderer zurückzunehmen und sein Ich aus dem Zentrum des Handlungsinteresses zu rücken, die ihn als Gegenbild Wilhelms charakterisiert, so ist es nicht erstaunlich, welch bedeutsame Rolle er am Romanende spielt. Denn der jeder überzogenen Selbstzentrierung abholde Friedrich, der sich und die anderen in ihrem Lebensspiel nicht sonderlich ernst nimmt, erlöst Wilhelm von seinem identitätsrelevanten Kernproblem, indem er ihn zur Selbsterkenntnis motiviert. Das, was Wilhelm früher dem Bild vom kranken Königssohn entnahm, um sein Sohnestrauma mit Hilfe eines ästhetischen Pendants zu hypostasieren, stellt Friedrich gründlich auf den Kopf. Er versetzt dem ehemaligen Schwärmer, der bereits durch schwerwiegende Ereignisse - den Tod des Harfners und Mignons, den geplatzten Plan, Therese zu heiraten, und die Lebensgefahr seines Sohnes Felix - verunsichert ist, den letzten Schlag der Desillusionierung. Die Selbst-Relativierung oder gar -Peripherisierung, 84 die wohl die >Mitgift< der Vergesellschaftung des vormaligen Narzißten ausmacht,85 erhält gegen Ende der >Lehrjahre< ein ausdrucksvolles Emblem. Das Gemälde vom kranken Königssohn, das Wilhelm — bis er später mit der vermeintlichen Lebensgefahr von Felix konfrontiert wird — »noch immer« (896) affektiv vereinnahmt, entwickelt sich allmählich zu einem diametral gewendeten Medium seiner Selbst-
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Auf der erzählerischen Ebene wird Wilhelm bereits nach der Beendigung des KünstlerromanTeils der >Lehrjahre< (vom i. bis zum 5. Buch) zunehmend aus dem Mittelpunkt der Darstellung gerückt. Was den gewichtigen Erzählgehalt ausmacht — Wilhelms Entwicklung vom egozentrischen Theaterschwärmer zum pflichtbewußten Familienvater - , wird durch die sich verändernde Erzählform vorbereitet. Siehe dazu Mathias Mayer: »Parallel zur Verschiebung des einheitsstiftenden Mittelpunkts vom Erzähler zum Leser vollzieht sich eine Interessenverlagerung im Roman: Wilhelm steht in Buch 1 bis 5 unzweideutig im Blickmittelpunkt und wird fortwährend als >unser Freund< tituliert; diese konventionell auktoriale Formel verliert sich so gut wie völlig mit dem 6. Buch, nach dem Wilhelm dann nur noch Organ ist, um eine fremde Umgebung, den Turmbereich, staunend wahrzunehmen.« M . Mayer: Selbstbewußte Illusion, S. 100; siehe hierzu auch Hans-Ulrich Kühl: Kunstproblematik und >klassische< Romanform bei Goethe. V o n der theatralischen Sendung< zu den >LehrjahrenArzt< zur Stelle, dessen Possen dem scharf kalkulierten pädagogischen Bemühen der an der entscheidenden Stelle versagenden Turmgesellschaft schließlich doch zum Durchbruch verhelfen. Im folgenden führe ich zunächst die fur den Kontext dieser Stelle relevante Romanhandlung aus. Die Kunstsammlung von Wilhelms Großvater, deren Verkauf sich ihm in jungen Jahren als schmerzhafte Enterbung eingeprägt hat, befindet sich inzwischen im Besitz von Natalies Oheim. Als Wilhelm nach langer Zeit endlich sein Lieblingsbild wiederentdeckt, bewundert er das Gemälde vom kranken Königssohn mit unverminderter Zuneigung, da er es »[noch immer] reizend und rührend« findet (896). Doch entdeckt Wilhelm nicht nur dieses früher so geliebte Kunstwerk wieder, sondern findet auch die Antwort auf eine Frage, die ihm kurz zuvor während des Initiationsritus vom Abgesandten der Turmgesellschaft gestellt wurde: »Erinnern Sie sich des Gemäldes nicht mehr, das Ihnen so reizend war? Wo mag der kranke Königssohn wohl jetzo schmachten?« (872: Hervorhebung von mir) Mit der schlichten Antwort im Hinblick auf den Ort des Gemäldes ist es aber nicht getan. Die Frage zielt auf mehr und anderes — auf eine Figur des Bildsujets, deren identitätsstiftende Kraft fur Wilhelm relevant war - auf den schmachtenden Königssohn. Die Frage des Abgesandten könnte durchaus als beantwortet gelten, wenn man sie als Frage nach dem räumlichen Ort des Gemäldes begreift. Damit aber wären Sinn und Intention der Frage verfehlt. Dies wird deutlich, wenn man berücksichtigt, welch wichtige Rolle das Bild bislang in Wilhelms innerer Geschichte gespielt hat. Schon seit seiner Jugend stellt Antiochus ein Identifikationsvorbild für Wilhelm dar. Daß er gerade den Königssohn, der an dem Dilemma zwischen Sohnespflicht und eigenem Wunsch erkrankt, als Selbstdeutungsmuster in Anspruch nimmt, kommt schon im ersten Buch des Romans zum Ausdruck. Forciert wird diese Identifikationstendenz nicht zuletzt durch den Uberfall auf der Lichtung im vierten Buch, als Wilhelm die schöne Amazone mit der Stratonike des Bildes assoziiert. Seinem Selbstverständnis nach, das er diesem ästhetischen Handlungsgefiige entlehnt, war und bleibt Wilhelm ein Sohn, der gegen die vom Vater aufoktroyierten Pflichten rebelliert und zugleich das von diesem Verbotene begehrt. Fragt ihn der Abgesandte der Turmgesellschaft nach dem Ort des kranken Königssohnes, so zielt diese Frage also nicht nach dem Zimmer, in welchem das Gemälde nun hängen könnte, sondern auf die innere Lage und psychische Befindlichkeit des sich mit dem Königssohn identifizierenden Wilhelm. In diesem Zusammenhang ist es nicht ohne Bedeutung, daß die Frage ausgerechnet zu dem Zeitpunkt gestellt wird, zu dem die innere Versöhnung zwischen Vater und Sohn von der Turmgesellschaft im Medium des Initiationsritus arrangiert wird. Während des Ritus treten vier Abgesandte der Turmgesellschaft in der Reihenfolge auf die Bühne, in der sie früher Wilhelm begegnet 193
sind. Der Ritus beginnt damit, daß Wilhelm auf seine frühe und ihm durchgehend präsente Identifikationsgestalt, den kranken Königssohn, angesprochen wird; und er endet mit der Deklaration des Abbes, der Wilhelm im Namen der Natur freispricht, und zwar im Hinblick auf die Verpflichtung für das Wohlergehen seines kleinen Sohnes: »Heil Dir junger Mann! [...] die Natur hat Dich losgesprochen.« (876) An die Stelle der sich bislang als schlechtes Gewissen artikulierenden Pflicht, den Geboten seines Vaters zu folgen, tritt jetzt die neu anzuerkennende Pflicht, sich als Vater um seinen Sohn zu kümmern. 86 Die an Wilhelm adressierte Frage des Turmabgesandten, »Wo mag der kranke Königssohn wohl jetzo schmachten?«, hat vor diesem Hintergrund nicht weniger als drei Funktionen, die mit je unterschiedlichen Zeitbezügen korrelieren. 1) Die Frage zielt auf Wilhelms inneres, im ästhetischen Medium gedeutetes Ich der Vergangenheit. 2) Sie entzieht zugleich dem auf die leidende Sohnesexistenz fixierten Identitätsmuster seine Geltung, da Wilhelm sich nach der Anerkennung seiner Vaterschaft in seiner gesamten Lebenspraxis von nun an an seinen Pflichten gegenüber Felix auszurichten hat. 3) Neben der vergangenheitsausgerichteten sowie der gegenwartsbezogenen Zielrichtung bereitet die Frage Wilhelm auch auf ein künftiges Ereignis vor, das seine neue Vateridentität konsolidieren wird. Zwar erkennt Wilhelm auf die Beteuerung des Abbes, er sei gewiß der Erzeuger von Felix, seine Vaterschaft an. Doch wird damit sein ikonographisches Vorbild Antiochus noch keineswegs vollständig verabschiedet.87 Die Anerkennung der zunächst bloß biologischen Vaterschaft ist ja mit erheblichen Konsequenzen verbunden. Aus der biologischen Vaterschaft hat eine soziale und emotionelle zu werden. Wilhelm bemüht sich zwar, seiner Erziehungspflicht in der konkreten Lebenspraxis nachzukommen. Emotionell aber ist er noch nicht in die neue Rolle hineingewachsen, weil die von der >äußeren
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Der mystische Vorhang der Bühne, dessen sich die Turmgesellschaft für ihre rituelle Identitätskonstruktion bedient, entbirgt in diesem Sinne zwei Söhne: Wilhelm und Felix. Es stellt sich eine Analogie des Ritus zu Wilhelms Traum her, in dem der weiße Schleier der Amazone ebenfalls »zwei Knaben« entläßt. Daß Wilhelms identifikatorischer Hang zu Antiochus auch nach dem Initiationsritus anhält, verdeutlicht sein Verhalten bei der Wiederentdeckung des Bildes: Als Wilhelm im Haus von Natalies Oheim das Bild vom kranken Königssohn betrachtet, strahlt es eine unverringerte Anziehungskraft auf ihn aus: »noch immer fand er es reizend und rührend« (896), »so reizend« (872) wie damals, als er sich mit dem ersten Turmabgesandten unterhalten hatte. Dies ist ein klares Signal dafür, daß Wilhelms Selbstverständnis als Sohn, der durch väterliche Verbote an seiner Wunscherfüllung gehindert wird, in seinem Innern »noch immer« — zumindest latent existiert. Ihm droht also eine Regression. Zwar wurde die Rollenverschiebung vom Sohn zum Vater durch die Turmgesellschaft als Außeninstanz, auf welche die väterliche Autorität verschoben wird, öffentlich vollzogen, doch hat er diesen Rollenwechsel noch nicht emotionell internalisiert.
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Instanz* Turmgesellschaft deklarierte Vaterschaft noch nicht in sein Inneres vorgedrungen ist. Erst durch ein spektakuläres Ereignis kommen Wilhelms äußere und innere Vaterschaft zur Deckung: Felix befindet sich in großer Lebensgefahr. Der Harfner will sich umbringen, nachdem er seine vom Inzest 88 geprägte Lebensgeschichte erfahren hat, und mischt Opium in ein Glas Mandelmilch. 8 9 Als er das Glas dann kurz stehen läßt und den Raum verläßt, trinkt Felix einige Schlucke Milch. Man furchtet um sein Leben, weil man davon ausgeht, er habe aus dem Glas mit der vergifteten Milch und nicht aus der daneben stehenden Flasche getrunken. Der Roman läßt die Frage lange unbeantwortet, er hält die Akteure und Leser in Spannung, allen voran Wilhelm, der in eine existentielle Krise stürzt und von Verzweiflungsschüben heimgesucht wird. Zum glücklichen Ende kommt heraus, daß Felix seiner Unart gemäß, die ihm auch alle Erziehungsbemühungen Wilhelms nicht haben austreiben können, aus der Flasche und nicht, wie es sich gehört, aus dem Glas getrunken hatte. Goethe gewährt dem nervenaufreibenden, letztendlich aber glücklich ausgehenden Trubel einen merkwürdig ausgedehnten Erzählraum. Warum läßt er nicht Felix, der doch den wahren Sachverhalt kennt, diesen aufklären, und weshalb quält er dessen Vater mit einer Sorge, die sich doch schon bald als unbegründet erweisen wird? In diesem spürbar verlangsamten Handlungsraum des bald schließenden Romans gründet — so meine These — Wilhelms Schlüsselerlebnis. Die bloß scheinbare Vergiftung Felix' ist zwar an sich kein sonderlich relevantes Ereignis, aber ein für Wilhelms Identitätsgenese doch außerordentlich sinnvoller Irrtum. Denn wie so oft in den >Lehrjahren< geht es auch hier weniger um die Wirklichkeit als vielmehr um Wilhelms subjektiven Umgang mit dem, was er fur wirklich hält. In dem Augenblick, in dem er von väterlicher Sorge gänzlich ergriffen ist, zeigt er sich zum ersten Mal im Roman als ein zärtlicher Vater, der sich selbst auch emotionell aus dem Zentrum seiner eigenen Aufmerk-
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Michael Titzmann begründet die vielfältige Thematisierung des Inzestmotivs in der Goethezeit damit, daß die neue Form der Kleinfamilie, die unter dem Vorzeichen der Zärtlichkeit Vater, Mutter und Kinder als eine emotionale Einheit zusammenbindet, abgegrenzt werden muß von der die Ordnung sprengenden Leidenschaft, die alle kulturellen Regeln und Heiratsgebote mißachtet. Aus diesem Grund wird der Inzest entschieden als unnatürliches Verhalten gebrandmarkt, um Familie und Ehe als den einzig erlaubten Ort der Sexualität zu postulieren. Alle, die sich nicht den gesellschaftlichen Normen fugen, werden nicht nur zu Außenseitern gestempelt, sondern mit den Strafphantasien der Isolation und des Wahnsinns überzogen. Siehe hierzu M . Titzmann: Literarische Strukturen und kulturelles Wissen: Das Beispiel inzestuöser Situationen in der Erzählliteratur der Goethezeit und ihrer Funktionen im Denksystem der Epoche. In: Jörg Schönert (Hrsg.): Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur zwischen 1770 und 1920. Tübingen 1991, S. 229-281.
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Zur Analyse der mißlungenen Sozialisation des Harfners siehe die Deutung von Friederike Eigler: Wer hat >Wilhelm Schüler« zum >Wilhelm Meister« gebildet? S. iogff. 195
samkeit zu rücken vermag. Er hat zwar vor einiger Zeit den Entschluß gefaßt, das Wohlergehen seines Sohnes in den Mittelpunkt seiner Handlungen und seines Zukunftsinteresses zu stellen. Diese Absicht ergibt sich jedoch aus rollengemäßem Pflichtbewußtsein. 90 Dieses war es denn auch, was seinen Plan, Therese zu heiraten, bestimmte. Als pflichtbewußter Vater folgte er dem Kalkül, »daß er eine Mutter für den Knaben suchen müsse, und daß er sie nicht sichrer als in Theresen finden werde« (883). Sein Plan aber scheitert, da nach vielem Hin und Her Lothario seine alten Rechte auf Therese geltend macht. Wilhelm ist daraufhin sichtlich desorientiert, hatte er doch geglaubt, fur seinen Sohn die Vernunft über die Empfindungen walten lassen zu müssen: »[D]er Entschluß, Theresen meine Hand anzubieten, ist vielleicht der erste, der ganz rein aus mir selbst kommt. Mit Überlegung machte ich meinen Plan, meine Vernunft war völlig damit einig.« (914) Doch nicht das rationale Kalkül, sondern die Zufälle des Lebens sind die Faktoren, die, wenn es gut geht, zusammenfugen, was füreinander bestimmt ist.51 In dieser Hinsicht spielen der aller rationalen Welt- und Selbsterklärung abholde Friedrich und das von ihm neu gedeutete Bild vom kranken Königssohn eine bestimmende Rolle. Der Zusammenhang stellt sich wie folgt dar: Als sich nach langem Warten endlich herausstellt, daß Felix doch nicht vergiftet wurde, fällt Wilhelm in eine tiefe Melancholie, anstatt sich des geretteten Sohnes zu erfreuen: »Felix war ihm wiedergegeben, und doch schien ihm alles zu fehlen« (987). Was die väterliche Freude gänzlich überlagert, ist seine heimliche Zuneigung zu Natalie, die er angesichts der Wirrnisse verheimlichen zu müssen glaubt. Während beide gemeinsam Felix' Krankenbett hüteten, hatte sich eine unterschwellige Verbundenheit eingestellt. In der traurigen Lage hatte Natalie »Wilhelmen ihre Hand gegeben, sie sprachen kein Wort, sahen auf das Kind, und sahen einander an« (985). Wie sich erst später herausstellt, legte Natalie in diesem Moment »das Gelübde [ab], wenn das Kind
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Hinsichtlich eines neuen Verantwortungsbewußtseins gegenüber seinem Sohn Felix ist Wilhelm schon nach seiner Lossprechung durch die Turmgesellschaft Vater geworden, doch erst jetzt findet die moralische Verpflichtung zur Familie die Entsprechung in Wilhelms naturwüchsigväterlicher Zuneigung. Zwar ist schon zu Beginn des achten Buches von Wilhelms väterlichen Gefühlen die Rede - »Er sah die Welt nicht mehr wie ein Zugvogel an, ein Gebäude nicht mehr fur eine geschwind zusammengestellte Laube, die vertrocknet, ehe man sie verläßt. Alles, was er anzulegen gedachte, sollte dem Knaben entgegen wachsen, und alles, was er herstellte, sollte eine Dauer auf einige Geschlechter haben. In diesem Sinne waren seine Lehrjahre geendigt, und mit dem Gefühl des Vaters hatte er auch alle Tugenden eines Bürgers erworben.« (881) Jedoch ordnet sich dieses Gefühl der Nachwuchssicherung dem darauf bezogenen bürgerlichen Moraldiskurs zu. Siehe zu dem auf Wilhelms neue Familienrolle fokussierten Sozialisationsaspekt Dieter Borchmeyer: Höfische Gesellschaft und französische Revolution bei Goethe, S. 188.
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Bei genauerer Betrachtung erweist sich diese Zusammenfiigung als problematisch: Die ironische Wendung der >Wanderjahrenarrativen Leinwände »Wilhelm saß vor ihr [d.i. Natalie] auf einem Schemel; er hatte die Füße des Knaben auf seinem Schöße, Kopf und Brust lagen auf dem ihrigen, so teilten sie die angenehme Last und die schmerzlichen Sorgen« (985). Die an den Körpergliedern miteinander verkettete Bildgruppe von den drei Personen nimmt hier den Ausgang der >Lehrjahre< vorweg und unterstreicht auf metaphorische Weise ihre Zusammengehörigkeit. Doch während Wilhelm vom Standpunkt des Seleukos aus auf die Bildhandlung eingeht, ist er sich über sein Vorgehen und seine eigene Perspektive nicht im klaren. Seine veränderte Rolle als besorgter Vater ist noch nicht in sein Bewußtsein eingedrungen. Nachdem Friedrich Wilhelm mit den >Who is Who?Romanautors< degradiert, den er in der tatkräftigen Turmgesellschaft figuriert sieht. Hiermit macht sich Schlaffer nicht zuletzt die vorwurfsvolle Haltung der Frühromantiker (Novalis, Schlegel) gegenüber Goethes Roman, er handle vom Untergang des Poetischen, zu eigen. Er spricht in der Folge Wilhelm gleichsam eine >SeeleHandelnderBehandelter< der Turmgesellschaft. Doch Wilhelm hat durchaus eine >Seeleerschafft< — durchaus unabhängig von den >Intrigen< der Turmgesellschaft. In der Schlußszene des Romans reagiert Wilhelm auf eine scheinbar harmlose Äußerung Friedrichs mit merkwürdiger Heftigkeit. 6 Als Friedrich Wil6
Der Schlußdialog unterminiert das lustspielhafte Arrangement des »happy endLehrjahren< inszenierte Schauspiel — rekapituliert sei der selbstironische Eingangssatz des Romans »Das Schauspiel dauerte sehr lange« (359) — in makelloser Harmonie enden können. Die Ausgangsszene, die eine Doppelhochzeit (Wilhelm/Natalie, Lothario/Therese) in
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helm an ihre erste Begegnung erinnert, um den glücklichen Zusammenhang zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem zu evozieren — »als wir Bekanntschaft machten [...], wer konnte denken, daß ihr jemals eine solche Blume [d.i. Natalie] aus meiner Hand empfangen würdet?« (992) - , weist Wilhelm jeden Zusammenhang von Vergangenheit und Gegenwart ab: »Erinnern Sie mich nicht in diesem Augenblicke des höchsten Glückes an jene Zeiten!« (ebd.) Wilhelm will von dem, was zurückliegt, nichts mehr wissen und markiert damit den Bruch mit dem ihn lange prägenden, kausalgenetischen Wahrnehmungsmodus seines Lebens. Die Teleologie als Horizont der eigenen Lebensbetrachtung wird suspendiert, ganz anders als im ersten Buch, in dem Wilhelm seine Vergangenheit ex post als sukzessive Höherentwicklung betrachtet: Es ist eine schöne Empfindung, liebe Mariane, versetzte Wilhelm: wenn wir uns alter Zeiten und alter unschädlicher Irrtümer erinnern, besonders wenn es in einem Augenblicke geschieht, da wir eine Höhe glücklich erreicht haben, von welcher wir uns umsehen und den zurückgelegten Weg überschauen können. (367)
Während Wilhelm zu Beginn des Romans der Rekapitulation seiner Vergangenheit bedurfte, um seine Identität zu stiften, indem er erzählend fiir Mariane die Geschichte seiner Kindheit und der Genese seiner theatralischen Sendung teleologisch rekonstruierte, bricht er am Schluß mit Vergangenem als einem mit der Gegenwart nicht zu Vermittelnden. Damit aber überwindet er am Romanschluß den einst fur ihn symptomatischen Habitus, alle Geschehnisse providentiell auf sich hin auszulegen. Zum ersten Mal lehnt er es ab, sich über Gestalten aus der Welt der Kunst und Literatur zu definieren, die er bislang je nach seiner Situation und Befindlichkeit als Medien einer Identitätszuschreibung benutzt hatte, um das eigene Selbst in fremden Konturen zu steigern. Auf Friedrichs Vergleich Wilhelms mit Saul - »der ausging seines Vaters Eselinnen zu suchen, und ein Königreich fand« (992) — antwortet Wilhelm mit abwehrender Distanz: »Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht [...], aber ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene, und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte.« (ebd.) Diese bescheidene Abwehr erstaunt um so mehr, als sich Wilhelm im bisherigen Romanverlauf nie enthalten konnte, sich mit an ihn herangetragenen oder
Aussicht stellt, wird nämlich atmosphärisch wie konstellativ dem gattungskonstitutiven Schlußtableau einer Komödie gemäß arrangiert. Hier gibt es keinen einzigen Konflikt, der ungelöst bleibt und keine einzige Figur, die nicht einträchtig in die Gesellschaft integriert ist. So heißt Lothario seinen künftigen Schwager Wilhelm mit einer feierlichen Umarmung in der neuen Familie willkommen und fuhrt ihn zu seiner Schwester Natalie. Sie wiederum kommt ihnen mit Therese als der künftigen Braut ihres Bruders entgegen. Gerade an dieser Stelle hätte der Vorhang fallen können, zumal die Bilanz der zweifach geglückten Liebesgeschichte alle Anwesenden vor lauter Rührung verstummen läßt: »alles schwieg« (992). Friedrichs Bemerkung, die bei Wilhelm unerwarteten Zorn auslöst, bricht dieses einvernehmliche Schweigen und durchkreuzt die feierliche Stimmung der harmonisch vereinten Gefühlsgemeinde.
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selbstgewählten fiktionalen Gestalten emotional (David, Tankred, Antiochus, Hamlet) zu identifizieren oder sich reflexiv (Hamlet, Seleukos) über sie zu definieren. Es ist das erste Mal, daß er seine innere Realität nicht anhand fiktionaler Parallelwelten modelliert. Wilhelms Geständnis, sein Glück sei unverdient, markiert nicht nur den Bruch mit seiner teleologischen Auslegung der Biographie und seinen ästhetischen Rollenspielen, sondern korrespondiert überdies mit der endgültigen Aufhebung seines narzißtischen Selbstbildes. Wilhelms auf- und abgeklärte Reflexion auf das Glück im Gespräch mit Friedrich steht seiner früheren Zuversicht, mit der er sein Glück mit der Schauspielerin Mariane im Kontext seines Sendungsgedichts als »hellen Wink des Schicksals« (386) für den künftigen Gründer eines Nationaltheaters verstand, diametral entgegen. Damals erfuhr er Mariane als Erfüllung seiner im Gedicht »Jüngling am Scheideweg« selbsterzeugten Verheißung: Hätte ich denken können, ο meine Geliebte! rief er aus, indem er Marianen fest an sich drückte, daß eine ganz andere, eine lieblichere Gottheit kommen, mich in meinem Vorsatz stärken, mich auf meinem W e g e begleiten würde; welch eine schönere W e n d u n g würde mein Gedicht genommen haben, wie interessant würde nicht der Schluß desselben geworden sein! Doch es ist kein Gedicht, es ist Wahrheit und Leben, was ich in deinen Armen finde; laß uns das süße Glück mit Bewußtsein genießen! (384)
Doch das von Wilhelm als Schicksalsgabe für den auserwählten Jüngling am Scheideweg hypostasierte Glück ist ihm nicht zuteil geworden; es erwies sich als >abergläubisches< Wunschdenken. Während er damals als der ausweislich seines Gedichts zum ästhetischen Leben auserwählte Jüngling am Scheideweg »das süße Glück« zu besitzen glaubte und sich an der Seite der zur lieblichen Gottheit stilisierten Mariane seines Schicksals zu vergewissern meinte, erscheint ihm nun das Glück an der Seite Natalies als unverdiente Gabe des Zufalls. Vor dem Hintergrund dieser veränderten Einstellung erfährt die alttestamentarische Gestalt Saul, mit der Wilhelm nicht verglichen werden will, besondere Relevanz. Die Lebensgeschichte des biblischen Selbstmörders steht unter dem Vorzeichen der Vorsehung, an die Wilhelm vormals fest geglaubt hat.7
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Gerda Röder hingegen stellt die Gemeinsamkeit von Saul und Wilhelm allein inhaltlich wie situativ fest. Sie deutet hierbei den postulierten teleologischen Lebenszusammenhang als objektives Verbindungskriterium des Romans selbst und übersieht damit die figurenperspektivische Ambiguität. Einerseits beansprucht Friedrich Saul als Sinngebungsmuster, andererseits negiert Wilhelm Saul als Sinnaufhebungsmuster: »So bedeutet Friedrichs Anspielung auf Sauls Erwählung nicht nur ein Gleichnis für den Glücksweg Wilhelms, fur seine >Erwählung< und Auszeichnung; sie bedeutet auch, dal? alles mit allem, Kindheit, Entfaltung und Glück unlöslich zusammenhängt [...].« G . Röder: Glück und glückliches Ende im deutschen Bildungsroman, S. 161. 213
In Wilhelms vehementer Distanzierung von Vergangenheit, seiner Suspendierung providentiellen Denkens und teleologischer Wahrnehmungsmodi sowie in seiner Ablehnung fremder Identifikationsangebote manifestiert sich, daß er sich nun als gegenwärtiges und eigenständiges Ich anerkennt. Nicht Identifikationsmöglichkeiten, sondern Differenzwahrnehmungen lassen Wilhelm sich als das erfahren, was er ist, und in der Negation dessen, was ihm einst als Sinnversprechen erschien. Dieses neue Selbstverhältnis forciert er auch sprachlich. Es ist sicherlich kein Zufall, daß Wilhelm in seiner letzten Äußerung, mit der der Roman endet, das Wort »Ich« fünfmal in dichter Folge ausspricht: Ich kenne den Wert eines Königreichs nicht, versetzte Wilhelm, aber ich weiß, daß ich ein Glück erlangt habe, das ich nicht verdiene, und das ich mit nichts in der Welt vertauschen möchte. (992) In diesem Schlußsatz manifestiert sich nicht allein eine sprachliche Ich-Werdung. Er ist vor allem der sprachliche Ausdruck einer wirklichkeitszugewandten Subjektwerdung. Sie macht den perspektivischen Wandel und die innere Neugeburt Wilhelms vernehmbar. Wenn er das Erworbene an dem Geleisteten mißt und erkennt, er habe ein Glück erlangt, das nicht dem eigenen Verdienst entspreche, so stellt dies ein >Mehr< an Einsicht und Wirklichkeitsnähe dar. Entscheidend für die Auslegung des Romanschlusses ist also nicht das äußere Glück, das dem Protagonisten in der vermeintlichen, von den >Wanderjahren< dann dementierten Verbindung mit Natalie zukommt, sondern seine innere Haltung dazu. Wilhelms Realitätsverhältnis und Selbstverständnis hat sich verändert: Er suspendiert die bislang als Sinngarant seiner theatralischen Sendung postulierte Zeichenhaftigkeit des Lebens, für das die ästhetischen Gestalten und Geschichten Ausdrücke dessen waren, was er und seine Lebenssphäre zu sein hatten. Es gibt nun keine Äquivalenzen des Ich (wie Saul) mehr; es gibt keine Äquivalenzen seiner Wirklichkeit (wie dessen Königreich). Das äußere »Glück«, das Wilhelm auf seine künftige Frau Natalie bezieht, verweist bereits auf den Widerspruch zwischen Realität und ihren Äquivalenzen, den Wilhelm früher erlebt hat. Als er nach dem Überfall auf der Lichtung im Umkreis der Turmgesellschaft Natalie, die ihm bislang als schöne Amazone vor dem inneren Auge stand, wiedersah, mußte er die Differenz zwischen der realen Frau und ihren symbolischen Referenzen (Chlorinde, Stratonike, Muse der tragischen Dichtkunst) anerkennen: Er beschäftigte sich damit, »das Bild der Amazone mit dem Bilde seiner neuen gegenwärtigen Freundin zu vergleichen. Sie wollten noch nicht mit einander zusammenfließen; jenes hatte er sich gleichsam geschaffen, und dieses schien fast ihn umschaffen zu wollen« (896). Dieses Erlebnis, das ihm die Unzulänglichkeit fiktionaler Äquivalenzen im Feld der Fremdwahrnehmung bewußt gemacht hatte, forciert sich am Ende des Romans in Wilhelms Selbstwahrnehmung und »schafft« »ihn« nun tatsächlich »um«: Er erkennt, daß fremde Bilderwelten die eigenen Erlebnis214
weiten weder zu bezeichnen n o c h zu deuten v e r m ö g e n . Insofern reicht die B e d e u t u n g des v o n W i l h e l m erwähnten » G l ü c k s « über ihren äußeren B e z u g a u f seine künftige B r a u t hinaus. E s ist weitaus m e h r als ein G l ü c k angesichts der bevorstehenden Eheschließung. U b e r sie vermittelt erfährt W i l h e l m das G l ü c k einer Selbst- u n d Realitätsfindung, in der er Eigenes als Eigenes, F r e m des als F r e m d e s zu erkennen vermag. W i l h e l m s S u c h e nach »Ähnlichkeiten« (Foucault) findet in seiner Ich-Werd u n g insofern ihr E n d e , als es i h m gelingt, sich v o n seiner ihn bislang bestimm e n d e n Verwechslung subjektiver Weltvorstellungen mit objektiver Weltgegebenheit zu befreien — zugunsten der realitätsfundierten Erkenntnis seines Ich u n d dessen Bedingtheiten. D e r >falsche H e r m e n e u t seiner selbst< lernt, sein erträumtes Ideal-Ich i m Z u s a m m e n h a n g der Gegebenheiten des wirklichen Lebens zu relativieren. H i e r m i t avanciert die Geschichte v o n W i l h e l m s E m a n z i p a t i o n aus der Herkunftswelt zu einer Geschichte seiner E m a n z i p a t i o n aus d e m narzißtischen Spiegelkabinett ästhetischer Bilderwelten. D e r I m p u l s für die Geschichte einer >RealitätsertüchtigungSehens< u n d D e n k e n s abspielt, speist sich aus der in den >Lehrjahren< herrschenden D i c h o t o m i e zwischen d e m W u n s c h des Protagonisten, sein Leben unter den Gesichtspunkten v o n Zweckmäßigkeit, O r d n u n g u n d K o h ä r e n z erfassen zu wollen, u n d seiner E r f a h r u n g v o n Willkür, Zufälligkeiten u n d Heterogenitäten. D i e s e D i c h o t o m i e blendet Wilhelm für lange Zeit aus, i n d e m er a u f ein teleologisches Weltbild rekurriert, das d e n einzelnen Geschehnissen einen funktionalen O r t zur B e f ö r d e r u n g der harmonischen Persönlichkeit zuschreibt. A u f diese W e i s e wird d e m a u f d e n ersten Blick Sinnlosen ein zunächst unerkannt gebliebener Sinn zugeschrieben — eine Art säkularisierter T h e o d i z e e als P r o d u k t eines G r u n d b e d ü r f n i s s e s des M e n s c h e n , der alles, was i h m widerfährt, in einen a u f ihn zentrierten Legitim a t i o n s z u s a m m e n h a n g zu stellen sucht. E n t s p r e c h e n d heißt es bei Schiller: Wer freilich die große Haushaltung der Natur mit der dürftigen Fackel des Verstandes beleuchtet, und immer nur darauf ausgeht, ihre kühne Unordnung in Harmonie aufzulösen, der kann sich in einer Welt nicht gefallen, wo mehr der tolle Zufall als ein weiser Plan zu regieren scheint, und bei weitem in den mehresten Fällen Verdienst und Glück mit einander im Widerspruche stehn. Er will haben, daß in dem großen Weltlaufe alles wie in einer guten Wirtschaft geordnet sei, und vermißt er, wie es nicht wohl anders sein kann, diese Gesetzmäßigkeit, so bleibt ihm nichts anders übrig, als von einer künftigen Existenz und von einer andern Natur die Befriedigung zu erwarten, die ihm die gegenwärtige und vergangene schuldig bleibt.8 L a n g e Zeit hatte W i l h e l m »mit der dürftigen Fackel des Verstandes« Heterogenes als H o m o g e n e s verstehen wollen — ein Verhalten, das die >Lehrjahre< m i t ihrer ironischen Erzählweise thematisieren. D i e Erlebnisdimension des Protago-
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Schiller: «Über das Erhabenes SFA 8, S. 833. 215
nisten und die sie ironisch unterminierende Reflexionsdimension des Romans, die an dessen Ende durch Wilhelms Selbsterkenntnis zur Deckung kommen, verweisen auf die Kluft zwischen dem Bedürfnis des Menschen nach Gesetzmäßigkeit »in dem großen Weltverlaufe« und dessen tatsächlicher Heterogenität und Kontingenz. Wilhelm erschafft sich einen Sinnkosmos, der dann als sein Projektionsgebilde ironisch unterlaufen wird. So spinnt Wilhelm zu Beginn des Romans ein Symbolgeflecht, anhand dessen er die einzelnen disparaten Ereignisse und Erlebnisse in ein übergeordnetes Sinnganzes zu fugen vermag. Der weitere Romanverlauf aber entlarvt das aus Wilhelms Sicht metaphysisch gegründete und auf ein fest vorgegebenes Telos ausgerichtete Sendungsbewußtsein als ein im Vater-Sohn-Konflikt fundiertes psychisches Konstrukt. Auf diese Weise wird Wilhelms Glaube, zum ästhetischen Dasein berufen zu sein, auf seine verborgenen Motive zurückgeführt und als Folge seiner Abwehr der väterlich bestimmten ökonomischen Existenz erhellt. Die Ordnung des Romans, die sich über figurenspezifisch gebrochene Leitmotive und Symbolsequenzen generiert, formt sich folglich nicht länger über die integrative Instanz einer allgemeinen (Bildungs-)Idee, sondern realisiert sich — ihres transzendenten Legitimationsgrundes beraubt — nur noch in der psychischen Disposition des Protagonisten. Nicht von ungefähr legt Goethe Formulierungen, die auf die zeitgenössische klassisch-humanistische Bildungsidee rekurrieren, ausgerechnet einem Protagonisten in den Mund, den er mit Blick auf dessen psychische Labilität als »arme[n] Hund« 9 bezeichnet. Es ist auch kein Zufall, daß der Erzähler des Romans über das, was Wilhelm als Bildungsidealist kundtut, ausnahmslos einen ironischen Schatten wirft: Wenn Wilhelm zu Beginn des Romans sein vergangenes Leben teleologisch modelliert, um seiner Geliebten seinen persönlichen >Bildungsroman< zu präsentieren, so schläft Mariane dabei ein. Wilhelms Brief an Werner, in dem er diesem sein Selbstbildungsprogramm mitteilt, entlarvt der Erzähler als Trotzreaktion; das vom Bildungsenthusiasten Gesagte ist folglich durch dessen Adressatenbezogenheit zu relativieren und mitnichten als genuine Uberzeugung ernstzunehmen. Was die situative Ironie punktuell zu erkennen gibt, ist nur eine Facette dessen, was Goethe im Verlauf seines Romans systematisch vollzieht. Die durchgängige Ironie verdeutlicht, daß die >Lehrjahre< kein Bildungsroman im theoretischen Sinne sind, so als würden außerästhetische Gedankenwelten im fiktionalen Kosmos realisiert. Sie sind ein solcher im pragmatischen Sinne, da sie die Gedankenwelten über ihren Protagonisten so vermitteln, daß diese in einer Form von >Fiktion in Fiktion< in Wilhelms eigener Erzählung (adressiert an Mariane und Werner) präsentiert und zugleich als Problem in den Roman integriert werden.
9 FA 36, S. 144. 216
Goethe setzt in den >Lehrjahren< weder eine zeitgenössische Ideo-Logik über die harmonische Bildbarkeit des Menschen (am Identitätsentwurf des Protagonisten) literarisch um, noch gestaltet er die Α-Logik des kontingenten Glücks (am Romanschluß). Er entfaltet eine Psycho-Logik, die Allgemeines und Konkretes, Ideelles und Reelles, Anspruch und Bedingtheit, Autonomie und Heteronomie in einem kausalgenetischen Konfliktzusammenhang aufeinander bezieht. An Wilhelms scheiterndem Unterfangen, aus dem heterogenen Realitätsgefüge in Rekurs auf seine vorgebliche Erkorenheit zum ästhetischen Dasein einen Sinnkosmos zu formen, zeigt sich, wie schwach die von Schiller so genannte »dürftige Fackel des Verstandes« leuchtet, der »immer nur darauf ausgeht«, die »Unordnung in Harmonie aufzulösen«, dabei aber durchgängig eines Schlechteren belehrt wird. Der Roman zeigt ferner, wie sehr Wilhelms Versuch, die Wirklichkeitspartikeln auf einen vermeintlich ihnen übergeordneten Sinnkontext hin auszulegen, emotionell geprägt und narzißtisch korrumpiert ist. Die >Lehrjahre< demonstrieren an Wilhelm, der sich mit Hilfe der Schleiersymbolik seiner Stellung in der Welt vergewissern will, die Unzulänglichkeit dieses Versuchs — und zwar ausgerechnet im Medium der Symbolik selbst. Denn der Schleier als ein Gewebe, das zwischen Verhüllen und Enthüllen changiert, läßt das vom Schleier Bedeckte zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem oszillieren, entzieht es einer eindeutigen Identifizierung und öffnet der Phantasie so einen großen Spielraum von Ahnungen und Mutmaßungen. Doch bleibt Wilhelm nicht beim Phantasieren stehen; wo Ungewißheit herrscht, will er Gewißheit herbeizwingen. In der Folge erklärt er häufig Produkte seiner subjektiven Einbildungskraft zu objektiven Phänomenen — ein Don Quijote redivivus, dem der interpretatorische Entschleierungsversuch des Verschleierten nur um den Preis der Selbsttäuschung gelingt. Im Protagonisten der >Lehrjahre< verkörpern sich die Objektivierung des Subjektiven und die daraus resultierenden Gefahren der Realitätsverkennung und Selbsttäuschung, die Goethe in seiner Abhandlung >Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt< (1793) erörtert. Goethe thematisiert hier die Subjektivität, indem er sie einerseits als eine Gefahr fur wissenschaftliche Erkenntnis begreift, andererseits konstatiert, daß sie sich prinzipiell nicht ausschalten läßt. Gegen die Illusion eines objektiven Szientifismus betont Goethe die grundsätzliche Unhintergehbarkeit des erkennenden Subjekts, fordert demnach, daß es sich in die Distanz wissenschaftlicher Erkenntnishaltung zurückzunehmen habe, um die Perspektive des Subjekts nicht über den Objektbezug dominieren zu lassen. Dennoch ist die Wirklichkeit immer schon durch das betrachtende Subjekt mitkonstituiert10 — gemäß der berühmten Devise aus dem Vorwort zur
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Daß die Wahrnehmung keine objektive Erkenntnis ermöglicht, da sie immer subjektiv überformt ist, gehört zu den Grundüberzeugungen Goethes. Hierin gründet etwa seine Polemik gegen Newton, der die Farbe als eine physikalische Größe losgelöst vom wahrnehmenden Subjekt bestimmte. Goethe hingegen sah die Farbwahrnehmung in Relation zu ihren Bedin-
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>Farbenlehre