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German Pages 288 [289] Year 2022
Schriften zur Rechtsgeschichte Band 207
Der Schatten des Wanderers – Einzelfall, Rechtswandel und Fortschritt in Rudolf von Jherings Lehre vom Rechtsgefühl Herleitung eines Mehrebenenmodells seines komplexen Rechtsgefühlsbegriffs
Von
Josefa Birr
Duncker & Humblot · Berlin
JOSEFA BIRR
Der Schatten des Wanderers – Einzelfall, Rechtswandel und Fortschritt in Rudolf von Jherings Lehre vom Rechtsgefühl
Schriften zur Rechtsgeschichte Band 207
Der Schatten des Wanderers – Einzelfall, Rechtswandel und Fortschritt in Rudolf von Jherings Lehre vom Rechtsgefühl Herleitung eines Mehrebenenmodells seines komplexen Rechtsgefühlsbegriffs
Von
Josefa Birr
Duncker & Humblot · Berlin
Die Juristische Fakultät der Georg-August-Universität Göttingen hat diese Arbeit im Jahre 2021 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten
© 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: Klaus-Dieter Voigt, Berlin Druck: CPI books GmbH, Leck Printed in Germany
ISSN 0720-7379 ISBN 9978-3-428-18649-5 (Print) ISBN 978-3-428-58649-3 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Gewidmet meinen Liebsten
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist während meiner Tätigkeit als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Göttinger Lehrstuhl für Römisches Recht, Bürgerliches Recht und Neuere Privatrechtsgeschichte (Institut für Grundlagen des Rechts) entstanden. Sie wurde im Herbst 2021 abgeschlossen und von der Juristischen Fakultät der Georg-August Universität zu Göttingen als Dissertation angenommen. Den zahlreichen Personen, die mich während meiner Promotionszeit unterstützt haben, möchte ich an dieser Stelle danken. Mein besonderer Dank gilt zunächst meiner Doktormutter, Frau Professorin Dr. Inge Hanewinkel, die das Thema meiner Dissertation angeregt, die Arbeit betreut und mir als langjährige Mitarbeiterin ihres Lehrstuhls zugleich die Möglichkeit gegeben hat, wertvolle fachliche und persönliche Erfahrungen zu sammeln. Mein Dank gilt ferner Herrn Dr. Nikolaus Linder. Ihm danke ich insbesondere für zahlreiche anregende Gespräche und weiterführende Diskussionen. Gerne erinnere ich mich an unsere gemeinsame Jhering-Tagung in Krakau. Herrn Professor Dr. Ulrich Falk danke ich für die rasche Erstellung des Zweitgutachtens und Frau Professorin Dr. Eva Schumann für die Übernahme des Prüfungsvorsitzes. Bedanken möchte ich mich ebenfalls bei der Strohmeyer-Stiftung (Universität Göttingen) für die großzügige finanzielle Förderung bei der Drucklegung dieser Arbeit. Für die freundliche Aufnahme in dieser Schriftenreihe gebührt dem Verlag Duncker & Humblot mein Dank. Allen Mitarbeiter*innen des Lehrstuhls möchte ich für das freundschaftliche Arbeitsumfeld und die abwechslungsreiche Zeit bedanken. Besonders hervorzuheben sind dabei Leonie Lehlbach und Patrick Schneegans. Mein besonderer Dank gilt ferner meiner ehemaligen Kollegin und Freundin Olga Schwarz. Ihr danke ich nicht nur für unzählige intensive Gespräche, sondern viele schöpferische Lauf-Pausen während unseres gemeinsamen LehrstuhlDaseins. Von ganzem Herzen danken möchte ich meiner geschätzten Freundin Lisa Carlotta Blume. Ihr danke ich für ihr mühevolles und konstruktives Lektorat, darüber hinaus für ihre einzigartige, bedingungslose Unterstützung und unsere innige Freundschaft.
8
Vorwort
Mein ganz besonderer Dank gilt meinem Partner, Edgar Starodubec, der immer ein offenes Ohr in Phasen des Hochs wie auch des Tiefs hatte und mich insbesondere auf dem letzten Teil des Weges mit seinem steten Zuspruch und seiner Liebe unterstützte. Der größte Dank gebührt schließlich meiner Familie: meiner Großmutter, Ilse Teichmann, und vor allem meiner Schwester und besten Freundin, Henriette Birr, sowie meinen Eltern, Ingrid und Friedhelm Birr, ohne deren unersetzliche Liebe und vorbehaltlosen Rückhalt – seit jeher und in jeder erdenklichen Hinsicht – die Erstellung dieser Arbeit nicht möglich gewesen wäre. Göttingen, im September 2022
Josefa Birr
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Forschungsinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
II. Forschungsstand und -desiderat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
1. Stand der Forschung zu Jhering allgemein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
2. Stand der Forschung zu Jherings Rechtsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
16
III. Ziel und Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
A. Der Jurist Jhering . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
I.
13
Jhering und die Historische Rechtsschule . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
21
1. Gegenseitige Emanzipation von Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte
26
2. Überwindung der Volksgeistlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
35
3. Kampf gegen die Begriffsjurisprudenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
43
4. Forderung nach vereinter Tätigkeit von Theorie und Praxis . . . . . . . . . . .
51
II. Jherings rechtswissenschaftliche Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
54
1. Rechtshistorische Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
57
2. Rechtsdogmatische Methode – „Die höhere Jurisprudenz oder die naturhistorische Methode“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
60
3. Methodenkritische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
66
B. Allgemeine Phänomenologie des Rechtsgefühls in den Wissenschaften . . . .
76
I.
Etymologie des „Rechtsgefühls“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
77
1. Erstes Auftreten des Begriffs „Rechtsgefühl“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
78
2. Kompositum aus den Worten „Recht“ und „Gefühl“ . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
3. Abgrenzung zu semantischen Derivaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
83
II. Das Rechtsgefühl in den Nachbarwissenschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
85
1. Rechtsgefühl in der schönen Literatur und Dichtung . . . . . . . . . . . . . . . . .
86
2. Rechtsphilosophische Lehren über das Rechtsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . .
94 3. Objektivierung des Rechtsgefühls durch die Physiologie und Psychologie 101 III. Die Bedeutung des Rechtsgefühls im juristischen Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . 106 1. Historische Rechtsschule und Volksgeist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 2. Hinwendung zur naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 3. Neues Detailinteresse zu Beginn des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . 118
10
Inhaltsverzeichnis
C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Gerichtspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Schiffspartenfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Oheim-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Fall- und Prozessgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Jherings rechtliche Beurteilung der Streitsache . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Folgerungen für das Jheringsche Rechtsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit und -Actienstreit . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Rechtsstreit Weise wider Zech . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Sonstige Rechtsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Rechtsinstitut der culpa in contrahendo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Rechtsstreit mit seinem Dienstmädchen Caroline Kuhl . . . . . . . . c) Das Rechtsinstitut ,Kauf bricht Miete‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Jherings Methode der Falllösung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Das Rechtsgefühl des Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . D. Chronologische Analyse des Rechtsgefühls in Jherings wissenschaftlichem Gesamtwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Jherings Begriff des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Die Entwicklung des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Der Kampf um’s Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Der Zweck im Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Einleitung zur Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts . . . . . . . . . E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Ursprung des Rechtsgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die affektive und kritische Funktion des Rechtsgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die affektive Form . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die kritische Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Träger des Rechtsgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Ideal – Die höchste Ausbildung des Rechtsgefühls . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Die Bedeutung des Jheringschen Geschichtsverständnisses für sein Verständnis vom Rechtsgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Synergieeffekt von subjektiven und objektiven Anteilen des Rechtsgefühls
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Inhaltsverzeichnis
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Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 I. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 II. Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 Anhang: Rudolf Jherings Gutachten zum Oheim-Fall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286
Einleitung I. Forschungsinteresse „Das Recht ist nicht bloß Sache des Wissens, sondern vor allem des Gefühls, des Sinns für Gerechtigkeit.“ 1
Diese Zeilen Jherings finden sich auf einem einzelnen losen Notizzettel in einem Meer von tausenden in seinem noch längst nicht vollständig erforschten Nachlass und eröffnen das Forschungsinteresse der vorliegenden Arbeit. Dieses richtet sich auf das Phänomen des Rechtsgefühls des berühmten Pandektisten und Rechtsempirikers Rudolf von Jhering2, der dem Rechtsgefühl in seiner wissenschaftlichen Arbeit zeitlebens einen hohen Stellenwert beimaß und als Pionier der modernen Rechtsgefühlsforschung gelten muss. Jhering als einer der bedeutendsten Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts auf dem Gebiet des Rechts verbrachte seine letzten zwanzig und gleichzeitig in wissenschaftlicher Hinsicht fruchtbarsten Lebensjahre (1872–1892) an der GeorgAugust-Universität in Göttingen. Erinnerungsstücke in Gestalt seines Schreibtisches3, seiner Büste und Gemälde im Institut für Grundlagen des Rechts im Alten Auditorium und in der Aula der Universität Göttingen zeugen noch immer von seinen Spuren und betonen den besonderen persönlichen Bezug der Autorin. Jherings Name steht sinnbildlich für die hohe Innovationskraft der Pandektenwissenschaft im sozialhistorischen Kontext. Der Jheringsche Nachlass wurde erstmals circa 1965 durch Helfer erschlossen, woraufhin die vorläufige Bestandsaufnahme und provisorische Verzeichnung im Jahr 1982 durch Kunze erfolgte. Dieser bisherige (lediglich grobe) Erschließungsstand erfordert eine deutlich tieferreichende Kategorisierung der Jheringschen Nachlassschriften, die aufgrund des dafür notwendigen zeitintensiven Aufwandes bislang unterblieben ist.4 Die umfangreichen Forschungsarbeiten von Behrends und Kunze in den 90er Jahren sowie jüngst die monographischen Abhandlungen von Kroppenberg5, zuletzt Mecke und erneut Kunze haben bewiesen, 1
Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 15:4, Bl. 11. * 22. August 1818 in Aurich; † 17. September 1892 in Göttingen. 3 Dieser befand sich lange Zeit am Institut für Grundlagen des Rechts. Nun ist der Jheringsche Schreibtisch Ausstellungsstück im Wissensmuseum FORUM WISSEN der Universität Göttingen, das im Juni 2022 eröffnet wurde. 4 Schon Losano, Studien, 1984, S. 260. 5 Nun Prof. Dr. Inge Hanewinkel. 2
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Einleitung
dass die Entzifferung und Deutung der Jheringschen Nachlassschriften zwar ein anspruchsvolles Vorhaben darstellt und einiger Fertigkeit bedarf, aber durchaus realisierbar ist und bedeutende Einsichten in die Zusammenhänge von Jherings Denken und Werk hervorzubringen vermag.6 Die vorliegende Arbeit soll einen wichtigen Beitrag zur Erforschung des Jheringschen Nachlasses und damit neue Einblicke in das wissenschaftliche Wirken dieses großen Rechtsgelehrten liefern. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Untersuchung steht Jherings ureigene Konzeption des Rechtsgefühls, die es aus kultur-, sozial-, und ideengeschichtlicher Perspektive zu untersuchen gilt. Der Begriff des Rechtsgefühls hat im 19. Jahrhundert Schule gemachtes gibt kaum einen namhaften Rechtswissenschaftler, der sich zum Rechtsgefühl nicht geäußert hat.7 Von Jhering ist dabei allerdings meist nur kursorisch die Rede. Im Rahmen dieser Arbeit soll erstmals eine umfangreiche Analyse des Jheringschen Rechtsgefühlsphänomens vor dem Hintergrund der methodischen Entwicklungen der Jurisprudenz im 19. Jahrhundert und unter Befragung der Nachbarwissenschaften erfolgen. Jhering verwendete den Ausdruck Rechtsgefühl (stellenweise unter Hinzufügung eines Adjektivs konkretisiert) zwar durchgängig in seinem wissenschaftlichen Gesamtwerk, hinsichtlich der Bedeutung jedoch uneinheitlich. Eine feststehende Lehre zu seinem Rechtsgefühlsbegriff hat Jhering selbst allerdings gerade nicht entwickelt. Ausgehend von Jherings veröffentlichten Werken über das Rechtsgefühl8 und erstmalig unter Einbeziehung seines wissenschaftlichen Gesamtwerkes sowie bisher unveröffentlichter Schriften aus dem Nachlass hat das Forschungsvorhaben daher die Analyse der verschiedenen Facetten bzw. Bedeutungsebenen dieses schillernden Begriffs zum Gegenstand. Einen wesentlichen Untersuchungsbestandteil stellt dabei die Erforschung der umfangreichen unveröffentlichten Entwürfe seiner theoretischen Abhandlungen, vor allem der Vorarbeiten zu seinem Werk ,Der Zweck im Recht‘, sowie die spruchrichterlichen Schriften aus dem Göttinger Nachlass dar, die im Forschungszusammenhang bislang nicht oder nur vereinzelt genutzt wurden. Für die Einordnung des Jheringschen Rechtsgefühls in seine rechtshistorische und -dogmatische Methode ist eine intensive Erforschung des bisher unbeachteten Quellenmaterials unerlässlich. So wird am Ende erstmals ein mehrdimensionales Modell des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs entwickelt.
6 Kunze, Forschungsbericht, 1995, S. 126; ferner ders., Jherings Universalrechtsgeschichte, 1991; ders., Jhering, 1992; ders., Forschungsbericht, 1995; zuletzt ders., Jherings Gießener Jahre, 2018; Behrends, Rechtsgefühl, 1986; ders., Evolutionstheorie, 1998; Kroppenberg, Plastik des Rechts, 2015; Mecke, Jhering, 2010; ders., Jhering, 2018. 7 Nach Pleister gebe es eine „kaum übersehbare [. . .] Fülle des Schrifttums zum Thema Rechtsgefühl“ [ders., Persönlichkeit, 1982, S. 215 Fn. 918 m.w. N.]. 8 Ausgangspunkt bilden seine Wiener Vorträge ,Der Kampf um’s Recht‘ (1872) und ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ (1884), die sich als einzige Abhandlungen eigens dem Topos „Rechtsgefühl“ widmen.
II. Forschungsstand und -desiderat
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Die vorliegende Arbeit soll auf diese Weise in erster Linie die übersehene Karriere des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriff im 19. Jahrhundert bezeugen und einen Beitrag zur Erschließung des Jheringschen Nachlasses als wertvollem Teil des nationalen Kulturerbes leisten.
II. Forschungsstand und -desiderat 1. Stand der Forschung zu Jhering allgemein Während Jherings dogmatische Werke längst zum Kanon der modernen Jurisprudenz zählen, wurden seine rechtsphilosophischen Leistungen seit Ende des 19. Jahrhunderts überwiegend negativ beurteilt und oft als „philosophische Naivität“ abgetan.9 Einen Durchbruch in der rechtshistorischen Forschung erfährt die Jheringsche Lehre erst im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.10 Davon zeugen insbesondere zwei internationale Symposien aus den Jahren 1969 und 1992 aus Anlass des 150. Geburtstages sowie 100. Todestages Jherings.11 Zu den großen allgemeinen Jhering-Werken in diesem Zeitraum zählen vor allem die biographischen und methodischen Beiträge in Wolfs ,Große Rechtsdenker der Deutschen Geistesgeschichte‘12, Fikentschers ,Methoden des Rechts‘13 und Pleisters ,Persönlichkeit, Wille und Freiheit im Werke Jherings‘14. Während sich kleinere, überwiegend zu einseitig deutende monographische Abhandlungen und Dissertationen zur Rechtslehre Jherings zwar schon früh nachweisen lassen,15 wurden hingegen für die Forschung stärker relevante Beiträge mit den Arbeiten von Gromitsaris16 und Luig17, ferner die Dissertationen von Lee18 und Rempel 19 erst ab dem ausgehenden 20. Jahrhundert veröffentlicht.
9 Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl., 1967, S. 565; vgl. ferner ders., ebd., S. 450 ff.; Landsberg, Geschichte III/2, 1910, S. 793 ff.; Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl., 1963, S. 616–662. 10 Fikentscher, Methoden, 1976, S. 267, 273. 11 Wieacker/Wollschläger, Jherings Erbe, 1970; Behrends, Privatrecht 1993; vgl. ferner die zu Recht viel beachteten Jhering-Schriften von Behrends insb.: Rechtsgefühl, 1986, S. 55–184; Jhering, 1987, S. 229–269; Evolutionstheorie, 1991, S. 290–320; Beiträge, in zwei Aufl., 1992/93; Rechtsdenken, 1996; Rechtspositivist, 1996, S. 235–254; Antrittsvorlesung, 1998, S. 93–202; jüngst Stadtgespräche, 2016, S. 113–120. 12 Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl., 1963, S. 616–662. 13 Fikentscher, Methoden, 1976, S. 101–282. 14 Pleister, Jhering, 1982. 15 Schober, Jhering, 1933; Wertenbruch, Rechtslehre Jherings, 1955; Lange, Wandlungen Jherings, 1927. 16 Gromitsaris, Rechtsnormen, 1989. 17 Luig, Jhering und die Historische Rechtsschule, 1996, S. 255–268; ders., Natur und Geschichte, 1997, S. 281–303. 18 Lee, Jherings Eigentumsbegriff, 2015. 19 Rempel, Juristisches Kabinett, 2018.
16
Einleitung
Im vergangenen Jahrzehnt ist erneut im Jahr 2018 Bewegung in die JheringForschung gekommen20, worüber das internationale Symposium ,Jhering Global‘ in Erinnerung an seinen 200. Geburtstag Zeugnis ablegt.21 Erneuert wurde das Jhering-Bild zuletzt namentlich durch Mecke, der jüngst mit seiner monographischen Arbeit und zugleich Habilitationsschrift zu Jherings ,Begriff des Rechts und Methode der Rechtswissenschaft‘ neben der bedeutenden Jheringschen Nachlassforschung22 einen wesentlichen Beitrag zu Jherings Rechtslehre leistet.23 In diesem nimmt die weiterhin anhaltende Frage nach Wandel und Kontinuität im Werke Jherings eine Schlüsselrolle ein.24 Diese Richtung wurde in jüngerer Zeit auch von Haferkamp weiterverfolgt.25 Zuletzt hat Vescos Rekonstruktion der Jheringschen Rechtslehre von der Rechtsdogmatik zum Utilitarismus im Wandel des Privatrechtsdenkens in seiner Dissertationsschrift ,Die Erfindung der ökonomischen Rechtswissenschaft. Eine kritische Rekonstruktion von Jhering zu Posner‘ zur Jhering-Forschung beigetragen.26 Diese ist bis heute aufgrund der weltweiten Rezeption der Jheringschen Lehre auch international geprägt.27 2. Stand der Forschung zu Jherings Rechtsgefühl Nachdem die allgemeine Rechtsgefühlsforschung sich insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in bemerkenswerten und umfassenden rechtsphilosophischen Abhandlungen konzentrierte,28 hat sie zum Ende des 20. Jahrhun-
20 Kroppenberg, Plastik des Rechts, 2015; Lee, Jherings Eigentumsbegriff, 2015; siehe auch Beiträge der International conference ,Struggle for Law and the continental legal tradition‘ am 09./10. März 2017 in Krakau, veröffentlicht in: Transformacje Prawa Prywatnego, 04/2017 vor allem: Kroppenberg/Linder, Jhering’s legal dispute with his maidservant, pp. 17–35; Mecke, Jhering’s „struggle for law“, pp. 37–50; Birr, Jhering’s concept of Rechtsgefühl, pp. 5–16. Vgl. jüngst Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018; Mecke, Jhering, 2018; Rempel, Juristisches Kabinett, 2018; Benedict, CiC, 2018; zuletzt Kunze, Gießener Jahre, 2018. 21 Die internationale Tagung ,Jhering Global‘ fand am 06./07. September 2018 in Hannover statt (Tagungsband im Erscheinen). 22 Mecke, Jhering, 2010. 23 Mecke, Jhering, 2018; weitere wichtige Beiträge und Abhandlungen: ders., Objektivität, 2008, S. 147–168; ders., Beiträge, 2009, S. 540–562; ders., Jhering, 2010. 24 Mecke, Jhering, 2018, S. 16 ff. 25 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018; auch ders., Pandektistik und Gerichtspraxis, 2011. 26 Vesco, Erfindung, 2021, insb. S. 27–103. 27 In umfassenden Aufsätzen von Seagle, Jhering, 1945, pp. 71–89; Marini, storicità, 1970, S. 155–164; Pasini, sociologia, S. 177–191; jüngst Duxbery, Jhering’s Philosophy, 2007, pp. 23–47; Lloredo Alix, Jhering, 2012; Gorban, Jhering, 2017, pp. 26–37. 28 Kuhlenbeck, Psychologie des Rechtsgefühls, 1907/08, S. 16–25; Kübl, Rechtsgefühl, 1913; Kornfeld, Rechtsgefühl I, 1914, S. 135–187; Bd. 2, 1919, S. 28–100; Radbruch, Rechtsgefühl, 1914/15, S. 423–429; Hoche, Rechtsgefühl, 1932; Rümelin, Rechtsgefühl und Gerechtigkeit, 1943; ders., Über das Rechtsgefühl, 1950, S. 358–399;
II. Forschungsstand und -desiderat
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derts mit der Arbeit von Bihler29, der von Lampe angeregten Tagung der Internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie über ,Das sogenannte Rechtsgefühl‘ 30 sowie der Dissertation ,Zur Diskussion über das Rechtsgefühl‘ 31 von Meier erneut an Bedeutung gewonnen.32 Obwohl der Begriff des „Rechtsgefühls“ umfangreich und eindrucksvoll diskutiert wird, finden Jherings Forschungen meist allenfalls anfänglich kurze Erwähnung. Dabei wird die Interpretation des Jheringschen Rechtsgefühls regelmäßig auf seine Werke ,Kampf um’s Recht‘ und ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ reduziert und Jhering häufig nur als Gegenspieler des Rechtswissenschaftlers Rümelin und seiner im Jahr 1871 gehaltenen Rede ,Über das Rechtsgefühl‘ wahrgenommen, ohne ihm seinen gebührenden Stellenwert einzuräumen.33 Erste Grundsteine für die Interpretation des Jheringschen Rechtsgefühls sind bisher zunächst nur von Schelsky, Behrends und Benedict sowie jüngst Schnädelbach gelegt worden.34 Schelsky setzt bei der Analyse des Rechtsgefühls die Methoden der empirischen Sozialforschung ein und entwickelt schließlich das ,Jhering-Modell des sozialen Wandels durch Recht‘.35 Behrends’ Interpretation und Einordnung von Jherings zweitem Wiener Vortrag ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ leistet einen ersten detaillierten Beitrag zur Forschung über das Rechtsgefühl Jherings.36 Benedict lieferte mit seiner historisch-kritischen Untersuchung der Lehre von der Culpa in Contrahendo jüngst einen Beitrag zur Erforschung des Jheringschen Rechtsgefühls.37 Damit ist er neben Behrends und Schnädelbach einer der wenigen, der über den Inhalt der beiden Wiener Vorträge ,Der Kampf um’s Recht‘ (1872) und ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls‘ (1884) hinausgehend die Funktion des Rechtsgefühls bei Jhering und deren Stel-
auch später: Matz, Rechtsgefühl und ideales Wertreich, 1966; ders., Rechtsgefühl und objektive Werte, 1966; Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969; Rossmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975. 29 Bihler, Rechtsgefühl, 1979. 30 Lampe, Rechtsgefühl, 1985. 31 Meier, Rechtsgefühl, 1986. 32 Rehbinder, sense of Justice, 1982, pp. 341–348; ders., Fragen, 1983, S. 261–274; Obermayer, Rechtsgefühl, 1986, S. 1–5; Fikentscher, sense of justice, 1991, pp. 314– 334; Blankenburg, Dimensionen, 1994, S. 83–109. 33 Wie bei Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 5, 173, 299; anders vgl. bereits Schnädelbach, Entscheidende Gefühle, 2020, S. 76–95, 121–124; dies., Rechtsgefühl, 2015, pp. 47–73; dies., Rechtsgefühl, 2017, S. 95–114. 34 Vgl. Birr, Jhering’s concept of Rechtsgefühl, 2017, pp. 5–16. 35 Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 47–86, wobei Behrends die Leistung Schelskys als Schöpfung eines „klassische[n], anthropologisch-historische[n] Evolutionsmodell[s] des Rechts“ einordnet [ders., Rechtsgefühl, S. 58]. Zu Schelskys Jhering-Modell kritisch jüngst Vesco, Erfindung, 2021, S. 66–69. 36 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 55–184. 37 Benedict, CiC, 2018, S. 21–52.
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Einleitung
lenwert innerhalb der rechtlichen Falllösung behandelt.38 Auch in der modernen Rechtsgefühlsforschung wird Jhering selten erwähnt.39
III. Ziel und Gang der Untersuchung Die vorliegende Arbeit hat – die Behrends’sche Forschung weiterführend – die Aufschlüsselung des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs zum übergeordneten Ziel. Eine präzise Analyse kann nur unter Einbeziehung der Jhering-Schriften in ihrem gesamten Umfang erfolgen, was hier erstmals unternommen wird. Dazu werden nicht nur seine veröffentlichten Werke seit 1840 im Zusammenhang erneut systematisch untersucht, sondern darüber hinaus sich im Nachlass befindliche Handschriften hinsichtlich der Einordnung des Rechtsgefühls und der Rechtsmethode Jherings wissenschaftsgeschichtlich kontextualisiert und beurteilt. Erst die systematische Analyse der praktischen Bedeutung des Rechtsgefühls für Jhering anhand der Rechtsgutachten erlaubt eine umfassende Würdigung.40 Nachfolgend werden seine in mehreren Auflagen und Bänden erschienenen Werke ,Geist‘ und ,Zweck‘ unter Vergleich der Textschichten sowie der die Reflexion seiner für das Rechtsgefühl und seine rechtswissenschaftliche Methode elementaren Gedanken in seinen überlieferten Briefen untersucht. Durch das Einbinden originärer Aussagen Jherings soll dem Leser sein einzigartig metaphorischer und tiefgründiger Schreibstil einen besonderen Einblick in sein Wirken und in seine Werkstätte geben, ferner die wichtigsten, weit zerstreuten und weitgehend unbekannten Texte über das Rechtsgefühl Jherings vereinen. Der Begriff des Jheringschen Rechtsgefühls ist in seinen Bedeutungsebenen vielschichtiger und in seinen Werken verbreiteter als bisher angenommen und muss daher stets im Kontext seiner jeweiligen Schrift beurteilt werden.41 Die strukturierte Analyse und Differenzierung seines Rechtsgefühlsbegriffs wird vor allem dadurch erschwert, dass Jherings „zeitlebens fast unerschöpflicher Ideenreichtum und seine wissenschaftliche Neugierde“ 42 ihn zu immer neuen Fragestellungen, auch über 38 Vgl. Schnädelbach, Entscheidende Gefühle, 2020, S. 76–95, 121–124; ferner vereinzelte Ausführungen in: Helfer, Jhering, 1968, S. 589–590; Kunze, Jhering, 1992, S. 11–28; ders., Forschungsbericht, 1995, S. 125–148; Schild, Kampf, 1995, S. 31–56; Luig, Psychologie 2009, S. 209–213; Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2015, pp. 47–73; Birr, Jhering’s concept of Rechtsgefühl, 2017, pp. 6–14; Mecke, Jhering, 2018, insb. S. 345–356; zuletzt Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 5, 6, 299; Vesco, Erfindung, 2021, S. 100–103. 39 Vgl. Ergebnis – II. Ausblick. 40 Vgl. zur Bedeutung des Rechtsgefühls in der Rechtspraxis Weber, Rechtsgefühl, 1938, S. 498. 41 So auch Mecke in Bezug auf Wandel und Kontinuität in Jherings Rechtsdenken [ders., Jhering, 2018, S. 21 f.]. 42 Mecke, Jhering, 2018, S. 23. Ganz treffende Worte findet auch Merkel im Nachruf auf Jhering: „Von dem Manne und seinem Werke. Wie sehr gehören Beide zusammen! Wer dieses beschreibt, der charakterisirt damit zugleich die Persönlichkeit, und wer die Persönlichkeit charakterisirt, der giebt damit den Schlüssel für jenes. Jhering’s literari-
III. Ziel und Gang der Untersuchung
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den Bereich des Rechts hinaus, führte. Eine weitere Herausforderung bei der Deutung seiner Schriften stellt die Inkongruenz zwischen Jherings Auffassungen in den Neuauflagen, vor allem seines Monumentalwerks ,Geist‘, und seiner zeitgleich publizierten neuen Werke dar.43 Das Kapitel A. widmet sich der Genese der Jheringschen Rechtslehre, beginnend mit seiner grundlegenden Kritik an der Historischen Rechtsschule (I.). Um zunächst einen Überblick über das allgemeine Jheringsche Verständnis zu erhalten, folgt die Darstellung der Eckpfeiler seiner Methode des Rechts und die Rolle des Rechtsgefühls in seinem methodischen Denken (II.). Im Vordergrund auch der theoriegeschichtlichen Untersuchungen im Kapitel B. steht die Schaffung einer Verständnisgrundlage für die Interpretation des Jheringschen Rechtsgefühls im 19. Jahrhundert. Leitend ist dabei die Frage nach der allgemeinen Phänomenologie des (Rechts-)Gefühls vom ausgehenden 18. bis in das beginnende 20. Jahrhundert. Ziel ist es, Entwicklungstendenzen und Kategorisierungsmuster für die Interpretation des Jheringschen Rechtsgefühls im Kontext der zeitgenössischen Wissenschaften herauszustellen. Zu Beginn soll daher in einem ersten Abschnitt die geschichtliche Entwicklung des Begriffs ,Rechtsgefühl‘ nachgezeichnet werden (I.). Wesentliche Inhalte sind allgemeine Überlegungen zum Verständnis vom Gefühl in der damaligen Zeit: seine Etymologie, seine Verwendung in (Rechts-)Wörterbüchern, die Bedeutung der Einzelteile des zerlegten Wortes: ,Recht‘ und ,Gefühl‘ und zuletzt die Abgrenzung zu verwandten Begrifflichkeiten. Die Frage nach dem Stellenwert des Rechtsgefühls in den Nachbarwissenschaften wird in Unterkapitel II. beantwortet. Mit Hauptaugenmerk auf die schöne Literatur und Dichtung, die rechtsphilosophischen sowie die naturwissenschaftlichen Einflüsse des ausgehenden 18. Jahrhunderts bis in das späte 19. Jahrhundert sollen Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Entwicklungstrends herausgearbeitet werden. Das Kapitel schließt mit der Bedeutung des Rechtsgefühls im juristischen Diskurs (III.): Wie war das Rechtsgefühl damals in der Rechtsdiskussion verankert? Kann ein erwarteter Objektivierungsprozess des Rechtsgefühls bestätigt werden? Die Zeitspanne der Untersuchung erstreckt sich dabei vom Naturrecht des 18. Jahrhundert über die rechtsphilosophischen Lehren der Neuzeit und der Pandektistik im 19. Jahrhundert sowie die Nachwirkungen Jherings bis in das beginnende 20. Jahrhundert. Das Kapitel C. umfasst die Herausarbeitung des heuristischen und rechtsinnovativen Mehrwerts, den Jhering aus der Begutachtung des Rechtsfalls und dem
sche Arbeiten sind die fortschreitende Entfaltung seines Wesens auf theoretischem Gebiete.“ [ders., Nachruf Jhering, 1893, S. 7 f.]. 43 Vgl. Jhering, Brief an Gerber v. 13. Juni 1851, Losano-Briefe, 1984, S. 22 f. Dies wiesen bereits u. a. nach: Behrends, Zweck, 1987, S. 229, 256; Klemann, Jherings Wandlung, 1991, S. 130 ff.; Wischmeyer, Zwecke, 2015, S. 63; jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 23 ff.
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Einleitung
Protest seines Rechtsgefühls zog. Auf eine kurze Einführung in die Gerichtspraxis (I.) folgen vereinzelte, repräsentativ ausgewählte, charakteristische Fallstudien aus dem Göttinger Nachlass, die die Entwicklung und Anwendung des Rechtsgefühls auf die Methode Jherings nachweisen. Es soll insbesondere untersucht werden, inwieweit der Rechtsfall als Korrektiv und Katalysator für das Jheringsche Rechtsgefühl diente (II.). Diese Untersuchung mündet in der analytischen Herleitung der Jheringschen Methode der praktischen Falllösung (III.). Abschließend betrachtet das Kapitel den besonderen Stellenwert des Jheringschen Rechtsgefühls in der Person des Richters bei der Urteilsfindung (IV.). Als Pendant zu Kapitel C. beinhaltet das Kapitel D. die chronologische Untersuchung seiner theoretischen Werke über das Rechtsgefühl. Zu diesem Zweck wird die Analyse des Rechtsbegriffs von Jhering vorangestellt (I.). Schwerpunkt bildet die Auswertung Jherings wichtigster Werke nach Funktion, Entstehung und Entwicklung des Rechtsgefühls sowie dessen Verhältnis zum geltenden Recht (II.). Das Kapitel E. hat die Exegese der vorhergehenden Untersuchungen als Herzstück der Forschung über Jherings Rechtsgefühl zum Gegenstand. Ziel ist die Entwicklung eines mehrdimensionalen Rechtsgefühlsmodells. Die Hervorhebung des zentralen Stellenwerts des Jheringschen Geschichtsverständnisses für sein Verständnis vom Rechtsgefühl offenbart seine zentrale Überzeugung vom ewigen Rechtsfortschritt als entscheidende Prämisse seiner rechtswissenschaftlichen Methode. Schließlich wird die Bedeutung des Jheringschen Rechtsgefühls für seine rechtswissenschaftliche Methode vor dem Hintergrund der allgemeinen (Rechts-) Gefühlsforschung des 18.–20. Jahrhunderts resümiert und ein Ausblick in die Rezeption des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs gegeben.
A. Der Jurist Jhering „Bei allen Dingen[,] welche das Werk des Menschen sind [. . .] begnügen wir uns nicht einfach bei dem, was ist, sondern wir gehen den Gründen nach [. . .].“ 1
Diesen elementaren fortschrittlichen Gedanken aus seinen unveröffentlichten Nachlass-Schriften legte Jhering schon in der 1840er Jahren offen. Bevor sich die späteren Kapitel dem Topos des Rechtsgefühls widmen, hat der nachfolgende, für das Grundverständnis von Jherings rechtswissenschaftlicher Methode und die Einordnung in seine Rechtsgefühlslehre wichtige Abschnitt die Eckpfeiler seiner methodologischen Überlegungen zum Gegenstand. Die Entwicklung der Jheringschen Methode soll zunächst konkret an seinem Verhältnis zur Historischen Rechtsschule verdeutlicht werden.2 In einem ersten Teil (I.) wird daher seine grundlegende Kritik an derselben herausgestellt.
I. Jhering und die Historische Rechtsschule „[J]e entfernter vom Leben, je leichter verfallen sie dem Wahn, als ob dies die eigentliche Werkstätte der Wissenschaft sei. Als ob Leben und Wissenschaft Gegensätze seien! Und als ob nicht gerade in einer praktischen Wissenschaft wie der Jurisprudenz das Leben der eigentliche Tummelplatz der wissenschaftlichen Kraft sein müßte.“ 3
Jherings Kritik an der Historischen Rechtsschule fügte sich in den Kontext der gesellschaftlich bedingten rechtlichen Aufgaben und Probleme der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, welches spätestens seit der Revolution im Jahre 1848 geprägt war von der „unglaubliche[n] Herausforderung der Moderne, die rapide gesellschaftliche Entwicklung, den Aufstieg eines ungebremsten und an sich glau1 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 2:1, Die Idee des Rechts, Bl. 3 [o. J., vermutlich Anfang der 1840er Jahre]. Zur menschlichen Tatkraft insb. ders., Geist II 2, 1858, S. 330 f.: „Wer sich dieses Schatzes zu bemächtigen weiß, der operirt nicht mehr mit seinem eigenen schwachen Verstande, der stützt sich nicht bloß auf seine eigene unbedeutende Erfahrung, sondern der arbeitet mit der Denkkraft vergangener Geschlechter und der Erfahrung verflossener Jahrhunderte.“ Ferner ders., Geist III 1, 1865, S. 6 f. 2 Wieacker ganz zutreffend: „Und doch ist es erregend, wie ein Meister seines Faches mitten auf der Höhe des Lebens, ohne persönlichen Anlass zur Leidenschaft, anhebt, über seine Wissenschaft und sich Gericht zu halten. Denn dieser Vorgang ist vielleicht das folgenreichste Ereignis, das aus der positiven Rechtswissenschaft selbst in diesem Jahrhundert hervorging.“ [ders., Jhering, 1968, S. 31 f.]. 3 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 78.
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A. Der Jurist Jhering
benden Bürgertums“.4 Ein Stimmungswandel in Jherings Spätzeit nach 1850 zeigte sich insbesondere durch die Entwicklung des Juristenstandes, die aufkommenden Naturwissenschaften und die beginnende Industrialisierung.5 Mit der Zuspitzung des Romanisten-Germanisten-Streits um 1840 und der Kodifikationswelle seit 1850 wurde die Historische Rechtsschule zunehmend kritisiert. Vor allem Kirchmann griff in seinem im Revolutionsjahr 1848 gehaltenen prominenten Vortrag „die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ an6: „Das positive Gesetz gleicht einem eigensinnigen Schneider, der nur 3 Maaße für all seine Kunden hat; die Wissenschaft ist die gutmüthige Meisterin, sie sieht, wo das Kleid drückt, verunstaltet, allein der Respekt vor dem Hausherrn läßt sie nur verstohlen hie und da die Naht ein wenig öffnen, einen Zwickel einschieben.“ 7
Entgegen Savigny, der die Unwissenschaftlichkeit mit einer verstärkten Rechtsfortbildung durch die Jurisprudenz selbst überwinden wollte, verlangte Kirchmann die Entwicklung des Rechts vielmehr durch das Volk, welches die Forderungen des Rechts mit Hilfe ihres Wissens und Gefühls durchzusetzen in der Lage sei.8 Dabei forderte er eine Gegenwartsbezogenheit bei der Rechtsbildung9 und folgte einem naturwissenschaftlichen Wissenschaftsideal.10 Den Zustand der Jurisprudenz in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts reflektierte auch Kuntze in seiner berühmten Schrift ,Der Wendepunkt der Rechtswissenschaft‘ (1856) mit seinem Appell an die „Wiedergeburt des theoretischen Geistes“, die Reformierung der Rechtsdogmatik durch deren Emanzipierung von Rechtsgeschichte sowie deren „Verfeinerung“ und „Versinnlichung“ mit Hilfe naturwissenschaftlicher Methoden.11 Die Jurisprudenz forderte „nach dem Untergang der idealistischen Philosophie nicht mehr die Geister, sondern Wirklichkei4
Rainer, Römisches Recht, 2012, S. 357. Ferner Klemann, Jhering, 1989, S. 113 f. Haferkamp, Pandektistik und Gerichtspraxis, 2011, S. 198 ff.; ders., Historische Rechtsschule, 2018, S. 315; Rainer, Römisches Recht, 2012, S. 357. 6 Kirchmann, Werthlosigkeit, 1848; vgl. insb. Klenner, Kirchmann, 1990, S. 91 f. 7 Kirchmann, Werthlosigkeit, 1848, S. 30. 8 Kirchmann, Werthlosigkeit, 1848, S. 32 f.: „Das Recht kann nicht sein ohne das Moment des Wissens und Fühlens. Ein Volk muß wissen, was das Recht im einzelnen Falle fordert, und es muß mit Liebe seinem Rechte ergeben sein. Werden dem Rechte diese Momente genommen, so bleibt es wohl ein großes Kunstwerk, aber ein todtes, kein Recht mehr! [. . .] Die Wissenschaft [. . .] geräth nur zu leicht auf die Abwege der Sophisterei, der unpraktischen Grübeleien; Subtilitäten ohne Ende komme hervor, Auswüchse aller Art, woran die juristische Litteratur so reich ist.“ 9 Kirchmann, Werthlosigkeit, 1848, S. 6: „In jedem Falle ist die Rechtswissenschaft durch die Beweglichkeit ihres Gegenstandes mit einem ungeheuern Ballast, dem Studium der Vergangenheit, beladen. Die Gegenwart ist allein berechtigt. Die Vergangenheit ist todt; sie hat nur Werth, wenn sie das Mittel ist, die Gegenwart zu verstehen und zu beherrschen.“ 10 Brockmöller, Rechtstheorie, 1997, S. 186 f. 11 Kuntze, Wendepunkt, 1856, S. 16 ff. 5
I. Jhering und die Historische Rechtsschule
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ten, stärkeren Praxisbezug“.12 Ziel war ein der Praxis dienliches, nationales Zivilrecht13: „Vom Volksgeist war nach 1871 nicht einmal mehr ein seiner philosophischen Grundlage beraubtes Blankett geblieben, das man dem Gesetzgeber entgegenhielt. Die Zukunft gehöre der nationalen Kodifikation.“ 14
Vor diesem Hintergrund treffen mehrere Motive zusammen, die die Eigentümlichkeit der Kritik Jherings an der Historischen Rechtsschule begründen: seine Polemik am Unfehlbarkeitsglauben der pandektistischen Methode, an ihrer unanfechtbaren Autorität, seine Abkehr von ihrem Dogma des Volksgeistes bzw. der Überwindung ihres Nationalitätsprinzips, sein Appell an die menschliche Tatkraft und Universalität des Rechts, sein ,Kampf‘ gegen die sog. „Begriffsjurisprudenz“ sowie seine Kritik an der Entfremdung von Theorie und Praxis.15 Jhering hielt der geschichtlichen Ansicht des Programms der Historischen Rechtsschule wiederholt vor, dass sie lediglich ein „vielsprechendes Aushängeschild“ gewesen sei16 und in den Werken Savignys eine „auffällige Diskrepanz zwischen Name und Sache“ herrsche.17 Zentraler Grund für die verübte Kritik ist Jherings unbändiger Glaube an die Verwirklichung des Lebens und ihrer Durchsetzung im Recht:18 „Aber welche Verblendung gehört dazu, um zu glauben, daß die Wahrheit, deren Schauplatz das praktische Leben ist, nicht in dem Leben selber, sondern in dem Gehirn des Gelehrten zu suchen sei, daß nicht der Denker, wenn er sie finden will, das Leben, sondern das Leben den Denker aufzusuchen habe.“ 19
Jhering bezeichnete das Recht der Historischen Schule als einen „Tummelplatz für die Fanatiker des Gedankens“, das „ausschließlich nur noch die Fata Morgana einer Welt [erblickt], in der der abstracte Gedanke das Scepter führt“.20 Damit wirft er dieser einen irrealen, zu einseitigen Blick auf das Recht vor.21 Jhering 12 Haferkamp, Dogmatisierungsprozesse, 2011, S. 269; vgl. ferner Brockmöller, Rechtstheorie, 1997, S. 187; Klemann, Jhering, 1989, S. 204 f.; Klenner, Natur, 1984, S. 153. 13 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 316; ders., Pandektistik und Gerichtspraxis, 2011, S. 201; ferner ders., Dogmatisierungsprozesse, 2011, S. 259 ff. 14 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 319 ff. 15 Vgl. schon Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 71; Haferkamp, Dogmatisierungsprozesse, 2011, S. 270. 16 Jhering, Savigny-Nachruf, 1861, S. 367. 17 Jhering, Savigny-Nachruf, 1861, S. 366. 18 So Wieacker, Gründer und Bewahrer, 1959, S. 210: „So schuldet die moderne Rechtswissenschaft den beträchtlichen Teil, mit dem sie Wirklichkeitswissenschaft ist, zuallererst Jhering.“ 19 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 66. 20 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 300. 21 So Jhering, Geist III 1, 1865, S. 300: „Geblendet durch den Glanz des Logischen, der das römische Recht bedeckt und jedem, der sich ihm naht, zuerst in die Augen fällt,
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A. Der Jurist Jhering
gilt zu Recht als „Kronzeuge für die Kritik an der vergeistigten Lebensferne der Wissenschaft vom ,heutigen‘ römischen Recht“.22 Seine Ansichten sind durchgehend angetrieben von dem Gedanken der Verwirklichung des Lebens.23 Jhering postulierte in diesem Zusammenhang stets das „Primat des praktischen Lebens“.24 Er strebte insbesondere durch seine Tätigkeit als Praktiker nach der Analyse konkreter Lebensverhältnisse und nach der „vereinte[n] Thätigkeit des Historikers, Rechtsphilosophen und Juristen“.25 Der Aufschwung der Naturwissenschaften spiegelte sich bei Jhering in seinem zunehmenden Interesse an der Empirie, im Recht als Wirklichkeitsobjekt, wider.26 Bahnbrechend formulierte Jhering im Jahr 1866 in der zweiten Auflage seines ersten Geist-Bandes: „Die welthistorische Bedeutung und Mission Roms in ein Wort zusammengefasst ist die Ueberwindung des Nationalitätsprincips durch den Gedanken der Universalität. [. . .] Nicht darin besteht die Bedeutung des römischen Rechts für die moderne Welt, daß es vorübergehend als Rechtsquelle gegolten [. . .], sondern darin, daß es eine totale innere Umwandlung bewirkt, unser ganzes juristisches Denken umgestaltet hat. Das römische Recht ist ebenso wie das Christentum ein Kulturelement der modernen Welt geworden.“ 27
Im Rahmen seiner Einstufung des Rechts als Teil einer Kultur, genauer als Kulturerscheinung, kann schon früh eine ablehnende Haltung Jherings zu den Grundsätzen der Historischen Rechtsschule gesehen werden. Sein Vorwurf beinhaltet eine im Rahmen ihres Nationalitätsprinzips fehlende Berücksichtigung des Universalitätsgedankens bei der Rechtsentstehung; auf diese Weise könne die Rezeption des römischen Rechts nicht befriedigend begründet werden.28 Zeitlebens verlangte Jhering mit seinem Wahlspruch „durch das Römische Recht über das Römische Recht hinaus“ 29 nach einer „Kritik des Rechts durch sich selbst“, die „voraussichtlich noch Fortschritte im Recht herbeiführen [werde], von denen wir uns zur Zeit nichts träumen lassen“.30 Damit formulierte
wird das Wahrnehmungsvermögen des Auges, wenn nicht die frische Luft des Lebens es wieder kräftigt, nur zu leicht für alles andere abgestumpft [. . .].“ 22 Kiesow, Rechtswissenschaft, 2010, S. 588 f. 23 Vgl. insb. A. I. 4. 24 Klemann, Jhering, 1989, S. 196. 25 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 76. 26 Haferkamp, Pandektistik und Gerichtspraxis, 2011, S. 198. Jherings Kritik gründet auf einer „allgemeine[n] Naturlehre des Rechts auf rechtsphilosophischem und empirisch-comparativem Wege“: [ders., Geist I, 1852, S. 11; ders., Geist II 2, 1858, S. XIII]. Dazu Hebeisen, Recht und Staat I, 2004, S. 117; Coing, Systembegriff, 1969, S. 159 ff. 27 Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 1 ff.; anklingend, aber schwach formuliert Jhering in Geist I, 1852 S. 2 f. [entgegen Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 26 Anm. 100: „inhaltlich ebenso“]. 28 Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 25 f. 29 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 52. 30 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 26.
I. Jhering und die Historische Rechtsschule
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er den ewigen Fortschrittsgedanken im Recht, die Entwicklung von Recht von den praktisch-gesellschaftlichen Forderungen der Zeit abhängig zu machen. Seine „Rechtsempirie“, die „gewertete[. . .] Empirie historisch gewordenen Rechtsstoffs“, verfolgt die Entstehung des Rechts über eine bloß „antiquarisch-historische Forschung“ der Historischen Rechtsschule hinaus auf der Grundlage eines aus empirisch nachweisbaren Tatsachen bestehenden Erfahrungswissens.31 Grundlegend sei, aus den antiken Überlieferungen das zu schließen, was „kein römischer Jurist ausgesprochen“ habe.32 Nach Jhering ist diese Evolutionstheorie des Rechts ein Ausdruck allgemeiner Kulturentwicklung.33 Jhering sah „die Jurisprudenz im Dienste des Geistes der Zeit, dort das Recht erweiternd, hier dasselbe beschränkend“.34 Er wollte das historisch vorgegebene Recht durch Beobachtung von sozioökonomischen, politischen und immateriellen Einflüssen verfolgen. So lehnte er eine „rein institutionelle oder systematische Betrachtungsweise der Dogmengeschichte“ ab.35 Schließlich brachte Jhering in der Neuauflage von ,Geist I‘ (1866) erstmals seine Ansprüche an die juristische Methode klar zum Ausdruck: Er forderte von einem guten Juristen: „ein klares Auge für das, was dem Leben Noth that, eine sichere und geschickte Hand in der Wahl der richtigen Mittel, ein offenes Ohr für die Anforderungen der Gerechtigkeit und Billigkeit, der Muth, den Lockungen der Consequenz zu widerstehen, wo sie mit den realen Interessen in Widerspruch geräth [. . .].“ 36
Dabei war Jhering motiviert durch seinen ungebändigten Optimismus bezüglich der Tatkraft der Menschheit und des juristischen Geistes, die „Erfahrungen, Lehren und Warnungen der Geschichte“ zu reflektieren und praktisch umzusetzen.37 Diese gefestigte Überzeugung, dass das Recht das Ergebnis eines historisch-progressiven Erfahrungsprozesses ist, hat sich maßgeblich im Rahmen der Beschäftigung mit den Lehren der Historischen Rechtsschule herausgebildet.38 31
Fikentscher, Methoden, 1976, S. 231 f. Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 5. 33 Vgl. Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 56 f.: Nach ihm weise das Recht „im bewegenden Moment dieser Evolution“ nicht nur in Bezug auf den Verstand, sondern ebenso in Bezug auf Gefühle und Instinkte eine sozialedukative Seite nach. Dazu auch Behrends, Evolutionstheorie, 1991, S. 303, 307; Dreier, Jherings Rechtstheorie, 1993, S. 118–120. 34 Jhering, Rechtsverletzungen, 1885, S. 158. 35 Rapone, Zweckbegriff, 2012, S. 146. 36 Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 20. 37 Jhering, Zweck II, 2. Aufl., 1886, S. 133; ders., Geist II 2, 1858, S. 446: „Im Wechselverkehr mit dem Volk und Leben gab und nahm die Jurisprudenz, regte an und ward angeregt, bestimmte und ward bestimmt, und wenn wir daher die technische Gestaltung des ältern Rechts als ihr Werk bezeichnen, während wir dasselbe in genauerer Redeweise eine Schöpfung des juristischen Geistes des altrömischen Volks nennen müßten, so geschieht es nur darum, weil sie die hauptsächlichste Trägerin und die eigentliche Personification dieses Geistes war.“ Dazu Brockmöller, Rechtstheorie, 1997, S. 233 f. 38 Vgl. Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 102. 32
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A. Der Jurist Jhering
Im weiteren Verlauf der Arbeit sollen Jherings Entwicklungen seiner Methode des Rechts nachgezeichnet werden (A.). Im nächsten Abschnitt wird daher zunächst Jherings grundlegende Kritik an der Historischen Rechtsschule vertieft (I.). 1. Gegenseitige Emanzipation von Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte „Das reale Interesse der Gegenwart steht mir höher, als das der historischen Erforschung der Vergangenheit, wenn es mir gelingt, in der ersteren Richtung mich nützlich zu erweisen, so mögen immerhin die Früchte, die mir auf dem letzteren Gebiet beschieden gewesen wären, ungepflückt bleiben; in meinen Augen ist jener Erfolg durch den Preis nicht zu teuer bezahlt.“ 39
Jherings methodischer Wandel zu einem progressiven Verständnis von der Geschichte des Rechts bildet die Basis für seine gesamte Kritik an der Historischen Rechtsschule. Dieser äußert sich in der Loslösung der Rechtsgeschichte von der Rechtsdogmatik, wobei es Jhering gleichermaßen umgekehrt auch um die Emanzipation der Rechtsdogmatik von der Rechtsgeschichte ging.40 Diese soll Untersuchungsgegenstand des folgenden Abschnitts sein. Zunächst wird daher der Geltungsgrund der Rechtsgeschichte nach den methodischen Maximen der Historischen Rechtsschule bestimmt. Nach ihrer Auffassung ist die Rechtsgeschichte untrennbar mit der Rechtsdogmatik verbunden41 und nimmt gegenüber dem geltenden Recht und der Dogmatik eine dienende Position ein.42 Die rein historische Forschung des römischen Rechts hatte dabei nach Puchta „eben so sehr mit dem gegenwärtigen zu thun“.43 So dokumentierte Savigny schon 1814, dass die Aufgabe der historischen Methode der Rechtswissenschaft darin bestehe, die geschichtlichen Dimension des Rechts zu erschließen und durch methodische Organisierung des Stoffs eine erneuerte Rechtswissenschaft zu schaffen.44 Ferner erklärte Savigny 1840 in sei39
Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 340. So auch Mecke, Jhering, 2018, S. 634, 76–87. 41 Savigny, Vermischte Schriften, Bd. 5, 1850, S. 2; Puchta, Institutionen I, 1841, S. 103; so auch bei Mecke, Jhering, 2018, S. 97 ff.; ferner Wilhelm, Methodenlehre, 1958, S. 17 ff.; Klemann, Jhering, 1989, S. 110; vgl. auch Moeller, Rechtsgeschichte, 1905, S. 7, 18, 24 f.; Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl., 1967, S. 416; Coing, Aufgaben des Rechtshistorikers, 1976, S. 6. 42 Savigny, Beruf, 1814, S. 117 f.; ders., Zweck, 1815, S. 6: „Die geschichtliche Schule nimmt an, der Stoff des Rechts sey durch die gesammte Vergangenheit der Nation gegeben, doch nicht durch Willkühr, so daß er zufällig dieser oder ein anderer seyn könnte, sondern aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen.“; vgl. dazu insb. Klippel, Juristische Zeitgeschichte, 1985, S. 6. 43 Puchta, Institutionen I, 1841, S. 103. 44 Savigny, Beruf, 1814, S. 117 f.: „[. . .] jeden gegebenen Stoff bis zu seiner Wurzel zu verfolgen und so ein organisches Prinzip zu entdecken, wodurch sich von selbst das, was noch Leben hat, von demjenigen absondern muß, was schon abgestorben ist, und nur noch der Geschichte angehört.“ 40
I. Jhering und die Historische Rechtsschule
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nem ,System‘, dass die Bildung des Rechts „das höchste Gewicht [darauf lege], daß der lebendige Zusammenhang erkannt werde, welcher die Gegenwart an die Vergangenheit knüpft, und ohne dessen Kenntniß wir von dem Rechtszustand der Gegenwart nur die äußere Erscheinung wahrnehmen, nicht das innere Wesen begreifen“.45 Geschichte und Dasein des Rechts waren nach seiner Ansicht durch einen übergreifenden historischen Kontext, den Volksgeist, verbunden.46 Recht konnte sich konsequent einzig aus der Untersuchung ihres historischen Fortschritts bilden.47 Nach 1850 zeichnete sich allmählich erstmals eine Trennung der Rechtsgeschichte von der Rechtsdogmatik ab.48 Als einer der ersten Vertreter gilt Amira, der in seiner Antrittsrede „Zweck und Mittel der germanischen Rechtsgeschichte“ von 1876 die „systematische Darstellungsweise“ der Historischen Rechtsschule kritisierte. Die Rechtsgeschichte sei nicht um des geltenden Rechts willen da, vielmehr müsse zunächst der Selbstzweck des geschichtlichen Rechts untersucht werden.49 Das Interesse der Jurisprudenz an einer „historisierten Rechtsgeschichte“ war geweckt, ohne dass daraus jedoch praktische Auswirkungen erwuchsen.50 Auch bei Jhering lässt sich die Forderung nach einer Trennung von Dogmatik und Geschichte des Rechts nachweisen.51 Diese wurde von Jhering selbst schon früh angedeutet, aber erst spät klar formuliert, was bisher oft zu Fehldeutungen führte.52 Zentrale Gründe für dieses Verkennen der frühen Entwicklungen sind Jherings identische Verwendung wesentlicher Ausdrücke53 und sein überwiegender Gebrauch der Terminologie der Historischen Rechtsschule.54 45
Savigny, System I, 1840, S. XV. Böckenförde, Historische Rechtsschule, 1965, S. 11 f. 47 Böckenförde, Historische Rechtsschule 1965, S. 10 f.; vgl. dazu ferner Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl., 1967, S. 416; Koschaker, Krise, 1938, S. 22, 25 ff., 37. 48 Mecke, Jhering, 2018, S. 76–133. Die Emanzipation von Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte wurde nach Mecke noch nicht umfassend untersucht; zudem herrscht keine Einigkeit über den genauen Zeitpunkt des Einsetzens dieses Prozesses [vgl. ebd. m.w. N.]. 49 Amira, Rechtsgeschichte, 1876, S. 17, 5. 50 Klippel, Juristische Zeitgeschichte, 1985, S. 6 f. 51 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 51 f., 1. Siehe erneut jüngste Arbeit von Mecke zu Jherings Trennung von Dogmatik und Geschichte des Rechts: ders., Jhering, 2018, S. 76–133; ferner ders., Jhering, 2010, S. 113 ff.; vgl. schon Fikentscher, Methoden, 1976, S. 264, 231 f. sowie Fikentscher/Himmelmann, Iherings Einfluß, 1995, S. 96, 109, 111 ff.; ders., juristisches Jahrhundert, 2000, S. 560; ebenso Herberger, Dogmatik, 1981, S. 405. 52 Auch Mecke stellte jüngst in seiner umfassenden Habilitationsschrift „Begriff des Rechts und Methode der Rechtswissenschaft bei Rudolf von Jhering“ klar, dass Jhering in seinen Spätwerken „teilweise sogar fast wörtlich – an seine frühesten anonymen Veröffentlichungen anknüpfen konnte“. [ders., Jhering, 2018, S. 82]. 53 Mecke, Jhering, 2018, S. 128; u. a. übersehen von Klemann, Jhering, 1989, S. 123 f. 46
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Während Jhering in den 1840er Jahren noch eine unhistorische Dogmatik und produktive Rechtsgeschichte vertrat,55 folgte in den späteren 1850er Jahren sein Appell an die „Produktivität“ der Rechtsdogmatik, begründet in seiner neuen Vorstellung von Volk, Geschichte und Recht.56 Die Rechtsdogmatik sei nach Jhering nunmehr auch von äußeren Faktoren abhängig.57 Die von Jhering geforderte gegenseitige Emanzipation von Rechtsgeschichte und Dogmatik soll in einer nachfolgenden Analyse seiner Werke, zunächst anhand seiner Aufsätze in der Literarischen Zeitung aus den Jahren (1844–1846) und der Gneist-Rezension (1847), schrittweise nachgewiesen werden. Im Weiteren soll besonderes Augenmerk auf dem Vergleich der ersten und zweiten Auflage des ersten Bandes seines Monumentalwerkes Geist (seit 1852) sowie auf seinem Beitrag ,Unsere Aufgabe‘ (1856) in den Jahrbüchern und seiner Wiener Antrittsvorlesung ,Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft‘ (1868) liegen. Mecke hat jüngst anhand Jherings Aufsatzfolge über ,Die Historische Schule der Juristen‘ in der Literarischen Zeitung aus dem Jahre 184458 nachgewiesen, dass Jhering die von der Historischen Rechtsschule praktizierte Verhältnisbestimmung von Rechtsgeschichte und -dogmatik „schon früh für revisionsbedürftig“ erklärte.59 Bereits mit der Ausarbeitung eines „doppelten Zweck der geschichtlichen Studien“ nahm Jhering eine erste grundlegende Unterscheidung vor. Er differenzierte zwischen dem „praktischen [Zweck], um nämlich das gegenwärtige Recht [. . .] zu erklären“, und dem „rein historischen [Zweck], um nämlich das Rechtssystem einer vergangenen Periode in seiner Totalität zu reproduciren“.60 Zudem setzte Jhering in deutlichem Widerspruch zur Historischen Rechtsschule jenen praktischen Zweck auf „ein geringes geschichtliches Material“ herab: „[V]iele Theile des Rechts werden sich ganz losgelöst haben von der Vergangenheit [. . .] nur einige werden wegen ihrer historischen Complicationen von der Art seyn, daß wir sie lediglich aus ihrer jetzigen Gestalt nicht erklären können.“ 61 54 Zu Jherings Verwendung seines „Organismus“-Begriffs [u. a. ders., Geist I, 1852, S. 13] vgl. Mecke, Jhering, 2018, S. 126. 55 Vor allem Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 3 ff. 56 Mecke, Jhering, 2018, S. 26 f., ferner S. 87–96. 57 Mecke, Jhering, 2018, S. 84: „So wenig wie Dogmatik ,eben so sehr‘ mit dem Geschichtlichen zu tun habe, so wenig war nach Jhering das Geschichtliche ,eben so sehr‘ [Puchta, Instiutionen I, 1841, S. 103] mit dem Gegenwärtigen verbunden.“ 58 Vgl. zur Verfasserschaft der anonym erschienenen Aufsatzfolge Jherings Mecke, Jhering, 2010, S. 14 f.: Nach Mecke lieferte Kunze [ders., Universalrechtsgeschichte, 1991, S. 152 Fn. 15] „den letzten Beweis der Verfasserschaft Jherings für diese Artikelfolge [. . .] durch die Auffindung einer Honorarabrechung in dem in der Niedersachsischen Staats- und Universitatsbibliothek Göttingen befindlichen Nachlass Jherings (Kasten 9:1; kleines braunes Notizbuch)“. 59 Mecke, Jhering, 2018, S. 83. 60 Jhering, historische Schule II, LZ 1844, Sp. 409; dies wiesen bereits jüngst nach: Mecke, 2018, S. 220 Fn. 1043; schon Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 19. 61 Jhering, historische Schule II, LZ 1844, Sp. 409.
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Jhering hatte 1844 an den historischen Studien beanstandet, dass sie hauptsächlich einen praktischen Zweck hätten und vorrangig von der Dogmatik beeinflusst seien.62 Er sah in der Historischen Rechtsschule eine „Parthei, die in philologisch-antiquarischen Studien das Heil der Jurisprudenz erblickt, jeder Philosophie abhold ist und die freie Entwikkelung der Gegenwart hemmen will, um die einmal bestehenden Zustände zu verewigen“.63 Nach Jhering sollten sie demnach „nicht in vornehmer Abgeschlossenheit blos eingeweihten Ohren predigen, zufrieden damit, den Zusammenhang des Rechts mit dem Volke für die Vergangenheit nachgewiesen zu haben, sondern auf dem Markt des Lebens und in die Arena der Tageskämpfe treten“.64 Für Jhering standen die „Thaten“ 65 im Vordergrund, die durch stetig neue Rechtsschöpfungen die jeweilige Forderung des gegenwärtigen Organismus erfüllen sollten.66 Jhering beanspruchte die historisch, von der jeweiligen Zeit abhängige „höhere Einheit“ zu ermitteln, statt eine bloß „registrirende oder inventarisirende“ Speicherung der „Antiquitäten“ verschiedener Geschichtsperioden ausreichen zu lassen. Nach Jhering mussten die tatsächlichen historischen Gründe der Rechtsentstehung ergründet werden, basierend auf den „Ideen und Bestrebungen der Zeit“ und als „Manifestation des sich entwickelnden und verändernden Rechtsbewußtseins“.67 In seinem im darauffolgenden Jahr 1845 veröffentlichten Aufsatz68 griff er erneut die geschichtliche Erforschung der Historischen Rechtsschule als eine „Quadratur des Zirkels“ 69 an. Hier heißt es, dass sich bei einer vereinten Macht von Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik keine von beiden voll entfalten könne.70 So könne die Jurisprudenz „zweien Herren dienend [. . .] keinen völlig zufrieden stellen“.71 Der junge Jhering sah die Jurisprudenz überwiegend „zur Knechtsarbeit verdammt“.72
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Jhering, historische Schule III, LZ 1844, Sp. 421. Jhering, historische Schule I, LZ 1844, Sp. 197. 64 Jhering, Stellung der Jurisprudenz, LZ 1844, Sp. 103. 65 Jhering, historische Schule V, LZ 1844, Sp. 568; ders., Stellung der Jurisprudenz, LZ 1844, Sp. 103. 66 Jhering, historische Schule V, LZ 1844, Sp. 568; so auch schon bei Mecke, Jhering, 2018, S. 92. 67 Jhering, historische Schule III, LZ 1844, Sp. 422; ähnlich ders., Geist I, 1852, S. 13, 55; ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 31; vgl. Kunze, Universalrechtsgeschichte, 1991, S. 185 f.; Mecke bestärkt Kunze in seiner Annahme, dass Jhering seit den 1840er Jahren bis an sein Lebensende den Einfluss der Lebenswirklichkeit bei der Rechtsbildung forderte [ders., Jhering, 2018, S. 116]. 68 Vgl. ebenso zur Urheberschaft Jherings: Mecke, Jhering, 2010, S. 51–107. 69 Jhering, Jurisprudenz II, LZ 1845, Sp. 1447. 70 Jhering, Jurisprudenz II, LZ 1845, Sp. 1448; ähnlich später bei Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 8. 71 Jhering, Jurisprudenz II, LZ 1845, Sp. 1447. 72 Jhering, Jurisprudenz II, LZ 1845, Sp. 1444. 63
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Daran anknüpfend betonte er auch in seiner im Jahre 1847 verfassten GneistRezension, dass das Ergebnis der rechtshistorischen Studien „doch höchst spezieller, sekundärer Natur ist“.73 Bereits die Unterscheidung in das, „was dem juristischen Interesse die höchste Befriedigung“ ermöglichen kann und das, was „auf eine Befriedigung des historischen Interesses angewiesen“ sein soll,74 weist nach, wie unabhängig Jhering von der Historischen Rechtsschule in seinem Denken hier schon war.75 Wenn Jhering in diesem Zusammenhang mahnte, dass „mehr im antiquarischen, als wirklich historischen Geiste gearbeitet“ 76 werde, dann lag in der Aufarbeitung des historischen Geistes die grundlegende Intention seines später erschienenen Monumentalwerkes ,Geist‘. Nach eigener Angabe war sein ,Geist‘ (seit 1852) ein erster „Ansatz“ zur Umsetzung seiner grundlegenden Forderungen an die Rechtsgeschichte.77 Jhering war der Auffassung, dass die Rechtsgeschichte den „Schlüssel der Dogmatik abgeben“ soll, denn das sei „der Unstern, der über ihr schwebt“.78 Er differenzierte im Rahmen der juristischen Konstruktion zwischen der Untersuchung der „rein historische[n] Frage“ und den rechtlichen Bedürfnissen der zeitgemäßen Jurisprudenz.79 Ebenfalls keine neue Erkenntnis stellt sein im Jahre 1865 in seinem dritten Geist-Band ausgesprochenes Verlangen dar, „die alten Rechtsbegriffe [. . .] zum Sprechen zu bringen“, da das Recht „keine Pflanze, sondern ein Stück menschlichen Denkens und Empfindens“ sei80, seine „treibenden Kräfte“ seien „im tiefsten Innern“ 81 ergründbares „Menschenwerk“.82 Nach Jhering hält die Historische Rechtsschule „regelmäßig ihre Aufgabe für gelöst, wenn sie das Aeußere der historischen Erscheinung ermittelt hat“.83 Jhering wollte dem Ursprung des Rechts, „den Nimbus göttlicher Entstehung“ 84 nachgehen, indem die Formulierungen in den römischen Quellen einer 73
Jhering, Gneist-Rezension, 1847, Sp. 259. Jhering, Gneist-Rezension, 1847, Sp. 258 f. 75 Vgl. Mecke, Jhering, 2018, S. 82, 85. 76 Jhering, Gneist-Rezension, 1847, Sp. 259. 77 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 4; ferner, ebd., S. 5: „Einen Beitrag zur Lösung der Aufgabe in diesem Sinne soll wie mein früheres Werk [sc. Geist], so auch das jetzige [sc. Entwicklungsgeschichte] liefern. Bei jenem hatte ich mein Augenmerk auf die allgemeinen Ideen gerichtet, welche sich in den Rechtsinstituten einer und derselben Zeit wiederholen [. . .], nach dieser Seite hin wird das gegenwärtige Werk also eine Ergänzung des früheren bilden.“ Vgl. dazu bereits Mecke, Jhering, 2018, S. 117. 78 Jhering, Geist I, 1852, S. 52 f. Fn. 27. 79 Jhering, Brief an Windscheid v. 21. Dezember 1853, Ehrenberg-Briefe, 1913, S. 35, 38. 80 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 297; ders., Besitzwille, 1889, S. 77; ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 4. 81 Jhering, Geist I, 1852, S. 36. 82 Jhering, Geist I, 1852, S. 219. 83 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 299. 84 Jhering, Geist I, 1852, S. 104. 74
I. Jhering und die Historische Rechtsschule
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Kritik unterworfen85 und „Zerrbilder“ von der geschichtlichen Rechtswirklichkeit korrigiert und ergänzt werden86: „Je mehr es ihr [der Theorie] gelingt, die substantiellen Bildungen des Lebens getreu zu formuliren, um so ehr wird sie aus einem bloßen Spiegel des Rechts eine Quelle desselben; je weniger sie dieser ihrer Aufgabe entspricht, je weiter sie sich vom Leben entfernt, um so mehr weist letzteres ihre nutzlose Beihülfe zurück [. . .].“ 87
In seinem dritten Geist-Band entsprechend verlangte er von der Jurisprudenz, sich den Bedürfnissen des praktischen Lebens und des Verkehrs unterzuordnen.88 Die Loslösung Jherings von der Historischen Rechtsschule war in seinen Grundzügen mit seinem dritten und letzten Geist-Band spätestens vollbracht. In seinem Aufsatz ,Unsere Aufgabe‘ im ersten Band seiner Jahrbücher (1856) konstatiert Jhering offenkundig seine Ablehnung gegenüber dem „Mumien-Cultus“ 89 der Historischen Rechtsschule. Seine Forderung nach der Trennung von Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik festigt sich weiter.90 Jhering stellt deutlich klar: „[E]in wirklicher Jurist, auch wenn seine rechtshistorische Ausrüstung noch so mangelhaft sein sollte, [wird] im Ganzen und Großen, das römische Recht ungleich besser verstehen, als ein Rechtshistoriker, dem das juristische Organ fehlt [. . .].“ 91
Auch folgende Zeilen beweisen Jherings frühe Abkehr von der Historischen Rechtsschule: „In all unserem Suchen und Streben, so verschiedenartig es im Uebrigen auch sein mag, regt sich doch Eine bewegende Kraft, Ein Gedanke, [. . .] daß die Wissenschaft nicht auf ein bloß rezeptives Verhalten gegenüber dem historischen Stoff angewiesen, sondern das Recht und den Beruf zur produktiven Gestaltung hat [. . .].“ 92
Die Rechtsgeschichte soll zwar weiterhin eine dienende Funktion erfüllen, dabei aber schöpferisch tätig sein.93 Wenn die Jurisprudenz diese aufgestellte Maxime umzusetzen in der Lage ist, dann lässt sie sich nach Jhering „nicht mehr durch die Geschichte in Verlegenheit setzen“.94 85
Jhering, Geist I, 1852, S. 24 Fn. 11. Jhering, Geist I, 1852, S. 48, S. 24; auch ders., Unsere Aufgabe, 1856, S. 4 f. vertiefend Mecke, Jhering, 2018, S. 132. 87 Jhering, Geist I, 1852, S. 21. 88 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 127. 89 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 31. 90 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 30. 91 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 22 f.; ferner ebd., S. 51: „[. . .] so lange der Jurist noch juristische Speise verlangt und sich nicht lediglich mit dem bloßen rohen Rechtsstoff oder mit Rechtsgeschichte abfinden läßt“ und ders., Jurisprudenz, 1868, S. 77. 92 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 3. 93 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 1, 4–7. 94 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 16. 86
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In der Vorrede zur zweiten Auflage von ,Geist I‘ im Jahre 1866 proklamierte Jhering bahnbrechend: „Man würde den ganzen Zweck meines Werks verkennen, wenn man es als ein wesentlich rechtshistorisches auffassen wollte. Mein Augenmerk ist nicht das römische, sondern das Recht, erforscht und veranschaulicht am römischen, m. a. W. meine Aufgabe ist mehr rechtsphilosophischer und dogmatischer Art als rechtshistorischer, den letztern Ausdruck in dem Sinn genommen, in dem unsere heutige Wissenschaft die Aufgabe der Rechtsgeschichte erfaßt und zu lösen sucht.“ 95
Die überarbeiteten Passagen in der zweiten Auflage des ersten Geist-Bandes lassen ein eindeutiges Indiz für den Wandel in Jherings Geschichtsauffassung und damit eine klare Unterscheidung Jherings von Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik erkennen.96 Im Vergleich zu den Ausführungen in seinem ,Geist‘ Mitte der 1850er Jahre resümiert er in seiner Neuauflage, dass die überwiegenden Schilderungen der römischen Rechtsgeschichte mehr eine Geschichte des „Dogmas d. h. der Gesetzgebung und Doctrin“, nicht jedoch eine „Darstellung des Rechts, wie es in der Wirklichkeit existirte“ aufweisen.97 Jhering forderte einen „Umschwung“; die Rechtsgeschichte sollte sich von der „bloßen“, „nach Zeit und Inhalt geordnete[n] Zusammenstellung rechtshistorischen Materials“ 98 zu einer „Kritik des Positiven“ wandeln.99 Unmittelbare Konsequenz war die grundlegende Aufarbeitung der römischen Rechtsgeschichte: die Ergründung des „innere[n] Getriebe[s] des geschichtlichen Werdens“.100 Das bloße Wissen über die Entwicklungen des Rechts in der Geschichte habe nach Jhering „nichts Erhebendes, eher etwas Niederdrückendes“. „Die wahre Aufgabe der Geschichtsschreibung“ sei nach Jhering „im Wechsel die Wahrheit zu finden“.101 95
Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, Vorrede, S. IX. Dabei sind einige, die Geschichte betreffenden Zitate aus Zeitgründen nicht vollständig überarbeitet und gestrichen worden, vgl. Jhering, Brief an Windscheid v. 18. April 1865, S. 180: „[. . .] auch hat die Besorgung der zweiten Auflage meines Buch [Geist] mir zu schaffen gemacht. Ich habe mit dem zweiten Band zuerst angefangen, nachdem mehrere Versuche, die Einleitung zum ersten Bande umzuarbeiten, gescheitert waren. [. . .] und ich werde mich [. . .] am Ende noch entschließen, die Einleitung im wesentlichen unverändert zu lassen [. . .] Zu einer vollständigen Umarbeitung fehlt es mir leider an Zeit, sie würde Jahre erfordern. Im Mai muß der erste Band fertig sein – ich bin neugierig, was daraus wird!“; zu dieser Thematik auch Klemann, Jhering, 1989, S. 206. 97 Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 55; ferner ebd., S. 16: „Nur auf diesem Wege wird es möglich werden, ein wirkliches Urteil über das römische Recht zu gewinnen, das Vergängliche und rein Römische in ihm, von dem Unvergänglichen und Allgemeinen zu scheiden, und auf diesem Wege endlich wird sich die Frage nach dem Wert des römischen Rechts, auf der doch schließlich seine Rezeption und Bedeutung, die es für uns gewonnen hat und fernerhin hat, beruht, genügend beantworten lassen.“ 98 Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 25. 99 Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 15. 100 Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 15 f.; Rainer, Römisches Recht, S. 347. 96
I. Jhering und die Historische Rechtsschule
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„Nicht also aufzuweisen, daß eins sich bloß an das andere reiht, wie die Perlen an der Perlenschnur, äußerlich aneinander gefügt an der Schnur der Geschichte, sondern aufzuweisen, wie eins das andere bedingt, und wie das scheinbar Unvollkommene zu seiner Zeit nicht bloß berechtigt, sondern das Vollkommene, die Wahrheit war.“ 102
„Nähe und Distanz zur Historischen Rechtsschule“ 103 lassen sich zudem in den Zeilen aus seiner Wiener Antrittsvorlesung ,Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?‘ von 1868 nachweisen. In diesem Zusammenhang betonte er zunächst die Umkehr zur Geschichte als „das Losungswort des Jahrhunderts“, dagegen sei es aber „mit der Rückkehr auf den historischen Grund und Boden allein [. . .] nicht gethan; es kommt darauf [an], was und wie man sucht“ 104, nämlich die Bestimmung der geschichtlichen Ursachen. Ebenso hob Jhering hier hervor, dass die Rechtsgeschichte und das tatsächliche Verständnis des geltenden Rechts zu differenzieren seien.105 Demnach konkretisiert Jhering auch an dieser Stelle die Trennung von Dogmatik und Rechtsgeschichte. Die „gewertete Empirie“ 106 der historischen Rechtssätze sollte das geltende Recht von nun an erklären und beurteilen. Die Geschichte wurde in den Augen Jherings so zu einem „in die Gegenwart hineinreichende[n] und sich ständig verlängernde[n] geistige[n] Erfahrungsraum des Menschengeschlechts“.107 Der Rechtsgeschichte werde nach Jhering „die Stellung einer Dienerin der Dogmatik zugewiesen – es ist das Aschenbrödel im Hause des Rechts, das seine Duldung nur dadurch erlangt, daß es Holz und Wasser für den Haushalt zuträgt“.108 Mit diesem metaphorischen Vergleich konstatierte schließlich Jhering in seiner 1894 posthum veröffentlichten Einleitung zur Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts konsequent die Ansicht von der prinzipiellen „Verschiedenheit der Aufgabe der Geschichte und der Dogmatik“ 109 und damit das Überwinden seiner Auffassung von der „Geschichte als Geltungsgrund des positiven Rechts“.110
101 Jhering, Jurisprudenz,1868, S. 71; vgl. ebd., S. 72: „Ist die erste Stufe der geschichtlichen Entwicklung minder nothwendig und minder wahr [entwicklungsgeschichtlich notwendig], weil ihr die zweite folgt?“ 102 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 73. 103 Mecke, Jhering, 2018, S. 103 Fn. 431. 104 Jhering, Jurisprudenz,1868, S. 69 ff. 105 Jhering, Jurisprudenz,1868, S. 79 f. 106 Fikentscher, Methoden, 1976, S. 231. 107 Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 99. 108 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 9; ähnlich ders., Jurisprudenz II, LZ 1845, Sp. 1444, 1447; vgl. ferner ders., Jurisprudenz, 1868, S. 24. 109 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 10; laut Fikentscher, Methoden, 1976, S. 264: „wahrscheinlich Iherings größtes Verdienst“. 110 Mecke, Jhering, 2018, S. 79; bereits Fikentscher, Methoden, 1976, S. 252 f.; Losano, Studien, 1984, S. 54.
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Nach Jhering würde die Historische Rechtsschule der Rechtsgeschichte allein die Funktion eines „Schlüssel[s] zum Verständnis des geltenden Rechts“ 111 einräumen. Es sei aber vielmehr die Aufgabe der römischen Rechtsgeschichte, die Triebkräfte des Rechts herauszustellen112 und die römischen Institute durch „die moderne Brille“ zu erblicken.113 In seinem ,Kampf um’s Recht‘ schuf Jhering eine erste wesentliche Grundlage für seine Überzeugungen entgegen der Historischen Schule, die eine „bloße Reihenfolge der Rechtstatsachen in der Zeit (äußeres Hintereinander)“ vertrat. Dem setzt Jhering die „kausale Beeinflussung einer Tatsache durch die andere (inneres Hervorgehen des einen aus dem anderen)“ entgegen; nach ihm sei vielmehr das „Warum der Rechtstatsachen“ notwendig. Den Kern seiner Rechtsmethode bildete somit die „Verfolgung des Kausalitätsgedankens in der Geschichte des Römischen Rechts“, eine „Entwicklungsgeschichte“ in Form der kausalen Beeinflussung des Folgenden durch das Vorhergehende.114 Zeitlebens war Jhering ohne Zweifel, dass die Rechtshistoriker zur Entschlüsselung der geschichtlichen Motive dieser Rechtsmethode verpflichtet sind. Am Ende durchtrennt Jhering dann das Band, das die „Synergie zwischen Historismus und Formalismus“ zusammenhält und bricht damit mit seiner eigenen bisherigen juristischen Methode.115 So resümierte Jhering in seinen letzten Lebensjahren: „Da haben wir die Dogmatik unter dem Bann der Rechtsgeschichte. Das Gegenstück ist die Rechtsgeschichte unter dem Bann der Dogmatik. [. . .] Keine von ihnen hält es für erforderlich, ihre Legitimation dem praktischen Bedürfnisse zu entnehmen, sie appellieren lediglich an das wissenschaftliche Interesse der Erkenntnisse der Vergangenheit, sie sind ihrer selbst, nicht eines besonderen Zweckes wegen da.“ 116
Dabei hat Jhering zu keiner Zeit die historische Seite des Rechts angegriffen, sondern dieser eine höhere, entwicklungsgeschichtliche Ebene zugeschrieben.117 Im Rahmen der Dogmatik soll die Rechtsgeschichte also nur noch das sein, was Savigny einmal als Auffassung der Rechtsgeschichte im Sinne bloß „borniert[er] [. . .] Hülfskenntniß“ bestimmt hatte.118 Schließlich entwickelte Jhering „seine
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Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 8 f. Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 7. 113 Jhering, Rechtsschutz, 1885, S. 263. 114 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 6; so auch Jhering, Geist I, 1852, S. 611: „Einheit sowohl im Nebeneinander als Hintereinander, in die Breite wie in die Länge“; vgl. Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 59. 115 Rapone, Zweckbegriff, 2012, S. 144. 116 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 8 f. 117 Fikentscher, Methoden, 1976, S. 192; vgl. auch Luig, Jhering, 1996, S. 166. 118 Savigny, Vorlesungen, 1803/04, S. 136; zit. nach Mecke, Jhering, 2018, S. 87 Fn. 356. 112
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Evolutionstheorie des Werdens durch Tun, eine Theorie, die es dem Recht erlaubt, eine progressive politische Funktion zu erfüllen“.119 Diesem progressiven Geschichtsverständnis entspringen schließlich seine gesamten weiteren methodischen Entwicklungen.120 Umgekehrt ist die eindeutige Unterscheidung zwischen Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik das Resultat der rechtsphilosophischen Antwort auf die Frage nach der Begründung und Entstehung des Rechts.121 Auf diese soll in einem weiteren Schritt eingegangen werden. 2. Überwindung der Volksgeistlehre „Diese Theorie ist gleichbedeutend mit dem Verzicht auf jede Fragestellung nach dem Warum. Auf alle Fragen hat sie überall nur ein und dieselbe Antwort: Volksseele, nationales Rechtsgefühl – das Volk hat die Sache einmal so und nicht anders angesehen, damit ist alles abgetan, es ist das Fatum auf dem Gebiet des Rechts – der Historiker kann sich jede weitere Mühe ersparen.“ 122
So offenbarte Jhering seine Abkehr vom Dogma des Volksgeistes der Historischen Rechtsschule in seiner polemischen Art am Ende seines Lebens. Der nachfolgende Abschnitt hat die Auseinandersetzung mit dem Konzept des Volksgeistes zum Gegenstand, welches infolge der aufstrebenden Pandektenwissenschaft und der Neuausrichtung des Rechts für eine nationale deutsche Einheit zum Aushängeschild und zugleich Signum der Historischen Rechtsschule wurde.123 Jherings Abkehr vom Dogma des „Volksgeistes“ der Historischen Rechtsschule soll nun erneut in einer chronologischen Analyse von ausgewählten Werken nachgewiesen werden.124 Die Idee der Historischen Rechtsschule, dass das Recht „sein Daseyn in dem gemeinsamen Volksgeist“ 125 hatte, soll anhand ihrer wichtigsten Vertreter, namentlich Puchta und Savigny, nachgezeichnet werden. Grundsätzlich verstand die Historische Schule unter dem „Volksgeist“ eine einheitliche rechtliche Überzeugung eines Volks (als Naturganzes) und Entstehungsgrund des Rechts.126 119
Luig, Jhering, 1996, S. 165. Fikentscher, Methoden, 1976, S. 73. 121 Mecke, Jhering, 2018, S. 27; Böckenförde, Historische Rechtsschule, 1965, S. 11. 122 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 13. 123 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 92 ff., 109. 124 Vgl. jüngst ausführlich Mecke, Jhering, 2018, S. 31–133. 125 Savigny, System I, 1840, S. 24; ferner ebd., S. 14 f., 17, 19, 56; Puchta, Gewohnheitsrecht, Bd. I. S. 3, 138 f.; dazu auch Merkel, Nachruf Jhering, 1893, S. 19. 126 Puchta, Gewohnheitsrecht I, 1828, S. 3, 139; ders., Institutionen I, 1841, S. 35: „Wie nun die Sprache eines Volks aus demselben Grund auf gewissen Principien und Regeln beruht, die in ihr selbst unausgesprochen liegen, von der Wissenschaft aber ans Licht und zum Bewußtsein gebracht werden, so auch das Recht.“; ders., Vorlesungen, I, 3. Aufl., 1852, S. 19 ff.; dazu vor allem Zitelmann, Gewohnheitsrecht und Irrthum, 1883, S. 386, 401; Haferkamp, Pandektistik und Gerichtspraxis, 2011, S. 184. 120
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Savignys grundlegende Ideen zum Dogma des Volksgeistes finden sich wieder in seinem Werk ,Beruf‘ (1814), im Einleitungsaufsatz zur ,Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft‘ (1815) und schließlich in seinem Spätwerk ,System des heutigen römischen Rechts‘ (1840).127 Savigny sprach 1814 in seiner Programmschrift ,Beruf‘ ausdrücklich vom „Gefühl innerer Nothwendigkeit“ 128 und von „stillwirkende[n] Kräfte[n]“.129 Das Recht entstehe demnach „durch Wesen und Charakter des Volkes“.130 Im Jahre 1815 hielt er in seinem Einleitungsaufsatz zur ,Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft‘ fest, dass die Inhalte des Rechts „durch die gesamte Vergangenheit der Nation gegeben, doch nicht durch Willkühr [. . .], sondern aus dem innersten Wesen der Nation selbst und ihrer Geschichte hervorgegangen“ 131 und „mit einer Nation geboren“ 132 seien. Nach Savigny sollte das Recht gerade kein Instrument des Staates sein, wodurch Willkür vermieden würde.133 1840 sprach er im ersten Band seines Werkes ,System I‘ dann schließlich eindeutig von einem „in allen Einzelnen gemeinschaftlich lebende[n] und wirkende[n] Volksgeist, der das positive Recht erzeugt“.134 Savigny hatte den Entwicklungsgang der neueren Zeit dahingehend beschrieben, dass der „gemeinsame christliche Glaube um sie alle ein unsichtbares Band geschlungen hatte, ohne doch die nationale Eigenthümlichkeit aufzuheben“, da „die neueren Nationen nicht in dem Maaße wie die alten, zu einer abgeschlossenen Nationalität berufen waren“.135 Durch sein Bemühen, fremde Völker einzubinden, schwächte er sein „Nationalitätsprinzip“ gewissermaßen ab.136
127 Ausführlich zu dieser Thematik jüngst Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 126 f. 128 Savigny, Beruf, 1814, S. 8; ferner ders., System I, 1840, S. 15. 129 Savigny, Beruf, 1814, S. 14. 130 Savigny, Beruf, 1814, S. 11. 131 Savigny, Zweck, 1815, S. 6; ferner ders., Beruf, 1814, S. 8–12. 132 Savigny, Gesetzbücher, 1816, S. 233. 133 Savigny, Gönner-Rezension, 1815, S. 128; Pawlowski, Gesetzesauslegung, 1961, S. 228 f. 134 Savigny, System I, 1840, S. 14. 135 Savigny, System I, 1840, S. 80. 136 Dazu Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 12, Fn. 2: „Ob nicht gewisse Ansätze zu diesem Gedanken hie und da selbst bei den Vertretern des Nationalitätsprinzips sich nachweisen lassen, mag immerhin zu bejahen sein. So nimmt z. B. Savigny selber einen solchen Anlauf (System des heutigen R. R. B. 1, S. 80), allein er hätte seine ganze Grundansicht aufgeben müssen, um den Gedanken consequent zu verfolgen, und er begnügt sich damit, die Abschwächung des Nationalitätsprincips in der neueren Geschichte auf den ,gemeinsamen christlichen Glauben zurückzuführen, der um alle neuen Völker ein unsichtbares Band geschlungen habe‘.“
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Den Begriff des Volksgeistes erfasst Puchta als historischen Entstehungsgrund und als juristischen Geltungsgrund des Rechts.137 Dabei spricht er demselben eine normativ-legitimierende Funktion zu, indem er bei der Bestimmung des Rechts Wertungen aus den fundierten Kenntnissen von Recht und Geschichte des Volksgeistes vornehme. Nach Mecke erfasste Puchta die Inhalte des Rechts „als Ergebnis der im jeweiligen Volksgeist ausgedrückten Übereinstimmung und Kontinuität von Wertvorstellungen, die ihre Grundlage in einem die Generationen übergreifenden Traditionszusammenhang des Volkes haben“.138 Schließlich war das Recht für die Historische Rechtsschule „eine im Naturganzen des metaphysisch aufgefaßten Volkes verwurzelte, sich selbst geschichtlich entfaltende Größe“ und deshalb auch aus sich selbst zu verstehen.139 Von dieser „Lehre von einer organischen Entwicklung des Rechts“ hatte Jhering schon in seiner im Jahr 1844 anonym erschienenen Artikelfolge entschieden Abstand genommen,140 als er ihren „Quietismus“ kritisierte und ihr den Begriff der menschlichen Tatkraft entgegensetze.141 Ferner bekräftigte jüngst Mecke Jherings frühe Abkehr anhand der Forschungsergebnisse Kunzes zu Jherings ,Universalrechtsgeschichte‘ aus dem Jheringschen Nachlass142: Nach Jhering bedurfte die Auffassung der Historischen Rechtsschule „von dem nationalen Charakter des R.[echts] einer bedeutend[en] Modifik.[ation]“.143 In diesen Kontext kritisierte Jhering die „Ausschließlichkeit“, mit der die Historische Rechtsschule die Entstehung des Rechts aus dem einzelnen Volk als einzig wahre Größe erklärte, und gleichermaßen ihre ungenügende Be137
Vgl. Mecke, Puchta, 2009, S. 175. Mecke, Puchta, 2009, S. 838 f., vgl. dazu auch ebd., S. 175 f., 197. 139 Böckenförde, Historische Rechtsschule, 1965, S. 19. 140 Dies wies jüngst Mecke anhand der unveröffentlichten Schriften Jherings aus dem Nachlass nach [ders., Jhering, 2018, S. 283, 633 f.; 36–38; 39 f., 54, 85 f.]; dagegen Behrends, Zweck, 1987, S. 235; ders., Wiener Antrittsvorlesung, 1998, S. 152 f.; Klemann, Jhering, 1989, S. 122. Dazu schon kritisch Brockmöller, Rechtstheorie, 1997, S. 192 Fn. 42, S. 208 Fn. 88. 141 Jhering, historische Schule V, LZ 1844, Sp. 568; diese Zeilen sind in vielerlei Hinsicht wertvoll, für die Jheringsche Methode des Rechts: „Die Lehre von einer organischen Entwicklung des Rechts und der historischen Nothwendigkeit predigt keinen Quietismus, nicht, daß wir warten sollten, bis uns die Zeit von selbst die erwünschte Frucht in den Schooß würfe, [. . .] wir sollten vielmehr ringen und kämpfen, um jene Frucht zu erlangen, aber das Gefühl, daß uns der Geist der Geschichte zur Seite steht, soll uns kräftigen und stählen, die Aufgabe zu lösen, die zwar von Menschenhänden vollbracht wird, aber von der Geschichte selbst gestellt war.“ 142 Kunze, Universalrechtsgeschichte, 1991, S. 155 f.; ders., Forschungsbericht, 1995, S. 132 f., nach Kunze „wahrscheinlich 1843/44 verfasste[. . .], in toto aber spätestens 1850 abgeschlossene[. . .] Handschrift“ [so Mecke, Jhering, 2018, S. 39 f.]. 143 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 11:2 (2), Bl. 53 zit. nach Mecke, Jhering, 2018, S. 39 mit Verweis auf Kunze, Universalrechtsgeschichte, 1991, S. 172: „Die für notwendig erachtete Modifikation konnte nach Lage der Dinge nichts anderes als eine Überwindung sein.“ 138
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gründung bei der Einbeziehung fremder Völker in die Rechtsentwicklung. Jhering sieht im Volk nicht den ausschließlichen Entstehungsgrund für das Recht.144 Demzufolge kann auch Jherings Anerkennung der Auffassung Savignys im Jahr 1844, „daß das Recht nicht erst durch Reflexion entstanden, sondern so wie Sprache, Sitte u. s. w., etwas Ursprüngliches, mit dem Volke Gebornes sei“ 145 zu keiner anderen Einordnung führen. Diese Annahme wird darin bestätigt, dass Jhering in ,Geist II 1‘ (1854) die „unmittelbare, s. g. organische Entstehungsweise“ nach der Historische Rechtsschule als großen Fortschritt anerkannte und die Überwindung der „bis dahin gelehrten äußeren mechanischen Produktion des Rechts durch legislative Reflexion“ und die Gültigkeit einer breiten nationalen Grundlage des Rechts befürwortete.146 Was Jhering hier vor allem beanstandete, wird insbesondere deutlich in dem Vorwurf Jherings gegenüber der Historischen Rechtsschule, nämlich, „daß sie Gewohnheitsrecht und gesetzliches Recht auf eine Stufe stellt und den ungeheuern Fortschritt, den das Recht durch seinen Uebergang von jenem zu diesem macht, ignorirt“.147 Die weitere Verwendung der methodischen Begriffe der Historischen Rechtsschule in seinem ersten GeistBand, beispielsweise Ausdrücke wie „Born des nationalen Rechtsgefühls“ 148 und das „Walten des römischen Volksgeistes“ 149, ist jedoch, wie in vielerlei Hinsicht im Verlauf der Arbeit noch nachgewiesen werden wird und insbesondere im Hinblick auf seine frühen Ausführungen in der Literarischen Zeitung seit den 1840er Jahren, kein ausreichender Nachweis dafür, dass er in seinem wissenschaftlichen Denken tatsächlich der Historischen Rechtsschule verhaftet ist.150 So kann in der Forderung Jherings von 1852 im ,Geist I‘, dass bei der Rechtsbildung der „Drang der Umstände“ und die „Noth des Lebens“ berücksichtigt werden müsse,151 eine klare Abkehr von der Rechtsentstehungslehre der Historischen Rechtsschule gesehen werden.152 Den Volksgeist ersetzte der junge Jhering nun durch den „Geist
144
Mecke, Jhering, 2018, S. 39 f. Jhering, historische Schule I, LZ 1844, Sp. 199. 146 Jhering, Geist II 1,1854, S. 26. Vgl. ferner ebd., S. 24: „Die Frage von der Entstehung des Rechts bildet einen Hauptdivergenzpunkt zwischen der Lehre des vorigen und der des jetzigen Jahrhunderts.“; dazu Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 53. 147 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 26; dazu Wilhelm, Theorie, 1972, S. 267 f. 148 So Jhering, Geist I, 1852, S. 26. Vgl. auch ders., Schuldmoment, 1867, S. 157. 149 Jhering, Geist I, 1852, S. 293. 150 So auch Mecke, Jhering, 2018, S. 21 ff. 151 Jhering, Geist I, 1852, S. 229: „Was uns heutzutage in der Natur des Rechts selbst zu liegen scheint, ist zum großen Theil nichts weniger als eine dem MenschenGeschlecht von vornherein mitgegebene Anschauung und verdankt seine praktische Realität nicht der Macht der rechtlichen Ueberzeugung, der Idee der Gerechtigkeit, sondern ist das Werk einer durch materielle Gründe, durch die Noth des Lebens und den Drang der Umstände in Bewegung gesetzten und erhaltenen und durch Motive der Zweckmäßigkeit geleiteten menschlichen Thätigkeit.“ 152 Mecke, Jhering, 2018, S. 290 Fn. 1430. 145
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des Volks und der Zeit“ 153, der gleichzeitig dem Geist des Rechts entspricht und eine „realistischere und weniger spirituell-romantische Fassung“ der Volksgeistlehre aufweist.154 In dem „Volksgeist“ sah Jhering in den 1850er Jahren gemäß seiner evolutionistischen und praktischen Auffassung vom Recht das „geschichtliche Ergebnis der Rechtsbildung einer bestimmten Zeit“.155 Auch folgende Zeilen beweisen, dass Jherings Abkehr von der herrrschenden Volksgeistauffassung nicht Ausdruck erst späterer Einsicht war: „[S]o droht uns die Gefahr [. . .] die wirklichen Flächen und Niederungen in der Geschichte des Staats zu übersehen, [. . .] der Frage nach dem Werden des Staats und des Rechts lieber gänzlich auszuweichen und beide für gewissermaßen auf übernatürliche Weise von Gott fertig in die Welt gesetzte Institutionen zu erklären, als zuzugeben, dass sie in prosaischer Weise durch Menschenhand gemacht sind.“ 156
Schließlich machte er seine Kritik im Jahre 1861 in seinem Nachruf auf Savigny öffentlich, wenn er ausdrücklich betonte, „daß die Rechte nicht gemacht wären, sondern würden, daß sie hervorgingen, wie Sprache und Sitte, aus dem Innersten des Volkslebens und -denkens [. . .]“.157 Ferner verlangte Jhering schon früh die „Zurückweisung der Nationalromantik der Volksgeistlehre zugunsten eines universalen Rechtsbegriffs“.158 Bereits in seiner Erstauflage des ersten Geist-Bandes im Jahre 1852 kritisierte er die Historische Rechtsschule, wenn er bei der Rezeption des römischen Rechts den „Geist, der bloß verneint“ als „Würgengel der Nationalitäten“ bezeichnete und stattdessen „einen Träger und Vorkämpfer der Idee der Universalität gegenüber der einseitigen, beschränkten Herrschaft des Nationalitätsprinzips“ forderte.159 Jhering will die Entstehung des Volksgeists durch äußere Einflüsse begründen, weshalb
153
Jhering, Geist I, 1852, S. 34, S. 50. Vgl. Mecke, Jhering, 2018, S. 62–71. Jhering, Geist I, 1852, S. 34; so auch S. 50: „Wir wären nicht im Stande, den Geist des römischen Rechts zu bestimmen, ohne an den Geist des Volks und der Zeit anzuknüpfen, nicht im Stande, eine Einsicht in das Wesen desselben und ein Urtheil über dasselbe zu ermöglichen, ohne die realen Zustände des Lebens, die Wirklichkeit des Rechts zu berücksichtigen.“ 155 Mecke, 2018, S. 26, ausführlich zum Begriff des Volksgeistes in Abgrenzung zu dem der Historischen Rechtsschule, ebd., S. 39–76, zusammenfassend S. 633 f. 156 Jhering, Geist I, 1852, S. 219. 157 Jhering, Nekrolog Savigny, 1861, S. 364. Jhering wollte „der Poesie der ,unmittelbaren Rechtserzeugung‘ des ,organischen Wachsthums‘ und wie sonst die bestechenden Ausdrücke für eine und dieselbe Sache heißen“, „die Prosa der Geschichte entgegen[. . .]halten“. [ders., Geist III 1, 1865, S. 7]. Siehe dazu Luig, Jhering, 1996, S. 163. 158 Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 170. 159 Jhering, Geist I, 1852, S. 288; 2. Aufl., 1866, S. 314 f.; vgl. Merkel, Nachruf Jhering, 1893, S. 18; auch Jhering, moderne Welt, 1865, S. 3: „principielle[ ] Gegensatz in der Auffassung des Rechts [. . .] verdient einmal mit aller Schärfe betont zu werden“; ebd., S. 12 ff. Vgl. Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 25; Mährlein, Volksgeist und Recht, 2000, S. 139 f. 154
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die Rezeption des römischen Rechts eine Frage der Zweckmäßigkeit, nicht der Nationalität sei.160 Jherings vollständige Abkehr von der „Lehre von dem nationalen Charakter der Rechte“ 161 stellte er spätestens in der zweiten Auflage seines ersten GeistBandes (1866) deutlich heraus, indem er seine Auffassung von der Universalität des Rechts bei der Anwendung auf den Prozess der Rechtsbildung präsentierte.162 „Durch das Thor der Nationalität“ käme nach Jhering das römische Recht zu keiner Zeit in die Wissenschaft hinein.163 Dem sollte daher der „Gedanke der Universalität“ als „das Losungswort der gegenwärtigen Aera des Rechts“ Abhilfe schaffen.164 Auch später in seiner Schrift ,Kampf um’s Recht‘ (1872) formulierte er, dass die Rechtsentstehungslehre der Historischen Rechtsschule „die romantische“ genannt werden könnte: „eine wahrhaft romantische, d. h. auf einer falschen Idealisierung vergangener Zustände beruhende Idee, daß das Recht sich schmerzlos, mühelos, tatenlos bilde, wie die Pflanze“.165
Solche Anschauungen wären nach Jhering nun nicht mehr vertretbar, sie hätten sich allein „in dem Sumpf eines politisch und rechtlich gleich verkommenen nationalen Lebens“ entwickeln können.166 Jhering bestätigt hier seine ganze Ablehnung gegen die herrschende Savigny-Puchta’sche Theorie von der Entstehung des Rechts. Am deutlichsten aber wird Jherings Auffassung von einer grundlegend praktischen Rationalität bei der Rechtsbildung schließlich in seiner posthum veröffentlichten ,Einleitung zur Entwicklungsgeschichte des Römischen Rechts‘.167 Nach Jhering habe die Historische Rechtsschule die Entstehung des Rechts als „unerforschliche[s] Geheimnis“ erklärt und damit „jede weitere Untersuchung“ verhindert. Damit sei die geschichtliche Ansicht „gleichbedeutend mit dem Verzicht
160
Jhering, Geist I, 1852, S. 8. Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 3, vgl. S. 7 f.; ferner S. 9: „wie Savigny sie lehrt: von innen heraus, aus dem Schooß des Volkslebens“. 162 Merkel, Nachruf Jhering, 1893, S. 18. 163 Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 5. 164 Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 11; so ders., Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 10: „In der That: es ist begreiflich, daß dieser Gedanke der Universalität, wie er der damaligen Zeit vor allem in Gestalt des römischen Rechts aufging, etwas Berauschendes für die Juristen hatte – daß der Fanatiker erzeugte; alle neuen großartigen Ideen üben dieselbe Wirkung aus, es sind die Sonnenaufgänge in der Geschichte – die Mittagssonne begeistert nicht, nur die Morgensonne.“ Ferner ebd., S. 12. 165 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 18; ferner ebd., S. 12; dazu Mecke, BELS-Report, S. 72–74, S. 73. 166 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 99. 167 Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 58; Luig, Jhering, 1996, S. 167. 161
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auf jede Fragestellung nach dem Warum“. Sie sei „das Faulkissen der Wissenschaft“.168 Vor allem brachte Jhering Licht in diese „dunkle Werkstätte“ 169 des Volksgeistes. „Aus dem Volk als metaphysisch-kultureller Einheit wurde ein Geflecht von realen Interessen“, so Haferkamp.170 Es war Jherings oberstes Bestreben, die „den Volksgeist begründenden geistigen Kräfte“ zu entschlüsseln.171 Im Spiegel des römischen Rechts wollte sich Jhering den Herausforderungen seiner Zeit widmen. Die Berufung auf die Fähigkeit des menschlichen Geistes172 und auf den Gedanken der Universalität im Recht führte Jhering letztlich zur „Falsifikation der Lehre vom unbewussten Werden und Wachsen des Rechts aus dem mystisch verklärten Volksgeist“ 173 und zur „Ueberwindung des Nationalitätsprincips“.174 Schließlich verfasste Jhering am Ende seines Lebens abermals polemisch und metaphorisch: „Wie soll der Anhänger der Lehre [. . .] auf den Gedanken geraten, den Gründen der Rechtssätze nachzugehen, wenn sie in dem unerforschlichen Geheimnis der Volksseele beschlossen liegen?“ 175
Dieser Auffassung vom unbewußten Werden des Rechts hielt er die des bewußten Machens gegenüber. Nach ihm sei die Geschichte des Rechts „die Geschichte des menschlichen Denkens in bezug auf die praktische Verwirklichung der Lebensbedingungen der menschlichen Gemeinschaft“.176 Mit den sich gegenseitig bedingenden Forderungen Jherings gegenüber der Historischen Rechtsschule, der Trennung von Dogmatik und Rechtsgeschichte und der Abkehr vom Dogma des Volksgeistes, ging sein ebenso früher Appell an die menschliche Tatkraft einher.177 Jherings vornehmliches Bestreben war es 168 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 13. Auch Stammler und Zitelmann bezeichneten die Volksgeistlehre als „mystisch und nebelhaft“ [Stammler, Methode, 1888, S. 6; Zitelmann, Gewohnheitsrecht und Irrthum, 1883]; vgl. ferner Schäfer, Jherings Körperschaftstheorie, 1949, S. 8. 169 Puchta, Cursus I, 1841, S. 30. 170 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 319 ff.; so bereits Arnold, Cultur, 1865, S. 9: „Wir müssen es aufgeben, mit den Schlagwörtern Volksgeist und Organismus noch etwas ausrichten zu wollen. Es sind leere Worte, mit denen wir die Probleme statt sie zu lösen bei Seite schieben.“ 171 Merkel, Nachruf Jhering, 1893, S. 6, 19; Boente, Nebeneinander, 2013, S. 85. 172 Vertiefende Ausführungen im folgenden Abschnitt (A. I. 3.). 173 Klemann, Jhering, 1989, S. 209, 168; Merkel, Nachruf Jhering, 1893, S. 6, 19. 174 Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 1. 175 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 13. 176 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 28. 177 Später resümierte Jhering, Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 257 in der Fußnote: „Zuerst bei Gelegenheit der Entstehungsgeschichte des römischen Rechts in meinem Geist des römischen Rechts B. 1 § 10 (Begründung der Rechte durch persönliche Thatkraft), und an andern Stellen dieses Werkes, z. B. B. 2 § 25, 35, dann in meinem Kampf ums Recht (Aufl. 1 Wien 1872, Aufl. 7 1884). Die Einsicht in die Bedeutung und Berechti-
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hiernach, die historische „Werkstätte [des Rechts] zu belauschen und in das Geheimniß des Werdens einzudringen“.178 Es sei die Aufgabe der Rechtsgeschichte „dem menschlichen Geist nachzuschleichen auf den dunklen Pfaden seiner vorhistorischen Thätigkeit“ und demgemäß „dem menschlichen Geist zurückzuerobern, was sein eigen ist“.179 Nach Jhering berge die Ansicht der Historischen Schule von jener „so oft gedankenlos nachgebetete[n] Lehre von dem ,organischen‘ Werden, der Entwicklung von innen heraus“ die Gefahr, den Verdienst und die Geltung der menschlichen Tatkraft zu verkennen. Nach Jhering käme diese von der Theorie geförderte Hemmung vor der „historischen Tat“ dem praktisch-politischen, von Passivität getragenen Streben der Restaurationsperiode gelegen.180 Das Recht verstand Jhering schon früh als eine „bewusste Schöpfung des menschlichen Geistes“.181 Damit verlangte Jhering von der Jurisprudenz den Übergang vom rätselhaften Phänomen ,Volksgeist‘ zur reflektierenden Kraft des Verstandes.182 Den Grund für die bisher fehlende Verstandesarbeit sah er im politischen Quietismus und „Conservativismus“ 183 der Historischen Rechtsschule.184 Ihre politische Haltung, ihre Untätigkeit würde nach Jhering die Arbeit der Juristen behindern. Diese Überzeugung brachte Jhering am deutlichsten in seinem Nachruf auf Savigny im Jahr 1861 zum Ausdruck. Demnach habe die historische Schule einem „Conservativismus wesentlich Vorschub geleistet“, „der der Gegenwart vorenthält, was sie der Vergangenheit einräumt: das Recht des Werdens“.185 Ferner betonte Jhering im Jahre 1865 in seinem letzten Geist-Band, dass das Recht seit Anbeginn durch die unabhängige Tat des verstehenden Geistes, durch „rege Arbeit und umsichtiges planvolles Schaffen“ 186 entstanden sei. gung der Thatkraft im Recht glaube ich meinerseits dem römischen Recht zu verdanken, kein anderes Recht drängt sie demjenigen, der Augen dafür hat, so unabweisbar auf als dieses Recht des willenskräftigen Volkes der Welt.“ 178 Jhering, Geist I, 1852, S. 85. 179 Jhering, Geist IIl 1, 1865, S. 298. 180 Jhering, Nekrolog Savigny, 1861, S. 368 f., 369: „In der Vorstellung mancher Anhänger jener Schule ist das menschliche Thun, das bewußte und berechnete Eingreifen in den Gang der historischen Entwicklung geradezu mit einem Makel behaftet, gleich als ob es Aufgabe der Menschheit wäre, die Hände in den Schoß zu legen und abzuwarten, bis der Genius der Geschichte ihr im Schlaf und in Form des ,Werdens‘ das Nöthige bescheeren werde, und als ob je auch in der Vergangenheit etwas anderes ,geworden‘ wäre, als durch menschliches ,Thun‘.“ 181 Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 128; ferner ebd., S. 103: „An die Stelle des offenbarten Geistes in der Geschichte, tritt der tätige, durch Erfahrung lernende Geist des Menschen.“ 182 Boente, Nebeneinander, 2013, S. 85. 183 Jhering, Nekrolog Savigny, 1861, S. 368. 184 Auch Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 74; Luig, Jhering, 1996, S. 164. 185 Jhering, Nekrolog Savigny, 1861, S. 368. 186 Jhering, Geist IIl 1, 1865, S. 298; ähnlich ebd., S. 3.
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So liegt nach Jhering „die erste und ursprüngliche Quelle des Rechts [. . .] in jedes Menschen Brust“.187 Der Fortschritt in seinem methodischen Denken liegt folglich in der Erkenntnis, dass der menschlichen Kompetenz eine maßgebliche Bedeutung des Rechtsfortschritts beigemessen wird.188 Die aktive Seite des Rechts betonte Jhering vor allem in seiner Schrift ,Kampf um’s Recht‘ (1872). Er forderte, dass jeder Einzelne in Bezug auf das subjektive Recht mit „vollem klaren Bewußtsein des Zweckes und mit Aufbietung aller seiner Kräfte“ tätig werden soll189 und auf abstrakter Ebene der Rechtsbildungsprozess Sache des Kampfes der Interessen mit der Entschlossenheit des „nationalen Willens“ sei.190 „Denn das Wesen des Rechts ist, wie schon öfter bemerkt, die Tat – was der Flamme die freie Luft, ist dem Rechtsgefühl die Freiheit der Tat; ihm dieselbe verwehren oder verkümmern heißt es ersticken.“ 191
Das „Machen“, d. h. die aktive menschliche Tatkraft, bei der Rechtsetzung, hat Jhering stets in mehrfacher Hinsicht gefordert: in erster Linie in Form des „Zweck“-Gedankens in Gestalt der zweckgerichteten Umsetzung von Recht192 und durch die natürliche Ausstattung des Menschen mit seinem Geist.193 Auf diese Weise manifestierte Jhering schließlich in wenigen Zeilen eine der Grundmaximen seiner Methode des Rechts: „Ich habe für meine Ansicht kein weiteres Postulat notwendig, als den menschlichen Verstand und die menschliche Erfahrung, die Gabe des Menschen, daß er durch Erfahrung gewitzigt werde.“ 194
3. Kampf gegen die Begriffsjurisprudenz „Es ist mir bitterer Ernst mit dem Angriff, den ich gegen die ,Begriffsjurisprudenz‘, d. i. die Scholastik in der heutigen romanistischen Wissenschaft unternommen habe,
187
Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 67 f. Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 102 ff. 189 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 17 et passim. 190 Jhering, Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 256 f. 191 Jhering, Kampf, 1872, Ermacora-Ausgabe, S. 130. 192 Jhering, Zweck I, 1877, S. 26. 193 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 21; dazu vor allem Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 58. 194 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 21; ders. bereits in Geist II 2, 1858, S. 330: „Die Autorität des ,gesunden Menschenverstandes‘ erkenne ich für die Jurisprudenz als eine ganz entscheidende an, ja ich möchte letztere definiren als: Niederschlag des gesunden Menschenverstandes in Dingen des Rechts. Aber sie ist eben ein Niederschlag, d. h. eine Ablagerung des gesunden Menschenverstandes unzähliger Individuen, ein Schatz von Erfahrungssätzen, von denen jeder tausendfältig die Kritik des denkenden Geistes und des praktischen Lebens hat bestehen müssen.“ 188
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A. Der Jurist Jhering und wenn ich mich bei demselben der Waffen des Scherzes, Humors, Spottes und der Satire bedient habe, so geschah es, weil ich sie für die wirksamsten hielt.“ 195
Im Folgenden soll die Bedeutung der Kritik Jherings an dem, was er als „Begriffsjurisprudenz“ bezeichnet, untersucht werden. Unter der knappen Umschreibung „Begriffsjurisprudenz“ wird in der rechtswissenschaftlichen Literatur überwiegend eine „begriffsmathematische, lebensferne Jurisprudenz“, eine sich als begrifflich-hermetische Ordnung verstehende Rechtswissenschaft erfasst. Allerdings existiert auch bis heute keine einheitliche Definition.196 Jhering richtete sich eigenen Angaben zufolge erstmals in seinen anonym publizierten Aufsätzen in den 1860er Jahren, im ,Geist‘ (Bd. 4, § 60, 1865), in seiner Schrift ,Über den Grund des Besitzschutzes. Eine Revision der Lehre vom Besitz‘ (1867)197 und zuletzt in ,Scherz und Ernst in der Jurisprudenz‘ (1884) gegen die formalistische Richtung der juristischen Methode.198 Ganz allgemein kritisierte er den „begrifflichen Apriorismus in der Jurisprudenz“ 199, das „blinde Vertrauen auf die immanente Begrifflichkeit eines geschlossenen Systems von Regeln“.200 Damit richtete er sich gegen die Beschränkung auf eine Ordnung von Rechtsbegriffen, ohne die Besonderheiten der Rechtspraxis zu berücksichtigen. Wenn er hier grundlegend die Lebensfremdheit der Begriffe und die fehlende Berücksichtigung von praktischen Bedürfnissen beanstandete, war das erneut Ausdruck seiner zeitlebens vertretenden Gegenwartswissenschaft. Die Anfänge seiner Abkehr von der „Begriffsjurisprudenz“ waren jedoch schon im Jahr 1857 in seinem Vorwurf gegenüber der Historischen Rechtsschule, jene würde einen „civilistischen Mumien-Cultus“ 201 betreiben, vorhanden. In die gleiche Richtung zielt auch sein Angriff gegen den „orthodoxen Romanismus“ 202, das 195
Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 337. Haferkamp, „Begriffsjurisprudenz“, EzR, 2011, Rn. 1, online abgerufen am 30.07. 2020. Vgl. ferner eingehend ders., Begriffsjurisprudenz, 2010, S. 79 ff.; ders., Puchta, 2004, S. 26 ff. 197 So Jhering, Grund des Besitzschutzes, 2. Aufl., 1869, S. 173 f.: „Ueberall Limitationen, Unbestimmtheiten, Widersprüche, ein beständiges dialektisches Sichdrehen und Winden, eine Casuistik und Dialektik des Augenblicks, welche bei dem einzelnen Fall hinterher noch mit wesentlichen Momenten herausrückt, von denen bei der Begründung und Fassung des Begriffs selber gar nicht die Rede war, eine Dialektik ,für Alles‘, welche stets beweist, was gerade Noth thut und im folgenden Moment vergessen hat, was sie eben vorher gesagt hat.“ 198 Jhering, Besitzwille, 1889, Vorrede, S. X. 199 Jhering, Besitzwille, 1889, Vorrede, S. X. 200 Meder, Mißverstehen und Verstehen, 2004 S. 2. 201 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 31. 202 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 38: „Die Schrift entscheidet! Was in der Schrift steht, gilt, und was nicht darin steht, gilt nicht! Das ist das Glaubensbekenntnis in seiner ganzen Nacktheit und Schärfe.“ 196
I. Jhering und die Historische Rechtsschule
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Beharren der Historischen Rechtsschule auf den veralteten Ansätzen der Rechtsinstitute des Römischen Rechts. Bereits im Jahr 1859 gestand sich Jhering bei der Entscheidung eines Rechtsfalles ein, dass es ein wesentlicher Unterscheid sei, einen „Rechtssatz, den man in den Quellen zu lesen oder aus der Consequenz zu entnehmen glaubt, [. . .] sich rein theoretisch mit ihm abzufinden oder aber ihn zur Anwendung zu bringen“.203 Seine Auffassung von der Lebensfremdheit der juristischen Methode steigerte sich zunehmend zu einem satirischen Hohn gegen die Begriffsjurisprudenz, dem er insbesondere in seinen ,Vertrauliche[n] Briefe[n] über die heutige Jurisprudenz. Von einem Unbekannten‘, ursprünglich anonym erschienen in der Preußischen Gerichtszeitung (1860–1866) und namentlich veröffentlicht im Jahr 1884 in seiner Schrift ,Scherz und Ernst in der Jurisprudenz‘, Ausdruck verlieh. Seine Persiflage richtete sich vor allem gegen die „civilistische Konstruktion“ und die spekulative Methode in der Jurisprudenz, die stumpf unter den Gesetzestext subsumiert und seine praktische Anwendbarkeit verkennt.204 „Eine juristische Schrift, welche die praktische Anwendbarkeit der ganzen Materie grundsätzlich ignorirt“, sei gleichzusetzen mit der „Konstruktion einer kunstvollen Uhr, welche nicht aufs Gehen berechnet ist! Eben darin liegt das Übel, daß die Jurisprudenz zu einer Zoologie hinaufgeschraubt wird, während sie doch die Kunst ist, mit dem civilistischen Zugvieh zu pflügen“.205 Ferner polemisierte Jhering im ,Geist III 1‘ (1865) gegen den „ganze[n] Cultus des Logischen, der die Jurisprudenz zu einer Mathematik des Rechts hinaufzuschreiben gedenkt“.206 Damit lehnte sich Jhering gegen die Überzeugung der gegenwärtigen Rechtswissenschaft von dem „unmittelbaren logischen Dasein eines Begriffs“ auf.207 Damit prangerte er auch hier die bloße Subsumtion unter den 203
Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 450. Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, Erster Brief, S. 6 ff.; vgl. insb. ebd., S. 7: „Wer sich heute nicht auf die ,civilistische Konstruktion‘ versteht, der möge nur zusehen, wie er durch die Welt kommt; sowenig wie eine Dame heutzutage ohne Krinoline zu erscheinen wagt, sowenig ein moderner Civilist ohne Konstruktion.“; Zweiter Brief, S. 17 ff., 34: „[. . .] die Spekulation fängt da an, wo der gesunde Menschenverstand aufhört; um sich ihr widmen zu dürfen, muß man entweder nie Verstand gehabt oder ihn verloren haben.“ 205 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 9; vgl. auch ders., Geist III 1, 1865, S. 10 f. 206 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 302 f.: Diese Zeilen Jherings in seinem die vollständige Abkehr von der Historischen Rechtsschule kennzeichnenden letzten Geist-Band stehen stellvertretend für Jherings Auffassung von den als Reflexionen des Lebens gebildeten Rechtsbegriffen. Vgl. dazu ferner ders., Geist III 1, 2. Aufl., 1871, S. 178, S. 312; dazu auch Stephanitz, Exakte Wissenschaft, 1970, S. 181 f. 207 Jhering, Geist, III 1, 1865, S. 305; später ders., Geist II 2, 2. Aufl., 1869, S. 345 Fn. 506a: „Daß die Befriedigung, welche die Jurisprudenz dem bloßen Verstande gewährt, nicht das Höchste ist, ist mir je länger je mehr klar geworden, und ich habe die Spuren der Ueberschätzung der logischen Seite des Rechts, welche die erste Auflage in 204
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A. Der Jurist Jhering
bloßen Wortlaut, den fehlenden Bezug der Jurisprudenz zur Lebenswirklichkeit an.208 In ,Der juristische Begriffshimmel. Ein Phantasiebild‘, erstmals abgedruckt in seiner satirischen Schrift ,Scherz und Ernst‘, erreicht Jherings Kritik an der Begriffsjurisprudenz ihren Höhenpunkt.209 Er konstruierte ein Phantasiebild von einem fiktiven Himmelreich der Juristen, geteilt in den Himmel der Rechtsphilosophen, ein eigenes Jenseits für die Praktiker wie auf der Erde mit „alle[n] Bedingungen des irdischen Daseins“ und den „juristischen Begriffshimmel“ der Theoretiker. Spöttisch beschrieb er den Himmel der Theoretiker voll tiefer Finsternis und ohne atmosphärische Luft210: „In der Begriffswelt, die Du hier vor Dir hast, gibt es kein Leben in eurem Sinne, es ist das Reich der abstrakten Gedanken und Begriffe, die unabhängig von der realen Welt, auf dem Wege der logischen generatio aequi voca, sich aus sich selber heraus gebildet haben, und die darum jede Berührung mit der irdischen Welt scheuen.“ 211
Die Theoretiker würden nach Jhering logisch-konstruierende Phantasiewerkzeuge wie die „Haarspaltemaschine“, den „Fiktions- und Konstruktionsapparat“, die „dialektisch-hydraulische Interpretationspresse“ oder das „anatomisch-pathologische Begriffskabinett“ ohne jeglichen praktischen Bezug bei ihrer Anwendung auf das Recht einsetzen.212 „Die Begriffe, die Du hier siehst, sind, und damit ist alles gesagt. Sie sind absolute Wahrheiten, – sie sind von jeher gewesen – sie werden ewig sein. Nach ihrem Wesen und Warum zu fragen ist um nichts besser, als zu fragen: warum zweimal zwei vier
sich trug, möglichst zu tilgen gesucht. Ueber dem bloßen Formalen der juristischen Logik steht als Höheres und Höchstes die substantielle Idee der Gerechtigkeit und Sittlichkeit [. . .].“ Ferner ders., Grund des Besitzschutzes, 2. Aufl., 1869, S. 130 f. 208 Jhering, Grenzen des Eigenthumsschutzes, 1878, S. 311; Klemann, Jhering, 1989, S. 210 f.; Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 80 f. 209 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 247–333; ferner ders., ,Wieder auf Erden‘, in ebd., S. 357: „Mehr und mehr verliert die Theorie das Leben aus dem Auge, die geriert sich, als ob das Recht ihretwegen da sei, ein dankbares Objekt für das logische Denken, ein Zirkus für dialektisch- akrobatische Kunststücke.“ 210 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 249 ff.; so ebd., S. 251: „Die Sonne ist die Quelle alles Lebens, aber die Begriffe vertragen sich nicht mit dem Leben, sie haben eine Welt für sich nöthig, in der sie ganz für sich allein existieren, fern von jeglicher Berührung mit dem Leben.“ 211 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 253. 212 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 257 ff.; dagegen zum Praktiker, ebd., S. 314: „Anstatt die Begriffe und Ideen in ihrem absoluten, an keine historischen Bedingungen geknüpften Dasein, ihrer logischen oder rechtsphilosophischen Autarkie oder Aseität [Aus-sich-sein] anzuerkennen, hast Du stets die törichte Frage nach ihrem historischen oder praktischen Warum getan, womit Du sie entwürdigst und den Beweis geliefert hast, daß Dir der Sinn und das Verständnis für den Idealismus des Rechts abgeht. Durch diese eine Frage nach dem Warum hast Du Dir den Zutritt sowohl zu unserm Himmel als zu dem der Rechtsphilosophen versperrt. Dir bleibt nur noch der Himmel der Praktiker übrig.“
I. Jhering und die Historische Rechtsschule
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sei. Es ist vier. Mit diesem Ist ist alles gesagt, einen Grund dafür gibt es nicht. Ebenso verhält es sich mit den Begriffen, sie ruhen als absolute Wahrheiten in sich selber, einen Grund für sie gibt es nicht.“ 213
In seiner satirischen Schrift ,Wieder auf Erden. Wie soll es besser werden?‘ bestärkt Jhering abermals seinen Standpunkt,214 „als ob die Begriffe bloß, weil sie einmal da sind, die Geltung unumstößlicher logischer Wahrheiten beanspruchen könnten“.215 An dieser Stelle verdeutlichte er, dass jede Jurisprudenz mit Begriffsjurisprudenz gleichzusetzen sei, da jede Jurisprudenz mit Begriffen arbeite. Wenn Jhering den Zusatz dennoch gebrauchte, dann meinte er damit „jene Verirrung [. . .], welche den praktischen Endzweck und die Bedingung der Anwendbarkeit des Rechts außer Acht lassend, in demselben nur einen Gegenstand erblickt, an dem das sich selber überlassen, seinen Reiz und Zweck in sich selber tragende logische Denken sich erproben kann, – eine Arena für logische Evolutionen, für die Gymnastik des Geistes, in der dem größten Denkvirtuosen die Palme zufällt.“ 216
Im Jahr 1889 offenbarte Jhering in seiner Vorrede zu ,Besitzwille‘ schließlich, dass er früher selbst noch Anhänger der formalistischen Auffassung war, aber in der Mitte seines Lebens „allmählich zur Erkenntnis ihrer Verkehrtheit gelangt“ sei und ihr seit diesem Zeitpunkt konsequent widersprach: „Dem begrifflichen Apriorismus in der Jurisprudenz glaubte ich nicht besser ein Ende machen zu können, als indem ich den Nachweis erbrachte, daß der Zweckgedanke der alleinige Schöpfer des Rechts ist, und die Herrschaft, welche sich die Logik im Recht anmaßt, eine erschlichene ist.“ 217
Zudem entwarf er ein „Sündenregister“ der Begriffsjurisprudenz, welches die Eckpfeiler seiner Kritik und methodischen Entwicklungen der letzten Jahre verdeutlichten sollte.218 In seiner posthum erschienen Entwicklungsgeschichte resümierte er: „Wer aus der Geschichte den Unfug kennt, den die Principien angerichtet haben und unter unseren Augen noch täglich anrichten, wird begreifen, daß eine Zeit, die ihrer entbehrte, und sich bloß auf die gesunde, d. i. lediglich den praktischen Zwecken sich zukehrenden Vernunft angewiesen sah, dasjenige, was ihr not that, besser zu beschaf-
213
Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 287. Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 337: „Es ist mir bitterer Ernst mit dem Angriff, den ich gegen die ,Begriffsjurispruden‘ d. i. die Scholastik in der heutigen romanistischen Wissenschaft unternommen habe, und wenn ich mit bei demselben der Waffen des Scherzes, Humors, Spottes und der Satire bedient habe, so geschah es, weil ich sie für die wirksamsten heilt.“ 215 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 344. 216 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 347. 217 Jhering, Besitzwille, 1889, Vorrede, S. IX–X. 218 Jhering, Besitzwille, 1889, S. 536 f.; hierzu auch Mecke, Jhering, 2018, S. 19; ders., Puchta, 2009, S. 19. 214
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A. Der Jurist Jhering fen im stande war, als eine hochentwickelte es vermag, deren geistiges Auge durch Principien umfort ist.“ 219
Trotzdem ist klarzustellen, dass Jhering den Wert der Rechtsbegriffe für die Jurisprudenz zu keinem Zeitpunkt angefochten hatte220: „Wenn auf irgend einem Gebiet das begriffliche und begriffsbildende und in strenger Konsequenz fortschreitende Denken am Platz ist, so ist es auf dem Gebiet des Rechts, und gerade auf dem des römischen hat es ja seine glänzenden Leistungen aufzuweisen und seinen praktischen Wert dargetan.“ 221
Jhering missbilligte den Gebrauch von Rechtsbegriffen nicht per se. Er kritisierte vielmehr ihre fehlerhafte Anwendung, ihren fehlenden Lebenswirklichkeitsbezug.222 Nach ihm sei das Begriffsvermögen nicht fähig, die realen Schöpfungen des Lebens zu verstehen und ihre wahre Natur, ihren Wert aus den Rechtsbegriffen zu ziehen223, solange die Rechtslogik „nicht mehr [. . .] des Lebens, sondern das Leben der Rechtslogik wegen da“ 224 sei.225 Jhering beanstandete, „die Begriffe als Gegenstand primärer Erkenntnis anzusehen“.226 Die Rechtsbegriffe sollten vielmehr realistischer verstanden und ihre soziale Dimension hervorgehoben werden.227 Der Ausdruck „Prinzipiengläubigkeit“ entspreche nach Behrends aus diesem Grund weitaus mehr dem Inhalt seiner Kritik.228
219
Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 18 f. Mecke, Puchta, 2009, S. 20; ders., Jhering, 2018, S. 19; Bekker, Ernst und Scherz, 1892, S. 123; Henkel, Begriffsjurisprudenz, 2004, S. 15. 221 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 362; auch ebd., Anm. S. 9 f.: „Die Betonung des hohen Werts der formal technischen Seite des Rechts [. . .] verträgt sich vollkommen mit der Erkenntnis, an der es mir nie gefehlt hat, daß das Endziel der Jurisprudenz und damit aller theoretisch-dogmatischen Untersuchungen ein praktisches ist, und ich glaube dies bei meinen eigenen Arbeiten nie außer acht gelassen zu haben; dogmatischen Untersuchungen, bei denen nicht irgend ein brauchbares praktisches Ergebnis abfällt, würden für mich nicht die mindeste Anziehungskraft haben. [. . .] Daß ich mir den dankbaren Stoff zur Persiflage, den die heutige Begriffsjurisprudenz mir darbot, in dieser Schrift nicht habe entgehen lassen, wird der Leser bald merken.“ 222 Henkel, Begriffsjurisprudenz, 2004, S. 14. 223 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 344 ff. 224 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 363. 225 Henkel, Begriffsjurisprudenz, 2004, S. 16 f. 226 Henkel, Begriffsjurisprudenz, 2004, S. 17. 227 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 347; Behrends, Zweck, 1987, S. 249; Horn, Einführung, 2016, 6. Aufl., S. 105. 228 Behrends, Zweck, 1987, S. 256. Jhering blieb entgegen früherer Deutungen [u. a. bei Landsberg, Geschichte III/2, 1910, S. 807 ff., 821 ff.; Wieacker, Jhering, 1968, S. 33 ff.; Larenz, Jhering, 1970, S. 136 ff., 140 f.; Wilhelm, Methodenlehre, 1958, S. 122; Tripp, Positivismus, 1983, S. 264 f.] zeitlebens „Romanist, indem er sich die begrifflichpragmatische Seite des römischen Rechts erschließt und sich von der prinzipiengläubigen Seite, die im römischen Recht als die ältere von zwei mächtigen Traditionen auch enthalten ist, abkehrt“. [Behrends, Zweck, 1987, S. 256]; siehe auch ders., Rechtsgefühl, 1986, S. 165 ff.; Henkel, Begriffsjurisprudenz, 2004, S. 14 f. 220
I. Jhering und die Historische Rechtsschule
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Letztlich richtete sich seine Kritik also nicht gegen die Konstruktion als solche, sondern gegen das Konstruieren ohne Rücksicht auf die praktischen Bedürfnisse: „Was sich nicht realisirt, ist kein Recht und umgekehrt, was diese Funktion ausübt, ist Recht.“ 229
,Realisieren‘ bedeutete den Bezug der rechtlichen Begriffe zum Leben.230 Jhering verfolgte durch die Betonung dieses Praxisbezugs die „Entmythologisierung der Rechtsbegriffe“ 231: „Diesen Bann zu brechen, das Historische, Römische, das durch Zweckmäßigkeitsrücksichten oder andere Einflüsse Bedingte in diesen Begriffen nachzuweisen und damit einen Maßstab zu gewinnen für ihren Werth, ist eine der Hauptaufgaben.“ 232
Er beanspruchte, „dem menschlichen Geist zurückerobern, was sein eigenes Werk ist“.233 Die Rechtsbegriffe sollen nach Jherings Auffassung allgemeingültige Ordnungsformen menschlicher Schöpfung darstellen und als Instrument von Zweckbestimmungen den Ansprüchen des Lebens entsprechend wandelbar und anpassungsfähig sein.234 Das Recht sollte als Spiegelung von rechtlichen Bedürfnissen und treibende Kraft des Lebens gedacht werden.235 In diesem Sinne formulierte es Jhering in seinem letzten Band seines Monumentalwerks ,Geist‘: „Geblendet durch den Glanz des Logischen, [. . .] wird das Wahrnehmungsvermögen des Auges, wenn nicht die frische Luft des Lebens es wieder kräftigt, nur zu leicht für alles andere abgestumpft; statt der wirklichen Welt, in der die realen Mächte des Lebens regieren, erblickt es ausschließlich nur noch die Fata Morgana einer Welt, in der der abstracte Gedanke das Scepter führt.“ 236
Auch Jherings Abkehr von der herrschenden Willenstheorie und Hinwendung zu seiner Interessentheorie des subjektiven Rechts ist Ausdruck seiner Kernkritik am fehlenden Lebenswirklichkeitsbezug der Historischen Rechtsschule. Sein zeitlebens praktischer Bezug zeigt sich auch darin, dass sich nach ihm Recht stets nur durch die Befriedigung der lebensnotwendigen Bedürfnisse des Berech229
Jhering, Geist I, 1852, S. 41. Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl., 1963, S. 637. 231 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 81. 232 Jhering, Geist, III 1, 1865, S. 299. Nach Jhering sei der ,Zweck im Recht‘ „nur darauf berechnet, die praktische Auffassung des Rechts der formal juristischen und aprioristisch-philosophischen gegenüber der Geltung zu bringen, indem es sich zur Aufgabe gesetzt hat, überall die praktischen Motive der Rechtsinstitute und Rechtssätze aufzudecken“ [ders., Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 362; auch ebd., S. 9 f. Anm.]. 233 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 298. 234 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 81; ders., Antrittsvorlesung, 1998, S. 125; Heck, Rechtsgewinnung, 1912, S. 3. 235 Löhlein, Rechtswissenschaft, 1954, S. 73, 77; Pawlowski, Gesetzesauslegung, 1961, S. 227 f.; Heck, Rechtsgewinnung, 1912, S. 5 f.; ders., Gesetzesauslegung, 1914, S. 22; ders., Rechtsphilosophie, 1937, S. 183. 236 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 300 f. 230
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A. Der Jurist Jhering
tigten bilden kann. Nach Jhering liege der Zweck des Rechts nicht darin, „die Idee des abstracten ,Rechtswillens‘ zu verwirklichen“, sondern den „Interessen, Bedürfnissen, Zwecken des Verkehrs zu dienen“.237 Die Willenstheorie der Historischen Rechtsschule verstand das subjektive Recht als „eine von der Rechtsordnung verliehene Willensmacht oder Willensherrschaft“ 238, dh. als „einen von der Rechtsordnung geschützten Handlungsspielraum“ des Einzelnen.239 Jhering neu entwickelte Theorie des subjektiven Rechts lässt sich in der Angleichung an seine Zwecktheorie in den 1880er Jahren in der vierten Auflage seines Geist-Bandes (1888) nachweisen.240 Er verknüpfte mit dem subjektiven Rechtsbegriff erstmals die Frage nach dem Warum der Willensfreiheit. Zur Verdeutlichung verwendete Jhering den bildlichen Vergleich des Willens mit dem lenkenden Steuermann eines Schiffes. Wie der Wille beim Recht habe auch der Steuermann die Willensherrschaft über das Schiff. Oberstes Ziel sei dabei das Erreichen des sicheren Hafens. Die Willensherrschaft sei ihm zu einem gewissen 237 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 316. Dies lässt sich bahnbrechend durch den Vergleich der verschiedenen Bände und Auflagen seines Lebenswerkes ,Geist‘ nachweisen: In dem Kapitel der „Allgemeinen Theorie der Rechte“ seines letzten Geist-Bandes legte Jhering innerhalb seiner Ausführungen zu dem „Begriff des Rechts“ (§§ 60, 61) „eine von der herrschenden abweichende[n] Begriffsbestimmung des Rechts im subjectiven Sinn“ vor, indem er „an Stelle des Willens, auf den jene den Begriff desselben gründete, das Interesse setzte“. [Jhering, Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. IX] Während er in ,Geist II 1‘ (1854) das Rechtsverhältnis noch im Einklang mit den Grundsätzen der Historischen Rechtsschule als Herrschafts- oder Machtverhältnis einordnete und im Recht ein konkretes Stück Willensmacht sah, definierte er in ,Geist III 1‘ (1865) das subjektive Recht als staatlich geschütztes Interesse [ders., Geist III 1, 1865, S. 327]. An die Stelle der Willensmacht trat das Interesse, das Zweckmäßige, Savignys Willenstheorie verwarf Jhering [ders., Geist III 1, 2. Aufl., 1871, S. 320, 327; bereits ders., Geist III 1, 1865, S. 310, 317]. Bald erkannte Jhering, dass das subjektive Recht stets nur unter der Voraussetzung eines bestimmten Zweckes einräumt werden und aus seiner Übereinstimmung mit dem objektiven Recht geschlossen werden könne. Dies führte Jhering schließlich dazu, sein Lebenswerk ,Geist‘ zugunsten des neuen ,Zweck im Recht‘ unvollendet zu lassen, um sich dem Recht im objektiven Sinn, einer allgemeinen Theorie des Rechts zuzuwenden. Jhering, Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. VII f., ferner ders., Geist III 1, 2. Aufl., 1871, S. 326, Fn. 442a. Vertiefend Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 343 f.; bereits Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 81 f. 238 Windscheid, Pandektenrecht I, 1862, S. 156. Ferner bezeichnete Savigny die Willensherrschaft als eine „der einzelnen Person zustehende Macht: ein Gebiet, worin ihr Wille herrscht, und mit unsrer Einstimmung herrscht“ [ders., System, Bd. 1, 1840, S. 7]. Nach Jhering habe auch Puchta beharrlich diese Ansicht vertreten [Jhering, Geist III 1, 1865, S. 310 Fn. 438]: „Als Subjecte eines solchen in der Potenz gedachten Willens heißen die Menschen Personen [. . .]. Persönlichkeit ist also die subjective Möglichkeit eines rechtlichen Willens, einer rechtlichen Macht.“ [Puchta, Pandekten, 4. Aufl., 1848, S. 34]. 239 Wagner, Jherings Theorie des subjektiven Rechts, 1993, S. 322: „Die Funktion des subjektiven Rechts ist damit ganz auf die Verbürgerung individueller Freiheit ausgerichtet.“ Vgl. auch Coing, Gesammelte Aufsätze, 1982, S. 258 f. 240 Vgl. insbesondere Jhering, Geist III 1, 4. Aufl., 1888, S. 327–350. Diese Modifikation kündigte Jhering auch im Vorwort zur 4. Aufl. an, ebd., S. IX; so auch Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 343.
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Zweck auferlegt. Gleichermaßen hat das Recht, wie das gesteuerte Schiff, die Aufgabe, menschliche Bedürfnisse und Interessen zu befriedigen, nicht gänzlich Willensfreiheit zu gewähren. Grundlegend sei letztlich die Erzielung eines Nutzens für das berechtigte Individuum.241 Dabei sah Jhering in Opposition zu den Anhängern der Historischen Rechtsschule das Interesse des Rechtsanspruchsinhabers als das Maß der individuellen Wertschätzung; das Interesse im subjektiven Sinn sei „das Gefühl der Lebensbedingtheit“. 242 Dieses substantielle Element des subjektiven Rechts ergänzt Jhering um eine formale: es bedürfte daneben des Schutzes durch die Rechtsordnung. Dies führt Jhering schließlich zu seiner Definition des subjektiven Rechts als „rechtlich geschütze Interessen“.243 Auch Jherings Theorie vom subjektiven Recht lag die grundlegende Auffassung von den Rechtsverhältnissen als tatsächliche Lebensverhältnisse zu Grunde.244 Die sogenannte „Prinzipiengläubigkeit“ der Historischen Rechtsschule, ihr Festhalten an einem System von Rechtsbegriffen ohne Rücksicht auf die praktischen Bedürfnisse, führte Jhering auf die vorherrschende Distanz von Theorie und Praxis.245 4. Forderung nach vereinter Tätigkeit von Theorie und Praxis „Woher nun eine solche Verirrung in einer so praktischen Wissenschaft, wie die Jurisprudenz es ist? Niemand wird um die Antwort verlegen sein: sie hängt zusammen mit dem Gegensatz von Theorie und Praxis [. . .].“ 246
Jhering strebte zeitlebens nach einer vereinten Tätigkeit von Theorie und Praxis. Damit opponierte er gleichzeitig gegen Savigny: „Sein [Savignys] Glaube, durch quellenmäßige Korrektheit der Theorie dem Übel der Trennung zwischen Theorie und Praxis zu steuern, erinnert mich an die junge unerfahrene Hausfrau, welche ihrem Manne weiche Eier kochen sollte und nicht begreifen konnte, daß die Eier trotz allen Kochens nicht weich werden wollten.“ 247
Obwohl Savigny selbst schon eine Entfremdung zwischen Theorie und Praxis erkannt hatte, scheiterte es nach Jhering dennoch eklatant an der Durchsetzung
241
Jhering, Geist III 1, 4. Aufl., 1888, S. 331 f. Ferner ebd., S. 350; dazu vertiefend Wagner, Jherings Theorie des subjektiven Rechts, 1993, S. 322 f. 242 Jhering, Gäubahn-Rechtsgutachten, 1880, S. 96; ders., Besitzwille, 1889 S. 25 Fn. 1: „Interesse ist das Gefühl der Bedingtheit unseres Daseins durch etwas außer uns: Personen, Sachen, Zustände, Ereignisse.“ Dazu insb. Schäfer, Jherings Körperschaftstheorie, 1949, S. 38. 243 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 327 ff. Vertiefend insb. Wagner, Jherings Theorie des subjektiven Rechts, 1993, S. 323 ff. 244 Schäfer, Jherings Körperschaftstheorie, 1949, S. 34 f. 245 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 354, 38 f. 246 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 347 f. 247 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 327.
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ihrer wechselseitigen Zusammenarbeit.248 Die Hauptgründe dafür lagen nach Jhering in der Beschränkung des Theoretikers auf seinen Lehrberuf und im fehlenden Praxisbezug bei der Interpretation und Anwendung des römischen Rechts.249 Der Gegensatz von Theorie und Praxis habe sich sogar während ihres Wirkens noch verstärkt.250 Insbesondere in seinem Wiener Vortrag ,Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft‘ (1868) betonte Jhering deutlich die Notwendigkeit ihres Zusammenspiels.251 Die Fertigkeit des Rechtspraktikers bestehe nach Jhering in der Diagnose des Einzelfalles.252 Die Stärke des Rechtstheoretikers sah er wiederum im Vermögen der Abstraktion.253 Eine Zusammenarbeit könne nach Jhering nur funktionieren, wenn man direkte Rollen verteilt. In diesem Sinne sollte die Praxis für fortschreitendes Handeln sorgen,254 während die Theorie derselben nachfolgen und die gewonnenen Erkenntnisse verwerten sollte. Von der Theorie ver248 Savigny, System, Bd. 1, 1840, S. XXV; Jhering, Nekrolog Savigny, 1861, S. 367; bereits ders., Unsere Aufgabe, 1857, S. 24: „Man hätte glauben können, als handle es sich fortan nur um Geschichte und Kritik des römischen Rechts, nicht aber um eine practische Wissenschaft [. . .] Während nur der wahre Gewinn der von Savigny angebahnten Reform gerade in der Annäherung der Wissenschaft und des Lebens hätte bestehen sollen, schien die große Mehrzahl seiner Anhänger umgekehrt den Aufschwung der Wissenschaft durch eine Entfernung derselben vom Leben bezeichnen zu wollen, und Savigny selbst fand sich später gedrungen, die Entfremdung, die zwischen beiden eingetreten sei, öffentlich anzuerkennen und zu beklagen.“ 249 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 358; vgl. ferner Hebeisen, Recht und Staat I, 2004, S. 5; Haverkate, Gewißheitsverluste, 1977, S. 112; Mährlein, Volksgeist und Recht, 2000, S. 138. 250 Jhering, Nekrolog Savigny, 1861, S. 367 f.: „Eine Erscheinung, die in diesem Umfang er aus der Zeit der historischen Schule datirt. Man müßte blind sein, wenn man läugnen wollte, daß die Schuld auf Seiten der Theorie liegt, aber ebenso blind, um zu übersehen, daß der Fortschritt, den sie gemacht hat, und der der Praxis in hohem Grade zu Gute kommt, mit einer vorübergehenden Vernachlässigung der unmittelbaren Interessen der letzteren nicht zu theuer erkauft worden ist.“; dazu Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 74; ferner Koschaker, Europa, 1966, S. 259. 251 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 80 ff. 252 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 85; ähnlich ders., Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 350. So stellte er schon in den 1850er Jahren fest: „So wenig ich den segensreichen Einfluß des practischen Bedürfnisses auf die Ausbildung der Wissenschaft verkenne, so sehr ich aus meiner eignen kleinen Erfahrung weiß, daß nicht selten ein Rechtsfall, indem er uns ein bisher nicht aufgeworfene Frage vorführt, uns neue Seiten des Verhältnisses erschließt und dadurch die Theorie wesentlich fördert, so kann ich es andererseits doch nicht genug hervorheben, daß die naturhistorische Behandlungsweise des Rechts der Wissenschaft es möglich macht, mit ihren Antworten den Fragen der Praxis voranzueilen, ihr also das demüthige Loos erspart, sich lediglich durch die Praxis zu neuen Entdeckungen anregen zu lassen, und so zu sagen, hinter ihr her zu hinken.“ [ders., Unsere Aufgabe, 1857, S. 18 f.]. 253 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 85; ähnlich ders., Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 350; ders., Unsere Aufgabe, 1857, S. 18 f. 254 Für Jhering galt der Praktiker als „Pionier des Rechtsfortschritts“ [ders., Jurisprudenz, 1868, S. 90].
I. Jhering und die Historische Rechtsschule
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langte er, widersprechende Einzelfallentscheidungen des Richters zur „Allgemeinheit des Begriffes“ 255 und gewissermaßen „die Praxis zur Form des Bewusstseins“ 256 zu erheben. Nach Jhering sollten Theorie und Praxis stets im lebendigen, wechselseitigen Verhältnis stehen, sich gegenseitig fördern.257 Der Reformfrage „Wie ist hier nun Wandel zu schaffen?“ 258 begegnete Jhering in der vierten Abteilung ,Wieder auf Erden. Wie soll es besser werden?‘ seiner Schrift ,Scherz und Ernst‘ aus dem Jahr 1884. Es handelte sich dabei um eine Ausbildungsreform, die es zum Ziel hatte, mehr Praxisnähe während der Juristenausbildung im römischen Recht herzustellen.259 Für ein optimales gegenseitiges Wechselwirken von Theorie und Praxis schlug Jhering die folgenden drei Mittel vor.260 Für eine verbesserte Ausbildung des Juristen forderte Jhering zunächst eine praktische Ausbildung des Theoretikers durch Absolvierung des Assessorexamens, die Voraussetzung für die Zulassung als Privatdozent für das römische Recht und Zivilrecht sein sollte.261 Das zweite Mittel war nach Jhering die Umstrukturierung des akademischen Rechtsstudiums. Jhering ging es vor allem um die Vervollkommnung der theoretischen Vorlesungen durch praktische Übungen, die sog. Pandekten- oder Civilpraktika262, welche als „Korrektiv gegen theoretische Einseitigkeit“ dienen sollten.263 Das dritte Mittel stellt nach Jhering die Reform des juristischen Examinationswesens dar. Dabei soll die Art des Examinierens und die Bildung der Examina255
Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 90 f. Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 91. 257 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 348. 258 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 363. „Es soll und muss anders werden mit unsrer romanistischen Theorie, in der bisherigen Weise kann es nicht so fortgehen, – sie muss ablassen von dem Wahn, als ob sie eine Mathematik des Rechts sei, die kein höheres Ziel kenne, als ein korrektes Rechnen mit Begriffen.“ [ebd., S. 341 f.]. 259 Haferkamp, Pandektistik und Gerichtspraxis, 2011, S. 203. 260 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 365 ff. 261 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 365. 262 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 366 f.; ders., Civilrechtsfälle, 7. Aufl., 1895, S. V: „[I]ch habe auch die mir obliegende Aufgabe, die Jugend in die Jurisprudenz einzuführen, nicht erfolgreicher lösen können geglaubt, als indem ich in meinen Vorlesungen dem casuistischen Element eine unausgesetzte Berücksichtigung schenkte [. . .] die des Pandekten-Praktikums.“ 263 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 366 f. Jhering sprach hier aus eigener Erfahrung: „Seit länger als vierzig Jahren halte ich ein solches Pandektenpraktikum, und ich nicht genug rühmen, wie sehr es mich gefördert hat; es ist mir dadurch zur zweiten Natur geworden, bei allen Rechtssätzen, Begriffen, Unterschieden mir ihre Anwendung an einem konkreten Fall zu veranschaulichen und die daran die Probe bestehen zu lassen, kurz das abstrakte Denken durch das kasuistische zu kontrollieren.“ Nach ihm sei es „ein anderes Ding [. . .], die Verantwortung für die logische Korrektheit, und ein anderes, die für die praktische Angemessenheit des Resultates zu übernehmen“. [a. a. O.]. 256
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tionskommissionen neu strukturiert werden.264 Der Examenskandidat sollte demnach nicht nur ein ausreichendes theoretisches Wissen, sondern auch die Fertigkeit der richtigen Anwendung vorweisen.265 Das bisher bloß schriftliche erste juristische Examen sollte durch ein längeres mündliches ersetzt werden. Ferner erforderte die Umsetzung der Verbindung von Theorie und Praxis nach Jhering die Umstrukturierung des Assessorexamens durch Abschaffung des theoretischen Aufgabenteils.266
II. Jherings rechtswissenschaftliche Methode „Der Drang des Lebens hat das Recht mit seinen Anstalten hervorgetrieben und unterhält dasselbe in unausgesetzter äußerer Wirklichkeit.“ 267
Jhering betrieb zeitlebens Rechtswissenschaft als Gegenwartswissenschaft.268 Der ununterbrochene Antrieb, den Bedürfnissen des Lebens zu genügen, durchzog sein gesamtes Rechtsdenken.269 Bereits anhand seiner frühesten, in der Literarischen Zeitung anonym veröffentlichten Aufsätze wurde nachgewiesen, dass er den „Ideen und Bestrebungen der Zeit“ 270 und dem Anteil der menschlichen Tatkraft271 an der Rechtsbildung seit den 1840er Jahren stets verhaftet war. Nach Jhering sei das Recht „dazu da, daß es sich verwirkliche“. „Die Verwirklichung“ sei „das Leben und die Wahrheit des Rechts [. . .] das Recht selbst.“ 272 Diese pragmatischen Überlegungen bilden die Grundlage seiner gegenseitig emanzipierten rechtshistorischen und – dogmatischen Methode des römischen Rechts.273 Denn solange man seiner bloßen Reproduktion nachgehe, könne man nicht zu 264
Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 368 ff., 379 ff. Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 368. 266 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 376. 267 Jhering, Geist I, 1852, S. 13. 268 Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 48 f. „[E]r selbst ist vielleicht das beste Beispiel eines Rechtshistorikers, der die Geschichte seines Faches zum großen Teil aus pragmatisch-gegenwartbezogenen Interessen betreibt und geschichtliche Erkenntnisse unbekümmert als Instrument aktueller sozialer, insbesondere rechtspolitischer Wirksamkeit benutzt.“ [a. a. O.]. 269 Jhering, Geist I, 1852, S. 40; auch später ders., Geist III 1, 1865, S. 9, 247 ff. Jhering war der Auffassung, dass sich „die Jurisprudenz [. . .] dem Drange des praktischen Lebens fügt und ihren geistigen Horizont um so viel erweitert, als das Bedürfniß des Verkehrs gebietet“ [a. a. O., S. 127]; ders., Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 365: „Ich bin der Überzeugung, daß nur derjenige das Recht der Vergangenheit begreifen kann, der das der Gegenwart versteht, d. h. der eine praktische Anschauung und ein Urteil über die Anforderungen des Lebens mitbringt.“; später ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 9 f. 270 Jhering, historische Schule III, LZ 1844, Sp. 422. 271 Jhering, historische Schule V, LZ 1844, Sp. 568; ders., Stellung der Jurisprudenz, LZ 1844, Sp. 103. 272 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 334, 353. 273 Vgl. eingehend bereits A. I. 1. ,Gegenseitige Emanzipation von Rechtsdogmatik und Rechtsgeschichte‘. 265
II. Jherings rechtswissenschaftliche Methode
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der Erkenntnis seines wahren Wesens gelangen;274 umgekehrt müssen die faktischen Lebensverhältnisse erforscht werden.275 So sei das letzte Ziel des Rechtshistorikers „die Aufdeckung des sachlichen Zusammenhangs in der Entwicklung“.276 Jhering wollte der Zeit einen Spiegel vorhalten, „aus dem sie erkennen kann, wie sie ist, und was ihr fehlt“.277 In Opposition zum bloßen geschichtlichen „Stoff“ 278 operierte er dabei mit Begriffen wie die „Bewegung“ 279, das „Dynamische“ 280, die „Kraft“ oder „Energie“ 281 als Ausdruck der wachsenden Bedeutung der Lebenswirklichkeit und der Naturwissenschaft in seinem Rechtsdenken. Vor allem wollte Jhering auf diese Weise die herrschende Vorstellung der Historischen Rechtsschule von einer bloßen Bekräftigung der überlieferten Rechtsprinzipien überwinden.282 Um 1850 standen die gemeinrechtliche Privatrechtswissenschaft und Rechtsprechung vor den neuesten Herausforderungen der Gegenwart, dem rasanten technischen und naturwissenschaftlichen sowie gesellschaftlichen Fortschritt und der damit verbundenen rapiden Entwicklung eines modernen Kapitalmarktes. Zudem fehlte es an einer nationalen Gesetzgebung.283 Das anbrechende Industriezeitalter war konfrontiert mit einer modernen, noch intransparenten Wirklichkeit; diese galt es zu untersuchen und „adäquate Dogmatisierungen“ zu finden.284 Ferner begann zeitgleich in den Wissenschaften die Philosophie, die bis dato die Bezeichnung „Wissenschaft aller Wissenschaften“ 285 trug, durch die Naturwissenschaften zurückgedrängt zu werden.286 Fortan wurde die von der empirischen Naturwissenschaft abgeleitete Methode „zum Ausweis für wahre Wissenschaftlichkeit“.287 274
Jhering, Geist I, 1852, S. 39; vgl. dazu Klemann, Jhering, 1989, S. 116. Jhering, Geist I, 1852, S. 50: „Wirklichkeit des Rechts“. 276 Jhering, Geist I, 1852, S. 67. 277 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 303; ders., Geist I, 1852, S. 21: „Je mehr es ihr gelingt, die substantiellen Bildungen des Lebens getreu zu formuliren um so ehr wird sie einem bloßen Spiegel des Rechts eine Quelle desselben“; vgl. Klemann, Jhering, 1989, S. 120. 278 Jhering, Geist I, 1852, S. 49. 279 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 360; ders., Geist I, 1852, S. 13. 280 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 9. 281 Jhering, Geist I, 1852, S. 160. 282 Savigny, Beruf, 1814, S. 32. 283 Coing, Europäisches Privatrecht II, 1989, S. 78 ff.; ferner Kuntze, Wendepunkt, 1856, S. 63, 15 f. m.w. N.; vgl. Schnabel, Deutsche Geschichte III, 1934, S. 410. 284 Viehweg, Rechtsdogmatik und Rechtszetetik, 1970, S. 216. 285 Puchta, Encyclopädie, 1825, S. 9. 286 Vgl. Mecke, Jhering, 2018, S. 443 mit Verweis auf Diemer, Natur- und Geisteswissenschaften, 1968, S. 204 ff.; Pleister, Persönlichkeit, 1982, S. 99 f. m.w. N.; Schnabel, Deutsche Geschichte III, 1934, S. 29 ff., 198 f., 224 f., 231 ff.; Brockmöller, Rechtstheorie, 1997, S. 163. 287 Vgl. Kirchmanns Abhandlung „Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ aus dem Jahre 1848. 275
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Anfang der 1850er Jahre bekannte sich auch Jhering zur Naturwissenschaft, was letztlich die Ablösung seines Rechtssystembegriffs durch die Methode der Rechtswissenschaft zur Folge hatte.288 Er erhob die Jurisprudenz auf die Stufe der „Naturwissenschaft auf geistigem Gebiet“.289 Dies war Ausdruck seiner Überwindung des „gläubigen Positivismus“ 290 der Historischen Rechtsschule.291 Hinsichtlich seiner rechtshistorischen Methode verlangte er deshalb die geschichtlichen Tatsachen nicht einfach als etwas Gegebenes zu akzeptieren, sondern das Streben nach „einer bewußten und berechneten juristischen Schöpfung [. . .] eines Kunstproductes des juristischen Geistes“ 292, während er die Rechtsbegriffe im rechtsdogmatischen Sinne als Resultat des spezifisch juristischen Denkens293 verstand. Insbesondere seine Zeit in Gießen (1852–1868) und seine Freundschaften mit dem Chemiker Liebig, dem Zoologen Leuckart, den PhysikoChemikern und Liebig-Schülern Buff und Kopp prägten ihn in seinem wachsenden Interesse für die Naturwissenschaft.294 Er forderte bald eine naturwissenschaftliche Untersuchung des römischen Rechts, worüber er seinem Freund Gerber schrieb: „Die Naturwissenschaft hat sich von dieser Verirrung und geistiger Sklaverei frei gemacht, für unsere Jurisprudenz steht die Zeit des Umschwunges bevor [. . .].“ 295
Im Folgenden werden die Eckpfeiler der sich in Abkehr von den Lehren der Historischen Rechtsschule gegenseitig emanzipierten und voneinander streng zu differenzierenden rechtshistorischen und -dogmatischen Methode Jherings darge-
288 Mecke, 2018, S. 442 ff.; Stephanitz, Exakte Wissenschaft, 1970, S. 147 f.; Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 50. 289 Jhering, Geist II 2, 2. Aufl., 1869, S. 345; 1. Aufl., S. 389: „Naturwissenschaft im Elemente des Geistes“; vgl. auch ders., Geist I, 1852, S. 13: „Die reale, objektive Schöpfung des Rechts, wie sie uns in der Gestaltung und Bewegung des Lebens und Verkehrs als verwirklicht erscheint, läßt sich als ein Organismus bezeichnen, und an dieses Bild des Organismus wollen wir unsere ganze Betrachtung anknüpfen. Indem wir dieses Bild benutzen, legen wir damit dem Recht die Eigenschaften eines Naturproduktes bei, also Einheit in der Vielheit, Individualität, Wachsthum von innen heraus [. . .].“ Vgl. dazu Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 49. Vgl. auch schon Kuntze, Wendepunkt, 1856, S. 2. 290 Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 22. 291 Auf diese Weise löste Jhering sich nach Schelsky vor allem von „der aprioristischen Naturrechtslehre der Aufklärung und der ideengeschichtlichen Auffassung des Rechts in der Tradition des philosophischen Idealismus“ [Schelsky, Jhering-Modell, S. 49]. 292 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 589; so auch Mecke, Jhering, 2018, S. 190 Fn. 874. 293 Jhering, Besitzwille, 1889, S. 133. 294 Stephanitz, Exakte Wissenschaft, S. 147 f.; Kindereit, CiC, 2001, S. 117. 1860 nahm Jhering an einem physikalisch-chemischen und meteorologischen Kolleg bei Kopp teil [Bericht von Jherings Sohn Hermann, in: Ehrenberg-Briefe, 1913, Anhang, S. 462 f.]. 295 Jhering, Brief an Gerber v. 17. Juli 1852, Ehrenberg-Briefe, S. 14.
II. Jherings rechtswissenschaftliche Methode
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stellt.296 Dabei gilt besonderes Augenmerk den wichtigsten Entwicklungen seines Rechtsdenkens und der immer noch aktuellen Umschwungsdebatte. 1. Rechtshistorische Methode Maßgebend forderte Jhering in dem ersten Band seines Werkes ,Geist‘ (1852), zunächst noch die Lehren der Historischen Rechtsschule weiterführend, „die verborgenen Triebfedern, die letzten Gründe, den geistigen Zusammenhang der gesamten Rechtsentwicklung zu ergründen“.297 Jhering ging es bei seiner produktiven rechtshistorischen Methode298 in erster Linie um die historische Rekonstruktion des römischen Rechts.299 Sein Ziel war es, die Rechtsgeschichte durch „historische Analogien“ oder aus „Rückschlüssen vom spätern aufs frühere Recht“ 300 mit gänzlicher wissenschaftlicher Autonomie „ihrer selbst willen“ zu schildern.301 Das bedeutete für Jhering, die das gesamte Rechtsleben beherrschenden Motive zu ermitteln.302 Vor allem aber wollte er mit dieser Rekonstruktion nachweisen, dass das gesamte Recht zu allen Zeiten „Menschenwerk“ ist.303 Das sollte Jhering bis an sein Lebensende beschäftigen. In diesem Sinne bekräftigte er zuletzt in seiner ,Entwicklungsgeschichte‘ fehlende Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ innerhalb der rechtshistorischen Methode: „Man erfährt, daß wie überall, so auch auf dem Gebiet des Rechts, die Geschichte sich in unausgesetzter Bewegung befindet, aber auf das Warum? erhält man keine Auskunft.“ 304
296 Vgl. A. I. 1. Zur „Unterscheidung zwischen der wissenschaftlichen Untersuchung der Geschichte des Rechts einerseits und der ,Dogmatik‘ des Rechts als der wissenschaftlichen ,Lehre des in einem Lande geltenden positiven Rechts‘ andererseits“ erstmals Mecke, Jhering, 2018, S. 75 f.; Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 47 f., 55. 297 Jhering, Geist I, 1852, S. 15 f. 298 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 3 f. Bereits ders., Geist I, 1852, S. 12. 299 Jhering, Jurisprudenz II, LZ 1845, Sp. 1446 [vgl. zur Verfasserschaft Jherings Mecke, Jhering, 2010, S. 51–107, 71]. 300 Jhering, Geist I, 1852, S. 89, 118; 2. Aufl., 1866, S. 120. Vgl. ferner ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 14. 301 Jhering, Geist I, 1852, S. 52 Fn. 27, S. 53 a. E. 302 Jhering, historische Schule III, LZ 1844, Sp. 422. In diesen Zeilen liegt bereits seine ganze Rechtslehre begründet. Später ders., Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 120: „d. h. uns bewußt zu werden, aus welchen Ideen und Anschauungen das Recht der historischen Zeit hervorgegangen ist [. . .]“. 303 Jhering, Geist I, 1852, S. 219. 304 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 4. Damit „ringe“ er „seit mehr als vierzig Jahren [. . .] ohne ihr völlig Herr geworden zu sein. Den ersten Ansatz dazu habe ich in meinem Geist des römischen Rechts gemacht, den zweiten unternehme ich jetzt.“ [a. a. O.]. Für Jhering stand also im Mittelpunkt seines Interesses, „warum es geworden“ ist [so Kunze, Universalrechtsgeschichte, 1991, S. 185 f.].
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Entgegen der herrschenden „romanistischen Jurisprudenz“ 305 bezweckte Jhering, die bestehenden (ideen)geschichtlichen Beziehungen und die historischen Ursachen zu entschlüsseln und darin keine bloß „metaphysische Frage“ 306 verstanden zu wissen.307 Dieser Erkenntnis lag Jherings Überzeugung zu Grunde, dass innerhalb der Geschichte des Rechts eine „Einheit sowohl im Nebeneinander als Hintereinander, in die Breite wie in die Länge Statt finde“ statt bloß aufzudecken, dass die Rechtsinstitute gleichzeitig dieselben Entwicklungsstufen bewältigen.308 Vor diesem Hintergrund appellierte er an die Rechtsgeschichte, sich unabhängig von modernen Eindrücken ganz in die Idee eines zurückliegenden Zeitraums zu versetzen und sich ein „zusammenhängendes und lebensvolles Bild“ anzueignen.309 Jhering widersprach demzufolge einer unhistorischen Übertragung der modernen Anschauungen auf die Vergangenheit.310 Unter der sog. „physiologischen“ 311 Betrachtung als der „Aufgabe des Historikers gegenüber dem Recht der Vergangenheit“ 312, verstand Jhering die Ermittlung einer Verbindung zwischen rechtshistorischer Realität und bestehendem Recht, die Zwecke und Bedürfnisse des Rechts einer bestimmten Zeit. Im Rahmen seiner entwickelten rechtshistorischen Methode wollte er als Reaktion auf die herrschende „deskriptive Methode“ 313 die für das Recht bedeutenden „realen Zustände dieses Volkes und dieser Zeit“ 314 aufschlüsseln. Jherings Ziel war die Erforschung der 305
Jhering, Geist I, 1852, S. 9. Vgl. Kunze, Universalrechtsgeschichte, 1991, S. 186. 307 Mecke, Jhering, 2018, S. 116. 308 Jhering, Geist I, 1852, S. 61; ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 5 f. 309 Jhering, historische Schule III, LZ 1844, Sp. 423. 310 Jhering, historische Schule I, LZ 1844, Sp. 198: „Eine [. . .] Wissenschaft, die vom Standpunkte der Gegenwart aus die Vergangenheit critisiren wollte, anstatt sich in sie zu versenken und sie mit ihrem eigenen Maaße zu messen“, sei „nicht im Stande die Vergangenheit zu erfassen.“; später ders., Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 247, 255: „Projection unserer heutigen Ideen in die Vergangenheit“; ders., Geist III 1, 1865, S. 65: „es bedarf erst eines künstlichen Sich-Einlebens in die Vergangenheit und ihre eigenthümlichen Zustände, um die Erscheinungen, die sie uns aufweist, wirklich zu verstehen“. 311 „Jeder Organismus“ mache nun nach Jhering „eine doppelte Betrachtung möglich, eine anatomische und eine physiologische; jene hat die Bestandtheile desselben und ihr Ineinandergreifen, also seine Structur, diese die Functionen desselben zum Gegenstand.“ [ders., Geist I, 1852, S. 13 f.]. 312 Jhering, Geist I, 1852, S. 39. 313 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 3; bereits ders., historische Schule III, LZ 1844, Sp. 422: „Die Methode nämlich, nach der man die Rechtsbildungen einer Periode ordnete, war eine äusserliche, [. . .] registrirende oder inventarisierende [Methode] [. . .] die äußeren historischen Ereignisse aufzuzählen“; Jhering, Geist II 2, 1858, S. 588: „im wesentlichen noch [. . .] descriptiven Charakter“; ders., Geist III 1, 1865, S. 299: „Die historische Jurisprudenz hält regelmäßig ihre Aufgabe für gelöst, wenn sie das Aeußere der historischen Erscheinung ermittelt hat.“ 314 Jhering, Geist I, 1852, S. 41: „Warum die Rechtssätze da sind, was sie sollen, wie sie durch das Leben ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt oder unterstützt worden u. s. w. – auf alle diese Fragen ertheilt uns nur das Leben selbst eine Antwort. [. . .] In den 306
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historischen Gründe und Umstände ihrer Entstehung.315 Mecke stellte jüngst heraus, dass Jhering bereits in seiner Geist-Periode in den 1850er Jahren und am Ende seines Lebens in der Einleitung zur Entwicklungsgeschichte eine „wissenschaftstheoretische Parallele zwischen der zeitgenössischen Wissenschaft der Rechtsgeschichte und den gegenwärtigen Naturwissenschaften“ zum Ausdruck brachte.316 Jhering forderte, die Inhalte der Rechtssätze „einer Kritik [zu] unterwerfen“ 317 und unrichtige Darstellungen rechtsgeschichtlicher Wirklichkeit zu korrigieren.318 Schließlich ging es Jhering um eine die „letzten Gründe“ offenbarende „wahrhafte Kritik des römischen Rechts“.319 Die Übertragung von Begriffen seiner juristisch-dogmatischen Konstruktionslehre320 auf die Inhalte seiner rechtshistorischen Methode verfälschen jedoch die Tatsache, dass sich das „Construiren“ auf Grundlage der Rechtsgeschichte stets „im Gewande der Vermuthung“ 321 verkörpern und nicht „von wirklichen [. . .] Productionen die Rede sein“ 322 könne.323 Die Idee einer Einheit von Wissen-
Zwecken und Bedürfnissen dieser bestimmten Zeit liegt der Grund, warum dieses Institut vorhanden ist oder diese bestimmte Gestalt trägt.“ 315 Jhering, historische Schule III, LZ 1844, Sp. 422; ferner ders., Geist I, 1852, S. 55; ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 31. 316 Mecke, 2018, S. 120 Anm. 519 mit Verweis auf Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 3: „Die meisten von ihnen befanden sich noch im Anfang unseres Jahrhunderts auf diesem niederen Standpunkt der Ermittelung des rein Äußerlichen, so kannten z. B. die Zoologie und Botanik kein höheres Ziel, als die Beschreibung der äußeren Erscheinung der Tiere und Pflanzen [. . .] ebenso wie der der deskriptiven Methode. Der Fortschritt, den sie inzwischen vollzogen haben, besteht in der Erhebung der Morphologie zur vergleichenden Anatomie, Entwicklungsgeschichte und Pflanzenphysiologie. Auf demselben rein deskriptiven Standpunkt befindet sich zur Zeit noch die römische Rechtsgeschichte.“ In diesem Sinne schon ders., Geist II 2, 1858, S. 588 f.: „Wie die Botanik vor gar nicht langer Zeit die natürlichen Pflanzen, so behandelt sie [die Rechtsgeschichte] die Pflanzen [. . .] kurz ihre Behandlungsweise trägt im wesentlichen noch den descriptiven Charakter.“ 317 Jhering, Geist I, 1852, S. 24 Fn. 11; ebd., S. 23: „Wenn der Blick der Nachwelt nicht weiter trüge, als der der Zeitgenossen, so wäre die Geschichte eine todte Wissenschaft und könnte sich darauf beschränken, für jede Periode die gleichzeitigen Darstellungen abdrucken zu lassen. Wie aber der Historiker diese Referate einer Kritik unterwirft und sie nur als Quellen für seine eigne Darstellung benutzt, so soll es auch der Rechtshistoriker mit den Formulirungen der Vergangenheit thun.“ 318 Jhering, Geist I, 1852, S. 23, 48. 319 Jhering, Geist I, 1852, S. 9. 320 Z. B.: „Combination“ [Jhering, historische Schule III, LZ 1844, Sp. 423]; „Operation“ [ders., Geist I, 1852, S. 18]; „Deduktion“ [ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 35]. 321 Jhering, Geist II 2, 1858, S. XVIII, Vorrede, S. 430. Vgl. auch ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 34: „im Gewande der Hypothese“. „Da muß denn die historische Kombination das ihrige thun [. . .] der historische Blick, das Divinationsvermögen, welches mit Hülfe der Phantasie die Vergangenheit im Geist heraufbeschwört und ihr die Antwort auf Fragen entlockt, auf welche die historische Überlieferung sie versagt.“ 322 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 7.
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schaft und Kunst sowie die Eigentümlichkeit der geschichtlichen Rekonstruktion durch geschichtliche „Combination[en]“ 324 fügen sich dabei in das Bild der vorherrschenden Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts.325 In Jherings Ausführungen, dass „das Recht irgend eines Volkes und irgend einer Zeit nicht begriffen und beurtheilt werden kann, wenn man es bloß von Seiten seiner anatomischen Structur, seiner logischen Durchbildung, kurz als Rechtssystem [in rechtsdogmatischer Hinsicht] erforschen und darstellen will“,326 wird einhergehend mit Mecke deutlich, dass Jhering zwischen dem rechtshistorischem Systembegriff und dem „Rechtssystem“ wie im vorliegenden Sinne im Rahmen seiner rechtsdogmatischen Methode327 differenzieren wollte.328 Auf diesen dogmatischen Teil seiner rechtswissenschaftlichen Methode soll im Folgenden näher eingegangen werden. 2. Rechtsdogmatische Methode – „Die höhere Jurisprudenz oder die naturhistorische Methode“ „Die juristische Methode ist nicht etwas von außen ins Recht Hineingetragenes, sondern die mit innerer Nothwendigkeit durch das Recht selbst gesetzte einzige Art und Weise einer sicheren praktischen Beherrschung des Rechts.“ 329 323 Mecke, Jhering, 2018, S. 131: „allenfalls im Hinblick auf rechtshistorischen Erkenntniszuwachs“. 324 Jhering, Geist I, 1852, S. 24 Fn. 11. 325 Mecke, Jhering, 2018, S. 130 Fn. 578 mit Verweis auf Hardtwig, Historie, 1978, S. 19 f. 326 Jhering, Geist I, 1852, S. 47, 50; ferner ders., Geist II 1, 1854, S. 8. Nach Mecke sollte Jhering in seiner Spätzeit „nur noch in diesem rechtsdogmatisch pandektistischen Sinne vom ,System‘ sprechen, während er das System im Sinne einer bestimmten entwicklungsgeschichtlichen Phase der historischen Rechtswirklichkeit nun [. . .] nur noch als ,historischen Zusammenhang‘ des Rechts bezeichnete“ [Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 32] [Mecke, Jhering, 2018, S. 130]. 327 Begriffen als „Rechtssätze, Rechtsbegriffe, Rechtsinstitute“ einer Rechtsordnung [Jhering, Geist I, 1852, S. 12]. 328 Dies wird in der Literatur vielfach fehlinterpretiert bzw. ganz übersehen. Vgl. dazu Mecke, Jhering, 2018, S. 130 f. m.w. N., davon insb.: Losano, Konstruktionslehre, 1970, S. 149 f.; ders., Studien, 1984, S. 122 f. und Fikentscher, Methoden,1976, S. 194 sowie Fikentscher/Himmelmann, Iherings Einfluß, 1995, S. 106; Kunze, Forschungsbericht, 1995, S. 141 f. 329 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 324; ebd., S. 446: „Der juristische Instinkt, die glückliche Organisation des römischen Rechtsgefühls, die bildende Kraft des Verkehrs u. s. w. sind Factoren, die ebenfalls ihren Anteil hatten [. . .] Im Wechselverkehr mit dem Volk und Leben gab und nahm die Jurisprudenz, regte an und ward angeregt, bestimmte und ward bestimmt, und wenn wir daher die technische Gestaltung des ältern Rechts als ihr Werk bezeichnen, während wir dasselbe in genauerer Redeweise eine Schöpfung des juristischen Geistes nennen müßten, so geschieht es nur darum, weil sie die hauptsächliche Trägerin und die eigentlichen Personification dieses Geistes ist [. . .] das Ringen des römischen Geistes mit dem Rechtsstoff, das im Recht selbst objectiv gewordene juristische Denken der Nation.“
II. Jherings rechtswissenschaftliche Methode
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Jherings rechtsdogmatische Methode erfüllte die „der Rechtsgewinnung dienende Funktion der juristischen Construction“.330 In der zweiten Abteilung des zweiten Geist-Bandes (1858) vertiefte Jhering seine der Methode der Naturwissenschaft nachgebildete „Naturlehre des Rechts“ 331, die ihren klarsten Ausdruck in der „Theorie der juristischen Technik“ 332, insbesondere in Jherings naturhistorischer Konstruktionsmethode, gefunden hat.333 Demnach sei die Analyse der Rechtsbegriffe die primäre Aufgabe des Rechtsdogmatikers, wie die Erforschung der Naturobjekte durch die Naturwissenschaftler.334 Nach ihm sei die Parallele zur Naturwissenschaft „keine müßige Spielerei“. Es gebe nämlich „keinen Ausdruck, der das Wesen ihrer Methode so völlig erfaßte und träfe, als den der naturhistorischen Methode. Auf dieser Methode beruht das ganze Geheimniß der Jurisprudenz, alle ihre Anziehungskraft, alle ihre Macht über den Stoff, ihre ganze Würde und Ehre“.335 Jhering zufolge wurde bei der Entstehung von Recht nun aus einer „Sache des Gefühls“ ein „Gegenstand der Erkenntniß“, „logisch berechenbar, objektiv meßbar. Die Intuition“ mache „folgeweise immer mehr dem discursiven Denken Platz“.336 Klemann folgerte ganz richtig: „Faktisch lieferte dies die theoretische Begründung für die große Bedeutung, die Jhering im Folgenden der juristischen Technik beimaß.“ 337 Auch hier bildet erneut der Verwirklichungsgedanke des Rechts, eine von Jherings Grundmaximen, das oberste Ziel seiner Theorie der juristischen Technik.338 Im Mittelpunkt steht „die Objectivirung des Rechts im Leben, die Thatkraft.“ 339 Jedoch stellte Jhering dabei zunächst klar, dass die Entstehung von Recht im Rahmen seiner juristischen Konstruktionslehre nicht das Ergebnis eines „einfache[n] mathematische[n] Exempel[s]“ 340 und „weniger Sache des Fleißes und der Gelehrsamkeit“ 341, son330
Mecke, Jhering, 2018, S. 541. Jhering, Geist I, 1852, S. 11; ders., Geist II 2, 1858, S. XIII. 332 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 334–414. 333 Mecke, Jhering, 2018, S. 27; vgl. ferner Ogorek, Richterkönig, 2008, S. 221 ff. 334 Mecke, Jhering, 2018, S. 444–449, 453, 457. Vgl. auch Viehweg, Rechtsdogmatik und Rechtszetetik, 1970, S. 211 ff. Für ihn stand eine „mehr empirisch-analytisch[e] und zugleich strukturell-deskriptiv[e]“ Methode der Rechtswissenschaft im Vordergrund. Ferner Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 50; Coing, Systembegriff, 1969, S. 161. 335 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 389. 336 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 34; ders., Geist II 2, 1858, S. 377: „[J]ene Methode ist die reine Negation seiner eigenen Anschauungs- und Gefühlsweise, sie ist berechnet darauf, der Herrschaft des Rechtsgefühls ein Ende zu machen.“ Hier offenbaren sich bereits Jherings verschiedenen Bedeutungsdimensionen seines Rechtsgefühlsbegriffs (s. eingehend E.). Hier setzt Jhering den Begriff des Rechtsgefühls noch im negativen Sinne als Ausdruck seiner Abkehr von der Volksgeistlehre der Historischen Rechtsschule ein. 337 Klemann, Jhering, 1989, S. 160. 338 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 334. 339 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 334. 340 Jhering, Geist I, 1852, S. 79. Vgl. auch ebd., S. 302. 331
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dern „der besonderen Geschicklichkeit im Operiren mit Rechtsbegriffen – namentlich der juristischen Diagnose“ sei. Für das Verständnis und die Anwendung von Recht sei nach Jhering ferner eine jahrelange Übung erforderlich, welche er zusammen mit dem Talent des Rechtsanwenders unter den Ausdruck der juristischen Bildung fasst.342 Dabei könne die Wissenschaft „zu einem gewissen Grade hülfreiche Hand leisten“ 343, indem sie Grundsätze wie „Praktikabilität des Rechts“, die „möglichste Erleichterung der Operation der Anwendung des Rechts durch die entsprechende Gestaltung der Rechtssätze“ einhalte.344 Hauptsächlich verfolgte die juristische Technik darüber hinaus die juristische Bearbeitung, die „Vereinfachung des Rechts“ in quantitativer und qualitativer Weise.345 Die „Vereinfachung“ der bestehenden Rechtssätze bedeutete für Jhering die Bestimmung ihrer abstrakten Inhalte.346 Hierzu dienten die drei Fundamentaloperationen der juristischen Technik: die Analyse, Konzentration und Konstruktion.347 Die juristische Analyse bedeutete nach Jhering, durch „Abstraction“ 348 und „Zersetzung des Stoffs“ 349 die einfachen Elemente des Rechts aufzufinden. Durch die auf diesem Wege erzielte Aussicht eines universellen Rechtsalphabets350 würde durch die Bildung neuer Rechtssätze und -prinzipien eine „productive Kraft“ der Analyse ausgelöst werden.351 „Die juristische Technik läßt sich nach dieser Seite hin als eine Chemie des Rechts bezeichnen, als die juristische Scheidekunst, welche die einfachen Körper sucht“, so Jhering.352 Die logische Konzentration, die zweite Fundamentaloperation der juristischen Technik, würde hingegen auf gegensätzlichem Wege „statt durch Zersetzen durch Verbinden und Zusammendrängen“ operieren, d. h. mittels „Abstraction eines Princips aus gegebenen Einzelheiten“ vorgehen.353 Auf diese Weise wurde eine gemeinsame Grundlage für die Bildung neuer Rechtssätze geschaffen.354
341
Jhering, Geist II 2, 1858, S. 398 Fn. 514. Jhering, Geist II 2, 1858, S. 325; ferner ders., Geist II 2, 2. Aufl., 1869, S. 311. 343 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 356. 344 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 340: Jhering nennt sie „die technischen Interessen“; vgl. S. 347 ff.; vgl. auch ders., Besitzwille, 1889, S. 144 ff. 345 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 353. 346 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 341. 347 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 339 ff. Vgl. dazu insb. jüngst Kroppenberg, Plastik des Rechts, 2015, S. 16 ff.; Möller, juristische Konstruktion, 2017, S. 772 ff. 348 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 370. 349 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 361. 350 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 375. 351 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 369 ff.; so insb. bei der Analogie. 352 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 361. 353 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 380. 342
II. Jherings rechtswissenschaftliche Methode
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Aus den beiden Fundamentaloperationen der Analyse und Konzentration gehen letztlich auch die „systematische Anordnung des [Rechts-]Stoffes“ 355 und die „juristische Terminologie“ 356 hervor.357 Allein die Fundamentaloperation der juristischen Konstruktion erkannte Jhering als die eigentlich produktive Tätigkeit an358: „[D]ie Begriffe sind productiv, sie paaren sich und zeugen neue.“ 359
Mit der Konstruktion wandte sich Jhering einer „höhere[n] Jurisprudenz“ 360 zu. Auf dieser Operationsstufe konnte die Jurisprudenz im rechtsdogmatischen Sinne wirklich produktiv sein.361 Die juristische Konstruktion stellte demgemäß den Kerngedanken der juristischen Technik im rechtsdogmatischen Sinne dar, welche Jhering insbesondere in der zweiten Abteilung seines zweiten Geist-Bandes362 (1858) und in dem Einleitungsaufsatz seiner Jahrbücher ,Unsere Aufgabe‘ (1856) besondere Beachtung schenkte. Die juristische Konstruktion erfasste Jhering als Anordnung des Rechtsstoffs nach der naturhistorischen Methode.363 Hierbei differenzierte Jhering zwischen niederer und höherer Jurisprudenz.364 Zur niederen Jurisprudenz als „nothwendige Vorstufe der höheren“ 365 gehörten nach Jhering die einfache Interpretation und Auslegung, während die juristische Konstruktion im Wege der „Production“ 366 das Recht in die höhere Erscheinungsform367, den Rechtsstoff „in einen höhern Aggregatzustand“ 368 erhob und 354 Möller, juristische Konstruktion, 2017, S. 773. So brachte es Seinecke auf den Punkt: „Während die Analyse abstrahiert, synthetisiert die Konzentration ihre Rechtsquellen auf der Suche nach dem Recht im Recht.“ [ders., Jhering, 2. Aufl., 2012, S. 132]. 355 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 343. 356 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 344. 357 Nach Mecke, Jhering, 2018, S. 545: insbesondere als „mnemotechnische Funktion zur Erleichterung ,des Gedächtnisses‘“ [Jhering, Geist II 2, 1858, S. 341]. 358 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 16 f.; ders., Geist II 2, 1858, S. 341: „Sache des Verstandes“; vgl. insb. Mecke, Jhering, 2018, S. 545. 359 Jhering, Geist I, 1852, S. 29. 360 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 385. 361 Nach Schmidt „suggeriert die Bildhaftigkeit der naturhistorischen Methode eine Selbstschöpfungskraft der Rechtsbegriffe“ [ders., Jherings Geist, 1996, S. 87]; vgl. ferner Klemann, Jhering, 1989, S. 204 f. 362 Jhering, Geist II 2, 1858, Kap. 39–41; auch ders., Geist II 1, Vorrede. 363 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 397. 364 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 386. 365 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 387. 366 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 398, 412. 367 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 358; ders., Unsere Aufgabe, 1857, S. 8. 368 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 361; vgl. auch ders., Unsere Aufgabe, 1857, S. 8. Bereits in Geist I waren die Grundzüge seiner naturhistorischen Lehre verankert: Die systematische Tätigkeit durch das Erreichen eines „höheren Aggregatzustand[es]“ führe zu einer „innere[n] Umwandlung“ der Rechtssätze, indem sie „ihre Form als Gebote
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sich damit vom „rein receptiven Verhalten gegenüber dem historischen Stoff“ 369 abgrenzte. Den Übergang zur höheren Jurisprudenz setzte nach Jhering die juristische Konstruktion durch die Umwandlung des juristischen Rohstoffs zu Begriffen, in die Form juristischer Körper um.370 Unter dem juristischen Körper verstand Jhering die verschiedenen Rechtsinstitute in einem nationalen juristischen System. Auf diese Weise manifestierte Jhering eine fortschrittliche naturhistorische Methode, die es der Theorie „möglich macht mit ihren Antworten der Praxis voranzueilen, ihr also das demütige Los erspart, sich lediglich durch die Praxis zu neuen Entdeckungen anregen zu lassen, und so zu sagen hinter ihr her zu hinken“.371 Nach Jhering war es die Aufgabe des Rechtswissenschaftlers, die Funktionen, Eigenarten und Stärken dieser juristischen Körper und ihre Zusammenhänge wie ein Naturforscher zu analysieren und analog zur Klassifikation der Naturobjekte aus ihnen ein System zu schaffen.372 Als juristische Konstruktion bestimmt er die „Kunst, die den Stoff künstlerisch bildet, gestaltet, ihm Leben einhaucht“, die künstlerische Gestaltung mit der Konstitution der Rechtskörper.373 Als die „letzte Consequenz“ der naturwissenschaftlichen Methode bezeichnete Jhering schließlich „die systematische Classification des Rechtskörpers oder das System.“ 374 Das „System“ sei „die praktisch vortheilhafteste Form des positiv gegebenen Stoffs“ 375, überdies „eine unversiegbare Quelle neuen Stoffs“.376 Bei alledem müssen die juristischen Konstruktionen nach Jhering zwingend in Einklang mit den von ihm aufgestellten Konstruktionsgesetzen stehen. Nach dem und Verbote ab[streiften] und sich zu Elementen und Qualitäten der Rechtsinstitute [verflüchtigten]“. [Jhering, Geist I, 1852, S. 26] „Diese Logik des Rechts ist gewissermaßen die Blüthe, das Präcipitat der Rechtssätze [. . .].“ [Jhering, Geist I, 1852, S. 27]; „Durch Combination der verschiedenen Elemente kann die Wissenschaft neue Begriffe und Rechtssätze bilden [. . .].“ [Jhering, Geist I, 1852, S. 29]. 369 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 4. 370 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 370; ders., Unsere Aufgabe, 1857, S. 9. 371 Jhering, Unsere Aufgabe, S. 18 f., 16. Dazu Wilhelm, Methodenlehre, 1958, S. 115. 372 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 10 in Abgrenzung zum rechtshistorischen Systembegriff; ders., Geist II 2, 1858, S. 389 ff., Jherings Körperbegriff „kleiden die Gewänder einer spekulativen Metaphysik.“ [Seinecke, Jhering, 2012, S. 130]: z. B. in Gestalt „juristischer Speculation“ [Jhering, Geist II 2, 1858, S. 412]. Nach Seinecke „fängt“ Jhering den „spekulativen Kern einer metaphysischen Rationalität“ aber mit Hilfe seiner „drei Gesetze [. . .] der juristischen Konstruktion wieder (positiv orientiert) auf“ [Seinecke, Jhering, 2012, S. 131]. 373 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 389; ferner „künstlerische Production, ein Erfinden“ [ebd., S. 398]. 374 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 396. 375 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 409. 376 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 412; vgl. auch ebd., S. 413.
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ersten Konstruktionsgebot, dem „Gesetz der Deckung des positiven Stoffs“, würden Resultate, welche dem positiven Recht widersprechen, versagt.377 Das „Gesetz des Nichtwiderspruchs“ 378, das zweite Konstruktionsgebot, umfasst die „Widersprüche der Wissenschaft mit sich selbst“.379 Es handele sich nach Jhering „bei der ganzen Aufgabe nicht um ein praktisches, sondern um ein logisches Problem“ 380, wobei „Logik“ hier im Sinne von Wertungswidersprüchen, einer „Plausibilitätslogik“ 381, verstanden werden muss. Während die beiden beschriebenen Konstruktionsgesetze fundamentale Rahmenbedingungen für die juristische Konstruktion darstellen, wies Jhering dem ästhetischen Gesetz „der juristischen Schönheit“ 382 und dem „Gesetz der logischen Sparsamkeit“ 383 lediglich eine als Korrektiv dienende Funktion zu.384 Diese Grundprinzipien der dargestellten „höheren Jurisprudenz oder naturhistorischen Methode“ galten nach Jhering sowohl für die auf die abstrakte Analyse gründende „objective Technik“ als auch für die auf die konkrete Untersuchung stützende „subjective Technik“.385 Die objektive Technik umfasste nach Jhering die Gestaltung des „kunstgemäßen Mechanismus des Rechts“, die eine erleichterte Rechtsanwendung garantieren soll.386 Nach Jhering sei eine fruchtbare objektive Konstruktion Ausdruck der individuellen Kreativität des Rechtswissenschaftlers: „das Ei des Columbus“.387 Als Inbegriff des Erfolgs einer solchen objektiven juristischen Konstruktion388 Jherings kann das Rechtsinstitut der „culpa in contrahendo“ aus dem Jahre 1860 herangezogen werden.389
377
Jhering, Geist II 2, 1858, S. 398–400. Jhering, Geist II 2, 1858, S. 400–403. 379 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 400. 380 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 401. 381 Vgl. Mecke, Jhering, 2018, S. 567. 382 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 403–407. „Je einfacher die Construction, um so vollkommener ist sie, d. h. um so anschaulicher, durchsichtiger, natürlicher; in der höchsten Einfachheit bewährt sich auch hier die höchste Kunst.“ [ebd., S. 406]. 383 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 342. 384 Mecke, Jhering, 2018, S. 557–581, 591–631. 385 Mecke, Jhering, 2018, S. 241 f. 386 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 339 f.; hierzu vertiefend Mecke, Jhering, 2018, S. 549–581. 387 Jhering, Geist II 2, 4. Aufl., 1883, S. 371 Fn. 514. 388 Nach Mecke „geradezu ein Musterbeispiel für die juristische Konstruktion als ein schöpferisch-produktives Gestaltungsinstrument der Jurisprudenz“ [ders., Jhering, 2018, S. 555]. So auch Schanze, Culpa, 1978, S. 333 f., 343; Choe, CiC, 1988, S. 1, 99 f., 132. 389 Jhering, CiC, 1861, et passim. Die theoretische Anspruchsbegründung hatte er „seit Jahren“ mit sich „herumgetragen und gepflegt und [sich] ganz in sie hineingelebt“ [ders., ebd., S. 372]. Dazu insb. Schanze, Culpa, 1978, S. 333 f.; ferner Diederichsen, Jherings Rechtsinstitute, 1996, S. 195 ff.; ausführlich C. II. 5. a). 378
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Die subjektive Technik der juristischen Konstruktion des Rechtspraktikers war nach Jhering die Form der wahren „juristische[n] Kunst, deren Aufgabe die formale Vollendung des gegebenen Rechtsstoffs“ sei.390 Diese sei von dem juristischen „Talent“ und der „Intuition“ 391, dem individuellen Rechtsgefühl, und bei der Anwendung des Rechts am Einzelfall, von der „Kunst der juristischen Diagnose“ aufgrund der „besonderen Anstrengung und vieljähriger Uebung“ des Juristen motiviert.392 Die juristische Konstruktion im Rahmen der Rechtsanwendung des Praktikers stellt für Jhering das bahnbrechende Mittel ihrer „Verwirklichung“ 393 dar und hatte einerseits auf der Grundlage des abstrakten Rechts die „Anwendung des Rechtssatzes, den Umsatz der abstracten Regel in concrete Verhältnisse“ 394, andererseits „die analytische Behandlung des concreten Rechtsverhältnisses“ zur Folge.395 Letztlich liegt auch der „höheren Jurisprudenz“ bei Jhering der Fortschrittsgedanke im Recht als der „Schlüssel zur Fortentwicklung des Rechts“ 396 zugrunde: „Diese Erhebung des Stoffs ist nun zugleich Erhebung der Jurisprudenz selbst. Von einer Lastträgerin des Gesetzgebers, einer Sammlerin positiver Einzelheiten schwingt sie sich auf zu einer wahren Kunst und Wissenschaft; zu einer Kunst, die den Stoff künstlerisch bildet, gestaltet, ihm Leben einhaucht – zu einer Wissenschaft, die trotz des Positiven in ihrem Gegenstande sich als Naturwissenschaft im Elemente des Geistes bezeichnen läßt.“ 397
3. Methodenkritische Wende Der folgende Abschnitt hat Jherings rechtsmethodologische Entwicklungen nach 1858/59 zum Gegenstand.398 In der wissenschaftsgeschichtlichen Literatur 390
Jhering, Geist II 2, 1858, S. 339 f.; vertiefend Mecke, Jhering, 2018, S. 582–631. Jhering, Geist II 2, 1858, S. 398 Fn. 514. 392 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 356. 393 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 334. 394 Jhering, Geist I, 1852, S. 43. 395 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 15 f.; vgl. dazu Mecke, Jhering, 2018, S. 614 ff. 396 Fikentscher, Methoden, 1976, S. 225 f. Vgl. Jhering, Geist II 2, 1858, S. 414: „Frei und ungehindert, wie in der Philosophie, kann der Gedanke hier schweifen und forschen und dennoch zugleich sicher gegen die Gefahr sich zu verlieren, die ihm dort so leicht droht. Denn die praktische Natur der Welt, in die er sich versetzt findet, lenkt ihn immer wieder zu den realen Dingen zurück. Aber daß er, indem er zurückkehrt, sich gestehen darf, nicht einem bloß subjectiven Erkenntnißdrange genügt zu haben, nicht die bloße Erinnerung an einen hohen geistigen Genuß, sondern etwas für die Welt und Menschheit Werthvolles mit zurückzubringen, daß die Gedanken, die er gefunden, keine bloßen Gedanken bleiben, sondern praktische Gewalten werden – eben das gibt all unserm Philosophiren und Construiren in der Dogmatik erst seinen wahren Werth.“ 397 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 389. 398 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, Anm. S. 339: „Es war der erste öffentliche Schritt in die neue Bahn.“ Ders., Kaufcontract I, 1859, S. 480: „Denn Stellen gibt es hier nicht; sonst wäre die hier aufgestellte Theorie wohl schon längst vorge391
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zur Jheringschen Rechtslehre wurde lange Zeit die Auffassung von einem „krisenhafte[n] Umbruch“ 399 in Jherings Rechtsdenken in den Jahren 1858/59 vertreten. Tief verwurzelt war die Vorstellung, Jhering habe ein „Damaskus“-Erlebnis erfahren.400 Anfang des 20. Jahrhunderts wies etwa Kantorowicz, ein bedeutender Vertreter der Freirechtsschule, angetrieben durch die Selbsteinschätzungen Jherings in seinen publizierten Briefen und Abhandlungen, eine „Bekehrung“ Jherings im Jahre 1858/59 nach.401 Ähnlich äußerte sich auch der Freirechtler Fuchs: „Am drastischsten ist diese geheime Freirechtlerei bei Jhering zum offenen Vorschein gekommen, und zwar anläßlich eines bestimmten Falles, der ihn von einem überkonstruktionistischen Saulus in einen kryptosoziologischen Paulus verwandelte.“ 402
Bis in die vergangenen Dezennien dominierte die Vorstellung von einer „tiefe[n] Zäsur“ in Jherings Rechtslehre.403 Insofern könne man nicht von einem homogenen Rechtsdenken bei Jhering ausgehen. Überwiegend wurde die Auffassung von einer Trennung des Jheringschen Gesamtwerks in eine konstruktionsmethodische Phase (1840/50er Jahre), welche eine „im Grundsatz ungebrochene Kontinuität“ 404 zu Savigny und Puchta markierte, weitgehend als Inbegriff der Be-
tragen worden. Für den aber, der mit mir darin einverstanden ist, daß unsere Quellen bei gar vielen Rechtssätzen es unterlassen haben, ihren eigentlichen Grund und Zweck näher anzugeben, und daß es unsere Aufgabe ist, ihn aufzusuchen und darnach den wirklichen Sinn des Rechtssatzes gegenüber einer vielleicht zu weiten oder engen Fassung festzustellen – für denjenigen hoffe ich den mir obliegenden Beweis allerdings erbringen zu können.“ So auch Kantorowicz, Iherings Bekehrung, 1914, Sp. 87: „Die Neujahrsglocken von 1859 läuteten auch für die Rechtswissenschaft einen neuen Tag ein. Geboren aus der Berührung mit der Praxis, gelenkt vom sittlichen Wollen und erleuchtet von methodischer Selbstkritik, war hier das neue teleologische Verfahren zum ersten Male zugleich in Klarheit erkannt und in Sicherheit angewandt, war die freie Rechtsfindung in voller Ehrlichkeit und Offenheit – ,Stellen gibt es hier nicht‘ – geübt worden.“ Behrends nennt es Jherings „methodischen Durchbruch“ [ders., Rechtsgefühl, 1986, S. 71]. 399 Hebeisen, Recht und Staat I, 2004, S. 115 Anm. 301. 400 Vgl. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl., 1967, S. 451; Rückert, Geist 2, 2005, S. 127; vgl. jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 13 ff. 401 Kantorowicz, Iherings Bekehrung, 1914, Sp. 84 ff. 402 Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 68. 403 Larenz, Methodenlehre, 6. Aufl., 1991, S. 25; schon Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 4, 69 ff., 135; Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl., 1963, S. 633, 660; auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl., 1967, S. 450 ff.; Edelmann, Interessenjurisprudenz, 1967, S. 27; Pleister, Persönlichkeit, 1982, S. 221 ff.; Gromitsaris, Rechtsnormen, 1989, S. 131. Zur Umschwungsthematik vgl. insb. Mecke, Jhering, 2018, S. 15 ff. mit Verweis auf Seinecke, Jhering, 2013, S. 240 ff. m.w. N.; ferner Brockmöller, Rechtstheorie, 1997, S. 191 m.w. N. 404 Mecke, Jhering, 2018, S. 13.
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griffsjurisprudenz eingeordnet, und eine zweckmethodische Phase nach 1858/59 als Ausdruck für die Abkehr von der Historischen Rechtsschule vertreten.405 Vor allem Wieacker entfernte sich als einer der Ersten von der Absolutheit seiner früheren Auffassung „von einem wirklichen Kontingenzbruch in Jherings Monumentalwerk“.406 Ebenso wies Fikentscher auf die „Einheit der Iheringschen Idee“ hin, vertrat aber weiterhin die Zweiteilung in die „konstruktionsmethodische“ und „zweckmethodische Phase“.407 Ende des 20. Jahrhunderts hingegen nahm die Anzahl der Vertreter für eine „Kontinuität im Wandel“ Jherings zu.408 Umgekehrt wollen die Stimmen in der Literatur nun vielmehr eine Fusion der beiden Perioden409, „ein einheitliches Gedankengebäude“ 410 verfolgen.411 Jherings sog. Umschwung könne treffender als „Akzentverschiebung“ 412 verstanden werden, so der mehrheitliche Konsens. Dabei hatte Jhering selbst durch seine leidenschaftliche, zu Übertreibungen und Dramatik neigende Art verbunden mit den veröffentlichten Selbsteinschätzungen zu seinem methodischen Progress erheblich zu diesen Interpretationsansätzen beigetragen.413 Zu Recht löst sich die Jhering-Forschung nach und nach von der herrschenden Auffassung von einem „Damaskus“-Erlebnis. Im Folgenden sollen die Gründe für eine Kontinuitätstheorie im Rechtsdenken Jherings nachgewiesen werden. Ende 1858 hatte Jhering in seiner Funktion als Rechtsgutachter für die Gießener Spruchfakultät einen Rechtsfall, den sog. Schiffspartenfall, zu begutachten.414 Betroffen war „die Frage, ob ein Verkäufer, 405 U. a. Wieacker, Privatrechtsgeschichte, 2. Aufl., 1967, S. 434, 450 ff.; Pleister, Persönlichkeit, 1982, S. 12. 406 Wieacker, Jhering, 1969, S. 24. 407 Fikentscher, Methoden, 1976, S. 83, 201 ff., 250 f., 273 ff. Auch noch Lloredo Alix, Jhering, 2012, S. 319, 328. 408 Jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 23; ders., Begriff, 2009, S. 36 m.w. N.; ferner Dreier, Jherings Rechtstheorie, 1996, S. 232 m.w. N.; insb. Schanze, Culpa, 1978, S. 331 f.; Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 79 ff.; ders., Zweck, 1987, S. 256, 265 f.; Choe, CiC, 1988, S. 4 f.; Kunze, Universalrechtsgeschichte, 1991, S. 151 m.w. N.; ders., Jhering, 1992, S. 17; ders., Forschungsbericht, 1995, S. 141; Klemann, Jherings Wandlung, 1991, S. 130 ff., 142 f.; anders noch Klemann, Jhering, 1989, S. 204 f.; Diederichsen, Jherings Rechtsinstitute, 1996, S. 177 Fn. 12; Schmidt, Jhering, 1996, S. 203; Brockmöller. Rechtstheorie, 1997, S. 191 Fn. 37 et passim; Mährlein, Volksgeist und Recht, 2000, S. 142 ff.; Rückert, Geist 1, 2004, S. 135; ders., Geist 2, 2004, S. 129; Jäde, Pandektenvorlesung, 2008, S. 32; Mecke, Objektivität, 2008, S. 147; Duxbury, Jhering, 2007, S. 23 ff.; Seinecke, Jhering, 2013, S. 238 ff., 279 f.; ders., Jhering, 2012, S. 143. 409 Vgl. Paulson, Rechtslehre, 2013, S. 19 Anm. 24. 410 Dreier, Jherings Rechtstheorie, 1993, S. 111. 411 Mecke, Jhering, 2018, S. 23. 412 Brockmöller, Rechtstheorie, 1997, S. 191 Anm. 37 m.w. N. 413 Vor allem Jhering selbst in: Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 338 f. 414 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 8:10, aus dem Göttinger Nachlass erstmals ediert von Kroppenberg, Plastik des Rechts, 2015, Anhang, S. 60–87; ferner ders., Kaufcontract I, 1859, S. 449 ff.
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der eine Sache zweimal verkauft hat, durch Untergang der Sache den Kaufpreis von beiden Käufern einklagen kann“, die Jhering im Jahre 1844 in seiner Habilitationsschrift ,Abhandlungen aus dem Römischen Recht‘ „den Quellen nach geglaubt hätte bejahen zu müssen“.415 Jhering hinterfragte nun zunehmend den Stellenwert seiner Konstruktionslehre. Rückblickend offenbarte Jhering, dass dieses Rechtsgutachten in ihm einen methodischen „Umschwung“ hervorgerufen hatte.416 „[T]rotz wochenlangen Nachdenkens“, formulierte er in einem Brief an seinen Freund Gerber, sei „er nicht imstande“ gewesen, „die Ablehnung der Klage, von deren rechtlichen Unhaltbarkeit er nunmehr überzeugt war, mittels der juristischen Konstruktion zu begründen“.417 Sein Rechtsgefühl war es, was ihn entgegen der Konstruktionslösung „mit einem dem Kaufrecht ganz fremden ad hoc-Argument“ zu einer Entscheidung verhalf.418 Auch in einem Aufsatz aus dem Jahre 1862 bewies Jhering exemplarisch, dass eine starre Anwendung der Rechtsprinzipien nicht immer zu einer geeigneten Lösung imstande ist.419 Ebenfalls hier erklärte er als begründendes Moment „das praktische Bedürfniß, das hierdurch befriedigt werden soll“.420 Jhering äußerte in einem Brief an Windscheid im Jahre 1865, „in den letzten 2–3 Jahren eine merkwürdige Umwandlung“ seiner „ganzen Anschauung durchlebt“ zu haben.421 Seine Beschäftigung mit dem ,Geist‘ habe zu einer „Umkehr“ in seinen ursprünglichen Annahmen geführt: „Vom Konstruieren komme“ er „immer mehr zurück“; es gebe „doch noch etwas Höheres im Recht als das logische Element“.422 Ferner nahm er in späteren Auflagen seines ,Geist‘ für sich in Anspruch, „die Spuren der Überschätzung der logischen Seite des Rechts, welche die erste Auflage [Geist II 2] an sich trug“, beseitigt zu haben.423 Dabei vertrat er auch jetzt noch die Überzeugung, dass jede Jurisprudenz mit Begriffen operiere, „jede Jurisprudenz“ sei „Begriffsjurisprudenz“.424 Jhering forderte in diesem Sinne, dass „[d]er endliche Weg zur Wahrheit [. . .] nicht um die Technik herum, sondern durch sie hindurch“ 415 Jhering, Brief an Gerber v. 06. Januar 1859, Ehrenberg-Briefe, 1913, S. 108. Vgl. ders., Abhandlungen, 1844, S. 36 f. 416 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 338 f. 417 Jhering, Brief an Gerber v. 06. Januar 1859, Ehrenberg-Briefe, 1913, S. 108 f. 418 Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 549. 419 Vgl. Jhering, Beschränkungen, 1862, S. 83 f. 420 Vgl. Jhering, Beschränkungen, 1862, S. 90, 92. 421 Jhering, Brief an Windscheid v. 18. April 1865, Ehrenberg-Briefe, 1913, S. 176. 422 Jhering, Brief an Windscheid v. 29. März 1864, Ehrenberg-Briefe, 1913, S. 166. 423 Jhering, Geist II 2, 2. Aufl., 1869, S. 345 Anm. 506a. So auch Jhering, Brief an Windscheid v. 18. April 1865, Ehrenberg-Briefe, S. 176: „Du hast vollkommen recht, wenn Du die Thatsachen des Rechtslebens [. . .] als verbindlich für die Jurisprudenz aufstellst; gegenüber dem, was das Leben verlangt, kann keine angebliche Logik des Rechts aufkommen, und für den Verkehr ist es vollkommen gleichgültig, ob der Jurist die Anforderungen desselben konstruieren kann oder nicht.“ Vgl. schon im Jahre 1857 ders., Reivindicatio, 1857, S. 176 f. 424 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 347.
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führe.425 Entgegen den überwiegenden Stimmen in der Literatur des 20. Jahrhunderts war seine Kritik demnach gegen die juristische Konstruktion ohne Einbeziehung der Interessen des Lebens,426 nicht etwa gegen die Konstruktion per se zu verstehen.427 Von nun an nahm das Interesse am Phänomen des Rechtsgefühls in Jherings Rechtsdenken zu. An die Stelle der Anwendung der „bloßen Worte oder des legislativen Gedankens“ setzte er die „praktische Angemessenheit“.428 „Damit ist nun auch ganz klar, was Jherings methodische Wende, sein ,Umschwung‘, wie er es nennt, war und was nicht“, so Behrends.429 Es bedeutete die Auflösung des „Bann[s]“, „der die Jurisprudenz zu einer Mathematik des Rechts hinaufzuschrauben gedenkt“ 430, die Überwindung seines „formalen Prinzipienrigorismus“ 431 und der „Durchbruch zu der Möglichkeit von Begriffskritik“.432 Jhering bezweckte unter keinen Umständen eine Abschaffung der Begrifflichkeit.433 Damit gab er auch nicht seine produktive Methode der Rechtswissenschaft auf. Stattdessen verlangte er künftig eine Kontrollinstanz in Form des Rechtsgefühls. Jherings Standpunkt entwickelte sich seit 1859 von einem „wissenschaftsgläubigen“ zu einem „wissenschaftskritischen“.434 Behrends ist darin zuzustimmen, den von Jhering bewusst eingesetzten Begriffe „Umwandlung“ 435 und „Umschwung“ 436 entsprechend seiner methodischen Entwicklungen verschiedene Bedeutungen zuzumessen.437 Entsprechend Behrends’ treffender Feststellung geht der Ausdruck „Umschwung“ bei Jhering auf die „Dichtkunst und Dramaturgie“ 438 zurück und meint hier in Jherings eigentümlich leidenschaftlicher Art einen „dramatischen Vorgang“, „der sich nach seiner eigenen eindringlichen Schilderung als eine plötzliche, als notwendig erlebte Abkehr vom Falschen und Zuwendung zum Richtigen darstellt“.439 Die „Umwandlung“ hingegen darf nicht als „Peripetie vom 01.01.1859“, vielmehr als „eine Art Metamor-
425
Jhering, Brief an Windscheid v. 18. April 1865, Ehrenberg-Briefe, 1913, S. 176. Jhering, Geist II 2, 1858, S. 487. 427 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 9 f. 428 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 489; ferner ders., Geist III 1, 1865, S. 302 f. 429 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 89. 430 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 302; ders., Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 340: „Bann[s] apriorischer und als solcher empirisch nicht mehr überprüfbarer Begrifflichkeit“. Vgl. ebd., S. 344: „zu neuer begriffsgestaltender Tätigkeit“. 431 Mecke, Jhering, 2018, S. 251. 432 Wischmeyer, Zwecke, 2015, S. 85. 433 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 89 f. 434 Mecke, Jhering, 2018, S. 242–255. 435 Jhering, Brief an Windscheid v. 18. April 1865, Ehrenbergbriefe, 1913, S. 176; ders., Brief an Windscheid v. 20. März 1864, Ehrenbergbriefe, 1913, S. 166. 436 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 338. 437 Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 551. 438 Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 546. 439 Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 551 f. 426
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phose“, seine jahrelange, rechtsmethodologische Entwicklung in den darauffolgenden 1860er Jahren, gedeutet werden.440 Ferner werden die persönlichen Schicksalsschläge in Jherings Leben, insbesondere der Tod seiner nahen Familienangehörigen, zu seiner wissenschaftlichen Krise in Form von Schreibblockaden beigetragen und ihren Ausdruck in einem tiefgründigen, emotionsgeladenen Charakter gefunden haben.441 Letztlich überwiegt trotz Jherings eigener Worte die „Kontinuität“. Objektiv betrachtet war die Entwicklung kein tatsächlicher Umschwung; im Gegenteil, Jhering blieb zeitlebens der Dogmatik verhaftet. So kann festgehalten werden, dass auf die Beschreibung Jherings methodischen Entwicklungen daher besser die Bezeichnung eines „Perspektivwechsel[s] von einer rein wissenschaftsimmanent operierenden Dogmatik zu einer Dogmatik [passt], die ihre Verwirklichungsbedingungen in den Institutionen und Verfahren der Rechtsanwendung“ einbezieht, wie Wischmeyer treffend feststellt.442 Zu einer Anpassung dieser neuen tragenden Gedanken innerhalb seiner rechtsdogmatischen Methode in der nachfolgenden Zeit ist Jhering nicht mehr gekommen.443 In seinem Spätwerk kann lediglich eine Abschwächung der „naturhistorischen Methode“ zugunsten einer weiter gefassten, zweckgerichteten Betrachtungsform des Rechts beobachtet werden.444 Jhering berichtigte seine konstruktionstechnische Theorie dahingehend, dass er die „Vermehrung des Rechts aus sich selbst“ 445, nun als unstatthafte „Vertauschung der lediglich structurellen Betrachtung“ mit der „dogmatischen, praktischen Geltung“ 446 von Rechtssätzen einordnete.447 Auf diese Weise hatte Jhering seine „naturhistorische Untersuchung“ auf einen „verbleibenden deskriptiv-analytischen Aspekt“ eingegrenzt.448 Auch den Stellenwert seines Systembegriffs des Rechts schwächte Jhering im Zuge der Abkehr von der Historischen Rechtsschule wesentlich ab.449 Das System könne stets bloß die „letzte Consequenz“, die „Spitze der ganzen Aufgabe“, nicht die Grundlage sein450, zudem seien die Rechtsbegriffe 440
Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 548. Kunze, Jhering, 1992, S. 14 ff. 442 Wischmeyer, Zwecke, 2015, S. 85. 443 Mecke, Jhering, 2018, S. 489–495, 508–519. 444 Jhering, Zweck II, 1883, S. 100: „jede begriffliche Auffassungsweise [. . .] eine Gefahr in sich [schließt], deren ich an eigener und fremder Erfahrung bei der Jurisprudenz längst inne geworden bin; nämlich die, über den Begriff den Zweck ausser acht zu lassen [. . .].“ Vgl. dazu auch jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 624. 445 Jhering, Geist I, 1852, S. 29. 446 Jhering, Besitzwille, 1889, S. 273. 447 Vgl. dazu eingehend Mecke, Jhering, 2018, S. 529–541. 448 Ausführlich Mecke, Jhering, 2018, S. 535 f.; ferner ebd., S. 232 f., 524 ff., 584 ff. 449 Mecke, Jhering, 2018, S. 411 ff., 418, 641. 450 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 396. 441
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historisch wandelbar.451 Jhering verfolgte nach wie vor eine gegenwartsnahe Jurisprudenz. Im Rahmen seiner rechtshistorischen Methode passte er seine ursprüngliche Bezeichnung der „physiologischen“, von den Zwecken und Motiven der historischen Rechtswirklichkeit abhängigen Betrachtung des Rechts452 am Ende seines Lebens sich inhaltlich deckend erneut „unter Verwendung einer dem inzwischen gewandelten Zeitgeist entsprechenden Terminologie“ 453 in die „Bethätigung der realistischen Methode in Bezug auf die Rechtsgeschichte“ 454 an. In seiner Spätzeit wandte sich Jhering schließlich seinem ,Zweck im Recht‘ und damit der Zweckjurisprudenz als Gegenwartswissenschaft zu.455 Jhering „bediente sich des rhetorischen Bruchs mit dem Früheren“ zugunsten einer Anpassung der Jurisprudenz an die Herausforderungen der Gegenwart.456 In seinem letzten Geist-Band (1865) forderte Jhering, dass sich das Recht an den Interessen, Bedürfnissen und Zwecken orientieren müsse.457 Auch im ,Kampf um’s Recht‘ (1872) verfasste er in diesem Sinne: „Der Begriff des Rechts ist ein praktischer, d. h. ein Zweckbegriff [. . .]“ 458
Viehweg deutete Jherings ,Zweck‘ als „wichtigen Schritt von der Dogmatik zur Zetetik des Rechts“ 459, die als kritische Methode „die partikulär beobachtete[n] Zweckvorstellungen generalisierte“.460 Der ,Zweck‘ schaffe nach Jhering im 451
Jhering, Geist I, 1852, S. 40; siehe dazu eingehend A. I. 2. und 3. Jhering, Geist I, 1852, S. 14, S. 39; siehe ausführlich A. II. 1. ,Rechtshistorische Methode‘. 453 Mecke, Jhering, 2018, S. 120, 480 m.w. N.: Vgl. auch B. II. 3., III. 2. 454 Jhering, Besitzwille, 1889, S. 539. 455 Jhering, Zweck I, 1877, S. 432 f.: „Wie wenig sie [scil. die Rechtswissenschaft] dies beachtet hat, werde ich in der zweiten Abtheilung des Werkes Gelegenheit haben nachzuweisen, das ,Rechtmässige‘ das sie als das eigentlich Wahre, weil ewig Bleibende, im Recht im Gegensatz zum ,Zweckmässigen‘ als dem Vergänglichen und Vorübergehenden stellt, wird sich dort als eine Form des letzteren ergeben – das zur festen Gestalt Niedergeschlagene, Verdichtete im Gegensatz zu dem noch Flüssigen. Alles, was auf dem Boden des Rechts sich findet, ist durch den Zweck ins Leben gerufen und um eines Zweckes willen da. Das ganze Recht ist nichts als eine einzige Zweckschöpfung, ein gewaltiger Rechtspolyp mit unzähligen Fangarmen, Rechtssätze genannt, von denen jeder etwas will, bezweckt, erstrebt.“ Vgl. dazu Stephanitz, Exakte Wissenschaft, 1970, S. 183 f.; Landsberg, Geschichte III/2, 1910, S. 819; vor allem Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 54: als „anthropologische Grundlegung des Rechts“, „empirische Anthropologie“, „ein von Natur geschichtliches Wesen“. „Dieser Abstieg vom hohen Gedankenflug des Stubengelehrten in die Niederungen der empirischen Sozialforschung ist in der Tat für einen Juristen seiner Zeit ganz ungewöhnlich gewesen.“ [Helfer, Jhering als Rechtssoziologe, 1968, S. 563]. 456 Wischmeyer, Zwecke, 2015, S. 61 ff. 457 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 316. 458 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 7. 459 Viehweg, Rechtsdogmatik und Rechtszetetik, 1970, S. 211. 460 Jhering, Zweck II, 2. Aufl., 1886, S. 161. 452
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Rahmen seiner rechtsdogmatischen Methode des Rechts, vor allem bei der Lösung von Rechtsfällen, eine teleologische Auslegung461: „Es wird in meinem Werk über den Zweck im Recht geschehen. Dasselbe hatte seinem ursprünglichen Plane nach keine andere Bestimmung als gegenüber der herrschenden Ueberschätzung des logischen Elements in Recht das teleologische zur Geltung zu bringen.“ 462
Mit dieser Entwicklung hin zu einer teleologischen Rechtstheorie vertrat Jhering einen mehr dem erfahrenden Rechtsgefühl einen zentralen Stellenwert einräumenden, praktische Resultate bezweckenden Standpunkt.463 Recht schloss nun die Bedingung der Erfüllung gesellschaftlicher Zwecke in sich. Auf diese Weise hatte Jhering eine neue, individuelle und auf den Einzelfall bezogene Kontrollinstanz für die Prüfung der Korrektheit der Rechtsanwendung in Gestalt von Rechtsgefühl und Zweck geschaffen.464 Ferner setzte Jhering seine naturhistorische Strukturtheorie des Rechts465 in den 1880ern fort und übertrug die Analogie zur Naturwissenschaft auch auf den „außerrechtlichen Bereich seiner Theorie einer sittlichen Evolution“. Jhering betonte auch in diesem Zusammenhang die große Bedeutung des „Abstractionsvermögen[s] des menschlichen Geistes“ 466 in Bezug auf seine rechtsdogmatischnaturhistorische Methode und gleichermaßen auf seine entwicklungsgeschichtliche Methode der sittlichen Evolution.467 Dem menschlichen Bewusstsein, dem Rechtsgefühl468, hier in seiner höheren Form im Sinne eines kritischen, vom Verstand gesteuerten menschlichen Abstraktionsvermögens, spricht Jhering eine reflektierende, geistig produktive Kraft zu. Durch unbewusste rechtliche Abstraktion und Übertragung des Abstrahierten auf neue Rechtsgrundsätze und Rechtsvorstellungen konnten aus angewandter kultureller und sittlicher Empirie neue Regeln und durch soziale Validierung und Verdichtung letztlich Recht entstehen.469 Dadurch vollzieht sich eine „Selbstbewegung des Rechts“ 470, eine „Kritik 461 Nach Viehweg, Rechtsdogmatik und Rechtszetetik, 1970, S. 211 ff.; vgl. dazu auch Hurwicz, Ihering, 1911, S. 90 ff.; Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 98. 462 Jhering, Besitzwille, 1889, S. 198 Anm. 2. 463 Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl., 1963, S. 615 ff. 464 Zur Funktion der Kontrollinstanz des Rechtsgefühls bereits Fikentscher, Methoden, 1976, S. 244; jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 245. 465 Jhering, Geist II 2, 2. Aufl., 1869, S. 349: „Wir definiren den Körper also [. . .] nach seiner Structur, seinen anatomischen Momenten.“; ders., Geist III 1, 1865, S. 172: „Die Begriffe des ältern Rechts sind nicht einfache Formulirungen der Verhältnisse, wie sie thatsächlich im Leben vorkamen, sondern sie sind nach den Gesetzen der Analyse in eine specifisch-juristische, dem naiven Denken des Laien fremde Form gebracht – ihre Structur verdanken sie nicht den realen Motiven, Zwecken, Impulsen des Lebens, sondern der Kunst.“ 466 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 45; ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 19. 467 Vgl. jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 246–255, 285 f., 294, 508–514, 610. 468 Beachte hier die verschiedenen Bedeutungsebenen seines Rechtsgefühlsbegriffs, E. 469 Bihler, Rechtsgefühl, 1979, S. 8; Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 59 ff.
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des Rechts durch sich selber“ 471, die „Fortschritte“ hervorbringt, „von denen wir uns zur Zeit nichts träumen lassen“.472 So war nach Fikentscher „die Brücke geschlagen zu einer Entwicklungstheorie des Rechts“ 473: Die Idee des Rechts beinhalte nach Jhering „ewiges Werden“.474 Vor dem Hintergrund dieser zukunftsorientierten Entwicklungsphilosophie des Rechts im Sinne der „naturhistorische Methode“ 475 strebte Jhering nach einer pragmatischen Jurisprudenz, die eine fortschrittliche, „genealogische Verbindung von Recht und Sittlichkeit“ 476, eine Evolutionstheorie des Rechts schuf. Während Jherings Auseinandersetzung mit dem ,Zweck im Recht‘ offenbarte sich nach Wischmeyer „das Ringen der Rechtswissenschaft seiner Zeit um ein adäquates Rechtsverständnis unter den Bedingungen gesellschaftlichen und rechtstatsächlichen Wandels“. Der Zweck wies eine „Mischung aus Progressivität und Überforderung“, „Tradition und Aufbruch“ auf und eben das war „paradigmatischer Ausdruck der Krise des Rechtsdenkens im Zeitalter seiner Positivierung“.477 Jhering postulierte schließlich eine „evolutive Veränderung der juristischen Dogmatik“ zugunsten einer „Verwirklichung der Sittlichkeit“.478 Demnach müsse „die Ethik der Zukunft durch die vermehrte Zufuhr neuen [. . .] Stoffes und die Anwendung der empirisch-geschichtlichen Methode, welche unbeirrt durch vorgefaßte ,Ideen‘ sich den Tatsachen der sittlichen Welt ebenso unbefangen gegenüber stellt, wie der Naturforscher denen der natürlichen“, „den empirischen Theil“ ihrer Aufgabe lösen. Danach würde „der Philosoph von Fach kommen und die Summe ziehen“.479 Schließlich charakterisierte Jhering die Rechtswissenschaft als ein dreigliedriges Zusammenspiel von Rechtsdogmatik, Rechtsphilosophie480 und Rechtsgeschichte481, zeitlebens an der Praxis orientiert und fortschrittlich: 470
Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 65 f. Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 26. 472 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 26. 473 Fikentscher, Methoden, 1976, S. 244. 474 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 15 f.: „Denn das Recht ist der Saturn, der seine eigenen Kinder verspeist; das Recht kann sich nur dadurch verjüngen, daß es mit seiner eigenen Vergangenheit aufräumt. Ein konkretes Recht, das, weil es einmal entstanden, unbegrenzte, also ewige Fortdauer beansprucht, ist das Kind, das seinen Arm gegen die eigene Mutter erhebt; es verhöhnt die Idee des Rechts, indem es sich auf sie beruft, denn die Idee des Rechts ist ewiges Werden.“ 475 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 1. 476 Hebeisen betonte die „autonome Fortbildung des Rechts auf der einen, Bewertung der Moralität von Aussen auf der anderen Seite“ [ders., Recht und Staat I, 2004, S. 113]. 477 Wischmeyer, Zwecke, 2015, S. 57. 478 Hebeisen, Recht und Staat I, 2004, S. 130. 479 Jhering, Zweck II, 1883, S. 126 f. 480 Jhering verstand die römische Rechtsgeschichte als „angewandte Rechtsphilosophie“ [ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 5]. 481 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 92. 471
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„[S]o nenne ich die Rechtswissenschaft das wissenschaftliche Bewußtsein in Dingen des Rechts, das Bewußtsein, das nach Seiten der Rechtsphilosophie hin die letzten Gründe zu erforschen hat, denen das Recht auf Erden seinen Ursprung und seine Geltung verdankt, nach Seiten der Rechtsgeschichte ihm folgt auf all seinen Wegen, die es genommen hat, um von Stufe zu Stufe zur höheren Vollkommenheit sich zu erheben, nach Seiten der Dogmatik die zum praktischen Gebrauch geordnete wissenschaftliche Darstellung aller Erfahrungen und Thatsachen, welche den augenblicklichen Höhen- und Endpunkt unserer Erkenntnis und Erfassung des Rechts in sich schließen.“
Am Ende vertrat Jhering seine empirisch-teleologische Methode des Rechts. Die Einflüsse des allgemeinen Zeitgeistes482 und der Naturwissenschaften waren es, die Jherings Rechtsdenken stark prägten.483 In der grundlegenden Erkenntnis einer ständigen Einbindung der Lebenswirklichkeit in die Rechtsbildung und seiner frühen Abkehr von der Historischen Rechtsschule liegt der Beweis begründet, dass der von Jhering selbst so leidenschaftlich bezeichnete Umschwung objektiv betrachtet nicht derart bahnbrechend war, wie überwiegend in der Vergangenheit angenommen.484 Maßgebend für die Charakterisierung seiner Rechtsmethodik ist die Einsicht, dass die Anschauungen Jherings das Resultat eines anhaltenden Entwicklungsprozesses sind, das er größtenteils nicht (einheitlich), erst spät oder lediglich in Ansätzen formuliert hatte.485
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Hedemann, Einführung, 1927, S. 198. Merkel, Nachruf Jhering, 1893, S. 39: „Sehen wir aber von den Uebertreibungen [. . .] ab, so tritt uns in den späteren Arbeiten Jhering’s in immer schärferen Umrissen diejenige Gestalt entgegen, in welcher er fortleben wird, die Gestalt des realistischen Denkers, des Denkers, den Zwecken des praktischen Lebens zugewendet, diese zu fördern sucht, indem er sie selbst, die Kräfte, die sie ins Spiel setzen und die Lebensformen, die sie hervorbringen, zu verstehen lehrt.“ 484 Jüngst stellte Mecke klar, dass bis zu seiner Monographie über ,Begriff des Rechts und Methode der Rechtswissenschaft bei Rudolf von Jhering‘ „bis heute nicht der Versuch unternommen worden [war], sowohl die Kontinuität als auch den Wandel, der weder mit dem sogenannten Damaskus-Erlebnis von 1858 beginnt noch mit ihm endet, systematisch anhand von Jherings Schriften, insbesondere auch an den späteren Auflagen seines ersten Hauptwerks zu untersuchen“ [ders., Jhering, 2018, S. 23]. 485 Jhering, Brief an seinen Verleger (an die Buchhandlung von Breitkopf & Härtel), v. 31. Dezember 1874, Ehrenberg-Briefe, 1913, S. 303 f.: Es habe eine „durch das ganze Recht durchgeführte neue Anschauung von mir jahrelang nötig gehabt [. . .], um sich in mir abzuklären und bis in alle Konsequenzen auszubilden“. 483
B. Allgemeine Phänomenologie des Rechtsgefühls in den Wissenschaften „Denn das Recht ist nicht nur Sache des Verstandes, sondern auch Sache des Gefühles, [. . .] so ist der grosse Seelenkundige auch ein grosser Rechtskundiger.“ 1
Existiert ein Gefühl für das Recht, ein Rechtsgefühl? Was verkörpert dieser Terminus und welchen Einfluss hat das Rechtsgefühl auf die Rechtsfindung? Wird das Recht eventuell erst durch die Einbindung von Gefühlen legitim? Wer bildet und empfindet ein Rechtsgefühl, wer ist sein Träger?2 Diese Art, um das Phänomen „Rechtsgefühl“ kreisende, Fragen kam allmählich im ausgehenden 18. Jahrhundert auf und erreichte zwischen 1850 und 1930 seinen wissenschaftlichen Höhepunkt. Auch in der modernen Diskussion wird der Einfluss von Emotionen auf das Recht wieder zunehmend in den Blick genommen.3 Im Folgenden soll untersucht werden, was vergangene Zeitalter wissenschaftsübergreifend unter dem Rechtsgefühl verstanden. Wie und warum haben sich die Anschauungen dazu verändert? Behandelt werden die von charakteristischen Vertretern verfassten Konzepte zum Gefühl und Rechtsgefühl in den verschiedenen Leitwissenschaften. Das Rechtsgefühl stößt im wissenschaftlichen und gesellschaftlich-politischen Diskurs nicht selten auf große Skepsis.4 Das liegt in dem von Jhering selbst erklärten „unbestimmten Ausdruck Rechtsgefühl“ 5 und seinen verwandten Begrifflichkeiten begründet, der dadurch nach Zitelmann eine „mystische und nebel-
1 Kohler, Shakespeare, 1883, S. 255. Nach Hedemann lässt sich bei der Anwendung von Recht nicht alles auf „die nackte Verstandsformel bringen, sondern Gefühl, Wille und Phantasie stehen hierbei Pate. Gibt es ein eigenes Rechtsgefühl im Menschen?“ [ders., Einführung, 1927, S. 36]. 2 Schützeichel formuliert treffend ähnliche Fragen in: ders., Rechtsgefühl, 2016, S. 65; vgl. ferner Seminarankündigung ,Emotio Iuris. Rechtsgefühl und Urteil‘ der FU Berlin, WS 2014/15. 3 Hedemann, Einführung, 1927, S. 36; Köhler et al., Recht fühlen, 2017; Ellerbrock/ Kesper-Biermann, Between passion and senses?, 2015, S. 1–15. 4 Neumann, Radbruch, 2016, S. 1010: „Begriff von proteusartiger Wandlungsfähigkeit“; in diesem Sinne auch die Bezeichnung als „psychische Imponderabilie“ bei Edlin, Scheinprobleme, 1932, S. 14. 5 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 23.
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hafte“ 6 Seite enthält. Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass es sich bei dem Begriff des Rechtsgefühls in der rechtsphilosophischen Literatur um „ein Wort von außerordentlicher Spannweite“ 7 handelt; er kann aufgrund seines unbestimmbaren Bedeutungsspektrums gleichzeitig verschiedene Funktionen in sich schließen. Weit verbreitet ist die Auffassung von der Unmöglichkeit einer einheitlichen Begriffsbestimmung des Rechtsgefühls. Gründe dafür sind die in seiner Natur liegende „begrenzte empirische Analysierbarkeit“ und die fehlende „rationale Begründungsmöglichkeit“.8 Die Aufschlüsselung des im ausgehenden 18. Jahrhundert aufkommenden allgemeinen Phänomens „Rechtsgefühl“ soll zu einer „Entzauberung“ seiner schillernden, geheimnisvollen Gestalt beitragen und die Grundlage für die Interpretation des Jheringschen Rechtsgefühls schaffen. Vor dem Hintergrund der methodologischen Entwicklungen in den Nachbarwissenschaften Literatur und Dichtung, Philosophie, Naturwissenschaft, vor allem der Physiologie und Psychologie sowie letztlich der Jurisprudenz soll das Rechtsgefühl seit seinem ersten Auftreten verfolgt und seine von den jeweiligen Einflüssen der Leitwissenschaften abhängige Bedeutung für die Theorie und Praxis des Rechts seit dem späten 18. Jahrhundert analysiert werden.
I. Etymologie des „Rechtsgefühls“ „Die Welt würde sein Andenken haben segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtsgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder.“ 9 „Doch sein Rechtsgefühl, das einer Goldwaage glich, wankte noch.“ 10
Diese Zeilen aus Heinrich von Kleists ,Michael Kohlhaas‘ von 1810/11 sind im Deutschen Wörterbuch als älteste Quelle für den Begriff des Rechtsgefühls erfasst.11 Das gegenwärtige Kapitel hat die Untersuchung der etymologischen Herkunft des Begriffs „Rechtsgefühl“ zum Gegenstand. Untersucht werden soll sein erstes Vorkommen in den (Rechts-)Wörterbüchern und sein Sprachgebrauch in der rechtsphilosophischen Literatur seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Dem schließt sich eine Wortanalyse nach der Aufspaltung des „Rechtsgefühls“ in die Begriffe „Recht“ und „Gefühl“ an. Zuletzt wird der Versuch einer Abgrenzung zu verwandten Termini wie Rechtsbewusstsein oder Rechtsüberzeugung vorgenommen. 6 Vgl. Zitelmann zum Begriff der „allgemeinen Rechtsüberzeugung“ [ders., Gewohnheitsrecht und Irrthum, 1883, S. 385]. 7 Kuhlenbeck, Psychologie des Rechtsgefühls, 1907/08, S. 16. 8 Döderlein, Literatur, 2017, S. 66. 9 Kleist, Kohlhaas, 1810, S. 9. 10 Kleist, Kohlhaas, 1810, S. 15. 11 DWB, Bd. VIII, 1893, Sp. 432.
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B. Allgemeine Phänomenologie des Rechtsgefühls in den Wissenschaften
1. Erstes Auftreten des Begriffs „Rechtsgefühl“ Zunächst wird die Begriffsgeschichte des „Rechtsgefühls“ in den (Rechts-) Wörterbüchern seit dem 18. und 19. Jahrhundert untersucht. Die Annahme, dass sich die gefühlsmäßigen Wahrnehmungen unmittelbar nach Beurteilung ihrer Wesensmerkmale in einem sprachlichen Terminus festigen, würde auf eine späte Erscheinung des Phänomens „Rechtsgefühl“ im deutschsprachigen Raum schließen lassen.12 In den Nachschlagewerken von Adelung, Sanders und Pierer etwa lassen sich keine Einträge zum „Rechtsgefühl“ oder ähnlichen Begriffen wie „Rechtsbewußtsein“, „Rechtsüberzeugung“, „Rechtsempfinden“ finden.13 Im Jahre 1798 belegt das Deutsche Rechtswörterbuch bei Grolman den Ursprung des „Rechtsgefühls“-Begriffs, erst im Jahre 1893 das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm bei Kleists ,Kohlhaas‘ von 1810/11.14 Auf eine fehlende Wahrnehmung des „Rechtsgefühls“ in den früheren Jahrhunderten kann allerdings aus dem späten Auftreten in den deutschen Lexika nicht unmittelbar geschlossen werden, wenngleich sich eine tiefergehende Untersuchung des Rechtsgefühls bzw. des Gefühls allgemein erst durch die moderne Psychologie durchsetzte. Das Phänomen „Rechtsgefühl“ selbst ist älter.15 In den gebräuchlichen Nachschlagewerken des 19. Jahrhunderts ist der Ausdruck „Rechtsgefühl“ in den Abschnitten zu Recht und Moral, ohne jedoch ein eigenes Lemma aufzuweisen, durchgehend präsent. Der Artikel „Recht“ in Pierer’s Universal-Lexikon von 1861 etwa vermerkt ein dem Menschen angeborenes, „ursprüngliche[s] Rechtsgefühl“ 16; hier wird das Rechtsgefühl konkret im juristischen Kontext verwendet.17 Auch im zeitgenössischen Schrifttum des 18. und 19. Jahrhunderts zu den Themen Naturrecht, Moral und Ethik war ein solcher Sprachgebrauch zunächst noch selten, doch in Gestalt ei-
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Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 3 f. Vgl. Rückert, Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 386: Grammatikalisch-kritisches Wörterbuch von Adelung III, 1798; Wörterbuch der deutschen Sprache von Sanders, II 1, 1863; Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 13, 4. Aufl., 1861 – enthalten kein Lemma über das „Rechtsgefühl“. Auch zeitgenössische Sprachwörterbücher des beginnenden 20. Jahrhunderts wie Weigand, 5. Aufl., 1910; Paul/Betz, 1906 verzeichnen den Begriff des Rechtsgefühls bzw. seine Derivate nicht. Im Duden ist „Rechtsgefühl“ als das „Gefühl für Recht und Unrecht“ definiert [Duden, „Rechtsgefühl“, 9. Aufl., 2019, S. 1454]. 14 Deutsches Rechtswörterbuch, „Rechtsgefühl“, online abgerufen am 30.07.2020 mit Verweis auf Grolman, Criminalrechtswissenschaft, 1798, S. 76; DWB, Bd. VIII, 1893, Sp. 432 mit Verweis auf Kleist, Kohlhaas, 1810/11. 15 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 3 f. 16 Art. „Recht“, in: Pierer’s Universal-Lexikon, Bd. 13, 1861, S. 881. Vgl. auch Art. „Gewohnheitsrecht“, in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 7, 1907, S. 810: „aus dem natürlichen Rechtsgefühl, aus der rechtlichen Überzeugung des Volkes heraus“. 17 Vgl. Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2017, S. 95 f.; dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 16, 45. 13
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nes moralischen Gefühls durchaus gegeben.18 Der tatsächliche Ursprung des Terminus „Rechtsgefühl“ lässt sich bereits im ausgehenden 18. Jahrhundert nachweisen, auch wenn die Bezeichnung „Rechtsgefühl“ zunächst nur vereinzelt auftauchte. Nach anfänglichen, verwandten Nachforschungen in Rousseaus ,Emile‘ als „sentiment de la justice“ 19 oder etwa in Humes ,Treatise‘ als „moral sense“ 20 beginnt die rechtsphilosophische Begriffsgeschichte des Rechtsgefühls in Deutschland im Jahre 1796 bei Feuerbach, wenn er in seiner ,Kritik des natürlichen Rechts‘ von Recht als „Gegenstand unserer rechtlichen Gefühle“ spricht und betont, dass jeder Mensch „ein Gefühl seiner Rechte“ habe.21 Im gleichen Sinn begreift Reinhard das Rechtsgefühl als im Menschen präformiert, ein inneres „Mein und Dein“, „ehe [man] von Moralität Etwas begreife“.22 Im Jahr 1798 sprach Garve von einem „Gefühl dessen [. . .], was Recht und Unrecht, Tugend und Laster wäre“.23 Er erfasste das moralische Gefühl in seiner bedeutenden ,Übersicht der vornehmsten Principien der Sittenlehre‘ als ein „Wort, welches fast alle Menschen im Munde führen und nur Wenige verstehen“.24 Bereits 1789 gebrauchte Madihn „moralisches Gefühl“ als „Gewissen [. . .] oder innerlicher Trieb, welcher uns [. . .] antreibt, das Naturgesetz zu erfüllen“ und darüber hinaus als „subjective[n] Erkenntnisgrund“.25
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Vgl. Rückert, Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 386 ff. Rousseau, Oeuvres Complètes IV, Emile, S. 584; ebd., S. 522 f.: „Je ferois voir, que justice et bonté ne sont seulement des mots abstraits, de purs être moraux formés par l’entendement, mais de véritables affections de l’âme éclairée par la raison, et qui sont qu’un progrés ordonné des nos affections primitives [. . .] que tout le droit de la nature n’est qu’une chimère, s’il n’est fondé sur un besoin naturel au coeur humain.“ [freie Übersetzung: „Ich möchte aufzeigen, dass Gerechtigkeit und Güte nicht nur abstrakte Worte sind, reine moralische Wesen, die durch Verstand gebildet werden, sondern wahre Zuneigung der durch die Vernunft erleuchteten Seele, die nur ein geordneter Prozess unserer primitiven Zuneigungen sind [. . .] dass das ganze Naturgesetz nur eine Chimäre [Hirngespinst] ist, wenn es nicht auf einem natürlichen Bedürfnis im menschlichen Herzen beruht.“]. 20 Hume, Human Nature, 1739, III.; ders., Principles of Morals, 1777, III. 2; ders., Untersuchung über die Philosophie der Moral, 1928, S. 19 ff. 21 Feuerbach, Kritik, 1796, S. 83, 234. So beobachtete auch Reinhard im Jahre 1797: „Wenn das Rechtsgefühl frühe sich äussert, so äussert es sich eben so richtig und bestimmt.“ [ders., Versuch, 1797, S. 109]. Ferner spricht der Schweizer Pestalozzi unspezifisch von „Rechtsgefühl“ [ders., Volksbildung, 2. Aufl., 1790, S. 318]; so auch Klein, Strafe, 1799, S. 103; vgl. dazu Schützeichel, Rechtsgefühl, 2016, S. 70. 22 Reinhard, Versuch, 1797, S. 108. 23 Garve, Sittenlehre, 1798, S. 156; schon Feder, Gefühl, 1792, S. 13 ff.; Henrici, Versuch II, 2. Aufl., 1822, S. 106 f.: „Gefühle für Recht und Unrecht“ oder „Gefühl der Gerechtigkeit“. 24 Garve, Sittenlehre, 1798, S. 302. 25 Madihn, Naturrecht, 1789, §§ 26 ff.; Schlegel vertrat Anfang des 19. Jahrhunderts eine „gefühlte Rechtlichkeit, die mehr ist als die Gerechtigkeit des Gesetzes und der Ehre“ noch als religiös-sittliche Pflicht [ders., Europa, 1803, S. 12]. Vgl. dazu insb. Rückert, Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 387 ff. 19
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B. Allgemeine Phänomenologie des Rechtsgefühls in den Wissenschaften
Kant und einige Kantianer inkorporierten die zu jener Zeit hochaktuelle englische moral-sense-Philosophie, wenngleich sie den Begriff des „moralischen Gefühls“ oder „Sinns“ „gegen den sonstigen Sprachgebrauch rationalistisch umprägten“.26 Das moralische Gefühl war für ihn viel mehr ein Achtungsgefühl, das in der Anerkennung eines allgemeingültigen, vernunftgesteuerten Sittengesetzes und in der Ablehnung jeglicher Emotionen seinen Ausdruck fand.27 So bleibt festzuhalten, dass der Begriff des Rechtsgefühls oder moralischen Gefühls zwar präsent war, aber nicht einheitlich und unspezifisch verwendet wurde. Die Formung des (Rechts-)Gefühlsbegriffs im 18. Jahrhundert ist maßgeblich motiviert durch den Geist der Aufklärung. Die zeitgenössischen ästhetischen und moralphilosophischen Einflüsse bilden die Schanierstellen zwischen Recht und Gefühl. Dem Gefühl wird fortan eine epistemische Kraft zugesprochen, die eine neue Zuordnung von Recht und Gefühl bewirkt.28 Diese Ansätze eines im späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts nun langsam aufkommenden Rechtsgefühlsbegriffs sind Ausdruck der sozialen und politischen Umbrüche und vor dem Hintergrund des allmählichen Wandels von der altständischen zu einer bürgerlichen Gesellschaft einzuordnen. Hieraus resultierte eine neue Bestimmung der Konstitution von Individuum und Staat, nach der der Mensch künftig als Staatsbürger wahrgenommen wurde. Als Folge entstand ein gesteigerter „Reflexions- und Handlungsbedarf aufseiten des Rechts“ und somit entwickelte sich auch ein Interesse für das Rechtsgefühl.29 In erster Linie prägte die Rechtsphilosophie des 18. und 19. Jahrhunderts das Phänomen „Rechtsgefühl“, indem ihre Vertreter begannen, dessen Entstehung 26 Rückert, Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 387 mit Verweis auf Kant, Metaphysik der Sitten, I: Rechtslehre, 2. Aufl., 1798, AB 19 f.; ders., Kritik der praktischen Vernunft, 1788, A 132 ff.; ders., Metaphysik der Sitten, II: Tugendlehre, 1797, A VI f., 16, 35 ff. In die gleiche Richtung monierte auch Fichte im Jahre 1798: „Damit das Wort Gefühl nicht zu gefährlichen Mißverständnissen Anlaß gebe [. . .].“ [ders., Sittenlehre, 1798, S. 153–158 (§ 15 IV)]. Auch nach Jakob „unterscheidet sich [das moralische Gefühl] von allen übrigen Gefühlen dadurch, daß es erst auf das Gesetz folgt. Das moralische Gefühl ist also nicht der objective Bestimmungsgrund des Gesetzes, so daß man um des Gefühls willen erst das Gesetz entwürfe, und es beobachtete, weil es als ein Mittel zu diesem Wohlgefallen angesehen würde; sondern es ist das Gesetz selbst, das sich in einem sinnlichen Subjecte nicht anders als durch ein Gefühl ankündigen kann, und welches eben daher ein so ganz eigenthümliches Gefühl ist.“ [ders., Philosophische Sittenlehre, 1794, S. 70]; ferner ders., Über das moralische Gefühl, 1788, S. 14 f., 25. Warnkönig verwendete im Jahre 1839 das „Gerechtigkeitsgefühl“, ebenso im Sinne eines moralischen Gefühls. [ders., Rechtsphilosophie, 1839, S. 232, 202]. Vgl. dazu eingehend Rückert, Kleist-Jahrbuch 1988/89, S. 384 f. 27 Vgl. Döderlein, Literatur, 2017, S. 51 mit Verweis auf Recki, Gefühle, 2004, S. 280 ff.; im Übrigen eingehend zum Gefühl bei Kant B. II. 2. 28 Vgl. Köhler/Schmidt, Savigny and Uhland, 2015, S. 17–46. 29 Köhler et al., Recht fühlen, 2017, S. 12.
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und Verhältnis zum Recht zu untersuchen.30 Die philosophischen Lehren wurden im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert jedoch zunehmend zunächst von der Psychologie und dann von den Naturwissenschaften abgelöst.31 Der aufblühende Positivismus durchzog auch die Jurisprudenz, die nunmehr vermehrt naturwissenschaftlichen Prämissen bei der Bildung und Anwendung von Recht nachging.32 2. Kompositum aus den Worten „Recht“ und „Gefühl“ Die schwere Fassbarkeit des Terminus „Rechtsgefühl“ liegt ferner in der semantischen Unterscheidung der beiden lexematischen Wortteile „Recht“ und „Gefühl“ begründet. Im Folgenden wird daher der Versuch einer definitorischen Annäherung durch die getrennte Analyse der Begriffe „Recht“ und „Gefühl“ unternommen.33 „Recht“ bzw. „recht“ kann als Adjektiv und zugleich als Substantiv auftreten. Es stammt von dem lateinischen rectus (Partizip zu regere) ab und meint „geraderichten“. Nach dem Deutschen Wörterbuch aus dem Jahre 1893 kommt „recht“ seiner adjektivischen Bestimmung nach ursprünglich eine sinnliche Bedeutung zu, indem „das rechte [. . .] als das gerade theils dem krummen theils dem schiefen entgegengesetzt“ wird.34 Bald setzte es sich als „richtig, dem zweck und der benennung entsprechend“, „wahr, eigentlich“,35 „passend, sachgemäsz“,36 „wie es sein soll, treffend“ 37 oder „sittlich richtig, rechtschaffen“ 38 durch.39 Der Begriff „Recht“ als Substantiv wird nach dem Deutschen Wörterbuch einerseits „als subjectiver begriff“ 40, „von der anwendung der gesetzlichen norm auf den einzelfall“ 41 verstanden, anderseits „als gesetzliche norm, welche die stellung der menschen in einem staatswesen nach maszgabe ihrer verbind30 Vgl. B. II. 2.; siehe auch schon Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2017, S. 95 f.; dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 16. 31 Vgl. B. II. 3. 32 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 30. 33 So bereits jüngst Döderlein, Literatur, 2017, S. 24 ff. 34 Vgl. DWB, Bd. VIII, 1893, Sp. 388. 35 Vgl. DWB, Bd. VIII, 1893, Sp. 391. 36 Vgl. DWB, Bd. VIII, 1893, Sp. 397. 37 Vgl. DWB, Bd. VIII, 1893, Sp. 401. 38 Vgl. DWB, Bd. VIII, 1893, Sp. 402. 39 Duden, „recht“, 9. Aufl., 2019, S. 1453: „richtig, geeignet, passend (in Bezug auf einen bestimmten Zweck)“; „richtig; dem Gemeinten, Gesuchten, Erforderlichen entsprechend“; „dem Gefühl für Recht, für das Anständige, Angebrachte entsprechend“; „jemandes Wunsch, Bedürfnis oder Einverständnis entsprechend“; „so, wie es sein soll; richtig, wirklich, echt“; „ziemlich [groß]; ganz“. 40 Vgl. DWB, Bd. VIII, 1893, Sp. 365. 41 Vgl. DWB, Bd. VIII, 1893, Sp. 381.
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lichkeiten regelt; recht im objectiven sinne ist die staatliche ordnung der lebensverhältnisse“ 42.43 Nach dem modernen Rechtsbegriff in Creifelds’ Rechtswörterbuch ist das Recht im objektiven Sinne „die Rechtsordnung, d. h. die Gesamtheit der Rechtsvorschriften, durch die das Verhältnis einer Gruppe von Menschen zueinander oder zu den übergeordneten Hoheitsträgern oder zwischen diesen geregelt ist.“ Unter subjektivem Recht wird die „Befugnis“ verstanden, „die sich für den Berechtigten aus dem objektiven Recht unmittelbar ergibt“ oder „die aufgrund des objektiven Rechts erworben wird“.44 Darüber hinaus kann der Begriff des Rechts neben seiner Differenzierung zwischen objektivem oder subjektivem Sinne auch überpositives Recht, dh. Recht im ethischen Sinne, also die Zuordnung, was nach der sittlichen Ordnung richtig oder recht ist, umfassen.45 Ferner ist die Bestimmung von „Recht“ letztlich abhängig von seinem sprachpraktischen Einsatz und seinem anwendungsbezogenen, gesellschaftlichen sowie ideologischen Hintergrund.46 Folgerichtig können „Recht“ und damit auch das auf dieses bezogene „Rechtsgefühl“ mehrere Bezugsebenen und Funktionen in sich schließen. Nach dem Grimmschen Wörterbuch bildet „Gefühl“ das Substantiv „zu fühlen, empfinden, d. h. sinnlich empfinden“; es ist ursprünglich kein hochdeutsches und ein vergleichsweise junges, im 17. Jahrhundert entstandenes Wort.47 Nach der neuesten Definition im Duden bezeichnet der Ausdruck „Gefühl“ „das Fühlen; (durch Nerven vermittelte) Empfindungen“, eine „psychische Regung, Empfindung des Menschen, die seine Einstellung und sein Verhältnis zur Umwelt mitbestimmt“, „gefühlsmäßiger, nicht näher zu erklärender Eindruck; Ahnung“ oder die „Fähigkeit, etwas gefühlsmäßig zu erfassen; Gespür“.48 42
Vgl. DWB, Bd. VIII, 1893, Sp. 376. Duden, „Recht“, 9. Aufl., 2019, S. 1453: „1. Gesamtheit der staatlich festgelegten bzw. anerkannten Normen des menschlichen, besonders gesellschaftlichen Verhaltens; Gesamtheit der Gesetze und gesetzähnlichen Normen; Rechtsordnung“; „2. berechtigter zuerkannter Anspruch, Berechtigung oder Befugnis“; „3. Berechtigung, wie sie das Recht[sempfinden] zuerkennt.“ 44 Creifelds, Rechtswörterbuch (Recht), 22. Aufl., 2017, Sp. 1062. 45 Sprenger, Rechtsgefühl ohne Recht, 2003, S. 324, 326; ferner Kaufmann, Rechtsgefühl, 1985, S. 191 ff.; Raiser, Rechtsgefühl, 1998, S. 110; Husserl, Recht und Welt, 1964, S. 104 f.; Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 37 ff. Auch diese Differenzierung ist bei der Charakterisierung des Jheringschen Rechtsgefühls entscheidend, siehe D. und E. 46 Vgl. rechtsphilosophische Analyse des Rechtsgefühls Anfang des 20. Jahrhunderts von Kornfeld, Rechtsgefühl II., 1919, S. 96; ders., Rechtsgefühl I, 1914, S. 154 f.; jüngst Döderlein, Literatur, 2017, S. 24, 36. 47 DWB, Bd. IV I, 2, 1897, Sp. 2167. Zum Lemma „Gefühl“ vgl. ferner: Brockhaus I, 4. Aufl., 1886, S. 793; Scheer, „Gefühl“, ÄGB II, 2010, S. 629 ff. 48 Duden, „Gefühl“, 9. Aufl., 2019, S. 696. Zur Gefühlsforschung Kochinka, Emotionstheorien, 2002. 43
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Bei getrennter Betrachtung der Wortbestandteile des Rechtsgefühlsbegriffs spricht die Konnotation „Gefühl“ zunächst für dessen grundsätzlich subjektiven Charakter.49 Die verschiedenen Dimensionen des Rechtsbegriffs bilden dabei die Bezugspunkte für das Gefühl. So zwingt der Ausdruck „Rechtsgefühl“ am Ende „das Allerallgemeinste, das Recht, mit dem Allerindividuellsten, dem Gefühl, unter das Joch eines Kompositums“ 50 und verursacht damit eine antithetische Spannung auf engstem Raum.51 Letztlich kann für die Konstitution des Rechtsgefühls vorläufig festgehalten werden: Das Rechtsgefühl mit seiner Hauptkomponente „Gefühl“ bildet den Inbegriff dessen, was man unter emotional-wertenden Attributen des Rechtssubjekts versteht und verkörpert eine Beziehung zwischen diesen subjektiven Merkmalen und dem „Recht“. 3. Abgrenzung zu semantischen Derivaten „Sind sie mehr als farbenprächtige Wort-Kulissen für die Illusionsnummern behendiger Gedankenjongleure?“ 52
Diese kritischen Worte Geigers stehen stellvertretend für die in der rechtswissenschaftlichen Literatur überwiegende Auffassung einer „verwirrenden, unbefriedigenden Komplexität und Unschärfe des [Rechtsgefühls-]Begriffs“.53 Die Gründe dafür sind zu finden in seinem subjektiven Kern und in einer fehlenden theoretischen Fundierung durch die klassische Rechtswissenschaft und Rechtssoziologie.54 Der Terminus „Rechtsgefühl“ umspannt in der Rechtsliteratur letztlich eine Vielzahl undefinierter Erscheinungen wie Rechtsbewusstsein, Rechtsüberzeugung, Rechtsempfinden, Rechtsinstinkt oder Rechtstrieb bzw. lässt sich schwer von diesen verwandten Begrifflichkeiten unterscheiden.55
49 Für eine getrennte Betrachtung der Wortbestandteile spricht sich insbesondere Bihler aus [ders., Rechtsgefühl, 1979, S. XVIII]. Sprenger dagegen will bei seiner Forschung über das Rechtsgefühl „Recht“ und „Gefühl“ nicht gesondert untersuchen, vielmehr sei es zielführender, „die Strukturen des einen im anderen freizulegen“ [ders., Rechtsgefühl ohne Recht, 2003, S. 337]. 50 Eybl, Kleist-Lektüren, 2007, S. 189. 51 Vgl. Döderlein, Literatur, 2017, S. 40; ferner Schützeichel, Rechtsgefühl, 2016, S. 72; Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 11 ff. In diesem Sinne beschreibt auch Kornfeld das Rechtsgefühl als „die unter ,Gefühl‘ begriffenen emotionellen Vorgänge, sofern dieselben zu der Idee des Rechts in Beziehung stehen, also mit Inhalten der Rechtsidee oder des Rechtsbegriffs verknüpft sind“ [ders., Rechtsgefühl I, 1914, S. 154]. 52 Geiger, Soziologie des Rechts, 1964, S. 382; siehe auch Bloch, Naturrecht, 1961, S. 17. 53 Müller-Dietz, Rechtsgefühl, 1985, S. 37–54; ferner ebd., S. II. 54 Hoche, Rechtsgefühl, 1932, S. 8. 55 Schützeichel, Rechtsgefühl, 2016, S. 72.
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Bei einem Versuch der Abgrenzung des „Rechtsgefühls“ zu verwandten Begrifflichkeiten mittels der zeitgenössischen Studien zur Rechtsphilosophie und -soziologie des 20. Jahrhunderts werden schnell die Grenzen deutlich.56 In der Tendenz einer zwischen dem intransparenten, individuellen „Rechtsgefühl“ und dem mehr rationalen „Rechtsbewusstsein“ vorgenommenen Unterscheidung ist zwar ein grobes Abgrenzungsmuster erkennbar, letztlich wird aber nur eine nicht klar definierbare Differenzierung des Rechtsgefühlsbegriffs zu den Termini ähnlicher Klangfarbe bekräftigt.57 Ferner spiegelt sein zum Teil völlig identischer Gebrauch in der Rechtsgefühlsliteratur bis heute die Undurchsichtigkeit des Ausdrucks „Rechtsgefühl“ wider.58 Die „rein sprachliche, semantische Vagheit der 56 Ein Querschnitt der wenigen brauchbaren, repräsentativen Differenzierungsansätze bestätigte die Unmöglichkeit einer befriedigenden Begriffsunterscheidung: So interpretiert Klein das Rechtsgefühl als individuelle Gemütsbewegung ohne bestimmte Wirkungsmuster; es exisitiere keine „Standardmarke“ für das Rechtsgefühl. Rechtsbewusstsein und Rechtsüberzeugung dagegen zeichnen eine „besondere intellektuelle Behendigkeit“ aus [Klein, psychischen Quellen, 1912, S. 37 f.]. Auch Kübl differenziert nach seinen Trägern, wenn er den verwandten Ausdruck „Rechtsbewusstsein“ als „die Summe von Gefühlen einer Allgemeinheit“, im Sinne eines generellen Gefühls umfasst. [Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 15]. Das Rechtsgefühl beschreibt er spezifischer als individuellen Zustand, es setze sich aus einer affektiven, spontanen Komponente, einem „Gefühl der Identität und Wahrheitsgefühl“ und zuletzt aus dem „intellektuellen Moment der erfolgten bewußten Rechtsanwendung“ zusammen [ebd., S. 89]. Düwel will nur eine vage, keine nachweisbare Abgrenzung vornehmen. Er nehme das Rechtsbewusstsein in der Literatur überwiegend als eine „klare und rationale Vorstellung über Rechte und Pflichten“, das Rechtsgefühl mehr als ein „instinktives und emotionales Empfinden für das Dürfen und Sollen“ wahr [Düwel, Rechtsbewusstsein, 1961, S. 15 mit Verweis auf Coing, Rechtsphilosophie, 1950, S. 51; Huber, Recht und Rechtsverwirklichung, 2. Aufl., 1925, S. 205; Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 86. Ähnlich Schlefer, Rechtsgefühl und Rechtspflege, 1908, S. 193. Düwel, Rechtsbewusstsein und existenzielle Entscheidung, 1961, S. 16 mit Verweis auf Hoche, Rechtsgefühl, 1932, S. 25 f.; Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 14; Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 14; Kuhlenbeck, Psychologie des Rechtsgefühls, 1907/08, S. 19]. Ähnlich stellt Riezler keinen eindeutigen Unterschied zwischen Rechtsgefühl und Rechtsbewusstsein fest. Demnach sei im Sprachgebrauch eine Tendenz zu erkennen, dem Bewußtsein im Gegensatz zu einem intransparenten, mystischen Gefühl klare Wahrnehmungen beizumessen. Beim Terminus Rechtsgefühl würden die gefühlsmäßigen Komponenten, beim Ausdruck „Rechtsbewusstsein“, wie auch bei der verwandten „Rechtsüberzeugung“, die kognitiven überwiegen [Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 23 f.]. Isay differenziert offenkundiger: Das „Rechtsbewusstsein“ beinhalte nach der herrschenden Lehre eine „klare Vorstellung“ von der Rechtsordnung, das „Rechtsgefühl“ sei hingegen ein bloß „unklares Gefühl“. Der Begriff „Rechtstrieb“ sei neben seiner seltenen Verwendung „zu unbestimmt, um sich einer allgemeinen Verwendung zu empfehlen“. „Rechtsempfinden“ würde seiner Auffassung überwiegend gleichbedeutend mit „Rechtsgefühl“ verwendet werden [Isay, Rechtsgefühl, 1987, S. 89 f. Auch Riezler ordnet Rechtsgefühl und Rechtsempfinden als Synonyme ein [ders., Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 11 ff.]. 57 Bihler, Rechtsgefühl, 1979, S. 21. 58 Insbesondere nach Hoche und Düwel weisen die Termini „keine natürlichen Sinngrenzen“ auf, sie seien lediglich „durch mehr oder weniger willkürliche Definitionen von Fall zu Fall“ erzeugt [Hoche, Rechtsgefühl, 1932, S. 6 ff.; Düwel, Rechtsbewusstsein, 1961, S. 15 f.].
II. Das Rechtsgefühl in den Nachbarwissenschaften
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Worte“ macht letztlich eine klare und abschließende Bestimmung des Begriffs unmöglich.59 Dies bestätigen auch die Übersetzungsversuche ins Englische. „Rechtsgefühl“ wird überwiegend übersetzt in „the feeling of the legal right“ 60 oder „sense of justice“.61 Da mit jeder dieser Varianten bereits eine Wertung vorgenommen wird, ist auch eine zufriedenstellende Übersetzung des Rechtsgefühls im Ergebnis nicht durchführbar. Allen Begriffen ist letztlich gemein, dass sie „als psychische Erscheinungen nicht aus einer abstrakten Idee a priori, sondern nur empirisch erfaßt werden können“.62 Seit jeher fehlt es in der (Rechts-)Gefühlsforschung jedoch an einer homogenen, empirisch zugänglichen Grundlage. Während die Begründung eines klassifizierenden Rechtsgefühlskonzepts bisher ausblieb, findet sich lediglich ein „Konvolut verschiedener gegenständlicher, begrifflicher und methodologischer Ansätze“.63 Daher gilt es, die verschiedenen wissenschaftlichen und epochalen Strömungen der (Rechts-)Gefühlsforschung zu kategorisieren (II. und III.).
II. Das Rechtsgefühl in den Nachbarwissenschaften Schon Hof- und Gerichtsadvokat Kübl stellte im Jahre 1913 in seiner Abhandlung ,Das Rechtsgefühl‘ fest, dass es ein „direktes Mittel zur Erforschung des Rechtsgefühls“ nicht gebe: „Im Wesentlichen [könne] man lediglich die Resultate, welche die Psychologie, Physiologie, Jurisprudenz und Kulturgeschichte mit den jeder dieser Disziplinen eigenen Forschungsmethoden gewonnen haben, verwerten.“ 64
Das Phänomen „Rechtsgefühl“ wird anhand der die jeweilige Epoche prägenden (Rechts-)Gefühlsdebatte der einzelnen Nachbarwissenschaften des Rechts, namentlich von Literatur und Dichtung, Philosophie, Physiologie und Psychologie, näher untersucht und damit die Grundlage für die Interpretation des Jheringschen Rechtsgefühls im 19. Jahrhundert, der Blütezeit der deutschen Jurisprudenz, geschaffen. Dies geschieht zunächst durch die detaillierte Betrachtung der allgemeinen Theorietraditionen über Gefühle und im Speziellen die Entstehungsgeschichte 59
Geiger, Soziologie des Rechts, 1964, S. 382. Jhering, struggle, 1879, Lalor-Ausgabe. 61 U. a. Fikentscher, sense of justice, 1991, pp. 314–334; Rehbinder, sense of justice, 1982, pp. 341–348. 62 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 25; vgl. auch Maier, Psychologie, 1908, S. 731 f. 63 Döderlein, Literatur, 2017, S. 41. Gerade das soll Gegenstand dieser Arbeit sein: ein „einheitliches Klassifikationsschema“ des Rechtsgefühlsbegriffs bei Jhering, vgl. E. 64 Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 10. 60
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B. Allgemeine Phänomenologie des Rechtsgefühls in den Wissenschaften
und Ausbildung des Rechtsgefühls in den Wissenschaften des ausgehenden 18. Jahrhunderts bis hinein in das späte 19. und beginnende 20. Jahrhundert.65 Jedes Zeitalter zeichnet sich durch ein „spezifisches ,Gefühlspanorama‘ “ aus.66 Je nach geschichtlichem Standpunkt und vorherrschender Leitwissenschaft wandelt sich die Bedeutung von (Rechts-)Gefühlen. Das Überangebot an gefühlsbasierter Literatur kann nur durch eine systematische Auswahl geordnet werden. Nachfolgend wurden die charakteristischen Vertreter der literarischen, rechtsphilosophischen und naturwissenschaftlichen Forschungsbereiche ausgewählt, um die wichtigsten Entwicklungsstufen des Rechtsgefühlsbegriffs nachzuzeichnen. Als Ausgangspunkt wird das ausgehende 18. und beginnende 19. Jahrhundert als „epochale Schlüsselstelle“ für die nachfolgende Untersuchung der allgemeinen Phänomenologie des Rechtsgefühls festgelegt. Die Gründe dafür liegen in der Gestaltung des modernen Rechtswesens und der damit einhergehenden Entwicklung des Rechts hin zu einer politischen und gesellschaftlichen Regelungsinstanz. Die europäische Aufklärung und die politischen Bewegungen der Revolutionszeit führten zur Säkularisation und zum Aufstieg des Bürgertums. Der Mensch wurde nun als autonomes Subjekt mit seinen persönlichen Empfindungen wahrgenommen und akzeptiert.67 Dem (Rechts-)Gefühl wurde erstmals ein persönlicher, erkenntnistheoretischer Wert im Sinne einer „Selbstreferenz“ beigemessen.68 Bald wurden (Rechts-)Gefühle nicht mehr vorrangig von der Philosophie studiert,69 sondern erhielten als naturwissenschaftlich erklärbare, körperliche Vorgänge durch experimentelle physiologische und psychologische Methoden einen neuen Zugang. 1. Rechtsgefühl in der schönen Literatur und Dichtung „Im literarischen Werk verschränken sich die faktuale und die fiktionale Ebene des Gefühlsdiskurses und entwerfen ein jeweils typologisches Konzept einer epochencharakterisierenden Gefühlskultur.“ 70
Im Folgenden wird das Rechtsgefühl in der „schönen“ Literatur und Dichtung seit dem 18. Jahrhundert beleuchtet. Nach dem Vorbild Döderleins sollen durch eine „diachrone Vorgehensweise“ die verschiedenen Literaturepochen auf das 65
Vgl. jüngst Schützeichel, Rechtsgefühl, 2016, S. 68 f. Döderlein, Literatur, 2017, S. 48. 67 Döderlein, Literatur, 2017, S. 17 f., 29. Ferner waren nach Döderlein der Niedergang des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation (1806) und Wiener Kongress (1815) „markante historische Eckdaten“; hierzu auch Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 305 ff., 325 ff. 68 Köhler/Müller-Mall/Schmidt/Schnädelbach, Recht fühlen, 2017, S. 10. Eingehend B. II. 69 Vgl. detailliert in B. II. 2. ,Rechtsphilosophische Lehren über das Rechtsgefühl‘. 70 Döderlein, Literatur, 2017, S. 48. 66
II. Das Rechtsgefühl in den Nachbarwissenschaften
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Rechtsgefühl hin untersucht und dem Zeitgeist entsprechende Entwicklungstendenzen im chronologischen „Längsschnitt“ dargelegt werden.71 Gefühle werden durch Kontextualisierung des geltenden historischen Werteverständnisses greifbar. Literatur und Dichtung deuten die Gefühlszustände in ihrem geschichtlichen Zusammenhang und geben ihnen spezifische Ausdrucksformen. So werden Abbildungen der faktischen Wirklichkeit erzeugt, in denen sich Gefühle als Idee der Gesellschaft und Kultur realisieren.72 Ziel ist, durch die Literatur einen Erkenntnisgewinn über ihr Sprachrohr „Rechtsgefühl“ zu erreichen.73 Die Dichter und Schriftsteller der einzelnen Literaturepochen schaffen durch ihre Protagonisten eine Verknüpfung zwischen Rechts- und Lebenswirklichkeit. Dabei bieten insbesondere Konflikte mit dem geltenden Recht den „Nährboden für die dramatischen Dualismen“. Für den Inhalt des literarischen Stückes sind dabei vor allem die Form des geltenden Rechtssystems sowie Ausbildung und Charakteristik des individuellen Rechtsgefühls des Protagonisten zentral.74 Die enge Wechselbeziehung von Literatur und Rechtsgefühl ging aus dem Ursprung des (Rechts-)Gefühlsbegriffs in Kleists ,Kohlhaas‘ im ausgehenden 18. Jahrhundert hervor.75 Kants Wahlspruch der Aufklärung: „Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ 76 wurde umgesetzt. Die Literatur verblieb nicht bei einer die Vernunft verherrlichenden und zur Gefühlsbeherrschung verpflichtenden Aufklärung. Sondern das Individuum stand nun erstmals als autonomes Wesen des gesellschaftlichen und kulturellen Denkens mit seinen Wünschen, Emotionen und Forderungen im Mittelpunkt. Eine Vielzahl von Schriftstellern entfachte einen Gefühlskult, ein „emotionsbasiertes Ergänzungsprogramm zum rationalen Diktat der Zeit“.77 Der Mensch sollte über seinen emanzipierten Status hinaus in seiner Unität studiert werden:
71
Döderlein, Literatur, 2017, S. 18. Mannheim, Rechtsgefühl und Dichtung, 1921, S. 251–289. Andererseits spricht Döderlein von der „suggestive[n] Wirkkraft literarisch entworfener Gefühlsszenarien“. Nach ihr können „fiktiv gestaltete Gefühle den Radius der erdachten Welt verlassen und in die Lebenswirklichkeit des Lesers vordringen.“ [dies., Literatur, 2017, S. 60]. 73 Döderlein, Literatur, 2017, S. 18, 48. Vgl. ferner Plamper, Geschichte und Gefühl, 2012. 74 Döderlein, Literatur, 2017, S. 301. 75 Siehe B. I. 1. 76 Kant, Aufklärung, 1784, S. 481. 77 Döderlein, Literatur, 2017, S. 60 mit Verweis auf Boeschenstein, Deutsche Gefühlskultur I, 1954, S. 7: „eine andere Welle der Aufklärung, die mit der Freiheit des Denkens nun auch die Freiheit des Fühlens herbeitrug“. Zu den philosophischen Lehren über das Rechtsgefühl ausführlich folgendes Unterkapitel B. II. 2. 72
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B. Allgemeine Phänomenologie des Rechtsgefühls in den Wissenschaften „Gerade hatte man sich des engen religiösen Glaubenskorsetts entledigt, da sollte nicht unmittelbar das nächste Joch im Sinne einer zwanghaften vernunftpostulierenden Restriktion folgen.“ 78
Diese gesellschaftlichen Umstände verlangten nach einem Ventil. Die Epoche der ,Empfindsamkeit‘ (1740–1790) kann als Ursprung der „literarischen Emphase des menschlichen Gefühls“ bezeichnet werden.79 Der Höhepunkt des Gefühlskultes wurde in der darauffolgenden Epoche des ,Sturm und Drang‘ (1767–1785) erreicht.80 Dessen Anhänger fordern eine grundlegende „Entfesselung des Gefühls“, die „Emanzipation alles Subjektiven“. Affekt und Gefühl sollten von nun an die sittlichen Werte ablösen.81 Insbesondere Herder als wichtiger Vertreter räumte dem Gefühl als „innere Instanz“, „innerer Sinn“ oder auch „Selbstgefühl“ einen zentralen Stellenwert ein und distanzierte sich auf diese Weise vom ästhetischen Vernunft- und Verstandsdenken.82 Er akzentuierte die die Persönlichkeit prägende Bestimmung des Gefühls:83 „Ich fühle mich! Ich bin!“ 84 und manifestierte damit im Jahr 1769 das Gefühl als „konstitutives Element des Menschseins“.85 Schillers ,Sonnenwirt‘, ,Der Verbrecher aus verlorener Ehre – eine wahre Geschichte‘86 aus dem Jahre 1792 ist ein Kriminalbericht, der eine neue strafrechtliche Methode in der Aufklärung von Verbrechen nachweist. Darin liegt das Bekenntnis zum wachsenden Stellenwert des Einzelnen im juristischen Diskurs begründet. Man wollte durch die neue Dimension des Täterprofils, durch die erweiterte Frage nach dem ,Wer und Warum‘, eine vollständige Aufdeckung der psychischen und zwischenmenschlichen Motive bei der Verletzung einer Strafnorm anstreben. Damit wurde der Umbruch hin zur Subjektivität des Einzelnen auch im strafrechtlichen Diskurs literarisch umgesetzt.87 Schillers Werk kann als Kampagne gegen unbillige Entscheidungen der Rechtsprechung des absolutisti-
78
Döderlein, Literatur, 2017, S. 61; Boeschenstein, Deutsche Gefühlskultur I, 1954,
S. 7. 79 Döderlein, Literatur, 2017, S. 61 mit Verweis auf Frevert, Gefühle definieren, 2011, S. 10. 80 Zu ihren Vertretern gehören u. a. Herder, von Goethe, Schiller. 81 Döderlein, Literatur, 2017, S. 61: Nicht mehr das Objekt, sondern das Subjekt mit seinen Gefühlen wurde fortan als Vorlage verwendet; u. a. brachte dies Engel in seinem Werk ,Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten‘ (1783) zum Ausdruck. 82 Herder, Sinn des Gefühls, 1994, S. 236; vgl. dazu insb. Köhler/Schmidt, Rechtsgefühl, 2015, S. 177; Frevert, Gefühle definieren, 2011, S. 13. 83 Wassmann, Macht der Emotionen, 2002, S. 11. 84 Herder, Sinn des Gefühls, 1994, S. 236; so auch Frevert, Gefühle definieren, 2011, S. 13. 85 Döderlein, Literatur, 2017, S. 46. 86 Zunächst 1786 unter dem Titel „Verbrecher aus Infamie“ veröffentlicht. 87 Siehe auch Linder/Ort, Recht und Moral, 2015, S. 16 f., Fn. 21; Döderlein, Literatur, 2017, S. 18.
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schen Staates gewertet werden. Er prophezeite eine Erhöhung des Konfliktpotentials zwischen Staat und Individuum und der Emanzipation des Bürgers vom Staat durch den Einsatz des individuellen Rechtsgefühls. So entwickelte sich die Kantische Formel der Aufklärung zu der Legitimation des Individualismus88: „Der wachsende Individualismus aber führt zu einer Zunahme von Konflikten mit der Obrigkeit – diese wiederum fördern den Individualismus und damit auch das wachsende Vertrauen auf das eigene Rechtsgefühl: ein Zyklus, der schließlich zu Revolutionen führen muß.“ 89
Ein unerschüttliches Ordnungsdenken sowie die strikte Anerkennung und Einhaltung der Gesetze innerhalb der Gesellschaft kennzeichnen dieses Zeitalter. Die im ausgehenden 18. Jahrhundert wachsende Auflehnung von „Sonderlingsexistenzen“ durch zivilen Ungehorsam und Rechtsbruch, die als Protagonisten der literarischen Texte im Folgenden behandelt werden, schien aussichtslos.90 Mit der Ausbildung der Psychologie, der „Erfahrungsseelenkunde“, aber zeigt sich nun zunehmend Rechtsunsicherheit.91 Bald reagieren die Anhänger des ,Sturm und Drang‘ mit der Einführung einer innovativen „Genieästhetik“ in Opposition zu den Vertretern der Regelpoetik, die sich durch „dogmatische Strenge und Regelhaftigkeit“ des poeta doctus auszeichneten.92 Diese „epochal organisierte Emphase des Gefühls“ in den Literaturepochen der ,Empfindsamkeit‘ und ,Sturm und Drang‘ war neben der ,Romantik‘ in der gesamten Geschichte der Literatur und Dichtung einmalig.93 In der literarischen Beschäftigung mit der Diskrepanz zwischen Recht und Rechtsgefühl kann die Novelle ,Michael Kohlhaas‘ (1810) von Kleist als eines der Schlüsselwerke bezeichnet werden.94 Auch Kleist will das Individuum aus dem aristokratischen Gefüge des Absolutismus befreien.95
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Koopmann, Literatur, 2010, S. 273. Koopmann, Literatur, 2010, S. 273. 90 Koopmann, Literatur, 2010, S. 273. Ebenso Schillers Werk ,Die Räuber‘ (1780) reiht sich hier ein. Ders., Die Räuber, 1780, S. 117: „Das Laster nimmt den Ausgang, der seiner würdig ist. Der Verirrte tritt wieder in das Gelaise der Geseze. Die Tugend geht siegend davon.“ Nach Koopmann war „[d]iese Welt [. . .] von großartiger Naivität, ihr Optimismus schrankenlos, ihr Glaube an das Gute im Menschen unerschütterlich [,unerschütterliches Vertrauen in die Selbstreinigungskräfte der menschlichen Gesellschaft‘]; in jedem Fall kam das Unrecht an den Tag, wurde Recht gesprochen. Daß sich etwas der Gerichtsbarkeit entzog, war undenkbar [. . .].“ [ebd., S. 270]. Stachel sieht hierin ein „unbestechliches Gefühl für Recht und Unrecht“ [ders., Moral Sense, 2011, S. 29 ff.]. 91 Vgl. Koopmann, Literatur, 2010, S. 273 f. 92 Döderlein, Literatur, 2017, S. 61 f.; Frevert, Gefühlswissen, 2011, S. 265. 93 Vgl. Frevert, Gefühle definieren, 2011, S. 24 f.; dies., Gefühlswissen, 2011, S. 265. 94 Dazu Fink, Kohlhaas, 1976, S. 92 ff.; Voßkuhle/Gerberding, Kohlhaas, 2012, S. 917 ff.; Koopmann, Literatur, 2010, S. 270–279. In diesem Sinne verweist Jhering auch auf Shylocks verletztes Rechtsgefühl in Shakespeares ,Kaufmann von Venedig‘ (1600). Vgl. zuletzt jüngst Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 168 ff. 95 Döderlein, Literatur, 2017, S. 18. 89
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Kleist als „Außenseiter im literarischen Leben seiner Zeit [. . .] jenseits der etablierten Lager“ wird überwiegend in dem Zeitraum zwischen Sturm und Drang und Romantik eingeordnet.96 Kleists Kohlhaas kann als Vorreiter der Anerkennung eines individuellen Rechtsgefühls bezeichnet werden. Mittels des sprachlichen Einsatzes einer „Goldwaage“ 97 tritt bei Kleist das Rechtsgefühl als ein „feines, kaum fehlbares Sensorium“ auf. Rückert interpretiert dasselbe als „Gefühl für das Rechte, Gerechte, Richtige oder Sittliche“ und gerade nicht im Sinne eines „Gefühls für das Recht, für das bloß juristisch Richtige“.98 Das Rechtsgefühl tritt hier als Selbstgefühl auf, welches sich in den Empfindungen des individuellen Rechtsträgers innerhalb der Gesellschaft offenbart. So ist das Kleist’sche Rechtsgefühl als ein Identitätsmerkmal der Hauptfigur Kohlhaas zu sehen.99 Der anhaltende gesellschaftliche Wandel von einer Gottesgläubigkeit hin zu einer modernen Rechtsgläubigkeit ist im Kohlhaas’schen Schicksal in bemerkenswerter Weise und nahezu bahnbrechend dargestellt.100 „Kleists Rechtsfälle signalisieren“ nach Koopmann „eine Zeitenwende“.101 Kohlhaas wurde daher überwiegend als „Märtyrer seines Rechtsgefühls“ 102 oder „Vorläufer des proletarischen Revolutionärs“ 103 eingeordnet. Der Fall ,Kohlhaas‘ steht für ein modernes individualistisches Selbstverständnis des Bürgers:104 „Der Raum der Aufklärung ist so gut wie verlassen, das Individuum hat sich von der Gesellschaft emanzipiert, und das ist nicht mehr nur Sache des innersten Gefühls, sondern wird als Generalangriff auf den Staat zum politischen Faktum. Der Individualitätsglaube der Moderne zeigt hier schon sein Fratzengesicht, oder, anders gesehen: hier ist ein Gesellschaftsvertrag aufgekündigt, einschließlich aller juristischen Folgen.“ 105
Im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert ebnete die Epoche der Klassik mit ihrer Vorstellung von einer sittlichen Perfektionierung des Menschen nach dem Leitbild des antiken Humanitätsdenkens den ausgleichenden Weg für eine gesellschaftliche Reform. Die Klassik strebte nach einer Rehabilitation der Harmonie zwischen Verstand und Seele. Aufgrund der Idealisierung der realen
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Beutin et al., Literaturgeschichte. 5. Aufl., 1994, S. 188. Kleist, Kohlhaas, 1810, S. 15. 98 Rückert, Kleist-Jahrbuch, 1988/89, S. 385. Vgl. ferner Schützeichel, Rechtsgefühl, 2016, S. 70; Köhler/Schmidt, Rechtsgefühl, 2015, S. 192: „Begrifflich oder konzeptuell [sei] die Idee eines ,gefühlten Rechtswissens‘ nicht zu fassen.“ 99 Döderlein, Literatur, 2017, S. 132 f. 100 Döderlein, Literatur, 2017, S. 301. 101 Koopmann, Literatur, 2010, S. 276. 102 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 69. 103 Hier zitiert nach Sendler, Kohlhaas, 1985, S. 17 (Fn. 36, 43). 104 Voßkuhle/Gerberding, Kohlhaas, 2012, S. 158. Vgl. auch Rückert, Kleist Jahrbuch 1988/89, S. 401. 105 Koopmann, Literatur, 2010, S. 276; Rückert, Kleist Jahrbuch 1988/89, S. 389 ff. 97
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Umstände waren überwiegend „intellektuelle ästhetische Gedankenspiele“ Themen der klassischen Vertreter.106 Die Romantiker hingegen verfolgten einen „gänzlichen Autonomieanspruch der Kunst“.107 Nach dem Vorbild einer „progressive[n] Universalpoesie“ sollten synästhetisch alle Sinne adressiert werden.108 Die literarischen Texte der Romantik umfassten das menschlich-intime Seelenleben, das in Darstellungen von Naturereignissen, sagenhaften Mythen oder schwermütigen, intuitiven Erlebnissen als „poetische Fluchträume“ verarbeitet würde.109 Aus diesem Grund existieren hier keine literarischen Texte über das Rechtsgefühl. Mit den Literaturströmungen ,Biedermeier‘ und ,Vormärz‘ leben die „rational fassbaren Gegebenheiten der Gegenwart“ wieder auf. Die Literatur der Biedermeier-Zeit spielte vor kleinbürgerlichen, von Kapitulation und Passivität geprägten Kulissen und lehnte eine für die Vormärz-Epoche charakteristische revolutionäre Tatkraft der Bevölkerung ab. Vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Unruhen sollte fortan der persönliche Rückzug des Staatsbürgers das im Menschen verwurzelte existentielle Verlangen nach Sicherheit und Ordnung signalisieren.110 Droste-Hülshoff charakterisierte das Rechtsgefühl in ihrer Novelle ,Die Judenbuche‘ aus dem Jahre 1842 als „Ausdruck eines religiösen Selbstbekenntnisses“.111 Dieser feste Glaube des Protagonisten Friedrich Mergel steht im Widerspruch zu der starken Wirkkraft des Rechtssystems, in dem die gesellschaftspolitischen Missstände negative Auswirkungen auf die Entfaltung menschlicher Charaktereigenschaften haben.112 Das durch diese gesellschaftlichen Zwänge hervorgerufene Zuwiderhandeln gegen sein Rechtsgefühl richtet Mergel am Ende zu Grunde.113 Vor dem Hintergrund einer von aufrührerischen Zeiten getragenen gesellschaftlich instabilen Atmosphäre begründete Droste-Hülshoff das religiös fundierte Rechtsgefühl als „stabile Konstante inmitten der unübersichtlichen Freiheiten und Determinationen des Lebens“ 114: „Denn wer nach seiner Ueberzeugung handelt, und sey sie noch so mangelhaft, kann nie ganz zugrunde gehen, wogegen nichts seelentödtender wirkt, als gegen das innere Rechtsgefühl das äußere Recht in Anspruch nehmen.“ 115 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115
Stephan, Kunstepoche, 2008, S. 185. Döderlein, Literatur, 2017, S. 63. Schlegel, Kritische Ausgabe Bd. 2, 1967, S. 182 f. Döderlein, Literatur, 2017, S. 63. Döderlein, Literatur, 2017, S. 63. Döderlein, Literatur, 2017, S. 163, 302. Droste-Hülshoff, Judenbuche, 1842, S. 3–42. Hückmann, Recht und Rechtsgefühl, 2018, S. 38 ff. Döderlein, Literatur, 2017, S. 302. Droste-Hülshoff, Judenbuche, 1842, S. 4.
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In dieser Divergenz lässt sich die „epochale Grundstimmung zwischen Restauration und Revolution kurz vor der bürgerlichen Erhebung von 1848“ 116 treffend abbilden. Spätestens nach dem Scheitern der Französischen Februarrevolution bestimmte das Zeitalter des Realismus den Beginn einer neuen literarischen Epoche. Hier sollte eine originäre Wirklichkeitsabbildung die von „klassisch-idealisierenden und romantischspekulativen“ Inbegriffen getragene Strömung ablösen; in figurativer, bildlicher und zweideutiger Weise sollte der Leser mit der Wirklichkeit konfrontiert werden.117 Kurz nach der Reichsgründung im Jahre 1871 spielt Fontanes Erzählung ,Grete Linde‘ (1880), die als Variable für die Epoche des Realismus dient.118 Das Rechtsgefühl wird bei Fontane als „identitätsformendes Selbstbestimmungsgefühl“, als angeborener menschlicher Trieb verstanden.119 Auf den ersten Blick erscheint das Rechtsgefühlsverständnis Fontanes widersprüchlich. Wie kann ein Mensch Träger eines selbstbestimmenden Rechtsgefühls sein, wenn er an die gesellschaftlichen Konventionen gebunden ist?120 Fontane verbindet Gesetz und Gefühl, indem er den Menschen sowohl zur Widersetzung gegen das Recht unter Einsatz seines Rechtsgefühls als auch zu dessen Einhaltung verpflichtet: „Wer das Gesetz, ohne es anzuzweifeln und zu verhöhnen, einfach durchbricht und die Konsequenzen seines ,ich tat nur, was ich mußte‘ willfährig auf sich nimmt, dem jubeln immer die Herzen zu. Und von Rechts wegen. Denn beide Teile, das Ewige und das Menschliche, gehen siegreich aus dem Kampfe hervor.“ 121
Der Naturalismus konstituierte sich schließlich im ausgehenden 19. Jahrhundert als extreme Version des Realismus. Die aufkommenden Naturwissenschaften beeinflussten die Literatur und Dichtung maßgeblich. Die Vertreter des Naturalismus verfolgen eine szientifisch begreifliche Realitätsprojektion, welches den Rückzug des Rechtsgefühls in der Literatur zur Folge hatte.122 Der Mensch wurde zur wissenschaftlich greifbaren Größe erklärt. Mit der Epoche einer modernisierenden „Entzauberung der Welt“ 123 befand sich die Literatur fortan im beginnenden Zeitalter der Moderne.124 116
Döderlein, Literatur, 2017, S. 18. Döderlein, Literatur, 2017, S. 63. 118 Döderlein, Literatur, 2017, S. 302. 119 Döderlein, Literatur, 2017, S. 204. 120 Fontane, Brief an Bernhard Caspar v. 28. Oktober 1893, Briefe, Bd. 4, 1982, S. 302. 121 Fontane, Theaterkritiken, 1969, S. 171 f. 122 Döderlein, Literatur, 2017, S. 64. 123 Weber, Wissenschaft als Beruf, 2002, S. 488: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet [. . .] das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muss 117
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Die Forschungsinhalte über das Rechtsgefühl innerhalb der schönen Literatur und Dichtung im 18. und 19. Jahrhundert zeigen vor dem Hintergrund der zuvor vorgestellten ausgewählten Ansätze der Rechtsgefühlsforschung die „enge Verschränkung von faktualer und fiktionaler Gefühlskultur“. Die literarischen Textbeispiele aller Literaturepochen stellen sich als „Medium und Spiegel geschichtlicher Erfahrungen“ heraus und treffen Aussagen über die zeitgemäße kollektive Bedeutung und dem Verständnis von Humanität, Individualität und Subjektivität.125 Das Rechtsgefühl lehnt sich stets aus unterschiedlichen Motiven auf, um sich am Schluss wieder aus freien Stücken oder durch Zwang der Rechtsordnung zu fügen.126 Diese ausgewählten Beispiele machen auf die Missstände im existierenden Rechts- bzw. Gesellschaftssystem stets mit dem Protagonisten „Mensch“ aufmerksam.127 Die „Krisenhaftigkeit“ war „unübersehbares Kennzeichen“ der literarischen Epochen. „Damit wurde auch das Individuelle zum hohen Wert. [. . .] Literatur wird zum Gradmesser und Barometer einer Umsturzbewegung.“ 128 „Die literarischen Inszenierungen der Diskrepanz zwischen Recht und Rechtsgefühl legen ein ebenso ausdrucksvolles wie eingängiges Zeugnis über die Konfrontation des Individuums mit der Rechtsordnung ab, und beleuchten zugleich den Hintergrund der jeweiligen historischen, rechtlichen, kulturellen und mentalitätsgeschichtlichen Epoche.“ 129
So bleibt festzuhalten, dass die Zeit vor und nach 1800 als „Schwellenzeit“ 130 durch ein Übergewicht des Individualgefühls und ein stark subjektives Rechtsman zu magischen Mitteln greifen, um die Geister zu beherrschen oder zu erbitten. Sondern technische Mittel und Berechnung leisten das. Dies vor allem bedeutet die Intellektualisierung als solche.“ Vgl. dazu auch Lehmann, Entzauberung, 2009, et passim. 124 Döderlein, Literatur, 2017, S. 64 ff. mit Verweis auf Frevert, Gefühle definieren, 2011, S. 11. Parallel in Opposition zur „extrovertierten Perspektive“ des Naturalismus vor dem Hintergrund des „kulturrevolutionierenden Fortschritts der Freudianischen Psychoanalyse“ setzte sich eine auf das menschliche Seelenleben gerichtete Literaturströmung durch [Bahr, Naturalismus, 2004, S. 13, 128; Kanz, literarische Moderne, 2008, S. 361]. Die primär von den Anhängern der Wiener Moderne betriebenen Erzähltechniken des inneren Monologs und Bewusstseinsstroms [James, Principles of Psychology I, 1890, p. 336: „the ,stream‘ of subjective consciousness“] ebneten den Weg für eine impressionistische Darstellung der Psyche und deren Folge für das Handeln des Protagonisten. Zu den modernen Literaturepochen vgl. eingehend Döderlein, Literatur, 2017, S. 65 f. 125 Frevert, Gefühle definieren, 2011, S. 10 f. 126 Zur „Perversion des Rechtsgefühls“ vgl. Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 126 ff. 127 Döderlein, Literatur, 2017, S. 303 f.; Müller-Dietz, Gerechtigkeitsfrage, 2004, S. 105 ff.; Nossack, Literatur, 1968, S. 23. 128 Koopmann, Literatur, 2010, S. 274. Vgl. ferner Bergengruen, Schreibtischerinnerungen, 1961, S. 163 f.; so schon Döderlein, Literatur, 2017, S. 299 f. 129 Döderlein, Literatur, 2017, S. 299. 130 Koopmann, Literatur, 2010, S. 277: „eine Zeit der Umkehr, eine Zeit nicht der prästabilierten Harmonie, sondern der destabilisierten Verhältnisse“.
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gefühl als Gegenbewegung zum rationalen Diktat der Aufklärungsepoche gekennzeichnet war.131 Letztlich fügten sich Gefühle in Literatur und Dichtung des 19. Jahrhunderts wieder der Rechtsordnung und unterzogen sich so einem Objektivierungs- bzw. Rationalisierungsprozess: Somit wurde das Ende von „Heldentum und Religiosität als absolute Werte“ bestätigt und eine Entfaltung der „Legalität zum kontrollierenden Prinzip der modernen Gesellschaft“ prognostiziert.132 2. Rechtsphilosophische Lehren über das Rechtsgefühl Im Folgenden wird das weite Gebiet der allgemeinen (Rechts-)Philosophie nach dem Wesen des Rechtsgefühls befragt. Auch hier muss das Vorhaben mit Schwerpunkt auf dem 18. und 19. Jahrhundert auf eine Auswahl repräsentativer Vertreter begrenzt werden. Dabei wird unter „Recht“ nicht nur die objektive Rechtsordnung, sondern auch das überpositive Recht, die sittliche Ordnung, verstanden.133 Die „Stigmatisierung der Gefühle“ liegt in der griechisch-römischen Idee eines diametralen Verhältnisses zwischen der Vernunft- und Gefühlskultur begründet.134 Schon im antiken Zeitalter, im Kontext des abendländischen Denkens, wurden Gefühle als paradox beurteilt.135 Griechische Philosophen wie Platon, die letztlich den philosophischen Lehren Sokrates entsprangen, betrachteten „das ethische Gut“ als „Wissen“, der Verstand ließ keinen Platz für ein Rechtsgefühl.136 Eine ähnliche Auffassung vertraten auch die Stoiker.137 Nach Aristoteles hingegen weise jedes Individuum einen Sinn für das Gerechte und Ungerechte auf.138 In Gestalt der Billigkeit und Gerechtigkeit wurde dem Rechtsgefühl besondere Bedeutung im seinem Werk ,Nikomachische Ethik‘ zuteil.139 Die von der Stoa und einem strengen Staatsdenken beherrschten römischen Philosophen verweigerten die Anerkennung eines Rechtsgefühls rigoros.140 Im Urchristentum
131
Jüngst Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 154. Döderlein, Literatur, 2017, S. 17, vgl. ferner Weisberg, Literatur, 2013, S. 12. 133 Sprenger, Rechtsgefühl ohne Recht, 2003, S. 324, 326; Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 37 ff. 134 Vgl. Döderlein, Literatur, 2017, S. 49 mit Verweis auf Wassmann, Macht der Emotionen, 2002, S. 11 f.; ferner Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 33 ff. 135 Vgl. Hartmann, Gefühle, 2. Aufl., 2010, S. 15. 136 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 31 f. 137 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 38. 138 Aristoteles, Politik I 2–3, S. 8 ff. Als Naturforscher ging er erstmals entgegen der vorherrschenden metaphysischen Methoden induktiv vor [Oncken, Aristoteles I, 1870, S. 3 ff.]. Vgl. dazu Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 33 ff. 139 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 14:5, Bl. 11 f. mit Verweis auf Aristoteles’ Nikomachische Ethik. 140 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 38 f. 132
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bezogen sich derartige Gefühlsströmungen vielmehr auf das Überirdische.141 Innerhalb der mittelalterlichen Rechtsphilosophie stimmte das Rechtsgefühl mit der Achtung der göttlichen Autorität überein.142 Hier wurde der Staat als göttliche, zur Erziehung des Menschengeschlechts beauftragte Einrichtung, als Teil des göttlichen Plans verstanden: „Das ewige Gesetz [lex aeterna] ist die weltordnende Vernunft im göttlichen Geiste.“ 143 Die menschlichen Gesetze wurden als Aus- und Weiterführungen dieses Natur- und Sittengesetzes verstanden. Insbesondere der von der griechisch-aristotelischen Philosophie beeinflusste bedeutende Scholastiker von Aquin war der Auffassung, dass die individuelle Entstehung von Sittlichkeit auf Gefühl und Willen des Subjekts basiere: „Es ist das Gefühl, daß zwischen dem sittlichen Ideal und der notwendig aus diesem sich ergebenden Selbstbeurteilung ein unbekanntes Etwas steht, was nicht aus dem Menschen, wenigstens nicht aus seinem Bewußtsein kommt, das zwar die sittliche Beurteilung nicht aufzuheben vermag, aber die letzte Entscheidung über den sittlichen Wert oder Unwert des Menschen einer Macht anheimgibt, die gleich geheimnisvoll bleibt, wie man sie auch nennen mag und deren Wirkungen von aller menschlichen Beeinflussung unabhängig sind.“ 144
Mit dem Erkennen einer grundsätzlich vorhandenden, intuitiven Urteilskraft in Bezug auf die Unterscheidung von Recht und Unrecht war von nun an der Topos „Rechtsgefühl“ in der philosophischen Literatur präsent, deren Deutungsansätze mit den zeitgenössischen wissenschaftlichen Entwicklungen variieren. Mit den aufkommenden Naturwissenschaften während der Renaissance im 15. und 16. Jahrhundert wurden die theologischen durch die naturwissenschaftlichen Begründungen abgelöst.145 Ab dem 17. Jahrhundert waren im juristischen Diskurs die Dimensionen und Traditionen der Geisteswissenschaften charakteristisch, als insbesondere die Theorie vom Gesellschaftsvertrag mit Hobbes, Locke und Rousseau als ihrer Begründer Einfluss auf die deutsche Philosophie nahm. Der Wandel von Religiösität zu Rationalität im Recht wurde nun auch im deutschsprachigen Raum im (philosophischen) Rahmen der Aufklärung deutlich sichtbar.146 Der Säkularisierungs- und Rationalisierungsprozess im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert war vor allem durch die Emanzipierung der Politik und Rechtsprechung von den klassisch metaphysischen Begründungen und dem wachsenden Rückzug der Religion in das Private gekennzeichnet.147 Die Ideolo141 Nach Paulus, stehe „das Werk des Gesetzes geschrieben [. . .] in ihren Herzen“; [ders., Römer II, 14, 15; vgl. auch Brief an die Hebräer 8, 10; 10, 16, wobei „Gesetz“ nicht das positive Recht meint]. 142 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 40 f. 143 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 40. 144 Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 29 mit Verweis auf Jodl, Ethik I, 1882, S. 75. 145 Jodl, Ethik I, 1882, S. 95; Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 29. 146 Landweer/Renz, Klassische Emotionstheorien, 2012, et passim. 147 Klein, Rechtsgefühl, 1925/26, S. 609 f.
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gie des 19. Jahrhunderts basierte zweifelsohne auf dem Verstand.148 Von nun an galt: „Was menschlich, was sittlich, was recht ist, entscheidet sich nicht mehr ,von den Sternen‘ her, von Ideen oder unanfechtbaren Normen, sondern ,von unten‘, aus dem menschlichen Lebensumkreis, aus der alltäglichen, sozialen Wirklichkeit.“ 149
In der englischen und französischen Philosophie des 17. und 18. Jahrhunderts wurde erst im Zusammenhang mit dem frühneuzeitlichen Rationalismus Descartes die Gefühls- und Vernunftsdebatte seit Aristoteles wieder als Wissenschaftsdisziplin aufgenommen. Fortan wurde der Mensch als ein ebenso fühlendes Individuum beurteilt.150 Die englische Aufklärung war vornehmlich geprägt von Shaftesburys und Hutchesons Lehren von Moral und Ästhetik auf der Gefühlsbasis, durch den Deismus und den durch Locke begründeten sowie durch Berkeley und Hume ausgebildeten Empirismus, der sich als stärkstes Zeitalter der englischen Philosophie gegen den metaphysischen Rationalismus Descartes’ und Leibnitz’ wendete.151 Im Verlauf des 17. Jahrhunderts breiteten sich die vernunftbasierten und aus einem Gesellschaftsvertrag abgeleiteten Naturrechtstheorien aus.152 Parallel fanden Gegenströmungen Verbreitung, die sich vor allem gegen ihren wichtigsten Anhänger Hobbes richtet. More etwa wies in seinem ,Enchiridion Eticum‘ darauf hin, dass das Sittliche aus einem Gefühl der Tugend, „ex sensu virtutis“, und nicht durch reine Vernunft erreicht werde.153 Ferner hat Shaftesbury, der Schöpfer des sog. ethischen Sensualismus, entgegen Locke und Hobbes die Lehre von einem angeborenen „moral sense“ statuiert.154 Diese umfasst das angeborene Gefühl als Erkenntnis moralischer Werte und Unterscheidungsvermögen von Recht und Unrecht. Vor allem Rousseau als wichtigster Vertreter der französischen Moralphilosophie155 vertrat die Auffassung von einer dem Menschen mit der Geburt gegebenen Gefühl der Gerechtigkeit.156 Seine ethische Subjektivitäts- oder Gefühls-
148
Döderlein, Literatur, 2017, S. 29 f. Sprenger, Recht, 2004, S. 122. 150 Vgl. Döderlein, Literatur, 2017, S. 49 f. mit Verweis auf Wassmann, Macht der Emotionen, 2002, S. 12; schon Warnkönig, Rechtsphilosophie, 1839, S. 77 ff. 151 Vgl. Schrader, Ethik und Anthropologie, 1984; Scheer, Gefühle, 2004, S. 264 ff. Vgl. „Die Moralsysteme und politischen Theorien der sensualistischen PhilosophenSchulen Englands und Frankreichs“ bei Warnkönig, Rechtsphilosophie, 1839, S. 77 ff. 152 Ehrenzweig, Psychoanalytische Rechtswissenschaft, 1973, S. 66. 153 Jodl, Ethik I, 1882, S. 134. 154 Shaftesbury, Inquiry Concerning Virtue, or Merit, 1699, in: Shaftesburg, Abt. 2, Bd. 2 (1984) zit. nach Scheer, „Gefühl“, ÄGB II, 2010, S. 635 f. Vgl. Jodl, Ethik I, 1882, S. 177 f., 147; jüngst Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 65 ff. 155 Vgl. Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 58 ff.; Warnkönig, Rechtsphilosophie, 1839, S. 106. 156 Rousseau, Oeuvres Complètes IV, Emile, S. 584. 149
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theorie enthält den Ausdruck „sentiment naturel“. 157 Dieses „natürliche Gefühl“ gründet nach Rousseau auf dem „amour de soi“, dem Trieb der Selbsterhaltung, während nun die Bildung einer Gesellschaft den kollektiv bedrohenden „amour propre“ erzeugt.158 Vor diesem Hintergrund formiert sich das sog. Gewissen als „Scharnierstelle zwischen Selbstverhältnis und Praxis“, das als eine „Art moralisches Gefühl“, als intuitives Urteilsvermögen gefasst wird.159 Damit erfährt die sittliche Ordnung, die Moral der Menschen einen höheren Stellenwert als das positive Recht.160 Die herrschenden naturrechtlichen Ideen erfahren im 18. Jahrhundert eine neue Geltung: „Die Herzmetapher steht nicht mehr für die gesamten Seelenvermögen, sondern nur noch für das Gefühl als intuitive Erkenntnis- und Motivationsquelle“ 161, das das geltende Recht als „véritable constitution de l’Etat“ 162 stärken könne. Ferner postulierte Hume in seiner Abhandlung ,An Enquiry concerning the principles of morals‘ (1751) ein angeborenes „moral sentiment“.163 Letztlich standen sich die Lager der Gefühlsmoralisten und Verstandesmoralisten gegenüber, diese halten ausschließlich an der Macht des Verstandes fest, jene kennen ein angeborenes Rechtsgefühl oder moralisches Gefühl an. Dabei vertrat der englische Philosoph Price einen Mittelweg, indem er Gefühlsregungen in Form eines Sinns, Triebs oder Instinkts eine – wenn auch nur untergeordnete – Rolle im Sinne eines kognitiven Verstärkers bei der moralischen Entscheidung von Recht und Unrecht einräumte.164 Mit den Lehren Kants setzt eine neue Ära in der Rechtsphilosophie ein.165 Kant betrachtete die Vernunft fortan als unmittelbare Rechtsquelle.166 Im Kon157
Rousseau, Oeuvres Complètes IV, Emile, S. 522, 545. Rousseau, Oeuvres Complètes IV, Emile, S. 1357; ferner ebd., S. 1295: „Les actes de la conscience ne sont pas des jugemens, mais des sentimens.“ 159 Schmidt, Sieg des Rechtsgefühls, 2017, S. 49. 160 Rousseau, Oeuvres Complètes III, Contract social, S. 394: „qui se grave [. . .] dans les coeurs des citoyens.“ 161 Schmidt, Sieg des Rechtsgefühls, 2017, S. 51. 162 Rousseau, Oeuvres Complètes III, Contract social, S. 394. 163 Hume, Principles of Morals, 1777, III. 2., vgl. Krauthausen, Hume, 2009, et passim; Jodl, Ethik I, 1882, S. 237; Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 31; jüngst Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 65 ff. Vgl. auch Smiths Theory of moral sentiment (1759) bei Warnkönig, Rechtsphilosophie, 1839, S. 99 f.; ferner Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 31 f. 164 Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 30 f. mit Verweis auf Jodl, Ethik I, 1882, S. 177– 175. 165 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 61; vgl. dazu auch Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 33 f.; Geismann, Recht und Moral, 2006, S. 3–124; Oberer, Sittlichkeit, 2006, S. 259–267. So auch Döderlein, Literatur, 2017, S. 50. 166 Insbesondere in seiner Abhandlung ,Kritik der praktischen Vernunft‘ (1788) wird der für den damaligen Zeitgeist zentrale Stellenwert der Vernunft deutlich: „Der Mensch als freies und vernunftbegabtes Wesen muß dem kategorischen Imperativ folgen, indem er sich so verhält, als ob er wolle, daß die Maxime seines Willens jederzeit 158
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text des Aufklärungszeitalters forderte er eine strikte Differenzierung von Vernunft und Gefühl zugunsten des dominierenden menschlichen Verstandes.167 Ein „Rechtsgefühl“ ist daher bei Kant wörtlich auch nicht zu finden. Während er sinnliche Gefühle aufgrund ihrer affektiven, der Selbstkontrolle widersprechenden Eigenschaften vernachlässigte,168 bestimmte er die geistigen Gefühle als wesentliche „moralische Orientierungsgrößen“.169 Das moralische Gefühl oder das aus dem Verstand über die Geltung der allgemeinen sittlichen Ordnung erwachsende Achtungsgefühl operiere als „Triebfeder“ 170 und Handlungsmotivation bei der Urteilsfindung,171 aber gerade nicht als objektive Erkenntnisquelle. Das Gewissen ist nach Kant das menschliche Bewusstsein über den inneren Gerichtshof, der ein Urteil über die Einhaltung des Pflichtgesetzes fällt.172 Auch diese verstandesmäßige, sittliche Anlage ist jedem Individuum von Geburt an verliehen. Kant bestimmt die Deckung von Handlung und Gesetz als Legalität. Dabei sind die Mitwirkung eines Rechtsgefühls oder anderer subjektiver Motive ausgeschlossen, sondern vielmehr eine saubere Subsumtion unter die Rechtsnorm erforderlich.173 Die Option eines nicht eindeutig subsumierbaren Falles besteht für Kant nicht.174 Auf der Ebene des äußeren, objektiven Rechts kann folglich auch kein Rechtsgefühl existieren. Auch und vor allem Hegel legte in der deutschen Philosophie Anfang des 19. Jahrhunderts seinen Fokus auf den Verstand und Willen; der Begriff des „Rechtsgefühls“ ist in seinen Werken daher auch nicht vorzufinden.175 Recht, zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ [ders., Kritik der praktischen Vernunft I, 2. Buch, 2. Hptstück V]. 167 Vgl. Frevert, Gefühle definieren, 2011, S. 20. 168 Kant, Anthropologie, 1798, S. 169; dazu Döderlein, Literatur, 2017, S. 50 mit Verweis auf Recki, Gefühle, 2004, S. 275 ff.; Frevert: Gefühle definieren, 2011, S. 26 f. 169 Döderlein, Literatur, 2017, S. 51; vgl. Recki, Gefühle, 2004, S. 278. 170 Vgl. Kants Kapitel ,Triebfedern der reinen praktischen Vernunft‘ in seiner ,Kritik der praktischen Vernunft‘ aus dem Jahre 1788. 171 Vgl. Recki, Gefühle, 2004, S. 280 ff.; Döderlein, Literatur, 2017, S. 50 f. 172 Kant, Metaphysik der Sitten, II: Tugendlehre, 1797, A 98 ff. 173 So schrieb Kersting metaphorisch: „Das Recht spannt sich wie ein Filter vor Tugendäußerungen und lässt nur die passieren, die mit dem Rechten in Übereinstimmung stehen.“ [ders., Freiheit, 1984, S. 87]. 174 Köhler/Schmidt, Rechtsgefühl, 2015, S. 180 f. 175 Hegel, Philosophie des Rechts, 1821, S. 28 ff. So stand auch Schopenhauer dem Gefühl ablehnend gegenüber, unter das er auch das des Rechtes fasste [ders., Welt als Wille und Vorstellung, 1818, S. 431 ff.]: „Der Begriff, den das, Wort Gefühl bezeichnet, hat durchaus nur einen negativen Inhalt, nämlich diesen, daß etwas, was im Bewußtsein gegenwärtig ist, nicht Begriff, nicht abstrakte Erkenntnis der Vernunft sei: Übrigens mag es sein, was es will, es gehört unter den Begriff Gefühl, dessen unmäßig weite Sphäre daher die heterogensten Dinge begreift.“ [ebd., S. 92]. Vgl. dazu Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 35 f. Vgl. ferner bei Wreschner die logischen Theorien, deren Vertreter das Gefühl als Sekundärphänomen aus dem Verstand ableiten (auch intellektualistische Theorien). Ihre
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Moral und Staat fasst er unter den Begriff des objektiven Geistes. Das Rechtsgefühl in Gestalt des Individual- und Gemeingefühls machte dem Staatsgefühl Platz, wobei der Staat eine eigene Gestalt annahm, nicht mehr das Kollektiv verkörpernd.176 So wurde das Rechtsgefühl gewissermaßen denaturiert. Diese Auffassung ist auf den deutschen Wunsch nach einem Nationalstaat in den Jahren 1866 und 1871 zurückzuführen. Das Rechtsgefühl taucht in der Zeit um Hegel in der Rechtsphilosophie daher auch insgesamt selten auf.177 Im 19. Jahrhundert finden sich nur vereinzelt erste Ansätze einer tiefergehenden philosophischen Analyse des (Rechts-)Gefühls.178 Erst das Aufkommen positivistischer Konzepte führt zu einem ersten ernsthaften Interesse der Philosophie für Ursprung und Wirken des (Rechts-)Gefühls; erstmals rückt die sinnlich wahrnehmbare Erfahrungswelt in den Mittelpunkt philosophischer Betrachtungen. Im deutschen Raum ist der bis heute unbekannte Philosoph Beneke einer der Ersten, der das (Rechts-)Gefühl als Erfahrungswert entgegen der theoretischen, auf dem bloßen Verstand als Ursprung des Sittlichen fußenden Methoden bestimmt.179 Proudhon wandte sich als erster Franzose allmählich von den naturrechtlichen Dogmen ab. Die durch das menschliche „Idealisierungsvermögen“ 180 entwickelten Rechtsforderungen, die sich gegenüber der existierenden Rechtsordnung behaupten können, führen gerade zu einem Fortschritt der Gerechtigkeit.181 In der englischen Philosophie wurden insbesondere erstmals empirische Faktoren bei der Untersuchung des (Rechts-)Gefühls einbezogen. Vornehmlich Mill bekanntesten Vertreter sind nach ihm: Wolff, Psychologia empirica; Leibniz, Nouveaux essays; Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse; Cohn, Die Stellung der Gefühle im Seelenleben, Arch. f. d. ges. Psychologie. Bd. 72, 1929, S. 303 ff.; Herbart, Psychologie als Wissenschaft, neu gegründet auf Erfahrung, Metaphysik und Mathematik, 1824/25 [Wreschner, Gefühl, 1931, S. 169 ff. mit weiteren Nachweisen]. 176 Hegel, Philosophie des Rechts, 1821, S. 195 ff., 349 ff. 177 Isay, Rechtsgefühl, 1987, S. 104 f.; ders., Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 107. Rückblickend beklagte Jhering, dass seine „Entwicklungszeit“ nach Hegels Tod „in eine Periode gefallen ist, wo die Philosophie in Misscredit gekommen war“ [Jhering, Zweck I, 1877, S. VII f.]. 178 Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 38; Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 84 ff. 179 Beneke, Erfahrungsseelenlehre als Grundlage allen Wissens, 1820; Erkenntnislehre nach dem Bewußtsein der reinen Vernunft, 1820. Zit. nach Kornfeld, Das Rechtsgefühl, 2. Bd., 1919, S. 84: „Das Gefühl ist ja das unmittelbare Bewußtsein, Sich-Gegeneinander-Messen von Bildungsverschiedenheiten oder den Abständen zwischen den neben einander gegebenen Entwicklungen unseres Seins. [. . .] Dem Rechte gemäß ist, was sich bei dieser Abwägung als das Allgemein-Beste herausstellt, oder [. . .] welches nach der allgemein-gültigen Wertschätzung das höchste Maß von Gutem mit dem geringsten Maße von Übel verbindet.“ 180 Proudhon, justice, 1858, p. 46. 181 Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 37.
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betrachtet das Gefühl in seinem soziologischen, gesellschaftspolitischen Kontext und führt dasselbe auf die Autonomie des europäischen Liberalismus zurück.182 Mill verfolgte mit seinem „sense of justice“ neben der Vergeltung einer Rechtsverletzung ein gesellschaftliches Streben nach Sicherheit.183 Spencer führte den Empirismus Mills fort. Im Jahre 1875 sprach er dem Gefühl in seiner ,Einleitung in das Studium der Soziologie‘ „die bewegende Triebfeder des Verhaltens“ zu.184 Spätestens seit der Moral-sense-Debatte sind das moralische Gefühl und das Rechtsgefühl für die Konstitution des Subjekts nicht wegzudenken: „An der Schnittstelle von Moral, Recht und Ästhetik entsteht so eine Form von Subjektivität, die die ästhetisch-anthropologische Ebene mit der juridisch-normativen explizit verknüpft. Effekt ist eine ,Regierung‘ des Subjekts durch das Rechtsgefühl.“ 185
Die epochalen gesellschaftlich-politischen Umbrüche im Aufklärungszeitalter führten jedoch zu einer neuen Einordung des (Rechts-)Gefühls in das angespannte Verhältnis zwischen dem bürgerlichen Subjekt und dem Staat im Kontext der wachsenden Institutionalisierung und Stärkung des gesellschaftlichen Daseins.186 Verstand und Vernunft beherrschten nun das Individuum; Emotionalität und Intimität repräsentierten überwiegend „irrationale und damit unzugängliche Phänomene“.187 In diesem Kontext bezeichnete der Göttinger, maßgeblich von Kant beeinflusste Philosoph Nelson im 20. Jahrhundert die Berufung auf das „Rechtsgefühl“ als „juristischen Ästhetizismus“.188 Die fehlende Anerkennung einer objektiven und entmystifizierbaren Ebene des Gefühls und damit auch des Rechtsgefühls in der zeitgenössischen Gefühlsforschung bis ins späte 19. Jahrhundert beruhte auf dem zuvor nachgewiesenen „jahrhundertelang zurückreichenden stiefmütterlichen Umgang mit Gefühlen an sich“, die weit über die Aufklärungszeit hinaus wegen der ihnen nachgesagten,
182 Mill, Über die Freiheit, 1859, S. 10; vgl. dazu insb. Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 90. 183 Mill, Utilitarismus, 2010, S. 159 ff. 184 Spencer, Sociologie II, 1875, S. 201; vgl. dazu insb. Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 38. 185 Schmidt, Sieg des Rechtsgefühls, 2017, S. 46. 186 Vgl. Frevert, Gefühlswissen, 2011, S. 268. 187 Döderlein, Literatur, 2017, S. 52 f. 188 Nelson, System, 1924, S. 16: „Es gibt eine Lehre, wonach wir nicht auf eine nur positive Rechtsbetrachtung angewiesen bleiben, und wonach wir auch nicht auf die Offenbarung eines höheren Willens angewiesen sind, um zwischen Recht und Unrecht zu unterscheiden, wonach es aber dennoch nicht möglich ist, das Recht auf dem Wege einer philosophischen Wissenschaft zu begründen, darum, weil die Frage nach dem Recht einzig und allein unter Berufung auf das sogenannte Rechtsgefühl von den Einzelnen beantwortet werden kann, ohne alle Möglichkeit, für die Entscheidungen dieses Gefühles eine wissenschaftliche Rechtfertigung zu geben und also einander bei einem Widerstreit der Gefühle zu überzeugen. Ich nenne diese Lehre ,juristischen Ästhetizismus‘.“
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den Verstand aussetzenden Eigenschaften verbannt wurden. Infolge seines angeblich paradoxen, sittenwidrigen Wesens stand man dem Phänomen „Rechtsgefühl“ überwiegend vorurteilsbehaftet gegenüber.189 Mit dem Aufblühen der Psychologie wurde die Philosophie zum Ende des 19. Jahrhunderts abgelöst. So erlangte das (Rechts-)Gefühl durch einen neuen Zugang erstmals Akzeptanz in den Wissenschaften.190 3. Objektivierung des Rechtsgefühls durch die Physiologie und Psychologie „Die Naturwissenschaft rückte damit den zuvor zumeist in den philosophischen und moralischen Wissenschaften behandelten Gefühlen zu Leibe, nahm dabei aber für sich selbst in Anspruch, empirisch nachprüfbar, das heißt objektiv und gefühlsfrei vorzugehen.“ 191
Die aufstrebenden Naturwissenschaften prägten die gesamte Wissenschaft des 19. Jahrhunderts. Insbesondere die Forschung der dominierenden Fachbereiche Physiologie und Psychologie führte zu einer Entmystifizierung und der „Rationalisierung“ des Gefühlsphänomens.192 Fortan wuchs die wissenschaftliche Offenheit gegenüber physiologischen Bestimmungen des menschlichen Korpus und der Psyche; Gefühle wurden fortan nicht länger primär im Rahmen der Philosophie behandelt,193 stattdessen als naturwissenschaftlich erklärbare, körperliche Vorgänge aufgefasst. Dieser sich zunächst auf die allgemeine Gefühlsforschung auswirkende Wandel der Erklärungsparadigmen durch die Naturwissenschaften revolutionierte auch die zeitgenössische Auffassung vom „Rechtsgefühl“.194 (Rechts-)Gefühle wurden nun „unter den Vorzeichen von Faktenbasiertheit und Messbarkeit“ mit naturwissenschaftlichen Methoden ausgewertet.195 Schnädelbach fasst die Zeitspanne von etwa 1870 bis 1930 (als „lange“ Jahrhundertwende) hinsichtlich der Gefühlsforschung daher ganz richtig als „Scharnierphase“ auf.196 Im Folgenden sollen diese wissenschaftlichen Entwicklungen in der allgemeinen Gefühlslehre und in Ansätzen auch in der Rechtsgefühlsforschung genauer nachgezeichnet werden. 189
Döderlein, Literatur, 2017, S. 49. Kornfeld, Rechtsgefühl I, 1914, S. 137. 191 Jensen/Morat, Verwissenschaftlichung, 2008, S. 11. 192 Vgl. Jensen/Morat, Verwissenschaftlichung, 2008, S. 11–34; Sturm, Rechtslehre, 1910, S. 62 (ff.): „Rechtsbiologie und Rechtspsychologie. Ein neues Kolleg.“ 193 Vgl. detailliert in B. II. 2. ,Rechtsphilosophische Lehren über das Rechtsgefühl‘. 194 Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2017, S. 95; dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 87 ff. 195 Vgl. Jensen/Morat, Verwissenschaftlichung, 2008, S. 11–34; vgl. auch Schnädelbach, Entscheidende Gefühle, 2020, S. 60, 281. 196 Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2017, S. 95; dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 95, ferner S. 37, 9. 190
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Treibende Kraft war zunächst das Fachgebiet der Physiologie. Die Vertreter der „physiologischen Theorien“ wandten sich nun dezidiert dem Verhältnis von Gefühlen und somatischen Vorgängen zu.197 Darwins Werk ,The Expression of the Emotions in Man and Animals‘ (1872) über den allgemeingültigen, evolutionsbiologischen Mechanismus von Emotionen gilt als Vorreiter der anschließenden physiologischen Untersuchung der Gefühle.198 Auf einer rein biologischfunktionellen Gefühlslehre basierte auch die James-Langesche Theorie im ausgehenden 19. Jahrhundert.199 Der Mediziner Oppenheimer gestand sich dabei ein, dass es keine „vollständig abgerundete Lehre über das Gefühl“ geben könne, da es der damalige Stand der Forschung nicht erlaube. Aber „die Summe von Erfahrungen über das Gehirn [sei] doch so groß, daß wenigstens ein Anfang gemacht werden kann, um die Ursache des subjektiven Elements, welches jede Thätigkeit des Körpers begleitet, zu ermitteln, die Nerven zu bezeichnen, die bei diesem Vorgang thätig sind, und die Erscheinungen zu untersuchen, welche durch Erregung von centralen Zellen entstehen, die mit diesen Nerven verbunden sind“.200 Die Wirkkraft der Physiologie breitete sich zunehmend auch auf die Jurisprudenz aus.201 Bereits im Jahre 1857 untersuchte Knapp die „Physiologie des Rechts“ und verknüpfte das Rechtsverständnis mit einer unwiderlegbaren Erregung der Muskeln.202 Insgesamt äußerten sich die Wissenschaftler jedoch nur selten zum Rechtsgefühl. Stricker erwähnte immerhin eine „halb physiologische, halb psychologische Begründung“ des Rechtsgefühls203 und assoziierte dasselbe mit physiologischen Konstanten: „Es widerspricht meinem Rechtsbewußtsein, heißt: Ich kann unter den Komplexen, die nacheinander in mein lebendiges Wissen treten, keinen finden, mit dem der neue Komplex harmoniert. Bei lebhaftem Interesse knüpft sich daran eine Verschiebung des Gefühlsgleichgewichtes. Ich fühle die Disharmonie in meinen Einlagerungen, ich 197 Wreschner, Gefühl, 1931, S. 146. Nach Wreschner sind die bekanntesten Vertreter der physiologischen Theorien v. a.: Lehmann, Die körperlichen Äußerungen physischer Zustände, 3 Bde., 1899, 1901, 1905; Berger, Über die körperlichen Äußerungen psychischer Zustände, 2 Bde., 1904, 1907; Weber, Der Einfluß psychischer Vorgänge auf den Körper, 1910; Külpe, Vorlesungen über Psychologie, 1920 [ebd., S. 146–169]. 198 Döderlein, Literatur, 2017, S. 53; ferner Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 48 ff. 199 Stark kritisierte Organgefühls-Theorie von Lange, Gemütsbewegungen, 1887 und James, Mind, 1884; ders., Principles of Psychologie, 1890; ders., Physical Basis of Emotions, 1894. 200 Oppenheimer, Physiologie, 1899, S. 36. 201 Vgl. Sarasin/Tanner, Physiologie, 1998, et passim. 202 Knapp, System, 1857, S. 151, 155. Ferner Stricker, Physiologie, 1884, et passim. 203 Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 19. Auch Lehmann behandelte die Rechtsgefühlsthematik nur nebenbei: ders., Hauptgesetze, 1892, S. 354: „Es wird auch mit der Vorstellung Lust und Unlust verbunden sein, daß von den Gewalten des Daseins jedem Individuum die seinem Handeln gebührende Strafe oder Belohnung erteilt oder auch nicht erteilt wird: Das Gerechtigkeitsgefühl.“ Dazu Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 20.
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sage, daß der Fall mein Rechtsgefühl verletzt. Stört der Fall die ganze Einordnung, so wächst das verletzte Rechtsgefühl zur Entrüstung.“ 204
Nach Stricker lag die Stärke des reagierenden Rechtsgefühls maßgeblich in der Sensibilität der Hirnrindenaktivität begründet.205 Ferner bezeichnete Wundt das Gefühl als „Pionier der Erkenntnis“.206 Er gilt als Schöpfer der jungen ,Physiologischen Psychologie‘.207 Nach dieser neuen Methode werde nach Wundt „ein Kreis von Lebensvorgängen“ eingeführt, „welcher der äussern und innern Beobachtung gleichzeitig zugänglich ist, ein Grenzgebiet, welches man, so lange überhaupt Physiologie und Psychologie von einander getrennt sind, zweckmässig einer besonderen Wissenschaft, die zwischen ihnen steht, zuweisen wird“.208 Mit der Verbindung beider Mutterwissenschaften erreiche man eine „Totalauffassung des menschlichen Seins“.209 Wie auch Stricker verfolgte Wundt eine experimentelle Anwendung psychologischer Fragestellungen.210 Er wollte die Abläufe im menschlichen Nervensystem auf der Grundlage von allgemeingültigen physikalischen Kräften nachweisen.211 So wurden das Rechtsgefühl und Gefühle allgemein erstmals als psychophysische Prozesse wahrgenommen212: „[J]ede psychische Erscheinung ist vielmehr aufs neue für sich physisch hervorgerufen.“ 213
204 Stricker, Psychologie, 1884, S. 99; vgl. auch ebd., S. 97: „Zu meinen Rechtsbegriffen gehören alle meine dem Verkehr entlehnten Wahrnehmungen von Ausübung und Einschränkung des Willens, mit anderen Worten, alle Komplexe, welche Vorstellung von Recht und Unrecht enthalten. Von diesen tausenden von Komplexen ist nur der eine oder der andere, welcher sich beim gewohnten Gebrauch an das Wort Recht knüpft, aber sie alle zusammen bilden die Quelle des Rechtsbewußtseins.“ 205 Stricker, Physiologie, 1884, S. 100. 206 Wundt, Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele, II, 1863, S. 204. 207 Wundts gleichnamige Schrift aus dem Jahre 1874 behandelt dieses neue Wissenschaftsgebiet [Wundt, Grundzüge Psychologie, 1874, Vorwort, S. III]. Vgl. auch Fechner, Seelenfrage, 1861; ders., Psychophysik I, 1860. Zusammen mit Helmholtz begründen sie die Vorläufer der modernen Neuropsychologie. Ferner Horwicz, Psychologische Analysen I, 1872. 208 Wundt, Grundzüge Psychologie, 1874, S. 1. 209 Wundt, Grundzüge Psychologie, 1874, S. 2. 210 Wundt, Grundzüge Psychologie, 1874, Vorwort, S. III. 211 Wundt, Grundzüge Psychologie, 1874, S. 22. 212 Schnädelbach, Entscheidende Gefühle, 2020, S. 90 f.; dies., Rechtsgefühl, 2017, S. 107; Kochinka, Emotionstheorien, 2002, S. 147 ff. 213 Münsterberg, Willenshandlung, 1888, S. 110; so auch bei Schnädelbach, Entscheidende Gefühle, 2020, S. 91; ferner Münsterberg, Willenshandlung, 1888, S. 163; ders., Grundzüge Psychologie, Bd. 1, 1900, S. 293, 360; Beiträge Psychologie, 1892, S. 216 ff. Vgl. auch Wundt-Schüler Lehmann: „Lust entsteht durch Übereinstimmung, Unlust durch einen Streit entweder zwischen den in einem gegebenen Moment durch äußeren Reiz hervorgerufenen körperlichen Veränderungen und den Lebensbedingungen des Organismus, oder zwischen den intellektuellen Zuständen und den Bedingun-
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Mit diesen Worten bestärkte Wundt-Schüler Münsterberg im Jahre 1888 die Auffassungen Wundts, indem er Gefühle aus „den Gesetzen der Materie notwendigen erfolgenden Molekularvorgänge[n] im Gehirn“ abstrahierte.214 Im beginnenden 20. Jahrhundert übernahm Freud eine Vorreiterrolle im Fortschritt des psychologischen Fachbereichs. Er bezweckte die Dekodierung von charakteristischen Eigenschaften der Persönlichkeit durch die Anwendung von psychoanalytischen Methoden.215 Mit seiner im Jahre 1923 in der Abhandlung ,Das Ich und das Es‘ veröffentlichten Psychoanalyse etablierte Freud die Subjektivität und das Unbewusste als anerkanntes Forschungsgebiet. Seine moderne tiefenpsychologische Sichtweise liegt maßgeblich in der Faktizität des menschlichen Innenlebens und in den Gefühlen als deren Träger begründet.216 Auch Ebbinghaus gehört zu den Pionieren der kognitiv-psychologischen Wissenschaft: „Die Psychologie hat eine lange Vergangenheit, doch nur eine kurze Geschichte“, schrieb er im Jahre 1907.217 Damit rekurrierte Ebbinghaus auf die von den Naturwissenschaften eroberte junge Psychologie. Bei den Vertretern der psychologischen Theorien218 stand stets das Experiment und die exakte Beschreibung im Sinne einer „empirische[n] Psychologie“ 219 im Fokus. Sie unternahmen den Versuch, die Gefühlswelt des Individuums einer Analyse seines Bewusstseins und seiner körperlichen Vorgänge zugänglich zu machen. So vermochten sie zu einer rational-empirischen Begründbarkeit des Gefühls vorzudringen.220 Insbesondere Ribot differenzierte „die beiden Arten von Logik in logique rationelle (dialektische oder Verstandeslogik) und logique affective (psychologische oder Gefühls-
gen des Bewußtseinslebens.“ [Lehmann, Hauptgesetze, 1892, S. 150 f.]; ders., Hauptgesetze, 1892, S. 156, 160; so auch bei Wreschner, Gefühl, 1931, S. 146 ff. 214 Münsterberg, Willenshandlung, 1888, S. 111; so auch bei Schnädelbach, Entscheidende Gefühle, 2020, S. 91. Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 28 f. bewertet die „Ausdrucksmethode“ der Psychologen als unbrauchbar. 215 So Döderlein, Literatur, 2017, S. 53 f.; vgl. die prominente Freud’sche Theorie über das Ich, Es und Über-Ich der menschlichen Psyche bei Storck, Psychoanalyse Freud, 2018; Ermann, Freud Psychoanalyse, 2. Aufl., 2015; Nitzschke, Psychoanalyse Freud, 2011; Lück, Psychologie, 2013, S. 109. 216 Döderlein, Literatur, 2017, S. 54 mit Verweis auf Plamper, Geschichte und Gefühl, 2012, S. 232; Lück, Psychologie, 2013, S. 102. 217 Ebbinghaus, Psychologie, 1907, S. 173. 218 Vgl. bei Wreschner, Gefühl, 1931, S. 178–193: Nach ihm sind die bekanntesten Vertreter der psychologischen Theorien unter Zugrundelegung ihrer wichtigsten Werke v. a.: Ebbinghaus, Abriß der Psychologie, 3. Aufl., 1910; Wundt, Grundzüge Psychologie, 1874; Jodl, Lehrbuch der Psychologie, 1897; Külpe, Grundriß der Psychologie, 1893; Lotze, Grundzüge der Psychologie, 1881 posthum; Medizinische Psychologie, 1852; Türkheim, Zur Psychologie des Geistes, 1904; Ziegler, Abhandlung ,Das Gefühl. Eine psychologische Untersuchung, 3. Aufl., 1899; Stumpf, Gefühl und Gefühlsempfindung, 1928. 219 Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 19. 220 Vgl. Frevert, Gefühle definieren, 2011, S. 15.
II. Das Rechtsgefühl in den Nachbarwissenschaften
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logik)“.221 In seiner Abhandlung ,La logique des sentiments‘ (1897) waren seine Ausführungen über die „moralischen“ Gefühle weitaus erschöpfender als bei seinen Zeitgenossen, dennoch räumte er dem Rechtsgefühl als Teil des moralischen Gefühls vorerst ebenso keinen bedeutenden Stellenwert ein.222 Die genannten psychophysischen Analysen entfalteten ihre Wirkung allmählich auch im Bereich der Rechtsgefühlsforschung. So ebneten vor allem der Akt der Selbstbefreiung der Psychologie von der Philosophie und das Aufkommen von naturwissenschaftlichen Fachgebieten die wissenschaftliche Version des Rechtsgefühls. Das Forschungsinteresse am Phänomen des Rechtsgefühls nimmt bis heute zu.223 Treffend darlegen lässt sich das steigende naturwissenschaftliche Interesse am Topos „Rechtsgefühl“ anhand der umfangreichen Schrift ,Das Rechtsgefühl‘ des Primararztes Kornfeld (1914).224 Er bestimmte das Rechtsgefühl als psychologischen Begriff und machte die „Ansätze einer physiologischen Bearbeitung der Rechtspsychologie“ 225 zum Hauptgegenstand seiner Untersuchungen. Die große Resonanz bezeugt sein erster Platz bei der Rudolf Stammler-Preisaufgabe der Kantgesellschaft.226 Er stellte fest, dass das Rechtsgefühl bei der Anwendung von Recht das Erfordernis von Objektivität und bildete zugleich ihre treibende Kraft wahre:227 „So wie es als ethisches Gewissen, als Prüfstein der Gesinnung und des Handelns fungiert, wird es auch als logisches Gewissen streng alle Denkfunktionen überwachen, die mit der Gestaltung und Anwendung des Rechts in Beziehung stehen.“ 228
Kornfeld vertrat die Auffassung, dass unerlässliche Voraussetzung für ein gedeihliches Rechtsgefühl ein „inniges warmes Gefühlsleben“ hervorgegangen aus der „Pflege inniger Lebensgemeinschaften“ ist.229 Der Erziehung des Rechtsgefühls im Sinne der „Volkserziehung“ und „Pädagogik“ räumte er dabei einen zen-
221
Zit. nach Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 61 f. Ribot, Psychologie der Gefühle, 1903, S. 380: „Das moralische Gefühl setzt sich zusammen: 1. aus Sympathie, 2. aus Wohltätigkeitstendenzen, 3. aus Rechtsgefühl, 4. aus dem Sehnen nach Beifall und Belohnung und Furcht vor Strafe.“ So auch bei Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 20. 223 Döderlein, Literatur, 2017, S. 49. 224 Vgl. Kornfeld, Rechtsgefühl I, 1914, S. 135: „seinen psychophysischen Bedingungen und Grundlagen“. 225 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 86 ff. 226 Vgl. Urteil des Preisrichterkollegiums über die eingelaufene Bewerbungsschrift Sigmund Kornfelds (Rudolf Stammler-Preisaufgabe), Kantgesellschaft, Kant-Studien, Philosophische Zeitschrift, hrsg. v. Vaihinger/Bauch, 18. Bd., 1913, S. 313 ff. 227 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 185. 228 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 177. 229 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1914, S. 96 ff.; so auch bei Schnädelbach, Entscheidende Gefühle, 2020, S. 95. 222
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tralen Stellenwert ein.230 Der menschliche Körper liefere die Voraussetzung für die Entstehung von Gefühlen.231 Dieser Gedanke wird konkretisiert, wenn er „besondere Erregbarkeitsverhältnisse“ zu erzeugen und die volle Reizbarkeit des Nervensystems hindernde Beeinträchtigungen zu beseitigen fordert.232 So besteht nach Kornfeld das höchste Streben für eine zuverlässiges Rechtsgefühl in der Minimierung seiner subjektiven Eigenschaften.233
III. Die Bedeutung des Rechtsgefühls im juristischen Diskurs „Dass das Recht auch Sache des Gefühls ist, hat man gerade in Deutschland so lange verkannt, indem man das Recht als interessantes Verstandesproblem und die Pandekten wie ein artiges Schachspiel mit interessanten Combinationen und geistreichen Wendungen behandelte.“ 234
Neben Kohler proklamierte auch Radbruch das Rechtsgefühl als eine „Sehnsucht“, als wichtigen Faktor bei der Rechtsentwicklung in Kontrast zur „harten Realität“ des geltenden positiven Rechts.235 Im Zuge der Behandlung des Rechtsgefühls im juristischen Diskurs wird untersucht, inwieweit eine Entwicklungstendenz von einem rein subjektiven Rechtsgefühl hin zu dessen Objektivierung erkennbar ist: Wird das Rechtsgefühl im Laufe des 18. hin zum 19. und 20. Jahrhundert zunehmend rational und objektivierbar? Besteht ein Wandel im rechtlichen und gesellschaftspolitischen Diskurs? Wird das Rechtsgefühl als ursprünglich oder erlernt charakterisiert? Wird das Rechtsgefühl als Rechtsquelle oder als Handlungsimpuls bei der Rechtsanwendung verstanden?236
230
Kornfeld, Rechtsgefühl I, 1914, S. 97–99. Kornfeld, Rechtsgefühl I, 1914, S. 97. Vgl. dazu Dixon, Emotions, 2003, S. 23. Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2017, S. 107 ff.; ferner jüngst dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 91–95. 232 Kornfeld, Rechtsgefühl I, 1914, S. 97 f.; Klages, Wesen des Bewußtseins, 2. Aufl., 1926, S. 54, 56. 233 Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 185. 234 Kohler, Shakespeare, 2. Aufl., 1919, S. 255 Anm. 1. Kohlers Kritik an Jhering verwundert. Obwohl er Jherings Kampf ums Recht scharf kritisierte, waren sie sich doch in diesem Punkt und auch, was seinen Wirklichkeits- und Fortschrittgedanken im Recht betraf, einig. 235 Radbruch, Rechtsgefühl, 1914/15, S. 423: „Alle die freundlichen Geister der Einbildungskraft, die auf einer tieferen Stufe der juristischen Kultur wohl auch in und mit dem Recht ihr Spiel treiben, sind aus dem Umkreis des römischen Rechts streng ausgewiesen. [. . .] Das Recht hat ein hartes und kaltes Ansehen, sagt der Romanist Georg Friedrich Puchta, das es der weichen Phantasie, der spielenden Lust der Gefühle unheimlich erscheinen lässt.“; vgl. auch ders., Rechtsgefühl, 1918, S. 430 ff. Vgl. dazu insb. Hebeisen, Recht und Staat I, 2004, S. 124 f. 236 Vgl. schon Rehbinder, Fragen, 1982, S. 1–5. 231
III. Die Bedeutung des Rechtsgefühls im juristischen Diskurs
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Erst in der anbrechenden Epoche der Neuzeit nahm das Interesse an der natürlichen Ursachenforschung und an der intuitiven Rechtsfindung zu. Aus den Bestrebungen einer natürlichen Entstehung des Rechts entwickelte sich in der Rechtswissenschaft die naturrechtliche Schule mit ihrem Begründer Grotius.237 Den verschiedenen vorherrschenden Naturrechtsauffassungen gemein war die Ablehnung der aus den Lehren Aristoteles’ hervorgegangenen Scholastik, die Ablösung von den althergebrachten religiösen Strukturen sowie das Erkennen und Umsetzen von neuen, an den wandelnden Zeitgeist angepassten Bedingungen für eine funktionierende Gesellschaft. Statt der Macht einer Autorität bildete die Legitimationsgrundlage des Rechts fortan das Naturgesetz. Zwar war weniger die Entstehung des Rechtsgefühls als die des Rechts als solchem Themenschwerpunkt der Naturrechtstheorien, jedoch sind beide untrennbar miteinander verbunden. Überwiegend wurde das Naturrecht als ein aus der menschlichen Natur abgeleitetes, gemeinsames Recht verstanden, womit konsequenterweise auch das Rechtsgefühl bzw. seine semantischen Derivate in der menschlichen Natur ihren Ursprung hatten.238 Im aufklärerischen Zeitalter des Naturrechts setzte sich die Auffassung von der Rechtsbildung aus dem Verstand und der Vernunft durch.239 Nach dem Philosophen Windelband konnte allein das Naturrecht die Jurisprudenz vor der „übermächtigen Staatsgewalt“ schützen.240 So war es auch nach Isay „kein Zufall, daß mit der Geburt des Gedankens des Nationalstaats auch die Reaktion gegen das Naturrecht durch die Historische Schule einsetzte“.241 Aufgrund seiner ideellen, realitätsfernen Ansichten stand das Naturrecht bereits gegen Ende des 18. Jahrhunderts in zunehmendem Maße in der Kritik. 1. Historische Rechtsschule und Volksgeist Im 19. Jahrhundert wollten die Vertreter der Historischen Rechtsschule mit ihrem Gründungsvater Savigny das nationale Bewusstsein für den historischen 237 Vgl. Abhandlungen über das Naturrecht aus neuerer Zeit u. a. von Bergbohm, Jodl, Manigk und Gysin mit Nachweisen bei Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 32. 238 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 30 ff. 239 Siehe B. II. 2. Vgl. insb. Grotius, De jure belli et pacis. I, 1625, S. 50 (Erstes Buch, 1. Kapitel, X. 1.): „Das natürliche Recht ist ein Gebot der Vernunft, welches zeigt, daß einer Handlung wegen ihrer Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung mit der vernünftigen Natur selbst eine moralische Häßlichkeit oder eine moralische Notwendigkeit innewohnt, weshalb Gott als Schöpfer der Natur eine solche Handlung entweder geboten oder verboten hat.“ Vgl. dazu insb. Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 32 ff.; Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 43 ff. 240 Windelband, Philosophie I, 2. Aufl., 1899, S. 517: „Den Deutschen fehlte eben mit einem nationalen Staate auch das Gefühl für den selbständigen sittlichen Wert des staatlichen Zusammenhanges, und wenn sie im Staate nur eine Maschinerie für die Sicherung von Leben und Eigentum und für die Befriedigung der individuellen Bedürfnisse sahen, so war das in einem Lande entschuldbar, dessen Bewohner die staatliche Macht nur als Polizei kannten.“ 241 Isay, Rechtsgefühl, 1987, S. 103.
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B. Allgemeine Phänomenologie des Rechtsgefühls in den Wissenschaften
Grund des Rechts erwecken und dessen Gestalt als Volksgeist verstanden wissen.242 Recht entstehe durch die im „Bewußtsein des Volkes lebendige Überzeugung“, nicht durch willkürliche Gesetzgebung.243 Die rechtserzeugende Kraft entwickelt nach der Historischen Rechtsschule allein die Jurisprudenz als Stellvertreter dieses Volksgeistes. Dabei herrschte bald eine wissenschaftliche Krise um die Bedeutung des Volksgeistes, den selbst Puchta als eine „dunkle Werkstätte“ 244 bezeichnete. Die Erfassung des Rechts befand sich in einem komplexen Spannungsfeld zwischen Intuition, göttlicher Offenbarung und Vernunft.245 Unterholzner hatte schon im Jahre 1817 kritisiert, dass die Historische Rechtsschule in der Erforschung der Geschichte „wie in einem Zauberspiegel, die Deutung der Gegenwart erblickt“.246 Zwar interpretierte Thibaut das kollektive Volksbewusstsein als ethische Gesinnung wie „Sittlichkeit, Ehrliebe und Anstand“,247 griff jedoch pseudoplebiszitär auf den „gemeinen und gesunden Verstande“ zurück.248 Die Phänomenologie des Volksgeistes als Ursprung des positiven Rechts blieb ungeklärt; der Volksgeist war lediglich metaphysischer Natur.249 Bald machte es sich die Historische Rechtsschule zur zentralen Aufgabe, „der Mystik des Volksgeistes“ entgegenzutreten.250 Auf die Kritik von der Lebensferne der Rechtsmethode der Historischen Rechtsschule251 reagierten ihre An242 Puchta, Pandekten, 2. Aufl., 1844, S. 16. Nach Wolff ist der Volksgeist „Erkenntnis-, Seins- und Werdegrund“ des Rechts zugleich [ders., Kritik der Volksgeistlehre, 1937, S. 7 f.]. Vgl. ferner Meder, Rechtsgeschichte, 6. Aufl., 2017, S. 297 f.; Tröltsch, Historismus, 1922, S. 280 ff.; Isay, Rechtsgefühl, 1987, S. 107. Vertiefend zur Historischen Schule vgl. insb. Haferkamp, Erweckungsbewegung, 2009, S. 71–93; jüngst ders., Historische Rechtsschule, 2018; Köhler/Schmidt, Savigny and Uhland, 2015, pp. 17–46. 243 Savigny, Beruf, 1814, S. 12. Vgl. Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2013, S. 282 f. 244 Puchta, Institutionen I, 1841, S. 30. 245 So insb. bei Rudorff, Savigny, 1863, S. 36; vgl. jüngst Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 197. 246 Unterholzner, Entwurf, 1817, S. XLIII. 247 Thibaut, Pandekten I, 8. Aufl., 1834, S. 10. 248 Thibaut, Vorlesungsdiktate I, 1836, S. 15 f. 249 Zitelmanns Verdienst besteht darin, erkannt zu haben, dass der Volksgeist auf den ersten Blick „nicht ein erzeugender Faktor über der Volksüberzeugung“, sondern „lediglich der Träger dieser Ueberzeugung“ ist. „[S]pricht man vom Volksgeist in Bezug auf rechtliche Dinge, so meint man nichts Anderes als eben die rechtliche Ueberzeugung selbst“, so Zitelmann weiter [ders., Gewohnheitsrecht und Irrthum, 1883, S. 426 f.]. Dies weist er im Einzelnen bei Puchta nach, der statuierte, dass das Recht eine „Thätigkeit oder Richtung“ [ders., Gewohnheitsrecht I, 1828, S. 144, 138] des Volksgeistes sei; bald läßt er das Recht aus der Rechtsüberzeugung, bald direkt aus dem Volksgeist hervorgehen [Puchta, Gewohnheitsrecht I, 1828, S. 144, 147]. 250 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 223. 251 Vgl. eingehend A. I.
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hänger mit der Forderung nach einer wesentlichen Mitwirkung des Ius Commune bei der Entstehung von Recht. Aufgrund eines dort fehlenden Gesetzgebers trat die juristische Praxis in den Fokus der Jurisprudenz. Sie wollte „rational systematische und intuitiv-anschauende Elemente so verbinden, dass eine wissenschaftliche Überzeugung entstand“.252 Nach Bluhme konnte man bisher nicht differenzieren zwischen dem „Sitz des einfachen Gewohnheitsrechts im Rechtsgefühl“ und „des Juristenrechts im Verstand [. . .], da weder Gefühl noch Verstand für sich allein ein Recht zu bilden vermag: das Entscheidende bleibt immer erst die gemeinsame Ueberzeugung von dem Dasein einer rechtlichen Nothwendigkeit“.253 Rechtswissenschaftliches Arbeiten verlangte die stete Untersuchung des Systemzusammenhangs des positiven Rechts. Nach Puchta und Savigny sollten die Rechtssätze als Volksrecht „in einem organischen Zusammenhang unter einander [stehen], der sich zuvörderst durch ihr Hervorgehen aus dem Geist des Volkes erklärt“.254 Die Ablehnung einer rein empirischen Deutung des von Savigny statuierten gemeinsamen Bewusstseins des Volkes als Ursprung des Rechts mündete grundlegend in der schwierigen philosophischen Frage nach seiner genauen juristischen Bestimmung und Umsetzung.255 Savigny schreibt dem Recht ein „doppeltes Daseyn“ zu;256 es sei „Teil des ganzen Volkslebens“, gleichzeitig bestehe es als „besondere Wissenschaft in den Händen der Juristen“.257 Der Juristenstand sei nach Savigny Repräsentant des Volksgeistes.258 Diese Tatsache wurde als „Plädoyer dafür verstanden, das Heutige Römische Recht am Rechtsgefühl zu messen“.259 Diesen doppelten Daseinscharakter des Rechts bei Savigny auf das Rechtsgefühl übertragen, hieße die Existenz eines nationalen Rechtsgefühls als unsichtbare Entität im Volk auf der einen Seite und eines individuellen Rechtsgefühls des Rechtsanwenders mit spezieller Ausbildung, einer Art Expertengefühl, auf der anderen Seite anzuerkennen.260 Im Spannungsfeld von Rationalität und Intuition beriefen sich die Vertreter der Historischen Rechtsschule nur vereinzelt und unsystematisch auf das Rechtsge-
252
Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 297. Bluhme, Übersicht, 3. Aufl. 1863, S. 44; Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 297. 254 Puchta, Institutionen I, 1841, S. 35; Savigny, System I, 1840, S. 16; Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 190. 255 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 155 f. 256 Savigny, Beruf, 1814, S. 11 f. 257 Savigny, Beruf, 1814, S. 12. 258 Savigny, Beruf, 1814, S. 12. 259 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 222; ferner ebd., S. 147 ff. 260 Jüngst Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 273 ff. 253
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fühl oder seine semantischen Derivate.261 Savignys Werke weisen zwar den Begriff „Rechtsgefühl“ nicht auf 262, er verwendet jedoch verwandte Formulierungen wie „allgemeiner Volksglaube“, „gemeinsames Bewusstsein des Volkes“ 263 oder „Gefühl und Bewußtseyn des Volkes“.264 Ferner äußerte sich Savigny im Rahmen der psychischen Anforderungen bei der Rechtsanwendung zu dem „Gefühl rechtlicher Nothwendigkeit (necessitatis opinio)“, ohne jedoch die Priorität des existierenden Rechtssatzes außer Acht zu lassen.265 „Volksgeist“ bzw. „gemeinsames Bewusstsein des Volkes“ oder ähnliche Ausdrücke und „Rechtsgefühl“ als Synonyme zu betrachten,266 liegt hier nahe: Die Volksgeistlehre im Sinne einer Rechtsentstehungslehre begründet die Bildung des Rechts aus dem Gefühl.267 Auch Jhering sprach als Anhänger der Historischen Rechtsschule bis zu seiner Abkehr von einem „nationalen Rechtsgefühl“ im Sinne ihrer Volksgeistlehre.268 Das subjektive Rechtsgefühl des Naturrechts wurde nach ihrer Volksgeistlehre und ihrem Nationalstaatsprinzip gewissermaßen denaturiert. Nach Jhering förderte die Historische Rechtsschule die „Versöhnung des subjektiven Rechtsgefühls“ mit der äußeren Seite des objektiven Rechts. Sie schuf für den „subjektiven Geist, der sich [. . .] in unbefriedigender Sehnsucht in die öden Wüsteneien des Naturrechts flüchtete“, eine faktische Rechtsgrundlage.269 Insbesondere ist hier Puchta anzuführen, der „etwas in dem Rechtsgefühl der Kundigen des Volkes“ erblicken will.270 Er betonte das „natürliche Gefühl der Billigkeit“ 271, ein dem „menschlichen Geist eingeborenen Sinn [. . .] und Trieb [. . .]“.272 Er war der
261 Entgegen zahlreicher Stimmen in der Literatur, u. a. Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 23: „Zur Klärung des Wesens des Rechtsgefühles hat infolgedessen diese Schule auch nichts beigetragen, es sei denn, daß durch dieselbe der bis dahin herrschende Glaube an die allmächtige Kraft der Vernunft und Logik auf dem Gebiete der Jurisprudenz gebrochen und, allerdings in übertreibender Weise, gezeigt wurde, daß nebst dem Verstande noch andere gewichtige Faktoren bei Bildung des Rechtes mitwirken“, verwenden ihre Vertreter den Begriff des Rechtsgefühls oder seine Derivate sehr wohl, auch wenn sie (dabei) unpräzise bleiben. 262 Vgl. Lahusen, Volksgeist, 2012, S. 68. 263 Savigny, Beruf, 1814, S. 11, 13; vgl. Kantorowicz, Volksgeist, 1912, S. 301. 264 Savigny, Beruf, 1814, S. 43. 265 Savigny, System I, 1840, S. 174. 266 Vgl. Radbruch, Rechtsgefühl, 1914/15, S. 424; Rümelin, Rechtsgefühl, 1871, S. 5; Gierke, Naturrecht, 1883, S. 10; dazu jüngst Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 273. 267 So auch jüngst Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 284. 268 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 25; ders., Geist III 1, 1865, S. 6 f. 269 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 26. 270 Puchta, Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 70. Vgl. Zitelmann, Gewohnheitsrecht und Irrthum, 1883, S. 401. 271 Puchta, Negatorienklage, 1827, S. 195. 272 Puchta, Institutionen I, 1841, S. 23.
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Auffassung, dass die reine Anwendung des Gesetzes273 noch durch ein „selbstständigeres Gefühl von der Rechtmäßigkeit derselben“ ergänzt werden müsse. Er forderte, dass der fragliche Satz „dem Rechtsgefühl“ „als den übrigen Bestimmungen unseres Rechts conform erscheinen“ müsse, es soll „eine eigenthümliche von der Kenntnis des (betreffenden) Rechtssatzes unabhängigere Rechtsanschauung“ bestehen.274 Neben der strengen Systemtheorie der Historischen Rechtsschule verblieben also „intuitive Restbereiche, in denen der Volksgeist und das Rechtsempfinden [das angeborene Rechtsgefühl] der Juristen als Repräsentanten verschmolzen blieben“.275 Bei der Einordnung der Rechtsentstehung aus dem Volksgeist ist, Zitelmann folgend, zwischen dem formell-juristischen und dem materiell-philosophischen Standpunkt des Rechts zu differenzieren. Während letzterer bestimmt, welches seine „treibende innerliche Bedeutung“ und sein „gegenüber den Zufälligkeiten [seiner] endlichen Verwirklichung wesenhaftes Dasein ist“, und „das Ideal dieser Erscheinung“ angibt, ist Recht nach der formell-juristischen Betrachtung eine „sich an Aeußerliches haltende Ordnung“ und entsteht aus einer „rein juristische[n] Untersuchung“.276 Resümierend kann also festgehalten werden, dass die Einführung der Volksgeistlehre und des Nationalstaatsprinzips der Historischen Rechtsschule auf materiell-philosophischer Ebene zunächst eine Denaturierung des Rechtsgefühls gegenüber der Auffassung des Naturrechts zur Folge hatte. Nach 1848 sollte „nach der politischen Vereinigung Deutschlands im Bismarck-Reich [. . .] auf der Welle des damaligen Nationalgefühls und in der Absicht, zur nationalen Kodifikation des Rechts aufzurufen, das Recht auf einen angeborenen Ordnungstrieb zurückgeführt“ werden, so Rehbinder.277 Auf formell-juristischer Ebene äußerte sich 273 „Ueberzeugung von der Existenz des Rechtssatzes“ [Puchta, Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 33, 66], „Bewußtsein einer bestehenden Rechtsvorschrift“, „in der Voraussetzung eines bestehenden Rechtssatzes“ [Puchta, Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 35], „der Handlung müsse die Ueberzeugung von einem Rechtssatze, welchem sie entspricht, zu Grunde liegen“ [Puchta, Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 38, ähnlich S. 64]. 274 Puchta, Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 70, ferner S. 74–75, 78. Stellenweise werden neben der Rechtsüberzeugung wiederum unspezifisch Ausdrücke wie das „Rechtsgefühl“ oder ähnliche Formulierungen verwendet, Puchta, Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 70; „Gefühl von der Rechtmäßigkeit“, ders., Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 75; Savigny, Beruf, 1814, S. 8; ders., System I, 1840, S. 15, 174, 179, S. 23; Beseler, System I, 1847, S. 79, 89, 93; Wächter, Pandekten I, 1880, S. 103: „rechtliche Ueberzeugug, rechtliches Bewußtsein, Rechtsgefühl“. Auch „Rechtssinn“ [Puchta, Gewohnheitsrecht II, 1837, S. 12, 74] oder Volksglaube [Savigny, System I, 1840, S. 35; ders., Beruf, 1814, S. 9, 14]. Vgl. weitere Nachweise bei Zitelmann, Gewohnheitsrecht und Irrthum, 1883, S. 388 f., welcher diese Ausdrücke als „Unbegriff[e]“ bzw. „Schwankungen und Irrungen“ bezeichnet [ebd., S. 389]. 275 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 206, 317 ff. 276 Zitelmann, Gewohnheitsrecht und Irrthum, 1883, S. 428 f. So auch bei Jhering, vgl. E. 277 Rehbinder, Fragen, 1983, S. 264.
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der wirkende Volksgeist als Rechtsgefühl des Juristenexperten bei der Rechtsanwendung.278 Hier zeigt sich bereits eine erste Andeutung der Funktion des Rechtsgefühls als Kontrollinstanz. 2. Hinwendung zur naturwissenschaftlichen Erkenntnismethode des Rechts Im Laufe des 19. Jahrhunderts entwickelte sich also in der Jurisprudenz die streng begrifflich-logische, formalistische Methode des Rechts. Die vorherrschende Jurisprudenz wollte „jede Entscheidung mit Hilfe der reinen Logik finden, jede Lücke mit Hilfe des bloßen Denkens füllen“.279 Diese mit den aufkommenden Naturwissenschaften entstehende positivistische Methode wurde als Ausdruck der „Wissenschaftsgläubigkeit“ 280 der Historischen Rechtsschule und der Begriffsjurisprudenz zur Maxime von Theorie und Praxis erhoben.281 Konsequenz war die Verdrängung der alten, nicht mehr zeitgemäßen Institutionen wie das Rechtsgefühl, das allgemeine Rechtsbewusstsein des Volkes oder der Volksgeist.282 So widmeten sich auch viele Rechtswissenschaftler in der Mitte des 19. Jahrhunderts den naturwissenschaftlich-empirischen Erkenntnismethoden.283 Ziel war eine Untersuchung der Rechtszusammenhänge bzw. die Auflösung des flüchtigen „Organismus“-Begriffs. Etwa Leist appellierte im Jahre 1854 an eine „Analyse der bei uns bestehenden Rechtsinstitute“.284 Kurze Zeit später folgte Knapp mit seiner auf einer „naturforschenden Methode“ basierenden Rechtsphilosophie.285 Ferner steht Jherings höhere Jurisprudenz oder naturhistorische Methode286 im Jahre 1858 im Kontext der berühmten Rede ,Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft‘ (1847) des Juristen von Kirchmann und schließt sich der aktuellen, progressiven naturwissenschaftlichen Methode an. Mecke ist darin zuzustimmen, dass es Jherings Verdienst war, „den spezifisch rechtswissenschaftlichen Charakter, den diese Methode von anderen wissenschaftlichen Methoden unterscheidet, benannt und die wissenschaftstheoretische Ebenbürtigkeit der juristischen Methode mit den Methoden anderer Wissenschaften, insbesondere der Naturwissenschaften, begründet zu haben“.287 Nach Jhering konstruierte die 278
So insbesondere jüngst Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 299. Hedemann, Einführung, 1927, S. 35. 280 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2013, S. 291; so auch jüngst Döderlein, Literatur, 2017, S. 32 ff. 281 Rüthers/Fischer/Birk, Rechtstheorie, 2013, S. 289; vgl. hierzu ausführlich Jherings Kritik an derselben, A. I. 3. 282 Isay, Rechtsgefühl, 1987, S. 104 f. 283 Die allgemeine Gefühlsforschung betreffend vgl. B. II. 3. 284 Leist, Römische Rechtsinstitute, 1854, S. 5. 285 Knapp, System, 1857, S. 2, 151, 155 f. 286 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 385 (ff.); ausführliche Darstellung in A. II. 2. 287 Mecke, Jhering, 2018, S. 466–471. 279
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Theorie, die „höhere Jurisprudenz“, das Recht, die Praxis bestimmte die Zweckmäßigkeit desselben.288 Mit seiner naturhistorischen Methode wollte Jhering die „Herrschaft des Rechtsgefühls“, d. h. des bis dahin geltenden gemeinsamen, ursprünglichen Rechtsgefühls des Volkes, ganz im Sinne der Volksgeistlehre der Historischen Rechtsschule, beenden.289 Der Volksgeist bzw. das nationale Rechtsgefühl wurde durch Rechtspraxis und -realität ersetzt und verlor damit seine Daseinsberechtigung; sein metaphysisches Fundament wurde zerstört. Das Rechtsgefühl war fortan der Inbegriff für Unwissenschafltichkeit.290 Aus dem Paradigma der Naturwissenschaften erwuchs bald immer stärker der Gedanke des Lebenswirklichkeitsbezugs291 und damit die Umsetzung von praktischen Bedürfnissen in der Jurisprudenz. Das Transferwissen der naturwissenschaftlichen Fachrichtungen machte sich die Rechtswissenschaft fortan zunutze: auch Gefühle wurden neu wahrgenommen und „zunehmend über die Parameter der Exaktheit, Verlässlichkeit und Objektivität“ der Naturwissenschaften definiert.292 Zu diesem Zweck rückte in positiv-juristischer Hinsicht das bei den Vertretern der Historischen Rechtsschule bereits erkannte, allerdings noch sehr unspezifische Rechtsgefühl bei der Anwendung von Recht wieder in den Blick der Juristen. Bei der Interpretation des Gesetzesinhaltes sollte nun ganz ausdrücklich das als Kontrollinstanz dienende, kritische Rechtsgefühl angewendet werden.293 So wendeten sich die Juristen von einer rein logischen Rechtsanwendung ab, nicht jedoch von der naturhistorischen Methode an sich.294 Vor allem Jhering begann Ende der 50er Jahre, das Rechtsgefühl am Rechtsfall praktisch anzuwenden295
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Jhering, Geist II, 1858, S. 385 ff.; vgl. A. II. 2. Jhering, Geist, II 2, 1858, S. 377. Später entgegnete Dahn, Vernunft, 1879: „Rechtsgefühl ist durchaus nicht der entsprechende Ausdruck für ,Vernunftbedürfnis nach Recht‘: Nicht ein vages, von der Moral und etwa der Gerechtigkeit als Billigkeit ausgehendes nebelhaftes Gefühl, sondern eine scharf bestimmte, tagklare Logik (Rechtsvernunft, wie wir sagen sollen) eine dem mathematischen Denken viel näher als dem ,Sentiment‘ verwandte Geistestätigkeit produziert das Recht.“ So auch bei Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 24 f. 290 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 317 ff., insb. treffend ebd., S. 318: „Das Band zwischen Rechtswissenschaft und Volksgeist wurde gelöst. [. . .] Die gewonnene Freiheit, durch die Quellen hindurch das Recht zu modernisieren, gab hinreichend Freiraum, um korrigierende Berufungen auf das Rechtsgefühl als Volksgeistzugang entbehrlich zu machen.“ 291 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 335 ff. 292 Treiber, Physiologie des Rechts, 1998, S. 170 ff.; ausführlich B. II. 3. 293 Vgl. bereits A. II. 3. und ausführlich in D. II. Mecke, Jhering, 2018, S. 242 ff. nennt es das „individualisierend-wertende“ Rechtsgefühl. 294 Vgl. A. II. 3. und Jherings Kritik – Begriffsjurisprudenz A. I. 3. So auch Mecke, Jhering, 2018, S. 622 ff. 295 Vgl. C. 289
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und machte es seitdem zum Gegenstand seiner wissenschaftlichen Abhandlungen.296 Die konservativen Lehren der Historischen Rechtsschule, der reinen Logik folgend, waren im Ausgang des 19. Jahrhunderts nicht mehr zeitgemäß.297 Kirchmann, der mit seiner vor der juristischen Gesellschaft vorgetragenen Rede über ,Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft‘ im Jahre 1848 Bekanntheit erlangte, war einer der Ersten, der sich dessen bewusst wurde: „Welche Masse von Gesetzen, und doch wie viele Lücken! Welches Heer von Beamten und doch welche Langsamkeit der Rechtspflege! Welcher Aufwand von Studien, von Gelehrsamkeit und doch welches Schwanken, welche Unsicherheit in Theorie und Praxis. Ein Staat, der die Verwirklichung des Rechts zu seiner höchsten Aufgabe macht und doch die Handhabung desselben im Einzelnen mit schwerem Gelde sich bezahlen läßt!“ 298
Im Jahre 1869 gründete er seine Rechtsphilosophie „gleich der Naturwissenschaft“ auf die „Beobachtung des einzelnen Seienden“.299 In diesem Zusammenhang betonte er, dass „das Recht nicht blos im Wissen, sondern auch im Fühlen ist, daß ihr Gegenstand nicht blos im Kopfe, sondern auch in der Brust des Menschen seinen Sitz“ habe und die zentrale Bedeutung eines angeborenen Rechtsgefühls bei der Rechtsanwendung.300 Nach Kirchmann sei das Gefühl „nie und nirgends ein Criterium der Wahrheit“, sondern „das Product der Erziehung, der Gewohnheit, der Beschäftigung, des Temperaments, also des Zufalls“ 301, mithin „eine Findigkeit des Intellekts“.302 Schon Hasse beschäftigte sich mit der Bedeutung des „practischen Takt[s]“ 303, und des Rechtsgefühls des Richters. Ohne dieses Rechtsgefühl wäre letzterer ein „schlechter Practiker“. Ein guter müsse „abzufühlen verstehen, wie er [der Gesetzestext] zu beurtheilen sei“.304 Auch 296 Insbesondere 1872 in seinem Vortrag ,Kampf um’s Recht‘; ab 1877 ,Zweck im Recht‘, 1884 ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ vgl. Gesamtschau und Analyse seiner Werke in D. II.; dazu ferner Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 317 ff. 297 Hedemann, Einführung, 1927, S. 35. 298 Kirchmann, Werthlosigkeit, 1848, S. 6. 299 Kirchmann, Grundbegriffe, 1869, S. 1 f. Dazu jüngst Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 319]. 300 Kirchmann, Werthlosigkeit, 1848, S. 16 f. 301 Kirchmann, Werthlosigkeit, 1848, S. 18; ebd., S. 19: „[B]einahe überall im Recht hat das Gefühl sich schon für eine Antwort entschieden, ehe noch die wissenschaftliche Untersuchung begonnen hat.“ Dazu auch jüngst Benedict, CiC, 2018, S. 22. 302 Radbruch, Rechtsgefühl, 1914/15, S. 425: „das Judiz, die Urteilskraft, der juristische Takt, der ohne umständlich klügelnde Schlüsse ihr Ergebnis intuitiv vorwegnimmt, auf das objektive Recht, die Rechtsordnung, gerichtet“. 303 Hasse, Servituten, 1827, S. 64 ff., 108. 304 Hasse, Institutionen, 1822/23, S. 18; auch Thibaut erkennt ein Rechtsgefühl an: „Indeß will ich damit keineswegs gesagt haben, daß alles Selbstdenken, welches der Erklärung des Rechts vorhergehen muß, nicht anders, als a priori geschehen kann. Ich
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Jherings Freund Windscheid räumte dem Rechtsgefühl, er nannte es den juristischen Takt oder das Gerechtigkeitsgefühl, eine zentrale Rolle bei der Urteilsfindung ein, betonte aber gleichzeitig, dass die einzige „Quelle der richterlichen Entscheidung“ nur das „juristische Denken“ sein könne: „Wenn aber das Resultat des juristischen Denkens zu dem, was der Takt eingibt, nicht stimmt, so soll das dem Richter eine Warnung sein. Er soll sich zwei und dreimal fragen, ob er richtig gedacht hat, und wer am meisten gelernt hat, wird am ehesten befähigt sein, mit den Mitteln des juristischen Denkens die Anforderungen des Taktes, d. h. des Gerechtigkeitsgefühls, zu befriedigen. Aber wenn trotz alledem das juristische Denken von seinem Ergebnis nicht ablassen will, dann soll der Richter entscheiden, wie er gedacht hat, nicht wie er fühlt. Abhilfe ist dann nur von der Gesetzgebung zu erwarten – an das gesetzte Recht sind wir alle gebunden.“ 305
So ist nach Windscheid der Richter auch bei einem Widerspruch mit seinem „Rechtsgefühl“ an das „positive Recht“ gebunden. Es werde ihm jedoch eine „genaue Erforschung des wahren Gehaltes des positiven Rechtes sehr häufig die, dem ersten Blick sich verbergende, Möglichkeit gewähren, die Ansprüche der Billigkeit mit dessen eigenen Mitteln zu befriedigen“.306 Deutlicher bekannte sich Jherings Kollege Bähr zu einem „lebendige[m] Rechtsbewußtsein“ 307; er sprach dem Rechtsanwender ein individuell ausgeprägtes Rechtsgefühl zu, das dem Gesetzgeber wie ein „Kompaß [. . .] überall die Richtung, die er zu verfolgen hat, anweisen muß“.308 Demnach vertrat Bähr ein richtungsweisendes Rechtsgefühl, dass dem Rechtsanwender zum Durchbruch seiner rechtlichen Lösung zu verhelfen imstande ist. Auch Jherings Freund und Präsident des österreichischen Reichsgerichts Unger räumte dem Rechtsgefühl einen hohen Stellenwert ein, indem er „aus der Verbindung von Rechtsgefühl und Rechtsverstand [. . .] richtige bin vielmehr der Meynung, daß es in vielen Fällen äußerst vortheilhaft ist, wenn der Jurist zunächst nur sein Gefühl zu Rathe zieht und von diesem gleichsam die allgemeinen Grundsätze abstrahirt.“ [ders., Theorie, 2. Aufl., 1806, S. 137]. 305 Windscheid, Rede, 1909, Sp. 955. Siehe auch ders., Gesammelte Reden, 1904, S. 337, 372: „Der Richter entscheidet wie er entscheidet, nicht deswegen, weil er für seine Entscheidung in den Bestimmungen des von ihm anzuwendenden Rechts einen Anhalt findet, sondern weil er nicht anders kann. Er bringt in seiner Entscheidung das Recht, welches in ihm lebt, zum Ausdruck und ist überzeugt davon, daß er damit das Rechte tut. Bleibt sein Vorgehen nicht vereinzelt und folgen andere Richter dem gleichen Drange, so ist das Gewohnheitsrecht fertig.“ 306 Windscheid, Pandekten I, 1862, S. 62. Dazu insb. Meder, Rechtsgeschichte, 3. Aufl., 2008, S. 297 ff.; ferner ders., Rechtsgeschichte, 6. Aufl., 2017, S. 325 ff.; Falk, Jurist, 1993, S. 606 f. 307 Bähr, Preußische Jahrbücher, Nr. 50, S. 578: „Hinter der Kenntnis der Rechtsregeln muß noch etwas anderes stecken, was deren rechtliche Anwendung leitet, das ist das lebendige Rechtsbewußtsein. Dasselbe geht nicht bloß aus dem Wissen hervor; nein, es ist zugleich eine Sache des Charakters. Mit Recht sagten deshalb schon ältere Praktiker: ,pectus facit jurisconsultum.‘ “, zit. nach Schneider, Rechtsgefühl, 1911, S. 307. 308 Bähr, Zur Frage des bürgerlichen Gesetzbuches, 1891, S. 295. Vgl. ferner zu Bähr bei Ogorek, Richterkönig, 2008, S. 266 f.
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Urteile mit richtigen Entscheidungsgründen hervor[gehen]“ ließ. Ein durch „Logik diszipliniertes Rechtsgefühl, an der Hand der Wissenschaft geschultes Rechtsempfinden, rationalisierter Rechtsinstinkt – das ist es, was den Richtern nottut“, so Unger.309 Dementsprechend entscheide er bei der Beurteilung eines Rechtsfalles zunächst mit Hilfe seines unmittelbaren Rechtsgefühls und sucht erst in einem zweiten Schritt „nach der gesetzlichen Begründung seines Vorurteils“ 310 oder seines „Vorgefühl[s]“ als „innere Rechtsstimme“.311 Eine psychologische Untersuchung des Rechtsgefühls ist demnach eine elementare wissenschaftliche Notwendigkeit.312 So wird deutlich, dass die genannten Juristen bei der Rechtsanwendung zwar einheitlich ein als Kontrollinstanz dienendes Rechtsgefühl anerkennen wollten, Spezifizierungen über den Ursprung und die genauen inhaltlichen Kriterien des Rechtsgefühls sowie sein konkretes Verhältnis zum Recht blieben aber aus. Rümelins Tübinger Kanzlerrede ,Über das Rechtsgefühl‘ (1871)313 und Jherings berühmter Vortrag ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ (1884) waren die ersten eigens über das Rechtsgefühl verfassten Abhandlungen, die das ,Rechtsgefühl‘ auf eine höhere, idealistische entwicklungsgeschichtliche Ebene heben wollten.314 Im Kontext der Kaiserreichsgründung und der nationalen Kodifikationsfrage entstamme nach Rümelin das ideale Recht einem konstanten „Ordnungstrieb“ 315 aus Rechtsgefühl und Gewissen, die vereint als „sittliche Anlage der menschlichen Natur“ die „Idee des Guten“ in die Realität umsetzen.316 Das die sittliche Ordnung eines Volkes verkörpernde Rechtsgefühl bezweckt nach Rümelin Rechtsfortbildung sowie ein zweckgerichtetes, harmonisches Lebensprinzip.317 Aufgrund der sittlichen, fortschrittlichen Entwicklung des Menschen ist das
309 Unger, Letzte Betrachtungen und Bemerkungen, in: „Neue freie Presse“ v. 22.1. 1911, zit. nach Schneider, Rechtsgefühl, 1911, S. 307, 326; ähnlich Unger, Mosaik, 3. Aufl., 1911, S. 161. 310 Unger, Kampf, 1906, S. 786, Fn. 1. 311 Unger, Mosaik, 3. Aufl., 1911, S. 161. 312 Unger, Mosaik, 3. Aufl., 1911, S. 162. Mit Verweis auf Zieglers Untersuchung über „Das Gefühl. Eine psychologische Untersuchung“ aus dem Jahre 1893. „Scharfund feinsinnig“ sei nach ihm „die gemeinverständliche Untersuchung“ [a. a. O.]. 313 Vgl. auch Rümelin, Rechtsgefühl und Gerechtigkeit, 1943. 314 Vgl. dazu detailliert D. II. 5. 315 Rümelin, Rechtsgefühl, 1871, S. 10, 14, 17. Auch „Trieb der Lebensharmonie“ oder „Vernunfttrieb“ genannt [ebd., S. 10]. 316 Rümelin, Rechtsgefühl und Gerechtigkeit, 1943, S. 17; vgl. dazu bereits Schützeichel, Rechtsgefühl, 2016, S. 70 f.; Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2017, S. 97 ff.; jüngst dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 46 f. 317 Rümelin, Rechtsgefühl, 1871, S. 11, 17; vgl. dazu bereits Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2017, S. 97 f.; jüngst dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 46 f.
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angeborene Rechtsgefühl historisch wandelbar; daraus folgt die dauernde Anpassung der Rechtsordnung an dieses. Rümelin erkennt im Rechtsgefühl die anthropologische Bedingung für Recht.318 Zu diesem idealistischen Rechtsgefühlsdenken kommen jedoch physiologische und physikalische Analysemethoden hinzu.319 Die Verflechtung des Rechtsgefühls mit den Erklärungsansätzen der Psychologie kündigt erneut den Methodentransfer der naturwissenschaftlichen Methoden auf die Rechtswissenschaft an. Auch hier ist die Kraft der menschlichen Psyche zentral; das Rechtsgefühl verkörpert einen Bestandteil des Geflechts von höheren und niederen Trieben. Das Rechtsgefühl des Rechtsanwenders spielt daher bei Rümelin eine nur untergeordnete Rolle. Er spricht demselben die vorangehende Funktion eines Pioniers in der Rechtspraxis/bei der Rechtsanwendung zu, doch die Vielschichtigkeit des Lebens führe zwangsläufig dazu, „daß dem Rechtsgefühl auf dieser langen Bahn bald der Atem ausgeht und es von einem logisch-technischen Element abgelöst werden muß“.320 Wie etwa schon der Philologe Feuerbach321, der das Recht als Erzeugnis einer speziellen in Gestalt der praktischen Vernunft gebildeten rechtlichen Fähigkeit ansah, waren die Rechtswissenschaftler noch lange wie Rümelin der Auffassung, dass das Rechtsgefühl angeboren sei (nativistische Theorien).322 Auch unter den modernen Rechtswissenschaftlern war die Idee eines angeborenen Rechtsgefühls bzw. seiner Derivate noch vereinzelt vertreten.323 Insbesondere von Gierke betonte die „innere [. . .] Erfahrung, daß die lebendige Kraft des Rechts aus der mit dem Menschen geborenen Rechtsidee stammt“.324 318 Als Ausfluss der romantisch-idealistischen Philosophie des frühen 19. Jahrhunderts Rümelin, Rechtsgefühl, S. 20. 319 Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2017, S. 99 f.; mit Verweis auf Harrington, Suche, 2002, S. 37–41; Schiera, Laboratorium 1992, S. 60. 320 Rümelin, Rechtsgefühl, 1871, S. 19. 321 Feuerbach, Kritik, 1796, S. 230 ff., insb. S. 245. Ähnlich Warnkönig, Rechtsphilosophie, 1839, S. 202. 322 Vor allem die Historische Rechtsschule erkennt ein „der menschlichen Natur eingepflanzte[s] gemeinsame[s] Rechtsbewußtseyn“ an [Savigny, System I, 1840, S. 110]. Ferner von der christlichen Dogmatik beeinflusst fußt Walter den Unterbau des Rechts auf den „dem Menschen angeborenen Rechtsgefühl und Gewissen, welches die Übereinstimmung der menschlichen Handlungen und Verhältnisse mit der Gerechtigkeit will; dabei kann man jedoch nicht stehen bleiben, sondern man muß auch nach dem objektiven, außerhalb des Menschen liegenden Grunde fragen, worauf die Gerechtigkeit selbst beruht. Dieses Objektive ist die über dem Menschen stehende sittliche Weltordnung, und das Rechtsgefühl und das Gewissen sind eben die Organe, welche Gott dem Menschen verliehen hat, um diese unsichtbare Ordnung zu erkennen und mit ihr in Verbindung zu treten.“ [ders., Naturrecht, 1863, S. 68]; zunächst auch noch Jhering, siehe ausführlich D.; vgl. schon Dehnow, Rechtsgefühl, 1914, S. 90. 323 Schneider, Rechtsgefühl, 1911, S. 302. 324 Gierke, Althusius, 2. Aufl., 1902, S. 366. Nach Gierke konnte demnach der Mensch „nicht Mensch sein, ohne daß sich in ihm der Rechtstrieb regte“ [ders., Privatrecht I, 1895, S. 120].
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Mit der intensiven Beschäftigung mit dem Phänomen „Rechtsgefühl“ wandten sich die Rechtswissenschaftler jedoch allmählich von der nativistischen Theorie ab hin zu einem sich historisch entwickelnden Rechtsgefühl.325 Ein führender Gegner war Jhering mit seinem Vortrag ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls‘ im Jahre 1884.326 Er irrte, wenn er die nativistische Ansicht ausgenommen von Locke als bis dato unumstritten erklärte und schrieb, dass er es „wohl nicht erleben [werde], dass [s]einer [historischen] Ansicht der Sieg zu Theil“ wird.327 Bereits im 16. Jahrhundert gilt insbesondere Montaigne als Vorreiter der Bekämpfung des Dogmas von einem angeborenen Rechtsbewusstsein, welches auf der faktischen Verschiedenheit der ethischen nationalen Auffassungen gegründet wird.328 Diesem stellt er seine Ansicht von der empirischen Herkunft desselben entgegen; auch das Recht sei allein psychologisch-anthropologisch begründbar.329 Spätestens seit Jhering dominierte die historisch-empirische Auffassung vom Ursprung des Rechtsgefühls.330 3. Neues Detailinteresse zu Beginn des 20. Jahrhunderts „[E]s ist wirklich an der Zeit, diesen Geist zu bannen und ihn zu erkennen als der Herren eignen Geist, in dem das Gesetz sich bespiegelt.“ 331
Im Anschluss an Jhering, zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wird ein neues, insbesondere in den deutschsprachigen Staaten breites Interesse an dem Phänomen „Rechtsgefühl“ geweckt. Das Rechtsgefühl wird nun erstmals selbstständiges Thema methodischer Arbeiten. Es wird zunehmend im Prozess der Urteilsfindung thematisiert. Sein Bedeutungsspektrum reicht von einem angeborenen Gefühl für Gerechtigkeit oder einem inneren moralischen Sinn bis zu einem geschulten Gefühl für das Recht. 325 Seit Locke auch Mill, Utilitarismus, 2010, S. 159 ff.; Ritschl, Gewissen, 1876; Rée, Gewissen, 1885; Spencer, ethics, 1879; Elsenhans, Gewissen, 1894, S. 204 ff. Weitere Vertreter vgl. ausführlich B. II. 2. 326 Vgl. D. II. 5. 327 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 51, 13; Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 34 ff. 328 Montaigne, Essais, I. S. 338 ff. (1. chap. 22). 329 Montaigne, Essais, I. (1. chap. 22). 330 Insbesondere Stricker, Physiologie, 1884, S. 113; Bergbohm, Jurisprudenz und Rechtsphilosophie I, 1892, S. 463; Stammler, Wirtschaft und Recht, 2. Aufl., 1906, S. 526; Biermann, Bürgerliches Recht I, 1908, S. 10; auch nach Maier gebe es einen „ursprüngliche[n] Rechtstrieb [. . .] ebensowenig wie ein ursprüngliches Rechtsbewußtsein und eine ursprüngliche Rechtsüberzeugung“ [ders., Psychologie, 1908, S. 731]; Binder, Rechtsbegriff und Rechtsidee, 1915, S. 211, 228; Kuhlenbeck, Rechtsgefühl, 1907/08, S. 24; Kornfeld, Rechtsgefühl I, 1914, S. 135, 171 ff., ders., Rechtsgefühl II, 1919, S. 28 ff.; Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 88 ff.; Jodl, Vom Lebenswege II, 1917, S. 70, zit. nach Riezler, Das Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 39. 331 Radbruch, Handlungsbegriff, 1967, S. 16 ff.
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Es wird auch im Prozess der Urteilsfindung als juristische Intuition verstanden.332 Kantorowicz griff in dem im Jahre 1906 und unter dem Pseudonym Gnaeus Flavius erschienenen Schrift ,Der Kampf um die Rechtswissenschaft‘ „die herrschende Idealvorstellung vom Juristen“ an, der ein sachliches Urteil im Wege einer nur ihm begreiflichen „Geheimtechnik“ aus der Rechtsordnung fällen könne333: „Ein höherer Staatsbeamter mit akademischer Ausbildung, sitzt er, bewaffnet bloß mit einer Denkmaschine, freilich einer von der feinsten Art, in seiner Zelle. Ihr einziges Mobiliar ein grüner Tisch, auf dem das staatliche Gesetzbuch vor ihm liegt. Man reicht ihm einen beliebigen Fall, einen wirklichen oder nur erdachten, und entsprechend seiner Pflicht, ist er imstande, mit Hülfe rein logischer Operationen und einer nur ihm verständlichen Geheimtechnik, die vom Gesetzgeber vorherbestimmte Entscheidung im Gesetzbuch mit absoluter Exaktheit nachzuweisen.“ 334
Ebenso vertrat Kantorowicz ein „geschulte[s] Rechtsgefühl“ 335 und betonte die „Notwendigkeit seines Mitwirkens bei allen juristischen Operationen“. Auch hier kommt dem Rechtsgefühl die Funktion eines Wegweisers zu.336 Dabei äußerte Kantorowicz große Bedenken gegenüber einer Gefühlsjurisprudenz. Dem Rechtsgefühl kann nach Kantorowicz für sich genommen keine alleinige Entscheidungsmacht zugesprochen werden, denn in den komplizierten Streitsachen finde sich ohne die Anwendung von gesetzlichen Regeln und Wertungen keine Lösung.337 Insbesondere nach Radbruch komme „[a]lle Erkenntnis, und so auch die juristische“ von „der Erfahrung, der Induktion her“. Erfahrung soll heißen, man „scheue das zu Unrecht verpönte Wort nicht – das Rechtsgefühl“.338 In der ersten Auflage seiner Abhandlung über die Rechtsphilosophie machte Radbruch deutlich, dass die Autorität des positiven Rechts „noch nicht die Wahrheit“ sei339, sondern um das individuelle Rechtsgefühl ergänzt werden müsse340; „das Gefühl eigenen Rechts“ in Anlehnung an Jherings Kampf ums Recht.341 Ein 332 Schnädelbach, manager of emotions, 2015, S. 47 f.; jüngst dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 137. Zur Gefühlsforschung siehe dies., Rechtsgefühl, 2017, S. 96. Ferner ausführlich B. I. 333 Meder, Rechtsgeschichte, 6. Aufl., 2017, S. 401. 334 Kantorowicz, Kampf, 1906, S. 7. 335 Kantorowicz, Freirechtslehre 1925, S. 9. 336 Kantorowicz, Methodenreform und Justizreform, 1911, Sp. 351. 337 Kantorowicz, Kampf, 1906, S. 19; vgl. Moench, Freirechtsbewegung, 1971, S. 116. 338 Radbruch, Handlungsbegriff, 1967, S. 16 ff. 339 Radbruch, Grundzüge, 1914, S. 181. 340 Radbruch, Handlungsbegriff, 1967, S. 16 ff.: „individuelle ,Werturteile und Willensentscheidungen‘, individuelle Überzeugung vom ,richtigen Recht‘, [. . .] die vielmehr, wie alle Einsicht in das, was sein soll, immer ,unmittelbare Erkenntnis‘, Intuition bleiben wird.“ Dazu insb. Hebeisen, Recht und Staat I, 2004, S. 124 f. 341 Radbruch, Rechtsphilosophie, 1999, S. 99 ff.
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B. Allgemeine Phänomenologie des Rechtsgefühls in den Wissenschaften
„Fühlen und Wollen“ des Juristen in Form persönlicher Werturteile helfe bei einer dauernden Auslegung und Korrektur des positiven Rechts.342 Die Bindung an das Gesetz wurde zu keiner Zeit aufgehoben; das Rechtsgefühl nehme lediglich „das Resultat vorweg, das Gesetz soll dann nachträglich die Gründe und Grenzen dafür hergeben“.343 Hervorzuheben ist hier Radbruchs hermeneutischer Ansatz: „Das Rechtsgefühl verlangt einen behenden Geist, der vom Besonderen zum Allgemeinen und vom Allgemeinen wieder zum Besondern hinüberzuwechseln vermag.“ 344
Vor diesem Hintergrund differenzierte er letztlich zwischen Rechtsinduktion und -deduktion: „Zur richtigen Rechtsinduktion bedarf es des Gefühls für das richtige Recht, das (velle non discitur) nicht erlernbar ist. Zur richtigen Rechtsdeduktion bedarf es nur logischer Denkfähigkeit. Die Überschätzung des logischen Elements in der juristischen Methode scheidet den Zufallsjuristen vom geborenen Juristen.“ 345
Auch Jherings Schüler Kuhlenbeck vertrat Anfang des 20. Jahrhundert in seinem Aufsatz ,Zur Psychologie des Rechtsgefühls‘ ein „ausgebildetes Rechtsgefühl und zwar nicht nur als sogenannter juristischer Takt (rein wissenschaftliche Intuition), sondern im Sinne eines ethischen Affekts zweifellos eine der feinsten und höchsten Blüten des menschlichen Geisteslebens“. Es verdiene „nicht nur in hohem Grad die Aufmerksamkeit des Psychologen“, sondern die „Psychologie des Rechtsgefühls“ müsse vielmehr „für die Rechtsphilosophie geradezu als fundamentale Hilfswissenschaft“ dienen.346 Das Rechtsgefühl sei in der Seele des Menschen nicht „präformiert“, allenfalls „prädeterminiert“. Es habe seinen Ursprung in der egoistischen (individuellen) Selbstbehauptung und ist als „durch mannigfache Assoziationen bedingtes geschichtliches Entwicklungsprodukt“ stets veränderlich. Eine Ablösung der Rechtsbildung und -pflege „vom urwüchsigen Rechtsgefühl“ könne gemäß Kuhlenbeck durch eine Beschäftigung der Psychologie und der „Verwertung sowohl de lege lata wie de lege ferenda“ verhindert werden.347 Mit dem charakteristischen Konnex von Normativität und Emotionen tritt die Rechtssoziologie auf den Plan.348 Für die theoriegeschichtliche Einordnung des 342
Radbruch, Rechtswissenschaft, 1906, S. 366. Radbruch, Geburtshülfe und Strafrecht, 1907, S. 175. 344 Radbruch, Rechtsgefühl, 1914/15, S. 429. 345 Radbruch, Handlungsbegriff, 1967, S. 16 ff. 346 Kuhlenbeck, Rechtsgefühl, 1907/08, S. 16: „Überall, wo das (subjektive) Recht aufhört, Gefühlssache zu sein, muß seine Wurzel, die nach meiner Überzeugung auch die psychologische Wurzel des objektiven Rechts ist – zweifellos ist das objektive Recht nur um des subjektiven Rechts willen da –, verdorren und absterben.“ 347 Kuhlenbeck, Rechtsgefühl, 1907/08, S. 24 f. 348 Kantorowicz, Kampf, 1906, S. 49: „[A]us den Trümmern der Dogmatik wird, zum Entsetzen aller Unklaren, der Stolz der Zukunft steigen, die Freie Rechtsschöpfung.“ Zur Freirechtsschule vgl. Moench, Freirechtsbewegung, 1971, S. 110 f.: „Die ein343
III. Die Bedeutung des Rechtsgefühls im juristischen Diskurs
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Rechtsgefühls ist besonders ihr Gründervater Ehrlich hervorzuheben.349 Die Jurisprudenz müsse nach Ehrlich das „lebende Recht“, die Rechtswirklichkeit, berücksichtigen, was das positive Recht nicht allein umsetzen könne, sondern nur der Richter bei seiner Entscheidungsfindung.350 Ehrlich gilt als Mitbegründer der sogenannten Freirechtsschule. Ihre Auffassung beruht auf der Erkenntnis der Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung und der Überwindung des vorherrschenden Rechtspositivismus.351 Nach Meder würden nach der Auffassung der Freirechtsschule „[n]icht die mühsamen, am Wortlaut des Gesetzes orientierten Deduktionen und Konstruktionen, sondern gefühlsmäßige, irrationale, also letztlich voluntaristische und dezisionistische Momente [. . .] für den Richter bei der Urteilsfindung den Ausschlag geben“.352 Die Freirechtsschule selbst begreift das Rechtsgefühl als Quell intuitiver Rechtsschöpfung und räumt demselben damit die Fähigkeit ein, Recht inhaltlich bestimmen zu können: das Rechtsgefühl als Stütze des Richters und letzte Instanz für die Korrektheit des juridischen Urteils.353 Durch Beobachtung der Rechtspraxis versuchten die Freirechtler die tatsächliche Rechtsanwendung und -findung zu erforschen. Dabei enthüllten sie die Urteilstechnik bekannter Juristen, die sich offen zu einer Entscheidungsfindung durch ihr Rechtsgefühl und einer nachträglichen Gesetzesbegründung bekannten.354 In diesem Sinne sprach auch Fuchs, ein weiterer berühmter Vertreter der Freirechtsschule, von einem „Gerechtigkeitsgefühl“ 355 oder einem „Rechtsgefühl“ als die „innerste Triebfeder der Gerechtigkeit“ 356, welches die Rechtsfindung fördern soll.357 An anderer Stelle verwendet er im gleichen Zuge den Ausdruck „Intuition“.358 Es ist die Aufgabe des Richters, unter Zuhilfenahme des gebildeten Rechtsgefühls aus den Lebensverhältnissen Recht zu entwickeln.359
zelnen Anhänger der Freirechtslehre maßen dem Rechtsgefühl eine unterschiedliche Bedeutung bei. Teils wurde eine extreme Gefühlsjurisprudenz befürwortet, teils wurde das Rechtsgefühl als ein Faktor von mehreren bei der Rechtsfindung betrachtet, teils wurde ihm jede Bedeutung abgesprochen.“ 349 Rehbinder, Rechtssoziologie, 2. Aufl., 1986, S. 75 ff. 350 Ehrlich, Erforschung des lebenden Rechts, 1911, S. 11 ff.; ders., Freie Rechtsfindung, 1903, S. 80 ff.; vgl. dazu Schützeichel, Rechtsgefühl, 2016, S. 71 f. 351 Riebschläger, Freirechtsbewegung, 1968, S. 14 ff., 33 ff. 352 Meder, Rechtsgeschichte, 6. Aufl., 2017, S. 401. 353 Moench, Freirechtsbewegung, 1971, S. 109; ferner Kaufmann/von der Pfordten, Rechtsphilosophie, 9. Aufl., 2016, S. 112 f.; Schützeichel, Rechtsgefühl, 2016, S. 71 f. 354 U. a. Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 65 ff.; Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 61 ff.; vgl. schon Jordan, Gerichtsgebrauch, 1825, S. 207 f. 355 Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 61. 356 Fuchs, Was will die Freirechtsschule?, 1929, S. 26. 357 Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 142. 358 Fuchs, Die moderne Rechtsfindung, 1914, S. 207; ähnlich ders., Freirechtsschule und Wortstreitgeist, 1918, S. 363. 359 Fuchs, Justiz, 1908, S. 71; ders., Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 31, 34, 142; Moench, Freirechtsbewegung, 1971, S. 115 ff.
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Billigkeit und Verkehrsbedürfnis bestimmt Fuchs als die maßgebenden Rechtsquellen.360 Ein angeborenes Rechtsgefühl lehnte er ab; es entstamme vielmehr der Kenntnis des Rechtsanwenders, seiner Lebenserfahrung und seiner juristischen Expertise361: „Der geborene Jurist ist der, der diesen Instinkt, dieses juristisch-musikalische Gehör hat und nur wer es hat, lernt die juristische Geige spielen und fühlen, wann er von einer Rechtsnorm oder einem Präjudiz den Ähnlichkeitsschluß und wann er wegen besonderer Umstände den Umkehrschluß ableiten soll, oder wann keines von beiden Platze, aber eine Lücke auszufüllen ist.“ 362
In den Augen ihrer Kritiker fehle es der Freirechtsschule bei ihrer Rechtsschöpfung aus dem Rechtsgefühl an jeglicher juristischen Grundlage. Vor allem hieß es, das Rechtsgefühl werde „oft da angeführt, wo die Probleme unüberwindbar schienen, es wurde zum Kitt, mit dem man die Bruchstellen der neuen Methode glätten wollte. Die Berufung auf das Rechtsgefühl ist dort ein Zeichen der Resignation“.363 Dabei wandte sich vor allem Fuchs gegen eine Gefühlsjurisprudenz als Kryptosoziologie364, die laienhaft-subjektive und willkürliche Wertungen vornehme365: „Diese unter falschen Vorwänden betriebene Theaterwissenschaft verdeckt also ein geheimes unwissenschaftliches Verfahren. [. . .] Ungezählte solche Nachtgespenster gehen in den geheimen Werkstätten um, wo von unsichtbaren Mächten das Rechtsgefühl gezimmert wird.“ 366
Auch Kohler kritisiert Windscheids Pandekten als „Denkmal der abstrakt vertrockneten Wissenschaft seiner Zeit“ und dessen Dogma, dass das Rechtsgefühl keine Rechtsquelle sei.367 Er steht vielmehr für eine freie Auslegung des positiven Rechts und für eine dynamische, lebensnahe sowie auf Erfahrung beruhende, sich nach den Anforderungen der Zeit richtende Rechtswissenschaft368: 360
Fuchs, Jurisprudenz und Rechtssicherheit, 1927/28, S. 193 ff. Fuchs, Jurisprudenz und Rechtssicherheit, 1927/28, S. 193. 362 Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 61. 363 Moench, Freirechtsbewegung, 1971, S. 111. 364 Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 61 ff. 365 Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 73 f.; ferner ebd., S. 69 f.: „Die beiden Arten von Kryptosoziologen, nämlich die, die erst das Rechtsgefühl haben und dann darnach konstruieren und die, die erst mal konstruieren, dann aber nach dem Rechtsgefühl korrigieren, stehen sich natürlich ganz gleich. Denn die entscheidenden Gründe, d. h. die wahren ,Entscheidungsgründe‘ sind für beide insgeheim eine wirtschaftlichethische Wertung des Ergebnisses, während sie äußerlich so tun, als wäre das Ergebnis rein logisch gefolgert aus [. . .] Begriffen, gesetzgeberischen Materialien. Die letzeren werden, wo sie dem Rechtsgefühl nicht passen, als nicht beachtlich abgetan oder beiseite gelassen.“ 366 Fuchs, Juristischer Kulturkampf, 1912, S. 70 f. 367 Kohler, Das Bürgerliche Gesetzbuch, 1910. 368 Kohler, juristischer Kulturkampf, 1912/13, S. 276; ebd., S. 278 f.; ferner ders., Interpretation von Gesetzen, 1886, S. 51: „[. . .] immer wird das Verkehrswesen neue 361
III. Die Bedeutung des Rechtsgefühls im juristischen Diskurs
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„Ein Jeder aber, der ein neues, seither nur instinktiv gefühltes Prinzip praktisch verwirklicht oder theoretisch zum Bewußtsein bringt, der ist ein Förderer des Rechts.“ 369
Wie Jhering betont Kohler die immense Bedeutung des Rechtspraktikers.370 Daher verwundert es umso mehr, dass Kohler sich selbst als einen großen Gegner Jherings bezeichnet,371 wo sie doch beide vehement eine gegenwarts- und praxisbezogene Methode des Rechts verfolgen und dem Rechtsgefühl einen beträchtlichen Einfluss bei der Fallentscheidung einräumen.372 Das leuchtet nur dann ein, wenn man Kohler ein fehlendes vollumfängliches Wissen über Jherings Werke und Wirken unterstellt, insbesondere die mangelnde Kenntnis von der methodenkritischen Wende Jherings. Nach Heck erfolgt bei der Urteilsfindung des Richters eine Interessenprüfung, die einem intuitiven, unterbewussten Vorgang in Gestalt des „Judiziums“ entspricht.373 Als eine „Art Alarmvorrichtung“ komme dieses zur Anwendung, wenn die „logische Subsumtion“ an ihre Grenzen stößt.374 Die Fallentscheidung sei nach Heck „ein Niederschlag der Rechtskunde und Lebenserfahrung“.375 Seiten aufweisen, stets neue Bedürfnisse wachrufen, täglich neue Rätsel aufgeben – in allen diesen Fällen muss, soweit nicht die neue Gesetzgebung eingreift, die Jurisprudenz selbstständig aus dem Organismus des Rechts heraus schaffen, sie muss, wie der Erfinder, das neue Problem mit Hilfe der alten Rechtsprinzipien zu lösen suchen – fürwahr eine neue Aufgabe, fürwahr eine geistige Tätigkeit, die weit ausserhalb des Kreies liegt, in welchem das Gesetz sich bewegt; es ist ein organisches Neubilden aus dem vorhandenen geistigen Organismus, es ist nicht ein Ausschöpfen des Gedankengehaltes, der bereits in der Gesetzgebung liegt.“ Vgl. ferner Kornfeld, Rechtsgefühl II, 1919, S. 95 f. 369 Kohler, Autorrecht, 1880, S. 146; Kohler weiter: „Anzunehmen, daß nach dem Aussterben der römischen Juristen diese Federkraft erlahmt sei und wir nur an den Früchten der Alten zu zehren hätten, trotz unserer so verschiedenartigen Welt- und Lebensanschauung und trotz unserer so verschiedenartigen modernen Verkehrsinteressen, das hieße dem lebendigen Organismus des Rechts einen Selbstmord zumuthen, an dem wir uns im Interesse unserer Wissenschaft zu zweifeln erlauben.“ 370 Nach Kohler sei es „von grossem Vorteile, [. . .] wenn der Theoretiker Jahre der Praxis hinter sich hat. Ich habe es stehts für einen Vorzug und einen Ruhm betrachtet, dass ich unmittelbar aus der Praxis hervorgegangen und auch nachträglich durch viele Gutachten mit der Praxis in ständiger Berührung geblieben bin.“ [ders., juristischer Kulturkampf, 1912/13, S. 281]. 371 Kohler, juristischer Kulturkampf, 1912/13, S. 276: „[I]ch bin derjenige, der gegen den Kultus Jherings am meisten aufgetreten ist: denn Banalität ist nicht dasselbe wie Genialität, und nichts ist weltfremder gewesen als Jherings Kampf um’s Recht: denn wer das Leben nur einigermassen kennt, der weiss, wie der Kampf ums Recht das ganze Dasein verbittert und zum Querulantentum führt.“ 372 Kohler, juristischer Kulturkampf, 1912/13, S. 276; ebd., S. 278 f.; ferner ders., Interpretation von Gesetzen, 1886, S. 51. 373 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 116. Er gilt als Begründer der Interessenjurisprudenz, vgl. insb. ders., Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, und Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932. 374 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 116. 375 Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 118.
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Es zeigt sich, dass auch die hier vorgestellten Rechtswissenschaftler dem Rechtsgefühl des ausgebildeten Juristen unabhängig von ihren verschiedenen rechtsmethodischen Grundlagen einheitlich eine kontrollierende und fördernde Funktion bei der Entscheidungsfindung einräumen. Dieser Funktion wird nun jedoch erstmals ein zentraler Stellenwert zugewiesen. Alle vertretenden Auffassungen machen die Ausbildung des Rechtsgefühls stets vom menschlichen Intellekt abhängig. Insgesamt bleiben die Ausführungen zu Inhalt und Herkunft des Rechtsgefühls aber weiterhin unanalysiert. Bald rückt das Rechtsgefühl in zunehmendem Maße in Gestalt eigener Abhandlungen in den Fokus der Juristen.376 Riezler weist in seiner viel zitierten Abhandlung ,Das Rechtsgefühl‘ (1923) erstmals eine Spezifizierung des Rechtsgefühlsbegriffs nach. Er erkennt eine wesentliche Schwierigkeit der Rechtsgefühlsforschung im mangelnden Verständnis der Jurisprudenz von den Nachbarwissenschaften Biologie und Psychologie.377 Nach Riezler gibt es drei Arten des Rechtsgefühls.378 Zum einen garantiere das intellektuelle, ausgebildete Rechtsgefühl des Juristen, als „Gefühl dafür, was Recht ist“, die korrekte Rechtsanwendung.379 Riezler bezeichnet dieses als „sensus juridicus“.380 Die zweite Art sei das Rechtsgefühl als „Neigung zu einem Rechtsideal“; als „Gefühl für das, was Recht sein soll“.381 Zuletzt existiere als dritte Variante des Rechtsgefühls nach Riezler ein „Gefühl dafür, dass nur das dem Recht Entsprechende geschehen soll, also Gefühl der Achtung vor der bestehenden Rechtsordnung“, als Reaktion bei der Durchsetzung von, insbesondere bei einem Missverhältnis zum Recht.382 Das Rechtsgefühl als solches ist nach Riezler nicht naturgegeben oder angeboren, sondern vielmehr abhängig von den persönlichen Fähigkeiten des Einzelnen und den sich wandelnden gesellschaftlichen Faktoren.383 Auch bei Isay nimmt das Rechtsgefühl einen zentralen Stellenwert bei der Urteilsfindung ein, wenn es als „Entscheidung“ gegenüber dem geltenden Recht aus
376
Als einer der Ersten vor allem Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 89. Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 1. 378 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 7. Bereits Jhering differenzierte zwischen verschiedenen Bedeutungsdimensionen des Rechtsgefühls, eingehend Jherings Mehrebenenmodell in E. 379 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 7 f. 380 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 7. 381 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 8. 382 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 8. In Bezug auf das „Recht“ werde überwiegend keine genaue Differenzierung vorgenommen, „ob etwas nicht Recht oder nur nicht recht i. S. v. ungehörig sei“ [ebd., S. 9]. Vgl. auch Schützeichel, Rechtsgefühl, 2016, S. 72. 383 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 46. 377
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der „zentralen Tiefe der sittlichen Persönlichkeit“ aufgeht und zu Recht geformt wird.384 Das Gesetz erfülle dabei die Funktion einer nachträglichen Prüfung.385 Das jedem Menschen von Geburt an gegebene Rechtsgefühl sei historisch variabel386 und zentrale Voraussetzung für die Entstehung von Recht.387 Der Träger des ausgebildeten Rechtsgefühls besitze die Fähigkeit, im Rahmen der Entscheidung eines Rechtsfalls absolute Rechtswerte zu erkennen.388 Das Rechtsgefühl stellt für Isay aber gerade keine unmittelbare Quelle der Rechtsfindung dar; eine Rechtsnorm könne sich erst in einem zweiten Schritt durch den Verstand bilden.389 Isays Auffassung gründet auf der Phänomenologie des Fühlens materialer Werte nach Scheler und Hartmann.390 Isay vertrat einen Irrationalismus, der sich auf ein irrationales Werterfühlen beruft und dabei nicht den Verstand per se, sondern den reinen Erkenntnisgewinn aus demselben verneinte.391 Das Rechtsgefühl sei zwar in jedem Individuum präformiert, dennoch sei sein praktischer Einsatz lediglich in der Person des Richters aufgrund seiner Qualifikation und Amtsträgerschaft bedeutsam. Dieser habe sein Rechtsgefühl jedoch am Gemeinschaftsgefühl des Volkes zu orientieren und sei als Staatsdiener und -vertreter in seinem Ermessenspielraum beschränkt.392 In der Weimarer Republik wuchs das Verlangen nach irrationalen Naturrechtsauffassungen mit dem Ziel des Legitimitätsverlustes der gesetzgebenden Gewalt.393 Damit schloss sich Isay der weitverbreiteten Absage an den herrschenden Positivismus in der ersten Hälfte des 20. Jahr-
384 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 26, 29. Bereits Moench lobte das im Jahre 1929 von Isay erschienene Werk ,Rechtsnorm und Entscheidung‘: „Mit faszinierender Schärfe zergliedert er das Rechtsgefühl in die einzelnen Komponenten, die in ihm zusammenwirken, um es so weit wie möglich zu ,objektivieren‘.“ [ders., Freirechtsbewegung, 1971, S. 112]; so auch Kanigs, Freirechtsbewegung, 1932, S. 62; Hebeisen, Recht und Staat I, 2004, S. 137 ff. 385 Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 169 f., 173 ff., 248, 335, 373. 386 Vgl. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 15, 90, 97 ff., 111; Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 61 f. 387 Vgl. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 9; Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 59. 388 Vgl. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 54, 57, 60, 67; Schwinge, Irrationalismus, 1938, S. 14; Scheler, Formalismus, 3. Aufl., 1927, S. 189. 389 Vgl. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 56, 88 f., 120; Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 54. 390 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 8. Aufl., 1957, S. 28 ff. Ferner Heinemann, Rechtsgefühl, 1972, S. 65, 68 f.; Matz, Rechtsgefühl und ideales Wertreich, 1964, S. 73 ff., 2, 21. Vgl. Henkel, Rechtsphilosophie, 1977, S. 505; Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 70. Dazu vertiefend Sprenger, Rechtsgefühl, 2012, S. 96 ff. 391 Vgl. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 56, 88 f. 392 Vgl. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 42, 90, 130, 112 ff., 224 f.; vgl. dazu insb. Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 66, 69. 393 Vgl. Rosenbaum, Naturrecht, 1972, S. 56, 70; Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 53.
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hunderts an.394 Isay, selbst dem Mittelstand angehörig, galt als Vertreter des bürgerlichen Liberalismus.395 Zur Wahrung des bürgerlichen Herrschaftsanspruchs wollte er die richterliche Unabhängigkeit gegenüber dem gesetzgebenden Parlament durch ein an absolute Werte gebundenes Rechtsgefühl des Richters bei der Rechtsentscheidung erreichen.396 Auch wenn die rechts- und naturwissenschaftliche Beschäftigung mit der Rechtsgefühlsforschung Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihren ersten Höhepunkt hatte, lehnten doch zahlreiche Rechtswissenschaftler weiterhin ein die Rechtsentscheidung beeinflussbares Rechtsgefühl als „asylum ignorantiae“ 397 und „reinsten Subjektivismus“ ab.398 „Sobald man sich auf das Gefühl beruf[e], hör[e] alle Diskussion auf“, so Kuhlenbeck stellvertretend für alle Kritiker.399 394 Vgl. Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 53; Lukács, Vernunft, 1955, S. 421. 395 Vgl. Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 12; Lukács, Vernunft, 1955, S. 426. Auch Hubmann vertritt die Auffassung von einem angeborenen, historisch-wandelbaren Rechtsgefühl, in Anlehnung an die phänomenologische Wertlehre Schelers und Hartmanns [Hubmann, Naturrecht und Rechtsgefühl, 1954, S. 299 f., 320–322; vgl. ferner Coing, Grundsätze, 1947, S. 21 ff., 50; ders., Rechtsphilosophie, 1950, S. 51 ff.]. Entgegen Isay und Coing ist das Rechtsgefühl bei Hubmann echte Rechtserkenntnisquelle [vgl. Coing, Rechtsphilosophie, 1950, S. 61; Hubmann, Naturrecht und Rechtsgefühl, 1954, S. 323; Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 88 f.]. Bei Hubmann und Coing tritt das Rechtsgefühl bei der Fallentscheidung zugunsten der Vernunft bald in den Hintergrund [vgl. Hubmann, Wertung, 1977, S. VI f., 12 f., 48 f.]. Dies ist Ausdruck der Festigung der demokratischen staatlichen Strukturen und einer Demokratisierung der Gesellschaft in der Bundesrepublik bis in die 1970er Jahre [vgl. Foljanty, Recht oder Gesetz, 2013, S. 314, 345]. Während nach Isay das Urteil frei vom Gesetz gefällt wurde, verlangte Coing eine an die Wertungen des Gesetzgebers gebundene Entscheidung [Coing, Rechtsphilosophie 1947, S. 249 f.; vgl. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 20 f., 211 f.; Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 110]. 396 Vgl. Isay, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 39, 202 f.; Kühnl, Formen, 1971, S. 23–25; Roßmanith, Rechtsgefühl und Entscheidungsfindung, 1975, S. 12, 72. 397 Kuhlenbeck, Rechtsgefühl, 1907/08, S. 16. 398 Vgl. Edlin, Scheinprobleme, 1932, S. 18 mit Verweis auf Reichel, Gesetz und Richterspruch, 1915, S. 110; Haff, Die Rechtspsychologie für die moderne Rechtsfindung, ARWP, Bd. 18, S. 140; Pontes de Miranda, Rechtsgefühl, 1922/23, S. 196: „[. . .] zweideutiger Natur, in Dunkel gehüllt; und mehr noch als dieses; [. . .] unzuverlässig, veränderlich, wie alles, was einen subjektiven Charakter aufweist“; Stammler, Rechtsphilosophie, 1922, S. 299 f.: „das man vulgär das Rechtsgefühl nennt“, „als eine beliebig zusammengefasste Kenntnis von Recht und gesellschaftlichem Leben und eine subjektive und zufällige Weise des Urteilens“; Berolzheimer, Gefühlsjurisprudenz, 1910/ 11, S. 595–610; Maier, Psychologie, 1908, S. 730 f.; Huber, Recht und Rechtsverwirklichung, 2. Aufl., 1925, S. 378 f.; Husserl, Recht und Welt, 1964, S. 104: „[E]s gibt kein ,Rechtsgefühl‘. Ganz abgesehen davon, daß rechtliche Dinge nicht Gegenstand eines ,Fühlens‘ sein können. Das Recht kann grundsätzlich überhaupt nicht durch Erlebnisse, die den Charakter natürlicher Erfahrungen haben, einsichtig werden.“ Ferner Meyer-Hesemann, Abschied, 1987, S. 405–411; vgl. auch Sprenger, Rechtsgefühl, 2012, S. 91. 399 Kuhlenbeck, Rechtsgefühl, 1907/08, S. 16–25, S. 16 Anm. 1.
C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl „Aber dann kam der Umschwung. Nicht von innen heraus, sondern durch äußere Anregungen: durch den regen Verkehr mit Praktikern, den ich stets gesucht, gepflegt und mir zunutze gemacht habe, – durch die Anlässe zur eigenen praktischen Tätigkeit, welche die Spruchfakultät und die Aufforderung zur Ausstellung von Rechtsgutachten an mich herantrug, und die mich nicht selten vor der Anwendung von Ansichten, die ich früher verteidigt hatte, zurückschrecken ließen.“ 1
Bis zu seiner methodisch-kritischen Wende Ende der fünfziger Jahre2 hat Jhering nicht klar differenziert zwischen Rechtswissenschaft und Rechtsprechung. Das war auch nicht notwendig, denn nach Jhering fand die praktische Rechtsprechung bis dahin ihre Berechtigung allein in der rechtswissenschaftlichen Methode.3 Dies änderte sich, als bei der Bearbeitung seiner Rechtsfälle die Kontrollinstanz des Rechtsgefühls einsetzte, indem sein irritiertes Rechtsgefühl Protest erhob.4 Aus seiner „eignen kleinen Erfahrung“ wisse Jhering, „daß nicht selten ein Rechtsfall, indem er uns eine bisher nicht aufgeworfene Frage vorführt, uns neue Seiten des Verhältnisses erschließt und dadurch die Theorie wesentlich fördert“.5 Die neue Ära einer praktischen und fortschrittlichen Jurisprudenz postulierte Jhering als Verdienst der (spruch-)richterlichen Praxis. Den juristischen Einzelfall sieht er als Katalysator für sein Rechtsdenken und entscheidende Instanz des Rechtsfortschritts an.6 Im Rechtsfall spiegeln sich exemplarisch Probleme der Gegenwart und Regelungsanliegen der Zukunft. Dies ist nach Jhering insbesondere vor dem Hintergrund des „immer bunter werdenden Geschäftsverkehrs“ 7 und „neuer, bisher unbekannter Rechtsverhältnisse“ 8 zu sehen. Zeitlebens for1
Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 338 f. Ausführlich A. II. 3. 3 Vgl. Jhering, Geist II 2, 1858, S. 335 ff. 4 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 2:1, Bl. 3: „Jeder fühlt, es gibt [. . .] Ideen, die dadurch verletzt wurden, [. . .] Protest erhebe.“ Vgl. dazu jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 242 f. 5 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 18. „Die praktische Erfahrung“ hatte ihn „zu seiner kritischen, Rechtsbegriff und Rechtsgefühl unterscheidenden Rechtstheorie geführt“ [Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 72]. 6 Mecke, Jhering, 2018, S. 18 Fn. 34; Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 100; ders., Rechtsgefühl, 1986, S. 72. 7 Bekker, System II, 1889, S. 126 f. 8 Savigny, System I, 1840, S. 291. 2
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
derte Jhering die vereinte Tätigkeit von Theorie und Praxis.9 Nach Jhering müsse das „praktische Resultat“ „das Korrektiv des theoretischen Denkens“ sein.10 Vor diesem Hintergrund veröffentlichte er schon seit 1847 Sammlungen von alltäglichen Rechtsfällen in seinen Werken ,Civilrechtsfälle ohne Entscheidungen‘ und ,Die Jurisprudenz des täglichen Lebens‘.11 Die praktischen Rechtsfälle bilden die Grundlage und Triebkraft für das Rechtsgefühl. Jhering hat sich als Gutachter und Angehöriger von Spruchfakultäten zeitlebens Rechtsfällen gewidmet, was ihn vor allem als Wissenschaftler maßgeblich beeinflusst hat. Im Rechtsfall spiegel das Recht die Wirklichkeit: „Die Verwirklichung ist das Leben und die Wahrheit des Rechts, ist das Recht selbst.“ 12 Die Aufgabe des Kapitels C. besteht in der Analyse des Rechtsgefühls auf Seiten des Rechtsanwenders bzw. Richters, insbesondere der Jheringschen Methode der Falllösung, anhand seiner exemplarischen, chronologisch dargestellten Fallstudien aus dem Göttinger Nachlass und seinen veröffentlichten (theoretischen) Abhandlungen.
I. Die Gerichtspraxis Schwerpunkt dieses Abschnitts bildet eine überblicksartige Einleitung in die allgemeine Gerichtspraxis, insbesondere der Verfahrensgang und die Aktenversendung an sog. Spruchfakultäten, der untersuchten Gerichtsfälle Jherings.13 Erstinstanzlich entschieden haben bei den von Jhering zu begutachtenden Rechtsfällen die Obergerichte, unter anderem das Obergericht der Stadt Rostock und die Justizkanzlei zu Güstrow.14 Zweite und zugleich Revisions-Instanz waren das Oberappellationsgericht der freien Städte zu Lübeck und das GroßherzoglichMecklenburgische Oberappellationsgericht zu Rostock15, die höchste Gerichtsinstanzen waren. Sie entstanden als Bedingung für die Gewährung des unbegrenzten Privilegii de non appellando (1781) und im Gefolge des Artikels 12 der Deutschen Bundesakte von 1815. Das Oberappellationsgericht der vier freien Städte Bremen, Frankfurt am Main, Hamburg und Lübeck existierte seit 1820 in
9 Siehe eingehend bereits A. I. 4. Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 85, 90 f.; schon ders., Unsere Aufgabe, 1857, S. 18; ders., Kaufcontract I, 1859, S. 450. 10 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 347; dazu Fuchs, Jhering und die Freirechtsbewegung, 1918/19, S. 16. 11 Vgl. dazu jüngst Rempel, Jherings Juristisches Kabinett, 2018, S. 1 ff., 212 ff. 12 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 334. 13 C. II. 1.–4. 14 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 8:10; 10:1 p. 15 Ferner das Herzoglich Anhaltische Kreisgericht zu Ballenstedt als Leuterationsinstanz, welches als Besonderheit der Gerichtspraxis Sachsens ähnlich zur Revisionsinstanz einzuordnen ist [vgl. Claproth, Einleitung II, 4. Aufl., 1817, S. 724 f.].
I. Die Gerichtspraxis
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Lübeck.16 Das Großherzoglich Mecklenburgische Oberappellationsgericht wurde 1818 in Parchim eröffnet und 1840 nach Rostock verlegt.17 Ihre Tätigkeiten basierten auf den Oberappellationsgerichtsordnungen, der Großherzoglich Mecklenburgischen von 1818, die 1840 noch einmal revidiert wurde und der vier freien Städte Deutschlands von 1843. Nach Klageabweisung durch das Gericht in erster Instanz und das Oberappellationsgericht in zweiter Instanz18 blieb letzteres nach einem Restitutionsersuchen bzw. als Leuterationsinstanz19 wiederum zuständig. Von hier gelangten die nachfolgend behandelten Gerichtsfälle auf dem Wege der sog. Aktenversendung zu Jhering.20 Jhering stand als Gutachter im Dienst der Spruchfakultät der Universität Gießen, die ihrerseits von den Oberappellationsgerichten im Wege der sog. Aktenversendung mit Rechtsrat beauftragt wurde.21 Das Rechtsinstitut der transmissio actorum stellte ein bedeutendes Bindeglied zwischen Theorie und Praxis dar.22 In § 37 Abs. 3 der Großherzoglich Mecklenburgisch-Schwerinschen revidierten Oberappellationsgerichtsordnung vom 20. Juli 1840 heißt es: „Nach geschlossener Verhandlung hat das Oberappellationsgericht, wenn von dem Imploranten – spätestens in der Rechtsfertigungsschrift – solches beantragt worden, vor seinem Erkenntnisse der Acten an eine Juristenfacultät zur Abgabe eines Rechtsgutachtens zu versenden, insofern die Eile der Sache solches nicht verhindert, als worüber die Cognition dem Oberappellationsgerichte verbleibt. Die Auswahl der Facultät geschieht durch Collegialbeschluß; jeder Partei steht frei, beziehungsweise in der Rechtfertigungs- und Exceptionsschrift, gegen zwei Facultäten zu excipieren. Erst nach erfolgtem Spruche des Oberappellationsgerichts ist den Parteien, wenn sie darauf antragen, das eingeholte Facultäts-Gutachten mitzutheilen. Die Kosten desselben sind in Bezug auf ihre Wahrnehmung und Erstattung den übrigen Proceßkosten gleich zu behandeln.“ 23 16 Bippen, Gründung des lübeckischen Oberappellationsgerichts, 1890/91, S. 25–47; Landwehr, Rechtspraxis, 1980, S. 55 ff.; Polgar, Oberappellationsgericht, 2007; Tirtasana, Gerichtshof, 2012. 17 Pöhl, Oberappellationsgericht, 1918, et passim. 18 Buchka/Budde, Entscheidungen, 1859, S. 126–138. 19 Spezielles Rechtsmittel in Sachsen, vgl. Claproth, Einleitung II, 4. Aufl., 1817, S. 724 f. 20 Vgl. Anhang: Ueber den Geschäftsgang von der Versendung der Akten an Rechtskollegien bis zur Eröffnung des eingehohlten Urtheils, in: Danz/Gönner, Grundsätze, 1806, insb. § 26; Kratzsch, Justiz-Organismus, 1836. 21 Behrends, Beiträge, 2. Aufl., 1993, S. 67. 22 Lange, Rechtsgutachten, 1969, S. 163. 23 Vgl. § 37 Abs. 3 der Großherzoglich Mecklenburgisch-Schwerinschen revidierten OAG-Ordnung betreffend die Rechtsmittel in Civilsachen und in nichtcriminellen Strafsachen vom 20. Juli 1840, S. 22. Vgl. Trotsche, Mecklenburgische Civil-Proceß I, 1866, S. 121, 131 ff.; Pöhl, Oberappellationsgericht, 1918; vgl. auch Oberappellationsgerichtsordnung vom 01. Juli 1818.
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
Die Aktenversendung wurde als charakteristische Institution der frühneuzeitlichen Rechtspflege gesehen.24 Mit unzähligen Rechtsfällen wurden sog. Spruchkollegien von den zuständigen Gerichten auf dessen Beschluss oder auf Antrag der Parteien mit dem Gesuch um rechtliche Beurteilung beauftragt.25 Die Spruchfakultät organisierte Weiteres, insbesondere den Geschäftsverteilungsplan.26 Die Gutachtertätigkeit wurde hoch vergütet.27 Es wurde jedoch anhaltend kritisiert, dass externe Juristenfakultäten nicht über den Sachverstand des jeweiligen Partikularrechts verfügten, ferner der Wissenschaft die „besten Kräfte entzogen“ würden.28 Das Institut der Aktenversendung endete mit den Reichsjustizgesetzen von 1877/79.29 Eine Auswahl an Gerichtsfällen der damaligen Zeit wurde in Entscheidungsbänden veröffentlicht30, so beispielsweise auch der Schiffspartenfall oder der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit; nicht hingegen der neu entdeckte und edierte Oheimfall.31 Nach Oberappellationsgerichtsrat Lauk weisen die Entscheidungen „eine sorgfältige Beherrschung des Stoffes, eine gründliche und gelehrte Forschung ohne allen unnützen Prunk, eine genaue Kenntnis der gesamten einschlägigen Literatur, eine praktische Auffassung und einen lebendigen Sinn für die realen Verhältnisse“ auf. Er lobte sie als „wahre Muster einer gelehrten, gründlichen und praktischen Rechtsprechung“ und als „ehrendes Zeugnis für den deutschen Rich-
24
Kischkel, Spruchtätigkeit, 2016, et passim. Löning, Aktenversendung, 1943, S. 333 ff.; Klugkist, Aktenversendung, 1967, S. 155–158. 26 Haferkamp, Pandektistik und Gerichtspraxis, 2011, S. 189 ff. 27 Sartorius, Aktenversendung, 1840, S. 219 ff. 28 Savigny, Beruf, 1814, S. 128. 29 Oestmann, Aktenversendung, 2008, Sp. 128–131; ferner Löning, Aktenversendung, 1943, S. 333 ff.; Buchda, Spruchtätigkeit, 1951, S. 329 ff., zum Rückgang der Aktenversendung insb. Lange, Rechtsgutachten 1969, S. 163. 30 Rechtssprüche des Oberappellationsgerichts zu Parchim, 6 Bde., 1821–1839; über diese Trotsche, Materialien, 2. Aufl., 1848, S. 27 lobend: „Die durch vortreffliche Auswahl ausgezeichneten 5 ersten Bände der Rechtssprüche belehren ebenso gründlich, als vielseitig über verschiedene Zweige unseres jetzigen Zivilprozesses und befördern durch eifriges Streben nach Wahrheit, tiefes und scharfes Urteil, sorgfältiges Quellenstudium und Festhalten an alten Gewohnheiten und Landessitte wesentlich das Gedeihen der Rechtswissenschaft im Vaterlande.“, Sammlung von Entscheidungen in Rostock’schen Rechtsfällen, 4 Bde., 1849–1861; Buchka/Budde, Entscheidungen des Großherzoglich Mecklenburgischen Oberappellationsgerichts zu Rostock, 9 Bde., 1855–1879. 31 Entscheidung über den Schiffspartenfall des Oberappellationsgerichts zu Rostock abgedruckt in: Buchka/Budde, Entscheidungen, 1859, S. 126–138; vgl. ferner LuccaPistoja-Eisenbahnstreit, abgedruckt in: Sammlung der Entscheidungen des Ober-Appellationsgerichts der vier freien Städte zu Lübeck in Frankfurter Rechtssachen, Bd. IV, 1860, S. 96 f. 25
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall
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terstand“.32 Entsprechend lobte auch Jhering in seinem Nachruf auf den Oberappellationsgerichtsrat Wunderlich das Lübecker Oberappellationsgericht als Musterbeispiel der zeitlebens von ihm geforderten Zusammenarbeit zwischen Theoretikern und Praktikern der deutschen Jurisprudenz: „So konnte man das Lübecker Oberappellationsgericht als den gelehrten Gerichtshof Deutschlands bezeichnen, und die deutsche Wissenschaft hat die Probe, zu der sie hier in Verbindung mit der Praxis berufen ward, mit Ruhm bestanden; die Lübecker Urteile gehörten zu denjenigen, denen der Praktiker wie der Theoretiker in gleicher Weise Anerkennung zollte, es fanden sich darunter wahre Meisterstücke, gleichmäßig nach Form und Inhalt, Leistungen die auf wenigen Seiten ganze dickleibige juristische Monographien aufwogen.“ 33
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall „[I]ch rechne es ihr [der römischen Jurisprudenz] zu hohem Verdienst an [. . .], daß sie sich durch bloße formelle Bedenken nicht hat abhalten lassen, der Stimme des Rechtsgefühls Gehör zu geben, und sich lieber dem Vorwurf ausgesetzt hat, eine Klage bis zur Unkenntlichkeit zu entstellen, als den Bedürfnissen des Lebens und den Anforderungen des Rechtsgefühls die Anerkennung zu versagen.“ 34
Anhand seiner im Nachlass liegenden und in seinen theoretischen Abhandlungen veröffentlichten Rechtsgutachten soll daher nun die Anwendung des Rechtsgefühls am Einzelfall, das Rechtsgefühl in der Rechtspraxis, untersucht werden. Die Zeitspanne der exemplarischen Fallstudien Jherings als die entscheidende Phase seines Methodenwandels erstreckt sich von 1859 bis 1863, in der Jhering von 1852 bis 1868 als ordentlicher Professor an der Universität in Gießen tätig war.35 Der Untersuchungszeitraum seiner Rechtsfälle liegt ferner zwischen 1848 und 1871, in der keine nationalen Kodifikationen existierten. Insbesondere fehlte eine Zivilprozessordnung; das materielle Recht und seine prozessualen Konsequenzen waren vielmehr ineinander verzahnt.36 Darüber hinaus gab es keine gesamtdeutsche nationale bürgerliche Verfassung und kein demokratisches Parlament im modernen Sinne.37 32 Lauk, Rechtsprechung 1862, S. 129. Auch nach Sintensis schenkte die Jurisprudenz insbesondere während der Mitte des 19. Jahrhunderts den „neueren Sammlungen von Entscheidungen höchster deutscher Gerichtshöfe [. . .] die gebührende Beachtung“ [ders., Civilrecht, III, 3. Aufl., 1868, S. XIV]. 33 Jhering, Nachruf Wunderlich, 1879, S. 156. 34 Jhering, Reflexwirkungen, 1871, S. 340 f. 35 Gießen war Haupt- und bevölkerungsreichste Stadt der Provinz Oberhessen im Großherzogtum Hessen; vgl. dazu insb. Hanewinkel/Linder, Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 63 ff. mit Verweis auf Spiess, Lahntal, 1866, S. 41 ff. 36 Inkrafttreten der ersten Fassung am 01.10.1879 als Teil der Reichsjustizgesetze. 37 „Hier springt die Pandektistik in die doppelte Bresche“, so Seinecke. Die Pandektistik fungierte gleichzeitig als gemeines Privatrecht und als Verfassung [ders., Jhering, 2013, S. 246 f.].
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
1. Der Schiffspartenfall „[U]nd gerade der Umstand, daß ich, im Resultat einverstanden, die Gründe als nichtige erkannte, ohne trotz Wochen langen Nachdenkens im Stande zu sein, ihnen bessere zu substituiren, hat mich wahrhaft gepeinigt und zur Verzweiflung gebracht, bis mir denn noch in der 11ten Stunde ein Licht aufgegangen ist, und wie ich glaube kein Talglicht, sondern ein Stearinlicht [. . .].“ 38
So schilderte Jhering seinem Kollegen und Freund Gerber im Jahre 1859 seine persönliche Erleuchtung, die er nach wochenlanger Bearbeitung eines seiner Rechtsgutachten erfuhr, nachdem „das natürliche Rechtsgefühl Protest“ 39 gegen die bisherige Lösung erhoben hatte.40 „Den Anstoß dazu verdanke ich einem Rechtsfall, der vor einigen Monaten an die hiesige Fakultät zur Entscheidung gelangte und mir zum Referat zufiel. Nie in meinem Leben hat mich ein Rechtsfall in dem Maße [. . .] in Gemüthsaufregung versetzt, wie dieser, und wenn theoretische Verirrungen überhaupt eine Strafe verdienen, so ist mir dieselbe damals in reichem Umfang zu Theil geworden. Meine eigene, von der dabei interessierten Partei in Bezug genommene Ansicht zur Anwendung zu bringen, dagegen lehnte sich Alles, was von Rechtsgefühl und juristischem Takt in mir war, auf ’s Entschiedenste auf, und andererseits konnte ich doch Wochen lang keinen Ausweg finden, bei dem sich mein juristisches Gewissen hätte beruhigen mögen.“ 41
Der mehrfach veröffentlichte42 und irrtümlich als „Kohlefall“ betitelte43 Schiffspartenfall ist der verbreitetste und als Umschwung-Gutachten44 bezeich38
Jhering, Brief an Gerber v. 06. Januar 1859, Losano-Briefe, 1984, S. 306 f. Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 456. 40 Vgl. Jhering, Brief an Gerber v. 06. Januar 1859, Losano-Briefe, 1984, S. 306 f.: „Ich hatte mir vorgenommen mit dem alten Jahr diesen Alp, der mich schon längere Zeit gequält hatte, los zu werden und freue mich, daß es mir gelungen ist. Mehre Wochen lang habe ich die Sache mit mir herumgetragen gehabt, ohne zu einer festen Ansicht zu gelangen, und den hiesigen Juristen, die ich um Rath fragte, ging es eben so. Ein ganz verwünschter Zustand, den ich in diesem Grade nie habe kennen lernen! Du wirst die theoretische Frucht dieser meiner Arbeit im nächsten Heft der Jahrbücher zu Gesicht bekommen; sie betrifft die Frage, ob ein Verkäufer, der die Sache zwei Mal verkauft hat, nach Untergang der Sache den Kaufpreis von beiden Käufern einklagen kann – eine Frage, die ich früher in meinen Abh[andlungen] aus dem R[ömichen R[echt] den Quellen nach geglaubt hatte bejahen zu müssen, so sehr sich auch mein natürliches Rechtsgefühl dagegen auflehnte, und die jetzt in einem Prozeß vor dem O[ber] A[ppellations] Gericht in Rostock praktisch geworden war und offenbar mit besonderer mit besonderer Beziehung auf mich, dessen Name in den Partheiverhandlungen figurirte, an unsere Fakultät geschickt war.“ Ferner ders., Kaufcontract I, 1859, S. 449 f. 41 Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 451. 42 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 8:10, aus dem Göttinger Nachlass erstmals ediert von Kroppenberg, Plastik des Rechts, 2015, Anhang, S. 60–87; Entscheidung des Oberappellationsgerichts zu Rostock, abgedruckt in: Buchka/Budde, Entscheidungen, 1859, S. 126–138; Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 449–488; ders., Civilrechtsfälle, 7. Aufl., 1895. 43 Kunze, Krisenerlebnis 2010, S. N3; Haferkamp, Puchta, 2004, S. 24; ders., Pandektistik und Gerichtspraxis, 2011, S. 206; auch noch in seinem jüngsten Werk ,Die Historische Rechtsschule‘, 2018; auch Falk, Windscheid, 2. Aufl., 1999, S. 52. 39
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall
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nete Rechtsfall, den Jhering zwischen 1858 und 1859 begutachtete. Der Schiffspartenfall handelt von der Gefahrtragung beim Doppelverkauf bei nachträglich zufälligem Untergang der Kaufsache. Die moderne Lösung über die Lehre vom funktionellen Synallagma45 war Jhering damals nicht zur Hand, weshalb es einer neuen dogmatischen Herleitung bedurfte.46 Subsumierte man unter die damals geltende Gefahrtragungsregel des periculum est emptoris, erhält der dolose Doppelverkäufer der untergegangenen Kaufsache den Kaufpreis zweimal. Im Jahre 1844 hatte sich Jhering diesem theoretischen Resultat gefügt.47 Im Jahre 1858 bei der Begutachtung des Schiffspartenfalles erhob nun das natürliche Rechtsgefühl Protest48 und Jhering erkannte nach erneuter Prüfung, dass die ungerechte Lösung nicht explizit im geltenden Pandektenrecht geregelt worden ist.49 Er kam zu dem Ergebnis, dass die Gefahrtragungsregel nach ihrem Sinn und Zweck und in Form der sog. restriktiven Interpretation nur auf solche Konstellationen begrenzt werden musste, in denen der Verkäufer zwischen Vertragsschluss und -erfüllung durch den Untergang der Sache einen Schaden erlitten hat, ergo auf den gegenwärtigen Fall nicht zutreffe.50 Dem Rechtsgefühl räumte Jhering hierbei die Rolle eines Indikators dieses Widerspruchs mit der gegenwärtigen Rechtslage ein:
44 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 338. Siehe A. II. 3. Den Kohlefall hingegen veröffentlichte Jhering zwei Jahre später im Jahr 1861 als Fortsetzungsaufsatz in den Jahrbüchern [Kaufcontract II, 1861, S. 366–438] und in Civilrechtsfälle ohne Entscheidungen [7. Aufl., 1895, S. 125], in dem wiederum sein „Rechtsgefühl lauten Protest“ [CiC 1861, S. 368] einlegte. „Auch dies Mal war es wiederum, wie bei meinem ersten Beitrag zur Lehre von der Gefahr beim Kaufcontract, ein praktischer Fall, der mir den ersten Impuls gewährte, die bisherige Theorie in Zweifel zu ziehen.“ [ebd., S. 367]. 45 Braun, Doppelverkauf, 1993, S. 556 ff.; Ernst, zweifacher Verkauf, 2008, S. 100 f. 46 Kroppenberg, Plastik des Rechts, 2015, S. 28 f. 47 Jhering, Abhandlungen, 1844, S. 59. 48 Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 456: „Der Widerspruch, in dem dieses Resultat mit den einfachsten Anforderungen des Rechtsgefühls tritt, liegt auf der Hand [. . .].“ Ebd., S. 461: „[I]ch meine, auch hier wird sich das gesunde Rechtsgefühl gegen die doppelte Zahlung des Kaufpreises entschieden auflehnen.“ 49 Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 450: „Hätte ich damals – und damit bezeichne ich meine zweite Erfahrung – die Frage, anstatt bloß theoretisch, praktisch an einem wirklichen Rechtsfall entschieden gehabt, wie ich vor Kurzem dazu genöthigt war, vielleicht wäre damals schon die richtige Ansicht bei mir zum Durchbruch gekommen. Es ist in der That ein anderes Ding, unbekümmert um die Folgen und das Unheil, das ein Rechtssatz, den man in den Quellen zu lesen oder aus der Consequenz zu entnehmen glaubt, im Leben anstiftet, sich rein theoretisch mit ihm abzufinden oder aber ihn zur Anwendung zu bringen. Eine ungesunde Ansicht, wenn sonst nur das Subject selbst noch gesund ist, hält eine solche Probe nicht aus.“ 50 Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 449 ff.; dazu schon Behrends, Zweck, 1987, S. 254; Falk, Windscheid, 1989, S. 70 f.; Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 72–75. Siehe auch A. II. 3.
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
„Wir brauchen es nicht Hehl zu haben, daß der Widerspruch, den das gesunde Rechtsgefühl gegen die doppelte Lucrirung des Kaufpreises von Seiten des Verkäufers erhebt, uns zu unserer Ansicht den ersten Anstoß gegeben hat.“ 51
Schließlich konnte der Verkäufer lediglich von einem der Käufer den Kaufpreis verlangen. Unter Einhaltung des geltenden Rechts hatte Jhering auf diese Weise ein Ergebnis entwickelt, das „den Anforderungen des natürlichen Rechtsgefühls“ genügte.52 Dass jedenfalls „der [dolose] Verkäufer seiner Ansprüche gegen alle Käufer verlustig ginge“, konnte nach Jhering auf „dem Wege der bloßen Deduction“ des Gesetzes nicht hergeleitet werden.53 Nach Jhering hatte das Oberappellationsgericht, „indem es der Stimme des natürl[ichen] Rechtsgefühls Raum gab“, zwar einen Kaufpreiszahlungsanspruch des Verkäufers verneint, seiner Meinung nach jedoch aus „höchst schwachen Gründen“.54 Dies beweist, dass das Rechtsgefühl stets nur eine Kontrollinstanz und damit der Anzeiger für Wertungswidersprüche sein kann; nicht jedoch den Inhalt und die Garantie für die Korrektheit der Entscheidung liefern kann. Stattdessen muss immer eine Herleitung nach dem Zweck des Gesetzes erfolgen. Dieser Rechtsfall dokumentiert erstmals die fallbezogene Diskrepanz zwischen dogmatischer Deduktion und wirklichkeitsbezogener Rechtspraxis, wie Jhering sie erlebt hat. Von nun an nahm das Rechtsgefühl in seinem Denken „die Schlüsselfunktion eines methodischen Korrektivs“ 55 und die Rolle eines empirischen Reservoirs der Rechtsinnovation ein. 2. Der Oheim-Fall Das von der Autorin „Oheim-Fall“ getaufte Rechtsgutachten aus dem „Umschwungs“-Jahr 1859 wird erstmals in dem Jheringschen Nachlass ernsthaft wahrgenommen, besprochen und ediert.56 In den Entscheidungsbänden ist der Rechtsfall nicht enthalten.57 Das Protokollbuch des Oberappellationsgerichts Rostock weist ihn zwar in den jährlichen 51 Jhering, Schiffspartenfall-Rechtsgutachten, in: Kroppenberg, Plastik des Rechts, 2015, S. 77; ähnlich ders., Kaufcontract I, 1859, S. 467: „Fragen wir uns, woran unser Rechtsgefühl bei der obigen Entscheidung Anstoß nimmt [. . .].“ Ferner ebd., S. 477. 52 Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 477; vgl. dazu Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 544. 53 Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 478. Vgl. dazu Mecke, Jhering, 2018, S. 343 f. 54 Vgl. Jhering, Brief an Gerber v. 06. Januar 1859, Losano-Briefe, 1984, S. 306 f. 55 Kunze, Forschungsbericht, 1995, S. 141. So verfasste Kunze treffend: „Durch die Anerkennung des Rechtsgefühls hatte sich das Untersuchungsobjekt ,Recht‘ gewissermaßen in etwas Lebendiges verwandelt.“ 56 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p; vgl. erstmals ediertes Rechtsgutachten im Anhang. 57 Weder in: Buchka/Budde, Entscheidungen des Großherzogl. Meckl. OAG zu Rostock, 6 Bde., 1855–1866 noch in: Sammlung von Entscheidungen in Rostock’schen Rechtsfällen, 4 Bde., 1849–1861.
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall
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Übersichten der Landeshauptarchiv-Bestände Schwerins auf; der Bestand ist jedoch bedauerlicherweise nicht erschlossen.58 a) Fall- und Prozessgeschichte In der vorliegenden Streitsache klagt der Kläger Baron von Langermann zu Linden59 gegen den Beklagten, seinen Onkel, den Cammerdirector a. D. von Flotow zu Schwerin60, später dessen Erben: den Cammerherrn, Intendanten von Flotow zu Schwerin61, wegen Schadensersatz.62 Langermann und von Flotow gehörten den einflussreichsten Adelsfamilien Mecklenburgs an.63 Anhängig gemacht wurde der Rechtsstreit bei dem Oberkammerherrngericht zu Schwerin und von dort in den Weg des gewöhnlichen Verfahrens gewiesen. In erster Instanz erließ die Justizkanzlei zu Güstrow ein Beweisinterlokut, eine Zwischenentscheidung über Beweislast, -thema und -frist,64 welche auf Appellation der Parteien in zweiter Instanz vom Oberappellationsgericht zu Rostock aufgehoben und die Klage daraufhin abgewiesen wurde. Gegen dieses Urteil hatte der Kläger das Rechtsmittel der Restitution eingelegt, worauf auf Antrag des Klägers kraft Einholung eines Rechtsgutachtens Aktenversendung erfolgte.65 Schließlich ist der Rechtsfall Jhering in seiner Eigenschaft als Angehöriger der Spruchfakultät Gießen zugewiesen worden.66
58 LHAS 2.23-2 Landeshauptarchiv Schwerin. Mein Dank gilt hier insbesondere Frau Dr. Kathleen Jandausch, Archivrätin und Ausbildungsleiterin in der Abteilung Landesarchiv des Landesamtes für Kultur und Denkmalpflege Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin. 59 Baron Adolph Theodor Wilhelm Langermann (1805–1889), Sohn des Freiherrn Adolph Friedrich Langermann-Erlenkamp (1782–1860); zur Familiengeschichte vgl. „Langermann und Erlenkamp“ in: Gothaisches genealogisches Taschenbuch der freiherrlichen Häuser, 1866, S. 521 f. 60 Baron Wilhelm Johann Adam Flotow (1775–1847), Gutsbesitzer und Rittmeister; zur Familiengeschichte vgl. Flotow, Beiträge zur Geschichte der Familie von Flotow, 1844, S. 45. 61 Freiherr Friedrich Adolf Ferdinand Flotow (1812–1883), gefeierter Opernkomponist; Kaiser, „Flotow, Friedrich Freiherr von“ in: NDB 5 (1961), S. 256 f., online abgerufen am 30.07.2020. 62 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 94 f.; Jhering, Gutachten, S. 2. 63 „Langermann und Erlenkamp“, in: Gothaisches genealogisches Taschenbuch der freiherrlichen Häuser, 1866, S. 521 f.; Flotow, Beiträge zur Geschichte der Familie von Flotow, 1844. 64 Vgl. Buchda, Beweisinterlokut, Handwörterbuch, 1971, Sp. 408–411. 65 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 95, 95r; Gutachten, S. 2. 66 Danz/Gönner, Grundsätze, 1806, § 420, Charakter des Rechmittels der Appellation, § 442, Rechtsmittel der Revision und Aktenversendung.
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
Im Jahre 1846 hatte der Kläger das in Pommern gelegene, im Eigentum des Herrn von der Lanken stehende Gut Ritzig67 zu kaufen beabsichtigt. Sein Onkel, mundartlich „Oheim“, der Beklagte, stand ihm bei der Besichtigung desselben und den Verhandlungen zur Seite.68 Der Kläger trägt vor, dass er das Gut auf Rat seines Onkels zu den von dem Verkäufer geforderten Preis von 52.000 Reichstaler gekauft habe, obwohl er selbst aufgrund des zu hohen Preises und seiner finanziellen Mittel Bedenken gehabt habe. Sein Onkel, der spätere Beklagte, habe seine Zweifel ausgeräumt und ihm im erforderlichen Fall seine Unterstützung zugesichert.69 Der Kläger bezahlte daraufhin einen Teil des Betrages in bar, für circa das letzte Viertel wurde eine Ratenzahlung von jährlich 2.000 Reichstalern vereinbart.70 Im Jahre 1850 war der Baron von Langermann zu Linden außer Stande die vereinbarten jährlichen Ratenzahlungen zu leisten, sodass sein Gut Ritzig drei Jahre später zwangsversteigert werden musste, wobei der Kammernherr von Flotow zu Wutzig den Zuschlag erhielt.71 Der Baron ist der Auffassung, dass sein Onkel ihm aufgrund der Nichterfüllung seiner zugesagten Hilfe zum Ersatz seines Verlustes von 20.750 Reichstalern verpflichtet sei und verfolgt dies auf dem Klageweg.72 Der Beklagte lässt sich zwar dahingehend ein, beim Ankauf des Guts anwesend und um Rat befragt worden zu sein, bestreitet jedoch, in diesem Zusammenhang ein Versprechen, die gekündigten Gelder anschaffen zu wollen, erteilt zu haben. Er trägt vor, dass er bis zu jener Zeit für den Kläger aus verwandschaftlicher Verbundenheit viele Opfer gebracht und ihm verschiedentlich zur Bestreitung von Wirtschafts- und Baukosten Geld vorgeschossen habe.73 Die Absicht, seinem Neffen zu helfen, habe er hierdurch deutlich zum Ausdruck gebracht. Er sei aber zu keiner Zeit in einer bindenden Weise geschehen74: 67 Zur Geschichte des Gutes Ritzig: http://belgard-schivelbein.de/Ortsgesch/Ritzig. htm (abgerufen am 30.07.2020). 68 Jhering, Gutachten, S. 2, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 114. 69 Jhering, Gutachten, S. 3, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 114r, ferner Bl. 96. 70 Jhering, Rechtsgutachten, Anhang S. 3, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 114, 114r. 71 Jhering, Gutachten, S. 3, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 96. 72 Jhering, Gutachten, S. 3, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 96, 96r. 73 Im Einzelnen seien „die von ihm nach u nach bis zum Gesammtbetrage von 19.350 Rl übernommenen Intabulata auf Ritzig von 5 p. c. auf 4½ p. c. herabgesetzt [worden], ohne die Zinsen ausbezahlt zu erhalten; schon im Jahre 1848 sei Kläger ihm an Zinsrückständen u baaren Darlehen 3.650 Rl schuldig geworden, wofür er ihm eine Schuldnerschreibung ausgestellt u Verzinsung versprochen habe“ [Jhering, Gutachten, S. 4, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 97]. 74 Jhering, Gutachten, S. 4, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 97, 97 r.
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall
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„Alle seine Äußerungen seien in so unbestimmter Weise gehalten gewesen, daß er bei Ausführung derselben freie Hand behalten habe, nach Umständen zu handeln. In der ganzen Correspondenz zwischen ihm und dem Kläger sei nie von einer Verpflichtung auf seiner Seite die Rede gewesen, sondern letzterer appellire darin stets an seine Zuneigung, [. . .] allein nie sei auch nur die leiseste Erinnerung an das jetzt der Klage zu Grunde gelegte Versprechen vorgekommen.“ 75
Weiterhin sei die Unverbindlichkeit daran zu erkennen, dass die Formvorschriften des auf diesen Fall anwendbaren Preußischen Rechts nicht eingehalten wurden und überdies die Forderungen gegen seinen Neffen im Wege der Zession auf ihn übergegangen wären, wodurch eine schenkweise Zuwendung in jedem Fall ausgeschlossen gewesen ist.76 Eine weitere Hilfe habe er jedoch aufgrund der unökonomischen Bewirtschaftung des Guts, weiterer Schulden gegenüber Dritten und der Aussichtslosigkeit der Rettung der Liquidität seines Neffen abgelehnt.77 Dieser widerspricht dem Vorwurf des nahenden Bankrotts mit einer seinerzeit ausreichenden finanziellen Absicherung in Form des Eigentums an dem Gut und weitaus geringeren Ausständen als unterstellt. Das Versprechen hingegen sei formwirksam gewesen, weil eben nicht Preußisches, sondern das Mecklenburgische Recht seines Wohnsitzes Anwendung gefunden hätte.78 Am 19. September 1857 erfolgte das Urteil der Justizkanzlei Güstrow, worin dem Kläger Beweis seines Klagegrundes dahin auferlegt wurde, „daß der Beklagte ihm das Versprechen ertheilt habe, jeden dem Kläger gekündigt wordenden Posten des Kaufrückstands für Ritzig wieder anschaffen zu wollen, daß aus Veranlassung der Nichtzahlung einer gekündigten Rate des Kaufrückstands von 2.000 Rl das Gut Ritzig im gerichtlichen Zwangsverkauf versteigert worden, dasselbe damals einen Werth von 52.800 Rl oder wie viel weniger bis zur Summe von 32.050 Rl herab gehabt habe.“ 79
Ferner wurde dem Beklagten der Beweis einzelner bestrittener Posten der von ihm vorläufig geschätzten Compensationseinrede auferlegt.80 Nach Appellation beider Parteien wurde die Klage schließlich mit Urteil vom 21. Februar 1859 in zweiter Instanz vom Oberappellationsgericht Rostock abge75 Jhering, Gutachten, S. 4, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering Bl. 97r [Unterstreichungen im Original nicht übernommen]. 76 Jhering, Gutachten, S. 4, Nachlass SUB Göttingen, Cod. Ms. Jhering Bl. 97r, 98. Zur „Cession“ vgl. § 377 ARL (Stand v. 01.06.1794). 77 Jhering, Gutachten, S. 4 f., Nachlass SUB Göttingen, Cod. Ms. Jhering Bl. 98, 98r. Vgl. ferner zur Replik und Duplik ders., Gutachten, S. 5. 78 Jhering, Gutachten, S. 5, Nachlass SUB Göttingen, Cod. Ms. Jhering Bl. 99. 79 Jhering, Gutachten, S. 5, Nachlass SUB Göttingen, Cod. Ms. Jhering Bl. 99. 80 Jhering, Gutachten, S. 5, Nachlass SUB Göttingen, Cod. Ms. Jhering Bl. 99, 99r.
10:1 p, 10:1 p, 10:1 p, 10:1 p, 10:1 p, 10:1 p,
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
wiesen. Dasselbe führte als Begründung an, dass das vom Beklagten gegenüber dem Kläger gegebene Versprechen juristisch zwar als Mandat (zur Übernahme von Kapitalien oder die Stellung eines neuen Gläubigers) einzuordnen sei, aber aus schwerwiegenden Gründen der Mandatar hier die Ausrichtung des übernommenen Auftrages aufgrund der finanziellen Unsicherheit des Mandanten ablehnen durfte. Das Vermögen des Klägers habe, wie beiden Parteien nach Ansicht des Gerichts bekannt gewesen, von Anfang an zu dem Unternehmen nicht ausgereicht und hinterher hätten sich die finanziellen Verhältnisse des Klägers nachweisbar in dem Maße verschlechtert, dass der Beklagte befugt gewesen sei, die Ausführung des Mandats abzulehnen.81 Der Kläger gab zu, dass er um Weihnachten im Jahr 1850 und im Juni 1851 an den Beklagten die Zinsen in Höhe von 1.053 Reichstaler nicht bezahlt habe, weil dieser ihm die gekündigten 2.000 Reichstaler vorenthalten hatte.82 Gegen dieses Urteil legte der Kläger am 8. März 1859 das Rechtsmittel der Restitution ein.83 Doch Jhering beließ es unter Verwerfung der nachgesuchten Restitution bei dem Urteil voriger Instanz. b) Jherings rechtliche Beurteilung der Streitsache „Das Urtheil voriger Instanz geht mit dem der ersten von der gemeinsamen Annahme aus, dass die Absicht der Partheien von vornherein auf Constituirung einer rechtlichen Verbindlichkeit gerichtet gewesen sei, es dürfte jedoch diese Annahme nicht ganz unbedenklich sein.“ 84
Entgegen des Urteils der vorangegangenen Instanz begründe nach Jhering nicht jedes Versprechen eine rechtliche Verbindlichkeit, vielmehr bedarf es dazu der auf Begründung einer rechtlichen, nicht bloß moralischen Verbindlichkeit gerichteten Absicht desselben.85 Er sieht entgegen der Auffassung des vorinstanzlichen Richters in der Zusage der Hilfe auf Seiten des Beklagten keinen Rechtsbindungswillen, vielmehr eine bloße Gefälligkeit aus Verwandtschaftsliebe86:
81 Jhering, Gutachten, S. 6, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 99 f. 82 Jhering, Gutachten, S. 6, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 100r. 83 Jhering, Gutachten, S. 6. Zum Inhalt der Rechtfertigungsschrift des Klägers Jhering, Gutachten, S. 7, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 100r, 101. 84 Jhering, Gutachten, S. 7, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 102 [Unterstreichungen im Original nicht übernommen]. 85 Jhering, Gutachten, S. 8, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 102r. 86 Jhering, Gutachten, S. 9 f., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 104, 104r. Vgl. ferner Jherings Vergleich zu den im geltenden Recht zu seinen Zeiten fehlenden Regelungen wie der römischen Stipulation und des Pactums: ebd., Gutachten, S. 8 f., Bl. 102r, 103.
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall
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„Das Verhältnis war vielmehr von beiden Seiten als ein Verhältnis des Vertrauens beabsichtigt, das einerseits in der Ehrenhaftigkeit des Versprechenden u der ihn beseelenden Gesinnung der Liebe u des Wohlwollens die ausreichendste Bürgschaft für die vielseitige Ausführung seiner Zusage deckt, andererseits aber ihm auch nicht schlechthin die Hände band, es ihm nicht unmöglich machte, einer wesentlichen Veränderung der Verhältnisse Rechnung zu tragen, kurzweg: das Versprechen zurückzunehmen.“ 87
Es müsse jedem die rechtliche Möglichkeit gegeben werden, den Entschluss eines zukünftigen Handelns zum Vorteil eines anderen äußern zu dürfen, ohne die Befürchtung haben zu müssen, einen Vertrag zu schließen.88 Vorliegend war es „die bloße Absicht, der gute Wille, den er [der Beklagte] hat äußern wollen – nichts weiter“.89 An dieser Stelle ist der Fall im Grundsatz gelöst. Dass hier im Anschluss eine Gegenprobe erfolgt, liegt in Jherings intellektueller Eitelkeit begründet. Im Ergebnis schließt er sich dem Ergebnis des judex a quo an, welches ihm sein Rechtsgefühl richtig angezeigt habe. Er bemängelt jedoch dessen nachträgliche dogmatische Herleitung des richtigen Resultats. Ganz in seiner speziellen herausfordernden Art stellt Jhering im Folgenden die dogmatischen Fehler des judex a quo in seiner ganzen Breite dar. Er zeigt im Rahmen eines umfassenden rechtlichen Gutachtens alle in Betracht kommenden Lösungsmöglichkeiten auf und sichert gleichzeitig seine grundlegende Auffassung über den fehlenden Rechtsbindungswillen ab. Entsprechend liege, auch abgesehen vom fehlenden Rechtsbindungswillen, schon kein Mandat vor. Das Versprechen über die Verschaffung aus eigenen Mitteln gehe nach Jhering über den Begriff des Mandats hinaus. Dies wäre nur dann anzunehmen, wenn er einen Dritten zu einem Darlehen bewegt hätte.90 Wenn man nach Jhering aber ein Mandat annähme, so hätte der Beklagte aufgrund der schlechten Bewirtschaftung und des Konkurses des Klägers einen Kündigungsgrund, wie auch der judex a quo richtigerweise annahm.91 Selbst wenn man dem 87 Jhering, Gutachten, S. 10, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 106. 88 Jhering, Gutachten, S. 11, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 103r. „[D]ie Umstände können ebenso deutlich reden, als die Worte, u der Worte bedarf es ja heutzutage überall nicht mehr, wo nur der Wille aus den Umständen klar hervorgeht.“ [a. a. O.]. 89 Jhering, Gutachten, S. 11, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 107. Er habe „stets nur in Form der Bitte an seine Güte u sein freies Wohlwollen appellirt“ [a. a. O., Unterstreichungen im Original nicht übernommen]. Vgl. Jherings Gegenbeispiele für die Annahme eines Versprechens im geschäftlichen Verhältnis ebd., Bl. 103r, S. 11. 90 Jhering, Gutachten, S. 12, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 108 f. 91 I. 3.26.11.; D. 17.1.22.; vgl. zum Mandatum Puchta, Vorlesungen II, 5. Aufl., 1863, S. 188–191.
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
Versprechen des Beklagten einen juristischen Charakter beimessen würde, so wäre für dasselbe seiner Ansicht nach keine andere Auffassung haltbar, als die eines pactum de mutuo dando, eines auch nach heutigem Recht klagbaren Darlehensversprechens.92 Wie jedes bindende Versprechen schließe nach Jhering aber letzteres den willkürlichen Rücktritt aus.93 Ferner gebe es nach Jhering für diesen Fall auch kein stillschweigend bedungenes Rücktrittsrecht. „Der Zweck des Darlehens ist nicht, dem Empfänger dauernd u mit eignem Verlust Geld zuzuwenden, sondern es ihm bloß vorzustrecken, das Darlehen beabsichtigt keine Schenkung. Dieser Zweck muß nun auch bei der Interpretation eines Darlehensversprechens im Auge behalten u demgemäß seyen: wo jener Zweck unmöglich ist oder unmöglich geworden ist, cessirt [wegfallen] mit der Möglichkeit seiner Erreichung auch die Verpflichtung zur Erfüllung des auf diesen Zweck gerichteten Versprechens.“ 94
Es handele sich hier vielmehr um eine aus dem Sinn und Zweck oder der versprochenen Leistung selbst sich ergebende Konsequenz.95 Dem praktischen, ökonomischen Zweck des Rechtsbegriffs wird an dieser Stelle über die Kontrollinstanz des Rechtsgefühls bei Jhering zum Durchbruch verholfen.96 Die Verpflichtung zur Eingehung eines Vertrages könne nicht fortdauern, wenn der Kläger selbst eine juristische Unmöglichkeit herbeigeführt habe.97 Ein solcher Fall ist hier aber nicht gegeben; die juristische Möglichkeit der Eingehung des Darlehens ist durch den Vermögensverfall und bevorstehenden Konkurs des Klägers nicht entzogen. Um doch noch zu einem dem Rechtsgefühl entsprechenden Resultat zu kommen, betrieb Jhering Rechtsfortbildung: Auf dem Wege der Deduktion suchte er nachträglich eine dogmatische Lösung, indem er die juristische auf die faktische Unmöglichkeit ausweitete: „Dem Promissor, dem zu einer Zeit, als sein Credit noch gar nicht gelitten hatte, ein Darlehn versprochen, schließt allein diese Veränderung in seiner Lage factisch vom Standpunkt des Darlehens in der That eine Vereitlung des Darlehnszwecks in sich. 92
Suffrian, Pactum, 1866, S. 3–15. Jhering, Gutachten, S. 13, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 109, 109r. 94 Jhering, Gutachten, S. 13, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 109r, 110 [Unterstreichungen im Original nicht übernommen]. 95 Jhering, Gutachten, S. 13, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 109r, 110. 96 „[A]uch der judex a quo sich diesem Eindruck nicht hat entziehen können u bei der Wahl des von ihm eingeschlagenen Weges [. . .] im vorliegenden Fall, wesentlich durch das Gefühl beeinflusst worden ist, dass sich eine Verurtheilung des Beklagten mit den Forderungen der Gerechtigkeit nicht vertragen.“ [Jhering, Gutachten, S. 12, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 108]; dazu Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 544. 97 Jhering, Gutachten, S. 13 f., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 110, 100r; vgl. dazu Puchta, Vorlesungen II, 4. Aufl., 1855, S. 162. 93
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Denn dieser Zweck besteht nicht in der bloßen Hingabe, sondern zugleich in der demnächstigen Rückgabe.“ 98
Aus Sicht des Geschäftsverkehrs werde sich nach Jhering keiner für ein solches Darlehen entscheiden, „das er von vornherein so gut wie verloren geben müsste“.99 Die Basis des Darlehens auf Seiten des Schuldners, die Zahlungsfähigkeit desselben, ist hier in einer Weise erschüttert, dass die faktische Erreichung des Darlehenszwecks vom Standpunkt des Gläubigers damit „doch so gut wie vereitelt“ war.100 So stellt Jhering schließlich folgende Formel auf: „[D]ie Verpflichtung aus dem Darlehensversprechen cessirt, so wie die Verpflichtung aus dem Darlehensvertrag auf Seiten des zukünftigen Schuldners sei es juristisch unmöglich geworden, sei es durch eine inzwischen eingetretene wesentliche Veränderung seiner Vermögensverhältnisse der Aussicht auf demnächstige factische Realisirung beraubt worden ist.“ 101
Letztlich resümiert Jhering, dass die Verweigerung des Beklagten, seinen Neffen zu unterstützen, rechtmäßig war, „um so mehr der Kläger ihm gegenüber mit einer Zinszahlung von mehr als 1.000 Rl in Rückstand geblieben“. Dadurch habe der Kläger den Beweis geliefert, dass er seiner Verpflichtungen nachzukommen nicht mehr im Stande war.102 Aus diesen Gründen wies Jhering die Restitution des Klägers letztlich ab und beließ es damit bei dem Urteil des Appellationsgerichts Rostock. c) Folgerungen für das Jheringsche Rechtsgefühl Während sein Schiffspartenfall als Umbruchsgutachten gefeiert wurde und es darüber hinaus in seine Jahrbücher schaffte, wurde der im gleichen Jahr von Jhering begutachtete und im Nachlass liegenden „Oheim“-Fall bis heute nicht wahrgenommen und von Jhering selbst auch nicht weiter vertieft. Dabei ist er mindestens genauso wertvoll für das praktische Rechtsgefühlsverständnis, da auch dieser Gerichtsfall den Beweis für die Kontrollfunktion des Rechtsgefühls liefert, auch auf Seiten des judex a quo. So billigt Jhering dem Rechtsgefühl erneut einen 98 Jhering, Gutachten, S. 14, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 110r [Unterstreichungen im Original nicht übernommen]. 99 Jhering, Gutachten, S. 14, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 110r. 100 Jhering, Gutachten, S. 14, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 111. Vgl. Kellerhoff, pactum, 1896, S. 33. Darin könnte ferner die Grundsteinlegung für den Wegfall der Geschäftsgrundlage gemäß § 313 BGB zu sehen sein. 101 Jhering, Gutachten, S. 14, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 111 [Unterstreichungen im Original nicht übernommen]. 102 Jhering, Gutachten, S. 15, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 112r.
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Blick für das Ganze zu. Entsprechend findet in diesem Rechtsfall am Ende eine Rückkopplung des Faktischen auf das Normative statt. Wenn Jhering auf das Problem stößt, dass für das Darlehen kein willkürliches Rücktrittsrecht geregelt ist, entscheidet er nach Sinn und Zweck des geltenden Rechts Rechtsfortbildung im Wege einer faktischen Unmöglichkeit zu betreiben. Aus diesem Grund ist es naheliegend, dass auch der vorinstanzliche Richter das Mandat bejaht hat, weil es für dieses Rechtsinstitut anders als im Darlehensrecht ein Kündigungsrecht gibt. Die Schlüsselstelle für die Deutung des Jheringschen Rechtsgefühls liegt in den folgenden Zeilen. Hier stellt er fest, dass „auch der judex a quo sich diesem Eindruck nicht hat entziehen können u bei der Wahl des von ihm eingeschlagenen Weges der Annahme eines Mandatsverhältnisses im vorliegenden Fall, wesentlich durch das Gefühl beeinflusst worden ist, dass sich eine Verurtheilung des Beklagten mit den Forderungen der Gerechtigkeit nicht vertragen. Daß sich auf diesem Wege der Zweck erreichen lasse, müssen wir jedoch bezweifeln.“ 103
Jhering schreibt auch der Vorinstanz ein authentisches und zuverlässiges Rechtsgefühl zu. Er will dem Rechtsgefühl des vorinstanzlichen Richters, das ihm die im Ergebnis richtige Lösung des Rechtsfalles angezeigt hatte, Anerkennung zollen. Die dogmatische Begründung des judex a quo hielt Jhering hingegen für falsch; dieser sei zu einer falschen Typisierung verleitet worden. Das Rechtsgefühl selbst irrte dabei jedoch nicht. Dasselbe tritt daher in vorliegenden Rechtsfall leicht ambivalent auf, da es an einer dogmatisch falschen Lösung exemplifiziert wird.104 Letztlich arbeitet das Rechtsgefühl wie ein Kompass: Es kann die Richtung anzeigen, aber nicht auch den zur Lösung führenden rechtlich richtigen Weg. So zeigt das Rechtsgefühl anhand des vorliegenden Rechtsgutachtens seine eigentliche wahre Natur: die reine Kontrollfunktion. Am Ende gibt das Rechtsgefühl auch hier den Anreiz, nach einer dogmatisch vertretbaren Begründung auf dem Wege der deduktiven Methode nach dem Sinn und Zweck des Gesetzes bzw. seiner teleologischen Reduktion zu suchen. 3. Der Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit und -Actienstreit Vor dem Hintergrund der Industrialisierung sind ferner der berühmte LuccaPistoja-Eisenbahnstreit und der Lucca-Pistoja-Actienstreit aus dem Jahre 1866 zu nennen. 103
Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 p, Bl. 108. Das Jheringsche Rechtsgefühl kommt in diesem Rechtsfall auch nicht so fortschrittlich wie in seinem im gleichen Jahr zuvor veröffentlichten Umbruchsgutachten zum Vorschein, worin vermutlich die Begründung für die fehlende Veröffentlichung in seinen Jahrbüchern liegt. 104
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall
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In der Mitte des 19. Jahrhunderts führte die Erfindung der Eisenbahn zur Transportrevolution und zu einer Veränderung der „gefühlten“ Geografie (sog. Eisenbahnzeitalter). Es eröffnete neue Wahrnehmungsweisen: das Tempoerlebnis als Individualabenteuer wurde zur Kollektiverfahrung; schließlich entstand das Bürgertum.105 Im Allgemeinen schaffte die Finanzierung von Eisenbahn-Bauprojekten durch die Ausgabe von Eisenbahn-Aktien einen beträchtlichen Einfluss auf den Börsenmarkt.106 Im Jahre 1853 hatte sich das Frankfurter Bankhaus Goldschmidt an der Emission sog. „Lucca-Pistoja-Eisenbahn-Prioritätsactien“ an einer Eisenbahngesellschaft beteiligt. Diese war für den Bau einer Eisenbahnlinie von Lucca nach Pistoja von der toskanischen Regierung behördlich genehmigt worden. Nach Einstellung der Zinszahlungen aufgrund der rapiden Senkung des Aktienkurses verlangten etliche Aktionäre Schadensersatz von der Goldschmidt-Bank. Dabei beriefen sie sich auf eine Täuschung des Bankhauses, der Missachtung von Versprechungen und des Verschweigens wesentlicher Auskünfte beim Kauf/ Zeichnung der Aktienpapiere.107 Dies hatte eine Flut von Klagen hervorgerufen,108 über die jedoch uneinheitliche Urteile ergingen109: „Aber das Bild, dieser Monstrestreit gewährt, ist kein erfreuliches: es ist das Bild einer trostlosen Verschiedenheit der Rechtsprechung und Zerfahrenheit der Ansicht, nicht bloß bei den verschiedenen Dicastieren, sondern innerhalb eines und desselben Gerichts [. . .].“ 110
Nach Jherings Einschätzung erinnerte der Prozessausgang an den „Charakter des Lotteriespiels, der Erfolg war völlig unberechenbar“ 111. Jhering hatte im Jahre 1866 zum einen im Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit des Klägers Handelsmann Berolzheimer in Fürth gegen die beiden Frankfurter Bankhäuser Königswärter und Goldschmidt im Wege der Aktenversendung für das Oberappellationsgericht der freien Städte zu Lübeck ein Rechtsgutachten zu erstatten. Aus diesem entstand seine berühmte Abhandlung zu den Grundzügen der Prospekthaftung, zur Lehre des dolus und zur Lehre von der Stellvertretung zunächst im Archiv für praktische Rechtswissenschaft im Jahre 1867 und später 1879 in seinen Vermischten Schriften.112 105
Osterhammel, 19. Jahrhundert, 2012, S. 37 f. Gömmel, Effektenbörsen, 1992, S. 133, 138–141. 107 Konkreter Sachverhalt bei Goldschmidt, Lucca-Pistoja-Actien-Streit, 1859, S. 1–12. 108 Jhering zählte 26 schwebende Lucca-Pistoja-Prozesse [ders., Actienstreit I, 1879, S. 241 Fn. 2]. 109 Assmann, Prospekthaftung, 1985, S. 48–51. 110 Jhering, Actienstreit I, 1879, S. 242. 111 Jhering, Actienstreit I, 1879, S. 242. 112 In seinen im ,Archiv für praktische Rechtswissenschaft‘ veröffentlichten Aufsätzen unterschied Jhering noch namentlich zwischen dem „Eisenbahnstreit“ [ders., Eisen106
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
Insbesondere beschäftigte sich Jhering mit der kontrovers diskutierten Frage, ob doloses Handeln die Absicht arglistiger Täuschung des Verkäufers umfasste oder das absichtliche Verschweigen dieser Tatsachen schon genügte.113 Erstere Ansicht vertrat sein Gegner, der Professor Goldschmidt,114 letztere Jhering115. Goldschmidt war der Auffassung, dass keine Darlegungspflicht in Bezug auf eine Zinsgarantie vorläge, da solche Bedingungen mitgeteilt worden waren und daher jedem Einzelnen selbst bekannt gewesen sein mussten.116 Bei der Teilnahme am Handelsverkehr müsse vielmehr jeder Einzelne selbst die Verantwortung tragen: „Wer Actien einer noch unvollendeten Eisenbahn zeichnet, oder sonst erwirbt, unterwirft sich dadurch notwendig, wie allen Bedingungen des Unternehmens, so insbesondere den selbstverständlichen, mag er dieselben gekannt haben oder nicht.“ 117
bahnstreit, 1867, S. 225–334] und „Actien-Streit“ [ders., Actienstreit, 1867, S. 335– 344], während er in seinen ,Vermischten Schriften‘ im Jahre 1879 vom Lucca-PistojaActienstreit in einem ersten und zweiten Beitrag sprach. Diese Tatsache führte nicht selten zur Verwechslung bzw. Vereinheitlichung beider. Vgl. ferner zum Eisenbahnstreit ders., Civilrechtsfälle, 2. Aufl., 1870, C., S. 192–200, 7. Aufl., 1895, S. 203 f. Bei dem weniger beachteten „Actienstreit“ [Jhering, Actienstreit, 1867, Actienstreit II, 1879, S. 352–361] zu Grunde liegende Rechtsgutachten, welches in den Jheringschen Nachlass-Schriften als einzige im Nachlass befindliche Lucca-Pistoja-Streitsache bisher unangetastet vorgefunden wurde [ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 i], handelte es sich bei den Klägern um den Grafen Louis Prosper d’Andelarre und dessen Ehefrau Marie Isabelle Pelagie zu Baden-Baden. In diesem zweiten, der Gießener juristischen Fakultät zur Entscheidung vorliegenden Lucca-Pistoja-Actienprozess hatte der nicht in Frankfurt wohnhafte Kläger durch seinen Bankier, der seinerseits dem Bankhaus Rothschild Söhne den Auftrag gegeben hatte, vom Bankhaus Goldschmidt Lucca-Pistoja-Aktien ankaufen lassen [ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 i, Bl. 76, 76r]. Jhering wies die Klage ab, da dem Kläger aus einem für ihn, aber nicht in seinem Namen abgeschlossenen Vertrag kein direktes Klagerecht zustehe [ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 i, Bl. 79r: „Ergibt sich danach, daß Kläger den Beklagten nur unter der Voraussetzung zu belangen vermag, wenn er im Stande ist, ein zwischen ihnen beiden zur Existenz gelangtes obligatorisches Verhältniß zu behaupten u nachzuweisen.“; ders., Actienstreit II, 1879, S. 352: „Obschon nun der Ankauf nicht auf Namen des Klägers erfolgt war, so hatte derselbe doch eine directe Klage erhoben, die aber von unserer Facultät angebrachtermaßen abgewiesen wurde.“]. Im Übrigen sei die Klage aufgrund der verstrichenen Verjährungsfrist unstatthaft [ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 i, Bl. 79: „[D]ie kurze Verjährungsfrist der act. Doli ist in der heutigen Theorie u Praxis völlig unangefochten.“]. 113 Franck, Marktordnung, 2016, S. 391 f., 398; ferner Merkt, Unternehmenspublizität, 2001, S. 78; Lammel, Emission und Haftung, 1997, S. 89 ff. 114 Goldschmidt, Lucca-Pistoja-Actien-Streit, 1859, S. 69–71. Dieser steht in keiner Beziehung zum Bankhaus Goldschmidt. 115 Jhering, Actienstreit I, 1879, S. 281, 284 f. 116 Goldschmidt, Lucca-Pistoja-Actien-Streit, 1859, S. 40–57. 117 Goldschmidt, Lucca-Pistoja-Actien-Streit, 1859, S. 57 f.
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Jhering konstatierte im Jahre 1867, dass sich sein „einfaches Rechtsgefühl“ und seine „juristische Überzeugung“ mit der Ansicht Goldschmidts118 „im Widerspruch“ fühlten.119 „Kann der Betrüger dem Betrogenen daraus einen Vorwurf machen, daß derselbe ihm Vertrauen geschenkt, ihn für einen ehrlichen Mann gehalten hat, während er ihn für einen Betrüger hätte halten sollen?“ 120
Für Jhering war eine Schädigungsabsicht entgegen der Auffassung Goldschmidts nicht notwendig; man müsse ein allgemeines Vertrauen in das Bankhaus voraussetzen können.121 Ferner standen nach Jhering die Anschauungen Goldschmidts „mit den einfachsten Anforderungen des Verkehrs im schneidendsten Widerspruch“ 122: „Kann der deutsche Handel bei solchen Grundsätzen nicht bestehen, so ist das nur ein Beweis, daß er auf bedauerliche Abwege geraten ist, und daß die deutsche Rechtsprechung die dringlichste Pflicht hat, ihn auf den Weg einfacher Ehrlichkeit zurückzuführen.“ 123
Die Schadensursache bestehe für Jhering in den unzureichenden Angaben im Prospekt und nicht, wie Goldschmidt sagt, in der gefolgten verlustbringenden Zukunft der Eisenbahngesellschaft. Vor dieser Gefahr hätte die Zinsgarantie die Käufer vielmehr schützen sollen.124 4. Der Rechtsstreit Weise wider Zech Das Rechtsgefühl findet auch in Jherings unveröffentlichtem, im Nachlass liegenden Rechtsgutachten über den Rechtsstreit des Forstaufsehers Carl Weise gegen den Maurer Ernst Zech aus dem Jahre 1860 Erwähnung.125 Der Rechtsfall war wiederum auf dem Wege der Aktenversendung durch das Herzoglich Anhaltische Kreisgericht zu Ballenstedt als Leuterationsinstanz 126 118
Vgl. Goldschmidt, Lucca-Pistoja-Actien-Streit, 1859. Jhering, Actienstreit I, 1879, S. 243. 120 Jhering, Eisenbahnstreit, 1867, S. 278. 121 Jhering, Eisenbahnstreit, 1867, S. 281 ff. 122 Jhering, Actienstreit I, 1879, S. 317; ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 i, Bl. 75: „Ihr Hauptzweck ist die rechtliche Behauptung des Streitverhältnisses u sie hat sich dieser Aufgabe mit inem Aufwand von Scharfsinn u Gründlichkeit unterzogen, der, wie es scheint, auf die spätere Rechtsprechung nicht ohne Einfluß geblieben ist – einen Einfluß, den wir unsererseits bei der durch keine blendende Dialektik zu verdeckenden Unhaltbarkeit u Bedenklichkeit ihrer Resultate nur bedauern können.“; ähnlich später ders., Actienstreit, 1867, S. 243. 123 Jhering, Actienstreit I, 1879, S. 287 f. 124 Jhering, Eisenbahnstreit, 1867, S. 321; vgl. dazu Lammel, Emission und Haftung, 1997, S. 89 ff. 125 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 y. 126 Spezielles Rechtsmittel in Sachsen, vgl. Claproth, Einleitung, 4. Aufl., 1817, S. 724 f. 119
146
C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
nach eingeholtem Rat auswärtiger Rechtsgelehrter auf Jherings Schreibtisch gelandet und betraf die Frage nach der prozessualen Unzulässigkeit des eingelegten Rechtsmittels der Leuteration und die materielle Unrichtigkeit der von dem vorinstanzlichen Richter abzugebenden Entscheidung.127 Auch hier erkennt Jhering dem judex a quo ein richtungsweisendes Rechtsgefühl zu: „Wenn nun demgegenüber der judex a quo die Worte in die Wagschaale wirft, so scheint er selbst die Schwäche dieses Arguments gefühlt zu haben [. . .].“ 128
Schwerpunkt bei der Bearbeitung des Rechtsfalls beinhaltete die Frage, wie das anzuwendende Anhaltische Partikularrecht auszulegen war129: „[M]uß man die betreffenden Ausdrücke der einheimischen Rechtsquellen wörtlich, grammatisch oder darf man sie logisch, dem Sinn nach interpretiren.“ 130
Der vorinstanzliche Richter war der Auffassung, „daß es sich im vorliegenden Fall um ein correctorisches Gesetz handle, die Interpretation eines solchen sich aber streng an die Worte zu halten habe“.131 Beides bestritt Jhering, da der judex a quo den „Zweck des Gesetzes völlig außer Acht“ ließ132 und seine Ansicht „auf der Verwechslung der sog. logischen Interpretation mit der analogen Ausdehnung“ 133 beruhte: „Jedes Gesetz, auch das, welches im jus singulare enthält, soll nach dem wirklichen Willen seines Vorhabens, nicht nach den Worten erklärt werden. Nur wo dieser Wille zweifelhaft ist, wo zwei Auslegungen sich als möglich darbieten, u kein Moment für die eine oder andere den Ausschlag gibt, soll diejenige gewählt werden, in der das Gesetz sich am wenigsten vom bestehenden Recht entfernt.“ 134
127
Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 y, Bl. 48. Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 y, Bl. 49r (Unterstreichungen im Original nicht übernommen). 129 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 y, Bl. 47, 48. 130 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 y, Bl. 48r (Unterstreichungen im Original nicht übernommen). 131 Puchta, Vorlesungen I, 2. Aufl., 1849, S. 37 f.: „Unsere Juristen pflegen die Regel zu geben, correctorische, d. h. das bisherige Recht abändernde Gesetze seien strict zu interpretieren, d. h. so, daß die Abänderung möglichst gering angenommen werde. Dies ist einer der schlechtesten Grundsätze, die man für die Interpretation aufgestellt hat. Als ein allgemeiner führt er zu entschieden unrichtigen Interpretationen. Man kommt durch seine Anwendung dahin, beabsichtigte Reformen zu schwächen, und das Schlimmste, was einem Gesetzgeber begegnen kann, in halbe Maßregeln zu verwandeln. Man muß jedem Gesetz sein Recht widerfahren lassen, mag es correctisch sein oder nicht. Nicht zu weit gehen, davor muß der gesunde juristische Tact und Verstand bewahren, solche äußerliche Regeln werden nur den Schwachköpfen dienen, um sie des eigenen Denkens zu überheben, diese sollen aber besser gar nicht interpretieren.“ 132 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 y, Bl. 49. 133 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 y, Bl. 50. 134 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:1 y, Bl. 49r, 50. 128
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall
147
Nach der teleologischen Auslegung fragte Jhering nach der ratio des Gesetzes. Das Maß der Auslegung war nach Jhering „das praktische Bedürfnis“ 135 oder „die Interessen des Lebens“ 136: „Nicht die Frage nach der Richtigkeit der Auslegung, sei es der bloßen Worte, sei es des legislativen Gedankens, entschied über die Annahme oder Verwerfung derselben, sondern die Frage von der praktischen Angemessenheit derselben.“ 137
Damit stellte bereits Jhering wichtige Weichen für die modernen Auslegungsmethoden bzw. die hermeneutische Methode des Rechts. Das Rechtsgefühl ist auch hier ausschließlich als Kontrollinstanz einzuordnen. Dieser exemplarische Rechtsfall bestätigt erneut das die Funktion eines Richtungsweisers besitzende Rechtsgefühl, das gerade nicht selbstständig eine Rechtsentscheidung liefern kann. Die Entfaltung rechtsschöpferischer Kraft ist vielmehr nur durch die (nachträgliche) Anwendung des abstrakt geltenden Rechts erreichbar. 5. Sonstige Rechtsfälle Zuletzt werden sonstige Rechtsfälle, die keine von Jhering begutachteten Gerichtsfälle sind, in den Blick genommen. a) Das Rechtsinstitut der culpa in contrahendo In der Literatur wurde Jherings culpa in contrahendo138 aus dem Jahre 1861 vielfach dogmatisch diskutiert, wobei das Rechtsgefühl wenig bzw. keine Beachtung fand.139 Im Folgenden soll daher der Stellenwert des Jheringschen Rechtsgefühls bei der Herleitung jenes Rechtsinstituts eingeordnet werden.140 Nach Jhering ist bekanntermaßen auch dann einer Schadensersatzklage stattzugeben, sofern eine der Vertragsparteien „bei Gelegenheit eines intendirten [sic, vorvertraglichen, angestrebten] Contractsverhältnisses“ eine culpa trägt und bei der anderen dadurch, „dass er einen ihm vom anderen proponirten [sic] und dem äußern Hergang nach zu Stande gekommenen Vertrag ausführte“, ein Schaden eingetreten ist (sog. culpa in contrahendo).141 Mit Hilfe der culpa wollte er eine „principielle Verallgemeinerung“ 142 der Schadensersatzklage erreichen.143 135
Jhering, Geist II 2, 1858, S. 489. Jhering, Geist II 2, 1858, S. 487. 137 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 489. Vertiefend zur Auslegungsmethode bei Jhering: Seinecke, Jhering, 2012, S. 128. 138 Jhering, CiC, 1861, S. 1–112. 139 Choe, CiC, 1988; Giaro, CiC, 2000; Kindereit, CiC, 2001; Kreuzer, CiC, 2015. 140 Vgl. jüngst Benedict, CiC, 2018, S. 17–132. 141 Jhering, CiC, 1861, S. 7. 142 Jhering, CiC, 1861, S. 41. 143 Jhering, CiC, 1861, S. 56. Nach Mommsen sah Jhering „in seiner Theorie von der culpa in contrahendo ein Universalmittel, um auf einem sehr weiten Gebiet allen Un136
148
C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
„Man muß in seinem Glauben an das römische Recht jede Regung des gesunden Rechtsgefühls in sich unterdrückt haben, wenn man sich dabei zu beruhigen vermag, daß der Contract wegen mangelnden Consenses über das Quantum der Waare nicht zu Stande gekommen, eine Contractsklage folglich nicht möglich sei, die Voraussetzungen der act. legis Aquiliae aber nicht vorlägen. Wer fühlt nicht, daß es hier einer Schadensersatzklage bedarf?“ 144
Erneut hatte ihm zuvor eine Reihe von Fällen vorgelegen, für die sich ihm bei strenger Anwendung des geltenden Rechts keine mit seinem Rechtsgefühl in Einklang stehende Lösung aufwarf. Hier kam seine Kritik an der „praktische[n] Trostlosigkeit“ des geltenden positiven Rechts einmal mehr zum Ausdruck.145 Erst nachträglich ergründete Jhering Nachweise in römisch-rechtlichen Quellen, die sein Rechtsgefühl, das als Kontrollinstanz zuvor Protest eingelegt hatte, bestätigten.146 „Damit hatte meine Theorie festen quellenmäßigen Grund und Boden betreten, und es kam jetzt nur noch darauf an, den in den Entscheidungen der Quellen mehr verborgenen, als ausgesprochenen Inhalt zu Tage zu fördern, wie dies jetzt versucht werden soll. Es schien mir dabei am richtigsten zu sein, zwischen dem, was die Stellen direct und unzweifelhaft enthalten, und dem, was sich ihnen nur auf dem Wege der Deduction abgewinnen läßt, streng zu scheiden.“ 147
So leitete er erneut auf dem Wege der Deduktion mittels der culpa als „Brücke“ seine neue dogmatische Rechtsfigur der culpa in contrahendo her. Das Rechtsgefühl lieferte ihr Motiv.148 Letztlich sei die culpa in contrahendo nach Jhering „nichts als die contractliche culpa in einer besonderen Richtung“.149 Nach ihm könne der Vertragsschluss bei einer Störung des Vertragsverhältnisses über die Pflicht zur Erfüllung hinaus eine Schadensersatzpflicht bewirken.150 So verpflichte nach Jhering „[n]icht der Schaden [. . .] zum Schadensersatz, sondern die Schuld“.151 Der Haftungsgrund der culpa ordnete sich in die herrschende Schadenslehre des Gemeinen Rechts als Ausfluss des Liberalismus und im Kontext des philosophischen Idealismus Ende des 19. Jahrhunderts ein, die auch Jhering wesentlich mitgestaltet hatte.152 billigkeiten, welche sonst sich ergeben würden, wirksam vorzubeugen.“ [Mommsen, Römische Forschungen II, 1879, S. 81] 144 Jhering, CiC, 1861, S. 4 f. 145 Jhering, CiC, 1861, S. 2; ferner Kreuzer, CiC, 2015, S. 12 Fn. 4. 146 Jhering, CiC, 1861, S. 42. 147 Jhering, CiC, 1861, S. 8. 148 Jhering, CiC, 1861, S. 41. 149 Jhering, CiC, 1861, S. 52. 150 Jhering, CiC, 1861, S. 32; Kreuzer, CiC, 2015, S. 12 ff. 151 Jhering, Schuldmoment, 1867, S. 40. 152 Kreuzer, CiC, 2015, S. 14 f. Nach ihm im Kontext des „von der idealistischen Philosophie geprägten, individualistischen Menschheitsbild[s]“ zu sehen [ebd., S. 14]; vgl. Mugdan, Motive II, 1094; ferner Benedict, CiC, 2018, S. 79 ff.
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall
149
b) Der Rechtsstreit mit seinem Dienstmädchen Caroline Kuhl Im Kuhl-Jhering-Rechtsstreit nimmt das Rechtsgefühl eine andere, mehr praktische, affektive Funktion ganz im Sinne des Kampfes um das subjektive Recht ein und fällt damit aus der vorliegenden Kategorie eines kritischen, das objektive Recht kontrollierenden Rechtsgefühl heraus.153 Jherings persönliche Rechtsstreit mit seinem Dienstmädchen Caroline Kuhl im Jahre 1862/63 ist als eine im Jheringschen Nachlass liegende Vorgeschichte zu seiner Schrift ,Kampf um’s Recht‘ einzuordnen.154 Letztere appelliert an die „praktische Bethätigung des Rechtsgefühles“, an „ein gesundes, kräftiges Rechtsgefühl, das gegenüber Misshandlungen sich zur Wehre setzt“ 155 gleichermaßen als Pflicht der Nation und des Individuums.156 Aufbauend auf diesen beispielhaften Rechtsstreit formulierte Jhering eindrucksvoll die „Charakterfrage“ 157 innerhalb des persönlichen „Kampfes“ um das Recht im subjektiven Sinn: „[D]ie Thatkraft ist rein Sache des Charakters; das Verhalten eines Menschen oder Volkes Angesichts einer Rechtskränkung ist der sicherste Prüfstein seines Charakters die volle, in sich ruhende, sich selbst behauptende Persönlichkeit [. . .].“ 158
In der veröffentlichten Fassung vom 09. Juli 1872 sind von Jherings Rechtsprozess mit seinem Dienstmädchen nur noch Reste festzustellen.159 Die Version seiner Wiener Abschiedsvorlesung vor der Juristischen Gesellschaft vom 11. März 1872 weist allerdings eindeutige Anzeichen auf.160 Auch die beiden nachfolgenden stenographischen Aufzeichnungen schildern noch in ähnlichen Versionen eindringlich seine Empörung über den Prozessausgang: Am 14. März 1872 verfasste Jhering in der Zeitschrift ,Gerichtshalle‘ folgende Fallgeschichte: „[. . .] Ja, ich kann mich nur freuen, daß ich nicht in der Lage bin, einen Schadensprozeß anzustellen (Heiterkeit), weder als Advokat noch als Beteiligter, nach dem, was ich davon weiß. Mein offenes Rechtsgefühl empört sich, wenn ich sehe, in welcher Weise der ganze Schadensprozeß darauf angelegt ist, den Gläubiger um sein
153
Vgl. D. II. 3.; E. III. 1. Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2 SUB Göttingen. Vgl. D. II. 3. Jüngst Hanewinkel/Linder, Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 61–76; auch Kroppenberg/Linder, Jhering’s legal dispute with his maidservant, 2017, pp. 17–35. Vgl. ferner Behrends, Jhering, 1992, S. 69. 155 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 9. 156 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 26. 157 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 26. 158 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 48 f. 159 Vgl. Einlassungen zur Durchsetzbarkeit der Gesindeordnung und Kritik am zeitgenössischen Beweisrecht, Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 55, 93 f.; so bereits jüngst Hanewinkel/Linder, Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 62 Fn. 9. 160 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, Anhang, S. 128 f. 154
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
gutes Recht zu bringen. Wehe dem, der Schaden erlitten hat, er mag klagen oder nicht, er hat immer den Schaden (Stürmische Bravorufe). Aber es ist noch eine andere Seite, wo unser Recht der Hilflosigkeit gleichkommt. Ich bin selber in der Lage gewesen, das bitterlich zu fühlen. Es handelte sich um einen Fall mit meinem Dienstmädchen. Sie wollte plötzlich weg, behauptete, sie hätte gekündigt; sie hatte aber nicht gekündigt. Ich konnte nichts tun, keine Hilfe dagegen. Ich suchte Hilfe bei der Polizei; das Mädchen wurde inquiriert und gestand, nicht gekündigt zu haben, wollte aber doch den Dienst nicht fortsetzen; endlich sagte man mir bei der Polizei: ,Klagen Sie auf das Interesse!‘ (Anhaltende Heiterkeit.) Und vor Gerichte? Das Mädchen leugnet, die Polizei ist eine Testis singularis, dessen Qualität . . . (Vermehrte Heiterkeit.) Da habe ich aber, kann ich sagen, gefühlt diesen Stachel des erlittenen Unrechts, wenn man sein gutes Recht und die Einrichtungen des Staates derartige sind (,Bravo!‘), daß man mit dem besten Willen sein Recht nicht geltend machen, nicht durchsetzen kann. Und diesen Vorwurf mache ich den heutigen Rechtssätzen, sie sind darauf berechnet, daß ein Mann von kräftigem Rechtsgefühle heutzutage geradezu gezwungen ist, jenen Akt der Feigheit vorzunehmen, von dem ich vorhin sprach, sein gutes Recht im Stiche zu lassen.“ 161
In den ,Juristischen Blättern‘ vom 17. März 1872 schreibt er: „Ich bin selbst einmal in der Lage gewesen, bitterlich ein mir angethanes Unrecht zu empfinden. Es handelte sich um einen Fall, der mir mit einem Dienstmädchen passirte. Ihr Geliebter ging nach Amerika; sie wollte nach, behauptete, sie habe gekündigt, hatte dies aber nicht gethan. Wie ich vor den Richter kam, sagte man mir achselzuckend: ,Klagen Sie auf das Interesse!‘ (Allgemeine Heiterkeit.) Da habe ich erst den Stachel des gekränkten Rechtes gefühlt, und was es bedeutet, wenn die Einrichtungen des Staates derart sind, daß der Verletzte nicht zu seinem Rechte kommen kann!“ 162
Bei Jherings Dienstmädchen handelte es sich um Caroline Kuhl, die zwischen Oktober 1862 und 1863 im Haushalt angestellt war. Als ihr befristeter Dienstvertrag endete, versagte ihr Jhering die „Auszahlung des rückständigen Lohnes mit 12 Gulden“ und „die Aushändigung ihrer in seinem Besitze befindlichen resp. ihm übergebenen Dienstbücher (und ihres Heimathscheines)“.163 Dagegen wehrte sich Kuhl in einem Brief an Jhering Ende Oktober 1863 und verlangte den restlichen Arbeitslohn für die Erfüllung ihres auf ein Jahr befristeten Dienstvertrages: „Geehrtester Herr Professor! Bevor ich den mir sehr schweren Schritt gerichtliche Hülfe zur Erlangung meines Restguthabens im Betrage von 12 Gulden von Ihnen zu erhalten in Anspruch nehme, erlaube ich mir vorerst in diesen Zeilen die Bitte an Sie, mich davon zu verschonen
161
Jhering, Vortrag v. 14. März 1872, S. 128 f. Jhering, Vortrag v. 17. März 1872, S. 45. 163 Klage Anwalts der Caroline Kuhl von Biedenkopf, Klägerin gegen den Hr. Professor, Geheimen Justizrath Dr. Jhering zu Giessen, Beklagten, Forderung betreffend, 2. Februar 1864, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2, Bl. 12. 162
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall
151
und mir die Auszahlung meines Lohnes nicht länger zu verweigern, indem ich Ihrer Frau gegenüber ja zeitig genug meinen Austritt aus Ihren Diensten ankündigte und ich auch das Jahr auf welches ich mich bei Sie vermiethete bis zur letzten Stunde ausgehalten habe. Es ist doch wohl ein jeder Arbeiter, sobald er die ihm obliegende Arbeit völlig verrichtet, seines Lohnes werth und ich glaube, daß ich allen meinen Obliegenheiten bei Ihnen pünktlich nachgekommen bin und demzufolge meinen Lohn sauer verdient habe. Indem ich schließlich meine oben an Sie gerichtete Bitte wiederhole, empfehle ich mich Ihnen unter Hochachtung.“ 164
Als Jhering auch das verweigerte, erhob Kuhl kurz darauf im November Klage vor dem Stadtgericht Gießen.165 Zu seiner Verteidigung brachte Jhering vor, dass seine Ehefrau und Hausherrin Ida Jhering mit Kuhl vor Pfingsten die Fortführung des Dienstverhältnisses verhandelt und vereinbart hat.166 Nach den Aussagen Jherings entschied sich jedoch das Dienstmädchen aufgrund einer Auseinandersetzung zwischen den beiden über „eine Schachtel und Betttuch“ 167 zu gehen.168 Nach der Überzeugung Jherings bleibe der Dienstvertrag infolge der verfristeten Kündigung konkludent bis zur nächstmöglichen Frist zum Jahresende bestehen. Wegen einer Ersatzeinstellung habe er einen Schaden in Höhe von vier Gulden erlitten, den die Klägerin Kuhl ihm demnach schulde.169 Das wiederum bestritt die Klägerin. Das darauffolgende, sich durch strikte Regeln auszeichnende Beweisverfahren ordnete Jhering als belastete Partei an, die Begründetheit seines Beklagtenvorbringens nachzuweisen.170 Als ihm dies nicht gelang und das Gericht letztlich den Beweis unter 50 Prozent als erbracht erkannte, wurde die Klägerin als nicht beweisbelastete Partei verpflichtet, den sog. Reinigungseid abzulegen.171 Dieser 164 Kuhl an Jhering, 28. Oktober 1863, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2, Bl. 9. 165 Vgl. SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2, Bl. 12, 36; Küchler, Gesetzgebung, 1848, S. 194–196; so bereits bei Hanewinkel/Linder, Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 62 f.; Kroppenberg/Linder, Jhering’s legal dispute with his maidservant, 2017, pp. 18 et seq. 166 Jherings, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2, Bl. 18, 11. Die Klageerwiderung des Beklagten Jhering fehlt in den Nachlass-Handschriften; eine Rekonstruktion aus der Replik Curtmans ist jedoch inhaltlich möglich. 167 Replik i. S. Officialanwalts der Caroline Kuhl von Biedenkopf gegen den Hr. Professor Jhering zu Giessen, Beklagten, Liedlohn betreffend, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2, Bl. 11. 168 Jherings, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2, Bl. 18. 169 Replik, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2, Bl. 11. 170 Vgl. Bülow, Zivilprozessrecht, 1868/69, S. 234 f. 171 Entscheid, 11. Februar 1865, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2, Bl. 21. Zur Bedingung der Eidesleistung im Anschluss an das rechtskräftige Endurteil vgl. jüngst Hanewinkel/Linder, Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 67 mit Verweis auf Bülow, Zivilprozessrecht, 1868/69, S. 234 f.
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
beseitigte den ungenügend erbrachten Beweis Jherings. Am 3. Juli 1865 schwor Kuhl vor dem Stadtgericht Gießen den Reinigungseid. Jhering unterließ die Einlegung einer fristgemäßen Restitution bzw. die Wiedereinsetzung in das Beweisverfahren. So verlor er am Ende seinen eigenen Prozess.172 Im Urteil heißt es, „daß die Beweisführung des Beklagten für mißlungen zu erachten und derselbe zur Zahlung der libellirten zwölf Gulden Lohn mit 5 % Zinsen vom 23. Februar 1864 an schuldig sei, auch das Dienstbuch der Klägerin und deren Heimathschein an diese herauszugeben und die Prozeßkosten zu tragen habe“.173
Ein Grund für sein Scheitern liegt zunächst in dem schwerwiegenden rechtlichen Irrtum, indem sich Jhering mit seiner Auffassung von einer vertraglichen Kündigungspflicht befand. Diese fand ihre Grundlage unter anderem in der preußischen Gesindeordnung vom 8. November 1810, die als Partikularrecht in der weiteren Umgebung des Großherzogtums, der Rheinprovinz, existierte.174 Das traf für Gießen jedoch nicht zu, es fanden vielmehr die allgemeinen Vertragsregeln des Gemeinen Rechts Anwendung.175 Nach Hanewinkel und Linder sei es daher naheliegend, Jherings in den Schriftstücken des Rechtsfalls und in seiner Rede ,Kampf um’s Recht‘ enthaltene Erklärungen über die Kündigungspflicht bei befristeten Mietverträgen, angemahnten Fristen und erheblichen polizeirechtlichen Eingriffskompetenzen aufgrund der übereinstimmenden Regelungen in der preußischen Gesindeordnung bei Vertragsverletzungen dahingehend zu deuten, dass er materiell-rechtlich unhaltbar „von einer positiv- oder gewohnheitsrechtlichen Geltung dieses Rechts auch in Gießen überzeugt war“.176 Die Motive für Jherings beharrliche Verfolgung seines Standpunkts und die deutlich spürbare Demütigung im verlorenen Rechtsstreit gegen sein Dienstmäd172
Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2, Bl. 41. Urtheil, 7. Juli 1865, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 10:2, Bl. 41. 174 Hanewinkel/Linder, Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 72 mit Verweis auf Vormbaum, Politik und Gesinderecht, 1980, S. 169: „materielle Wirkung [. . .] weit über ihren staatsrechtlichen Geltungsbereich“; ferner Kähler, Gesindewesen, 1896, S. 107–109, 219. Das Großherzogtum besaß im 19. Jahrhundert eines der komplexesten Partikularrechte Deutschlands. Vgl. dazu Schubert, Code civil, 1971, S. 110–171. 175 In Oberhessen galt mit wenigen Ausnahmen das reine Gemeine Recht. Zimmermann, Sonderrechte, 1873, S. 111. 176 Hanewinkel/Linder, Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 72 mit Verweis auf: Kähler, Gesindewesen, 1896. So vertrat Jhering nach Hanewinkel und Linder „durchaus ironischerweise, ein ,imaginäres Gemeines Gesinderecht‘, wovon auch noch Überreste in seinem 1872 veröffentlichten Vortrag zeugen“ [dies., Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 73]. Vgl. ferner Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 55: „Wenn der Dienstherr nicht mehr wagt, die Gesindeordnung zur Anwendung zu bringen, [. . .] wird dadurch etwa bloss die Autorität des Gesetzes gefährdet? Es ist die Ordnung des bürgerlichen Lebens, die damit in einer bestimmten Richtung preisgegeben wird [. . .].“ 173
II. Jherings Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall
153
chen entspringen seiner intellektuellen Eitelkeit und sind „bedingt durch den von ihm unbemerkten Übergang von seiner gewohnten Sozialrolle als Professor zur dramaturgisch aufgeladenen Spielrolle als Beklagtem in einem Zivilprozess“.177 Dass Jhering erst substantiiert vorträgt, als sich zentrale verfahrensrechtliche Entscheidungen, wie das Vorliegen des Beweisurteils und der Fristablauf der Restitution, zu seinen Ungunsten einstellten, liegen in seiner fehlenden Übung in der Rechtspraxis begründet.178 Jhering handelte in seinem eigenen Gerichtsprozess teils unreflektiert. Dabei versuchte er mit allen Mitteln, seine Machtposition in sozialer und moralischer Hinsicht auszunutzen.179 Seine verbissene Auffassung, seinem Dienstmädchen gegenüber im Recht zu sein, zeugt außerdem von einem stark hierarchisch geprägten Standesdenken. Im Gegensatz zu den vorherigen Rechtsfällen ist das Rechtsgefühl hier extrem persönlich motiviert. Ganz im Sinne der Intention seines ,Kampf um’s Recht‘ wird ein subjektives Rechtsgefühl, das individuell gefühlte Unrecht, verkörpert. Aus seiner eigenen und noch vielmehr aus der Perspektive der Klägerin Kuhl kommen der persönliche Kampf um das subjektive Recht und die Verwirklichung des objektiven Rechts zum Ausdruck. So lieferte Jhering letztlich anhand seines eigenen, persönlichen Rechtsfalls und auch aus der Sicht seiner Prozessgegnerin ein Beispiel für den Kampf um das subjektiv-individuelle Rechtsgefühl. Ferner zeigt dieser Rechtsfall, dass das Rechtsgefühl sich nur auf der Grundlage derjenigen Rechtsordnung bilden kann, in der sein Träger sozialisiert ist. c) Das Rechtsinstitut ,Kauf bricht Miete‘ Auch in seiner Abhandlung ,Besitzwille‘ am Ende seines Lebens (1889) betonte Jhering am Beispiel des Rechtsinstituts ,Kauf bricht Miete‘ die Bedeutung eines historisch wandelbaren Rechtsgefühls und appelliert an die Jurisprudenz, sich den gesellschaftlichen Strukturen und wirtschaftlichen Verhältnissen anzupassen.180 Die Rechtsordnung soll stets das soziale Gefüge widerspiegeln. „Es blieb der romanistischen Theorie vorbehalten, in befangener Hingabe an die altrömische Besitzidee ihren Blick gegen den gesunden Fortschritt, den das spätere Recht gemacht hat, zu verschließen und uns in jenem Satz: Kauf bricht Miethe einen 177
Hanewinkel/Linder, Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 72. Hanewinkel/Linder, Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 70 f. 179 So schon Hanewinkel/Linder, Jherings Prozess gegen seine Hausangestellte, 2020, S. 71 ff., 74 ff. 180 Auch nach Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 96 f.: bekräftigen diese Zeilen Jherings Überzeugung von einem „sich mit den wirtschaftlichen Verhältnissen vervollkommnendes Rechtsgefühl seine durchaus positiv-skeptizistische Überzeugung, dass das geltende Recht hinter die Ansprüche des entwickelteren Rechtsgefühls wieder weit zurückfallen kann, wenn es“ den Juristen „nicht gelingt, Recht und Gerechtigkeit zur Deckung zu bringen“. Ferner Luig, Natur und Geschichte, 1997, S. 302. 178
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C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
Rest der römischen Urzeit heraufzubeschwören, der dem damaligen rohen Rechtsgefühl entsprechen mochte oder, richtiger, dem Recht nur durch das sociale Uebergewicht der besitzenden Klassen über die ärmeren aufgezwungen worden, der aber bereits im späteren Rom dem geläuterten Rechtsgefühl erlegen ist und mit unserem heutigen Rechtsgefühl meines Erachtens in ebenso grellem Widerspruch steht, wie mit unseren wirthschaftlichen Verhältnissen.“ 181
Nach Jhering ist dieses Rechtsinstitut ,Kauf bricht Miete‘ endlich wieder aufgegeben worden, da der Codex den Fall des Verkaufs nicht unter den Gründen aufzählt, die den Vermieter zur Lösung des Mietverhältnisses und zur Vertreibung des Mieters berechtigen. Die Rechtstellung des Mieters ist dadurch dem früheren klassischen Römischen Recht gegenüber massiv verbessert worden.182 Vor diesem Hintergrund kritisierte er erneut die Historische Rechtsschule und hob gleichzeitig die ökonomische Betrachtungsweise eines fortschrittlichen Rechtsgefühls hervor.
III. Jherings Methode der Falllösung „Wenn es ein Prüfstein für den praktischen Werth einer Theorie ist, daß sie, ganz ihre eignen Wege gehend, im Resultat mit der Gesetzgebung zusammentrifft, und es ihr gelingt, die sporadischen Bestimmungen, die letztere nicht bloß unabhängig, sondern im scheinbaren Widerspruch mit der herrschenden Lehre, lediglich durch das praktische Bedürfniß geleitet, getroffen hat, auf ein höchstes Princip zurückzuführen und theoretisch zu rechtfertigen – dann, meine ich, hat die meinige diese Probe bestanden, und ihre praktische Berechtigung dürfte nicht mehr in Zweifel gezogen werden.“ 183
Aus den exemplarischen Fallstudien wird eine allgemeine Jheringsche Methode der Falllösung abgeleitet. Die Beziehung zwischen dem als Kontrollinstanz dienenden Rechtsgefühl und der durch dieses hervorgerufenen, in einer dogmatischen Lösung resultierenden verstandesmäßigen Vorgehensweise bildet den Gegenstand des folgenden Abschnitts.184 Zu einer rechtlichen Entscheidung gelangte Jhering auf einer Art induktivdeduktivem Weg.185 Das Rechtsgefühl setzte einen Objektivierungsprozess in 181
Jhering, Besitzwille, 1889, S. 450. Jhering, Besitzwille, 1889, S. 450: „Der Miether braucht die Tradition an den Käufer nicht zu dulden, ohne seine Zustimmung aber kann dieselbe nicht beschafft werden, gegen Gewaltakte, sei es von Seiten des Eigenthümers oder Käufers, findet er den Schutz des Rechts.“ 183 Jhering, CiC, 1861, S. 51; ebd., Kaufcontract I, 1859, S. 480. 184 Siehe C. II., ausgenommen 5. b) Kuhl-Jhering-Rechtsstreit. 185 Nach der deduktiven Methode werden aus den vorgegebenen Rechtsgrundsätzen Schlüsse auf die logisch zwingenden Konsequenzen gezogen, während nach der induktiven von den „Erfahrungstatsachen des Lebens ausgehend nach einer Rechtsregel“ [Haff, Rechtspsychologie, 1924, S. 20 f.] gesucht wird. Ferner ebd., S. 23; siehe auch Henkel, Einführung, 1977, S. 424; Kaufmann/von der Pfordten, Rechtsphilosophie, 2016, S. 117 ff. 182
III. Jherings Methode der Falllösung
155
Gang, indem es die Anpassung der dogmatischen Lösung auf der Grundlage und nach dem Sinn und Zweck des positiven Rechts anregte. So konnte Jhering auf Anregung seines Rechtsgefühls auf induktivem Wege mit Hilfe seines menschlichen Abstraktionsvermögens aus dem Besonderen das Allgemeine herleiten.186 Entsprechend wurde die Deduktion von Recht aus dem geltenden Recht fortan durch das kritische Rechtsgefühl als Kontrollinstanz „falsifizierbar“.187 „Nicht was die Logik, sondern was das Leben, der Verkehr, das Rechtsgefühl postulirt, hat zu geschehen, möge es logisch nothwendig oder unmöglich sein.“ 188
Leben wird verkörpert durch die Wahrhaftigkeit und Klarheit des Einzelfalls, der die Macht besitzt, in seiner Wandel- und Unberechenbarkeit die geltende Rechtsordnung zu irritieren und maßgebende Impulse liefert. Verkehr vertritt die praktischen und ökonomischen Bedürfnisse der Gesellschaft als Voraussetzung für die Bildung von Recht. So komme auch bei Jhering „[a]lle Erkenntnis, und so auch die juristische [. . .] von der Erfahrung, der Induktion her“. „Die Erfahrung bedeutet – ich scheue das zu Unrecht verpönte Wort nicht – das Rechtsgefühl.“ 189 Jhering prüfte zunächst die Möglichkeit einer Entscheidung nach „allgemeine[n] Principien“ 190, genauer einer „systemverträglichen Lösung“ des Rechtsproblems.191 Bei einem „Widerspruch des Rechts mit sich selbst“, den sein Rechtsgefühl hervorgerufen hatte,192 müsse nach Jhering der praktische Dogmatiker den „eigentliche[n] Grund“ untersuchen.193 Die nach dem geltenden Recht ermittelte Rechtsfolge löst also eine Reaktion des Rechtsgefühls aus, wenn sie mit dem Recht in Widerspruch tritt. Dieser Widerspruch besteht in einem Auseinanderfallen der dogmatisch erarbeiteten Lösung des besonderen Falls mit dem geltenden Recht, d. h. den übergeordneten Rechtssätzen und -begriffen, die sich wiederum 186 Jhering wurde in dieser Hinsicht früh durch seinem Klassenlehrer Wilhelm Reuter geprägt, vgl. Kunze, Jhering, 1992, S. 11 f., und von der induktiven Methode der aufkommenden Naturwissenschaft seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beeinflusst, vgl. dazu detailliert A., B. II. 3., III. 2. Dazu vor allem jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 442 ff., 452 f., 457–466, 475 ff. 187 Kunze, Jhering, 1992, S. 17; ders., Forschungsbericht, 1995, S. 141; Mecke, Jhering, 2018, S. 351. 188 Jhering, Geist III 1, 2. Aufl., 1871, S. 312. 189 Radbruch, Handlungsbegriff, 1967, S. 16. 190 Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 455. 191 Seinecke, Jhering, 2012, S. 146. 192 Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 477. 193 Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 480; vgl. Seinecke, Jhering, 2012, S. 146 ff. Auch in ,Scherz und Ernst‘ (1884) differenzierte Jhering zwischen der „Verantwortung für die logische Korrektheit“ und der Verantwortung „für die praktische Angemessenheit des Resultates“ bei der Rechtsanwendung [ders., Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 366]. Dazu Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 85, Fn. 32.
156
C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
aus den das Rechtsgebiet prägenden Wertungen und Interessenlagen ergeben. Die einzelne Lösung geht mit diesem System nicht konform. Die Aufgabe des Rechtsanwenders besteht nach Jhering darin, das rechtliche Problem herauszustellen, d. h. den Fehler der dogmatischen Lösung nicht nur aufzudecken, sondern eine neue, dogmatisch saubere Lösung für den vorliegenden rechtlichen Fall bzw. eine Kategorie von Fällen zu entwickeln. Zu einem rechtlichen Resultat gelangte Jhering also letztlich auf dem Wege der Deduktion vom Zweck des Gesetzes aus.194 Damit verfolgte er eine ZweckWertungs-Entscheidung im Einzelfall, die das geltende Recht hinsichtlich der widerstreitenden Parteiinteressen bereits grundsätzlich getroffen hat. Mit Hilfe des Rechtsgefühls sollte „das abstrakte Denken durch das kasuistische Denken“ kontrolliert und die Lösung des Rechtsproblems dadurch nachträglich dogmatisch konstruiert werden. Das Rechtsgefühl gibt als Kompass vor, wie das dogmatische Ergebnis auszusehen hat. Das heißt die dogmatische Konstruktion ist quasi das Fundament, das hinterher darunter gebaut wird, damit die Entscheidung, die das Rechtsgefühl eingegeben hat, nicht nur dogmatisch vertreten, sondern auch verteidigt werden kann.195 So verkörpert das die praktischen Bedürfnisse vertretende Rechtsgefühl des Rechtsanwenders bei Jhering einen zentralen Indikator bei der rechtlichen Entscheidungsfindung und ist eine Art Erfahrungsspeicher, der sich auf der Grundlage getroffener rechtlicher Entscheidungen bildet.196 Im Rechtsgefühl verbinden sich Einzelfall und Zweck des Gesetzes mit der Lebenserfahrung des Rechtsanwenders. Es ist der Inbegriff lebendiger Dogmatik und Rechtsfortbildung.197
IV. Das Rechtsgefühl des Richters „Welch’ vergebenes Bemühen, den Richter zu ketten und zu fesseln, da jeder Tag ihm seine Freiheit wieder gibt und damit seinen wahren Beruf ans Tageslicht bringt, den Beruf nämlich, das Recht nicht bloß zu anzuwenden, sondern [. . .] zu finden. So gestaltet sich also die Anwendung des Rechts zugleich zu einer Vervollkommnung 194 So auch jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 351: „Die Konsequenz der Deduktion von Rechtsregeln aus geltenden Rechtsprinzipien stand bei Jhering nun unter dem auch praktisch werdenden Vorbehalt des ihnen vom Recht beigelegten Sinnes und Zwecks.“ 195 Jhering, Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 366 f. So endete die Jheringsche Rechtsgefühlsforschung schließlich in seinen Überlegungen zu ,Zweck im Recht‘. Vgl. Seinecke, Jhering, 2012, S. 146 ff. 196 So schon Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 84; ders., Jherings, Wiener Antrittsvorlesung, 1998, S. 154; Gromitsaris, Rechtsnormen, 1989, S. 289; jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 345 ff.; entgegen Edlin, Scheinprobleme, 1932, S. 15 f.; vgl. ferner zur richterlichen Entscheidungsfindung Berkemann, richterliche Entscheidung, 1971, S. 537–540. 197 Behrends ist darin zuzustimmen, dass Jhering „nicht als revolutionärer Dogmatiker spricht, der die Kunstregeln der Rechtsanwendung aufheben will, sondern als Theoretiker, der allerdings zu den die Regeln kontrollierenden Rechtswerten durchbrechen will“ [Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 74 f.].
IV. Das Rechtsgefühl des Richters
157
und Erweiterung desselben, der Richter, der Praktiker ist der Pionier des Rechtsfortschritts.“ 198
In seiner Wiener Antrittsvorlesung warnte Jhering vor der Bestimmung des Richters als „ein[em] willenlose[n] und gefühllose[n] Stück der Rechtsmaschinerie“.199 Vielmehr müsse dem Richter bei der Rechtsanwendung Raum für das eigene Denken sowie ein lebendiges, von den praktischen Bedürfnissen abhängiges Rechtsgefühl zugestanden werden200: „Die Stimme des Rechtsgefühls, die in jedem Menschen sich erhebt, der Richter allein sollte sie unterdrücken und er, der wie kein anderer durch seinen Beruf in der Lage ist, das Rechtsgefühl in sich auszubilden und zur Klarheit zu erheben, er vor allem sollte uns ein Gegenstand des Mißtrauens sein, wenn er dieser Stimme Gehör gibt? Nein! Der Richter soll nicht allein denken, er darf und soll auch fühlen [. . .].“ 201
Wenn sein Rechtsgefühl nun Protest gegen die rechtliche Lösung erhebt, soll nach Jhering der Richter das Gesetz einer „erneuerten Prüfung“ unterziehen.202 Dabei stellt Jhering klar, dass der Richter stets an das positive Recht gebunden sei;203 er soll „das lebendige, personificirte Gesetz“ sein.204 Dabei habe der 198 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 89 f.; Schlefer, Rechtsgefühl und Rechtspflege, 1908, S. 193: „Erst die Tätigkeit der Richter stellt das wirkliche gesamte Recht her [. . .].“ 199 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 50; ähnlich ebd., S. 87: „ein gefühlloses, totes Rad in der Justizmaschinerie“. 200 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 87. Dazu Schild, Kampf, 1995, S. 55; Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 98; Jhering, Zweck I, 1877, S. 385 f.: Nach Jhering soll der Richter „sein Urtheil objectiv [. . .] rechtfertigen, ohne [sich] dabei auf den unmittelbaren Inhalt des Gesetzes zu beschränken“. Insbesondere kritisiert Jhering die kasuistische Methode, „welche dem Richter anstatt allgemeiner Principien, deren richtige Anwendung auf den einzelnen Fall seiner eignen Einsicht überlassen ist, Detailbestimmungen für jeden einzelnen Fall, juristische Schablonen gibt, welche ihn dieser Mühe überheben sollen. Die Unmöglichkeit, die unendlich bunte und mannigfaltige Gestaltung der Fälle im voraus zu übersehen, stempelt diesen Versuch der Ausschliessung der richterlichen Willkür zu einem von vornherein verfehlten. Der Gedanke, der dabei vorschwebt, ist der, die Anwendung des Gesetzes zu einer rein mechanischen zu machen, bei der das richterliche Denken durch das Gesetz überflüssig gemacht werden soll – vorn wird der Fall in die Urtheilsmaschine hineingeschoben, hinten kommt er ohne vorangegangene selbständige Thätigkeit des Richters als Urtheil wieder heraus – ganz wie bei der Enten von Vancanson, welcher das Problem der Verdauung durch einen Automaten gelöst hatte. Die Erfahrung hat uns auch hier gerichtet – der Kopf des Richters lässt sich durch das Gesetz nicht ersetzen, höchstens schwächen.“ Insb. Ogorek; Richterkönig, 2008, et passim. 201 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 88. 202 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 88; so auch Unger, vgl. B. III. ebd., S. 88: „So entquillt also dem einzelnen Fall und der Kritik des Rechtssatzes, zu der er dem Richter die Veranlassung gibt, eine Quelle der Vervollkommnung des Rechts selber.“ 203 Jhering, Zweck I, 1877, S. 384. „Gehorsam gegen das Gesetz“ sei nach Jhering „die erste Tugend des Richters“ [ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Bl. 14]. Zum Gehorsam des Richters gegenüber dem positiven Recht vgl. insb. Meckes ausführliche Behandlung und konsequente Unterscheidung zwischen der juristisch posi-
158
C. Exemplarische Fallstudien zum Jheringschen Rechtsgefühl
Richter sein subjektives Rechtsgefühl unter das positive Recht zu ordnen.205 Sein voll ausgebildetes Rechtsgefühl kommt dabei ausdrücklich nur als Kontrollinstanz zum Einsatz.206 Dadurch findet ein Rückkopplungsprozess statt, der das Gesetz nach der ratio des Gesetzes neu auslegt, weiterentwickelt und an die Anforderungen der Zeit anpasst.207 „Dem Rechtsgefühl als der inneren Garantie der Rechtssicherheit“ stellt Jhering letztlich „die Rechtspflege als die äußere gegenüber“.208 Der Richter als deren zentrales Organ besitze „das nöthige Wissen und die erforderliche Fertigkeit“ bei der Anwendung von Recht. Zum einen umfasste dies „die theoretische und praktische Beherrschung des Rechts“ und zum anderen tiven Geltung des Rechts und dem geschichtlich-faktischen Rechtszustand im Sinne seiner entwicklungsgeschichtlichen Methode ders., Jhering, 2018, S. 142, 157–172, 635. Zu seiner zeitlebens vertretenen Auffassung von der Einhaltung der streng formalen Grundsätze des Rechts siehe eingehend A. II. Vor allem Jhering, Zweck I, 1877, S. 404 f.; vgl. dazu jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 352 ff.; ferner Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 179 ff. 204 Jhering, Zweck I, 1877, S. 378. 205 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 17: „[. . .] welche den Richter in der Ermittlung der Wahrheit beschränkt und hemmt und nicht selten zwingt, gegen seine Ueberzeugung ein Urtheil zu fällen, – welche die Widerstandskraft des Unrechts gegen das Recht erhöht und in ihren Formvorschriften Netze und Fußangeln ausstellt, in denen sich oft die gerechteste Sache fängt?“ Ders., Jurisprudenz, 1868, S. 86, unabhängig von allen „subjektiven Vorstellungen des Richters von der Sittlichkeit u. s. w.“ [ders., Geist II 1, 1854, S. 58]; dazu ferner ebd., S. 55; ders., Geist II 2, 1858, S. 336. Vgl. auch Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 82 f.; ferner zuletzt Mecke, Jhering, 2018, S. 159 ff. Daher schlägt er die Einführung eines Gerechtigkeitshof vor. Vgl. dazu Jhering, Zweck I, 1877, S. 421–424; ders., Vorarbeiten, Zweck, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Bl. 20, ferner ebd., Bl. 21: „[N]ur die Rechtspflege: die dauernde Übung der Gerechtigkeit, nicht das bloße Gebot der Pflicht ist im Stande, jene habituelle Willensstimmung zu erzeugen, in welche der römische Jurist mit Recht das Wesen der Gerechtigkeit im subjectiven Sinn bezeichnet: das Gerechtigkeitsgefühl, den Gerechtigkeitssinn im Gegensatz zum bloßen Rechtsgefühl. Daraus ergibt sich für das Schöffeninstitut als unerläßliche Bedingung seiner lebensfähigen Organisation die doppelte Anforderung: einmal die Anordnung einer [. . .] Dauer des Dienstes, welche genügt, um diesen Sinn zur Reife zu bringen, u sodann die Vorsorge dafür, daß stets bei allem Wechsel der einzelnen Mitglieder ein solcher Raum bleibt, welche im Stande ist, die Tradition zu erhalten u das neu eintretende Mitglied sich zu assimiliren.“ So formulierte Jhering insbesondere in seiner Spätzeit das Leitbild eines Juristen, „sein subjectives Meinen der Autorität des Gesetzes unterzuordnen“. „[D]er Jurist weiss, dass er das Gesetz nicht zu machen, sondern anzuwenden hat, dass das Gegentheil in reine Willkür und Gesetzlosigkeit ausarten würde, und den Vorwurf, den man ihm aus einem Resultat macht, das mit dem sogen. natürlichen Rechtsgefühl in Widerspruch, weist er mit den klassischen Worten der römischen Juristen: ,Lex perquam dura, sed ita scripta est‘ von sich ab und dem Gesetz zu.“ [ders., Gotthardbahn-Gutachten, 1884, S. 4]. 206 Vgl. vorherigen Abschnitt III. 207 Vgl. Schlefer, Rechtsgefühl und Rechtspflege, 1908, S. 193; Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 99. 208 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Bl. 6; ferner ders., Zweck I, 1877, S. 383: „Richter, Parteien, Process bilden die charakteristischen Kriterien, den Thatbestand der Rechtspflege.“
IV. Das Rechtsgefühl des Richters
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„die nöthige Willensfestigkeit“ und den „moralische[n] Muth“, letztlich die Gerechtigkeit im subjektiven Sinn: „constans ac perpetua voluntas suum cuique tribuendi“.209 Die Übung des Rechtsprechens sei „die Schule der Gerechtigkeit“ 210, die Unabhängigkeit und Selbstständigkeit des Richters ihre Grundvoraussetzung.211 Bei Vorliegen einer sich am Einzelfall offenbarenden Gesetzeslücke dürfe nach Jhering der Richter „nicht unthätig bleiben, er muß entscheiden“. Diese Entscheidung soll der Richter „auf der Idee der Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit oder, wo ein Anhaltspunkt im vorhandenen Recht sich finden läßt, aus der Consequenz“ fußen, d. h. Rechtsfortbildung betreiben.212 Hierfür ist sein erfahrenes Rechtsgefühl als juristisches Handwerkzeug unerlässlich.213
209 Jhering, Zweck I, 1877, S. 389 f. „Gerechtigkeit ist der beständige und immerwährende Wille, jedem sein Recht zukommen zu lassen.“ 210 Jhering, Zweck I, 1877, S. 404. 211 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Bl. 21; ferner ders., Zweck I, 1877, S. 403 f.: „[. . .] durch den Standesgeist und das Gefühl der Standesehre ergriffen und in die richtige Bahn gewiesen [. . .] – es ist der Schatz von eigenthümlichen Lebenserfahrungen [. . .] das in Form des Standesgeistes entwickelte ungeschriebene Lebensgesetz des Standes.“ 212 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 89; ferner ebd., S. 88 f.; ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Bl. 6. 213 Vgl. zur richterlichen Entscheidungsfindung Berkemann, richterliche Entscheidung, 1971, S. 537–540.
D. Chronologische Analyse des Rechtsgefühls in Jherings wissenschaftlichem Gesamtwerk „Gewisse Wahrheiten können nicht durch d[en] Verst[an]d allein erkannt w[er]d[en], sondern nur durch das Gefühl, durch den Willen des ganzen Menschen. Das Gefühl für Gerechtigkeit stumpft sich ab, je weniger es geübt w[ird] [. . .]. Der Verstand sieht nicht mehr, wenn das Herz nicht mehr mit empfindet. Wo es Dinge des Gemüths, Gefühls des Herzens gibt, da kann der Verstand nur sehen, wenn das Gemüth etc. selber in ihm lebendig ist.“ 1
Diese undatierten, aus seiner Spätzeit stammenden2, dem Nachlass angehörigen Zeilen stehen exemplarisch für das zeitlebens in Jherings wissenschaftlichen Schriften thematisierte Phänomen des Rechtsgefühls – auch als Gegenstand des folgenden Kapitels. Nach Jhering ist das Recht „nicht bloß Sache des Wissens, sondern vor allem des Gefühls, des Sinns für Gerechtigkeit“.3 Er sah die Jurisprudenz in der Pflicht, dieses Gefühl zu ergründen und sich nicht ausschließlich „dem Reiz der logischen Deduction hinzugeben“.4 Denn die Jurisprudenz spinne sich „immer mehr in ihre logischen Netze ein“.5 Ihr Erfolg liege in der „Folgerichtigkeit des Denkens“, in einer rein „dialektische[n] Bewegung des Rechts“.6 Derartige „Verirrungen“ des Verstandes wies Jhering auch in anderen Wissenschaften, vornehmlich in der Theologie und Philosophie, nach, wo der Verstand das „unmittelbare Gefühlsleben“ entmachtete. 7 Jhering wollte die Jurisprudenz bekehren und plädierte schon in seinen Frühwerken für die Anerkennung der „einfachen ethischen Wahrheiten“, in denen das Recht seinen Ursprung fand.8 Im vorliegenden Kapitel erfolgt eine chronologisch aufgebaute Studie der unvollendet gebliebenen Jheringschen Monumentalwerke ,Geist‘ und ,Zweck‘ sowie seiner Abhandlungen über das Rechtsgefühl. Das Rechtsgefühl wird unter Einbeziehung seines wissenschaftlichen Gesamtwerks seit seinem ersten Auftreten ver1
Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 15:4, Bl. 11. Vgl. Kategorisierung der Jheringschen Nachlassschriften in der SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 15:4, o. J.; zugeordnet der Konzepte und Manuskripte zum Besitzwillen aus dem Jahre 1889, Mappe i, Bl. 11 ff.; so auch Mecke, Jhering, 2018, S. 689. 3 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 15:4, Bl. 11. 4 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 15:4, Bl. 11. 5 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 15:4, Bl. 11. 6 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 15:4, Bl. 11. 7 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 15:4, Bl. 11. 8 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 15:4, Bl. 11. 2
I. Jherings Begriff des Rechts
161
folgt und auf die von den jeweiligen Einflüssen der Leitwissenschaften abhängige Bedeutung für die Theorie und Praxis des Rechts hin untersucht. Den Schwerpunkt bildet die zeitlich geordnete Auswertung der mehrdimensionalen Bedeutungen und Funktionen des Jheringschen Rechtsgefühls, insbesondere vor dem Hintergrund der jeweiligen Intention seiner wissenschaftlichen Werke.
I. Jherings Begriff des Rechts Der Analyse des Jheringschen Rechtsgefühls wird die skizzenhafte Untersuchung des Jheringschen Rechtsbegriffs als primäre Bezugsebene und inbegriffener Wortbestandteil des „Rechts“-gefühlsbegriff vorangestellt. Aussagen über das reine „Gefühl“ trifft Jhering hingegen nicht. Jherings verschiedene Bedeutungsinhalte von „Recht“ bilden die voneinander streng zu differenzierenden Bezugsebenen seines Rechtsgefühlsbegriffs. Seine bekannte methodologisch-rechtsdogmatische und -rechtshistorische Unterscheidung9 wirkte sich auch auf die Definition seines Rechtsbegriffs aus: Das positive „Recht in seiner unmittelbar praktischen Form“ konnte nach Jhering nicht das Recht sein, „wie es in der Wirklichkeit bestand“.10 Jhering trennte konsequent das geltende positive Recht vom geschichtlich-faktischen Rechtszustand im Sinne der historischen Rechtswirklichkeit; auf der einen Seite beinhalte „Recht“ aus der Sicht des Rechtsanwenders ausschließlich die „positiven Rechtssätze“ 11, auf der anderen Seite schließe „Recht“ aus der Beobachtungsperspektive des Rechtshistorikers auch nichtrechtliche Sozialnormen sowie Rechtsauslegung ein.12 Letztere (entwicklungs-)geschichtliche Sicht auf das Recht weitete Jhering nicht selten auf eine philosophisch-ideale Dimension aus, wenn er einen Idealzustand des Rechts erreichen wollte.13 Jhering differenzierte zudem zwischen dem Recht im subjektiven und demjenigen im objektiven Sinn. Insbesondere unter dem Abschnitt ,Begriff des Rechts‘ im letzten Band seines Werkes ,Geist III 1‘ (1865) ordnete Jhering in einem ersten Teil „Das substantielle Moment des Rechts“ (§ 60) und in einem zweiten „Das formale Moment des Rechts“ (§ 61) unter seinen Begriff des subjektiven Rechts.14 Demnach müsse Recht in erster Linie die Interessen, Bedürfnisse und Zwecke des Verkehrs widerspiegeln.15 Entsprechend gehören nach Jhering zu den substanziellen Kriterien des subjektiven Rechts ökonomische Aspekte wie 9
Vgl. A. I. 1., II. 1., 2. Jhering, Geist I, 1852, S. 22. 11 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 503. 12 Mecke, Jhering, 2018, S. 142 ff. 13 Mecke, Jhering, 2018, S. 142–147; ferner ebd., S. 154–157, 168–171. 14 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 307. 15 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 316. 10
162
D. Analyse des Rechtsgefühls in Jherings wissenschaftlichem Gesamtwerk
Nutzen und Wert sowie höhere Güter ethischer Art wie Persönlichkeit, Freiheit, Ehre oder Familie.16 Unter Interesse im subjektiven Sinn verstand Jhering das Maß der individuellen Wertschätzung dieser materiellen und immateriellen Güter.17 Seine in erster Linie funktionale Begriffsbestimmung ergänzte Jhering um eine formale, die die Sicherung der Interessen durch die Rechtsordnung in Form des Rechtsschutzes umfasste.18 So definierte Jhering Recht im subjektiven Sinn letztlich als „rechtlich geschützte Interessen“.19 Entsprechend sei jedes einzelne Recht „Ausdruck eines vom Gesetzgeber nach dem Standpunkt seiner Zeit für schutzfähig und schutzbedürftig anerkannten Interesses“; mit einem Wandel der Interessen müsse folglich auch eine Veränderung der Rechte einhergehen.20 Aus den unveröffentlichten Handschriften des Jheringschen Nachlasses zu einem weiteren, geplanten Geist-Band geht hervor, dass der Abschnitt „3. Das ideale Moment des Rechts“ zunächst unter § 62 im Anschluss an ,Geist III 1‘ als „Abtheilung 2“ erscheinen sollte.21 Dazu kam es jedoch nicht; erst später veröffentlichte Jhering seine Ausführungen zur Bedeutung des subjektiven Rechtsbegriffs entgegen seiner ursprünglichen Planung unter inhaltlicher Ausweitung auf
16
Jhering, Geist III 1, 2. Aufl., 1871, S. 328. Vgl. Wagner, Jherings Theorie des subjektiven Rechts, 1993, S. 323. 18 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 316 f., 327; dazu treffend Wagner, Jherings Theorie des subjektiven Rechts, 1993, S. 323; Hellgardt, Regulierung und Privatrecht, 2016, S. 344. 19 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 327. 20 Jedoch „nicht schlechthin, weil manche Interessen ihrer Natur nach dem mechanischen Zwange des Rechts widerstreben“ [Jhering, Geist III 1, 2. Aufl., 1871, S. 331]. Auch später: „Bei meiner Definition [Interessenmoment des Rechts] hatte ich den abstrakten Interessenmaßstab im Auge, der für den Gesetzgeber bei Aufstellung aller Rechtstypen stets und ohne Ausnahme der maßgebende ist. Daß er nach Maßgabe des Interessenhorizontes des Volkes und der Zeit ein wechselnder ist, das Urtheil über die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit gewisser Interessen mit dem Umschwung der Anschauung des Volkes sich ändert, habe ich dort ausdrücklich betont [. . .] Ob nun das Interesse, das der Gesetzgeber im Rechte als schutzwürdig und schutzbedürftig anerkennt, im einzelnen Fall vorliegt (konkreter Interessenmaßstab), darauf kommt es regelmäßig gar nicht an [. . .].“ [ders., Besitz, 1893, S. 66 f.]. 21 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 19:1 (1): „Disposition [Vorarbeiten Geist III Abth. 2] I. Begriff des Rechts § 60 1. materielles Element § 61 2. formales Element I. § 62 Function der Rechte u Wirkungen desselben II. Der Grund des Rechts Recht eine That des Beauftragten III. Subject: Beziehung des R., Unübertragbarkeit des R. IV. Die Schicksale des Rechts 1. Eingriffe in das Recht – Subjectives Unrecht – Delictsgesichtspunkt – ideales Moment – Kampf ums Recht 2. Beschränkung, Theilung, Neutralisierung des Rechts“. 17
I. Jherings Begriff des Rechts
163
den „Kampf um die Verwirklichung der concreten Rechte“ 22 in seiner berühmten Schrift ,Kampf um’s Recht‘ (1872). Resultierend aus dieser neuen Erkenntnis aus dem bei weitem nicht vollständig erforschten Jheringschen Nachlass müssen letztlich auch die unveröffentlichten und veröffentlichten Inhalte seines Werkes ,Kampf um’s Recht‘ als ebenso elementare Quelle für die Einordnung des subjektiven Rechtsbegriffs herangezogen werden. Entsprechend führte Jhering „diese so unendlich wichtige Bedeutung des subjectiven Rechts für das objective Recht“ in den 1870er Jahren in seinem Werk ,Kampf um’s Recht‘ fort und stellte die Einseitigkeit des von der herrschenden Lehre gebildeten Verhältnisses der beiden Rechtsbegriffe zueinander heraus: „[D]as subjective empfängt vom objectiven, es verdankt ihm seine Existenz, aber daß es auch etwas zurückgibt, daß die Kraft und das Leben des Gesetzes ganz wesentlich auf der Bewegung und Verwirklichung der Rechte beruht, kurz daß hier ein Kreislauf der Kraft u. des Lebens Statt findet, das übersieht sie.“ 23
Jhering kehrte das herrschende Verhältnis von subjektivem und objektivem Recht gar um: Das subjektive Recht sei vielmehr „die Form, in der die Idee des Rechts sowohl in der Geschichte wie im Leben des Einzelnen dem Menschen zuerst aufgeht, und aus der erst höchst allmählig die Idee des objectiven Rechts [. . .] sich hat herausarbeiten müssen. Der Periode der objectiven Erfassung des Rechts ist überall die der subjectiven vorausgegangen“.24 Er betonte ganz im Sinne seiner bisherigen Ausführungen im ,Geist III 1‘, dass sich das allgemeine objektive Interesse an der Rechtsanwendung durch den „Zutritt des eigenen persönlichen Interesses zur höchsten Kraft“ steigere. Das Interesse sei der „praktische Kern des Rechts im subjektiven Sinn“ 25, welches als „konkrete Ausmün-
22 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 8:8; ders., Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 12. „Kampf um das concrete Recht zum Zweck seiner Behauptung von Seiten des Berechtigten [. . .], hervorgerufen durch die Verletzung, Vorenthaltung, Missachtung desselben von Seiten des Anderen“ [ebd., S. 20 f.]. 23 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 8:8, Bl. 4 „Der Gedanke, daß der Mensch verpflichtet sei, für die Höhe und Heiligkeit der Rechtsidee sein Alles daran zu setzen, findet in einer engen Seele keinen Raum, aber auch der engherzigste, der beschränkteste Mensch ist dem Gedanken des eigenen Interesses zugänglich. Und dies eigene Interesse ist es, an dem die Geschichte ihn zur Mitwirkung an der Verwirklichung der Rechtsordnung heranzieht. Die Form, in der sie es thut, ist die des eigenen Rechts. Jedem er sein Recht verwirklicht, verwirklicht er zugleich das Recht, innerhalb dieser beschränkten Sphäre ist er selber zum Wächter und Vollstrecker des Gesetzes bestellt.“ [a. a. O., Unterstreichungen im Original nicht übernommen]; ähnlich in seiner veröffentlichten Version seines ,Kampf ums Recht‘ in der Ermacora-Ausgabe, S. 105. 24 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 8:8, Bl. 10 f. Historisch betrachtet sei das Verhältnis von subjektivem und objektivem Recht „gerade das entgegengesetzte von dem, was es uns vom Standpunkt der heutigen Rechtsentwicklung aus als das logisch nothwendige erscheint: nicht diese ist die Quelle von jenem, sondern jenes die Quelle von diesem, das Recht ist aus den Rechten hervorgegangen“ [ebd., Bl. 5 f.]. 25 Jhering, Kampf, 1872, Ermacora-Ausgabe, S. 98.
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D. Analyse des Rechtsgefühls in Jherings wissenschaftlichem Gesamtwerk
dung der abstrakten Regel in eine konkrete Berechtigung der Person“ 26 die tauglichste Verwirklichungsform des Rechts im objektiven Sinn sei.27 Jherings späteres, mehrbändiges Werk ,Zweck im Recht‘ ist als Fortführung seiner im ,Geist‘ aufgestellten Interessentheorie einzuordnen.28 Der Begriff des Interesses „nötigte“ Jhering, den Zweck des Rechts in den Blick zu nehmen; das Recht im subjektiven Sinn „drängte“ ihn zu dem im objektiven Sinn:29 Das Interesse im subjektiven Sinne deutete Jhering letztlich als „Gefühl der Lebensbedingtheit“ 30, „idealistisch-teleologisch als Zwecksetzung des Subjekts“ 31, welches ihn zu seinen Überlegungen einer teleologischen Theorie des Rechts in seinem ebenfalls unvollendeten Werk ,Zweck‘ führte.32 Hier widmete sich Jhering dem Begriff des objektiven Rechts als Zweckbegriff, dessen Ergebnis der „Kompromiß nach vorangegangenem sozialen Interessenkampf“ sei.33 Den „Zweck“ bestimmte er als Quelle des objektiven Rechts, hervorgegangen aus den faktischen, sich wandelnden praktischen Bedürfnissen der Gesellschaft.34 Auf dieser Grundlage formulierte Jhering seine Definition des Rechts im objektiven Sinn:
26 Jhering, Kampf, 1872, Ermacora-Ausgabe, S. 63; ferner ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 8:8, Bl. 20. „Dies persönliche Interesse besteht aber nicht sowohl in der Verwirklichung des Rechts überhaupt in Anwendung auf dieses besondere Subject, m. a. W. in dem einzelnen Recht steckt sein ganzes Recht, seine ganze rechtliche Stellung, seine ganze Persönlichkeit. Ihm für jenen Zweck die Rechtshülfe versagen, heißt nicht, ihm ein einzelnes Recht entziehen, sondern seinen Antheil an der Rechtsordnung überhaupt in Frage, ihn außerhalb des Gesetzes stellen, seine Persönlichkeit negieren.“ [a. a. O.]. 27 Auf diese Weise erschuf Jhering in ,Kampf um’s Recht‘ eine neue philosophische, ideale Dimension des Interessenbegriffs, welche nunmehr die nach Vollkommenheit strebenden Interessen des Gemeinwesens einbeziehen sollte, die ihn am Ende zu seiner „ideale[n] Auffassung“ im Sinne seiner zeitlebens verfolgten Aufwärtsbewegung des Rechts führten [ders., Kampf, 1872, Ermacora-Ausgabe, S. 99]. Ferner ebd., S. 111 f.: „Aufsteigend von dem niedern Motiv des Interesses haben wir uns erhoben zu dem Gesichtspunkt der moralischen Selbsterhaltung der Person und sind schließlich bei dem der Mitwirkung des einzelnen an der Verwirklichung der Rechtsidee im Interesse des Gemeinwesens angelangt.“ Vgl. dazu Schild, Kampf, 1995, S. 39. 28 Jhering, Zweck I, 1877, Vorrede, S. V f. Vgl. Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 90 f.: „Durch den Begriff des Interesses wurde er auf den des Zwecks hingelenkt, vom Recht im subjektiven auf das im objektiven Sinn, und da eröffnete sich ihm die ganze Weite des Zweckbegriffs im Recht.“ 29 Jhering, Zweck I, 1877, Vorrede, S. V. 30 Jhering, Gäubahn-Rechtsgutachten, 1880, S. 96; ähnlich ders., Zweck I, 1877, S. 29 ff. 31 Schöneburg, Natur des Rechts, 2001, S. 25. 32 Rapone, Zweckbegriff, 2012, S. 152; vgl. ferner jüngst Vesco, Erfindung, 2021, S. 71–76. 33 Schöneburg, Natur des Rechts, S. 24; Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 8. 34 Jhering, Zweck I, 1877, Vorrede, S. VI. Vgl. dazu Lipp, Jhering, 2007.
II. Die Entwicklung des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs
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„Recht ist der Inbegriff der durch äusseren Zwang d. h. durch die Staatsgewalt gesicherten Lebensbedingungen der Gesellschaft [. . .].“ 35
Diese grundlegenden Differenzierungen seines Rechtsbegriffs müssen bei der Charakterisierung und Zuordnung der verschiedenen Bezugsebenen und Funktionen des mehrdimensionalen Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs stets berücksichtigt werden.
II. Die Entwicklung des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs Im Weiteren wird die Entwicklung des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs anhand seiner veröffentlichten wissenschaftlichen Werke sowie unveröffentlichten Vorarbeiten und Notizen aus dem Göttinger Nachlass untersucht. Jherings zeitlebens verwendete Begriffsbezeichnung „Rechtsgefühl“ unter uneinheitlichem inhaltlichem Einsatz ungeachtet seiner sich wandelnden Bedeutungsinhalte erschwert dessen Erfassung und führt oft zu einseitigen Interpretationen und Fehlurteilen.36 Zentrales Erkenntnisziel der nachfolgenden chronologischen Analyse seines wissenschaftlichen Gesamtwerks ist die Auswertung der streng zu differenzierenden Funktionen und Dimensionen des Jheringschen Rechtsgefühls. Die Mehrdimensionalität des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs in Abhängigkeit von der jeweiligen Intention seiner wissenschaftlichen Abhandlungen wird nachgewiesen und in die methodischen Lehren Jherings eingeordnet. Auf diese Weise wird durch Erstellung von Parametern die Grundlage für ein konzeptionelles Modell des Jheringschen Rechtsgefühls (E.) geschaffen. Insbesondere wird vor dem gesellschaftspolitischen, kulturellen und ideengeschichtlichen Hintergrund des 19. Jahrhunderts die Abhängigkeit des Rechtsgefühls von faktischen Entwicklungen und darüber hinaus sein Einfluss auf die Weiterentwicklung des geltenden Rechts nachgewiesen.37 Das Rechtsgefühl operiert bei Jhering als Barometer der „Stimmung seiner eigenen Zeit“.38 Politische und gesellschaftliche Ereignisse jener Zeit haben maßgeblich dazu beigetragen, dass die methodischen Entwicklungen des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs zu Reife gebracht wurden.39 So konzipierte Jhering am Ende seines Lebens ein sich 35 Jhering, Zweck I, 1877, S. 499. Über die „durch die Staatsgewalt gesicherten Lebensbedingungen“ ebd., S. 432 ff.; ferner ebd., S. 318 f., 79: „Der Begriff des Rechts schliesst daher zwei Momente in sich: ein System der Zwecke und ein System der Verwirklichung derselben. Wie Person und Vermögen zum Recht, so drängt das Recht zum Staat; die (praktische) Triebkraft des Zwecks, nicht die (logische) des Begriffs erzeugt mit Nothwendigkeit das eine aus dem andern.“ Zu den durch die Staatsgewalt gesicherten Lebensbedingungen ebd., S. 434 ff. 36 So auch Pleister, Persönlichkeit, 1982, S. 215 Fn. 918. 37 Kübl, Rechtsgefühl, 1913, XIII. Kapitel, S. 138–156; Schwarz, Begriffsanwendung, 1952, S. 194. 38 Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 108. 39 Klemann, Jhering, 1989, S. 205.
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im geschichtlichen Verlauf veränderndes Rechtsgefühl, dessen Entstehungsgeschichte im Folgenden nachgezeichnet wird. Jhering verfolgte zeitlebens die Prämisse, dass alle Rechtsbegriffe auf einem „praktischen Motiv“ gründen40: „Eine wirthschaftlich unentwickelte Zeit mag den Ausschlag für den Stoff [das römische Recht] geben“, verfasste Jhering im ,Geist‘, „aber eine Zeit, in der Gewerbe, Handel und Industrie blühen“, könne „dies nicht [anwenden], ohne die Interessen des Verkehrs Preis zu geben.“ 41 Er rechnete in diesem Sinne mit „Fortschritten im Recht, von denen wir uns zur Zeit nichts träumen lassen“. Diese würden zunächst im Völkerrecht, dann im Eigentumsrecht und zuletzt im Familienrecht sowie Urheber- und Patentrecht sichtbar werden.42 1. Geist des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung Die nachfolgende Auswertung der zahlreichen Bände und Auflagen seines unvollendeten Werkes ,Geist‘ seit 1852 unter Einbezug seiner anonymen Beiträge in der Literarischen Zeitung stärkt im Hinblick auf die Geltung des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs die Einschätzung, dass sich Jhering schon früh von der Historischen Rechtsschule distanzierte und sein selbst erklärter „Umschwung“ 43 im Jahre 1859 entgegen der in der Literatur überwiegend vertretenden Auffassung von einer tiefen Zäsur im Rechtsdenken Jherings objektiv betrachtet keiner war.44 Vielmehr vollzieht sich bereits in seinem Werk ,Geist‘ ein Wandel in der Verwendung und Bedeutung seines für seine gesamte rechtsdogmatische und -historische Methode elementaren Rechtsgefühlsbegriffs. Hierbei muss berücksichtigt werden, dass Jhering vermutlich die Zeit und Muße fehlte, den Inhalt der einzelnen späteren Auflagen seiner drei Bände entsprechend seiner gewandelten
40 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 14; so auch Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 4: „Primat der Logik müsse verdrängt werden durch Primat der Lebensforschung und Lebenswertung“. 41 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 304; vgl. dazu Klemann, Jhering, 1989, S. 196 f. 42 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 26; ders., Rechtsgefühl, 1884, S. 45, 48, 54. Es kam zur Hochzeit des deutschen Nationalstaates und zahlreichen neuen Gesetzesregelungen: u. a. Wechselordnung (1848), Gewerbeordnung (1869), Urheberrechtsgesetz (1870), nach Reichsgründung 1871; Reichsverfassung und Strafgesetzbuch (1871), Gerichtsverfassungsgesetz, ZPO, StPO, Konkursordnung (1871), Sozialversicherungsgesetze Bismarcks (1889), Patentgesetz (1891), Börsengesetz (1896), Handelsgesetzbuch (1897), schließlich BGB (1900); vgl. dazu Schmoeckel, Rechtsgeschichte der Wirtschaft, 2008, et passim [Coing, Rechtsgeschichte, 1967, S. 88 ff.; Osterhammel, 19. Jahrhundert, 2012, S. 30 ff.; Ullmann, Politik, 2. Aufl., 2005, S. 1 ff.]. 43 Jhering, Brief an Gerber v. 06. Januar 1859, Ehrenberg-Briefe, 1913, S. 108; zu dieser Thematik bereits ausführlich A. II. 3. – ,Die methodenkritische Wende‘. 44 Siehe eingehend bereits A. II. 3.
II. Die Entwicklung des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs
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Anschauungen anzupassen. Diese Tatsache erschwert die Analyse und das Nachvollziehen seiner Gedankengänge immens.45 Zeitlebens verlangte Jhering von der Jurisprudenz anzuerkennen, dass das Recht „durch Menschenhand“, d. h. durch den reflektierenden menschlichen Verstand entstanden sei46: „Auch das Recht war da, wenn auch in ganz anderer Weise als heutzutage; nicht nämlich als eine objektive Macht, die sich durch sich selbst verwirklicht, sondern als innerliche, als subjektives Rechtsgefühl. Was die Thatkraft geschaffen, was sie erworben und erkämpft, dem drückte das Rechtsgefühl seinen Stempel auf, machte es zu einem Theile der Person selbst und verdoppelte damit die Kraft, mit der es behauptet ward.“ 47
In seinem ersten Geist-Band (1852) statuiert Jhering das „subjektive Rechtsgefühl“ als die Verwirklichung der persönlichen Motivation zum Handeln und Quelle des „rein subjektiven Rechts“. Das Individuum trage „den Grund seines Rechts in sich selber, in seinem Rechtsgefühl und seiner Thatkraft“.48 Im Rechtsgefühl sei der Trieb zur Selbstverwirklichung begründet.49 Diese Erkenntnis veranlasste Jhering zwanzig Jahre später zu der Veröffentlichung seiner prominenten Schrift ,Kampf um’s Recht‘ (1872).50 Recht im objektiven Sinne hingegen konnte nach Jhering „erst entstehn, wenn der Staat jene Aufwallungen des subjektiven
45 Jhering, Brief an Windscheid v. 18. April 1865, Ehrenberg-Briefe, 1913, S. 180: „[A]uch hat die Besorgung der zweiten Auflage meines Buchs mir zu schaffen gemacht. Ich habe mit dem zweiten Band zuerst angefangen, nachdem mehrere Versuche, die Einleitung zum ersten Bande umzuarbeiten, gescheitert waren. [. . .] und ich werde mich [. . .] am Ende noch entschließen, die Einleitung im wesentlichen unverändert zu lassen . . . Zu einer vollständigen Umarbeitung fehlt es mir leider an Zeit, sie würde Jahre erfordern. Im Mai muß der erste Band fertig sein – ich bin neugierig, was daraus wird!“ 46 Jhering, Geist I, 1852, S. 219. Vgl. insb. Mecke, Jhering, 2018, S. 110. 47 Jhering, Geist I, 1852, S. 105. Später ders., Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 48 f. „Die ersten unausbleiblichen Regungen des verletzten Rechtsgefühls“ sieht er „in der gewaltsamen Reaction gegen das zugefügte Unrecht, in der Selbsthülfe und Rache“ begründet. [ebd., S. 115] „Der erste Ansatz des Rechtsgefühls ist das Gefühl der eignen Berechtigung, gestützt auf die Bewährung der eignen Kraft und gerichtet auf die Resultate derselben. Dies Gefühl involvirt begrifflich freilich auch die Anerkennung des fremden Rechtsgefühls, aber praktisch entwickelt sich die Achtung vor dem Rechte Anderer nur sehr mühsam und allmählig.“ [ebd., S. 105]. Ferner ebd., S. 117 f. auf nationaler Ebene: „außerordentlich intensive Kraft des römischen Rechtsgefühls und die gesunde Constitution des römischen Lebens“. 48 Jhering, Geist I, 1852, S. 102, 104; 2. Aufl., 1866, S. 106; siehe auch A. I./(II.). erstmals in Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 121, Fn. 25a: „Was man heutzutage gegenüber dem Antheil, den die Staatsanstalten an der Bildung und Verwirklichung des Rechts haben, viel zu sehr übersieht, ist die moralisch-persönliche Energie und damit die äußerlich gestaltende Macht des subjectiven Rechtsgefühls.“ Auch noch später ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 21. 49 Jhering, Geist I, 1852, S. 120. 50 Dazu auch Brockmöller, Rechtstheorie, 1997, S. 209.
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Rechtsgefühls“ durch die Herausbildung ausführender Organe für die Verwirklichung des Rechts „bezwungen“ hat.51 In seinem zweiten Geist-Band (II 1, 1854) beschäftigte sich Jhering vorrangig mit dem kollektiven, „nationalen Rechtsgefühl“ als Entstehungsgrund des Rechts, welches auch die Historische Rechtsschule in Gestalt des Volksgeistes vertrat, und dem Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl im weitesten Sinne. Während das individuelle Rechtsgefühl den Schwerpunkt seines ersten Bandes bildete, wandte er sich nun also primär dem Rechtsgefühl des Volkes zu. Zunächst lobte Jhering noch die Volksgeistlehre der Historischen Rechtsschule: „Das Neue und Verdienstliche dieser Ansicht besteht darin, daß sie [. . .] an die Stelle der bis dahin gelehrten äußeren mechanischen Produktion des Rechts durch legislative Reflexion eine unmittelbare, s. g. organische Entstehungsweise desselben setzte, ein Hervorquellen desselben aus dem Born des nationalen Rechtsgefühls [. . .].“ 52
Mit seiner nativistischen Auffassung, dass sich das Recht „subjektiv aus der Seele des römischen Volks“, aus dem nationalen Rechtsgefühl, herausbildete, bewegte sich Jhering noch ganz auf den Pfaden der herrschenden Rechtsentstehungslehre der Historischen Rechtsschule. Nach Jhering werde jederzeit „objektiv im Recht selbst als Tendenz der Rechtsbildung hervortreten“, „was der subjektiven Anschauung des Volks als zu erreichendes Ziel, als Ideal vorschwebt“.53 „Das nationale Rechtsgefühl verwirklichte sich durch die That selbst und stellte sich äußerlich in der Sitte da (Gewohnheitsrecht). Im Lauf der Zeit tritt als zweite Rechtsquelle die Gesetzgebung hinzu, nicht gerade stets Neues schaffend, sondern oft nur das Bestehende formulirend.“ 54
Das Rechtsgefühl war bei Jhering zu diesem Zeitpunkt „etwas Ungetheiltes“ 55, die Gesamtheit der „Gefühl[e] der Zweckmäßigkeit“ 56 der Einzelnen und in ihrer 51
Jhering, Geist I, 1852, S. 115 f., 119; auch Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 118. Siehe Gromitsaris, Rechtsnormen, 1989, S. 77. 52 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 25 f. 53 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 19. 54 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 25. In Frage stellte er dagegen die von der Historischen Rechtsschule verwendete Bezeichnung „Gewohnheitsrecht“ [ders., Geist II 1, 1854, S. 29 ff.]. Dieses aus dem Rechtsgefühl der Summe der Individuen entspringende Gewohnheitsrecht sei seinem Wesen nach subjektiv und unbestimmt [ders., Geist II 1, 1854, S. 31: „Die Theorie des Gewohnheitsrechts möge sich noch so sehr ihrer vermeintlichen Bestimmtheit rühmen, sie möge ihr ,Rechtsgefühl‘ als Quelle des Gewohnheitsrechts in abstracto noch so sehr zu dem Gefühl einer bloß moralischen Verpflichtung in Gegensatz stellen: im Leben schwimmen beide nur zu oft zu einem Fluidum zusammen, und Unbestimmtheit ist der reguläre Charakterzug der gewohnheitsrechtlichen Bildung.“]. Demzufolge sei das Gewohnheitsrecht vielmehr als eine Vorstufe der Rechtsentstehung einzuordnen [ders., Geist II 1, 1854, S. 27 ff.]. In Abgrenzung zum „Recht“ müsse daher der Ausdruck „Gewohnheitsrecht“ durch „Sitte“ als äußerliche Darstellung des Rechtsgefühls und „Zustand der Identität des Rechts und Moral“ ersetzt werden [ders., Geist II 1, 1854, S. 28]. 55 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 32. 56 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 29.
II. Die Entwicklung des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs
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Summe des Volkes. Dabei sei es als „einfache[s] Rechtsgefühl“ noch identisch mit einer schwankenden „Charakterschwäche“ 57 in Opposition zur „wahren [. . .] Gerechtigkeit“ 58, welche sich bereits überwiegend in der „Ständigkeit“ und „Selbständigkeit“ des Rechts repräsentiere.59 Die „Intuition“ oder das Rechtsgefühl musste bei Jhering bald immer mehr einer begründenden, logischen Rechtsmethode weichen.60 Entsprechend verfolgte er mit seiner naturhistorischen Methode, „die Herrschaft des [Rechts-]Gefühls im Recht zu brechen“.61 So war bei Jhering das Recht früher mit dem Rechtsgefühl identisch; jetzt fand eine Trennung statt62: „[A]n die Stelle des subjektiv Innerlichen“ trete nach Jhering das Gesetz als „objektiv Aeußerliches“ 63, welches „die ausschließliche Form des Rechts“ sei.64 Diese Scheidung von Rechtsgefühl und positivem Recht beschrieb er in seiner Spiegelbruch-Metapher: „[E]s [das Rechtsgefühl] war ein Spiegel, der die concreten Rechtsverhältnisse mit einem Male in ihrer ganzen Erscheinung, in allen Bezügen, nach allen Seiten hin erfasste. Wie aber jetzt? Der Spiegel ist in Stücken zerfallen, und aus den Splittern und Stücken sind die schmalen Paragraphen eines Gesetzes oder Gesetzbuches gemacht.“ 65
Erst durch die Ablösung vom Rechtsgefühl durch das Medium des Gesetzes gewinne das Recht seine „Festigkeit, Bestimmtheit, Objektivität, Gleichmäßigkeit“.66 Demnach entwickelte sich aus dem bloßen Rechtsgefühl das „logisch berechenbar[e], objektiv meßbar[e]“ Recht.67 Mit der Positivierung des Rechts und der damit einhergehenden Ablösung von dem nationalen Rechtsgefühl distanzierte sich Jhering zunehmend von der Rechtsentstehungslehre der Historischen Rechtsschule. Jherings Idee von einem progressiven, objektiven Rechtsverständnis verdeutlicht den Fortschritt in seinem methodischen Denken. Die Bedeutung des Begriffs „Rechtsgefühl“, welcher den ursprünglichen Entstehungsgrundes des 57 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 22 f. Dennoch beschrieb Jhering an späterer Stelle das „bloße [. . .] Rechtsgefühl“ als „Ueberwindung des bloßen Gefühlsstandpunktes“ [ders., Geist II 1, 1854, S. 31]. 58 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 46. 59 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 30 f. 60 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 31, 33 f. 61 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 32. Später wollte Jhering erneut „der Herrschaft des Rechtsgefühls ein Ende [. . .] machen“ [ders., Geist II 2, 1858, S. 332]; „Analyse sollte das Gefühl verdrängen“ [Haferkamp, Pandektistik und Gerichtspraxis, 2011, S. 200]. 62 So auch auf nationaler Rechtsgefühlsebene: Jhering, Geist II 1, 1854, S. 33: „Wie das selbständige Leben des Kindes erst durch Trennung von der Mutter begründet wird, so auch das des Rechts erst durch die Ablösung von dem nationalen Rechtsgefühl, in dem es seinen Ursprung fand.“ 63 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 31. 64 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 33. Vgl. dazu auch Wilhelm, Theorie, 1972, S. 168. 65 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 32. 66 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 44, S. 27. 67 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 34.
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Rechts in sich schloss, war hingegen zunächst weiterhin noch mit dem herrschenden „Volksgeist“ im Sinne eines nationalen Rechtsgefühls identisch. Spätestens im ,Geist II 2‘ (1858) löste sich Jhering endgültig von der herrschenden Volksgeistlehre, wenn er mit seiner „Samenkorn“-Metapher statuierte, dass das Recht nicht im Rechtsgefühl seinen Ursprung habe: „Man wende mir nicht ein, daß doch das Recht im Rechtsgefühl seinen Ursprung und Sitz habe. Gewiß! das Rechtsgefühl ist das Samenkorn, dem das Recht entsprossen ist, aber das Samenkorn enthält nur den Keim des Baumes, nicht den Baum selbst; es wächst und gedeiht nur dadurch, daß es die enge und unvollkommene Behausung des Rechtsgefühls sprengt und sich folgeweise dem Blick und Urtheil des Laien immer mehr entzieht.“ 68
Demnach bildet sich das Recht erst, wenn „die enge und unvollkommene Behausung des Rechtsgefühls [ge]sprengt“ werde, d. h. durch den Einfluss vieler gesellschaftlicher Faktoren und Erfahrungen und ihre Umsetzung in positives Recht.69 Das Rechtsgefühl sei nicht (mehr) die Quelle allen Rechts entsprechend der Auffassung der Historischen Rechtsschule, sondern lediglich eine Grundlage für die Bildung von Recht. Nach Jherings Auffassung habe sich die Jurisprudenz bisher nur mit der „ethische[n] Seite des Rechts“, genauer den „Ideen und Anforderungen, die objectiv in der sittlichen Bestimmung des Rechts und subjectiv in dem natürlichen Rechtsgefühl ihren letzten Grund haben“ 70, gewidmet. Nach Jhering sollte die Jurisprudenz nun erstmals eine „specifisch-juristische[n]“ 71 Analyse des Rechts nach der sog. juristischen Konstruktionslehre vornehmen.72 Letztlich kann hier nachgewiesen werden, dass Jhering den Ausdruck „(Rechts-)Gefühl“ zunächst noch gleichbedeutend mit einem angeborenen nationalen Rechtsgefühl im Sinne der vorherrschenden Lehre vom ,Volksgeist‘ verwendete. Wenn er diesen bis dahin geltenden Rechtsgefühlsbegriff jetzt als Ausdruck seiner Abkehr von der Volksgeistlehre der Historischen Rechtsschule mit
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Jhering, Geist II 2, 1858, S. 330. Jhering, Geist II 2, 1858, S. 330: „So wie der Baum nicht wieder zum Samenkorn werden kann, so vermag auch keine Macht der Erde ein einmal entwickeltes Recht auf die primitive Form des Rechtsgefühls zurückzuführen, es dem Laien zurückzugeben, und das Urtheil desselben über ein solches Recht ist darum um nichts competenter, daß es eine Zeit gab, wo auch ihm ein solches in der That zustand.“ 70 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 321. 71 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 321. Siehe auch ders., Unsere Aufgabe, 1857, S. 51: „Dies ist der wahre Weg, um das Uebergewicht des römischen Rechts moralisch zu brechen, während alle Appellationen an das nationale Gefühl, so lange der Jurist noch juristische Speise verlangt und sich nicht lediglich mit dem bloßen rohen Rechtsstoff oder mit Rechtsgeschichte abfinden läßt, wirkungslos bleiben werden.“ 72 Detailliert A. II. 2. Hier bestärkte Jhering mit seiner modifizierten naturhistorischen Methode eine gefühlsfreie, naturwissenschaftlich-systematische logisch-rechtliche Denkweise. Vgl. ferner B. II. 3., III. 2. 69
II. Die Entwicklung des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs
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skeptischen, ablehnenden Assoziationen73 belegt, kündigt er (als eine Art Vorstufe) bereits hier die Modifikation seines im Folgenden positiv verwendeten Rechtsgefühlsbegriffs an. Schließlich gab Jhering seinem Rechtsgefühlsbegriff im letzten Geist-Band (III 1, 1865) einen neuen Inhalt: Als Folge seiner endgültigen Loslösung von den Lehren der Historischen Rechtsschule zog Jhering nun nicht nur äußerlich durch die Ablehnung eines nationalen Rechtsgefühls, sondern auch inhaltlich durch die Änderung des Sinngehalts seines Rechtsgefühlsbegriffs die Konsequenzen.74 „Wenn nun in diesem und so manchen andern Verhältnissen die Logik verlassen ist, welche Bewandniß wird es mit denjenigen haben, in denen sie befolgt ist? Ich denke, in beiden Fällen ganz dieselbe, nämlich das praktische Bedürfniß oder das Rechtsgefühl hat den Ausschlag gegeben, und die Logik hat sich gefügt.“ 75
Fortan verwendete Jhering die Begriffe „das praktische Bedürfniß“ und „Rechtsgefühl“ in einem Atemzuge.76 Hier klingt bereits ein richtungsweisendes Rechtsgefühl als eine Art Kontrollinstanz an.77 Sein Rechtsgefühlsbegriff war von nun an mehr praktisch-fortschrittlich gefärbt. Entsprechend forderte er von der Jurisprudenz den Lebenswirklichkeitsbezug bei der Umsetzung und Anwendung von Recht im Zuge seiner methodenkritischen Wende in seiner nicht selten polemischen Art: „Brechen wir den Bann, mit dem der Irrwahn uns gefangen hält. [. . .] Jener ganze Cultus des Logischen, der die Jurisprudenz zu einer Mathematik des Rechts hinaufzuschrauben gedenkt, ist eine Verirrung und beruht auf einer Verkennung des Wesens des Rechts. Das Leben ist nicht der Begriffe, sondern die Begriffe sind des Lebens wegen da. Nicht was die Logik, sondern was das Leben, der Verkehr, das Rechtsgefühl postulirt, hat zu geschehen, möge es logisch nothwendig oder unmöglich sein.“ 78 73
U. a. Jhering, Geist II 1, 1854, S. 32: „die Herrrschaft des Gefühls im Recht zu brechen“, siehe auch A. I. 2. ,Überwindung der Volksgeistlehre‘. 74 Eingehend A. I., II. 3. So führte er insb. in Geist III 1 (1865) seine Kritik an der Passivität der Historischen Rechtsschule fort: „Fort also mit jenem Wahn, daß es eine Zeit gegeben [. . .], wo das Recht, wie eine schöne Blume des Feldes wild aufgewachsen auf dem gesegneten Boden des nationalen Rechtsgefühls, der pflegenden Hand des Menschen nicht bedurft hätte! Die Reflexion und Absicht hätten dasselbe freilich nie schaffen können, so wenig wie es der Gärtner bei der Blume kann, allein, was sie können und von jeher gethan haben, ist: es pflegen, begießen, beschneiden.“ [Jhering, Geist III 1, 1865, S. 6 f.]. 75 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 304 f. 76 Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 549. 77 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 304 f.: „[D]as praktische Bedürfnis oder das Rechtsgefühl hat den Ausschlag gegeben, und die Logik hat sich gefügt.“ 78 Jhering, Geist III 1, 1865, S. 302 f. Siehe auch Jhering, Brief an Windscheid v. 18. April 1865, Ehrenberg-Briefe, 1913, S. 176: „Du hast vollkommen recht, wenn Du die Thatsachen des Rechtslebens [. . .] als verbindlich für die Jurisprudenz aufstellst; gegenüber dem, was das Leben verlangt, kann keine angebliche Logik des Rechts aufkommen, und für den Verkehr ist es vollkommen gleichgültig, ob der Jurist die Anforderungen desselben konstruieren kann oder nicht.“
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So kann resümiert werden, dass Jhering in seinem zweiten Geist-Band (seit 1854) dem nationalen Rechtsgefühl (auf abstrakter Ebene) noch die Bedeutung des ursprünglichen Rechtsentstehungsgrundes im Sinne der nativistischen Volksgeistlehre der Historischen Rechtsschule beimisst.79 Die Untersuchung des Jheringschen Rechtsgefühls zeigte zunächst Jherings Abkehr von der herrschende Lehre der Rechtsentstehung aus dem mystischen „Volksgeist“ der Historischen Rechtsschule auf, woraus bald konsequent die Negation seines Rechtsgefühlsbegriffs resultierte.80 In seinem dritten Geist-Band (1865) lässt sich bei Jhering als Folge seines zunehmend progressiven Rechtsdenkens erstmals eine neue Intention und damit ein neuer Begriffsinhalt seines Rechtsgefühls nachweisen.81 Praktische Bedürfnisse sollten fortan bei der Bildung von Recht miteinbezogen werden. Diese neue Entwicklung Jherings fügt sich in den Kontext des allgemeinen Rechtsfortschritts des 19. Jahrhunderts. Gesellschaft und Recht sahen sich insbesondere konfrontiert mit den Herausforderungen der Industriellen Revolution und ihrer Folgen. Auch das Recht verfolgte die volle Durchsetzung des revolutionären Gedankens der Aufklärung von Freiheit und Gleichheit aller Menschen im Gemeinwesen. Von diesem das objektive Recht betreffende Rechtsgefühl ist das im ersten Geist-Band (seit 1852) beschriebene, später insbesondere in seinem ,Kampf um’s Recht‘ statuierte Rechtgefühl in Bezug auf das subjektive Recht zu unterscheiden, welches als die praktische, tatkräftige Seite von Geburt an im Menschen verankert ist.82 Jhering vertritt diese affektive Seite des Rechtsgefühls zeitlebens als eine von zwei unterschiedlichen Ausprägungen seines Rechtsgefühlsbegriffs.83 2. Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? „Aber welche Verblendung gehört dazu, um zu glauben, daß die Wahrheit, deren Schauplatz das praktische Leben ist, nicht in dem Leben selber, sondern in dem Gehirn des Gelehrten zu suchen sei, daß nicht der Denker, wenn er sie finden will, das Leben, sondern das Leben den Denker aufzusuchen habe.“ 84 79 Vor allem Puchta, Gewohnheitsrecht I, 1828, S. 138, 144, 147. Nach Zitelmann sei der „Volksgeist nicht ein erzeugender Faktor über der Volksüberzeugung“, sondern „lediglich der Träger dieser Ueberzeugung; spricht man vom Volksgeist in Bezug auf rechtliche Dinge, so meint man nichts Anderes als eben die rechtliche Ueberzeugung selbst.“ [ders., Gewohnheitsrecht und Irrthum, 1883, S. 426 f.]. 80 Vgl. bereits A. I. 2. 81 Vgl. A. II.; B. III. 2., 3. 82 Jhering, Geist I, 1852, S. 102, 104; 2. Aufl., 1866, S. 106; ders., Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 47. 83 Vgl. E. III. 1. Seine Notizen aus dem Göttinger Nachlass belegen, dass ein zweiter Teil seines dritten Geist-Band geplant war, welcher jedoch nie veröffentlicht wurde. Vieles spricht für die (teilweise) Umsetzung in seiner im Jahre 1872 erschienenen Schrift ,Kampf um’s Recht‘, vgl. Jhering, Nachlass SUB Göttingen, Cod. Ms. Jhering 19:1 (2), Bl. 3 ff. (§ 62, S. 1–12; §§ 63 ff.), 19:2 (§ 62, S. 13–46), 8:8.
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Jherings Wiener Antrittsvorlesung ,Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft‘ vom 16. Oktober 1868 gehört zwar nicht zu den Hauptlektüren für die Forschung über das Jheringsche Rechtsgefühl, jedoch bildet sie eine der Grundlagen für sein progressives Rechtsverständnis und bestätigt ein das Recht kontrollierendes Rechtsgefühl. Die Hauptintention liegt auch in diesem Werk in der Betonung der menschlichen Tatkraft und der „Noth des Lebens“ bei der Entstehung von Recht.85 In erster Linie lehnte Jhering die Lehren des Naturrechts ab. Das Recht sei menschengemacht, nicht etwas von oben Gegebenes, sondern auf der Erfahrung der Menschen basierend und historisch wandelbar. Nicht das „reine aprioristische Denken“ und „die philosophische Speculation“, sondern das menschliche Gewissen und das praktische Bedürfnis seien die letzten Quellen des Rechts.86 Den Begriff des Rechtsgefühls verwendet er dabei nur vereinzelt. Doch ist das Rechtsgefühl in seiner Anwendung bereits richtungsweisend: Insbesondere hebt Jhering mit dem kontrollierenden Rechtsgefühl des Richters die funktionale Ebene des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs und damit die konkrete, praktische Anwendungsebene hervor.87 „Der praktische Fall zeigte mir den Rechtssatz in einem ganz anderen Licht, von einer ganz anderen Seite, als ich ihn bisher zu betrachten gewohnt gewesen war.“
Jhering war seither damit vertraut, die Rechtsnorm „im ruhenden Zustande“ zu betrachten und sich ausschließlich „auf die Prüfung seiner quellenmäßigen Legitimation“ zu beschränken. Nun präsentierte der praktische Fall sich ihm „in seiner Bewegung, in seiner Einwirkung auf das Leben“. Jhering begann bei der Bearbeitung seiner praktischen Rechtsfälle ein aufgrund formaler Deduktion abgeleitetes Resultat zu überdenken, wenn das individuelle, ausgebildete Rechtsgefühl des Richters mit diesem im Widerspruch stand.88 So verarbeitete er hier letztlich seine Erkenntnisse über das praktische Rechtsgefühl aus seinen Fallstudien.89
84 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 66. Schon 1844 in der Literarischen Zeitung postulierte Jhering: „Sie [die Jurisprudenz der Gegenwart] soll also nicht in vornehmer Abgeschlossenheit blos geweihten Ohren predigen, zufrieden damit, den Zusammenhang des Rechts mit dem Volke für die Vergangenheit nachgewiesen zu haben, sondern auf den Markt des Lebens und in die Arena der Tageskämpfe treten.“ [ders., Die Stellung der Jurisprudenz zur Gegenwart, LZ 1844, Nr. 7, Sp. 101–105, 103. Zum Nachweis der Verfasserschaft Jherings Kunze, Universalrechtsgeschichte, 1991, S. 152 Fn. 15 bei Mecke, Jhering, 2018, S. 211 Fn. 984]. 85 Jhering, Geist I, 1852, S. 229. 86 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 66. 87 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 66 f.; hierzu eingehend C. IV. 88 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 85 f. Dazu Mecke, Jhering, 2018, S. 347 f. 89 Vgl. vertiefende Ausführungen in C. II.–IV.
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D. Analyse des Rechtsgefühls in Jherings wissenschaftlichem Gesamtwerk
3. Der Kampf um’s Recht „Was der Flamme die freie Luft, ist dem Rechtsgefühl die Freiheit der That; ihm dieselbe verwehren oder verkümmern, heisst es ersticken“ 90, verfasste Jhering metaphorisch in seiner prominenten Schrift ,Kampf um’s Recht‘ im Jahre 1872.91 Die Bedeutung des Rechtsgefühls in Jherings ,Kampf um’s Recht‘ wird vordergründig als ein subjektives, persönliches Gefühl wie bereits in ,Geist I‘ eingeordnet.92 Nach Radbruch ist Jherings Kampf ums Recht „die sittliche Pflicht; die Triebkraft dieses Kampfes ist das Rechtsgefühl“.93 Jherings ,Kampf um’s Recht‘ appellierte in erster Linie an die „praktische Bethätigung des Rechtsgefühles, die moralische und praktische Reaction gegen eine schnöde Missachtung des Rechtsgefühles“.94 Dabei differenzierte er zwischen der abstrakten und der konkreten Rechtsebene: „Nach der ersten Richtung ist es der Kampf, der die Entstehung, Bildung, den Fortschritt des abstracten Rechts in der Geschichte begleitet, nach der zweiten ist es der Kampf um die Verwirklichung der concreten Rechte.“ 95
Der Schwerpunkt lag im ,Kampf um’s Recht‘ überwiegend in der zweiten Richtung, in der Verwirklichung und Behauptung der subjektiven Rechte.96 Jhering verstand das Rechtsgefühl hier als Handlungsmotivation, als ein individuell-subjektives Gefühl.97 Der Zweck seiner Schrift war „weniger darauf gerichtet, die wissenschaftliche [theoretische] Erkenntnis des Rechts als diejenige Gesinnung zu fördern, aus der dasselbe seine letzte Kraft schöpfen muss: die der mutigen und standhaften Behauptung des Rechtsgefühls“.98 90 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 78 f.; ferner ebd., S. 8 f.: „Alles Recht in der Welt ist erstritten worden, jeder Rechtssatz, der da gilt, hat er denen, die sich ihm widersetzten, abgerungen werden müssen, und jedes Recht, das Recht eines Volkes, wie das den Einzelnen, setzt die stetige Bereitschaft zu seiner Behauptung voraus.“ 91 Zahlreiche Veröffentlichungen und Auflagen; ferner Vorarbeiten und Rechtsgutachten aus dem Jheringschen Nachlass, SUB Göttingen, Cod. Ms. Jhering 10:2, Streit mit seinem Dienstmädchen Caroline Kuhl; ferner Cod. Ms. Jhering 8:8, ursprünglich Vorarbeiten für Geist III 2 in den 50/60ern, große inhaltliche Übereinstimmung, höchstwahrscheinlich als ,Kampf um’s Recht‘ veröffentlicht. 92 Vgl. D. II. 1. 93 Radbruch, Rechtsgefühl, 1914/15, S. 424 f. Vgl. auch Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 97. 94 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 9. 95 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 11 f. 96 Vgl. jüngst Vesco, Erfindung, 2021, S. 62 f. 97 In Kontrast zu der intellektuellen Funktion im Sinne einer Urteilskraft und dem idealistisch- rechtsprogressiv funktionierenden Rechtsgefühl auf der abstrakten, objektiven Rechtsebene, vgl. Jherings ,Zweck‘, ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘, ,Entwicklungsgeschichte‘ in D. II. 4.–6. und E. III. 2., 3., V.
II. Die Entwicklung des Jheringschen Rechtsgefühlsbegriffs
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Auch auf abstrakter Ebene, entsprechend der ersten Richtung, hielt Jhering das Recht nicht für eine „still wirkende Kraft der Wahrheit“ 99 im Sinne einer „organischen Entwicklung von Innen heraus“.100 Das Recht bilde sich vielmehr aus „mühevoller, unablässiger Arbeit“ der in einer Gesellschaft lebenden Individuen.101 Jhering opponierte gegen die Historische Rechtsschule, wenn er ihr vorwarf, dass sie „eben so gut die romantische genannt werden könnte“.102 In Jherings Konzeption trägt das Rechtsgefühl die Aufforderung mit sich, das Recht aktiv mit zu gestalten. „Reizbarkeit, dh. Fähigkeit, den Schmerz der Rechtskränkung zu empfinden, und Tatkraft, dh. der Mut und die Entschlossenheit, den Angriff zurückzuweisen“ sind nach Jhering die zwei Eigenschaften eines „gesunden“ Rechtsgefühls“.103 Das Recht kann sich nur in der Gesellschaft entwickeln, wenn es „gefühlt“ wird, als Leitfaden für individuelles Handeln.104 Dem Rechtsgefühl kommt dabei die Funktion eines Katalysators in der Rechtswelt zu, nach Schnädelbach als „Verteidigungsinstrument und gleichzeitig Implementationsinstrument des Rechts“, wenn es das „physische und psychische Signal zur Aktion“ beiträgt.105 Ferner ist nach Jhering „das Interesse unseres Kampfes“ nicht auf das Individuum, den privaten Bereich begrenzt, es erstrecke sich darüber hinaus auch auf das Kollektiv. Eine Nation sei schließlich „nur die Summe aller einzelnen Individuen, und wie die einzelnen Individuen fühlen, denken, handeln, so fühlt, denkt, handelt die Nation“.106 Auf diese Weise wollte er vor allem zeigen, dass das kollektive Rechtsgefühl des Volkes bei der Geltendmachung von Rechten nicht weniger bedeutsam ist: „In dem gesunden, kräftigen Rechtsgefühl jedes Einzelnen besitzt der Staat die sicherste Garantie seines eigenen Bestehens nach Innen wie nach Aussen; das Rechtsgefühl ist die Wurzel des ganzen Baumes [. . .].“ 107
98 Jhering, Kampf, 4. Aufl., 1874, S. V. Jhering beurteilt seinen Vortrag als „ethischpraktischen“. 99 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 12. 100 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 13. 101 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 11; dazu insb. Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2015, S. 53; Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 65 f.; Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 62. 102 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 18. Vgl. bereits im Zuge Jherings Abkehr von der Historischen Rechtsschule A. I. 2. 103 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 47. 104 Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2015, S. 53. Wie schon die im ,Geist I‘ (1852) hervorgehobene persönliche Tatkraft. 105 Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2017, S. 103. Vgl. dazu jüngst ausführlich dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 76 ff. 106 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 72. 107 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 75 f.
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Dabei greift Jhering, wie es damals üblich war, konsequent auf Modelle aus den Naturwissenschaften zurück.108 Insgesamt zeigt die Jurisprudenz des 19. Jahrhunderts eine „Tendenz zur Aneignung dieser Art von Transferwissen“.109 Die Kategorie der Emotionen wurde allmählich zu einer somatischen Kategorie.110 Diese Verschiebung wird auch bei Jhering deutlich sichtbar, wenn er das Rechtsgefühl in seiner Schrift ,Kampf um’s Recht‘ in biologischer Hinsicht definiert. Das Rechtsgefühl drücke sich durch ein „Gefühl des Schmerzes“ 111 aus, das als Ersatz für geistiges Wissen dienen kann. Es ist eine Art körperliches Wissen; ein „Bauchgefühl“.112 Entsprechend stellte Jhering den biologischen Bezug her: „Was weiss das Volk von der Niere, Lunge, Leber als Bedingungen des physischen Lebens? Aber den Stich in der Lunge, den Schmerz in der Niere oder Leber empfindet Jeder, ohne dass er zu wissen braucht, worauf er beruht. Der physische Schmerz ist das Signal einer Störung im Organismus [. . .]. Ganz dasselbe gilt von dem moralischen Schmerz, den das absichtliche Unrecht, die Willkühr verursacht.“ 113
So statuierte Jhering „die Pathologie des Rechtsgefühls“.114 Bei der Charakterisierung des Rechtsgefühls verwendete er die Begriffe „gesund“ und „kräftig“, andererseits „abgestumpft“ und „apathisch“,115 um seine affektive Funktion zu beschreiben.116 Seiner Einschätzung zufolge kann das individuelle Rechtsgefühl verkümmern und muss daher stets trainiert werden.117 Diese Energie des subjektiven Rechtsgefühls muss demnach als Ausdruck des engen Zusammenhangs zwischen dem Rechtsgefühl und dem Persönlichkeitsgefühl des Individuums verstanden werden.118 Als Gefühlsreaktion auf eine stattgefundene Rechtsverletzung 108 Vgl. Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2015, S. 54; jüngst dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 77. 109 Treiber, Physiologie des Rechts, 1998, S. 173; vgl. ausführlich B. III. 2. 110 Hitzer, Gefühle, 2011, S. 135. Ferner dies., Emotionsgeschichte, 2011, et passim. 111 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 35. 112 Vgl. Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2015, S. 54; jüngst dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 76–82. 113 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 34 f. 114 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 45. 115 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 84, 77 f. 116 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 45 f. 117 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 78 f.; dazu auch Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2015, S. 55. 118 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 8:8, Bl. 39: „[E]s ist der Stachel, den sie [die Geschichte] ihm tief ins Herz hinein treibt, damit er gegen das Unrecht reagire. Das ist die ideale Seite, das ideale Moment des Rechts, und wenn wir dasselbe oben vorläufig als Liebe oder Behauptung des Rechts um seiner selbst willen bezeichneten, so können wir statt dessen jetzt präciser sagen: um der Persönlichkeit willen, und zu dem Satz ,wer sein Recht giebt das Recht Preis‘ noch hinzufügen ,und seine Persönlichkeit‘.“ [Unterstreichungen im Original nicht übernommen]; Coing, Grundsätze, 1947, S. 23.
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sei das Rechtsgefühl nach Schild „nur unmittelbar und daher in der Nähe zu Emotionen und Affekt“ als „natürliches (,instinktives‘) Gefühl“ einzuordnen.119 Jhering wählte in seiner Schrift ,Kampf um’s Recht‘ derartige persönlich und emotional motivierte Beispiele, um die zentrale Bedeutung der Handlungsmotivation im Sinne der praktischen Funktion des Rechtsgefühls herauszustellen. Entsprechend verwendete Jhering die Begriffe „Rechtsgefühl“, „Persönlichkeit“, „Person“ und „Charakter“ synonym.120 So formulierte Jhering eindrucksvoll die „Charakterfrage“ 121: „[D]as Verhalten eines Menschen oder Volkes Angesichts einer Rechtskränkung ist der sicherste Prüfstein seines Charakters. [. . .] die volle, in sich ruhende, sich selbst behauptende Persönlichkeit [. . .].“ 122
Dabei betonte Jhering, dass die Verletzungen der Rechte und somit auch das Rechtsgefühl verschiedenartig sein können und dass jeder Einzelne die grundlegenden moralischen Bedingungen seiner Existenz befürworte. So würde der Bauer sein Eigentum verteidigen, der Offizier seine Ehre, der Kaufmann seinen Kredit.123 Somit vertritt Jhering hier einen subjektiven, individuellen Rechtsgefühlsbegriff. Jherings ,Kampf um’s Recht‘ ist unter anderem inspiriert durch Kleists Michael Kohlhaas, den er als „Märtyrer seines Rechtsgefühls“ 124 darstellte. Ganz im Sinne der Literatur und Dichtung um 1800 vertrat Jhering ein stark subjektives Rechtsgefühl, deren Schwerpunkt im Individualgefühl im Kontext der sog. romantischen Subjektivitätsverherrlichung wie etwa bei Protagonisten Kohlhaas liegt.125 Kleists Novelle handelt von Michael Kohlhaas, einem einfachen Bürger, der von einem Adligen um zwei Pferde betrogen wird und daraufhin durch einen eigenen Bruch der Gesetze das Recht wiederherstellen will.126 In dem Maße, wie Kohlhaas die Verteidigung seines Rechts selbst in die Hand nimmt, verabsolutiert sich sein Rechtsgefühl; es kennt keine Hemmung, keine Selbstbeschränkung mehr. Zwar ist Kohlhaas tatsächlich Unrecht geschehen, doch die Absolutheit seines Rechtsgefühls führt ihrerseits zu Unrecht und Unmenschlichkeit.127 119
Schild, Kampf, 1995, S. 50 f. Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 26, 48 f. 121 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 26. 122 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 48 f. 123 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 37; dazu insb. Seagle, Jhering, 1945, p. 82; McLaughlin, Unification, 1993, p. 281. 124 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 69. 125 Vgl. eingehend B. II. 1. – ,Rechtsgefühl in der schönen Literatur und Dichtung‘. Vgl. ferner Jherings Verweis auf Shylok in Shakespeares ,Kaufmann von Venedig‘ (1596), dazu insb. Klenner, Kampf, 1992, S. 168–172; schon Pietscher, Jurist und Dichter, 1881, et passim; Kohler, Shakespeare, 1883, et passim. 126 Vgl. Kleist, Kohlhaas, 1810, S. 7–122. 127 Duxbury, Jhering, 2007, S. 44–46. 120
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Die Quintessenz, die Jhering aus Kleists Novelle zieht, ist sein Appell an die Pflicht der Selbstbehauptung, die „Thatkraft seines ächten, gesunden Rechtsgefühls“ 128, wenn das Recht des Einzelnen verletzt ist.129 In Gerichtsprozessen sei weniger das „geringfügige Streitobjekt“, sondern die Behauptung der Person und ihres Rechtsgefühls essentiell.130 Entsprechend bekräftigte Jhering: „In dem Recht besitzt und vertheidigt der Mensch seine moralische Existenzbedingung – ohne das Recht sinkt er auf die Stufe des Thieres herab [. . .] In der Novelle: Michael Kohlhaas von Heinrich von Kleist [. . .] lässt der Dichter seinen Helden sagen: ,Lieber ein Hund sein, wenn ich von Füssen getreten werden soll, als ein Mensch!‘ “ 131
Diese Macht des Subjektiven, das höchst emotionale, leidenschaftliche Gefühl wird insbesondere in Jherings Rechtsstreit mit seinem Dienstmädchen deutlich. Anhand seines eigenen Rechtsstreits mit seinem Dienstmädchen wurde bewiesen, dass sich die Rationalität oft an die Emotionen verliert.132 Das Rechtsgefühl im Sinne seines ,Kampf um’s Recht‘ bezieht sich auf Rechtsverletzungen, die sich unrichtig „anfühlen“, unabhängig davon, ob das Gesetz mit dem Gefühl übereinstimmt.133 Entsprechend statuierte Jhering: „[D]er Kampf um’s Recht ist in Wirklichkeit die Poesie des Charakters.“ 134
Letztlich hat das subjektive, individuelle Rechtsgefühl für Jhering eine unersetzliche Funktion, das Recht zu realisieren. Nach Jhering könne es ohne emotionale Bindung kein Recht geben. Ohne dieses Gefühl wäre die Rationalität selbstsüchtig135: „[D]ie Kraft des Rechts ruht im Gefühl, ganz so wie die der Liebe; der Verstand kann das mangelnde Gefühl nicht ersetzen.“ 136
128
Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 68. Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 25 f. Anhand des Falles ,Kohlhaas‘ macht Jhering deutlich, dass „Rechtsgefühl“ und „Interesse“ nicht wesensgleich sind; das Rechtsgefühl könne jedoch das Interesse durchsetzen [ebd., S. 26: „Nicht das Interesse ist es, das den Verletzten antreibt, den Process zu erheben, sondern der moralische Schmerz über das erlittene Unrecht.“]. Ähnlich ebd., S. 30 f. Vgl. Duxbury, Jhering, 2007, S. 45. 130 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 25. Ferner ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 8:8, Bl. 33 f. 131 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 27 f. 132 Vgl. eingehend zum Rechtsstreit mit seinem Dienstmädchen Caroline Kuhl C. II. 5. b). 133 Duxbury, Jhering, 2007, S. 46. 134 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 45. 135 Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2015, p. 55; vgl. ausführlich jüngst dies., Entscheidende Gefühle, 2020, S. 76 ff. 136 Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 46: „richtiges Gefühl von der sittlichen Verpflichtung, die das Recht ihm auferlegt, es zu behaupten“. 129
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Schließlich konstatierte Jhering in seinem ,Kampf um’s Recht‘ ein idealistisches Rechtsgefühl in Perfektion.137 Neben dem Gefühl der eigenen Rechtskränkung, dem individuell-affektiven Rechtsgefühl, existiert bei Jhering dasselbe verstanden als Handlungsmotivation auf höherer, abstrakt-philosophischer Ebene: ein vorbildliches und vollkommenes Rechtsgefühl, welches uneingeschränkt in der „sittlichen Macht der Rechtsidee“ über der menschlichen Psyche existiert138: „Muth und Idealismus sind die Kriterien des gesunden Rechtsgefühls, der Muth, welcher für das Recht in die Schranken tritt, u der Idealismus, welcher den Werth des Rechts [. . .] für die Gesellschaft, welcher [. . .] die Idee des Rechts, die sociale Bestimmung desselben vor Augen hat. Der Idealismus des Rechtsgefühls besteht nicht in der Abwesenheit, der Überwindung des Egoismus, sondern er beruht auf der Weitsichtigkeit desselben. [. . .] Die Idee, daß das Recht eine antireale That sei, von der jeder zu seinem Theil u in seiner Sphäre mitzuwirken hat [. . .], daß das Recht nicht bloß Recht, sondern wenn es in frecher Weise mit Füßen getreten, zugleich Pflicht sei – diese Idee, deren Wahrheit jedes Volk u Individuum von gesundem kräftigen Rechtsgefühl fühlt u bewährt [. . .].“ 139 „[E]s ist der Protest der kräftigen sittlichen Natur gegen den Frevel am Recht, das schönste und erhabenste Zeugnis, welches das Rechtsgefühl von sich selber ablegen kann – ein sittlicher Vorgang, gleich anziehend und ergiebig für die Betrachtung des Psychologen wie für die Gestaltungskraft des Dichters.“ 140
4. Der Zweck im Recht Mit dem neuen Zugang zu seinem Rechtsgefühlsbegriffs seit Ende der 50er Jahre, angetrieben insbesondere durch die Erstellung seiner spruchrichterlichen Rechtsgutachten, veränderte sich zunehmend auch Jherings Auffassung von der Entstehung des Rechts (in Abkehr zu der Volksgeistlehre der Historischen Rechtsschule).141 Insbesondere das Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl bildet ein zentrales Thema seines Spätwerkes ,Zweck im Recht‘.142 In seinem ersten Band im Jahre 1877 bestärkte Jhering im Kontext der Verwirklichung konkret-subjektiver Rechte zunächst erneut die Wirkmacht des nationalen Rechtsgefühls aus entwicklungsgeschichtlicher Sicht: „Die Ausbildung einer solchen Kraft ist aber Sache der That, und zwar nicht eines einzelnen Individuums oder einer einzelnen Zeit, sondern der ganzen Nation und langer geschichtlicher Uebung, sie ist mithin in der Despotie eben so undenkbar, wie das Wachsthum der Eiche auf nacktem Felsen – es fehlt der Untergrund.“ 143 137
Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 8:8, Bl. 1. Parallelgehend zum „sittlichen Gefühl“ in Überleitung zu seinem auf die objektive Ebene des Rechts bezogenen Zweckbegriff im Recht vgl. Jhering, Zweck II, 1883, Vorrede, S. X. 139 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Bl. 39. 140 Jhering, Kampf, 1872, Ermacora-Ausgabe, S. 112 f. 141 Vgl. bereits seine methodischen Entwicklungen in ,Geist‘ D. II. 1. 142 Haferkamp, Dogmatisierungsprozesse, 2011, S. 271. 143 Jhering, Zweck I, 1877, S. 342 f. 138
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Im Mittelpunkt seiner Überlegungen standen nun der Staat und die Gesellschaft.144 Bei Jhering beruhte auf „der moralischen Kraft des nationalen Gefühles [. . .] in letzter Instanz die ganze Sicherheit des Rechtes“.145 In psychologischem Sinne könne man das Recht definieren als „Sicherheitsgefühl im Staate“.146 In seinem Wunsch nach einem nationalen Rechtsgefühl, gleich dem gesunden Menschenverstand des Volkes, liegt die Forderung nach einer nationalen Kodifikation begründet. Nach Jhering sollte die Jurisprudenz ein „praxistaugliches, nationales Zivilrecht“ erschaffen.147 Insbesondere im ,Zweck‘ muss bei der Einordnung des Jheringschen Rechtsgefühls die subjektiv-konkrete stets von der objektiv-abstrakten Rechtsebene differenziert werden. So führte Jhering in den unveröffentlichten Zeilen seiner Vorarbeiten zum ,Zweck‘ die beiden Komponenten seines Rechtsbegriffs in der Beschreibung des „antirealen“ 148 Rechtsgefühls zusammen: „[D]as Rechtsgefühl ist die durch die praktische Gewöhnung an das Recht, also durch das thatsächliche Bestehen der Rechtsordnung hervorrufen[d]e Überzeugung von der Festigkeit u[nd] Unerschütterlichkeit des objectiven Rechts u[nd] die da-
144 Jhering, Zweck I, 1877, S. 416 f.: „Das natürliche Gefühl gibt Jedem die Entscheidung an die Hand, es kommt aber darauf an, sie wissenschaftlich zu rechtfertigen. Die Rechtfertigung liegt in dem Gesichtspunkt, dass das Recht nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck ist. Endzweck des Staats wie des Rechts ist die Herstellung und Sicherung der Lebensbedingungen der Gesellschaft [. . .] – das Recht ist der Gesellschaft, nicht die Gesellschaft des Rechts wegen da.“ 145 Jhering, Zweck I, 1877, S. 297. Ferner ebd., S. 373: „Die Kraft und das Ansehen der Gesetze steht überall auf gleichem Niveau mit der moralischen Kraft des Rechtsgefühls – ein lahmes nationales Rechtsgefühl ein unsicheres Recht, ein gesundes kräftiges nationales Rechtsgefühl ein sicheres Recht, die Sicherheit des Rechts ist überall das eigene Werk des Volkes, sie ist ein Gut, das die Geschichte keinem Volke schenkt, sondern das von jedem ein mühsamem Ringen, nicht selten mit blutiger That erworben werden muss.“ 146 Jhering, Zweck I, 1877, S. 301; ebd., S. 371 f.: „Nur da, wo das nationale Rechtsgefühl sich zu einer unwiderstehlichen Macht emporgeschwungen hat, ist das Recht gegen jeden Versuch der Bedrohung gesichert, auf dieser Garantie beruht in letzter Instanz jede Sicherheit des Rechts. Nicht auf der Verfassung [. . .] es läßt sich keine denken, welche die Staatsgewalt factisch der Möglichkeit beraubte, das Gesetz mit Füßen zu treten [. . .] Was ihr [sc. der Staatsgewalt] imponiert, ist lediglich die reale Kraft, die hinter dem Gesetz steht, ein Volk, das in dem Recht die Bedingung seines Daseins erkennt und die Verletzung desselben als eine tödtliche Verletzung seiner selbst empfindet, ein Volk, von dem zu gewärtigen ist, daß es äußerstenfalls für sein Recht in die Schranken tritt.“ Ders., Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 381: „Auf der moralischen Macht des nationalen Rechtsgefühls beruht in letzter Instanz die ganze Sicherheit des Rechts.“ 147 Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 316; ferner ders., Pandektistik und Gerichtspraxis, 2011, S. 201; ders., Dogmatisierungsprozesse, 2011, S. 259 ff. 148 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Bl. 35: „Die moralische Macht des Gesetzes ist die Energie des antirealen Rechtsgefühls, d. h. die in jedem Einzelnen lebendige Überzeugung, daß die Achtung des Gesetzes von Seiten der Staatsgewalt die unerlässliche Lebensbedingung der Gesellschaft bildet, daß jeder nicht bloß ein Recht darauf hat, daß es in der Person anderer zum Vollzug gelange.“
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durch wieder erst ermöglichte Willensenergie in Beziehung der Behauptung des eigenen Rechts.“ 149
„Antirealistisch“ bedeutet, dass es keine objektiven Werte jenseits subjektiver Wertvorstellungen geben kann; von Objektivität könne man nur sprechen, wenn etwas wahrgenommen wird.150 Übertragen auf das Recht heißt das bei Jhering: keine Existenz des objektiv-abstrakten und subjektiv-konkreten Rechts ohne ein begleitendes subjektives Rechtsgefühl und umgekehrt. Entsprechend findet bei Jhering mit den Worten Hebeisens eine „,Transsubstant[i]ation‘ der positiven Rechtssätze in den Geist des Rechts“, also eine dem Rechtssystem übergeordnete Ordnung, statt, „vermittels der ,intellektuellen Verdauungskraft‘ des Juristen“.151 Ein gesundes, ausgebildetes Rechtsgefühl macht Jhering als wichtiges Bindeglied zwischen dem objektiven und subjektiven Recht aus. Während das Rechtsgefühl auf der subjektiv-konkreten Rechtsebene in jedem Menschen als Keim vorhanden, mithin angeboren ist,152 ist Jhering in Bezug auf das abstrakt-objektive Recht bald der Auffassung, dass alles, was dem „Rechtsgefühl entspringt, [. . .] nur ein historischer Stoff“ sei.153 Das Rechtsgefühl habe sich hingegen erst in einem zweiten Schritt durch bewusste oder unbewusste Abstraktion des ausschließlich durch zweckmäßige Gründe geschaffenen geltenden Rechts entwickelt. Nach seiner Etablierung im Gemeingut der Völker kann es nun auf die Fortbildung des Rechts erheblichen Einfluss ausüben.154
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Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Bl. 36. Blume, „Erkenntnistheorie“, UTB Online-Wörterbuch der Philosophie, 2003 [abgerufen am 18.10.2017]. 151 Hebeisen, Recht und Staat I, 2004, S. 132: als „systematischen Angelpunkt zwischen dem institutionellen und dem teleologischen Moment der Rechtsauffassung (Konstruktion, Zweckdenken)“. Klenner, Kampf, 1992, S. 137 unter Hinweis auf Jhering, Geist I, 1852, S. 42. 152 Dies hatte Jhering schon seit der fünfziger Jahre in ,Geist‘ und später auch in ,Kampf‘ begründet, wenn er auf individueller und nationaler Ebene von dem Rechtsgefühl als „der Energie der sich als Selbstzweck fühlenden Persönlichkeit, dem unwiderstehlichen Bedürfniss, zum Lebensgesetz gewordenen Trieb der rechtlichen Selbstbehauptung“ spricht [ders., Zweck I, 1877, S. 342; ders., Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 355]. 153 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:8, Manuskripte zum ersten Band ,Zweck im Recht‘, Einleitungsentwurf, Bl. 8. 154 Jhering, Zweck I, 1877, S. XIII; erstmals in Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 120: „uns bewußt zu werden, aus welchen Ideen und Anschauungen das Recht der historischen Zeit hervorgegangen ist“. Ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:12, Bl. 1 f.: „Allerdings nicht eine einfache Abspiegelung derselben, ein bloßes Cennen der einzelnen Rechtsätze, sondern eine in Form des Unbewussten vollzogene Erhebung derselben zu allgemeinen Grundsätzen, die ihrerseits nun, nachdem sie sich befestigt u bekräftigt haben u zum Gemeingut der Völker geworden sind, sich als Postulate des Rechtsgefühls dem Recht gegenüber stellen u Seitens der letzteren ihre Anerkennung verlangen. Zu diesem letzteren Sinn übt also auch das Rechtsgefühl einen Einfluß auf die Fortbildung des Rechts aus.“ Vgl. dazu Mecke, Jhering, 2018, S. 286. 150
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D. Analyse des Rechtsgefühls in Jherings wissenschaftlichem Gesamtwerk
„Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl, – das Recht kennt nur eine Quelle: den Zweck.“ 155
Dieses Zitat trifft daher vollständig nur für die Klärung der Frage nach der Entstehung des Rechtsgefühls bzw. Rechts in der Urzeit zu. Entsprechend stellte Jhering bereits in seinen unveröffentlichten Vorarbeiten zu seinem Werk ,Zweck‘ klar: „[D]as Recht geht dem Rechtsgefühl voraus, an der Bildung desselben hat letzteres ursprünglich garkeinen Antheil gehabt, sondern praktische Zwecke, die unabweisbaren Postulate des gesicherten gesellschaftlichen Zusammenseins, die Noth des Lebens sind es gewesen, denen dasselbe seinen Ursprung verdankt, das Rechtsgefühl aber ist nichts als das Product dieser Thatsächlichkeit des Rechts im menschlichen Geiste.“ 156
Das gegenwärtige, historische Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl hingegen erweist sich bei Jhering als ein wechselseitiges. Entsprechend kann das Rechtsgefühl, nachdem es einmal auf der Grundlage des Rechts entstanden, dem Recht auch voraus sein.157 Jhering postulierte vor allem mit und nach seinem Spätwerk ,Zweck‘ eine bis dahin beispiellos enge Wechselbeziehung zwischen Recht und Rechtsgefühl. Das Rechtsgefühl gedeihe nach Jhering nur in und am Recht.158 Das „objektive, tatsächlich verwirklichte Recht“ und das „subjektive“ 159 Rechtsgefühl, „beide auf derselben Höhe“, bedingen und stützen sich gegenseitig.160 In seinem zweiten Band im Jahre 1883 ist überwiegend nur noch von einem „sittlichen Gefühl“ die Rede.161 Das „Rechtsgefühl“ erwähnt Jhering nur noch
155 Jhering, Zweck I, 1877, Vorrede, S. XIII. In seinen Vorarbeiten ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:12, Bl. 11 f.: „Auf diesem Wege bin ich dahin gelangt, die einzige treibende Cunst des Rechts in dem praktischen Bedürfniß zu erblicken u mein Werk über den Zweck im Recht hat die Aufgabe, diese Ansicht, [. . .] zu begründen. Diese positive Behauptung schließt die negative in sich, daß die Natur dem Menschen keine besondere Ausstattung für das Recht mitgegeben hat [. . .]. Ich will nicht leugnen, daß ich erschrak, als ich mich zuerst dieser Consequenz klar bewusst, ich glaubte den Boden unter mir wanken zu fühlen, u sich einen Abgrund vor mir öffnen zu sehen, der das Höchste u Heiligste zu verschlingen drohte. Der Glaube an die Unerschütterlichkeit des Sittlichen u seine in Gott selber beschlossener Natur schien mir gesichert zu sein, denn mit dem angeborenen Rechtsgefühl müsste ich ja auch das angeborene Sittlichkeitsgefühl u das Gewissen opfern. Alles, das was die innere Stimme uns sagt, ist Menschenwerk [. . .].“ 156 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:12, Bl. 1 f. 157 Jhering, Zweck I, 1877, S. 369; ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 26 f. 158 Jhering, Zweck I, 1877, S. 369 f. 159 Jhering, Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 381. 160 Jhering, Zweck I, 1877, S. 371. 161 Jhering, Zweck II, 1883, Vorrede, S. X, S. 113; ders., Zweck II, 2. Aufl., 1886, S. 116: „Nach meiner Auffassung ist der Wille [sittliche] des Menschen von der Natur von vorn herein einheitlich angelegt. Der menschliche Wille, wie er aus den Händen der
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nebensächlich. Fortan bildet der Topos „Sittlichkeit“ den Schwerpunkt seines Vorhabens. Jhering vollzog eine bemerkenswerte Wendung zum Primat der objektiven Sittlichkeit. Das „Verhältnis der objectiven sittlichen Ordnung“, die nach Jhering das Recht, die Moral und die Sitte umfasste, und des „subjectiven sittlichen Gefühls“ kehrte sich schließlich um: Einhergehend mit dem neuen Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl162 stellt er nun auch die objektive sittliche Ordnung als Quelle des subjektiven sittlichen Gefühls dar, welches „nicht das historische Prius, sondern das Posterius der realen, durch den praktischen Zweck geschaffenen Welt“ 163 sei. So mündet die Forschung über das Jheringsche Rechtsgefühl am Ende in Jherings neuem Zweck- und Sittlichkeitsbegriff.164 Entsprechend seiner methodischen Verschiebung vom Subjektiven zum Objektiven165, der Zunahme des
Natur von allem Anfang an hervorgegangen ist und täglich neu hervorgeht, hat lediglich die Erhaltung und Behauptung des eigenen Ichs zum Zweck (Selbsterhaltungstrieb), es ist m. a. W. der nackte, dürre Egoismus, den die Natur dem Menschen eingepflanzt hat. Die Geschichte allein ist es, welche aus ihm die sittliche Gesinnung hervorbringt.“ 162 Jhering, Zweck I, 1877, Vorrede, S. XIII; vgl. Schema, Unterscheidung von „Das Sittliche“, „Sittlichkeitsgefühl“, „Gewissen“ und „Das Rechte“, „Rechtsgefühl“, „Juristischer Takt“, ders., Zweck II, 1883, S. 43, ferner S. 56. Jherings zweiter Zweck-Band (seit 1883) übernimmt zentrale Gedanken des Vortrags, siehe dazu Jhering Verweise in den Fußnoten seines Vortrags: Zweck II, 2. Aufl., 1886, S. 110 f. in Fn. 5 des Vortrags; ebd., S. 620 in Fn. 15; S. 223 ff. in Fn. 17; S. 215 ff. in Fn. 18; so auch Benedict, CiC, 2018, S. 43. Während in der ersten Auflage seines ersten Zweck-Bandes noch von einem „ausgeprägten ökonomischen Gerechtigkeitsgefühl“ [ders., Zweck I, 1877, S. 236] die Rede ist, spricht er in seiner überarbeiteten zweiten Auflage (1884) von einem „Rechtsgefühl“, „welches nicht das ökonomische, sondern das moralische Motiv, welches ihren Widerstand hervorruft“ umfasst [ders., Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 232]. 163 Jhering, Zweck II, 1883, Vorrede, S. X, ferner ebd.: „[U]nd erst, wenn dasselbe [. . .] sich gebildet hat, und wenn es zu Kräften gekommen ist, erhebt es seine Stimme, um dasjenige, was er in der Welt gelernt hat, an der Welt zu verwerthen, [. . .] es ist das Kind, das, wenn es herangewachsen, die Mutter nach ihren eigenen Lehren meistert.“; ders., Zweck I, 1877, S. 192: „Nicht der ethischen Überzeugung von seiner Hoheit und Majestät verdankt das Recht den Platz, den es in der heutigen Welt einnimmt, sie ist das endliche Resultat eines langen Entwicklungsprozesses, aber nicht der Beginn desselben. Der Beginn ist der nackte Egoismus, der erst im Laufe der Zeit der sittlichen Idee und der sittlichen Gesinnung Platz macht.“; ders., Recht und Sitte, 1924, et passim; ähnlich ders., Rechtsgefühl, 1884, S. 50. In diesem Sinne auch „Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl“ im Vorwort von Zweck I, 1877 – Zur Ablehnung der nativistischen Theorie vgl. Hebeisen, Recht und Staat I, 2004, S. 118 ff. 164 Jhering, Zweck II, 1883, Vorrede, S. XXII: „[N]och Niemand [habe] bisher die Fahne des ideal Sittlichen [. . .] auf so festem Grunde befestigt wie ich.“ Unter dem Ausdruck Sittlichkeit verstand Jhering die ethischen Hebel der sozialen Mechanik, das Pflichtgefühl und die Liebe, „jene die Prosa, diese die Poesie des sittlichen Geistes“ [ders., Zweck I, 1877, S. 96]. Vgl. dazu Walder, Gesellschaft, 1943, S. 83 ff. 165 Jhering, Zweck I, 1877, Vorrede, S. V: „[. . .] und das Recht im subjectiven Sinn drängte mich zu dem im objectiven Sinn [. . .].“
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Aspekts der Objektivität durch die Einführung seines Zweckbegriffs,166 wird deutlich, dass das Rechtsgefühl bei Jhering zunehmend an Bedeutung verlor und der „Zweck“ (Bd. 1) und die „objektive Sittlichkeit“ (Bd. 2) zum Schwerpunkt des Jheringschen Interesses wurde. Nach Jhering gibt es zwei „Garantien“ für das Recht: „die eine ist innerlicher, die andere äusserlicher Art, die eine ist das Rechtsgefühl, die andere die Rechtspflege“.167 Insbesondere in der zweiten Auflage von ,Zweck II‘ (1886) macht Jhering deutlich, dass das Rechtsgefühl immer subjektiv gefärbt ist i. S. e. Gefühls entsprechend „der subjectiven Aneignung der Regeln in Form des Unbewussten“.168 Die Umsetzung seines praktischen Motivs „Zweck“ bei der Rechtsentwicklung sollte fortan die beiden Kategorien Recht und Rechtsgefühl verbinden.169 Seine als ausgegliederten Bände seines Monumentalwerks ,Zweck‘ veröffentlichte Wiener Abschiedsvorlesung ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ und seine posthum veröffentliche ,Einleitung zur Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts‘ sollten das wechselseitige Verhältnis von Recht, Zweck und Rechtsgefühl konkretisieren. 5. Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles Jherings Vortrag ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ aus dem Jahre 1884 handelt vom ältesten Ursprung des Rechtsgefühls oder, anders formuliert, von der Entstehung des Rechtsgefühls in der Urzeit.170 „Diese Ansicht, dass das sittliche Gefühl oder Gewissen, oder wie man es nennen will, das Rechtsgefühl uns angeboren sei, beruht auf Täuschung: sie beruht darauf, dass wir die allmählige Bildung dieses Gefühles in uns nicht beobachten können.“ 171
166 In diesem Sinne vertrat Jhering die Auffassung, dass „überall das Letzte der Grund, der Zweck, [sei] und da öffne [. . .] sich der Wissenschaft eine unendliche Perspective“ [ders., Zweck I, 1877, S. 53]. 167 Jhering, Zweck I, 1877, S. 368. 168 Jhering, Zweck II, 2. Aufl., 1886, S. 44, S. 56: „Entsprechende Unterscheidung der subjectiven Immanenz dieser drei Seiten (Gefühl). Das Rechtsgefühl. Das Sittlichkeitsgefühl. Das Schicklichkeits- oder Anstandsgefühl.“ 169 Jhering, Zweck I, 1877, S. XIII: „[D]as Recht kennt nur eine Quelle, das ist die praktische des Zwecks.“; ferner ders., Zweck II, 1883, S. 113: „Ich habe damit meine Ansicht über den Ursprung und den Bildungsprocess des sittlichen Gefühls mitgetheilt, der Beweis derselben erfolgt im zweiten Theil des Werkes (Kap. I. Kritik des Rechtsgefühls).“ – in 2. Aufl., 1886 getilgt; da es zu einem geplanten dritten Band von ,Zweck im Recht‘ zu einer Theorie über das Rechtsgefühl nicht mehr kam; allerdings spricht vieles dafür, dass Jhering einen Teil dieses ursprünglichen Plan in seiner Abhandlung ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ im Jahr 1884 realisierte [ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:12]; vgl. ders., Zweck I, 2. Aufl., S. 256; dazu insb. Hebeisen, Recht und Staat I, 2004, S. 118 ff. 170 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 67 f. 171 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 42 f.
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Bahnbrechend war Jherings erst spät klar formulierte Abkehr von der nativistischen Theorie als der herrschenden Lehre der Historischen Rechtsschule, die ein ursprüngliches nationales Rechtsgefühl in Gestalt des Volksgeistes annahm. Jhering vertrat in Abgrenzung dazu ein wandelbares Rechtsgefühl, das er als historisches Produkt und Menschenwerk versteht.172 Jherings Abhandlung aus dem Jahre 1884 bildet eines der zentralen und wenigen Werke mit dem Rechtsgefühl als Topos. Es basiert auf einem stenographischen Protokoll und wurde lediglich in der Wiener Juristenzeitung veröffentlicht. Es ist Behrends Verdienst, dieses wichtige Werk ediert und seine „noch längst nicht erschöpfte [. . .] Bedeutung, die dem Text für die Interpretation der Rechtstheorie des reifen Jhering zukommt“ 173, herausgestellt zu haben. Als einleitende Frage formulierte Jhering in seinem Vortrag über die Entstehung des Rechtsgefühls: „[W]oher stammt der Inhalt jener obersten Grundsätze und Wahrheiten, die wir als Inhalt unseres Rechtsgefühles bezeichnen. Sind diese Wahrheiten angeboren? Verstehen sie sich für uns (von) selbst, wenn wir uns zum Bewusstsein kommen, oder sind sie ein Product der Geschichte?“ 174
Nach Jhering biete die Antwort der herrschenden nativistischen Ansicht drei „Spielarten“ i. S. v. Lösungsvarianten.175 Nach der sog. naiven, materialistischen Auffassung sind die sittlichen und rechtlichen Regeln von der Natur im Rahmen der Vernunft vorgezeichnet; entsprechend verstehen sie sich für jeden Menschen von selbst und sind allgemein gültig.176 Die evolutionistisch-materialistische Auffassung nimmt an, „dass die Natur den letzten Keim dieser Wahrheiten in das 172 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 14:4, Bl. 19: „historischer Charakter des Rechtsgefühls“. Erstmals ausdrücklich ders., Zweck I, 1877, S. XIII: „Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl.“ Ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:12, Bl. 2 f.: „Es gab eine Zeit für mich, wo ich an der Richtigkeit der Ansicht, deren Bekämpfung ich mir gegenwärtig zur Aufgabe gestellt habe, aufs festeste überzeugt war. Hätte mich damals Jemand nach dem zeitlichen Verhältnis des Rechtsgefühls zum Recht gefragt, meine Antwort würde gelautet haben: das Rechtsgefühl ist das Frühere, das Recht das Spätere. [. . .] Ist das Rechtsgefühl dem Recht vorausgegangen, letzteres nur die Verwirklichung desjenigen, was dasselbe postulirt, in der Außenwelt, so heißt das soviel: dasselbe ist dem Menschen angeboren, die Natur selber hat es ihm eingepflanzt, ihm in demselben einen Leitstern mit auf seinen Lebensweg gegeben, u ich behalte hier für diese Ansicht die Bezeichnung bei, deren ich mich von meiner anderen Art bedient habe: die nativistische Theorie des Rechtsgefühls. Ist dagegen wie ich im Folgenden auszuführen gedenke, das Recht dem Rechtsgefühl vorangegangen, so heißt das: das Rechtsgefühl ist ein Product der Erfahrung, der Geschichte, u diese Theorie werden wir daher als die geschichtliche bezeichnen können. Die Alternative, zwischen der wir zu wählen haben, lautet also: Natur oder Geschichte.“ 173 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 57. 174 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 10. 175 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 15 f. 176 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 12: „die Sittlichkeit von Geburt an“; ebd., S. 16.
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menschliche Herz gelegt hat“. Ein Kern von Wesensmerkmalen sei zwar grundsätzlich im Rechtsgefühl vorgegeben, eine Konkretisierung erfolge aber erst durch äußere Einflüsse. Die formalistische Ansicht hingegen geht lediglich von einem im Menschen angeborenen Trieb ohne konkreten Inhalt aus.177 In oppositioneller Haltung zu der nativistischen Ansicht und deren Unterformen vertritt Jhering die historisch-empirische Ansicht: „[D]ie Geschichte hat uns den Aufschluss über das Sittliche gegeben.“ 178 Nach dem Vorbild Lockes widerspricht er der Auffassung, dass die Natur dem Menschen eine spezielle Ausstattung mitgegeben habe.179 Der Inhalt der rechtlichen und sittlichen Wahrheiten könne nur ein historisches Produkt sein.180 Im weiteren Verlauf lässt Jhering eine Analyse der beiden Ansichten vom Standpunkt der Natur, der Geschichte und der Psychologie folgen. Die nativistische Theorie stehe im Widerspruch zur Natur und der modernen Naturwissenschaft. Sie setze zum einen den Trieb der Selbsterhaltung, zum anderen den sittlichen Trieb (psychologisches Zweikammersystem) voraus, wonach die Natur den Menschen von vornherein zwiespältig angelegt habe.181 Die historische Ansicht hingegen sei nach Jhering eindeutig im Einklang mit der Natur.182 Nach Jhering habe die Natur den Menschen lediglich mit dem Geist ausgestattet und damit Raum gegeben, im Verlauf der Zeit mit dem Entstehen der Gesellschaft eine sittliche Ordnung zu entwickeln.183 Ferner sei der Instinkt nichts ursprünglich Angeborenes, sondern bei Mensch und Tier ein Produkt der Geschichte und der Erfahrung.184 Aus der Perspektive der Geschichte sei vielmehr die „Idee der Zweckmäßigkeit“ 185 entscheidend. Auch nach dem Standpunkt der Psychologie, „unserem eigenen Innern“, sei der Inhalt des Gewissens historisch wandelbar.186 So könne nach Jhering nicht belegt werden, „aus welchen Elementen wir diese sittliche Nahrung beziehen. Wir beziehen sie aber zweifellos von außen“.187
177 178 179 180 181 182 183 184 185 186 187
Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 16. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 12 f. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 13; vgl. Brentano, Ursprung, 1921, S. 6. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 19. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 20 f. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 20. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 21. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 27 f. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 30. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 41. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 44.
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Das Rechtsgefühl entspricht für Jhering einem Aggregat individueller und kultureller Erfahrung aller Völker und Epochen.188 Als historische Variable sei das Rechtsgefühl „abhängig von den realen Thatsachen, die sich in der Geschichte verwirklicht haben“. Dabei geht es „über die Thatsachen hinaus, weil es eben das Concrete verallgemeinert und zu Sätzen führt, die in den Einrichtungen nicht in dieser Weise enthalten sind“.189 Diese dem Rechtsgefühl anhaftende Fähigkeit der Verallgemeinerung der den Rechtsinstituten innewohnenden Werten stimmt mit einem sowohl auf der subjektiven als auch auf abstrakt-objektiven Ebene operierenden „Abstractionsvermögen des menschlichen Geistes“ überein.190 Demgegenüber konstatierte Jhering hinsichtlich des konkret-subjektiven Rechts ein ursprünglich angeborenes Rechtsgefühl im Sinne eines aus dem Selbsterhaltungstrieb abgeleiteten Persönlichkeitsgefühls des Individuums und der Nation gleichermaßen. So stellte Jhering das Rechtsgefühl auf objektiv-abstrakter Rechtsebene schließlich in seinem Vortrag ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ in seiner Vollkommenheit in den Kontext des sittlichen Gefühls191 im Sinne eines objektivierten Rechtsgefühls.192 Entsprechend vertritt Jhering gleichsam als Höhepunkt seiner Rechtsgefühlslehre in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht die Auffassung von einem idealistischen Rechtsgefühl, bildlich gesprochen von einem Rechtsgefühl als ,Wegweiser‘, als ,Laterne auf einem dunklen Pfad‘.193
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Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 19, 32. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 19. Bihler spricht von „einer abhängigen Variablen von der jeweiligen gesellschaftlichen Situation“ [ders., Rechtsgefühl, 1979, S. 5]. In diesem Sinne Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 21: „Ich habe für meine Ansicht kein weiteres Postulat nothwendig als den menschlichen Verstand und die menschliche Erfahrung, die Gabe des Menschen, dass er durch die Erfahrung gewitzigt wird.“ 190 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 45. Vgl. ausführlich E. V. Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 127. 191 Nachweise Jherings über die Lehre von dem angeborenen sittlichen Gefühl in: ders., Zweck II, 2. Aufl., 1886, S. 110 f. in der Fußnote. 192 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 10. 193 So definierte Jhering das Rechtsgefühl schließlich in ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls‘: „Nach meiner Ansicht ist das Rechtsgefühl, das sittliche Gefühl in dem Sinne, wie ich es hier meine, der Inhalt der rechtlichen und sittlichen Wahrheiten, ein historisches Product [. . .].“ [ders., Rechtsgefühl, 1884, S. 18 f.]. Jherings Abhandlung schließt mit seinen berühmten idealistischen Worten: „Und so wird über uns hinaus eine weite Zukunft des Sittlichen und des Rechtes sich öffnen, und ich glaube, meine hochverehrten Herren, mit dem Satze schliessen zu können: Der Fortschritt unseres Sittlichen, das ist die Quintessenz der ganzen sittlichen Idee, das ist Gott in der Geschichte.“ [ders., Rechtsgefühl, 1884, S. 54]. Wenn Jhering hier von „Gott in der Geschichte“ spricht, offenbart er ein Gleichgewicht in der Bedeutung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft innerhalb seines fortschrittlichen Geschichtsverständnisses. So lehnt auch Schnädelbach eine „Extraposition“ ab [dies., Rechtsgefühl, 2017, S. 103]; vgl. dazu auch Behrends, Rechtsgefühl, 1998, S. 100 f.,183 f.]. 189
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6. Einleitung zur Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts Im Folgenden werden nun zuletzt seine grundlegenden Überlegungen zum Rechtsgefühl aus der Einleitung zu seiner posthum von seinem Schwiegersohn Victor Ehrenberg im Jahre 1894 veröffentlichten ,Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts‘ dargestellt.194 Die enge thematische Zusammengehörigkeit mit Jherings Vortrag ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ spricht für die Annahme, dass sein Inhalt im Wesentlichen schon vor 1884 verfasst worden ist.195 So ist Behrends darin zuzustimmen, dass sich aus dieser Abhandlung „nichts eigentlich Neues [ergibt], so wertvoll es ist, diesen Text zur Interpretation des Rechtsgefühl-Vortrags heranzuziehen“.196 Den Schwerpunkt seiner ,Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts‘ bildet erneut das Rechtsgefühl auf der Grundlage des Rechts im objektiven Sinn. Wie in seiner Abhandlung ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls‘ bezog sich Jhering auf die Entstehung des Rechtsgefühls in der Urzeit in Abgrenzung zur Entstehung des Rechtsgefühls in der historischen Zeit.197 Abschließend bringt der späte Jhering seine schon in den 1850er Jahren aufkommende und sich zum Ende seines Lebens gefestigte Abkehr von der Nativitätstheorie noch einmal deutlich hervor: „Das Recht ist also in der Urzeit früher dagewesen als das Rechtsgefühl. Das Recht hat erst da sein müssen, bevor es seinen Reflex in die Seele des Menschen werfen konnte; die äußere Ordnung der Gesellschaft hat erst festgestellt werden müssen, bevor das Individuum ihr den Anspruch entnehmen konnte, den Zwang, den die Gesellschaft für ihre Aufrechterhaltung in Bereitschaft hält, zu seinen Gunsten in Vollzug gesetzt zu sehen.“ 198
Nach ihm sei das Recht „kein Ausfluß des naiv im dunklen Drang schaffenden [angeborenen] Rechtsgefühls“ im Sinne des Volksgeistes, „jenes mystischen Vorgangs, welcher dem Rechtshistoriker jede weitere Untersuchung abschneiden und 194 Siehe Nachlass Vorarbeiten zur ,Entwicklungsgeschichte‘ – Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 19:2, Manuskript. 195 Bereits Jherings Vorarbeiten zur ,Entwicklungsgeschichte‘ aus seinem Nachlass enthalten erneut die für die Forschung über das Jheringsche Rechtsgefühl zentrale Einsicht, dass er zwischen dem konkreten Recht, welches er auch als „Gefühl der eigenen Berechtigung“ Rechtsgefühl nennt, und dem abstrakten Recht differenziert. Während er zeitlebens an seiner Auffassung festhält, dass das konkrete Recht als Persönlichkeitsgefühl „dem Menschen angeboren“ und „alle Regungen desselben [. . .] auf Rechnung der Natur“ kommen, sei letzteres nicht „durch die Vernunft oder das angeborene Rechtsgefühl“ vorgegeben. Erst durch die Anleihe der „Nahrung“ aus dem Recht, erhebt es sich zum Rechtsgefühl [ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 19:2, Bl. 30]. Vgl. ferner Interpretation bei Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 49 f. in Fn. 24. 196 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 69. 197 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 21 f. 198 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 21. So auch schon in den Vorarbeiten ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 19:2, Bl. 30: „Das Rechtsgefühl geht also dem Recht von Anfang an nicht voraus, sondern es folgt ihm.“
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ersparen würde“. Es sei vielmehr „das Werk menschlicher Absicht und Berechnung, die auf jeder Stufe der Entwicklung das Angemessene zu treffen bestrebt war“.199 Davon unterscheidet Jhering streng das Rechtsgefühl in der historischen Zeit, d. h. zwischen der Urzeit und dem „Jetzt“.200 Hier geht er erneut auf das Verhältnis zwischen dem positiven Recht und dem Rechtsgefühl ein. Nach Jhering zeige die Geschichte zwei Konstellationen auf.201 In der ersten Variante reicht das Rechtsgefühl „über das Recht der Zeit nicht hinaus, es befindet sich im Bann der beschränkten, unvollkommenen Anschauungsweise“ und reflektiert lediglich bestehendes Recht. In der zweiten Variante ist das Rechtsgefühl „dem Recht der Zeit vorangeeilt, es befindet sich im Widerspruch mit den Grundsätzen, Einrichtungen, die dasselbe aufrechterhält“ und fordert eine Anpassung im geltenden Recht.202 In dieser Konstellation spricht er dem Rechtsgefühl eine rechtsschöpferische Kraft203 zu. Nach Jherings Darstellung werden die Erfahrungen mit dem geltenden Recht und der gesellschaftlichen Ordnung geistig inhaliert.204 Das Rechtsgefühl besitze die Fähigkeit, diese zu abstrahieren und die so erlangten Erkenntnisse auf neue Sachverhalte zu übertragen.205 So helfe das Rechtsgefühl Entscheidungen zu treffen, „die zeit- und realitätsadäquat“ sind.206 Nach Jhering war ihm selbst „allmählich das Verständnis für das Recht aufgegangen“, zunächst „in der am leichtesten zugänglichen Form des subjektiven, konkreten Rechts, des Gefühls der eigenen Berechtigung, des Rechtsgefühls, dann erst in der des abstracten oder objectiven Rechts“.207
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Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 28. Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 22. 201 Dazu bedient Jhering sich seines meisterhaften bildhaften Vergleichs des Wanderers „Recht“ und seinem vom wechselnden Stand der als „Geschichte“ dargestellten Sonne abhängigen Schatten „Rechtsgefühl“ [ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 27; nahezu identisch Vorarbeiten im Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 19:2, Bl. 35, 182]. Ausführlich im Folgenden in E. II. 202 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 22 f. 203 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 28. 204 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 17. 205 Bihler, Rechtsgefühl, 1979, S. 8. 206 Würtenberger, Zeitgeist, 1987, S. 167. Vgl. auch ebd., S. 43: „Zeitgeist ist das Gemeinsame im individuellen Bewußtsein, d. h. Gemeinsamkeit in Wertungen und Einstellungen, kurzum kollektives Bewußtsein.“ Die Forschung über das Jheringsche Rechtsgefühl weist auch in dieser Abhandlung die Verdrängung des Rechtsgefühlsdurch den Zweckbegriff nach. Auch letzterer beinhaltet einen der geschichtlichen Situation entsprechenden Erfahrungssatz. 207 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 21. 200
E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls Das Rechtsgefühl ist nach Jhering „nichts Ursprüngliches“ oder „Angeborenes“, sondern ein „Product des langjährigen Bestehens des Rechts“; es sei „das subjective Resultat des unausgesetzten Contaktes“ mit Recht.1 Die vorherige Analyse hat gezeigt, dass Jhering im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere verschiedene Funktionen und Bedeutungsdimensionen seines Rechtsgefühlsbegriffs entwickelt hat,2 allerdings den Ausdruck „Rechtsgefühl“ uneinheitlich verwendete. Entgegen kritischer Stimmen über dessen willkürlichen Einsatz wurde jedoch durchaus eine spezifische, von der jeweiligen Intention seines Werkes abhängige Anwendung des Rechtsgefühlsbegriffs nachgewiesen.3 Dabei muss innerhalb der Zuordnung seiner verschiedenen Funktionen jeweils strikt zwischen der juristisch-positiven und der gesellschaftlich-entwicklungsgeschichtlichen Ebene des Rechts unterschieden werden. Im Folgenden werden die aus den Ergebnissen der Analyse seiner exemplarischen Fallstudien (C.) und seines wissenschaftlichen Gesamtwerks (D.) resultierenden verschiedenen Ausdrucksformen und Facetten seines Rechtsgefühlsbegriffs dargestellt. Das Kernstück bildet die Erfassung und Kategorisierung des Jheringschen Rechtsgefühls in einem Mehrebenenmodell. In einem ersten Abschnitt gilt es, den Entwicklungsprozess hin zu Jherings Erkenntnis, dass in der Urzeit „[n]icht das Rechtsgefühl [. . .] das Recht [. . .], sondern das Recht das Rechtsgefühl“ 4 erzeugt habe, nachzuzeichnen (I.). Im Mittelpunkt des darauffolgenden Abschnitts steht Jherings prachtvoll entwickelte und für sein ganzes Rechtsverständnis elementare Metapher ,Der Schatten des Wanderers‘, die die Wechselbeziehung zwischen Recht und Rechtsgefühl in der historischen Zeit in Abgrenzung zur Urzeit verbildlicht (II.). Grundlegend muss zwischen zwei Funktionen, der affektiven, praktischen und der kritischen, wertenden Funktion des Jheringschen Rechtsgefühls differenziert werden (III.). Sodann werden die verschiedenen Träger des Rechtsgefühls herausgearbeitet (IV.). Im Weiteren wird Jherings Rechtsgefühl als das für seine rechtsdogmatische und -histori1
Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:8, Bl. 8. Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 16 Anm. 41. 3 So bereits in Ansätzen Mecke, Jhering, 2018, S. 243 f.; Pleister, Persönlichkeit, 1982, S. 215 Fn. 918; Bihler, Rechtsgefühl, 1979, S. 9; im Allgemeinen zu den verschiedenen Funktionen des Rechtsgefühls vgl. Riezlers „Zweikomponentenmodell“ [ders., Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 37]. Auch Döderlein, Literatur, 2017, S. 48, „mehrschichtiges Begriffsgerüst“. 4 Jhering, Zweck I, 1877, Vorrede, S. XIII. 2
I. Ursprung des Rechtsgefühls
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sche Methode elementare menschliche Abstraktionsvermögen und das idealistische Rechtsgefühl als seine höchste Ausbildungsform (V.) behandelt. Anschließend wird die Bedeutung des Jheringschen Geschichtsverständnisses für sein Verständnis vom Rechtsgefühl aufgezeigt (VI.). Es folgt die finale Conclusio, dass subjektive und objektive Anteile des Rechtsgefühls miteinander korrelieren (VII.).
I. Ursprung des Rechtsgefühls „[D]ie Nativitätstheorie in besonderer Anwendung auf das Recht [. . .] ist unhaltbar. Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht, sondern das Recht hat das Rechtsgefühl erzeugt. [. . .] Das Recht ist zuerst da, die Not nennt sich seine Mutter; erst von ihm hat das Rechtsgefühl den ganzen Inhalt bezogen, den es fälschlich als angeborenen, als ureigenen ausgibt.“ 5
So ausdrücklich hat Jhering seine Abkehr von der herrschenden Nativitätstheorie erst spät formuliert.6 Lange hatte die Frage nach dem Ursprung des Rechtsgefühls den Gegenstand seines „angestrengten Nachdenkens“ gebildet und für sich selbst war er „bereits seit geraumer Zeit zum Abschluss gelangt“.7 Um zu verdeutlichen, dass er vormals die Lehre vom Volksgeist der Historischen Rechtsschule vertreten hatte, gestand sich Jhering im Jahre 1884 in seiner Göttinger Spätzeit hinsichtlich der Ursprungsfrage ein: „Wenn man mir vor einer Reihe von Jahren diese Frage vorgelegt hätte, so würde ich nicht den mindesten Anstand genommen haben, sie im ersten Sinne [dass das Rechtsgefühl das Recht erzeugt habe] zu beantworten, ja würde Jemanden gar nicht verstanden haben, der die entgegengesetzte Ansicht hätte vertheidigen wollen.“ 8
In der darauffolgenden Zeit sei er „nach und nach zu der Ansicht gelangt, dass die sittlichen und rechtlichen Wahrheiten nicht angeboren sein können“.9 Die vorhergehende Analyse seines Gesamtwerks hat Jherings früh zwar unterschwellig vorhandene, jedoch erst spät klar formulierte Abkehr von seiner Auf5 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 16 f.: „Das Rechtsgefühl als das Ursprüngliche gesetzt, hieße: es ist dem Menschen angeboren. [. . .] Damit ist die Theorie von dem Ursprung des Rechts aus dem Rechtsgefühl, welche die wesentliche Gleichheit desselben mit sich bringen würde, unvereinbar.“; siehe bereits fast wörtlich ders., Zweck I, 1877, S. XIII. 6 In Jherings Werk fällt auf, dass er seine frühen Erkenntnisse regelmäßig erst spät formulierte. So berichtet Jhering in seiner Vorrede zum „Besitzwillen“, dass er seine Lehre zum Besitz bereits 1846 einem verstorbenen Kollegen mitgeteilt haben will, gut 20 Jahre später erstmals einen Teil im „Grund des Besitzschutzes“ veröffentlicht hat und dann wiederum erst 20 Jahre später zur Veröffentlichung seines abschließenden Werkes über diese Lehre kam [ders., Besitzwille, S. VI]. Ein Grund dafür könnten seine in persönlichen Briefen gut dokumentierten Schreibblockaden gewesen sein, aufgrund derer er auch und immer wieder unter Zeitdruck seine Werke fertig stellen musste. 7 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 7 f. 8 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 10. 9 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 11.
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
fassung eines ursprünglichen, vor dem Recht bestehenden Rechtsgefühls in der Urzeit nachgewiesen.10 Insbesondere die Untersuchung der Ursprungsfrage hat gezeigt, dass die verschiedenen Dimensionen des Rechtsgefühls und die jeweilige Intention seiner Werke streng differenziert werden müssen. Allerdings muss davon die damit naturgemäß einhergehende Frage der Rechtsentstehung abgetrennt werden.11 Während Jhering innerhalb der subjektiv-konkreten Ebene des Rechts konsequent ein in jedem Menschen angelegtes Rechtsgefühl vertritt,12 zeichnet sich in Bezug auf das Rechtsgefühl auf der objektiven Rechtsebene bereits früh seine Abkehr von einem ursprünglichen Rechtsgefühl als Entstehungsgrund von Recht ab. In Bezug auf diese Abkehr Jherings von der Nativitätstheorie über den Urbeginn des Rechtsgefühls ist der Bezugspunkt das abstrakte, objektive Recht, weshalb in diese Analyse nur die das Rechtsgefühl hinsichtlich des abstrakt-objektiven Rechts betreffenden Werke Jherings einbezogen werden. Insbesondere der Verlauf seiner zahlreichen Bände und Auflagen seines Monumentalwerkes ,Geist‘ legt Zeugnis von seiner frühen Abkehr ab.13 Im ,Geist II 1‘ (1854) spricht Jhering noch von einem ursprünglichen Rechtsgefühl im Einklang mit der herrschenden Rechtsentstehungslehre der Historischen Rechtsschule, i. S. d. „unmittelbaren Tätigkeit des Volksgeistes“.14 Wenn Jhering das „nationale Rechtsgefühl“ als Rechtsentstehungsgrund im Sinne des Volksgeistes im ,Geist II 2‘ (1858) ablehnte,15 wird hier bereits der Grundstein für seine später berühmten 10 Von der Nativitätstheorie rückte Jhering schon weit vor seinen Ausführungen in der im Jahre 1884 manifestierten Schrift ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ und dem Vorwort seines ersten Bandes ,Zweck‘ Ende der 1870er ab. So auch Brockmöller, Rechtstheorie, 1997, S. 228; anders Mecke, Jhering, 2018, S. 284 ff. 11 Die Frage nach der Entstehung des Rechts in der Urzeit, also die Auseinandersetzung mit dem urzeitlichen Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl, ist gewissermaßen die Frage, ob Henne oder Ei zuerst da gewesen sind. Ihre Beantwortung bedarf weiterer umfassender Untersuchungen, die den Rahmen dieser Arbeit sprengen würden. 12 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 330 f.; insbesondere in seinen Werken ,Geist I‘, ,Geist II 1‘, ,Kampf um’s Recht‘ und ,Zweck‘; vgl. detailliert D. II., E. III. 1. 13 Vgl. D. II. 1. 14 Jhering, Geist II 1, 1854, S. 25. Hier liegt der Beweis für die synonyme Bedeutung von angeborenem Rechtsgefühl und Volksgeist begründet: „Nach der neuern Ansicht ist das Recht ursprünglich ein Produkt der unmittelbaren Thätigkeit des Volksgeistes. Das nationale Rechtsgefühl verwirklichte sich durch die That selbst und stellte sich äußerlich in der Sitte da (Gewohnheitsrecht). Im Lauf der Zeit tritt als zweite Rechtsquelle die Gesetzgebung hinzu, nicht gerade stets Neues schaffend, sondern oft nur das Bestehende formulirend.“ Später klar und ausdrücklich umgekehrt: „Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl.“ [Jhering, Zweck I, 1877, Vorrede, S. XIII]. Ein wesentlicher Teil der Arbeit hat die Dokumentation und Analyse, Entwicklungsprozess hin zu diesem prominenten Zitat Jherings zum Gegenstand. 15 Die „Samenkorn“-Idee des Rechtsgefühls verfolgte Jhering bis zum Schluss: „Man wende mir nicht ein, daß doch das Recht im Rechtsgefühl seinen Ursprung und Sitz habe. Gewiß! das Rechtsgefühl ist das Samenkorn, dem das Recht entsprossen ist,
I. Ursprung des Rechtsgefühls
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und oft zitierten Zeilen, dass „nicht das Rechtsgefühl [. . .] das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl“ hervorgerufen habe, gesetzt16. Im Jahre 1868 postulierte Jhering in seiner Schrift ,Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft?‘, dass die „erste und ursprüngliche Quelle des Rechts [. . .] in jedes Menschen Brust“ liege, „die zweite, die erst dazu gekommen“, sei „das Bedürfnis, die Noth des Lebens und der praktische Verstand“.17 Zunächst einmal ist hier entgegen Mecke18 anzumerken, dass Jhering den Begriff „Rechtsgefühl“ nicht verwendete, sodass ein Rechtsgefühl hier höchstens in Bezug auf das subjektive Recht im Sinne des Selbsterhaltungstriebs erkannt werden kann. Seine Intention war es, bei der Entstehung von Recht erneut in Abkehr zur Historischen Rechtsschule den Anteil der menschlichen Tatkraft hervorzuheben, allerdings an dieser Stelle nicht die gesondert zu behandelnde Frage nach dem Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl zu beantworten. Jhering verstand das Recht nicht als etwas Vorgegebenes, sondern stets die menschlichen praktischen Bedürfnisse und Zwecke umsetzend und anpassend.19 Dieses Zitat kann daher gerade nicht als Beweis für ein Festhalten an dem Ursprung des Rechts aus dem Rechtsgefühl angeführt werden.20 aber das Samenkorn enthält nur den Keim des Baumes, nicht den Baum selbst; es wächst und gedeiht nur dadurch, daß es die enge und unvollkommene Behausung des Rechtsgefühls sprengt und sich folgeweise dem Blick und Urtheil des Laien immer mehr entzieht.“ [ders., Geist II 2, 1858, S. 330]; noch deutlicher ders., 2. Aufl., 1869, S. 302 f.: „[E]s [das Samenkorn] wächst und gedeiht nur dadurch, daß es die Samenkapsel sprengt, sich aus der Sphäre des bloßen Rechtsgefühls in die des Wissens erhebt.“ Ferner ders., Geist III 1, 1865, S. 6 f.: „Fort also mit jenem Wahn, daß es eine Zeit gegeben [. . .], wo das Recht, wie eine schöne Blume des Feldes wild aufgewachsen auf dem gesegneten Boden des nationalen Rechtsgefühls [hier noch im Sinne des Volksgeistes], der pflegenden Hand des Menschen nicht bedurft hätte! Die Reflexion und Absicht hätten dasselbe freilich nie schaffen können, so wenig wie es der Gärtner bei der Blume kann, allein, was sie können und von jeher gethan haben, ist: es pflegen, begießen, beschneiden. Der Antheil, den die menschliche ,That‘ an der Entwicklung des Rechts hat und nach der sittlichen Weltordnung einmal haben soll, beginnt bereits in der frühsten Periode, und die heutzutage so verbreitete Ansicht der historischen Schule, welche wie überall so vor allem dort ein reines ,Werden‘ annimmt, kann es nur darum, weil sie die Hand nicht mehr sieht, welche ,gehandelt‘ – das Handeln von der Ferne gesehen erscheint als Werden! [. . .] jedenfalls bildet das ,Werden‘ d. h. die gewohnheitsrechtliche, unbewußte Bildung des Rechts ihr Ideal.“ 16 Jhering, Zweck I, 1877, Vorrede, S. XIII. Vgl. dazu Brockmöller, Rechtstheorie, 1997, S. 209 f. 17 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 67 f. 18 So Mecke, Jhering, 2018, S. 284 f. 19 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 66 ff. Nach Schelsky negierte Jhering alle nativistischen Lehren, „die den Ursprung des Rechts in ein philosophisches Apriori oder in eine angeborene Rechtsnatur oder in eine evolutionistische Entstehung des Rechts aus dem Volksgeist oder dem bloßen Gewohnheitsverhalten des Volkes ableiten wollen“, zugunsten einer „empirischen Anthropologie, die sich auf die gegenwärtige Beobachtung des Verhaltens des Menschen gründen“ [ders., Jhering-Modell, 1972, S. 53 f.]. 20 So Mecke, Jhering, 2018, S. 284 f.
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
Entsprechend müssen auch die folgenden Zeilen seiner den Schwerpunkt auf das subjektive Recht legenden Rede ,Kampf um’s Recht‘ (1872) gelesen werden; auch diese liefern nicht den Beweis für ein späte Abkehr vom Ursprungsdenken des objektiven Rechts aus dem Rechtsgefühl: „[D]ie Sprache [hat] mit Recht den psychologischen Urquell allen Rechts als Rechtsgefühl bezeichnet.“ 21
Vielmehr konkretisierte Jhering hier das Rechtsgefühl in Bezug auf das subjektive Recht. Es geht rein um den psychologischen Grund der Verwirklichung von Recht, also den Anreiz, Recht durchzusetzen.22 Die vorgehenden Zeilen dürfen in Konsequenz gerade nicht als Widerspruch zu seiner auf objektiver Ebene im Jahre 1884 erst formulierten Abkehr gedeutet werden.23 Jherings ,Zweck‘ (1877) zeigt schlussendlich ganz deutlich die Notwendigkeit einer Differenzierung hinsichtlich des Ursprungs des Rechtsgefühls auf der subjektiven und objektiven Rechtsebene. Er wehrt sich gegen den verallgemeinernden Vorwurf „als ob unserer Ansicht nach das Rechtsgefühl [in Form eines subjektiven Triebs] erst mit dem objectiv vorhandenen Recht [. . .] entstände, wir haben [. . .] nachgewiesen, dass es demselben vorausgeht, dass das Rechtsgefühl seinen letzten Grund in dem Selbsterhaltungstriebe der Person hat. Aber ein anderes ist der Keim und ein anderes ist die volle Entwicklung des Keims.“ 24
Jhering erklärt die Entwicklung des Rechtsgefühls anhand des „Keim“-Gedankens: Als „Selbsterhaltungstrieb“ 25 existiere das Rechtsgefühl bereits in jedem 21
Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 46. Jhering in dieser Hinsicht: „Nach der ersten Richtung ist es der Kampf, der die Entstehung, Bildung, den Fortschritt des abstracten Rechts in der Geschichte begleitet, nach der zweiten ist es der Kampf um die Verwirklichung der concreten Rechte.“ [Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 11]. Der Schwerpunkt liegt jedoch in der zweiten Richtung, die Verwirklichung und Behauptung subjektiver Rechte. 23 So Mecke, Jhering, 2018, S. 284. 24 Jhering, Zweck I, 1877, S. 368 f. In der zweiten Auflage hat Jhering diese Zeilen auf das Wesentliche gekürzt: ders., Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 379: „[D]ie Achtung vor dem Recht kann unten nicht gedeihen, wenn es oben daran fehlt. Das Rechtsgefühl bedarf der Verwirklichung, damit es erstarke, es kann sich nicht entwickeln, wenn es die thatsächliche Welt den Anforderungen, die es erhebt, Hohn spricht.“ Aus Gründen: ders., Zweck I, 2. Aufl., 1884, Vorrede, S. XV: „Die gegenwärtige zweite Auflage des ersten Bandes [. . .] gegenüber der ersten erheblich verändert [. . .] Einige Partien sind vollständig umgearbeitet worden [. . .] Breiten und Wiederholungen sind getilgt, ungenaue Fassungen durch zutreffendere ersetzt, Uebertreibungen eines an sich richtigen Gedankens auf das richtige Maass zurückgeführt, die einzelnen Glieder eines zusammenhängenden Gedankencomplexes besser geordnet.“ 25 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. 1:6, Bl. 9: „Der erste Keim des Rechts in der Welt ist das Gefühl der eigenen Persönlichkeit – der ursprüngliche Inhalt des Rechtsgefühls ist nichts anderes als das Gefühl des eigenen Rechts. Aus dem Keim hat sich das Recht erschlossen, ein aus der Zelle des lebenden Wesens [. . .]. Der einfachste willkürlichste Ausdruck des Gefühls ist der Selbsterhaltungstrieb.“ 22
I. Ursprung des Rechtsgefühls
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Einzelnen vor dem Recht. Aber erst durch das entstehende bzw. hinzukommende positive objektiv-abstrakte Recht werde es zum vollwertigen Rechtsgefühl im objektiven Sinn ausgebildet.26 Dieses kann jedoch erst auf der Grundlage des Rechts entstehen, sodass zeitgleich seine (sich aufgrund der unterschiedlichen Bezugspunkte nicht mit dem obigen Zitat in Widerspruch setzenden) berühmten, hier bereits mehrfach angeführten Zeilen über den Ursprung des Rechtsgefühls in Bezug auf das Recht im objektiven Sinn in sein Vorwort zum ,Zweck‘ Eingang fanden: „Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl.“ 27
„In consequenter Verfolgung dieses Gedankens“ war Jhering im ,Zweck II‘ (1883) endlich zu der „Ueberzeugung“ gekommen, dass „alle Rechtssätze und Rechtseinrichtungen ohne Ausnahme praktischen Motiven ihren Ursprung verdanken, lediglich Niederschläge der historischen Erfahrung sind, dass kein einziger derselben dem Menschen durch sein angebornes Rechtsgefühl vorgezeichnet worden ist“.28 Mit der Veröffentlichung seines für die Ursprungsfrage elementaren Werks ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls‘ (1884) war Jhering bei der endgültigen Ablehnung der nativistischen Theorie angelangt.29 Davon unberührt blieb also Jherings zeitlebens vertretene Auffassung von einem angeborenen Rechtsgefühl auf subjektiver Rechtsebene im Sinne eines Persönlichkeitsgefühls und Selbsterhaltungstriebs.30 Es kann festgehalten werden, dass Jhering zwischen dem von Anfang an im Menschen vorhandenen Keim des Rechtsgefühls, dem subjektiven Selbsterhaltungstrieb, das konkrete Recht betreffend und dem Rechtsgefühl als geschichtliches Entwicklungsprodukt, das sich erst mit dem objektiv vorhandenen Recht entwickeln kann, differenziert.31 Diese beiden Rechtsgefühlsdimensionen widersprechen sich (gerade) nicht. Schließlich verfasste Jhering seine Antwort auf die Frage nach dem Urbeginn des Rechtsgefühls auf der objektiven Rechtsebene in seiner posthum veröffentlichten ,Einleitung zur Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts‘ (1894): 26
Wie schon Jhering, Geist II 2, 1858, S. 330 f. Jhering, Zweck I, 1877, Vorrede, S. XIII. 28 Jhering, Zweck II, 1883, S. 111 f. 29 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 12 ff.; ders., Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 256; ebd. in der Fußnote: „Ich werde mich an späterer Stelle mit ihr [der entgegengesetzten Ansicht] auseinander setzen, zuerst B. II. S. 108 (nativistische Theorie des Sittlichen), sodann B. III. (Kritik des Rechtsgefühls).“ Dieser Band kam nicht zustande; siehe Nachlass Vorarbeiten Cod. Ms. Jhering 16:12; wurde verarbeitet in seiner Abhandlung ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ (1884). 30 Jhering, Zweck I, 2. Aufl., S. 355. 31 Jhering, Zweck I, 1877, S. 369. 27
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
„Das Recht ist also in der Urzeit früher dagewesen als das Rechtsgefühl. Das Recht hat erst da sein müssen, bevor es seinen Reflex in die Seele des Menschen werfen konnte [. . .].“ 32
II. Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl „[D]ie Entstehung des Rechts kommt nicht auf Rechnung des Rechtsgefühls, welches damals noch gar nicht da war, sie fällt ganz u[nd] ausschließlich auf Rechnung der praktischen Triebkraft des Zwecks, aber nachdem es sich gebildet hat, übt es auf die Fortbildung des Rechts einen gewissen, aber [. . .] immerhin beschränkten Einfluß aus.“ 33
Das fruchtbare Verhältnis von Rechtsgefühl und Recht „in historischer Zeit“ 34 in deutlicher Abgrenzung zur Entstehung des Rechtsgefühls in der „Urzeit“ 35 ist ein zentrales Untersuchungsergebnis über das Jheringsche Rechtsgefühl. Bereits in den Vorarbeiten seines Monumentalwerks ,Zweck‘ stellte Jhering heraus, dass „nachdem einmal auf Grund der thatsächlichen Entwicklung des Rechts u[nd] in Anschluß an dasselbe das Rechtsgefühl sich entwickelt hat, das Verhältniß bis zu einem gewissen Maße sich umgekehrt hat“.36 Dieses sich gegenseitig bedingende und fördernde Verhältnis von Rechtsgefühl und Recht vergleicht Jhering mit der Beziehung eines Kindes zu seiner Mutter: „Das Kind von der Mutter erzogen, kann, wenn es selbstständig geworden, in die Lage kommen, die Mutter mittelst ihrer eigenen Lehren zu berichtigen [. . .].“ 37
Diese Wechselwirkung zwischen Rechtsgefühl und Recht manifestiert Jhering am Ende seines Lebens als die Quintessenz seiner gesamten Rechtsgefühlsforschung in dem eindrucksvollen Sinnbild vom ,Schatten des Wanderers‘: „Es verhält sich mit beiden so wie mit dem Schatten eines Wanderers, der sich vor Tagesanbruch auf den Weg macht und den ganzen Tag von Westen nach Osten geht. Bevor die Sonne aufgegangen, wirft er noch keinen Schatten, ist sie aufgegangen, so fällt sein Schatten je nach ihrem wechselnden Stande bald hinter ihn, bald ihm zur Seite, bald ihm voraus. Der Wanderer ist das Recht, sein Schatten das Rechtsgefühl, die Sonne die Geschichte. Nach der Verschiedenheit der geschichtlichen Entwicklungsstufen des Rechts ist das Rechtsgefühl bald gar nicht da – in der Urzeit, als das Recht sich erst bildete –, bald bleibt es hinter ihm zurück, bald befindet es sich mit ihm auf gleicher Höhe, bald eilt es ihm voraus.“ 38 32
Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 21. Jhering, Nachlass SUB Göttingen, Cod. Ms. Jhering 16:12, Bl. 2 f. 34 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 22. 35 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 20, 21; siehe eingehend E. I. 36 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:8, Bl. 8: „Die herrschende Auffassung des Rechts dreht das Verhältniß vollständig um, wenn es das Recht aus dem Rechtsgefühl, anstatt umgekehrt das Rechtsgefühl aus dem Recht hervorgehen läßt.“ 37 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:8, Bl. 8. 38 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 27; ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 19:2, Bl. 182. 33
II. Verhältnis von Recht und Rechtsgefühl
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Während der Wanderer „Recht“ von Westen nach Osten, also entgegen dem Lauf der Sonne marschiert, wechselt mit der Position der Sonne, die dem Lauf der Geschichte als Nährboden und Quelle des Rechtsgefühls entspricht, sein Schattenstand, das Rechtsgefühl selbst.39 Dieses Verhältnis sei ein Dreifaches: Der Vorsprung des Rechts vor dem Rechtsgefühl (morgens), die Kongruenz beider (mittags) und der Vorsprung des Rechtsgefühls vor dem Recht (abends). Zu diesem Zeitpunkt hat das Rechtsgefühl umgekehrt einen Vorsprung vor dem Recht.40 Der Vorsprung von Recht und Rechtsgefühl wechselt demnach mit der Zeit. Dieses Verhältnis wiederholt sich ständig und stellt sich im historischen Verlauf der Entwicklungsgeschichte des Rechts als stetig wiederkehrendes Phänomen dar. Diese Metapher kann zunächst zweifelsfrei der Makroebene, der Ebene des abstrakt-generellen Rechtsgefühls im Sinne der Jheringschen Evolutionstheorie des Rechts zugeordnet werden.41 Ferner stellt sich die Frage, ob diese eindrucksvolle Darstellung auch auf die Mikroebene, auf das kritische, objektiv-wertende42 Rechtsgefühl am Rechtsfall übertragen werden kann. In seiner Funktion als Gutachter hat ihm sein Rechtsgefühl stets den ersten Impuls gegeben und als Kontrollinstanz gedient.43 Zunächst befand sich das Recht, wie im Zitat beschrieben, im Vorsprung zum Rechtsgefühl, weil der Einzelfall noch nicht in seinen reellen Auswirkungen bedacht wurde. Weil das geltende Recht die Grundlage für das Sekundarphänomen des Rechtsgefühls bildet, entwickelt sich das Rechtsgefühl erst durch die Beschäftigung mit und auf der Grundlage von Recht. Bis zur Irritation mit dem Recht im Sinne einer Kontrollreaktion bleibt das Rechtsgefühl zunächst noch hinter dem Recht zurück. Sodann suchte Jhering bei einem Widerspruch seines Rechtsgefühls mit dem geltenden Recht einen dogmatischen Weg, der sein Rechtsgefühl unterstützen, beweisen und bestätigen sollte. In diesem Stadium kann von einem Prozess der Kongruenz gesprochen werden. Recht und Rechtsgefühl müssen in 39 Vgl. auch Möller, juristische Konstruktion, 2017, S. 776; Luig, Natur und Geschichte, 1997, S. 291 f.; Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 66: „das prächtige Bild der Sonne als Quelle des Rechtsgefühls“. 40 Vgl. schon Jhering, Geist II 2, 1858, S. 381: „Die Möglichkeit einer Concentrirung des gesetzlichen Stoffs durch die Jurisprudenz setzt voraus, daß der Gesetzgeber ein Princip gehabt und angewandt hat, ohne dasselbe als solche unmittelbar erkannt oder ausgesprochen zu haben. Die Geschichte lehrt uns, daß dies nicht bloß nichts seltenes, sondern sogar der gewöhnliche Fall ist, und um so weniger kann dies dem Gesetzgeber befremden, als ja auch die Wissenschaft darin nur zu oft das Schicksal desselben theilt; auch bei ihr ist das Gefühl der Erkenntniß oft um Jahrhunderte voraus. So wird es möglich, daß ein Princip, bevor es in seiner wahren Gestalt erkannt und ausgesprochen wird, oft bereits die längste Zeit bestanden, ja vielleicht zu bestehen aufgehört hat.“ 41 Das Zitat ist posthum im Jahr 1894 in Jherings ,Entwicklungsgeschichte des Rechts‘ erschienen. 42 Siehe sogleich unten, III. 2. 43 Zur Irritation des Rechtsgefühls vgl. tiefergehend C.
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
Einklang gebracht werden. Nach dieser Objektivierung des zunächst rein subjektiven Rechtsgefühls, d. h. nach der Herleitung eines Rechtsinstituts, motiviert durch die Irritation des Rechtsgefühls am Rechtsfall, hat sich das Rechtsgefühl durchgesetzt und ist greifbar geworden. Nun ist das Rechtsgefühl dem Recht gewissermaßen voraus, das Rechtsgefühl hat in seiner Funktion als Kontrollinstanz durch den im Suchen und Finden einer dogmatisch zweckmäßigen Lösung anhand des vorhandenen Rechts stattfindenden Objektivierungsprozess eine progressive Kraft erlangt. Dieser Prozess findet statt im Lichte der geschichtlichen Situation entsprechend den entsprechenden Interessen der Gesellschaft. Jhering offenbart damit das Rechtsgefühl als Pionier des Rechtsfortschritts auch am rechtlichen Einzelfall. Letztlich kann der Schatten „Rechtsgefühl“ dem Wanderer „Recht“ hinterher, voraus oder mit ihm kongruent sein, aber er kann ihn nicht verändern. Das Rechtsgefühl selbst kann kein Recht bilden. Es kann als Kontrollinstanz und Richtungsweiser dienen, aber die Entfaltung rechtsschöpferischer Kraft ist nur durch die (nachträgliche) Anwendung des abstrakt geltenden Rechts erreichbar. Abschließend stellte Jhering die Synergie von Recht und Rechtsgefühl wie folgt fest: „So stehen beide im Verhältniß der Wechselwirkung, die Herrschaft des Gesetzes ist die Bedingung der Entwicklung des antirealen Rechtsgefühls u letztere die der Herrschaft des Gesetzes, Schritt für Schritt müssen beide vorwärts schreiten, sich gegenseitig fördernd u stärkend, um schließlich das Ziel zu erreichen.“ 44
Dabei habe das Rechtsgefühl nach Jhering immer das Recht zur Voraussetzung: „Die Annahme, daß es [das Rechtsgefühl] allem Recht vorausgegangen sei, ist in meinen Augen um nichts besser, als der Gedanke, daß der Schatten vor dem Wanderer das Haus verlassen habe, weil er ihm am Nachmittage voraus ist, – auch da, wo es einen Vorsprung vor ihm gewonnen hat, verdankt es die Möglichkeit dazu nur dem Umstand, daß es in der Schule des Rechts groß geworden ist.“ 45
44 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Bl. 33. Vgl. Gehlen, Mensch, 1958, S. 346. 45 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 27. So auch ganz elementar ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:8, Bl. 8: „Alles aber, was auf diesem Wege dem Rechtsgefühl entspringt, ist nur ein historischer Stoff, unsere Erfahrungsthatsachen, die nur sich das täuschende Gewand von apriorisch erkennbaren Gefühlswahrheiten umgehängt haben – es kommt aus dem Rechtsgefühl u, wie ich glaube, aus dem menschlichen Geist nicht heraus, was nicht vorher hineingebracht [. . .]. Wenn die vermeintliche reine Vernunft bei allen Culturvölkern nahezu denselben Inhalt hat, so hat dies nur darin seinen Grund, daß die Zwecke u Bedürfnisse, welche die Cultur mit sich bringt, überall im Wesentlichen dieselben sind, es ist die Gleichheit der objectiven ratio naturalis, von der die Übereinstimmung der subjectiven ratio naturalis nur das Spiegelbild enthält.“
III. Die affektive und kritische Funktion des Rechtsgefühls
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Den Lehren der Historischen Rechtsschule von einem ursprünglichen Rechtsgefühl wird hier endgültig jede Berechtigung abgesprochen. Die bestehende Rechtsordnung als die vorherrschende Realität der Rechtsinstitutionen muss dabei als die empirische Grundlage für den Fortschritt durch das Rechtsgefühl angesehen werden. Folgerichtig ist das Rechtsgefühl zunächst nur ein Sekundärphänomen.46 Sobald das Rechtsgefühl durch die Auseinandersetzung mit der Entwicklung von Recht erst einmal entstanden ist, kann auch das Rechtsgefühl selbst fortschrittlich und richtungsweisend sein. Entsprechend stellte Jhering eine Analogie zwischen dem Rechts- und dem Schönheitsgefühl her: „Es verhält sich mit dem Rechtsgefühl nicht anders als mit dem Schönheitsgefühl. Von ihm weiss Jeder, dass es sich erst entwickelt, indem es sich objectivirt, sich versucht in der Gestaltung des Schönen, dass Objectives und Subjectives hier in enger Wechselwirkung stehen, sich gegenseitig bedingend und fördernd, vom Rechtsgefühl hält man wunderbarerweise das Gegenteil für möglich, während doch das wahre Verhältnis hier ganz dasselbe ist. Die Ausbildung des nationalen Schönheitssinns ist der unausgesetzte Anblick des Schönen nicht wesentlicher als der des nationalen Rechtsgefühls die stetige Übung des Rechts – nur im und am Schönen gedeiht das Schönheitsgefühl, nur im und am Recht das Rechtsgefühl.“ 47
Das individuelle Rechtsgefühl ist ein Katalysator im Sinne eines akuten, dem Rechtsfall widersprechenden bzw. eines im Zuge einer Rechtsverletzung auf Grundlage des geltenden Rechts protestierenden Gefühls auf der Mikroebene, während sich auf der Makroebene das abstrakt-generelle Rechtsgefühl als Reaktion auf den praktisch-sozialen Druck entgegen dem geltenden Recht äußert.48 Für beide Ebenen ist für die Wirkkraft des Rechtsgefühls gemeinsame Voraussetzung, dass eine Krisensituation das Rechtsgefühl erst aktiviert. Die Kraft seiner Umsetzung schöpft das progressive Rechtsgefühl aus einer Art Krisenmanagement für die Einhaltung und Anpassung der bestehenden Rechtsordnung an die gesellschaftlich und politisch sich ändernden Strukturen.
III. Die affektive und kritische Funktion des Rechtsgefühls Nach der Analyse seines theoretischen Gesamtwerks und seiner exemplarischen Fallstudien erweisen sich zwei Funktionen des Jheringschen Rechtsgefühls als grundlegend, die er selbst erst spät ausdifferenziert feststellte: ein kritisches 46 Jhering postulierte: „Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl.“ [ders., Zweck I, 1877, S. XIII; fast identisch ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 16]. „Das Recht hat erst da sein müssen, bevor es seinen Reflex in die Seele des Menschen werfen konnte [. . .].“ [ebd., S. 21]. Vgl. dazu insb. Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 58. 47 Jhering, Zweck I, 1877, S. 369. Vgl. Hebeisen, Pragmatismus, 2005, S. 340. 48 Vgl. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 50 f. Vgl. dazu Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 137 f.; Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 41.
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
und ein praktisches Kraftfeld.49 Jhering folgt einer Unterscheidung zwischen den beiden Funktionen des Rechtsgefühls als kritischer Urteilskraft und als subjektivem Impuls zum Handeln.50 49 Jhering, Zweck II, 2. Aufl., 1886, S. 42; ebd., S. 44: „Scheidung der praktischen von der kritischen Function des Gefühls [. . .].“ Ebd., S. 56: „Besondere Hervorhebung der praktischen Function desselben. Der juristische Takt. Das Gewissen. Der sociale Takt.“ Vgl. Köhler et al., Recht fühlen, 2017, S. 13; Rehbinder, Gemeinschaftsgefühl, 1987, S. 193, S. 196. Döderlein unterscheidet ein „latentes oder dispositionelles Rechtsgefühl mit präventiver Funktion“ und „akutes oder aktuelles Rechtsgefühl als Reaktion auf rechtliche Unstimmigkeiten oder Rechtsverletzungen“ [dies., Literatur, 2017, S. 70]; in Anlehnung an, der zwischen einem „dispositionellem“ und einem „aktuellem“ Rechtsgefühl differenziert Riezler [ders., Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 8 f.]. 50 Vgl. Jhering, Zweck II, 1883, S. 43: „Gefühl [auch Rechtsgefühl], welcher als allgemeiner Begriff gleichmässig die beiden Functionen [. . .]: die kritische (das Gefühl als Urtheilskraft) und die praktische (das Gefühl als subjectiver Impuls zum Handeln, als Triebkraft), in sich schliesst [. . .].“ Jhering differenziert also grundlegend zwischen zwei Funktionen des einen Rechtsgefühls; nach ihm sind es gerade keine zwei Arten des Rechtsgefühls [ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. 16:12, Bl. 63 f.: „Diese Wahrnehmung muss uns zu der Erkenntnis führen, daß wir [. . .] nicht zwei Arten des Rechtsgefühls zu unterschieden haben: das eine, welches das Recht im objectiven, das andere, welches das Recht im subjectiven Sinn zum Gegenstand oder Inhalt hat, sondern zwei verschiedene Functionen des einen Rechtsgefühls, dessen Inhalt ebenso wie das des Rechts im objectiven Sinn ausschließlich abstracter Art ist. Gegenstand des einen ist die Erkenntniß, Gegenstand des anderen die äußere Verwirklichung dessen, was dem Rechtsgefühl entspricht, wir können darauf eine als die theoretische, die andere als die praktische Function benennen. Erstere besteht nicht bloß in der Erkenntniß des Abstracten, sondern auch in der Anwendung desselben auf den concreten Fall (erkennende u urtheilende Function), Bei beiden teils lediglich der Intellect in Thätigkeit, eine Mitwirkung des Willens bedarf es dabei nicht, u es ist vollkommen gleichgültig, ob der concrete Fall, welcher zu der urtheilenden Function des Rechtsgefühls Anlass gibt, den Urtheilenden selber oder einen Andern betrifft, ob das Urtheil lautet: ein oder den Andern ist Unrecht gethan. Die praktische Function des Rechtsgefühls dagegen erfordert die Thätigkeit des Willens, u auch für sie ist es wiederum vollkommen gleichgültig, ob der Wille für das eigene oder ein fremdes Recht in die Schranken tritt, es ist lediglich eine thatkräftige Differenz, daß ersteres die Regel, letzreres die Ausnahme bildet, der innere Character des Actius selber wird dadurch nicht berührt. Worin sie ihren Grund hat, bedarf nicht der Bemerkung. Jeder ist der Berufene. Vertreter seines eigenen Rechts, es ist seine Sache, ob er es geltend machen oder preisgeben will, und nun der Fall seiner Hilflosigkeit, seiner Ohnmacht gegen die Übermacht des Unrechts enthält den rechtfertigenden u für die sittliche Natur zugleich den zwingenden Grund ihm zu Hülfe zu kommen. Mit diesem Gegensatz der theoretischen oder intellectuellen u der praktischen Function des Rechtsgefühls haben wir den Maßstab gewonnen, um die verschiedene Gestaltung des Rechtsgefühls nach Verschiedenheit der Individuen, Völker u Zeiten richtig zu bemessen. Die beiden Functionen, auf deren Richtung sie kommt sind der Intellect und der Wille; u je nach dem Maße, u je in dem der eine oder der andere in dieser Gestaltung sich bemerklich macht, sprechen wir von einem entwickelten, hier organisierten u einem unentwickelten [. . .] Rechtsgefühl. Beide sind ebenso unabhängig voneinander wie der Intellekt und der Wille.“] Vgl. bereits Birr, Jhering’s concept of Rechtsgefühl, 2017, pp. 6–14; ferner Hebeisen, Pragmatismus, 2005, S. 341; so auch u. a. Döderlein, Literatur, 2017, S. 77: Subjektive und objektive Ebene des Rechtsgefühls; ebd., S. 74 f.: „Außenraum und Innenraum“; ebd., S. 76 f.: „Emotionale und rationale Funktion“.
III. Die affektive und kritische Funktion des Rechtsgefühls
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1. Die affektive Form Eine der Komponenten des Jheringschen Rechtsgefühls ist seine affektive, reaktionäre Seite im Sinne einer Handlungsmotivation.51 Diese verwirklichende Dimension ist die vorrangig in seinem ,Kampf um’s Recht‘ manifestierte „praktische Bethätigung des Rechtsgefühles, die moralische und praktische Reaction gegen eine schnöde Missachtung des Rechtsgefühles“.52 Dieser subjektive Trieb ist stets angeboren, indem die Fähigkeit, ein Rechtsgefühl zu bilden, in jedem Menschen angelegt ist.53 Unter dem affektiven Rechtsgefühl begriff Jhering die „Überzeugung u[nd] Stimmung des Mannes, der sich selbst seinen eignen Daseinszweck u[nd] den der Gesellschaft bedingt fühlt durch die Unverletzlichkeit des Rechts, dem es die Lebenslust ist, ohne die er nicht existiren kann, der leidet, wenn das Recht leidet, der eintritt für das Recht, wenn es gebeugt wird, einerlei ob in seiner Person oder in einer anderen, der es als persönliches Erlebniß empfindet, wenn das Unrecht überwunden wird, u[nd] das Recht triumphirt“.54 Diese Ebene des Rechtsgefühls ist in erster Linie eine spontane, intuitive Stellungnahme des Individuums in einer Rechtsfrage, „etwas Irrationales“, mit einer gewissen „Explosionskraft“.55 Das affektive Rechtsgefühl wirkt bei Jhering rein psychologisch, emotional und subjektiv. Ganz im Sinne Heinemanns wird in der 51 Vgl. Landweer/Koppelberg, Recht und Emotion I, 2016, S. 25. Wie bereits nachgewiesen hauptsächlich Thema seiner Schriften Geist in den 60er Jahren und Kampf (ab 1872, zahlreiche Neuauflagen). 52 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 9 f.; „eingetreten für ein gesundes, kräftiges Rechtsgefühl, das gegenüber Misshandlungen sich zur Wehre setzt“ [a. a. O.]. Nach Jhering wird die Rechtsordnung garantiert durch die „moralische [. . .] Kraft derer, welche ein Interesse daran haben, sie aufrecht zu erhalten d. h. auf der Energie des antirealen Rechtsgefühls“ [ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Bl. 30]. Erst in ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ behandelt Jhering die Ursprungfrage „jener obersten Grundsätze und Wahrheiten, die wir als Inhalt unseres Rechtsgefühles bezeichnen“ [ders., Rechtsgefühl, 1884, S. 10]. 53 Jhering, Zweck I, 1877, S. 368. 54 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:2, Vorarbeiten Zweck im Recht II, Bl. 31. „Es ist der Idealist im Recht, der Mann, den ich in meinem Kampf ums Recht geschildert habe, der Mann, der die Schlachten des Rechts geschlagen, während der Spießbürger hinter dem Ofen blieb, der Mann, der mit dem Opfer seiner selbst die Rechtsordnung erkämpft hat, u zu ihrem Schutze jeder Zeit bereit steht, während der Spießbürger behaglich im Winkel sitzt u sich der Rechtsordnung erfreut, ohne daß er nöthig hätte, die Hand zu rühren. Auch er hat sein Rechtsgefühl. Dasselbe besitzt die schöne Eigenschaft ihm nie unbequem zu werden [. . .].“ [a. a. O.]. Dem steht das Rechtsgefühl des Materialisten gegenüber ebd., Bl. 30: „Es gibt ein zahmes Rechtsgefühl, welches die glückliche Eigenschaft besitzt, seinen Träger nie unbequem zu werden, welches ihm keine Qualen und Leiden bereitet, keine Ansprüche an ihn erhebt, ihm keine Pflichten auferlegt, weder gegen die Gesellschaft noch gegen sich selbst. Es ist das Rechtsgefühl des Materialisten, des Genußmenschen im Recht, dessen Verhältniß zum Recht sich darauf beschränkt, nur ihm lediglich etwas zu verlangen, ohne ihm seinerseits etwas zurückzugeben.“ 55 Rehbinder, Gemeinschaftsgefühl, 1987, S. 185; ferner Sprenger, Rechtsgefühl, 2012, S. 87 ff.
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
„Erfahrung, dass ihm ,Unrecht‘ geschieht, [. . .] dem Dasein das Rechtsgefühl in seiner erschließenden Funktion offenbar“.56 Nach Jhering wisse der Mensch von seinem eigenen Rechtsgefühl „im unversehrten Zustande regelmäßig nicht, was es ist und in sich birgt“, aber durch die Rechtsverletzung werde es „zum Sprechen [ge]nötigt und die Wahrheit an den Tag und die Kraft zum Vorschein“ gebracht.57 Das „empörte Rechtsgefühl“ wird ausgelöst durch Rechtsverletzungen und entfaltet im Menschen eine „große agitatorische und revolutionäre Kraft“.58 Das Gefühl des Einzelnen besitzt ein „hohes Maß an handlungsantreibendem Potential“. Das bringt auch der lateinische Ausdruck „motio“, „Bewegung“, zum Ausdruck, von dem das Wort ,Emotion‘ etymologisch abstammt.59 Der Begriff des Jheringschen Rechtsgefühls umfasst daher mehr als eine „undifferenzierte Subjektivformel für ,Gerechtigkeit‘“.60 Das affektive Rechtsgefühl bei Jhering ist darüber hinaus vielmehr das Mittel zur Verteidigung und Verwirklichung von Recht, wenn es das Individuum oder Kollektiv bei einer Rechtsverletzung zum rechtlichen Handeln motiviert, ja regelrecht zwingt. 2. Die kritische Funktion Jhering appellierte gegen Ende seiner Gießener Lehrtätigkeit, also bereits Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts an seine Hörer: „Leihen Sie der Stimme Ihres Rechtsgefühls Gehör; dann erst lassen Sie die theoretische Begründung folgen [. . .] führt diese zu einem abweichenden Ergebnis, so ist sie nichts wert.“ 61
Die zweite Funktion des Rechtsgefühls umfasst das kritische Rechtsgefühl als Urteilskraft und Korrektiv in der juristischen Entscheidungsfindung.62 Diese Komponente des Jheringschen Rechtsgefühls weist in voller Ausprägung bzw. Ausbildung allein der Jurist auf.63 Bei der Überprüfung eines dogmatischen Problems äußert es sich als „erster Impuls“ 64 im Sinne eines „diagnostischen“ 65, 56
Heinemann, Rechtsgefühl, 1972, S. 70. Jhering, Kampf, 1872, Klenner-Ausgabe, S. 46 f. 58 Kübl, Rechtsgefühl, 1913, S. 93 ff., 108; vgl. auch Kuhlenbeck, Rechtsgefühl, 1907/08, S. 19; Heinemann, Rechtsgefühl, 1972, S. 70. 59 Döderlein, Literatur, 2017, S. 46. 60 Vgl. entgegen Fikentscher, Methoden, 1976, S. 368 Anm. 33; Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 62 Anm. 6. 61 Jhering in seiner Vorlesung, zit. bei Wolf, Große Rechtsdenker, 3. Aufl., 1951, S. 639 Fn. 61. 62 Vgl. Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 543; Wischmeyer, Zwecke, 2015, S. 90; Geiger, Soziologie des Rechts, 1974, S. 382, 385, 387; bei Schützeichel „rechtskreative Funktion“ [ders., Rechtsgefühl, 2016, S. 77]. 63 Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 88 Fn. 109. 64 Jhering, Kaufcontract II, 1861, S. 367; oder als „Probe“ [ders., Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 366]; ders., Kaufcontract II, 1861, S. 369. 65 Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 554; ders., Rechtsgefühl, 1986, S. 136. 57
III. Die affektive und kritische Funktion des Rechtsgefühls
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wertenden Rechtsgefühls.66 Bei der Begutachtung seiner Rechtsfälle, insbesondere seines berühmten Schiffspartenfalls, legte Jherings Rechtsgefühl durch „intuitive[s] Zusammenwirken unbewußter Erkenntnisdaten“ Protest gegen die Lösung nach der geltenden Anschauung und Auslegung der Gesetzesvorschriften ein.67 Fortan erkannte Jhering dem Rechtsgefühl die „Schlüsselfunktion eines methodischen Korrektivs“ zu.68 Diese Dimension umfasst ein kreatives Rechtsgefühl empirischen Inhalts69 gleich einer „Triebkraft des analogischen Denkens“.70 Die zentrale Stelle, an der das wertende Rechtsgefühl zum Tragen kommt, ist insbesondere in der Person des Richters: Nach Jhering soll der Richter „nicht allein denken, er darf und soll auch fühlen, d. h. er soll das Gesetz, bevor er es anwendet, der Kritik seines Rechtsgefühls unterwerfen, und wenn seine Kritik ungünstig ausfällt, darin die Veranlassung erblicken, das Gesetz einer erneuerten Prüfung zu unterwerfen“.71 Zukünftig sollte nicht mehr nur der bloße Gesetzestext zur Anwendung kommen. Die kritische Funktion des Jheringschen Rechtsgefühls entfaltet jedoch für sich genommen noch keine rechtsschöpfende Wirkung. Das der geltenden Rechtsvorschrift widersprechende Werturteil erfordert vielmehr die Verwirklichung in Form und im Rahmen von positivem Recht.72 So kann das Rechtsgefühl des ausgebildeten Juristen letztlich als gesunder Menschenverstand und Prüfstein bezeichnet werden, an dem die rechtlichen Lösungen zu kontrollieren sind.73 3. Zwischenfazit Der Begriff des Jheringschen Rechtsgefühls umfasst also zwei verschiedene Dimensionen: das affektive, auch laienhafte und auf Rechtsverletzungen reagierende Gefühl des Einzelnen sowie der Gesellschaft im Sinne eines Kollektivs und eine von der Fähigkeit des urteilenden Subjekts abhängige Kontrollinstanz des geschulten Juristen. Dies setzt jeweils Prozesse in Gang, die das Recht weiter entwickeln; entweder die Durchsetzung eines subjektiven, von der Rechts-
66 Behrends, Antrittsvorlesung, 1989, S. 86 Fn. 106: „Instanz des Werturteils“; ders., Jherings „Umschwung“, 2017, S. 545, 548. Mecke nennt es das „individualisierend-wertende Rechtsgefühl“ [ders., Jhering, 2018, S. 245, 257]. 67 Kunze, Forschungsbericht, 1995, S. 141. 68 Kunze, Forschungsbericht, 1995, S. 141. 69 Schlossmann, Vertrag, 1876, S. 200 f. 70 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 137. 71 Jhering, Jurisprudenz, 1868, S. 88. Zur Bedeutung des Richters siehe auch Zweck I, 1877, S. 368 ff. Eingehend C. IV. ,Das Rechtsgefühl des Richters‘. 72 Vgl. A. I., II.; Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 137 f. 73 Schweigler, Menschenverstand, 2017, S. 361. Vgl. auch Husserl, Recht und Welt, 1964, S. 104 f.: eine „der Rechtskonkretisierung vorauseilende reflektive Einstellung zu den anwendbaren Rechtsnormen“ oder eine „auf Grund großer Richtererfahrung oder angeborener rechtslogischer Begabung in einem Denkschwung [. . .] sich vollziehende Rechtsreflexion“; ferner Schlossmann, Vertrag, 1876, S. 193 f.
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
ordnung bereits zugesprochenen Rechts und damit die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung oder die Weiterentwicklung des Rechts durch den juristischen Experten, der entsprechend den Bedürfnissen und Interessen der Gesellschaft durch das Recht über das Recht hinaus geht und es weiter entwickelt.
IV. Träger des Rechtsgefühls „Sie sind zu allen Zeiten die Pfadfinder und Bahnbrecher gewesen [. . .]. Denkende Köpfe und tatkräftige Persönlichkeiten nehmen der Masse die Mühe des eigenen Denkens und der eigenen Arbeit ab [. . .].“ 74
Jhering spricht verschiedene Träger und „Tiefe[n]“ 75 des Rechtsgefühls an. Er differenziert zunächst zwischen einem laienhaften und einem ausgebildeten Rechtsgefühl. Demnach sei in erster Linie das Rechtsgefühl des Rechtsanwenders und Wissenschaftlers als Pfadfinder des Rechts progressiv.76 An der Entwicklung neuer Rechtsgrundsätze in der Vergangenheit waren vorrangig „einzelne hervorragende Geister“, „denkende Köpfe und tatkräftige Persönlichkeiten“ mit einem speziellen Expertenwissen beteiligt.77 Dieses „gesunde Rechtsgefühl“ 78, wie er es auch nennt, ist nach Jhering als „Virtuosenthum in Dingen des Rechts nur beim Juristen möglich“: einzig „in seiner Person finden sich die Voraussetzungen, um das Rechtsgefühl zur höchsten Blüthe zu treiben“.79 Dementsprechend kann es ein kritisches, objektiv-wertende Rechtsgefühl beim Laien nicht geben. Hier spricht Jhering von einem „bloßen“ Rechtsgefühl in Gestalt eines rein subjektiven, relativen Gerechtigkeitsgefühls, welches oberflächlich und emotional agiert80 im Sinne eines laienhaften „natürlichen Rechtsgefühls“.81
74
Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 23 f. Vgl. Würtenberger, Zeitgeist, 1987, S. 93–104. 76 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 49; ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 24; ders., Zweck II, 1883, S. 46 f.: „[D]as juristische Wahrnehmungsvermögen. Das ist der juristische Blick, dieselbe Eigenschaft, die wir bei Arzt als Diagnose bezeichnen. Mit der blossen Erkenntnis dessen, was ist, ist es aber in praktischen Dingen noch nicht gethan, es soll geholfen werden, und dies Vermögen, das richtige praktische Hilfsmittel aufzufinden, ist es eben, das die Sprache irrt Unterschiede von dem juristischen Blick bei dem juristischen Takt im Auge hat.“ 77 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 23 f.; dazu insbesondere jüngst Schmidt, Rechtsgefühl, 2020, S. 299. 78 Jhering, Kaufcontract I, 1859, S. 450, 456, 461, 468, 477; vgl. Bihler, Rechtsgefühl, 1979, S. 6. 79 Jhering, Zweck II, 1883, S. 46. 80 Im Sinne eines „subjectiven Meinens und Fühlens, der subjectiven Innerlichkeit [. . .], welche der bequemste Schlupfwinkel der Partheilichkeit ist“ [Jhering, Geist III 1, 1874, S. 22]. 81 Jhering, Gotthardbahn-Gutachten, 1884, S. 4. 75
IV. Träger des Rechtsgefühls
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Das affektive Rechtsgefühl gerichtet auf die Verwirklichung subjektiven Rechts kann jedoch auch beim Laien eine beachtliche Handlungsenergie hervorrufen.82 Das Rechtsgefühl kann zugleich individueller und kollektiver Natur sein. Es kann sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene zum Einsatz kommen.83 Nach Jhering spielte sich die Entwicklung von Recht also vorrangig auf „Höhen der Wissenschaft“ ab; in erster Linie war also nicht das gesamte Volk an der Bildung und Änderung von Recht beteiligt: Die Juristen mit ihrem Expertenwissen, „welche sich zuerst von den hergebrachten Anschauungen losgerissen, und indem sie die öffentliche Meinung für sich gewannen, die Gesetzgebung nötigten, die von ihnen vorgezeichnete Bahn einzuschlagen“, schufen das Recht.84 In diesem Fall kann, erst wenn der „Umschwung im Recht erfolgt“, d. h. die Rechtsänderung umgesetzt und dasselbe im Rechtsgefühl des Volkes verwurzelt worden ist, auch das kollektive Rechtsgefühl darauf basierend wieder tätig werden.85 Denn lediglich dort, „wo bestehende Rechtseinrichtungen mit schwerem Druck auf der Masse lasten, gelangt auch sie zum Nachdenken über sie; da hebt auch sie ihre Stimme, daß Wandel geschaffen werde“.86 Voraussetzung für die Realisierung der Forderungen des Rechtsgefühls des Volkes waren praktische, gesellschaftliche Motive.87 Hier zog Jhering den Vergleich zu der Gruppe der Bauern, die Eigentumsschutz für ihre Wildschäden einforderten, oder der Arbeiter, die die Aufbesserung ihres Lohns beanspruchte.88 Diese Forderungen, die ihr Rechtsgefühl hier erhoben, waren jedoch im Recht bereits selbst begründet; es war „nur eine von ihm [dem Recht] selber nicht verwirklichte Konsequenz seiner sonstigen Grundsätze“.89 Nach Jhering ist das Rechtsgefühl des Volkes hier wie eine 82 Vgl. E. III. 1. Vgl. Würtenberger, Zeitgeist, 1987, S. 101 ff.; so auch Schlefer, Rechtsgefühl und Rechtspflege, 1908, S. 193. 83 So auch Döderlein, Literatur, 2017, S. 286. 84 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 23. 85 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 24: „[E]rst als der Umschwung im Recht erfolgt ist, vollzieht sich nach und nach bei ihr die entsprechende Änderung der Anschauungsweise, das Neue schlägt Wurzeln im Rechtsgefühl des Volks, und ein oder einige Jahrhunderte später genießt derselbe Satz, der bei seinem ersten Auftreten sich mit der bisherigen volkstümlichen Auffassung in schroffsten Widerspruch setzte, das Ansehen einer durch das Rechtsbewußtsein des Volks getragenen Wahrheit.“ 86 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 24 f. 87 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 50 f.: Wer dies in der Geschichte verfolgt, wird finden, dass die wichtigsten Neuerungen bei den neueren Völkern, auch wenn sie längst als Postulat des Rechtsgefühles erhoben worden waren, in der Regel erst in schweren Zeiten durchgesetzt worden sind, sei es bei Kriegen, sei es bei gesellschaftlichen Bewegungen; kurzum, es hat noch immer dieses praktischen Druckes und der Nöthigung bedurft, um die Forderungen des Rechtsgefühles zu realisiren.“ 88 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 25. 89 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 25.
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
„Tochter, die ihre Mutter [das Recht] meistert, an ihre eigenen Lehren erinnert; die Lehren, welche die Mutter der Tochter gegeben hat, wendet diese jetzt auf andere Fälle an“.90 Daher kann auch das Rechtsgefühl für ein gebildetes Volk im Ergebnis als „Pionnier des Fortschritts“ gelten.91
V. Das Ideal – Die höchste Ausbildung des Rechtsgefühls Das kritische, objektiv-wertende Rechtsgefühl nennt Jhering auch das „Abstractionsvermögen des menschlichen Geistes“.92 Bei der Ausübung des Rechtsgefühls setzt nach Jhering „eine dem Wesen des Menschen eigentümliche Fähigkeit“ als „die Kraft und de[r] Zwang zur Verallgemeinerung“ 93 und damit die bewusste und unbewusste Tätigkeit des menschlichen Abstrahierens von Erfahrungen mit der Rechtswirklichkeit ein.94 Der Mensch bezieht nach ihm seine „Nahrung von außen“.95 Jhering verwendet die Bilder von „sittlichen Sporen in Millionen“ „in der sittlichen Luft, die uns umgibt“ und des unbewussten geistigen Inhalieren des Kindes mit seinem ersten Atemzug96, um das Abstrahieren von den bestehenden gesellschaftlichen Erfahrungen und Regelungen, mithin den
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Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 50. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 50 f.; ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 25. 92 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 45: „Eine zweifellose Tatsache ist es, dass unser Rechtsgefühl sich oft den Rechtseinrichtungen widersetzt, dass wir uns im Widerspruch mit diesen Einrichtungen fühlen. Woher kommt dieser Widerspruch, wenn unser Rechtsgefühl nichts ist als das Produkt der Rechtsordnung, die uns umgibt? Und darauf antworte ich, das beruht auf jenem Abstraktionsvermögen des menschlichen Geistes, ohne das wir uns den Menschen gar nicht denken können, das bei jedem einzelnen Vorfalle etwas abstrahiert.“ Ferner ders., Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 16:6: „Abstractionsvermögen“, „Kritik des R. Gefühls, Abstraction – Sie wird der Maßstab des Vorhandenen“; siehe weitere Ausführungen ebd., 16:12, insb. Bl. 73 ff. Vgl. zur Bedeutung des menschlichen Abstraktionsvermögens auch Mecke, Jhering, 2018, S. 243 f. 93 Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 38; Mecke, Jhering, 2018, S. 294. 94 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 47 f.: „Ich habe mich oft mit Problemen beschäftigt, deren Lösung ich bei Tag schlechterdings nicht finden konnte, oder ich habe die Formulierung eines Gedankens vergebens gesucht. Mit aller Mühe und Anstrengung konnte ich nichts finden, und da bin ich oft des Nachts aufgewacht und habe den treffenden Ausdruck, die richtige Lösung gefunden. Ich habe mich gefragt, woher ist denn das gekommen, daß ich jetzt bei Nacht ohne Anstrengung etwas gefunden habe, was ich des Tags bei aller Anstrengung nicht habe finden können? Es ist klar, daß hier im Innern des Geistes eine Tätigkeit hat vor sich gehen müssen, von der wir keine Ahnung haben; der Geist muß arbeiten, selbst wenn der Mensch sich dessen nicht bewußt ist. [. . .] Auch wenn der Mensch nicht will, sie arbeiten, sie verbinden sich; und so ist es mit den Gedanken im lebendigen Geist; in dieser Werkstätte wird unausgesetzt gearbeitet und kommt immer etwas Neues zum Vorschein. Darauf beruht jeder Fortschritt in der Wissenschaft und jeder Fortschritt unseres Urteiles im Leben.“ 95 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 44. 96 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 43 ff.; ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 17; vgl. dazu Bihler, Rechtsgefühl, 1979, S. 8. 91
V. Das Ideal – Die höchste Ausbildung des Rechtsgefühls
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Fortschritt des Rechtsgefühls auf gesellschaftlich-entwicklungsgeschichtlicher Ebene zu erklären97: „Diese unbewusste Thätigkeit des Abstrahirens bewirkt es, dass das Rechtsgefühl vor den Rechtssätzen, welche in unseren Einrichtungen verwirklicht sind, voraus ist.“ 98
„[D]as Allgemeine und Dauerhafte in diesen Rechtsbeständen zu erkennen; die Gewöhnung an das Gelten dieses Rechts schafft eine emotionelle Identifikation von normativen Gefühlen mit der Rechtsgeltung, die sich ebenfalls prinzipiell und ideenhaft versteht.“ 99 Das Abstraktionsvermögen bezeichnete Jhering daher auch auf entwicklungsgeschichtlich-idealistischer Ebene als den „Pionnier des Fortschrittes“. Schließlich spielt sich die Abstraktion sowohl beim „juristischen Denken“ 100 als auch in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht beim „Nachdenken“ insbesondere „auf Höhen der Wissenschaft und Litteratur“ ab.101 „Ueber dem bloß Formalen der juristischen Logik steht als Höheres und Höchstes die substantielle Idee der Gerechtigkeit und Sittlichkeit, und eine Vertiefung in sie, d. h. wie sie in den einzelnen Rechtsinstituten und Rechtssätzen zum Ausdruck und zur Verwirklichung gelangt, ist nach meinem Dafürhalten die schönste und erhabenste Aufgabe, welche die Wissenschaft sich stellen kann.“ 102
Jherings Rechtsgefühlsforschung mündete also letztlich in seinem Werk ,Zweck‘ (1877, 1883); hier schreibt Jhering überwiegend nur noch über Sittlichkeit bzw. sittliches Gefühl und Gerechtigkeit; der Ausdruck „Rechtsgefühl“ wird nur noch vereinzelt verwendet.103 Jhering legte hier seinen Forschungsschwerpunkt auf den Zweck im Recht und auf die Herleitung einer allgemeinen Evolutionstheorie des Rechts.104 Schließlich postulierte Jhering seine „substantielle Idee“ von der „Gerechtigkeit und Sittlichkeit“ 105 im Recht. Vor diesem Hintergrund verstand Jhering am Ende seines Lebens das idealistische Rechtsgefühl als höchste Blüte und Ausprägung seines Rechtsgefühlsbegriffs:106 die intuitive Neigung zu einem Rechtsideal.107 97
Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 17. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 48. Siehe ähnliche Darstellung ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 17 ff. 99 Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 39. 100 Jhering, Besitzwille, 1889, S. 99; ders., Geist II 2, 1858, S. 366 ff. 101 Jhering, Entwicklungsgeschichte,1894, S. 23 f.; vgl. insb. Mecke, Jhering, 2018, S. 510. 102 Jhering, Geist II 2, 4. Aufl., 1883, S. 361 Fn. 506a; auch Geist II 2, 2. Aufl., 1869, S. 345 Fn. 506a; ders., Nachlass SUB Göttingen, Cod. Ms. Jhering 15:4, Bl. 11. 103 Jhering, Zweck I, 1877, S. 364. 104 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 79 f.; ders., Rezension zu Luf/Ogris, 1997, S. 565. Behrends differenziert zwischen rechtlichem und sittlichem Gefühl (Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 163 f.). 105 Jhering, Geist II 2, 2. Aufl., 1869, S. 345 Fn. 506a; ders., Zweck I, 1877, S. 142: Gerechtigkeit sei das, „[. . .] was Allen passe und wobei Alle bestehen können.“ 106 Kornfeld, Soziale Machtverhältnisse, 1911, S. 102. 98
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
Bereits in der zweiten Auflage seines ersten Geist-Bandes im Jahr 1866 spricht Jhering dem Rechtsgefühl eine auf abstrakt-idealistischer, sittlicher Ebene wirkende richtungsweisende Funktion zu: „Erst wenn diese Stufe des noch im Affect des Schmerzes befangenen Rechtsgefühls überwunden ist, gewinnt dasselbe den richtigen Maßstab für die Würdigung des Unrechts.“ 108
Für Jhering entsprach das idealistische Rechtsgefühl weder einer inneren psychologischen Anlage noch etwas apriorisch Gegebenem, sondern vielmehr einem Aggregat individueller und kultureller Erfahrung. Es sei „abhängig von den realen Thatsachen, die sich in der Geschichte verwirklicht haben“. 109 Das Rechtsgefühl ist bei Jhering bildlich gesprochen zugleich Pfadfinder und Warner.110 Jhering war der Überzeugung, dass „die Jurisprudenz an der Hand der ratio iuris überall so weit vorschreiten soll, bis die utilitas111 ihr in den Weg tritt und Protest einlegt“.112 Jhering stellt den Rechtsbegriffen in Form der Gerechtigkeitszwecke eine materielle Kontrollinstanz gegenüber.113 Die ratio iuris umfasst den telos der Rechtsregel in Form des aktuellen Verständnisses vom geltenden Recht; die utilitas die Zweckmäßigkeit. Das die Zwecke des Rechts eruierende Rechtsgefühl verhilft dem Verstand zur Kontrolle.114 Den Begriff des Rechtsgefühls verwendet Jhering in seiner Spätzeit in einem Zuge mit dem „sittlichen Gefühl“ und „Gewissen“.115 Letztlich könnte es sich bei dem Jheringschen Rechtsgefühl in dieser höchsten Dimension um eine Art ,Rechtsgewissen‘ als Vorstufe zur Sittlichkeit handeln. Es ist die „normative Instanz“, der „Inhalt jener obersten Grundsätze und Wahrheiten“ des Rechts.116 Insbesondere in seiner Abhandlung ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ im Jahre 1884 postuliert Jhering den sittlichen Charakter des Rechtsgefühls, „der sich zwar unmittelbar lebendig in der Reaktion auf eine stattgefundene Rechts107
Linse, Rechtsgefühl, 1938, S. 17; Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 186. Erstmals Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 127; ebd., S. 175: „Diese Thatkraft ist nicht die nackte, physische Gewalt, sondern sie wird durch das Gefühl ihres Rechts zu einer sittlichen Macht erhoben, sie ist eine im Dienste der Rechtsidee thätige Kraft, ja das Prinzip des Privatrechts selbst in seiner ursprünglichen Frische und Energie.“ 109 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 19. 110 Jhering, ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ 1884; ,Entwicklungsgeschichte‘ 1894. 111 Nach Behrends ist damit die Nützlichkeit des Gemeinwohls, als die Gerechtigkeit gemeint [ders., Rechtsgefühl, 1986, S. 84 f. Fn. 32]. 112 Jhering, Geist II 2, 4. Aufl., 1883, S. 386 f. Fn. 528a. 113 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 84. 114 Behrends, Jherings „Umschwung“, 2017, S. 548; Loening, Recht, 1907, S. 28. Vgl. Schnädelbach, Rechtsgefühl, 2017, S. 106. 115 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 42; vgl. auch Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 98; Radbruch, Rechtsgefühl, 1914/15, S. 423 ff. 116 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 10. 108
VI. Die Bedeutung des Jheringschen Geschichtsverständnisses
209
verletzung zeigt, natürlich und instinktiv, aber auch durch die Reflexion des Gewissens gegangen ist“.117 Es ist das sich in der Geschichte unter dem Einfluss der sittlichen Ordnung des menschlichen Zusammenlebens seiner Zeit und seines Volkes herausbildende Bewusstsein.118 Schließlich ist das Rechtsgefühl bei Jhering objektiviert, gänzlich bereinigt von persönlichen und emotionalen Wertungen, im Sinne seiner im Zweck manifestierten Wendung zum Primat der objektiven Sittlichkeit.119 Höchstes Ziel für die Entstehung von Recht war bei Jhering die „Verwirklichung der materiellen Gerechtigkeit“ durch die „Selbstcorrektur“ derselben im Einzelfall „gegenüber der als unvollkommen erkannten abstracten Formulirung des Gesetzes“ in Einklang mit den Forderungen des Rechtsgefühls.120 Eine Verfeinerung des Rechtsgefühls durch seine stetige Ausbildung führe zu einer Annäherung an die Gerechtigkeit.121 Mit seiner „idealtypischen“ Konzeption verfolgte der späte Jhering ein „klassisches, anthropologisch-historisches Evolutionsmodell des Rechts“, das zwischen der positiv-rechtlichen und der entwicklungsgeschichtlichen Dimension mit dem Rechtsgefühl als seinem Werkzeug differenzierte.122 So avancierte Jhering das Rechtsgefühl zum Ideal: das „sittliche Gefühl“, „der Inhalt der rechtlichen und sittlichen Wahrheiten, ein historisches Product“, entwickelt aus der „Macht des Lebens“, aus dem „praktische[n] Bedürfnis“.123
VI. Die Bedeutung des Jheringschen Geschichtsverständnisses für sein Verständnis vom Rechtsgefühl „Die Geschichte des Rechts ist die Geschichte des menschlichen Denkens in Bezug auf die praktische Verwirklichung der Lebensbedingungen der menschlichen Gemeinschaft.“ 124
Jherings Verständnis vom Rechtsgefühl wird bedeutend beeinflusst durch sein Geschichtsverständnis. Die Menschheit solle die „Erfahrungen, Lehren und War117
Schild, Kampf, 1995, S. 51. Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 21. Dazu schon Bihler, Rechtsgefühl, 1979, S. 8. 119 Jhering, Zweck II, 1883, Vorrede, S. X; ders., Recht und Sitte, 1924, et passim. Ähnlich ders., Rechtsgefühl, 1884, S. 50. 120 Jhering, Zweck I, 1877, S. 420 ff.; Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 80 f., 105 ff.; Döderlein, Literatur, 2017, S. 78 ff. Vgl. zur Gerechtigkeit bei Jhering auch Irminger, Jhering, 1920, S. 113 f.; Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 65 f.; Coing, Grundsätze, 1947, S. 29. 121 Vgl. Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 58 ff. Unter diesen Voraussetzungen kann sich nach Jhering das Rechtsgefühl darüber hinaus zu einem „Sicherheitsgefühl“ steigern [ders., Cod Ms 16:2, Bl. 34; vgl. auch ebd., Bl. 38: „So kann auch das Sicherheitsgefühl in Bezug auf das Recht doppelter [subjektiver und objektiver] Art].“ 122 Vgl. Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 58 ff. 123 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 19. 124 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 28. 118
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
nungen“ der Geschichte beherzigen und praktisch umsetzen.125 Die Jurisprudenz habe die Aufgabe, zu untersuchen, „aus welchen Ideen und Anschauungen das Recht der historischen Zeit hervorgegangen ist“, ferner Rechtsinstitute zu erforschen, „die uns vom Standpunkt des entwickelten Rechts aus als völlig räthselhaft erscheinen müssen“.126 Zentrales Mittel der Umsetzung dieser Aufgabe bilden dabei die Befragung des Zwecks, der ratio des Gesetzes, und des Rechtsgefühls als Kontrollmechanismus des Rechts. Wenn Jhering das Recht seit den 1850er Jahren in Opposition zu den Lehren der Historischen Rechtsschule als Resultat eines historisch nachweisbaren Entstehungsprozesses postulierte, strebte er bereits hier nach der Erforschung seiner Motive durch die Bestimmung des „praktischen Zwecks“.127 Die geschichtlich-kollektiven Erfolge von gesellschaftlichen und politischen Regelungen bezeichnete Jhering als „Fortschritt der Kultur“; das Streben nach gemeinschaftlichen Entscheidungen sei „das oberste Kulturgesetz der Geschichte“.128 Die Geschichte des Rechts verstand der junge Jhering zunächst als die „Schilderung der realen Entwicklung des Rechts“, die „freie“ Entfaltung des „Systems“ „aus sich selbst heraus“.129 Das „System“ sei nicht eine „Ordnung“, „die man in die Sache hineinbringt, sondern eine solche, die man herausholt“:130 alle Rechtsanschauungen seien das Resultat der Geschichte.131 Damit folgte Jhering zeitlebens Puchtas für die Dogmatik zentralem Systembegriff des Rechts, der den Standpunkt eines kategorisierenden äußeren und inneren Systems des römischen Rechts vertrat132 und dem Jhering auch nach seiner methodenkritischen Wende die „dialektische Kraft“ einer „unversiegbaren Quelle neuer Rechtswahrheiten“ zuschrieb.133 Allerdings schwächte Jhering verglichen mit den Vertretern der Historischen Rechtsschule die Bedeutung des Systems für die Rechtsdogmatik deutlich ab. Die Jurisprudenz habe vielmehr die Grundsätze der „dogmatische[n] Logik des Rechts“, die „innere Ordnung der jeweiligen Rechtsordnung“ zu unter125
Jhering, Zweck, II, 2. Aufl., 1886, S. 133. Erstmals Jhering, Geist I, 2. Aufl., 1866, S. 120. „Diejenige [. . .] ließe sich die ethische Seite des Rechts [. . .] nennen. Dort handelte es sich um Ideen und Anforderungen, die objectiv in der sittlichen Bestimmung des Rechts und subjectiv in dem natürlichen Rechtsgefühl ihren letzten Grund haben, daher dem Laien nicht minder zugänglich und geläufig sind, als dem Juristen.“ [ders., Geist II 2, 1858, S. 321]. 127 So Jhering, Geist III 1, 1865, S. 236 f. Fn. 321; siehe dazu Mecke, Jhering, 2018, S. 59 f. 128 Jhering, Zweck I, 1877, S. 91, S. 99; Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 56. 129 Jhering, Geist I, 1852, S. 68 f. 130 Jhering, Geist I, 1852, S. 26. 131 Jhering, Geist I, 1852, S. 100; vgl. dazu auch Mecke, Jhering, 2018, S. 60 Fn. 229. 132 Coing, Systembegriff, 1969, S. 151 mit Verweis auf Puchta, Institutionen I, 1841, §§ 4–6; ders., Pandekten, 2. Aufl., 1844, § 16. 133 Jhering, Geist II 2, 2. Aufl., 1869, S. 369 Fn. 529a. Später ders., Scherz und Ernst, 13. Aufl., 1924, S. 352: „Systematik für die Erkenntnis des Gesamtzusammenhanges“ mit Verweis auf ders., Geist II 2, 4. Aufl., 1883, S. 330. 126
VI. Die Bedeutung des Jheringschen Geschichtsverständnisses
211
suchen und zu begreifen, dass folglich ebenso die äußere Ordnung stets allein die „letzte Consequenz“ der Analyse der Rechtsinstitute nach der „naturwissenschaftlichen Methode“ 134 sein könne.135 Damit forderte Jhering Historizität und Wandelbarkeit des Rechtssystems.136 Die Bildung von Recht sollte vielmehr von den Bedingungen und Forderungen des Lebens abhängig sein.137 Auch Savigny war ein Verfechter einer entwicklungsgeschichtlichen Auffassung des Rechts. Sein fortschrittlicher Geschichtsbegriff kann als ein Erfolg gegenüber der Scholastik und als Vorstufe zu Jherings Entwicklungstheorie eingeordnet werden. Während die Lehren der Historischen Rechtsschule in dieser Hinsicht jedoch lediglich proklamatorischen, konservativen Charakter hatten, war Jherings Entwicklungstheorie mehr praktisch, „progressistisch gefärbt“.138 Diese Tatsache führte Jhering zu einer klaren Trennung von Rechtsgeschichte und Rechtsdogmatik.139 So wird nach Fikentscher der Geschichtsbegriff des Rechts bei Savigny als das „Recht aus der Zeit“, bei Jhering als „Recht in der Zeit“ verstanden.140 „Die ganze sittliche Weltordnung ist ein Product der Geschichte, d. i. genauer, des Zweckgedankens, der unausgesetzen Thätigkeit und Arbeit des menschlichen Verstandes, der mit jeder Noth, der er abhalf, jedem Bedürfnisse, das er befriedigte, nur den Boden herstellte, auf dem ein neues Bedürfniss, ein neuer Zweck sich erheben konnte. Der Zweck [. . .] ist das Perpetuum mobile der Weltgeschichte.“ 141
In diesem Sinne begründete Jhering in seinem Spätwerk ,Zweck‘ seine durch menschliche Reflexion und Erfahrung geleitete Kausalitätstheorie.142 Dabei differenzierte er zwischen „Ursache“ und „Zweck“, wobei dieser die Zukunft und das Dynamische verkörperte und jene der Vergangenheit angehörte.143 So wollte 134
Jhering, Geist II 2, 1858, S. 396. Mecke, Jhering, 2018, S. 417 f. 136 Etwa Jhering, Geist III 1, 1865, S. 299. Vgl. dazu insb. Mecke, Jhering, 2018, S. 411–420, 641. 137 Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 78. 138 Merkel, Nachruf Jhering, 1893, S. 20; ferner Lange, Wandlungen Jherings, 1927, S. 60 ff.; Landsberg, Geschichte III/2, 1910, S. 795 f.; Fikentscher/Himmelmann, Iherings Einfluss, 1995, S. 111 ff. 139 Vgl. eingehend bereits A. I. 1. Ferner Marini, storicità, 1970, S. 155 ff., insb. S. 160. 140 Fikentscher, Methoden, 1976, S. 196; von dem Verhältnis zwischen Entwicklungs- und Zeitmoment zeugen folgende Zeilen Jherings, Geist I, 1852, S. 76: „Der Fortschritt des Systems involviert notwendigerweise den Fortschritt der Zeit, nicht aber umgekehrt, denn die Zeit ist nicht die vis moyens, sondern der bloße Rahmen, in den die Evolutionen des Systems hineinfallen.“ 141 Jhering, Zweck II, 2. Aufl., 1886, S. 111 ff. 142 Jhering, Zweck I, 1877, S. 3. Vgl. dazu auch jüngst Vesco, Erfindung, 2021, S. 71 ff. 143 Jhering, Zweck I, 1877, S. 5: „Bei der Ursache verhält sich der Gegenstand, an dem die Wirkung eintritt, leidend, er erscheint dabei lediglich als ein einzelner Punkt im Universum, an dem sich in diesem Moment das Kausalitätsgesetz vollzieht, beim Zweck dagegen stellt sich das Wesen, das durch ihn in Bewegung gesetzt wird, als selbsttätig dar, es handelt. [. . .] Die äußere Natur, nach dem Grunde ihrer Vorgänge befragt, weist 135
212
E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
Jhering die als menschliche Kunstwerke verstandenen logischen Begriffe des Rechts von ihrem apriorischen Daseinszweck entbinden zugunsten des als Erfahrungsspeicher funktionierenden Rechtsgefühls.144 Elementar und abschließend für das Jheringsche Geschichtsverständnis gilt seine posthum veröffentlichte ,Einleitung zur Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts‘, mit welcher sich letztlich der Kreis zwischen Jherings Zweckgedanken des Rechts, seinem Manifest des ewigen Rechtsfortschritts und dem Katalysator Rechtsgefühl als Inbegriff der Rechtsinnovation schließt.145 Die „Frage nach dem Endzweck des Sittlichen“ kann nach Jhering nur die Geschichte beantworten: „An die Stelle des Naturgebots“ trat die „eigene freie That des Menschen“, „die Frage nach dem Warum“.146 Nach Jhering sollte die Rechtsgeschichte „angewandte Rechtsphilosophie“ sein.147 Er hob neben „der bloßen Reihenfolge der Rechtsthatsachen in der Zeit (äußeres Hintereinander)“ die „kausale [. . .] Beeinflussung der einen Thatsache durch die andere (inneres Hervorgehen des Einen aus dem Andern)“ hervor. In den letzten Lebensjahren widmete sich Jhering daher vordergründig der Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts und damit der „Verfolgung des Kausalitätsgedankens“.148 Seine modifizierte, die engen Schranken der herrschenden Lehre der Historischen Rechtsschule von der bloßen „Projection unserer heutigen Ideen in die Vergangenheit“ 149 durchbrechende Auffassung „vom geschichtlichen Werden und Wachsen des Rechts“ 150 verbindet nun Kausalität und telos,151 indem Jhering fortan dem psychologischen Moment, den teleologischen Grundsätzen sowie dem Rechtsgefühl einen zentraden fragenden nach rückwärts, der Wille nach vorwärts, jene antwortet mit quia, dieser mit ut.“ 144 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 169 f. 145 So auch Jhering, Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 247 f. Vgl. ausführlich D. II. 6.; E. VI. 146 Jhering, Nachlass SUB Göttingen, Cod. Ms. Jhering 16:12, Bl. 13. 147 Seine in Geist aufgestellten Thesen sowohl in dogmatischer als auch in philosophischer Hinsicht zur „Darlegung der innerlichen Zusammengehörigkeit des Gleichzeitigen im Recht“, „[n]icht bloß des äußeren Nebeneinanderbestehens des Gleichzeitigen (dogmatischer Zusammenhang), sondern der inneren durch die Gemeinsamkeit der treibenden Kräfte bewirkten Gleichartigkeit der Gestaltung der einzelnen Rechtsinstitute (philosophischer Zusammenhang)“ [Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 5 f.]. 148 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 6: „Mein Augenmerk in diesem Werk ist auch auf das propter hoc gerichtet, das post hoc interessirt mich nur soweit, als es für das propter hoc in Betracht kommt. Ich kann das Problem, das ich in diesem Werke gestellt habe, kurz bezeichnen als: Verfolgung des Kausalitätsgedankens in der Geschichte des römischen Rechts. Das ist es, was ich mit dem Namen Entwicklungsgeschichte habe sagen wollen, Entwicklung ist hier also in dem Sinne genommen, daß das Folgende durch das Vorhergehende kausal beeinflußt ist.“ Vgl. dazu auch Hurwicz, Ihering, 1911, S. 7 f. 149 Jhering, Zweck I, 2. Aufl., 1884, S. 247; ausführlich über die Theorie vom unbewussten Werden des Rechts A. I. 150 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 5. 151 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 37.
VII. Synergieeffekt von subjektiven und objektiven Anteilen des Rechtsgefühls 213
len Stellenwert beimisst.152 Ein Novum ist, dass Jhering erstmals die Ansicht über die Geltung des Rechts durch den engen Lebensbezug, durch die menschliche Tatkraft und ein bewusstes, zielgerichtetes Handeln forderte.153 Die Idee des Rechts liegt nach Jhering letztlich im ewigen Fortschritt des Rechts.154 Entsprechend ist nach Behrends die Geschichte „der Raum, in dem das Recht als notwendige und bei aller kurzfristigen Änderbarkeit auf lange Frist sich kontinuierlich entwickelnde Lebensbedingung der Menschen erscheint“.155 Die vom menschlichen Abstraktionsvermögen ausgewerteten politisch-gesellschaftlichen Kräfte erfordern die stetige Überprüfung und Erneuerung von Recht. Motor jener kontinuierlichen kritischen Reflexion ist das kontrollierende Rechtsgefühl.156 Das wandelbare Rechtsgefühl steht unter dem Einfluss historischer Schlüsselereignisse, angetrieben durch einen sich stetig entwickelnden und von den vorherrschenden Wertvorstellungen abhängigen Zeitgeist.157 Es reagiert auf soziale und ökonomische Veränderungen; die (post-)industrielle Arbeitswelt etwa beanspruchte ein anderes Rechtsgefühl als eine agrarische, feudale Gesellschaft. Durch diese „Kritik des Rechts durch sich selber“ erfolge nach Jhering eine Selbstbewegung des Rechts.158 So konstruiert Jhering am Ende seines Lebens in entwicklungsgeschichtlicher Hinsicht seine Evolutionstheorie des Rechts, die das Wechselspiel von Recht und Rechtsgefühl verdeutlicht und gleichsam als Quintessenz der gesamten Forschung über das Jheringsche Rechtsgefühl gelten kann, welches Jhering zudem in seinem ausdrucksstarken Sinnbild vom Schatten des Wanderers manifestierte.
VII. Synergieeffekt von subjektiven und objektiven Anteilen des Rechtsgefühls „[D]er Mensch muss die Rechtssätze erst fühlen, damit er sie sich einpräge.“ 159
Den Begriff des Rechtsgefühls zu fassen, macht insbesondere sein ihn prägendes Charakteristikum so schwierig, sowohl eine subjektive als auch eine objek152 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 18 ff.; vgl. dazu insb. Lange, Wandlungen Jherings, S. 130 f.; Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 99 f.; ferner Fikentscher, Methoden, 1976, S. 197; jüngst Vesco, Erfindung, 2021, S. 71–76. 153 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 3, 28 ff. 154 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 25 f.; ders., Kampf, 1872, KlennerAusgabe, S. 15 f.; ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 7: „[S]o auch das Recht dem Wandel unterworfen ist, die nackte Thatsache, daß das Recht sich bewegt.“ 155 Behrends, Antrittsvorlesung, 1998, S. 99. 156 Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 65 f.; ferner ebd., S. 77 f. 157 So auch die Heinemann’sche These von der „Seinsoffenheit“ des Rechtsgefühles: Heinemann, Rechtsgefühl, 1972, S. 57 ff., 76 ff.; vgl. ferner Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl., 1963, S. 253 f., 661; David/Grasmann, Rechtssysteme, 1966, S. 338. 158 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 26. 159 Jhering, Schuldmoment, 1867, S. 19.
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E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
tive Komponente aufzuweisen, die nicht trennscharf voneinander abgegrenzt werden können.160 Das Rechtsgefühl ist in erster Linie ein „Prozess subjektiven Erlebens“ sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene und besitzt „handlungsanregende“ und „persönlichkeitsformende“ Kräfte.161 Darüber hinaus kann (und muss) das Rechtsgefühl jedoch objektiviert werden. Eine „Objektivierung“, definiert als eine der objektiven Betrachtung zugängliche Form, die frei ist von subjektiven, emotionalen Einflüssen,162 ist zum einen auf der Mikroebene durch nachträgliche Deduktion innerhalb der rechtlichen Falllösung, zum anderen auf entwicklungsgeschichtlicher Makroebene möglich. Nach Döderleins Gefühlsformel wird ein „partiell objektiv-kollektiv präfigurierte[r] Charakter“ eines Gefühls von epochalen sowie sozial- und kulturspezifischen Kräften beeinflusst, aus denen sich eine „kulturgeschichtliche Konstante“ herausbildet.163 Demgemäß ist sie auch auf das Jheringsche Rechtsgefühl übertragbar, das dem Rechtsgefühl neben den subjektiven Eigenschaften auch die objektiven gleichrangig zuerkennt: „Diese Ambivalenz aus Subjektivität und individuell-biographischer Prägung auf der einen und Intersubjektivität beziehungsweise Objektivität und kollektiv-kultureller Codierung auf der anderen Seite stellt ein wesentliches strukturelles Merkmal des Rechtsgefühls dar.“ 164
Schließlich kann das Rechtsgefühl bei Jhering grundsätzlich als das „von Erfahrung mit Recht genährte Rechtsgewissen“ beschrieben werden.165 Es realisiert sich durch ein Zusammenspiel von subjektiven und objektiven Elementen. Wie bei Rehbinder ist es „in der Genese subjektiv und emotional, im Anspruch dagegen objektiv und rational“.166 In diesem Sinne brachte Jhering das Recht als „Niederschlag der Erfahrung“ auf folgende meisterhafte Formel: 160
Schoberlechner, Unbewußte, 1905, S. 235. Döderlein, Literatur, 2017, S. 46. Dabei kann das Rechtsgefühl nach Döderlein zwischen „introvertierter Informationsverarbeitung und extrovertierter Informationsvergabe“ wechseln [a. a. O.]. 162 Ferner Düwel, Rechtsbewusstsein, 1961, S. 99: „Der Sprachgebrauch kennt zwei miteinander innerlich zusammenhängende Bedeutungen des Begriffes ,objektiv‘. Als objektiv läßt sich zunächst bezeichnen, was im Bewußtsein als Gegenstand erscheint. Objektiv heißt gegenständlich. Weil aber eine solche Vergegenständlichung ein von allem Erdenken und Dafürhalten unabhängiges Eigendasein des Vergegenständlichten voraussetzt, gewinnt der Begriff der Objektivität den Sinn von unbedingter Gültigkeit. Die Vergegenständlichung, die sich jederzeit und von jedem beliebigen Subjekt nachvollziehen läßt, bietet die Gewähr für die Verläßlichkeit des Bewußtseinsinhaltes.“ 163 Vgl. Döderlein, Literatur, 2017, S. 47 f., 65 f.; Rehbinder, Gemeinschaftsgefühl, 1987, S. 187. 164 Döderlein, Literatur, 2017, S. 66. 165 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 97. 166 Rehbinder, Gemeinschaftsgefühl, 1987, S. 183; ders., Fragen, 1982, S. 1 ff.; ders., Fragen, 1983, S. 261 ff.; Müller-Dietz, Rechtsgefühl, 1985, S. 44. Der Träger des Rechtsgefühls ordnet sein Gefühl als „rational begründbare Forderung der Gerechtig161
VII. Synergieeffekt von subjektiven und objektiven Anteilen des Rechtsgefühls 215 „Nicht ein guter Geist ist es, der plötzlich über ihn kommt, nicht eine Regung der Frömmigkeit, des Gewissens, des angeborenen Gefühls für Recht und Gerechtigkeit, das lange unterdrückt, endlich einmal seine Stimme erhöbe – kein Engel des Lichts erscheint ihm, der ihm den Weg wiese, er selber muss sich ihn suchen, indem er sich verirrt und verläuft, strauchelt und fällt. Stets durch sein eigenes Interesse geleitet, der hartherzigste, unverbesserlichste Egoist, aber Erfahrung an Erfahrung reihend, sammelt er sich einen Schatz von Lebensregeln, die alle darauf hinausgehen, ihn über den rechten Weg, den er einzuschlagen hat, um von seiner Macht den größten Nutzen zu ziehen, zu belehren. Diese Theorie des rechten Weges, des Richtsteiges der Gewalt ist das Recht.“ 167
Als Quintessenz für die verschiedenen Dimensionen des Jheringschen Rechtsgefühls bedeutet das: Das Rechtsgefühl des Laien kann sich erst auf der Grundlage der objektiven Regeln des Rechts bilden. Durch die Sammlung von Lebensregeln und Erfahrungen mit dem Recht entwickelt sich sein Rechtsgefühl. Der hierfür erforderliche Kontakt mit der Rechtsordnung entsteht jedoch nur, wenn der (Rechts-)Staat das Recht auch tatsächlich durchsetzt.168 Auf diese Weise kann der Laie sich einen Weg durch die Rechtsordnung bahnen und mit Hilfe seines Rechtsgefühls bei einer Rechtsverletzung sein subjektives Recht verwirklichen.169 Der Jurist, der im Gegensatz zum Laien am „objektiven“ Recht ausgebildet ist, muss das Recht am Einzelfall stets überprüfen. In gewissem Maße „kommt das Leben doch zu ihm“, indem er sich ununterbrochen subjektive Erfahrungen mit dem Recht aus der Fülle seiner bereits entschiedenen Rechtsfälle erschließt, die auch sein professionelles Rechtsgefühl prägen und erweitern.170 Damit zeigt sich, dass auch in der Person des Richters das subjektive Element als die richterliche Erfahrung mit dem Recht, oder auch kurz Judiz genannt, notwendig ist, um den objektiven Anteil im Rechtsgefühl zu nähren und die Regeln des Rechts tatsächlich hinterfragen zu können.
keit“ ein, da ihn seine Entscheidung aus rationalen Gesichtspunkten dazu berechtigt [Bihler, Rechtsgefühl, 1979, S. 101]; vgl. ferner die Waagschalen-Metapher über die Beziehung von Rechtsgefühl und geltendem Recht bei Döderlein, Literatur, 2017, S. 286. 167 Jhering, Zweck I, 1877, S. 253 f.; vgl. auch ebd., S. 255; ders., Schuldmoment, 1867, S. 8: „Ewig wahr habe ich jenen Satz genannt, aber auch das ewig Wahre hat von der Menschheit erst gefunden, erfahren, erkannt werden müssen. Jener Satz hat nicht von Anfang an gegolten, die Anfänge des Rechts zeigen uns vielmehr bei allen Völkern Rechtssätze und Einrichtungen, die mit ihm im schroffsten Widerspruch stehen. Woher dies? [. . .] Die tägliche Erfahrung kann uns darauf Antwort geben.“ 168 Jhering, Zweck I, 1877, S. 368: „Es gibt zwei [Garantien des Rechts], die eine ist innerliche, die andere äusserlicher Art, die eine ist das Rechtsgefühl, die andere die Rechtspflege.“ 169 Siehe E. III. 1. 170 Siehe C.; E. III. 2.
216
E. Mehrebenenmodell des Jheringschen Rechtsgefühls
Durch diese Erfahrungen bilden sich auch für das Kollektiv Recht und Rechtsgefühl fort, sie bedingen und fördern sich gegenseitig. Es entsteht eine Wechselwirkung zwischen subjektiver Erfahrung und objektivem Recht.171
171
Siehe E. II.
Ergebnis I. Fazit Die Diskrepanz zwischen gefühlsgeleiteter juristischer Übung und dem Anspruch von absoluter Rationalität an die Rechtspraxis entfacht die auch heute noch hochaktuelle Diskussion um das Wesen des Rechtsgefühls im juristischen Diskurs. Die Untersuchung des Jheringschen Rechtsgefühls liefert einen wichtigen Beitrag und einen weiteren Beweis für Jherings hohe Innovationskraft und seinen Verdienst um die deutsche Jurisprudenz in ihrer Blütezeit. Ferner trägt sie zu einem vollständigeren und differenzierteren Blick auf Jherings rechtswissenschaftliche Methode bei. Jhering gebührt die Berufung zum Spiritus Rector der Rechtsgefühlsforschung. Das Interesse an der genaueren Analyse des Jheringschen Rechtsgefühls war bis dato insbesondere deshalb begrenzt, da es die vollständige Einbeziehung seines wissenschaftlichen Gesamtwerkes zuzüglich seiner Neuauflagen beansprucht hätte. Es existiert kaum eine Schrift Jherings, in der er sich nicht zu dem Rechtsgefühl geäußert hat. Die vorliegende Arbeit hat bewiesen, dass die Kategorisierung des Jheringschen Rechtsgefühls zwar aufgrund seiner Unabgeschlossenheit durchaus anspruchsvoll, aber in Form eines Mehrebenenmodells dennoch möglich ist. Insbesondere wurde verdeutlicht, dass das Jheringsche Rechtsgefühl weit mehr ist als ein bloßes laienhaftes, subjektives Gefühl für das Recht. Es muss vielmehr als menschlicher Erfahrungsspeicher und Kontrollinstanz des Rechts verstanden werden.1 Letztlich ist in der Rechtsgefühlsforschung wissenschaftsübergreifend seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert bis heute die Betätigung des Rechtsgefühls gerade in der Krise bzw. sein Krisenmanagement (ein) gemeinsames Kriterium. Das Rechtsgefühl ist in jedem Wissenschaftsdiskurs, in jeder zeitlichen Epoche (auf der Mikroebene und Makroebene gleichermaßen) „vor allem da virulent, wo 1 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 21: „Ich habe für meine Ansicht kein weiteres Postulat nothwendig als den menschlichen Verstand und die menschliche Erfahrung, die Gabe des Menschen, dass er durch die Erfahrung gewitzigt werde.“ In diesem Sinne auch Stammler, Rechtsphilosophie, 1922, S. 299 f.: „eine beliebig zusammengeraffte Kenntnis von Recht und gesellschaftlichem Leben und eine subjektive und zufällige Weise des Urteilens. [. . .] von der Betrachtung des Rechtsgefühles als einer persönlichen Empfindung, die eine rechtliche Erfahrung begleitet“. Dazu insb. Behrends, Rezension zu Luf/Ogris, 1997, S. 564: „Der Mensch wird geleitet durch die wachsende Erfahrung mit Recht, die sich in kritischen Werturteilen des Rechtsgefühls niederschlägt, unablässig an der zweckmäßigeren Gestaltung des Rechts.“; ferner Hebeisen, Pragmatismus, 2005, S. 340.
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Ergebnis
Konfliktsituationen verlaufen“.2 Insbesondere der aufgrund seiner gesellschaftlichen Herausforderungen und politischen Umbrüche als „historische Schwellenzeit“ bezeichnete Übergang vom 18. in das 19. Jahrhundert ist für die Rechtsgefühlsforschung zentral.3 Entsprechend kommt nach Koopmann „nicht zufällig die Forderung auf, das Rechtsgefühl (neu) zu definieren“.4 Als Gegenbewegung zum rationalen Diktat der Aufklärungszeit wurde um 1800 insbesondere in der schönen Literatur und Dichtung Raum für das „Rechtsgefühl“ geschaffen. Das Individuum und die Gesetze seines Gefühlslebens stehen fortan im Mittelpunkt der Forschung.5 Die Kategorien Recht, Schuld und Verantwortung werden zueinander neu ins Verhältnis gesetzt. Das Rechtsgefühl kann nun Einfluss auf die Justiz nehmen; gesellschaftliche und politische Faktoren werden fortan miteinbezogen. So erhält das Rechtsgefühl des Individuums in Gestalt „romantischer Subjektivitätsverherrlichung“ Vorrang vor der geltenden Rechtsordnung und hebt sich bei Widerspruch mit demselben zu einer normativen Instanz empor, um sich am Ende wieder dem Gesetz zu fügen.6 Um die Jahrhundertwende war daher ein Übergewicht des Individualgefühls und ein stark subjektives Rechtsgefühl charakteristisch. Doch das Rechtsgefühl wird schließlich einem Rationalisierungs- und Objektivierungsprozess unterzogen, der dasselbe zugunsten der geltenden Rechtsordnung als ausschließlicher Kontrollmechanismus der modernen Gesellschaft zurücktreten ließ.7 Auch in der Rechtsphilosophie wurde das Rechtsgefühl teilweise noch weit bis in das 19. Jahrhundert hinein durch das nachwirkende Aufklärungsdenken als „vernunftswidriges Phänomen“ von der Macht des Verstandes verdrängt.8 Im ausgehenden 19. Jahrhundert löste bei der Diskussion um das Rechtsgefühl bzw. seine verwandten Phänomene die Psychologie die Philosophie weitgehend ab und nahm für sich den Aufstieg zur Leitwissenschaft in Anspruch.9 Mit ihr begann eine neue Ära der Rechtsgefühlsforschung. Vor dem Hintergrund des Fortschritts der Naturwissenschaften wird im Verlauf des 19. Jahrhunderts insbesondere in der Medizin, Evolutionsbiologie und Psychophysik ein neues Detailinteresse an der körperlichen Dimension des Gefühls geweckt.10 Die Untersu2
Köhler et al., Recht fühlen, 2017, S. 16. Koopmann, Literatur, 2010, S. 277. 4 Koopmann, Literatur, 2010, S. 276. Der Philologe Gelfert bezeichnet durch Tragödien charakterisierte Zeitalter „Erdbebenzentren“ [ders., Tragödie, 1995, S. 29]. Ferner dazu Döderlein, Literatur, 2017, S. 299. 5 Vgl. B. II. 1.; Recki, Ästhetik, 2016, S. 63 f. 6 Koopmann, Literatur, 2010, S. 279. 7 Weisberg, Literatur, 2013, S. 12; dazu insb. Döderlein, Literatur, 2017, S. 17. 8 Vgl. B. II. 2. Döderlein, Literatur, 2017, S. 49 ff.; ferner Schmidt, Sieg des Rechtsgefühls, 2017, S. 43–61; vgl. auch jüngst ders., Rechtsgefühl, 2020, et passim. 9 Vgl. B. II. 3.; Döderlein, Literatur, 2017, S. 42. 10 Jensen/Morat, Verwissenschaftlichung, 2008, S. 11–34. 3
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chungen der experimentellen Psychologie konzentrieren sich auf die Messung von psychischen Reizen und Nervenfunktionen.11 Die eingehende Beschäftigung der Psychologie mit dem Phänomen „Rechtsgefühl“ intensivierte sich im Verlauf des 20. Jahrhunderts.12 Der Entmystifizierungs- bzw. Objektivierungsprozess des Rechtsgefühls war damit spätestens abgeschlossen.13 Im juristischen Diskurs zeigte sich mit dem Entstehen der Historischen Rechtsschule ein angeborenes i. S. v. ursprünglichem Nationalgefühl im Sinne des Volksgeistes. In paralleler Entwicklung zu den aufstrebenden Nachbarwissenschaften Mitte des 19. Jahrhunderts löste der Positivismus auch im Rechtsdiskurs einen Objektivierungsprozess des Rechtsgefühls aus. Die Struktur des Rechts wurde zunehmend, so auch von Jhering, anhand der naturhistorischen Methode untersucht. Beherrscht wurde die Jurisprudenz fortan von einem streng juristischen, von den Gesetzen der Logik abhängigen Denken (Begriffsjurisprudenz). Mit dem zunehmenden Einfluss der Naturwissenschaften auf die Rechtsmethode wuchs der Lebenswirklichkeitsbezug und resultierte schließlich in einem neuen Rechtsgefühlsbegriff im späten 19. bis hinein in das 20. Jahrhundert.14 Im Mittelpunkt der Rechtsgefühlsdebatte stand zunächst fortan die Ursprungsfrage des Rechtsgefühls.15 Die Auffassung von einem angeborenen Rechtsgefühl wurde zunehmend von der eines (historisch) wandelbaren Rechtsgefühls abgelöst.16 Als Konsequenz rückte der Konnex von Rechtsgefühl und Rechtspraxis, insbesondere das Rechtsgefühl des Richters bei der Rechtsanwendung, in den Fokus der Juristen.17 Entgegen der früheren distanzierten Haltung gegenüber dem Rechtsgefühl bei der Fallentscheidung sollte dasselbe nun fortan als Kontrollinstanz dienen. Im juristischen Diskurs kam das Rechtsgefühl da zum Einsatz, wo es sich in einem Widerspruch mit der sich aus dem geltenden Recht hergeleiteten Rechtsfolge befand.18 Auch hier bildet die Krisenabhängigkeit bzw. das -management sowohl am Einzelfall, auf der Mikroebene, als auch auf entwicklungsgeschichtlicher Ebene, der Makroebene, ein allgemeines Kennzeichen des Rechtsgefühls.19 Das Rechtsgefühl wurde spätestens seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts Untersuchungsthema ganzer Abhandlungen.20 Dabei behandeln ihre Vertreter weiter11
Köhler/Müller-Mall/Schmidt/Schnädelbach, Recht fühlen, 2017, S. 14 f. Döderlein, Literatur, 2017, S. 49. 13 Vgl. B. II. 3. 14 Haff, Rechtspsychologie, 1924, S. 19. 15 Vgl. E. I. 16 Vor allem Rümelin [Über das Rechtsgefühl, 1871] vs. Jhering [Ueber die Entstehung des Rechtsgefühls, 1884]. 17 Köhler et al., Recht fühlen, 2017, S. 17 f. 18 Köhler et al., Recht fühlen, 2017, S. 16. Auch bei Jhering sowohl auf der Mikroals auch auf der Makroebene, vgl. E. III. 19 Zur Krisenabhängigkeit des Rechtsgefühls in der Literatur vgl. Döderlein, Literatur, 2017, S. 299 f. 20 Vgl. B. III. 3. 12
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hin vorherrschend die Frage nach der Rechtsentstehung und der Bedeutung des menschlichen Intellekts bei der Anwendung des Rechtsgefühls am Rechtsfall.21 Letztlich hat die wissenschaftsübergreifende und rechtliche Analyse der allgemeinen Phänomenologie des Rechtsgefühls im 19. Jahrhundert eine von den Naturwissenschaften gesteuerte Transformation des Rechtsgefühls vom Subjektiven zum Objektiven nachgewiesen. Erkennbar wurde ein maßgeblich durch die aufkommende Physiologie und Psychologie angetriebener Objektivierungsprozess und ein neuer Zugang zum Rechtsgefühl, der den Wandel von einem angeborenen Gefühl zu einer variablen normativen Instanz in Gang setzte. Ferner wird erneut bestätigt, dass das Rechtsgefühl letztlich nicht generalisiert werden kann. Es ist vielmehr ein „äußerst sensibles, janusköpfiges Phänomen, das sich aufgrund seiner spannungsgeladenen Wirkkraft aus emotionalen und rationalen, subjektiven und objektiven sowie individuellen und kollektiven Faktoren im Falle einer Verabsolutierung oder Verfremdung in einen unberechenbaren, dialektischen Wert verkehren kann“.22 Die Institute „Recht“ und „Rechtsgefühl“ können mehrere Funktionen und Dimensionen in sich schließen, die eine eindimensionale Organisationsstruktur ausschließen und zugleich eine knappe Definition unmöglich machen. Vor dem Hintergrund der aufkommenden Naturwissenschaften veränderte sich auch Jherings Rechtsgefühlsbegriff. Aus seiner „eigenen kleinen Erfahrung“ wusste Jhering, „daß nicht selten ein Rechtsfall, indem er uns eine bisher nicht aufgeworfene Frage vorführt, uns neue Seiten des Verhältnisses erschließt und dadurch die Theorie wesentlich fördert“.23 Die naturhistorische Methode machte es möglich, „mit ihren Antworten den Fragen der Praxis voranzueilen, ihr also das demüthige Loos erspart, sich lediglich durch die Praxis zu neuen Entdeckungen anregen zu lassen, und so zu sagen hinter ihr her zu hinken“.24 Jhering strebte nach einer höheren Jurisprudenz und kritisierte in diesem Zuge den fehlenden Lebenswirklichkeitsbezug der Rechtsbegriffe:25 „Wenn man Rechtszustände beurtheilen will, so muß man nicht auf die Gesetze, sondern auf das Leben sehen. Dieses Recht [ist] im Leben oft ganz anders.“ 26
Nachdem Jhering im Jahre 1858 „der Herrschaft des Rechtsgefühls“ zunächst „ein Ende“ machen wollte,27 fand er Ende der 50er bzw. Anfang der 60er Jahre 21
Vgl. B. III. Döderlein, Literatur, 2017, S. 299. 23 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 18. Vgl. C. II. 24 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 18 f. 25 Jhering, Unsere Aufgabe, 1857, S. 20. Vgl. A. II. 2. 26 Jhering, Nachlass SUB Göttingen Cod. Ms. Jhering 18:1, Bl. 36 zit. nach Mecke, Jhering, 2018, S. 108. So auch ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 9 f. 27 Jhering, Geist, II 2, 1858, S. 377; Haferkamp folgend kamen „Intuition und Gefühl [. . .] in den Geruch der Unwissenschaftichkeit. Die gewonnene Freiheit, durch die 22
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einen neuen Zugang zum Rechtsgefühl. Seine methodenkritische Wende zu einer teleologischen Rechtsmethode bedeutete auch einen Wandel seines Rechtsgefühlsbegriffs. Fortan verfolgte Jhering eine „mehr der Intuition des Rechtsgefühls Raum gebende, auf praktischen und billigen Entscheidungen abzielende Denkweise“.28 Eigentliches Agens des Rechtsgefühls bei Jhering war der Rechtsfall.29 Sein bei der Begutachtung von Rechtsfällen für die Spruchfakultät protestierendes Rechtsgefühl bewirkte, dass Jhering die dogmatische Lösung des Rechtsfalles hinsichtlich Sinn und Zweck des anzuwendenden Gesetzes überprüfte und gegebenenfalls anpasste. Auf diese Weise hatte Jhering eine neue, auf den Einzelfall bezogene Kontrollinstanz für die Prüfung der Korrektheit der rechtlichen Lösung im Korpus des Rechtsgefühls und Zwecks geschaffen.30 Das Rechtsgefühl diente Jhering fortan als metaphorischer Kompass und Richtungsweiser. Daneben sprach er dem Rechtsgefühl andererseits eine affektive, auch im Laien angelegte Funktion der Verwirklichung und damit letztlich der Selbstbehauptung des Rechts zu. Dadurch realisiert der Bürger seine Mündigkeit.31 Jhering verfolgte zeitlebens das Leitbild einer praktischen Rechtswissenschaft. Zentrale Ausprägung dieser war seine Absage an die Volksgeistlehre der Historischen Rechtsschule und seine (kontinuierliche) Hervorhebung des menschlichen Verstandes32: „Die Autorität des ,gesunden Menschenverstandes‘ erkenne ich für die Jurisprudenz als eine ganz entscheidende an, ja ich möchte letztere definiren als: Niederschlag des gesunden Menschenverstandes in Dingen des Rechts. [. . .] ein Schatz von Erfahrungssätzen, von denen jeder tausendfältig die Kritik des denkenden Geistes und des praktischen Lebens hat bestehen müssen.“ 33
Die Rechtspraxis sollte die Bedürfnisse nach Jhering vielmehr offenlegen und die Rechtsdogmatik Ergebnisse liefern. Die Anerkennung des Rechtsgefühls als Erfahrungsspeicher und Kontrollinstanz bei der Rechtsfindung als zusätzliches Argument seiner zeitlebens verfolgten Gegenwartswissenschaft ist Jherings großer Verdienst.34
Quellen hindurch das Recht zu modernisieren, gab hinreichend Freiraum, um korrigierende Berufungen auf das Rechtsgefühl als Volksgeistzugang [zunächst!] entbehrlich zu machen“ [ders., Historische Rechtsschule, 2018, S. 318]. 28 Wolf, Große Rechtsdenker, 4. Aufl., 1963, S. 615 ff. 29 Vgl. C. II. 30 Vgl. C. III.; Fikentscher, Methoden, 1976, S. 244; jüngst Mecke, Jhering, 2018, S. 245. 31 Vgl. E. III. zur Unterscheidung von affektiver Form und kritischer Funktion des Rechtsgefühls. 32 Ausführlich zur Kritik Jherings an der Historischen Rechtsschule vgl. A. I.; ferner Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 318 ff. 33 Jhering, Geist II 2, 1858, S. 330. 34 Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 48 f.
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Ergebnis
Das Rechtsgefühl kam bei Jhering immer dann zum Einsatz, wenn es bei der Fallentscheidung im Widerspruch zu den anzuwendenden Rechtsvorschriften stand: „[I]ndem ich mir alle denkbaren Gestaltungen des Verhältnisses im Leben zum Bewußtsein brachte und den Satz, um den es sich für mich handelte, an ihnen erprobte. Er bestand die Probe schlecht! Namentlich war es ein Fall oder vielmehr eine ganze Kategorie von Fällen, die sich der Anwendung desselben entschieden widersetzte.“ 35
Bei Jhering ist das Rechtsgefühl ein „erster Impuls“ 36, eine kritische Instanz, wodurch das Rechtsgefühl zum Sprechen genötigt wird, eine Art Diagnosewerkzeug. Das Rechtsgefühl kann keine Entscheidungen treffen und damit keine inhaltliche Begründung des Ergebnisses garantieren. Vielmehr besitzt es die Fähigkeit, Widersprüchlichkeiten anzuzeigen. Auf der Grundlage und nach dem Sinn und Zweck der anzuwendenden Rechtsnorm initiiert das Rechtsgefühl die Herleitung einer dogmatischen Lösung. Folgerichtig spricht Jhering das Rechtsgefühl auch den Richter der Vorinstanzen zu, ohne dass jedoch eine Garantie für die Korrektheit des dogmatischen Resultats bestünde.37 Insbesondere Jherings bedeutendes, für seine methodischen Entwicklungen zentrales Werk ,Geist‘ enthält eine Trennlinie hinsichtlich des Inhalts und der Verwendung seines Rechtsgefühlsbegriffs.38 Einhergehend mit seiner Abkehr von der Volksgeistlehre der Historischen Rechtsschule startete Jhering Ende der 50er Jahre des 19. Jahrhunderts den Versuch, das Rechtsgefühl methodisch neu zu erfassen, nachdem ihm seine Rechtsgutachten die nötigen Impulse gegeben hatten. Dies führte ihn insbesondere zu den wertvollen Anmerkungen zum Rechtsgefühl in den Beiträgen seiner Jahrbücher und den Werken ,Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft‘, ,Kampf um’s Recht‘, ,Zweck im Recht‘ und schließlich ,Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles‘ und ,Einleitung zur Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts‘.39 In den 1880ern brachte Jhering die Nähe zur Naturwissenschaft auch auf entwicklungsgeschichtlicher Ebene in Gestalt seiner Evolutionstheorie des Rechts zum Ausdruck. Recht diente für ihn nun vorrangig der Erfüllung gesellschaftlicher Zwecke.40 Der Jheringsche Zweckbegriff verkörperte das gesellschaftliche Ideal der absoluten Gerechtigkeit oder Sittlichkeit.41 Jhering vertrat eine pragmatische Jurisprudenz, die auf entwicklungshistorischer Ebene eine fortschrittliche 35 Jhering, Kaufcontract II, 1861, S. 369; ferner ders., Reflexwirkungen, 1871, S. 461 f. 36 Jhering, Kaufcontract II, 1861, S. 367. 37 Vgl. C. II.–IV. 38 Vgl. D. II. 1. 39 Vgl. auch Haferkamp, Historische Rechtsschule, 2018, S. 317 ff. 40 Nach Jhering war deren „Grund, der Zweck, und da öffnet[e] sich der Wissenschaft eine unendliche Perspektive“ [ders., Rechtsgefühl, 1884, S. 53]. 41 Behrends, Rechtsgefühl, 1986, S. 54, 174 ff.
I. Fazit
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Beziehung zwischen Recht und Sittlichkeit mit dem idealistischen Rechtsgefühl als deren Ziel verfolgte.42 In positiv-rechtlicher Hinsicht wird der Rechtsanwender „geleitet durch die wachsende Erfahrung mit Recht“ in Gestalt des kritischen Rechtsgefühls, stets mit dem Ziel einer zweckgerichteten Gestaltung des Rechts.43 Schließlich räumte Jhering dem Rechtsgefühl in seiner höchsten Form eine reflektierende, geistig produktive Kraft ein, die er als ein kritisches, vom Verstand gesteuertes menschliches Abstraktionsvermögen bestimmte:44 Auf entwicklungsgeschichtlicher Ebene war das idealistische Rechtsgefühl für Jhering mithin die rechtsschöpferische Avantgarde, die dem geltenden Recht vorauseilte45; es war nicht nur eine Art Diagnosewerkzeug zum Finden des existierenden positiven Rechts46, sondern darüber hinaus ein Evolutionsmoment für die Dogmatik in Gestalt des menschlichen Abstraktionsvermögens.47 Den menschlichen Geist unter stetiger Einbeziehung der praktischen Bedürfnisse verstand Jhering als unerlässliche Voraussetzung für den Rechtsfortschritt. Durch unbewusste rechtliche Abstraktion und Übertragung des Abstrahierten auf neue Rechtsgrundsätze konnten aus angewandter kultureller und sittlicher Empirie der geltenden Rechtsordnung neue Regeln und durch soziale Validierung und Verdichtung letztlich Recht entstehen.48 Auf diese Weise sei nach Jhering eine „Kritik des Rechts durch sich selber“ möglich.49 Vor diesem Hintergrund konstatierte Jhering mit seinem bis dato überwiegend unbeachteten Bildnis des ,Schatten des Wanderers‘ das sich abwechselnd im Vorsprung gegenüber dem jeweils andern befindliche und sich gegenseitig bedingende und fördernde Dasein von Recht und Rechtsgefühl.50 Damit bekannte sich Jhering erstmals gegen Ende seines Lebens ausdrücklich zur Ursprungsfrage; dass das Rechtsgefühl immer das Recht zur Voraussetzung habe.51 Die bestehende Rechtsordnung, die vorherrschende Realität der Rechts42 Das Rechtsgefühl nimmt die Position des Garanten für eine Harmonie zwischen Recht, Gerechtigkeit und Rechtspflege ein. Vgl. insb. Hebeisen, Pragmatismus, 2005, S. 339 f. 43 Behrends, Rezension zu Luf/Ogris, 1997, S. 564. 44 Vgl. E. V. 45 Siehe Interpretation des ,Schatten des Wanderers‘, E. II. 46 Anders Rehbinder, sense of justice, 1982, p. 344. 47 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 45. 48 Bihler, Rechtsgefühl, 1976, S. 8; Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 59 ff. 49 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 26. 50 Vgl. E. II. 51 Vgl. Kap. Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 27. So auch ganz elementar ders., Cod Ms 16:8, Bl. 8: „Alles aber, was auf diesem Wege dem Rechtsgefühl entspringt, ist nur ein historischer Stoff, unsere Erfahrungsthatsachen, die nur sich das täuschende Gewand von apriorisch erkennbaren Gefühlswahrheiten umgehängt haben – es kommt aus dem Rechtsgefühl u, wie ich glaube, aus dem menschlichen Geist nicht
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Ergebnis
institutionen, muss dabei als die empirische Grundlage für den Fortschritt des Rechtsgefühls angesehen werden. Entsprechend ist das Rechtsgefühl auf entwicklungsgeschichtlicher Ebene zunächst auch nur ein Sekundärphänomen.52 Sobald das Rechtsgefühl erst einmal entstanden ist, kann es auch selbst fortschrittlich sein. Dieses historisch-evolutionäre Rechtsgefühl ist bei Jhering „idealistisch“ zu verstehen, mithin als „Pionnier des Rechtsfortschritts“.53
II. Ausblick Auch in neueren interdisziplinären Debatten ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Erforschung des Rechtsgefühls als „Dauerauftrag“ beschrieben.54 Bis in das 20. Jahrhundert hinein sahen seine Befürworter im Rechtsgefühl überwiegend ein ,intellektuelles Gefühl‘.55 Diese contradictio in adjecto ließ in den Wissenschaften erneut die Forderung nach neuen Argumenten mittels tiefergehender psychologischer und neurophysiologischer Erkenntnismethoden aufkommen. Die modernen Studien des späten 20. und 21. Jahrhunderts stellen wie Jhering ein mehrschichtiges Rechtsgefühlsphänomen heraus.56 Die Psychoanalyse im rechtlichen Diskurs nutzte als einer der Ersten Bihler in seiner Abhandlung ,Rechtsgefühl, System und Wertung. Ein Beitrag zur Psychologie der Rechtsgewinnung‘ im Jahre 1979. Es war ebenfalls Bihler, der den Zu-
heraus, was nicht vorher hineingebracht [. . .]. Wenn die vermeintliche reine Vernunft bei allen Culturvölkern nahezu denselben Inhalt hat, so hat dies nur darin seinen Grund, daß die Zwecke u Bedürfnisse, welche die Cultur mit sich bringt, überall im Wesentlichen dieselben sind, es ist die Gleichheit der objectiven ratio naturalis, von der die Übereinstimmung der subjectiven ratio naturalis nur das Spiegelbild enthält.“ 52 Jhering postulierte: „Nicht das Rechtsgefühl hat das Recht erzeugt, sondern das Recht das Rechtsgefühl.“ [ders., Zweck I, 1877, S. XIII; fast identisch ders., Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 16]. „Das Recht hat erst da sein müssen, bevor es seinen Reflex in die Seele des Menschen werfen konnte [. . .].“ [ebd., S. 21]. Vgl. dazu insb. Schelsky, Jhering-Modell, 1972, S. 58. 53 Jhering, Rechtsgefühl, 1884, S. 50, auch der Praktiker (in Jherings Wiener Antrittsvorlesung ,Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft‘ 1868). In diesem Sinn auch Kornfeld, Das Rechtsgefühl II, 1919, S. 96 f.: „Die große soziale Bedeutung des Rechtsgefühles liegt darin, dass erst unter seinem Einflusse das Recht wahrhaft Leben gewinnt und daß aus ihm der stete Ansporn hervorgeht, das Recht seinen innern Zwecken gemäß zu handhaben und den Forderungen der menschlichen Gesellschaft immer genauer anzupassen.“ 54 Vgl. Meier, Rechtsgefühl, 1986, S. 41, 67; ferner Sprenger, Rechtsgefühl, 2012, S. 91–96; Ehrenzweig, Phänomenologie, 1969, S. 65–71, 67; Ellerbrock/Kesper-Biermann, Emotional dimensions, 2015, S. 6; Lampe, Rechtsgefühl, 1985; Oestreich, Dschungel, 1984. 55 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 7. 56 Riezler, Rechtsgefühl, 3. Aufl., 1969, S. 6 ff.; Meier, Rechtsgefühl, 1986, S. 28 f.; Rehbinder, Fragen, 1983, S. 261–274; Miranowicz, Gehirn und Recht, 2009, S. 55 f.; Schützeichel, Rechtsgefühl, 2016, S. 69.
II. Ausblick
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gang zum Rechtsgefühl über den Grund der Rechtsentstehung suchte und erstmalig die Bestandteile ,Gefühl‘ und ,Recht‘ differenziert betrachtete.57 Demnach sei das Rechtsgefühl zunächst die „spontane Stellungnahme in einem juristischen Konflikt“. Das parteiergreifende Gefühl als Gerechtigkeitsaussage sei das „Resultat eines Identifikationsprozesses“ und habe Aufforderungscharakter. Durch seine Beziehung zur juristischen Begründung werde das Gefühl nach Bihler rationalisiert.58 Im gleichen Jahr publizierte Hirsch seine Abhandlung ,Zur juristischen Dimension des Gewissens‘, in der er aus medizinischer Sicht neurophysiologische Aspekte des Rechtsgefühls untersuchte. Die Medizinforschung entdeckte im Zwischenhirn vererbte Reaktionen, die aus der schrittweisen Verinnerlichung zu Sollensvorschriften resultieren. Auf diese Weise entwickelte Hirsch ein biologisches, das sittliche Individualverhalten beeinflussendes Gewissen. Er erkannte daneben eine sachliche Komponente durch verschiedentlich ausgeprägte Umwelteinflüsse und Lernprozesse.59 Verwandte Feststellungen trifft ferner Gruter im Jahre 1993, wenn sie das Rechtsgefühl als zentralen Bestandteil der menschlichen Evolution einordnet. Die Rechtsnormen sind nach ihr menschlich erzeugt und so besitze jeder Mensch sein eigenes, von individuellen Faktoren abhängiges Rechtsgefühl.60 So entstehe nach und nach ein Vergleichsmuster im Gehirn. Bei einem Widerspruch mit diesem komme es zu einer Empfindung.61 Ferner existiere ein Lustzentrum im zentralen Nervensystem, das durch Hormonausschüttung positive Sinnesreize sendet, wiederum abhängig von angeborenen und evolutiven Kräften.62 Im 21. Jahrhundert weitete sich die moderne (Rechts-)Gefühlsforschung im Bereich der Sozio-, Kultur- und Neurowissenschaften aus.63 Auch im juristischen 57
Bihler, Rechtsgefühl, 1979, S. 23. Bihler, Rechtsgefühl, 1979, S. 59. 59 Hirsch, Gewissen, 1979, S. 82 ff. Ferner Hirschs Entwicklung des „biologischen Normfilter[s]“ [ebd., S. 76 ff.]. Auch Rehbinder stellte in seinem Beitrag Fragen an die Nachbarwissenschaften zur Natur des Rechtsgefühls, in dem er seine Hypothesen über das Rechtsgefühl als „Gemeinschaftsgefühl im Sinne der Individualpsychologie von Alfred Adler“, als „Auslöser und Ausdruck eines neurochemisch in den sog. pleasure centers des Gehirns erzeugten Wohlgefühls“, „als Gradmesser der Sozialisation und damit Maßstab für die Entwicklung der Persönlichkeit“ und als „dynamischer Prozeß zwischen Anlagen und Umwelteinflüssen i. S. e. soziobiologischen Regelkreises“ aufstellte [ders., Gemeinschaftsgefühl, 1987, S. 183; ders., Fragen 1982, S. 1–5]. 60 Gruter, Rechtsverhalten, 1993, S. 90. 61 Gruter, Rechtsverhalten, 1993, S. 91. 62 Gruter, Rechtsverhalten, 1993, S. 92 f. 63 „[E]motions are understood as bio-social phenomena.“ [Engelen et al., Emotions, 2009; Hopkins et al., Theorizing Emotions, 2009; Chiao, Emotion Research, 2015]; „Emotions in this sense combine affective, corporeal dimensions and socio-cultural elements [. . .].“ [Reddy, Navigation of Feeling, 2001; Solomon, Thinking about Feeling, 2004; Demmerling/Landweer, Philosophie der Gefühle, 2007]; „bring together feelings 58
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Diskurs ist der Topos des Rechtsgefühls hochaktuell. Erst in jüngerer Zeit haben bedeutende WissenschaftlerInnen begonnen, die Wechselwirkungen zwischen Recht und Emotionen, den für die Rationalität zentralen Stellenwert von Gefühlen im Prozess der Entscheidungsfindung, zu untersuchen.64 Nach Jhering ist bis heute ein Aufwärtstrend in der fachübergreifenden Rechtsgefühlsforschung, insbesondere das Interesse an einer Untersuchung des Rechtsgefühls auf physiologische Aspekte hin, festzustellen. Die neuen Rechtsgefühlstheorien liefern am Ende zwar keine Definition des Rechtsgefühls, insgesamt wird jedoch durch die Eröffnung neuer Perspektiven, insbesondere durch den objektiven Zugang über die naturwissenschaftliche Methodik, eine Annäherung erzielt. Dieser neue Zugang liegt begründet in ihrer zunehmend vertiefenden, logisch erklärbaren Natur. Neurobiologische Studien liefern letztlich den Beweis, dass „das emotionale Gehirn am rationalen Denken genauso beteiligt [ist] wie das denkende Gehirn“.65 Im Verlauf des Lebens trägt ein erworbener „emotionaler Erfahrungsspeicher“ deutlich zur Vereinfachung der rechtlichen Entscheidung bei.66 Entsprechend wird nach Thomae die Kenntnis von ,Recht‘ und ,Unrecht‘ zu einem „rationalen Sachverhalt“, als „Ergebnis einer gleichsam instinktartig funktionierenden Orientierung der [als rechtmäßig empfundenen] Bedürfnisse, Strebungen und Wertungswissen des Individuums“. Das Rechtsgefühl ist daher „weder spontaner Ausdruck eines irrationalen inneren Prinzips noch ein verkappter Urteilsakt“, sondern das „Glied jener in ,Fleisch und Blut‘ übergegangenen Erfahrungen“.67 Heute findet das Rechtsgefühl vermehrt im „Judiz“ oder in der „rechtlichen Intuition“ seinen Ausdruck. Sowohl im juristischen Studium als auch in der Rechtspraxis erhebt die Fallentscheidung den Anspruch, rational zu sein. Die Skepsis gegenüber einem Rechtsgefühl bei der Entscheidungsfindung dagegen ist seit jeher groß. Auch heute noch ist das Rechtsgefühl einem vorurteilsbehafteten Ruf ausgesetzt. Die dem Rechtsgefühl einen zentralen Stellenwert bei der Entscheidungsfindung einräumenden Vertreter wurden und werden vielfach als „Gefühlsjuristen“ herabgesetzt. Ihre Kritiker deuteten die Berufung auf das
based in the body with socio-cultural meanings.“ [Frevert/Wulf, Bildung der Gefühle, 2012], zit. nach Ellerbrock/Kesper-Biermann, Emotional dimensions, 2015, S. 2. 64 Abrams/Keren, Law, 2007, pp. 1997–2074; Maroney, Law and Emotion, 2006, pp. 119–142; Bandes/Blumenthal, Emotion and the Law, 2012, pp. 161–181; Hänni, Gefühl, 2011, et passim; Köhler et al., Recht fühlen, 2017; Landweer/Koppelberg, Recht und Emotion I, 2016, et passim. So auf den juristischen Diskurs übertragbar: Damasio, Fühlen, 2004, S. 13: „Im Idealfall lenken uns Gefühle in die richtige Richtung, führen uns in einem Entscheidungsraum an den Ort, wo wir die Instrumente der Logik am besten nutzen können.“ 65 Vgl. Goleman, Emotionale Intelligenz, 20. Aufl., 1995, S. 48 f.; dazu insb. Hänni, Gefühl, 2011, S. 147. 66 Goleman, Emotionale Intelligenz, 20. Aufl., 1995, S. 48 f., 72 ff. 67 Thomae, Recht und seelische Wirklichkeit, 1963, S. 64.
II. Ausblick
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Rechtsgefühl als Begründungsverweigerung.68 Die Kontroverse zwischen Rationalität und Emotionalität im juristischen Diskurs ist zweifellos aktuell.69 Letztlich jedoch muss die Entscheidungsfindung dennoch zwingend von einem Gefühl begleitet sein.70 Entsprechend formulierte bereits Jhering: „Alles, was in der Welt geschehen ist, muß, um berichtet zu werden, erst durch den menschlichen Geist hindurch und empfängt damit den Stempel des Subjektiven. In dem Berichten steckt ein Richten [. . .].“ 71
In Form eines Erfahrungswissens entwickelt sich das Rechtsgefühl aus der jahrelangen Übung der Rechtsanwendung.72 Das Rechtsgefühl dient allein der erfahrungs- und wissensbasierten emotionalen Richtigkeitskontrolle der Rechtsentscheidung. In diesem Sinne formulierte schon der Jurist Schneider im Jahre 1911 eindrucksvoll zum Rechtsgefühl in der Rechtspraxis: „Das Rechtsgefühl darf mit einer edlen Rebe verglichen werden, die des Haltens (am Gesetze) bedarf, und die auch die Pflege und das zurückschneiden durch erfahrene Hand (in der Prüfung nach ,Gründen‘) nicht entbehren kann, und die doch trotz einer gewissen ihr verbleibenden schwankenden Beweglichkeit köstliche Frucht trägt.“ 73
Dabei nehme der vorbildliche Richter – wie Zacharias treffend sagt – „die Thatsachen des Einzelfalles hörend, fragend, forschend in sich auf, so funktionieren bei ihm Lebenserfahrung, formale Verstandesbildung und juristisches Wissen in unlösbarer Einheit“.74 Das Resultat dieser bei der Rechtsanwendung unbewusst wirkenden Kräfte entspricht nach Zacharias dem Rechtsgefühl: So ist es ein „summarisches Urteil, das nach erlangtem Überblicke über die Totalität der Umstände des Falls, auf Grund der Lebenserfahrung des Richters und auf Grund jener vom Richter aus dem geltenden Rechte aufgenommenen Grundanschauungen ohne bewußte Überlegung der einzelnen in Betracht kommenden Gesetzesbestimmungen gewonnen ist“.75 Hierbei ist eine Parallele zur Präjudizienlehre zu erkennen. Die juristische Übung liegt in der „Generalisierungsfähigkeit der konkreten Entscheidung“ begründet. Der Jurist fällt bei der Rechtsentscheidung aus seinem richterlichen Er-
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Krüger, Wesen der Gefühle, 4. Aufl., 1930, S. 3. Demmerling, Vernunft, 1995, S. 259. 70 Nussbaum, Upheavals of Thought, 2001, et passim. 71 Jhering, Entwicklungsgeschichte, 1894, S. 1. 72 Vgl. zur richterlichen Entscheidungsfindung Berkemann, richterliche Entscheidung, 1971, S. 537–540. 73 Schneider, Rechtsgefühl, 1911, S. 305 f., bestimmte das Rechtsgefühl in seinem Aufsatz von 1911 als ,die ursprünglichste Grundlage des richterlichen Urteils‘. 74 Zacharias, Richter, 1911, S. 42. 75 Zacharias, Richter, 1911, S. 42. Ferner Edelmann, Interessenjurisprudenz, 1967, S. 100; Bydlinski, Methodenlehre und Rechtsbegriff, 2. Aufl., 1991, S. 152 f.; Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, 1914, S. 243. 69
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Ergebnis
fahrungsschatz heraus zunächst ein Probeurteil.76 In diesem Sinne stellte Sauer die These auf: „Was ex ante innerhalb des lebendigen Strebens als unwägbares Gefühl ,erlebt‘ wird, das wird ex post innerhalb des systematischen und kulturellen Ganzen als gesetzmäßig erkannt.“ 77 Das Rechtsgefühl ist in kulturhistorischer Hinsicht daher auch nach Döderlein „kein rein individuell-subjektives Phänomen, sondern mehr oder weniger explizit durch kollektive emotionale Standards determiniert und damit objektiv präfiguriert“.78 Die Entwicklungsgeschichte schafft einen sich stets an die epochalen Forderungen anpassenden kulturhistorischen Parameter. Die empirisch-historische Untersuchung des Rechtsgefühls erzeuge nach Döderlein damit einen „funktionalen Zusammenhang zwischen der subjektiven Erlebnisperspektive, dem Auftreten im Kontext sozialer Interaktion und der objektiv konventionalisierten Ausdrucksseite von Gefühlen“.79 Wenn Jhering auf entwicklungsgeschichtlicher Ebene das Rechtsgefühl als Schatten des Wanderers, im Sinne eines Ideals, als Laterne auf einem dunklen Pfad postuliert, dann verbirgt sich dahinter ein elementarer fortschrittlicher und nicht nur visionärer Gedanke für eine Aufwärtsbewegung des Rechts. Da das Rechtsgefühl dennoch als subjektives Phänomen rational nicht vollständig entschlüsselbar ist, wird immer ein metaphysischer Rest zurückbleiben.80 In diesem Sinne ist das Rechtsgefühl nach Walder als das
76 Venzlaff, Rechtsgefühl, 1973, S. 57, 59: „Das Bewußtsein der Subjektivität seiner Entscheidung zwingt ihn [den Richter] zu der größtmöglichen Anstrengung durch Vergleich der verschiedenen Ergebnisse die Subjektivität soweit wie möglich einzuengen. Er muß sich ständig bemühen, den Kontakt mit seiner Umwelt, mit den kulturellen Anschauungen seiner Zeit, mit bewährter Lehre und Rechtsprechung nicht zu verlieren, um daran sein Rechtsgefühl und die Lösung, die er für eine Entscheidung treffen möchte, immer wieder zu überprüfen.“ 77 Sauer, Juristische Methodenlehre, 1940, S. 354; vgl. auch Schneider, Rechtsgefühl, 1911, S. 321; Dehnow, Rechtsgefühl, 1914, S. 90 ff. 78 Döderlein, Literatur, 2017, S. 65 f.: „Aus individualpsychologischer Perspektive bleibt das Gefühl [. . .] stets momentgebunden und natürlich im Sinne eines punktuellen, individuellen Fühlens einer Person.“ 79 Döderlein, Literatur, 2017, S. 65 f. 80 Rehfeldt, Einführung, 1962, S. 94: „Aber immer bleibt es ein Gefühl und darum durch Neigungen und Interessen bestechlich. Und oft fehlt denen, die sich auf das Gefühl berufen, die Phantasie dazu, sich in die Lage des anderen versetzen zu können, Doch, enes mannes rede ist kenes mannes rede; ir sult sie hören alle bede! Abwägung aller Umstände und Interessen erst führen zum Rechten und vollends auch zur Gerechtigkeit.“ Treffend auch Schlefer, Rechtsgefühl und Rechtspflege, 1908, S. 193: „Trotz allen Formulierungen des Verstandes bleibt noch immer ein von diesem nicht gesundener Rest, eine Verschiedenheit der scheinbar gleichgearteten Dinge zurück, die der Verstand nicht oder nur sehr schwer erfassen und formulieren kann, die eben nur das geheimnisvolle Gefühl zu empfinden imstande ist.“ Ferner Meier, Rechtsgefühl, 1986, S. III: „[D]ie im Rahmen des Rechtsgefühls diskutierten Phänomene rühren an die Geheimnisse unseres Daseins.“
II. Ausblick
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„Dunkel der Seele, aus welchem die schließliche Entscheidung entspringt, selbst noch der vorgedanklichen, noch nicht in Worte zu fassenden Empfindungswelt angehörig, der psychologische Entstehungsgrund der Rechtsfindung. Urgrund der Entscheidungen – niemals aber Begründung in logischen Formen, niemals daher Obersatz im rechtlichen Syllogismus, sondern Ursache. Selbst aber natürlicherweise in der unendlichen Kette kausaler Zusammenhänge verursacht.“ 81
Im Ergebnis bleibt die genaue Funktionsweise des Rechtsgefühls jedoch auch bei Jhering im Verborgenen. Mit den Worten des Jhering-Schülers Merkel in seinem Nachruf auf Jhering erlaube ich mir meine Arbeit zu schließen: „Ich habe den Leser einen langen Weg geführt, hoffe aber den Eindruck erzeugt zu haben, daß das durchschrittende Gebiet nicht todt an Leben ist, da es vielmehr Quellen geistigen Lebens in sich schließt, welche fortströmen werden, auch nachdem derjenige, der sie dem Gestein entlockt hat, von der Stätte seiner Wirksamkeit verschwunden ist.“ 82
81 Walder, Grundlehre, 1927/28, S. 261; so auch ders. in metaphorischer Art: „Wie der helle Sonnenstrahl, das dunkle Gewölk durchbrechend, plötzlich ein fernes Ziel uns in allem Glanze enthüllen kann, so zeigt uns das Rechtsgefühl die richtige Entscheidung, während wir uns noch abmühen, den steinigen Weg der Rechtsfindung langsam und schrittweise zu durchwandern. Das enthüllte Ziel vor Augen, überwinden wir den Weg im Wirken des Rechtsgefühls.“ [a. a. O.]. 82 Merkel, Nachruf Jhering, 1893, S. 40.
Anhang: Rudolf Jherings Gutachten zum Oheim-Fall erstattet in der Rechtssache Baron von Langermann zu Linden gegen Cammerherrn von Flotow zu Schwerin am 18./22. Juli 1859 (Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Nachlass Jhering, Cod Ms Jhering 10:1p) Editorische Notiz Bei der Edition des Originalmanuskripts von Jherings Gutachten wurden Abkürzungen aufgelöst; Interpunktion und Orthografie überwiegend bei den bis 1901 geltenden Regeln belassen. Lateinische Fachausdrücke wurden kursiv gesetzt, Unterstreichungen des Originals übernommen. Vom Verfasser verworfene Textstellen, die für die Rekonstruktion seiner Gedankengänge bedeutsam sind, wurden übernommen, übrige Streichungen und Dopplungen weggelassen. Rechtsgutachten in Sachen des Barons von Langermann zu Linden, Klägers, Appellanten, Appellaten, nun Imploranten wider den Cammerherrn, Intendanten von Flotow zu Schwerin als Erben des Cammerdirectors a. D. von Flotow, Beklagter, Appellanten, Appellaten, nun Imploraten wegen Schadensersatzes In Zirkel gesetzt am 18. Juli Jhering ertheilen wir auf eingelegtes und ausgeführtes Rechtsmittel der Restitution den in Gemäßheit der großherzoglich mecklenburgschen Verordnung vom 20. Juli 1840 betreffend die Rechtsmittel in Civilsachen an uns gerichteten Ersuchen des großherzoglichen Oberappellationsgerichts zu Rostock gemäß unsern rechtlichen Rath dahin: daß es unter Verwerfung der nachgesuchten Restitution bei dem Urtheil voriger Instanz vom 21. Februar dieses Jahres zu belassen und Implorant die Costen dieser Instanz, einschließlich der der Aktenversendung, zu tragen, beziehungsweise zu ersetzen habe.
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V. R.W. Entscheidungsgründe Geschichtserzählung Die vorliegende Streitsache betrifft einen von dem Baron von Langermann zu Linden gegen seinen Onkel, den Cammerdirector a. D. von Flotow zu Schwerin, später dessen Erben: den Cammerherrn, Intendanten von Flotow zu Schwerin, geltend gemachten Schadensersatzanspruch. Ursprünglich bei dem Oberkammerherrgericht zu Schwerin anhängig gemacht, wurde die Streitsache von diesem in den Weg des gewöhnlichen Verfahrens gewiesen und in erster Instanz von der Justizkanzlei zu Güstrow Akten I 31 ein Beweisinterlokut erlassen, welches auf Appellation des Beklagten in zweiter Instanz vom Oberappellationsgericht in Rostock Akten II 14 unter Verwerfung der auch von Kläger dagegen eingelegten Appellation aufgehoben und die Klage unter Verutheilung des Klägers in die Costen abgewiesen wurde. Gegen dieses Urtheil hat Kläger das Rechtsmittel der Restitution eingelegt, und ist auf seinen Antrag zwecks Einholung eines Rechtsgutachtens Actenversendung erfolgt. Dasselbe dreht sich im Grunde nur um eine einzige Frage, nämlich um die: ist der vom Kläger erhobene Anspruch, die Richtigkeit der von ihm vorgebrachten Thatsache vorausgesetzt, an sich begründet. Wird diese Frage mit dem Oberappellationsgericht verneint, so bedarf es gar keines genaueren Eingehens in alle die Behauptungen u Ausführungen beider Partheien, welche nur unter der Voraussetzung der Bejahung dieser Frage in Betracht kommen, und soll daher mit Aussetzung eines strengen Actenauszuges das Thatsächliche, welches zur Beantwortung jener Frage ausreicht, zusammengestellt und auf Grund desselben sodann die Frage selbst erörtert werden. Nach Darstellung des Klägers in seiner Hinhabe an das Oberkammerherrngericht – Oberkammerherrngerichtsakten I – ist der Vorgang welcher zur Klage Veranlassung gegeben folgender: Im Jahre 1846 habe er das in Pommern belegene, dem Herrn von der Lanken gehörige und von diesem dem Vernehmen nach anderen Personen zu 46.000 Rl offerirte Gut Ritzig zu kaufen beabsichtigt und seinen Oheim, den Beklagten, zur Besichtigung desselben und bei den Verhandlungen als Rathgeber zugezogen. Auf Anrathen desselben habe er das Gut zu den von dem Verkäufer geforderten Preis von 52.000 Rl gekauft, ungeachtet er selbst wegen zweier Punkte Bedenken
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gehabt habe, einmal nämlich ob der Preis nicht zu hoch, und zweitens ob die ihm zu Gebote stehenden Mittel – ein aus älterlichen Vermögen ihm zugefloßenes Abfindungscapital von 17.000 Rl – zum Ankauf und zur Bewirthschaftung des Guts ausreichen würden. Über beide Umstände habe Beklagter ihn berichtigt, und zwar über den zweiten speciell dadurch, daß er ihm erforderlichen Falls seine Unterstützung zugesichert habe. Nach den Verkaufsbedingungen sollten von den dem Verkäufer zustehenden 24.450 Rl (27.550 Rl hypothekarische Schulden würden in pactum pretii übernommen) 12.000 Rl baar ausgezahlt werden (so daß also dem Kläger noch 5.000 Rl Betriebscapital verblieben) die übrigen 12.450 Rl aber sollten für den Verkäufer in Posten von 2.000 Rl auf das Gut eingetragen werden, jedoch mit der Beschränkung, daß er dann nur 2.000 Rl jährlich solle kündigen dürfen. Beklagter habe sich nun voraus verpflichtet, ihm jeden der in dieser Weise gekündigter Posten wieder anzuschaffen, und nach Abschluß des Caufs noch ausdrücklich gesagt: „Nun kann ich mich nur gefasst machen auf die Lankenschen Capitalzahlungen.“ Späterhin habe er ihm nicht bloß dies Versprechen wiederholt, sondern dasselbe sogar auf sämtliche eingetragenen Capitalien und die zur Führung der Wirthschaft erforderlichen Gelder ausgedehnt. Rücksichtlich der Eintragung des Restes der Caufgelder sei hinterher noch zwischen den Partheien die Änderung belobt worden, daß von der ganzen Summe von 12.450 Rl ein von Verkäufer der Gutsbesitzer Sternfeld zu cedirender Posten von 3.450 Rl abgezweigt und den übrigen 9.000 Rl vorangesetzt werden sollte, unbeschadet jedoch der Cündigungsclausel. Dieser Posten sei nach geschehener Cündigung in zwei Ratenzahlungen im Jahre 1848 u 1849 vom Beklagten gegen juro cesso ausgezahlt worden. sei nun 1848, ein Jahr nach erfolgter Tradition, zu 2.000 Rl. u der Rest 1849 gekündigt u vom Beklagten gegen Cedirung desselben ausgezahlt worden. Im Jahre 1850 habe sodann der Verkäufer einen Posten von 2.000 Rl gekündigt, wovon Kläger dem Beklagten Anzeige gemacht habe mit der Bitte, ihm das Geld anzuschaffen, was letzterer jedoch mit dem Bemerken, daß ihm die 2.000 Rl nicht sicher genug standen, abgelehnt habe. Außer Stand trotz aller seiner Bemühungen, das Geld anderweitig aufzutreiben, sei Kläger von dem Verkäufer auf Auszahlung der 2.000 Rl belangt und in Folge dessen das Gut 1853 subhostirt und für 32.050 Rl dem Cammerherrn von Flotow auf Wutzig zugeschlagen worden. Kläger habe darauf unter Hinzurechnung der von ihm auf das Gut verwandten Meliorationen einen Verlust von 20.750 Rl erlitten, welchen Beklagter, der durch sein Versprechen ihn zum Ankauf des Guts bestimmt und durch Nichterfüllung desselben den Zwangsverkauf des Guts herbeigeführt habe, ihm zu ersetzen schuldig sei. Keine Übergehung aller in der Vernehmlassung
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I 10 enthaltenen vorgeschützten, auf die rechtliche Beurtheilung des geltend gemachten Anspruchs nicht instruirenden Einrede z. B. der der Compensation S. 9 fl. und Deductionen soll lediglich die thatsächliche Erklärung des Beklagten über die der Klage zu Grunde gelegte Behauptungen mitgetheilt werden. Derselbe gesteht zu Indem wir aus der Vernehmlassung I 10 und allen späteren Schriftstücken alles dasjenige übergehen, was wie z. B. die Einrede der Compensation, die Berechnung der Höhe des Schadensersatzes u. s. w. nur unter Voraussetzung einer Mittheilung bedürfen, wenn wir die Klage, statt sie zu verwerfen, aufrecht erhalten hätten, beschränken wir uns auf eine Zusammenstellung desjenigen Actenmaterials, welches zur Orientierung über die Frage von der Zulässigkeit oder Unzulässigkeit der angestellten Klage ausweist. Der Beklagte gesteht zu, beim Ankauf des Guts zugegen und um Rath befragt worden zu sein, stellt dagegen in Abrede, damals oder später Versprechen, die gekündigten Gelder anschaffen zu wollen, ertheilt zu haben, Ibid. p. 8–11 wie dann auch Kläger, als er 1850 ihn um Anschaffung der gekündigten 2.000 Rl angegangen, dies in Form einer Bitte gethan habe, ohne auf ein Versprechen der Beklagten Bezug zu nehmen. Beklagter habe bis zu jener Zeit für den Kläger viele Opfer gebracht, ihm verschiedentlich zur Bestreitung von Wirthschafts und Baukosten u. s. w. Geld vorgeschossen, die von ihm nach und nach bis zum Gesammtbetrage von 19.350 Rl übernommenen Intabulata auf Ritzig von 5 p. c. auf 4½ p. c. herabgesetzt, ohne die Zinsen ausbezahlt zu erhalten; schon im Jahre 1848 sei Kläger ihm an Zinsrückständen und baaren Darlehen 3.650 Rl schuldig geworden, wofür er ihm eine Schuldnerschreibung ausgestellt und Verzinsung versprochen habe. Die Absicht, seinem Neffen zu helfen, habe er hierdurch deutlich an den Tag gelegt, und es sei, wie es p. 18 heißt, „sehr leicht möglich, daß er ebenso wohl ein stillschweigend und durch die That, so auch wirklich ihm die Aussicht auf seine Hülfe gelegentlich eröffnet haben möge. Nie und zu keiner Zeit sei das aber in einer ihn bindenden Weise geschehen, indem Äußerungen, wie die in der Klage behauptete, angenommen, daß sie wirklich gemacht seien, sowohl den Worten, als auch der Absicht u allen Umständen nach eine solche Bedeutung nicht hatten und haben sollten [. . .]. Alle seine Äußerungen seien in so unbestimmter Weise gehalten gewesen, daß er bei Ausführung derselben freie Hand behalten habe, nach Umständen zu handeln. In der ganzen Correspondenz zwischen ihm und
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dem Kläger sei nie von einer Verpflichtung auf seiner Seite die Rede gewesen, sondern letzterer appellire darin stets an seine Zuneigung, die Bitten würden, je näher der Termin des Gutsverkaufs herankomme, immer dringender unterstützt – wahrscheinlich auf des Klägers Veranlassung – durch Verwendung dritter Personen, allein nie sei auch nur die leiseste Erinnerung an das jetzt der Klage zu Grunde gelegte Versprechen vorgekommen. Beklagter sucht sodann die unverbindliche Craft des Versprechens noch damit zu unterstützen, daß er nicht ausdrücklich acceptirt und nicht, wie es nach dem hier zur Anwendung kommenden Preußischen Recht hätte der Fall sein müssen, in schriftliche Form gebracht sei, dass ferner Beklagter, wenn er dasselbe erfüllt haben würde, die Cession der gekündigten Posten hätte erlangen und dann selbst hätte kündigen, folglich das ganze Versprechen dadurch hätte vereiteln können. Der Grund des Ruins des Klägers liege aber auch nicht sowohl in der geschehenen Kündigung als in der schlechten Bewirthschaftung des Guts von seiner Seite. Schon im Lauf der ersten 4–5 Jahre habe es sich evident herausgestellt, dass die Wirthschaft nicht länger zu halten u materielle Insufficirung vorhanden gewesen sei. Beklagter habe, als Kläger ihn um die 2.000 Rl angegangen, eine offene Darlegung seiner Verhältnisse von ihm verlangt und durch Einsicht derselben die Überzeugung genommen, dass selbst durch Aufbringung jener Summe der Ruin nicht mehr habe abgewandt werden können, indem Kläger sein ursprüngliches Betriebscapital von 5.000 Rl verwirthschaftet und abgesehen von Zins und Wesselschulden, mit denen er ihm, dem Beklagten, verhaftet gewesen, dritten Personen 4.794 Rl [. . .] schuldig gewesen sei. Beklagter habe sich trotzdem an den Vater und Bruder des Klägers mit der Anfrage gewandt, ob sie in Gemeinschaft mit ihm die sämmtlichen benöthigten Gelder aufbringen wollten, was von diesen jedoch mit Hinweis theils auf das persönliche Verhalten des Klägers, theils auf dessen materielle Insufficirung entschieden verneint worden sei. Da nur mit den 2.000 Rl allein dem Kläger doch nicht geholfen gewesen sei, so habe er sie ihm verweigert! Zu der Replik gesteht Kläger zu, dass er den Beklagten um Aufbringung der 2.000 Rl bloß gebeten habe, ohne ihn an sein Versprechen zu erinnern, weist jedoch den darauf gebauten Schluß damit zurück, dass jene Form ihm als vollkommen ausreichend und zugleich durch die verwandtschaftlichen Rücksichten geboten erschienen sei, er auch als Nichtjurist den Umfang seines Rechts nicht genau gekannt habe. Die ihm vorgeworfene schlechte Bewirthschaftung und materielle Insufficirung stellt er in Abrede; seine chirographischen Schulden hätten zu dem angegebenen Zeitpunkt nicht nahe an 8.000 Rl, sondern nur 4.050 Rl betragen, und seien durch und an Werth des Guts mehr als gedeckt gewesen. Die Formvorschrift des preußischen Rechts habe auf das in Rede stehende Versprechen keine Anwendung gefunden, da die durch dasselbe begründete Verpflichtung des Be-
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klagten an seinem Wohnsitz, also in Mecklenburg zu erfüllen gewesen sei, auch sei ja dasselbe späterhin von ihm in Mecklenburg schon wiederholt worden. Der Inhalt der Duplik bedarf keiner Mittheilung. Unter dem 19. September 1857 erfolgte das Urtheil der Justizkanzlei in Güstrow, worin dem Kläger Beweis seines Klagegrundes dahin auferlegt ward, dass • der Beklagte ihm das Versprechen ertheilt habe, jeden dem Kläger gekündigt wordenden Posten des Kaufrückstands für Ritzig wieder anschaffen zu wollen. • daß aus Veranlassung der Nichtzahlung einer gekündigten Rate des Kaufrückstands von 2.000 Rl das Gut Ritzig im gerichtlichen Zwangsverkauf versteigert worden • dasselbe damals einen Werth von 52.800 Rl oder wie viel weniger bis zur Summe von 32.050 Rl herab gehabt habe. Dem Beklagten ward der Beweis einzelner bestrittener Posten der von ihm vorgeschätzten Compensationseinrede auferlegt. Auf Appellation beider Partheien ward dies Urtheil unter dem 21. Februar 1859 vom Oberappellationsgericht in Rostock II 14 dahin abgeändert, dass Kläger mit der Klage abzuweisen unter Verurtheilung in die Costen erster und zweiter Instanz (mit Ausnahme gewisser näher bezeichneten aus erster Instanz). Die Entscheidungsgründe (S. 5 u fl) rechtfertigen dies Urtheil in folgender Weise. Das von dem Beklagten dem Kläger gegebene Versprechen sei juristisch unter dem Gesichtspunkt eines von ihm übernommenen Mandats zur Anschaffung gewisser Capitalien oder Stellung eines neuen Gläubigers (nöthigenfalls von sich selbst) zu bringen. Aus trifftigen Gründen aber dürfe der Mandatar die Ausrichtung des übernommenen Auftrages ablehnen, ein solcher Grund aber sei nach den Gesetzen die im gegenwärtigen Fall vorhanden gewesene und vom Beklagten in Bezug genommene Unsicherheit des Mandanten. Unsicherheit des Mandanten, und bisher im gegenwärtigen Fall vorhanden gewesener Beklagter habe sich auf die materielle Insufficienz des Klägers berufen, und es könne die Annahme derselben keinen Zweifel unterliegen, indem es sich aufweisen lasse, daß die Vermögensverhältnisse des Klägers sich während der Zeit, daß er Ritzig von vornherein Das Vermögen des Klägers habe, wie beiden Theilen bekannt gewesen, von Anfang an zu dem Unternehmen nicht ausgereicht und hinterher hätten die Verhältnisse desselben, wie durch Rechnung nachgewiesen wird, sich in einer Weise verschlechtert, dass Beklagter befugt gewesen sei, die Ausführung des Mandats abzulehnen um so mehr, als er außer den seit 1850 rückständig gebliebenen Zinsen seiner Gesammtforderungen von 23.000 Rl auch den Verlust der dem Kläger vorgeschossenen 3.650 Rl zu besorgen gehabt, und selbst der Vater das letztere in Rücksicht auf die drohende weitere Kündigung des Verkäufers die Beihülfe ver-
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sagt hatte. Es habe Kläger zugegeben, dass er Weihnachten 1850 u Johannis 1851 an den Beklagten die Zinsen mit 1.053 Rl nicht bezahlt habe, weil dieser ihm die gekündigten 2.000 Rl vorenthalten. Habe er das Geld damals gehabt, so hätte er es jedenfalls zur theilweisen Abtragung der gekündigten 2.000 Rl verwenden müssen u könne sich um so weniger von Schuld lossprechen, als er auch die Zinsen des folgenden Jahres schuldig geblieben und im Gesammtbetrag ein Rückstand, der die geforderten 2.000 Rl übersteige. Habe er das Geld zur Abtragung desselben gehabt, so habe er den gekündigten Posten selber decken können, habe er es nicht gehabt, so zeige sich damit eben nur seine finanzielle Bedrängniß. Gegen dieses Urtheil legte Kläger unter dem 8. März das Rechtsmittel der Restitution ein, „weil erkannt worden, dass die Beschwerde des Beklagten begründet, die des Klägers aber unerheblich sei“. Durch Dekrete vom 14. März ward dies Rechtsmittel „insoweit als die aufgestellte Beschwerde auch darauf gerichtet worden, dass seine, des Klägers, Beschwerden für unerheblich erklärt worden seien“, als proceßualisch unstatthaft zurückgewiesen. Die Rechtfertigungsschrift des Klägers sucht aufzuweisen, dass die Bezugnahme der sententia a quo auf die verschlechterten Vermögensverhältnisse des Klägers zu dem angegebenen Zweck, um darauf die Aufkündigung des Mandats zu stützen, nach der Verhandlungsmaxime unzulässig sei, indem Beklagter selbst sich nicht in diesem Sinn auf sie berufen, ja an den ihm untergelegten Gesichtspunkt einer Aufkündigung des Mandats um so weniger gedacht habe, als er die Übernahme eines Mandats von seiner Seite beharrlich bestritten habe, so wie dass die angenommene materielle Insufficirung in Wirklichkeit gar nicht existirt habe. Ein näheres Eingehen auf den Inhalt dieser so wie der Ausführungen des Imploranten ist nicht nöthig; soweit dieselben überhaupt für die rechtliche Beurtheilung des Verhältnisses, welche im folgenden versucht werden soll, in Betracht kommen, werden sie dort ihre Berücksichtigung finden.
Rechtliche Beurtheilung der Streitsache Da die Formalien des eingelegten Rechtsmittels gewahrt sind, der Costenpunkt aber keiner Bemerkung bedarf, so wird sich die folgende Darstellung lediglich auf die materielle Prüfung, Begründung Rechtfertigung der von uns in der Hauptsache zu Grunde gelegte Ansicht daher auf den Nachweis beschränken, daß die Clage [. . .], wie vom judex a quo geschehen, abgewiesen werden müsste, so daß doch eine Beweisauflage bedürft hätte. Es soll zu dem Zweck gezeigt werden auf die Rechtfertigung der vom judex a quo erkannten Abweisung der Klage beschränken. Im Resultat mit dem Urtheil voriger Instanz vollkommen einverstanden, glauben wir doch in der Begründung einen anderen
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Das Urtheil voriger Instanz geht mit dem der ersten von der gemeinsamen Annahme aus, dass die Absicht der Partheien von vornherein auf Constituirung einer rechtlichen Verbindlichkeit gerichtet gewesen sei, u sucht stützt das Recht des Beklagten sich wegen späterer Veränderungen in der Lage des Klägers dieser Verbindlichkeit zu entziehen auf das dem Mandateur zustehende Cündigungsrecht. Wir haben uns jedoch weder von der Richtigkeit jener Annahme noch die Möglichkeit dieser letztern Auffassung zu überzeugen versucht, sind vielmehr der Ansicht, welche im folgenden begründet werden soll, daß es dürfte jedoch diese Annahme nicht ganz unbedenklich sein. Hoffe vielmehr nachweisen zu können (seb A), daß es an jener Absicht der Partheien von vornherein gebrach, u (seb B) daß selbst wenn nun in dieser Beziehung das Gegentheil annehmen wollte, nun würde dasselbe zwar nicht den Gesichtspunkt des Mandats allerdings nicht der zutreffende wohl aber wie anderer die Beklagten das Recht gewährte, die Erfüllung seines Versprechens zu verweigern aus . . . Ist wohl aber nach Maßgabe des Sinns und Zwecks des gegebenen Versprechens doch – zwar nicht vormittelst des Gesichtspunkts des Mandats, wohl aber vermöge eines anderen – die Weigerung des Beklagten zur Erfüllung seines Versprechens als berechtigt wird anerkennen müssen. A. (Nicht jedes Versprechen begründet eine juristische Verbindlichkeit, selbst wenn von sich der Inhalt ein geeigneter wäre. Es sind vielmehr zwei Erfordernisse nöthig ein objectives: die juristische) Nicht jedes Versprechen begründet bekanntlich eine rechtliche Verbindlichkeit, vielmehr bedarf es dazu außer der rechtlichen Möglichkeit des Zufalls und der Fähigkeit des Subjects der auf Begründung einer rechtlichen (nicht bloß moralischen) Verbindlichkeit gerichteten Absicht desselben. Wo nun das Recht, wie es das römische mittelst der Stipulation gethan hatte, ein bestimmtes formelles Criterium des juristischen Verpflichtungswillens aufstellt, macht die concrete Constatirung dieses Mandats keine Schwierigkeit, das juristische und nicht juristische Versprechen sind hier wie innerlich u im Begriff, so auch äußerlich unterschieden. Ganz anders, wo, wie bei uns heutzutage, es an einer solchen Form fehlt, hier nämlich entsteht die Gefahr, Versprechen, welche nach Absicht des Subjects als nicht juristische gemeint waren, als juristische aufzufassen. Auch das römische Recht hatte bekanntlich eine gewisse Zahl an Contracten von dem Requisit der Form befreit, allein es sicherte sich gegen jene Gefahr dadurch, dass es für dieselbe ganz bestimmt materielle Criterien festsetzte, m. a. W. nicht den formellen Vertrag als solchen, sondern nur einzelne scharf aus-
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geprägte Anwendungsfälle desselben zuließ, so dass also die Römer theils an der Form, theils an dem Inhalt der Verträge einen ganz festen Anhaltspunkt zur Bestimmung des juristischen Willens hatten. Nach beiden Richtungen hin fehlt derselbe unserm heutigen Recht – der heutige obligatorische Vertrag ist einerseits formlos und anderseits in materieller Beziehung auf alle Leistungen ausgedehnt, welche Gegenstand einer Obligation sein können. Ist damit nun zwar der äußere Gegensatz zwischen der Stipulation und dem Pactum der Römer beseitigt, so würde es doch höchst verkehrt sein, dasselbe auch von dem ihm zu Grunde liegenden innern der juristischen u nicht juristischen Versprechenden zu nehmen. Es würde voraussetzen, dass der letztere Unterschied bloß eine Folge des ersteren gewesen, während umgekehrt ersterer eine Folge der letzteren war. Unser heutiges formloses Versprechen ist also nicht einfach an die Stelle der römischen Stipulation getreten, sondern es vereinigt die Functionen der letzteren mit denen des römischen Pactums. . . . es dient ebenso gut zum Ausdruck des juristischen u als des nicht juristischen Verpflichtungswillens. So wenig das römische Leben das Pactum, so wenig kann unser Heutiges das nicht-juristische Versprechen entbehren, es muss uns heutzutage nicht minder frei stehen als den Römern, auch in Verhältnissen, wo an sich eine juristische Verbindlichkeit völlig möglich ist, statt ihm eine bloß moralische Verpflichtung zu begründen, statt der unbedingten Unterwerfung unter den Willen des Gläubigers uns die Freiheit je nach Umständen zu handeln zu sichern, kurz die rechtliche Möglichkeit zustehen, die Absicht eines demnächstigen Handelns zu Gunsten eines Anderen äußern zu dürfen, ohne befürchten zu müssen, eine solche bloße Äußerung lediglich aus dem Grunde, weil sie von der andern Seite mit Dank entgegengenommen ist, in einen Vertrag verkehrt zu sehen. Der Sicherheit wegen wird es wohlgethan sein, in einem solchen Fall das wahre Verhältnis ausdrücklich hervorzuheben, gegen die Unterlegung einer andern Absicht zu protestiren u. s. w., da von vornherein jedoch solche Äußerung gewärtigen muss, als Versprechen aufgefasst zu werden, allein nöthig ist dies nicht; die Umstände können ebenso deutlich reden, als die Worte, und der Worte bedarf es ja heutzutage überall nicht mehr, wo nur der Wille aus den Umständen klar hervorgeht. Wenden wir dies nun auf den vorliegenden Fall an, so wird von vonherein nicht beanstandet werden können, dass wie bei den Römern Jeder die Wahl hatte, einen Andern ein Darlehn in Form eines pactum oder einer stipulatio de mutuo dando zuzuliefern d.h. ohne oder mit der Wirkung, zur Erfüllung seiner Zusage gezwungen werden zu können, dies auch heutzutage jedem frei stehen muss, und dass wenn auch die Präfunction immerhin für den letzern Fall sprechen möge, doch die Umstände von der Art sein können, und, diese Präfunction vollständig zu entkräften. Stehen sich die Partheien fremd gegenüber, wie auf dem Geschäftsfuß, wie z. B. ein Fabrikant gegenüber einem Banquier, der ihm die zur Einrichtung seines Geschäfts benöthigten Gelder zu verschaffen verspricht, so liegt der geschäftliche d.i. juristische Character dieser Zusage schon in dem Ver-
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hältnisse beider Personen zu einander ausgesprochen, beide verkehren als Geschäftsmänner miteinander, beide verfolgen ihren eignen Vortheil, keiner schuldet dem andern Dank, jeder wünscht und will rechtliche Sicherheit. Ganz anders aber in einem Verhältniß, wie dem vorliegenden, wo ein Onkel dem Neffen neben den sonstigen Beweisen seiner verwandtschaftlichen Liebe bei Gelegenheit der Gründung seiner Existenz zugleich auch für die Zukunft seine fromme Beihülfe zusagt. Daß letztere nicht unbestimmt und allgemein, sondern ganz bestimmt darauf gerichtet wird, dem Neffen die Kosten, welche der Verkäufer ihm kündigen würde, aufzubringen, kann darum nichts ändern, da die Bestimmtheit des Inhalts den Mangel der juristischen Absicht nicht ersetzte. Hätte der Beklagte z. B. dem Kläger versprochen, ihm in Nothfällen ein Gespann Pferde zu leisten, so würde das Object um nichts weniger genau bestimmt gewesen sein, allein schwerlich würde hier doch Jemand aus diesem pactum de commodato dando eine Klage geben! Das allein Entscheidende ist hier vielmehr die Absicht. Wollte der Beklagte sich durch jene Zulieferung juristisch, d.h. absolut und ohne allen Vorbehalt, ohne Einschränkung, binden, sich auf Gnade und Ungnade, wie jeder andere Schuldner, dem Willen seines Neffen hingeben, und wollte letzterer seinen Onkel in ein solches Abhängigkeitsverhältnis zu sich versetzen oder nicht? Die Partheien werden sich des Gegensatzes der einen und anderen Auffassungsweise im Moment der Handlung selbst nicht bewusst geworden sein, aber versetzen wir uns einmal im Geist an ihre Seite und legen ihnen die obige Frage in etwas detaillirter Fassung vor. Ging die Absicht beiderseits auf Constituirung einer juristischen Verbindlichkeit, so schloss dies in sich, dass jede spätere Veränderung in den Verhältnissen des einen Theils und in persönlichen dem Verhältnis beider zueinander auf jene Obligation ohne Einfluß blieb. Angenommen also, der Onkel verarmt und würde, um jene Verbindlichkeit zu erfüllen, gezwungen sein, einen Theil seines Mobiliars versteigern zu lassen. Eine gewöhnliche Obligation hätte diese Funktionalität nicht zu scheuen, schwerlich würde der Kläger gewagt haben, eine solche Haftung in Vorschlag zu bringen. Oder umgekehrt der Neffe prosperirt auf dem Gute und ist im Stande, die gekündigten Capitalien selbst herzugeben, zieht es jedoch vor, sie anderweitig vortheilhafter anzulegen. Ist der Onkel ihm juristisch verpflichtet, so muss letzterer das Geld herschießen. Oder der Neffe macht sich durch seinen Lebenswandel oder speciell durch sein Benehmen gegen den Onkel voller fernerer Gunst desselben unwürdig; das bisherige Verhältniß artet in bittere Feindschaft aus. Der Neffe macht Concurs. Das Versprechen als juristisches aufgefasst würde durch alle diese Ereignisse nicht afficirt werden, es wäre gleich einem Pfeil, der, einmal der Hand entronnen, nicht wieder zurückgezogen werden kann. Angenommen ein Jurist hätte den Partheien im Moment des Versprechens alle diese Consequenzen vorgehalten, würden sie anerkannt haben, dass dieselben ihrer beiderseitigen Intention entsprächen, und z. B. eine in diesem Sinn abgefasste Vertragsurkunde unterschrieben haben? Gewiss würde nicht bloß der Beklagte,
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sondern auch der Kläger an einer solchen Art der Vinculirung zurückgeschenkt sein, die einfachsten Rücksichten der Delikatesse, ja sein eigenes Interesse, das bei der Aufrechterhaltung eines ungetrübten verwandtschaftlichen Verhältnisses zwischen ihm und seinem Onkel im hohen Grund betheiligt war, würde dem Neffen widerrathen haben, die Garantie der ihm eröffneten Aussicht statt in der wohlwollenden Gesinnung eines kinderlosen Onkels in dem Zwangsrecht zu suchen, das der Gläubiger gegen seinen Schuldner hat. Das Verhältnis war vielmehr von beiden Seiten als ein Verhältnis des Vertrauens beabsichtigt, das einerseits in der Ehrenhaftigkeit des Versprechenden und der ihn beseelenden Gesinnung der Liebe und des Wohlwollens die ausreichendste Bürgschaft für die vielseitige Ausführung seiner Zusage deckt, andererseits aber ihm auch nicht schlechthin die Hände band, es ihm nicht unmöglich machte, einer wesentlichen Veränderung der Verhältnisse Rechnung zu tragen, kurzweg: das Versprechen zurückzunehmen. Juristisch war also jenes ausgedrückte Versprechen nichts als die bloße Äußerung einer Absicht, die Cundgebung einer Geneigtheit zu einer zukünftigen Handlung, und sie veränderte diesen ihren Charakter auch dadurch nicht, daß sie an der andern Seite dankbarlichst genehmigt ward. Ob jene Äußerung von der einen Seite statt mit den Worten: „ich habe die Absicht“ in der Ausdrucksform eines Versprechens und von der andern Seite statt mit den Worte „ich freue mich dieser Absicht und wünsche u hoffe ihre Verwirklichung“ in der Ausdrucksform der Acceptation geschieht, ist vollkommen gleichgültig, es handle sich nicht um die Worte, sondern um deren Sinn: Ein im Leben sehr häufiger Fall, in dem eine ihrer Bestimmung nach nur als Äußerung der Absicht oder Geneigtheit gemeinte Erklärung sich in die Form des Versprechens kleidet ist, ist der der Zusage künftiger Vertragsabschließung, so z. B. das Versprechen, bei einem Handwerker arbeiten zu lassen, bei einem Caufmieter seine Waren zu nehmen, eine Wohnung beibehalten, dem Andern eine Sache leisten zu wollen. Man würde den Willen der Partheien in den bei weiten meisten Fällen entschieden Zwang anthun, wenn man hier ein bindendes Versprechen annehmen wollte, und es rechtfertigt sich gewiss in der Behandlung solcher Fälle die äußerste Vorsicht. Zu diesen Fällen gehört auch der vorliegende: das Versprechen der eventuellen Anschaffung von Geldern, des zukünftigen Darlehens. Wer würde, wenn er einem in Noth befindlichen Freund die benöthigten Gelder aufzutreiben verspricht, nicht die Zumuthung zurückweisen, daß er sich damit juristisch habe binden wollen? Es ist die bloße Absicht, der gute Wille, den er hat äußern wollen – nichts weiter. Ist nun bisherigen aus dem persönlichen Verhältniß beider Partheien der Nachweis versucht worden, [. . .], so gesellt sich noch als . . . Moment Unterliegt nun dem bisherigen nicht die Annahme des juristischen Verpflichtungswillens auf Seiten des Beklagten gerechten Bedenken, so werden dieselben
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durch das spätere Benehmen des Klägers noch in hohem Grade bestärkt. Nie hat er, seit dem die Kündigung erfolgt war, dem Beklagten gegenüber den Gesichtspunkt der Verpflichtung geltend gemacht, sondern stets nur in Form der Bitte an seine Güte und sein freies Wohlwollen appellirt: Eine solche Form ist nun zwar allein nicht entscheidend – sie ist ja bekanntlich häufig nur eine schonendere Form der Interpellation – allein in Verbindung mit sonstigen Momenten gewinnt auch sie Bedeutung, namentlich und vor allem aber dann, wenn sie, wie im vorliegenden Fall noch beibehalten wird, nachdem der dringendste Anlass eingetreten, sie redlich mit der der Forderung zu vertauschen. Wenn auch der Darstellung des Klägers die versagte Erfüllung der dem Beklagten obliegenden Verbindlichkeit seinen Ruin herbeigeführt hat, so war er es sich selbst schuldig, wenigstens als die Sache zum Äußersten kam, mit seiner Forderung aufzutreten. Wenn er dies jetzt noch unterließ, so leidet dies schwerlich eine andere Deutung, als dass er selbst das ihm gegebene Versprechen in der von uns angedeuteten Weise aufgefaßt hat. Ob er sich durch dasselbe zum Ankauf des Guts bestimmen ließ und also mittelbar in denselben sei es die alleinige sei es eine mitwirkende Ursache seines Ruins zu erblicken dies Recht hat, kommt nicht in Betracht, da Niemand – wenn ihm nicht ein Dolus zur Last fällt – für Aussagen, Zusicherungen u. s. w., welche einem Andern als Basis oder Motiv für verfehlte Unternehmungen dienen, eine Verantwortlichkeit zu übernehmen hat. B. Obschon an der Richtigkeit der im bisherigen ausgeführten Ansicht vollständig überzeugt, dürfen wir uns doch nicht unterlassen die Möglichkeit einer entgegengesetzten Auffassung um so weniger verfehlen, als dieselbe in den beiden vorigen Instanzen in der That zu Grunde gelegt ist. Aber auch an diesen letzteren Standpunkt, also von der Annahme aus, daß das Versprechen des Beklagten einen juristischen Charakter an sich getragen, wird sich mit dem Urtheil voriger Instanz das Recht des Beklagten, mit Hinblick auf die [. . .] nach der Sachlage die Erfüllung seines Versprechens zu verweigern, behaupten lassen. Erscheint also dem bisherigen nach das Dasein eines juristisch auf eigentlich obligatorischen Willens auf Seiten beider Partheien höchst bedenklich erscheint wenigstens, um das wenigste zu sagen, von vornherein als höchst fraglich, so will es ausbedrücken, als ob auch der judex a quo sich diesem Eindruck nicht hat entziehen können und der von ihm gewählte Gesichtspunkt des Mandats unter dem Einfluß desselben bei der Wahl des von ihm eingeschlagenen Weges der Annahme eines Mandatsverhältnisses im vorliegenden Fall, wesentlich durch das Gefühl geleitet beeinflusst worden ist, dass sich eine Verurtheilung des Beklagten mit den Forderungen der Gerechtigkeit nicht vertragen. Daß sich auf diesem Wege der Zweck erreichen lasse, müssen wir jedoch bezweifeln. Wir würden es nur dann zugeben können,
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Ob freilich der zu diesem Zweck herbeigezogene Gesichtspunkt des Mandats der richtige sei, darf bezweifelt werden. Unserer Ansicht nach würde er es nur dann sein, wenn man das Versprechen des Beklagten, die Gelder zu verschaffen, in der Weise urgiren dürfte, daß er sich lediglich dazu hätte anheischig machen wollen, einem dritten Darlehen stellen. In diesem Fall würde er, ein Jeder, welcher die Handlung eines Dritten verspricht, seiner Verbindlichkeit dadurch genügt haben, daß er das Seinige zur Erreichung dieses Zweckes gethan hätte. Allein offenbar war das Versprechen, wenn einmal bindend, nicht hierauf beschränkt, sondern es enthielt, ein auch in den Entscheidungsgründen des vorigen Urtheils angenommen, zugleich eventuell die Zulieferung der Verschaffung der Gelder aus eigenen Mitteln. Eine solche Leistung aber geht über den Begriff des Mandats hinaus. So wenig es ein Mandat ist, wenn jemand sich anheischig macht, einem Anderen eine Sache käuflich zu verschaffen, sondern ein Cauf oder ein pactum de vendende, ebenso wenig scheint uns das Versprechen, ihm gewisse Gelder zu verschaffen, ein Mandat, sondern ein pactum de mutuo dando zu sein. Wäre es aber ein Mandat, so würde es nach römischem Recht ohne affectus verpflichtende Craft sein, da der Mandatar nach § 11 L. Mand (3.26)1 l 22 § Ult Mand. (17.1)2 das Mandat kündigen darf, vorausgesetzt daß er es rechtzeitig thun. Die Gründe, welche L 22–26 pr ibid als „causeo omittendi mandati“ aufzählt, sind nicht als Voraussetzungen für die Kündigung überhaupt, sondern als Exculpationsgründe für eine ohne Kündigung unterlassene Ausführung des Mandats und eine Kündigung zur Unzeit gemeint. Ein Mandat im vorliegenden Fall angenommen, so würde Beklagter dasselbe, als er zur Erfüllung seines Versprechens aufgefordert wurde, habe kündigen dürfen. Da damals für den Mandaten noch „res integra“ (§ 11 I.cit) vorhanden war. Glauben wir also den Gesichtspunkt des Mandats abweisen zu müssen, ohne auf die Gründe, aus denen Kläger die Anwendbarkeit desselben bestritten, einziehen zu brauchen, so bietet sich doch nichts desto weniger ein anderer dar, der den gewünschten Zweck vollständig erreicht. Als juristisches Versprechen aufgefaßt läßt sich das vorliegende unserer Ansicht nach nicht anders qualificiren, denn als ein pactum de mutuo dando. Es fragt sich nun, ob daß 1 2
I. 3.26.11. D. 17.1.22.
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Legen wir dem Versprechen des Beklagten einmal einen juristischen Charakter bei, so greift für dasselbe unserer Ansicht nach keine andere Auffassung Platz, als die eines nach heutigem Recht klagbaren pactum de mutuo dando, eines Darlehnsversprechens. Wie jedes bindende Versprechen schließt auch letzterer den willkührlichen Rücktritt aus. Dennoch könnte es den Anschein gewinnen, als ob dasselbe auch dem nach erfüllt werden müsste, wenn inzwischen die Vermögensverhältnisse dessen, mit dem es geschlossen, sich in einer Weise verändert hätten, daß er für die demnächstige Rückzahlung gar keine Sicherheit gewährte z. B. wenn er gerade zum Concurse stände. Allein wir glauben, dem entschieden widersprechen zu müssen. Nicht zwar, als ob wir für diesen Fall ein stillschweigendes bedungenes Rücktrittsrecht behaupten wollten dies wäre, wenn auch nicht im praktischen Resultat, so doch in der juristischen Fassung entschieden verkehrt. Es handelt sich hier vielmehr um eine aus dem Zweck oder versprochenen Leistung selbst sich ergebende Consequenz. Der Zweck des Darlehens ist nicht, dem Empfänger dauernd und mit eignem Verlust Geld zuzuwenden, sondern es ihm bloß vorzustrecken, das Darlehen beabsichtigt keine Schenkung. Dieser Zweck muß nun auch bei der Interpretation eines Darlehensversprechens im Auge behalten und demgemäß seyen: wo jener Zweck unmöglich ist oder unmöglich geworden ist, cessirt mit der Möglichkeit seiner Erreichung auch die Verpflichtung zur Erfüllung des auf diesen Zweck gerichteten Versprechens. Diese Behauptung wird schwerlich auf Widerspruch stoßen für den Fall, wenn jene Unmöglichkeit juristischer Art ist, also z. B. einem Pupillen ein Darlehn versprochen oder der Promissor hinterher unter cara prodigi gestellt ist, der Vormund aber zwar zur Entgegennahme des Geldes, nicht aber zu der derselben entsprechenden obligatio mutui seinen Consens ertheilen will. Die Verpflichtung zur Eingehung eines Contracts kann nicht fortdauern, wenn der Contract selbst von dieser oder der anderen Seite eine juristische Unmöglichkeit geworden. Dasselbe glauben wir aber auch von der factischen Unmöglichkeit der Erreichung jenes Zweckes behaupten zu müssen. Dem Promissor, dem zu einer Zeit, als sein Credit noch gar nicht gelitten hatte, ein Darlehn versprochen, ist zwar durch seinen gänzlichen Vermögensverfall u bevorstehenden Concurs die juristische Möglichkeit der Eingehung des Darlehens nicht entzogen, allein diese Veränderung in seiner Lage schließt factisch vom Standpunkt des Darlehens in der That eine Vereitlung des Darlehnszwecks in sich. Denn dieser Zweck besteht nicht in der bloßen Hingabe, sondern zugleich in der demnächstigen Rückgabe. Als Akt des Wohlwollens, der Menschenfreundlichkeit u. s. w. kann auch unter solchen Verhältnissen immerhin noch eine Darlehnshingabe vorkommen, allein vom Standpunkt des Geschäftsverkehrs wird Niemand sich zu einem solchen Darlehn entschließen, das er von vornherein so gut wie verloren geben müsste. Darum aber wird nun auch die Erfüllung eines früher unter völlig anderen Verhältnissen gegebenen Darlehnsversprechens bei einer solchen Änderung der Um-
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stände sistiren müssen. Denn die Basis des Darlehns auf Seiten des Schuldners die Zahlungsfähigkeit desselben ist hier in einer Weise erschüttert, daß die factische Erreichung des Darlehnszwecks vom Standpunkt des Gläubigers aus damit, wenn auch nicht absolut unmöglich gemacht, doch so gut wie vereitelt ist. Wir würden demgemäß den Satz aufstellen: die Verpflichtung aus dem Darlehensversprechen cessirt, so wie die Verpflichtung aus dem Darlehensvertrag auf Seiten des zukünftigen Schuldners sei es juristisch unmöglich geworden, sei es durch eine inzwischen eingetretene wesentliche Veränderung seiner Vermögensverhältnisse der Aussicht auf demnächstige factische Realisirung beraubt worden ist. Daß nun zur Zeit, als Kläger die Erfüllung des Versprechens forderte, eine solche Veränderung in seiner Lage eingetreten war, kann nach Maßgabe der Akten nicht bezweifelt werden und ist bereits in den Entscheidungsgründen des vorigen Urtheils detaillirter nachgewiesen. II 14 S 6, 7 Diesen Nachweis hat zwar der Kläger Ib. 16 S. 11 fl. durch eine andere Berechnung seines damaligen Vermögensstands zu entkräften gesucht, allein ohne daß es ihm gelungen wäre. Von dem baaren Capital von 17.000 Rl, welches er mitbrachte, behielt er nach Abtragung von 12.000 Rl Caufgelder und den a. a. O. genannten sonstigen „Costen für Contract, Geldoperationen u. s. w.“ etwa 4.000 Rl als Betriebscapital übrig. Nach seinem eigenen Vorbringen in erster Instanz will er 3.800 Rl zu Meliorationen verwandt haben. Von eigenen Mitteln entblößt, nahm er seine Zuflucht zu dem Beklagten und von den Gläubigern. Angenommen nun auch, daß alle diese Gelder in das Gut verwandt, der Werth desselben also dadurch vermehrt worden seien, so treten doch – abgesehen von den vom Beklagten bloß behaupteten u nicht verwiesenen schlechten Wirthschaft des Klägers – zwei von ihm selbst zugegebene Umstände ein, welche eine von vornherein, wie Kläger selbst gefühlt hatte, bedencklich angelegten Wirthschaftssystem einen schweren Ruf versetzen müssten; einmal nämlich das Jahr 1848 mit seinem die Preise der Länderein und folglich auch den Credit ihrer Besitzer sehr herabdrückenden Einfluß und sodann die niedern Producten-Preise der nächsten Jahre. Alles, was Kläger hatte, steckte in dem Gute. Von dem Werthe dieses Gutes und dem Preise der Producte hing mithin die Höhe seines Vermögens und seiner Einnahmen ab. Was das Gut ihn früher gekostet, was er inzwischen hineingesteckt, kam späterhin zur Zeit der Cündigung und bis zum Verkauf des Guts (1850–1853) gar nicht mehr in Betracht, ebenso wenig wie der Umstand, daß das Gut 1856 von seinem Nachfolger angeblich zu 74.000 Rl verkauft sein soll, etwas verschlägt, da dieser Mehrbetrag des Caufpreise durch Meliorationen und Steigen der Preise der Ländereien veranlaßt worden sein kann.
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Thatsache ist, daß der Kläger trotz angestrengtester Bemühungen den Posten von 2.000 Rl nicht auftreiben konnte, und daß das Gut bei der öffentlichen Zwangsversteigerung aus 32.050 Rl ertrug – zwei Umstände, die das Urtheil des Beklagten über die Unsicherheit jenes Postens vollkommen rechtfertigen. Daß er selbst früher den Caufpreis von 52.000 Rl für einen angemessenen erachtet hatte, stand ihm um so weniger im Wege, als zwischen damals und jetzt das Jahr 1848 lag, eine frühere Ansicht aber überhaupt weder für ihn etwas bindendes hatte, noch bei der Frage von dem objectiven Werth des Guts in die Wagschaale geworfen werden kann. Sowie der Credit des Klägers in der öffentlichen Meinung in der Weise erschüttert war, daß Niemand trotz Jahre langer Bemühungen von seiner Seite ihm die benöthigten 2.000 Rl selbst gegen hypothekarische Eintragung gewähren wollte, war der Beklagte in seinem Recht, ihm dieselben vorzuenthalten, um so mehr der Kläger ihm gegenüber mit einer Zinszahlung von mehr als 1.000 Rl in Rückstand geblieben. Und dadurch thatsächlich den Beweis geliefert hatte, daß er seiner Verpflichtungen aufzukommen nicht mehr im Stande sei. Ist nun den bisherigen Ausführungen nach das Recht des Beklagten, die geforderten 2.000 Rl zu verweigern, nicht zu bezweifeln, so müsste die vom Kläger aufgeführte Restitution gegen das Erkenntniß voriger Instanz versagt werden, ohne daß es eines Eingehens auf die nur in zweiter Linie in Betracht kommenden sonstigen Streitpunkte bedurft. Die Verurtheilung des Klägers in die Costen rechtfertigt sich aus dem Erkenntniß in der Hauptsache. Rechtsgutachten in Sachen des Barons von Langermann etc. wider den Cammerherrn, Intendanten von Flotow etc. betr. Schadensersatz An Großherz. Oberappelationsgericht zu Rostock Anl. 22. Juli 1859 Aep. 22/23. Juli Sped. 23. Juli Aeg. Geb. mihi: 5 fl. 12 xr. Tage: 44 fl Ref. Jhering
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Stichwortverzeichnis Abstrak(c)tionsvermögen 73, 155, 187, 191, 206 f., 213, 223 Ak(c)tenversendung 128–130, 135, 143, 145, 231 Apriorismus 44, 47 Begriff des Rechts 50, 72, 75, 82, 161 ff. Begriffsjurisprudenz 43 ff., 68 f., 112, 219 Beweisinterlokut 135, 231 Charakterfrage 149, 177 culpa in contrahendo 65, 147 ff. Damaskus-Erlebnis 67 f., 75 Darlehen 136, 139 ff., 233, 240 ff. Deduktion 59, 120 f., 134, 140, 148, 155 ff., 173, 214 Diagnosewerkzeug 222 f. Emotionen 76, 80, 87, 102, 120, 176 ff., 226 Empirie 24 f., 33, 73, 223 Entmystifizierung 101, 219 Erfahrungsprozess/-wissen 25, 227 Erfahrungsspeicher 156, 212, 217, 221, 226 Etymologie 77 ff. Evolutionstheorie 25, 35, 74, 197, 207, 213, 222 Expertengefühl 109 Expertenwissen 204 f. Fall – -lösung 154 ff., 214 – -studien 127 ff., 156 ff. – Caroline Kuhl-Fall 149 ff. – Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit und -Actienstreit 142 ff.
– Oheim-Fall 134 ff., 230 ff. – Rechtsstreit Weise wider Zech 145 ff. – Schiffsparten-Fall 132 ff. Freirechtsschule 67, 120 ff. Gegenwartswissenschaft 44, 54, 72, 221 Gemeinschaftsgefühl 125, 225 Gerechtigkeitsgefühl 80, 102, 115, 121, 158, 183, 204 Gerichtspraxis 128 ff. Geschichtsverständnis 35, 187, 209 ff. Gewissen 79, 97 f., 105, 116 f., 173, 183 f., 208 f., 214, 225 Gutachter 68, 128 ff., 197 Handlungsmotivation 98, 174, 177, 179, 201 Historische Rechtsschule 21 ff. Indikator 133, 156 Induktion 119 f., 155 Industrialisierung 22, 142 Interessentheorie 49, 164 Intuition 66, 108 f., 119 ff., 169, 220 f., 226 Judex a quo 139 ff., 146, 236 ff. Judiz 114, 123, 215, 226 Jurisprudenz – Gefühls- 119 ff. – höhere 60 ff., 113 – niedere 63 Justizkanzlei 128, 135 ff., 231, 235 Kampf um’s Recht 174 ff. Katalysator 127, 175, 199, 212 Kauf bricht Miete 153 ff. Kohlefall 132 f.
Stichwortverzeichnis Kompass 142, 156, 221 Konstruktion – juristische 62 ff. – -sgesetz 64 f. Kontinuitätstheorie 68 ff. Kontrollinstanz 70 ff., 112 ff., 127 ff., 140 ff., 147 ff., 171, 197 ff. Korrektiv 128, 134, 202 f. Krisenmanagement 199, 217 Lebenserfahrung 122 f., 156, 159, 227 Leuteration 128 f., 145 f. Logique affective 104 Logique rationelle 104 Lucca-Pistoja-Eisenbahnstreit/-Actienstreit 142 ff.
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Objektivierungsprozess 19, 154, 198, 218 ff. Oheim-Fall 134 ff., 230 ff. pactum de mutuo dando 140, 242 f. Pathologie des Rechtsgefühls 176 Persönlichkeitsgefühl 176, 187 f., 195 Pflichtgefühl 183 Physiologische, psychologische Theorien 58, 101 ff. Praktiker 24, 46, 123, 127 ff., 157 Prinzipiengläubigkeit 48, 51 Promissor 140, 243 Protest 127, 132 f., 148, 157, 179, 199, 203, 208, 221 Quietismus 37, 42
Makroebene 197 ff., 205, 214, 217 ff. Mehrebenenmodell 190 ff. Menschenverstand 43 ff., 203, 221 Methode – der Falllösung 154 ff. – naturhistorische 60 ff., 219 ff. – rechtsdogmatische 60 ff. – rechtshistorische 57 ff. methodenkritische Wende 66 ff., 221 Mikroebene 197 ff., 214, 217 ff. moral sense 79 ff., 96, 100 Nachbarwissenschaften – Literatur und Dichtung 86 ff., 177, 218 – Physiologie und Psychologie 101 ff. – Rechtsphilosophie 80 ff., 94 ff. Nationalitätsprinzip 23 f., 36, 39 Nativitätstheorie 188, 191 ff. Naturlehre 24, 61 Naturrecht 96 ff., 107 ff., 173 Naturwissenschaft 22 ff., 55 ff., 95 ff., 101 ff., 176, 220 Oberappellationsgericht 128 ff. Oberkammerherrngericht 135, 231
Rationalisierung 94 f., 101, 218 ratio des Gesetzes 147, 158, 210 Rechtsanwender 62, 115 ff., 122, 128, 156, 161, 204, 223 Rechtsfortschritt 20, 43, 127, 157, 172, 198, 212, 223 f. Rechtsgefühl – affektiv 149, 172, 176, 179, 199 ff. – angeboren 78, 215 ff. – ausgebildet 120, 124 f., 158, 173, 181, 204 – empört 149, 202 – gesund 204, 133 f., 148 f., 175, 178 ff. – historisch-evolutionär 224 – idealistisch 117, 179, 187, 191, 207 f., 223 f. – individuell 66, 84, 87 ff., 109, 115, 153, 168, 173 ff. – kollektiv 99, 168, 175, 205 – kontrollierend 124, 149, 173, 213 – kritisch 113, 149 ff., 197 ff. – national 35, 113, 168, 180, 185, 192 – natürlich 132 ff. – objektiv-wertend 197, 204 ff.
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Stichwortverzeichnis
– subjektiv 110, 153, 158, 167, 177, 181, 218 Rechtsgutachter siehe Gutachter 68 Rechtskränkung 149, 175 ff. Rechtspositivismus 121 Rechtspraktiker 52, 66, 123, siehe auch Praktiker Rechtstheoretiker 52, siehe auch Theoretiker Rechtsverletzung 100, 176 ff., 199 ff., 215 Reinigungseid 151 Richter 156 ff. Richtigkeitskontrolle 227 Rücktritt 140 ff., 243 Samenkorn-Metapher 170 ff., 192 Schatten des Wanderers 196 ff., 213, 223, 228 Schiffspartenfall 132 ff. Schönheitsgefühl 199 Sekundärphänomen 197, 199, 224 Selbstbehauptung 120, 178, 221 Selbsterhaltungstrieb 183, 187, 193 ff. Sicherheitsgefühl 180, 209 Sittlichkeit 183 ff. Spruchfakultät 68, 127 ff., 221 Synergieeffekt 213 ff. System 56 ff., 64 ff., 210 ff. Tatkraft 23 ff., 37, 41 ff., 91, 173 ff., 193, 213
Theoretiker 46, 52 f., 131, 156 Transferwissen 113, 176 Umschwung 66 ff., 127, 132 ff., 166, 205 Universalität 23 f., 39 ff. Unmöglichkeit 140 ff., 243 Urteilsfindung 98, 115, 118 ff. Urteilskraft 95, 174, 200 ff. Verkehr 31, 50, 122, 127, 141, 145, 155, 166 Volksgeist 35 ff., 107 ff. Wende, methodenkritische 66 ff., 221 Werke – Einleitung zur Entwicklungsgeschichte des römischen Rechts 188 ff. – Geist (des römischen Rechts auf den verschiedenen Stufen seiner Entwicklung) 166 ff. – Ist die Jurisprudenz eine Wissenschaft? 172 ff. – Kampf um’s Recht 174 ff. – Ueber die Entstehung des Rechtsgefühles 184 ff. – Zweck im Recht 179 ff. Wiener Abschiedsvorlesung 149, 187 Willenstheorie 49 f. Wissenschaftsgläubigkeit 112 Zeitgeist 72, 75, 87, 189, 213