Der Römerbrief des Paulus: Eine Interpretation in systematisch-theologischer Absicht 9783161619021, 9783161619038, 3161619021

Das vorliegende Werk unterscheidet sich von der Fülle der exegetischen Kommentare dadurch, dass es eine systematisch ori

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German Pages [342] Year 2022

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Titel
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
1. Die Aufgabe einer systematisch-theologischen Interpretation des Römerbriefes
2. Theologischer Prolog
a) Die Schlüsselfrage der paulinischen Theologie
b) Skizze problematischer Tendenzen in der jüngeren Paulusforschung
c) Rechtfertigung und Christusgemeinschaft, Tod und Leben. Die Frage nach dem Subjekt bei Paulus
aa) Mitsterben mit Christus
bb) Das Subjekt des Im-Fleisch-Lebens – und die Frage seiner Kontinuität im Glauben
cc) Die Bedeutung der Paränese – die Ambivalenz des Im-Fleisch-Lebens
3. Kurze historische Einordnung des Römerbriefes
a) Wer war Paulus?
b) Der Anlass des Briefes und die Situation der römischen Gemeinde
4. Aufbau des Römerbriefes
Interpretation
1. Eingang: 1,1–17
a) Präskript (Briefkopf): 1,1–7
b) Proömium (Überleitung): 1,8–15
c) Die These: 1,16–17
2. Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39
a) Die faktische Gottlosigkeit Aller: 1,18–3,20
aa) 1,18–32: Der Zusammenhang von Gottlosigkeit und Selbstsucht
bb) 2,1–16: Das Gericht Gottes widerspricht der Selbstgerechtigkeit aller – es richtet nach der Lebenswirklichkeit sowohl derer, die das Gesetz (des Bundes) kennen, als auch derer, die es nicht kennen
cc) 2,17–29: Auseinandersetzung mit dem Judesein: Der Gegensatz zwischen faktischer Selbstgerechtigkeit und wahrer Beschneidung im Geist
dd) 3,1–20: Fortsetzung: Juden und Heiden unterliegen ganz der Sünde und dem Gericht. Durch eigene Werke wird kein Mensch vor Gott gerecht
b) Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25
aa) 3,21–3,31: Gerechtigkeit durch Glauben an Christus
bb) 4,1–4,25: Schon mit Abraham beginnt die Heilsgeschichte der Gerechtigkeit aus Glauben – die nun allen Menschen eröffnet ist
c) Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38
aa) 5,1–11: Die geschenkte Rechtfertigung bedeutet Friede mit Gott durch seinen Geist und seine versöhnende Liebe – auch wenn die letzte Rettung noch aussteht
bb) 5,12–21: Die Wahrheit der Menschheitsgeschichte – Christi Leben überwindet Adams Tod, Christi Gemeinschaft überwindet Adams Sünde
cc) 6,1–11: Die Taufe bedeutet: der alte Mensch ist mit Christus gestorben – ein neues Leben in der Gemeinschaft Christi beginnt
dd) 6,12–23: Die Freiheit von der Macht der Sünde bewährt sich in ihrer Versuchung
ee) 7,1–6: Der mit Christus Gestorbene ist frei vom Gesetz – die Neuheit des Geistes bestimmt ihn
ff) 7,7–25: Vor Taufe und Glaube herrschte das Gesetz der Sünde in mir – das Gesetz Gottes widersprach dem zwar, aber erlöste mich nicht davon: Es realisierte den Tod als Wahrheit der Sünde und führte zu dem Selbstwiderspruch, das Gebotene zu erkennen, aber nicht leben zu können
gg) 8,1–17: Der Geist Gottes macht die Glaubenden zu Kindern Gottes
hh) 8,18–27: In unserer Gotteskindschaft kommt die ganze Schöpfung an ihr erlösendes Ziel – doch in uns hat das Leben des Geistes erst begonnen
ii) 8,28–39: Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes in Christus
3. Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36
a) Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29
aa) 9,1–5: Der Schmerz der Trennung von Israel, das doch den Bund Gottes, das Gesetz Gottes, die Verheißung Gottes hat
bb) 9,6–29: Gottes Wort hat Bestand. Aber dass Gottes Gnade die Einen ergreift und die Anderen nicht, ist unbegreiflich
b) Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21
aa) 9,30–10,4: Israel verfehlt die Gerechtigkeit – die aus Glauben kommt
bb) 10,5–13: Predigt, Glaube, Bekenntnis: Die rettende Gemeinschaft vermittelt sich im Gespräch des Glaubens
cc) 10,14–21: Die Kommunikation des Glaubens (Sendung, Verkündigung, Hören, Verstehen, Glauben, Anrufen). Was bedeutet sie für Israel im Verhältnis zu den Völkern?
c) Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32
aa) 11,1–10: Der Rest Israels
bb) 11,11–24: Das Ziel Gottes bleibt, Israel zurück in die Heilsgeschichte zu holen. Die berufenen Heiden haben keinen Grund zum Hochmut
cc) 11,25–32: Gottes List der Heilsgeschichte wird auch ganz Israel retten
d) Die unbegreifliche Heilsgeschichte: 11,33–36
4. Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13
a) Das wahre Leben erfüllt sich in der Gemeinschaft Gottes und der Menschen: 12,1–21
aa) 12,1–2: Das wahre Leben als Gottesdienst. Es unterscheidet sich vom gewöhnlichen Leben
bb) 12,3–8: Die Gemeinde – ein Leib, viele Glieder
cc) 12,9–21: Konkretionen der Liebe
b) Der göttliche Sinn weltlicher Regierungsgewalt – auch für Christen: 13,1–7
c) Konzentration des Lebens im Horizont der kommenden Ewigkeit: 13,8–14
aa) 13,8–10: Die Liebe erfüllt das Gesetz
bb) 13,11–14: Leben im Horizont der nahen Ewigkeit
d) Was aus der Christusgemeinschaft für den theologischen Streit um die Bedeutung religiöser Regeln (und somit für das Verhältnis zwischen Starken und Schwachen im Glauben) folgt: 14,1–15,2
aa) 14,1–12: Keiner soll den anderen verurteilen
bb) 14,13–15,2: Statt dem Anderen Anstoß zu geben, ist um der Gemeinschaft Christi Willen im Ausüben der Freiheit Zurückhaltung zu üben
e) Ausweitung der Frage. Der Sinn der Geschichte beginnt sich in der Einmütigkeit derer zu erfüllen, die Christus glauben und nachfolgen: 15,3–15,13
aa) 15,3–7: Es gilt, Christus nachzufolgen und der in ihm gegebenen Gemeinschaft zu entsprechen
bb) Fortsetzung und Schluss: Christus erfüllt die Verheißungen für Juden und alle Völker, so dass alle Gott verherrlichen: 15,8–13
5. Der Apostel und seine Leser: 15,14–16,27
a) Paulus reflektiert seine Aufgabe. Christus wirkt durch ihn: 15,14–21
b) Reise- und Besuchspläne sowie ein Aufruf, Fürbitte zu halten: 15,22–33
c) Empfehlung und Grüße: 16,1–16
e) Warnung vor Spaltern und falscher Lehre. Am Ende wird alles gut: 16,17–20
f) Grüße der Mitarbeiter und eine (nicht von Paulus stammende) Schlussdoxologie: 16,21–27
Literaturverzeichnis
Personenregister
Sachregister
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Der Römerbrief des Paulus: Eine Interpretation in systematisch-theologischer Absicht
 9783161619021, 9783161619038, 3161619021

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Tom Kleffmann Der Römerbrief des Paulus

Tom Kleffmann

Der Römerbrief des Paulus Eine Interpretation in systematisch-theologischer Absicht

Mohr Siebeck

Tom Kleffmann ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Kassel.

ISBN 978-3-16-161902-1 / eISBN 978-3-16-161903-8 DOI 10.1628/978-3-16-161903-8 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ bibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2022 Mohr Siebeck Tübingen. www.mohrsiebeck.com Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für die Verbreitung, Vervielfältigung, Übersetzung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von epline in Böblingen gesetzt, von Laupp & Göbel in Gomaringen auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und von der Buchbinderei Nädele in Nehren gebunden. Printed in Germany.

Vorwort Im Römerbrief des Paulus geht es ums Ganze: um unsere Verlorenheit und unser Heimfinden, um das Geschenk der Gemeinschaft mit Gott, die Christus bedeutet, um den Geist Gottes bei den Menschen, um das wahre Leben und den wahren Tod. Zugleich geht es um die Wahrheit der Geschichte: Paulus versteht seinen Auftrag, das Evangelium von Christus allen Menschen zu verkündigen, im universalen Horizont der Geschichte Gottes mit der Menschheit, den die Verheißungen Gottes an Israel eröffneten und der nun an sein Ziel kommt. Der Römerbrief stellt die erste Theologie des Christentums dar. Er geht von Verkündigung aus und zielt auf Verkündigung – aber so, dass er ihren Zusammenhang lehrmäßig systematisch reflektiert. Er bezeichnet nicht nur den zeitlichen Anfang, sondern auch den Ursprung christlicher Theologie – ein Text, der seit 2000 Jahren das Denken des Christentums unauslöschlich prägt. Der hermeneutische Sinn einer systematischen Interpretation des Römerbriefes für die theologische Wissenschaft ist in der folgenden Einleitung zu diskutieren. Doch möchte ich schon jetzt behaupten, dass die Auseinandersetzung mit ihm für die Ausbildung einer systematischen Theologie wesentlich ist. Karl Barths Auslegung des Römerbriefes vor rund 100 Jahren ersetzte ihm die förmliche Habilitation. Und tatsächlich möchte ich meinen, es gehöre zur eigentlichen Habilitation in der Systematischen Theologie, eine Interpretation des Römerbriefs zu versuchen. Denn ein solches Vorhaben zwingt aus den philosophisch-theologischen Metasystemen zurück zu den grundlegenden Verständnisproblemen am Ursprung des Glaubens an Christus. Freilich muss ich für meinen Fall zugegeben, dass der vorliegende Interpretationsversuch zum Zwecke der Habilitation reichlich spät käme – meine Habilitation in Göttingen liegt schon 20 Jahre zurück. Aber auch die Verspätung hat vielleicht ihren guten Grund. Denn der Versuch kann nur gelingen, wenn er sich auf ein bereits durchgearbeitetes Vorverständnis des Zusammenhangs des christlichen Glaubens bezieht. Das ist eine Bedingung dafür, gerade die Fremdheit dieses Textes zu entdecken, der doch aus Gottesdienst und Theologiegeschichte bekannt zu sein scheint, und ihn zugleich so sprechen zu lassen, dass er die Kraft entwickelt, dieses Vorverständnis aus dem Ursprung des Evangeliums heraus zu korrigieren. Beides, die Entdeckung der Fremdheit und das neue Sprechen des Textes, setzt freilich auch voraus, ihn philologisch genau und in seiner eigenen historischen Situation wahrzunehmen – im Bewusstsein der langen Geschichte, die

VI

Vorwort

uns mit ihm verbindet und die uns von ihm trennt. Der Versuch, den Römerbrief in systematisch-theologischer Absicht zu interpretieren, muss also auf die exegetische Forschung aufbauen und im Gespräch mit ihr sein. Eine gedeihliche Kultur dieses Gespräches habe ich zuerst bei meinem Studium in Tübingen in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts kennengelernt. Später hat mein Doktorvater und Freund Joachim Ringleben mit seinen tiefen Interpretationen etwa des Johannesevangeliums oder des Hebräerbriefes gutes Beispiel gegeben. Schließlich und vor allem aber ist es das freundschaftliche, dem Gespräch der theologischen Disziplinen förderliche Klima der Kassler Theologie, in dem meine Arbeit gewachsen ist. Deshalb widme ich dieses Buch meinem Freund und neutestamentlichen Kollegen Paul-Gerhard Klumbies. Danken möchte ich der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck sowie der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Hannovers, die mit namhaften Druckkostenzuschüssen diese Publikation ermöglicht haben. Kassel, 31. Mai 2022

Tom Kleffmann

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 

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1. Die Aufgabe einer systematisch-theologischen Interpretation des Römerbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 2. Theologischer Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 a) Die Schlüsselfrage der paulinischen Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 b) Skizze problematischer Tendenzen in der jüngeren Paulusforschung . . . . . 13 c) Rechtfertigung und Christusgemeinschaft, Tod und Leben. Die Frage nach dem Subjekt bei Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 aa) Mitsterben mit Christus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 bb) Das Subjekt des Im-Fleisch-Lebens – und die Frage seiner Kontinuität im Glauben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 cc) Die Bedeutung der Paränese – die Ambivalenz des Im-Fleisch-Lebens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22

3. Kurze historische Einordnung des Römerbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 a) Wer war Paulus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 b) Der Anlass des Briefes und die Situation der römischen Gemeinde . . . . . . . 28

4. Aufbau des Römerbriefes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Eingang: 1,1–17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 a) Präskript (Briefkopf): 1,1–7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 b) Proömium (Überleitung): 1,8–15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 c) Die These: 1,16–17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

2. Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 a) Die faktische Gottlosigkeit Aller: 1,18–3,20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 aa) 1,18–32: Der Zusammenhang von Gottlosigkeit und Selbstsucht . . . . . 47

VIII

Inhaltsverzeichnis

bb) 2,1–16: Das Gericht Gottes widerspricht der Selbstgerechtigkeit aller – es richtet nach der Lebenswirklichkeit sowohl derer, die das Gesetz (des Bundes) kennen, als auch derer, die es nicht kennen . 57 cc) 2,17–29: Auseinandersetzung mit dem Judesein: Der Gegensatz zwischen faktischer Selbstgerechtigkeit und wahrer Beschneidung im Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 dd) 3,1–20: Fortsetzung: Juden und Heiden unterliegen ganz der Sünde und dem Gericht. Durch eigene Werke wird kein Mensch vor Gott gerecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 b) Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25 . . . . . . . 84 aa) 3,21–3,31: Gerechtigkeit durch Glauben an Christus . . . . . . . . . . . . . . . . 84 bb) 4,1–4,25: Schon mit Abraham beginnt die Heilsgeschichte der Gerechtigkeit aus Glauben – die nun allen Menschen eröffnet ist . . . . 95 c) Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 aa) 5,1–11: Die geschenkte Rechtfertigung bedeutet Friede mit Gott durch seinen Geist und seine versöhnende Liebe – auch wenn die letzte Rettung noch aussteht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 bb) 5,12–21: Die Wahrheit der Menschheitsgeschichte – Christi Leben überwindet Adams Tod, Christi Gemeinschaft überwindet Adams Sünde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 cc) 6,1–11: Die Taufe bedeutet: der alte Mensch ist mit Christus gestorben – ein neues Leben in der Gemeinschaft Christi beginnt . . . 128 dd) 6,12–23: Die Freiheit von der Macht der Sünde bewährt sich in ihrer Versuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 ee) 7,1–6: Der mit Christus Gestorbene ist frei vom Gesetz – die Neuheit des Geistes bestimmt ihn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 ff) 7,7–25: Vor Taufe und Glaube herrschte das Gesetz der Sünde in mir – das Gesetz Gottes widersprach dem zwar, aber erlöste mich nicht davon: Es realisierte den Tod als Wahrheit der Sünde und führte zu dem Selbstwiderspruch, das Gebotene zu erkennen, aber nicht leben zu können . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 gg) 8,1–17: Der Geist Gottes macht die Glaubenden zu Kindern Gottes . . 166 hh) 8,18–27: In unserer Gotteskindschaft kommt die ganze Schöpfung an ihr erlösendes Ziel – doch in uns hat das Leben des Geistes erst begonnen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 ii) 8,28–39: Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes in Christus . 182

3. Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36  . 189 a) Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 aa) 9,1–5: Der Schmerz der Trennung von Israel, das doch den Bund Gottes, das Gesetz Gottes, die Verheißung Gottes hat . . . . . . . . . . . . . . . 190 bb) 9,6–29: Gottes Wort hat Bestand. Aber dass Gottes Gnade die Einen ergreift und die Anderen nicht, ist unbegreiflich . . . . . . . . . . . . . . 193 b) Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 aa) 9,30–10,4: Israel verfehlt die Gerechtigkeit – die aus Glauben kommt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207

Inhaltsverzeichnis

IX

bb) 10,5–13: Predigt, Glaube, Bekenntnis: Die rettende Gemeinschaft vermittelt sich im Gespräch des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 cc) 10,14–21: Die Kommunikation des Glaubens (Sendung, Verkündigung, Hören, Verstehen, Glauben, Anrufen). Was bedeutet sie für Israel im Verhältnis zu den Völkern? . . . . . . . . . . . 217 c) Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32 . . . . . . 222 aa) 11,1–10: Der Rest Israels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 bb) 11,11–24: Das Ziel Gottes bleibt, Israel zurück in die Heilsgeschichte zu holen. Die berufenen Heiden haben keinen Grund zum Hochmut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 cc) 11,25–32: Gottes List der Heilsgeschichte wird auch ganz Israel retten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 d) Die unbegreifliche Heilsgeschichte: 11,33–36 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240

4. Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 a) Das wahre Leben erfüllt sich in der Gemeinschaft Gottes und der Menschen: 12,1–21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 aa) 12,1–2: Das wahre Leben als Gottesdienst. Es unterscheidet sich vom gewöhnlichen Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 bb) 12,3–8: Die Gemeinde – ein Leib, viele Glieder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 cc) 12,9–21: Konkretionen der Liebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 b) Der göttliche Sinn weltlicher Regierungsgewalt – auch für Christen: 13,1–7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 c) Konzentration des Lebens im Horizont der kommenden Ewigkeit: 13,8–14 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 aa) 13,8–10: Die Liebe erfüllt das Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 bb) 13,11–14: Leben im Horizont der nahen Ewigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 d) Was aus der Christusgemeinschaft für den theologischen Streit um die Bedeutung religiöser Regeln (und somit für das Verhältnis zwischen Starken und Schwachen im Glauben) folgt: 14,1–15,2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 aa) 14,1–12: Keiner soll den anderen verurteilen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 bb) 14,13–15,2: Statt dem Anderen Anstoß zu geben, ist um der Gemeinschaft Christi Willen im Ausüben der Freiheit Zurückhaltung zu üben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 e) Ausweitung der Frage. Der Sinn der Geschichte beginnt sich in der Einmütigkeit derer zu erfüllen, die Christus glauben und nachfolgen: 15,3–15,13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 aa) 15,3–7: Es gilt, Christus nachzufolgen und der in ihm gegebenen Gemeinschaft zu entsprechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 bb) Fortsetzung und Schluss: Christus erfüllt die Verheißungen für Juden und alle Völker, so dass alle Gott verherrlichen: 15,8–13 . . . . . . 298

5. Der Apostel und seine Leser: 15,14–16,27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 a) Paulus reflektiert seine Aufgabe. Christus wirkt durch ihn: 15,14–21 . . . . . 303 b) Reise- und Besuchspläne sowie ein Aufruf, Fürbitte zu halten: 15,22–33  .307 c) Empfehlung und Grüße: 16,1–16 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 310

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Inhaltsverzeichnis

e) Warnung vor Spaltern und falscher Lehre. Am Ende wird alles gut: 16,17–20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 f) Grüße der Mitarbeiter und eine (nicht von Paulus stammende) Schlussdoxologie: 16,21–27 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325

Einleitung

1.  Die Aufgabe einer systematisch-theologischen Interpretation des Römerbriefes Den Römerbrief systematisch-theologisch verstehen zu wollen heißt zunächst, dass sich der Verstehens- und Denkversuch nicht im Historischen erschöpft, sondern das „Evangelium Gottes“ selbst in seiner universalen Bedeutung verstehen will, und zwar als als δύναμις […] θεοῦ, als Kraft Gottes (1,16). Das Ziel der vorliegenden Interpretation ist es also zu zeigen, dass es im Römerbrief auch noch für heutige Leser ums Ganze geht, und dass sich in ihm für denjenigen, der nach unserem Gottesverhältnis fragt, auch in der Gegenwart ein unausschöpflicher Antworthorizont eröffnen kann. Als erste und ursprüngliche, schon vor Abschluss der Kanonbildung im gottesdienstlichen Gebrauch befindliche Lehre des christlichen Glaubens hat der Römerbrief immer wieder in der Kirchengeschichte Neuanfänge, entscheidende Konzentrationen, Bekehrungen ausgelöst – nicht zuletzt in der Reformationszeit. Das gilt, obgleich die ihn tragende, paradigmatische Begrifflichkeit nicht zu allen Zeiten gleich anschlussfähig war und etwa die sog. Rechtfertigungslehre erst ab dem 3. Jahrhundert prägend wirkte  – etwa zu derselben Zeit, in der Origenes den ersten großen Kommentar1 verfasste.2   Berühmt ist Augustinus Durchbruchserlebnis im Sommer des Jahres 386, als er in einem römischen Garten die anonyme Aufforderung hört, zu lesen („Tolle, lege; tolle, lege“), nach dem Römerbrief greift („Arripui […] codicem apostoli“) und mit Röm. 13,13–14,1 die Gewissheit christlicher Existenz erfährt.3   Nicht weniger berühmt ist Luthers Bericht von seiner Lektüre des Römerbriefes, die ihm zum reformatorischen Durchbruch verhalf. Zwar ist wahrscheinlich, dass Luther in seinem Forschen als Professor der Bibelauslegung in Wittenberg (nicht zuletzt im Zusammenhang seiner Römerbriefvorlesung von 1515/16) in vielen Schritten zur reformatorischen Einsicht gelangte. Im Rückblick von 1545 aber erscheint der Durchbruch konzentriert in der einen Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, genauer: im Verständnis des paulinischen Satzes von der Gerechtigkeit Gottes (Röm. 1,17), um den sein Denken beharrlich kreiste.4 1 

Commentarii in epistolam b. Pauli ad Romanos. MPG 14, 837–1292. U. Wilckens, Der Brief an die Römer, 1. Teilband Röm 1–5, Neukirchen-Vluyn 1978, S. 50. 3  Augustinus, Confessiones 8,12,28–30 (Zitat umgestellt). Vgl. auch 7,21.27, ferner D. Wyrwa, Zugänge Augustins zu Paulus und dem Römerbrief, in: C. Breytenbach (Hg.), Der Römerbrief als Vermächtnis an die Kirche. Rezeptionsgeschichten aus 2 Jahrtausenden, Neukirchen 2012, S. 49–99. 4 Vgl. M. Luther, Vorrede zum ersten Band der lateinischen Schriften [1545], in: J. Schil2 Vgl.

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1.  Die Aufgabe einer systematisch-theologischen Interpretation des Römerbriefes

  In seiner Vorrede zur Römerbrief von 1522 schreibt Luther:   DJESE EPISTEL IST DAS RECHTE HEUBTSTÜCKE des newen Testaments / vnd das allerlauterste Euangelium / Welche wol widrig vnd werd ist / das sie ein Christen mensch nicht allein von wort zu wort auswendig wisse / Sondern teglich damit vmbgehe / als mit teglichem Brot der Seelen […] Denn sie bisher mit glosen vnd mancherley geschwetz vbel verfinstert ist / die doch an jr selbs ein helles Liecht ist / fast genugsam / die gantze Schrifft zuerleuchten.5

Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass sich die reformatorische Theologie über weite Strecken als Wiederentdeckung und Neuinterpretation des Römerbriefes darstellte. Mindestens ebenso wie für Luther gilt dies für Melanchthon. Schon seine Loci communes rerum theologicorum von 1521 gehen auf eine Interpretation des Römerbriefs zurück, und 1532 brachte er (nach früheren Versuchen 1522 und 1529) einen Römerbriefkommentar heraus.6 Aber auch z. B. Bugenhagen (1527), Bucer (1536) und natürlich Calvin (1538)7 kommentierten prominent den Römerbrief. Schon Luthers Vorrede zum Römerbrief, indem sie ihn als kurze Zusammenfassung ‚christlicher und evangelischer Lehre‘ versteht8 und eine wunderbar konzentrierte Interpretation seiner Grundbegriffe (etwa des Zusammenhangs von Sünde, Gesetz und Glaube) gibt, hatte ihrerseits eine starke Wirkung in der Geschichte der evangelischen Theologie besonders des 17. und 18. Jahrhunderts. Johann Arndt gab sie entscheidende theologischen Impulse, auf Philipp Jacob Spener9 und August Hermann Francke hatte sie großen Einfluss10, und John Wesley (auf den sich die spätere methodistische Kirche zurückführt) datiert auf ihre Lektüre am 24.5.1738 seine Bekehrung.11 ling (Hg.), Lateinisch-deutsche Studienausgabe Bd. 2, Leipzig 2006, S. 505,23–507,12. Zu der mit diesem Durchbruch verbundenen hermeneutischen Grunderfahrung, sich zum ursprünglichen Verständnis der Bibel von scheinbar selbstverständlichen, tradierten Kategorien des Denkens lösen zu müssen, vgl. T. Kleffmann, Bibel und Reformation, in: P.‑G. Klumbies/​ I. Müllner (Hg.), Bibel und Kultur, Das Buch der Bücher in Literatur, Musik und Film, Leipzig 2016, S. 104–110. 5  Ich habe dieses Zitat dem Original entnommen – vgl. WA DB 7, S, 2,3 ff. 6 Römerbrief-Kommentar 1532. Hg. von R. Schäfer. Gütersloh 1965. Der Kommentar erschien 1540 und 1556 in neuer Bearbeitung. 7  J. Calvin, Der Brief an die Römer. Ein Kommentar. Calvin Studienausgabe 5.1 und 5.2, 3. Aufl. 2012. 8  ALso finden wir in dieser Epistel auffs allerreichlichste / was ein Christen wissen sol / nemlich / was Gesetz / Euangelium / Sünde / Straffe / Gnade / Glaube / Gerechtigkeit / Christus / Gott / gute Werck / Liebe / Hoffnung / Creutz sey. Vnd wie wir vns gegen jederman […] vnd gegen vns selber / halten sollen. […] Darumb es auch scheinet / als habe S. Paulus in dieser Epistel wollen ein mal in die kürtze verfassen / die gantze Christliche vnd Euangelische lere / vnd einen Eingang bereiten in das gantze alte Testament. […] Darumb lasse sie ein jglicher Christen jm gemein vnd stetig in vbung sein. Vgl. WA DB 7, S. 27,15–26. 9  Vgl. Pia Desideria, 34,1 ff. Vgl. J. Wallmann, Ph. J. Spener und die Anfänge des Pietismus, Tübingen 1986, S. 256 ff. 10 Vgl. M. Schmidt, Luthers Vorrede zum Römerbrief im Pietismus, in: Ders. (Hg.), Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus. Witten 1969, S. 290–329. 11  Vgl. Journal and Diaries I, The Works of J. Wesley Vol. 18, Nashville 1988, S. 250.



1.  Die Aufgabe einer systematisch-theologischen Interpretation des Römerbriefes

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Nun ist allerdings eine unmittelbar systematische Exegese, die nicht auch im Bewusstsein des historischen Abstandes die historischen Bedingungen des Textes bedenkt, nicht mehr möglich. Nicht ohne Grund hat sich seit dem 18. Jahrhundert die Theologie in die historisch-philologischen Disziplinen und die Systematik aufgefächert.12 Die gegenüber den Vorurteilen der Dogmatik eigenständige historisch-philologische Forschung hat dem geschichtsbewussten Verstehen der biblischen Texte aufs Ganze gesehen ohne Zweifel gut getan. Unter dieser Voraussetzung ist dann aber auch eigens zu reflektieren, inwieweit die Interpretation eines biblischen, also historischen Textes in systematischer Absicht methodisch überhaupt sinnvoll möglich ist. Nur dass dies im Blick auf den Römerbrief im 20. Jahrhundert – wiederum mit dem Anspruch, die evangelische Theologie zu erneuern – auch Karl Barth (1918, 1922) und nach ihm manche andere, eher vergessene systematische Theologen (Paul Althaus 1935, Emil Brunner 1938) taten, ist noch kein Argument dafür. Ist es nicht besser, die Disziplinen klar auseinanderzuhalten und auf der Basis einer historischphilologischen Aufarbeitung der Ursprungstexte des Christentums insgesamt und unter Berücksichtigung der uns zugleich von ihnen trennenden und uns mit ihnen verbindenden Geschichte die Systematik christlicher Glaubenslehre für die Gegenwart zu rekonstruieren?13 Zwar bezeichnet der Römerbrief den Ursprung christlicher Theologie, der unmittelbar dazu herausfordert, das Evangelium Gottes selbst zu verstehen und zu denken. Der Versuch, dieser Herausforderung nachzukommen, kann sich nicht in historisch philologischen Erörterungen erschöpfen – interesselose historisch-philologische Archäologie versteht als solche nichts. Die Aufgabe, einen Text wie den Römerbrief so zu interpretieren, dass es zu einem gegenwärtigen Verstehen dessen kommt, wovon er redet14, entspricht in besonderer Weise sowohl dem Selbstverständnis des Textes als auch seinem Gegenstand selber.15 Denn die in Christus erschienene Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen wird als eine zu verstehen gegeben, die sich durch ihre Verkündigung und ihren Glauben (sowie die entsprechende zwischenmenschliche Liebe) in der Geschichte verwirklicht.16 12  Zur Entwicklung bei Johann Philipp Gabler (und auch der damit zunächst verbundenen theologischen Reduktion) vgl. P.‑G. Klumbies, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, S. 25–38. 13  Zur hermeneutischen Gesamtaufgabe der Theologie vgl. T. Kleffmann, Grundriß der systematischen Theologie, Tübingen 2013, S. 65–82. 14 Karl Barth schreibt in der Vorrede zur ersten Auflage seiner Römerbriefinterpretation, er habe seine „ganze Aufmerksamkeit […] darauf gerichtet, durch das Historische hindurch zu sehen in den Geist der Bibel, der der ewige Geist ist“ (S. V ) – sich freilich als solcher nicht anders als in geschichtlich menschlichen Worten vermittelt. 15  Dies mag für biblische Texte überhaupt gelten; inwiefern, ist hier nicht zu erörtern. 16  Vgl. auch P.‑G. Klumbies, Paulinisch von Gott schreiben, in: P.‑G. Klumbies/​D. S. Du Toit (Hg.), Paulus – Werk und Wirkung, Tübingen 2013, S. 694 f. (im Anschluss an U. Körtner): Der Textsinn verwirklicht sich im inspirierenden Akt des Lesens. – Zur Diskussion der Frage, inwiefern eine exegetisch historisch orientierte Theologie des Neuen Testamentes möglich ist,

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1.  Die Aufgabe einer systematisch-theologischen Interpretation des Römerbriefes

  Zudem ist in der Geschichte, die die Kommunikation des Evangeliums bildet, immer wieder auf deren ursprüngliche Zeugnisse zurückzukommen – um sie in ihrem Ursprung zu verstehen, aber auch (so eine reformatorische Einsicht) weil die Kirche als Gemeinschaft dieser Kommunikation sich wegen ihrer Fehlbarkeit dem Evangelium zugleich als Kriterium ihrer Wahrheit aussetzen muss.17

Doch auch wenn die theologische Interpretation biblischer Texte stets auch das Gottesverhältnis der Interpreten thematisiert18, schließt das die Notwendigkeit ein, den Text zugleich in seinem ursprünglichen geschichtlichen Kontext zu verstehen und die nicht nur verbindende, sondern zugleich auch trennende Geschichte zwischen Text und Gegenwart zu reflektieren. Ein Verstehen, das den Text als Text der Gegenwart nimmt und als solchen seinen Inhalt systematisch zu rekonstruieren versucht, ist in hohem Maße illusionär. Gerade die – neben offensichtlichen Befremdlichkeiten – immer noch unmittelbar wirksame Sprachkraft des Römerbriefes etwa in der Lutherübersetzung, in der er ja nicht zuletzt aus dem vielfältigen, auch liturgischen Brauch im Gottesdienst schon immer irgendwie bekannt scheint, kann zu dem Irrtum verführen, er ließe sich auch im unmittelbaren Zugriff verstehen. Doch das vermeintliche schon Verstandenhaben kann das gründliche Verstehen hindern. Ein methodisches Verständnis eines vor 2000 Jahren von einem christlichen Juden in griechischer Sprache im römischen Imperium verfassten Briefes erfordert es, zum einen den Kontext philologisch, literaturwissenschaftlich und historisch zu erarbeiten, und zum anderen, die eigene Verstehenssituaton und ihre Vorgeschichte zu reflektieren: eine unendliche Aufgabe. Verstehen ist auch immer die kritische Auseinandersetzung mit dem eigenen Vorverständnis. Es gilt nach Möglichkeit Paulus selbst und z. B. nicht einen von vornherein lutherischen Paulus zu verstehen. Zwar ist die Wirkungs- oder Interpretationsgeschichte der Texte, in der wir auch stehen, indem sie unser Vorverständnis bestimmt, weder zu verleugnen noch pauschal abzutun.19 Denn es ist der unausweichliche theologische hermeneutische Zirkel, in dem jede theologische Interpretation steht, den die Wirkungsgeschichte auch des Römerbriefes bestimmt. Doch muss das methodische Verstehen des Textes diese Bestimmung – eben das Vorverständnis – überprüfen.

vgl. ders., Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, S. 105–109 (und schon S. 71 ff.). 17  Vgl. dazu T. Kleffmann, Grundriß der systematischen Theologie, S. 72–75. 18  „Voraussetzung des Verstehens“ ist „das Lebensverhältnis des Interpreten zu der Sache […], die im Text – direkt oder indirekt – zu Worte kommt.“ R. Bultmann, Das Problem der Hermeneutik, in: Ders. (Hg.), Glauben und Verstehen 2 [1952], Tübingen 6. Aufl. 1993, S. 217. 19  Es zeigt sich, dass auch die pauschale Ablehnung etwa der reformatorischen Interpretation als eines irreführenden Vorverständnisses selber den Blick auf den Text verstellen kann; das Vorverständnis muss zwar stets kritisch überprüft werden, es kann aber sein, dass z. B. die lutherische Interpretation ein Moment der Wirkungsgeschichte bezeichnet, das geeignet ist, sowohl das Verständnis des Textes als auch das Verständnis der theologisch-hermeneutischen Situation der Gegenwart erschließen zu helfen – vgl. gleich 2.b).



1.  Die Aufgabe einer systematisch-theologischen Interpretation des Römerbriefes

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  Verstehen beginnt insofern auch mit der Wahrnehmung der Fremdheit des Textes, nicht nur mit der Wahrnehmung seines Anredecharakters, seiner offensichtlichen Relevanz. Zum Beispiel ist erst einmal wahrzunehmen, dass die sich im Römerbrief findende Auffassung von Christus als Sohn oder Herr (kyrios) noch nicht die theologischen Implikationen hat, wie sie seit der altkirchlichen Lehrentwicklung Konsens sind. Auch die theologisch-spekulative Annahme einer totalen Geschichtsmacht Gottes, die etwa Unglauben als Verstockung durch Gott denken lässt (vgl. Röm. 9,6 ff.), kann jedenfalls für sich genommen befremdlich wirken – was schon Paulus selbst reflektiert, was aber im Kontext der neuzeitlichen Theodizeefrage zugespitzt erscheint. Und ein Grundproblem einer Interpretation in systematischer Absicht liegt darin, dass seit der Aufklärung das Gesetz Gottes nicht mehr wie bei Paulus oder auch noch zur Zeit der Reformation als eine selbstverständliche und als solche dem Evangelium vorausliegende, seine Relevanz erschließende Instanz des Gottesverhältnisses gilt – wodurch auch die darauf bezogenen Begriffe der Gnade, Rechtfertigung usf. nicht ohne Weiteres verständlich erscheinen können.

Vom Römerbrief des Paulus trennt uns eine Geschichte von 2000 Jahren. Doch wenn dies anerkannt ist, kann diese Geschichte auch in dem Sinne mit dem Text verbinden, dass sie unsere Verstehens- oder Interpretationsmöglichkeiten konkretisiert. Die Bedingung dafür ist, dass sie als Geschichte der Entwicklung und Veränderung des christlichen Denkens (einschließlich seiner Krisen, Brüche und Perversionen) auch bewusst ist  – eine Geschichte, zu der von Anfang an auch die Wirkungsgeschichte des Römerbriefes gehört, und ein geschichtliches Gespräch, an dem nun auch wir als Interpreten teilnehmen. Wie kommt hier nun die systematische Aufgabe zu stehen? Zunächst ist festzustellen, dass die systematische Aufgabe von der historisch-philologischen garnicht streng zu trennen ist. Der historisch-philologischen Aufgabe geht die – maßgeblich von Luther entwickelte – theologische Einsicht voraus, dass es das Evangelium, in dem sich die Gemeinschaft Gottes vermittelt, nicht an sich gibt, sondern nur in der konkreten Sprache einer konkreten Zeit.20 Das aber heißt im Blick auf den Römerbrief: „AVffs erste / müssen wir der Sprache kündig werden / vnd wissen was S. Paulus meinet / durch diese wort / Gesetz / Sünde / Gnade / Glaube / Gerechtigkeit / Fleisch / Geist / vnd der gleichen / Sonst ist kein lesen nütz dar an.“21

Wenn also die Aufgabe darin besteht, zwischen der Sprache des Textes und unserer Sprache zu vermitteln, so bedeutet dies zunächst, mittels historischer, philologischer Forschung mit der Sprache des Textes im Kontext seiner Gesprächssituation vertraut werden. Doch impliziert es sogleich auch die Not20  „Und last uns das gesagt seyn, Das wyr das Euangelion nicht wol werden erhallten on die sprachen. Die sprachen sind die scheyden, darynn dis messer des geysts stickt. Sie sind der schreyn, darynnen man dis kleinod tregt. Sie sind das gefess, darynnen man disen tranck fasset.“ An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und halten sollen [1524], WA 15, S. 37,17–19; S. 38,7–12. 21  Vorrede zum Römerbrief, WA DB 7, S. 3,17–19.

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1.  Die Aufgabe einer systematisch-theologischen Interpretation des Römerbriefes

wendigkeit systematischen Verstehens: Es gilt den Zusammenhang der den Gedankengang tragenden Begriffe, wie z. B. Luther sie für den Römerbrief aufführt, herauszufinden, in dem sie allein ihre Bedeutung haben. Eben diesen Zusammenhang, der die Ganzheit des jeweiligen Selbst- und Welt- und Gottesverständnisses bestimmt22, dann in eine gegenwärtige Sprache zu übersetzen und so seine Relevanz für ein heutiges Selbst- und Welt- und Gottesverständnis zu realisieren – das ist der Skopus einer Interpretation in systematischer Absicht. Freilich enthält jede theologisch exegetische, am Gegenstand der Texte interessierte Interpretation eines theologischen Textes diesen Zielpunkt.23 Und ebenso muss sich umgekehrt jede systematische Theologie (sofern sich das Gottesverhältnis, das sie zu denken versucht, einer geschichtlichen Kommunikation verdankt) auf den überlieferten Ursprung beziehen. Doch leider ist diese an sich notwendige theologisch enzyklopädische Verbundenheit in der jüngeren Gegenwart – wie vor gut 100 Jahren schon einmal24 – einem verbreiteten, gegenseitigen Desinteresse von Exegese und Systematik gewichen: Während sich dann erstere auf die historisch-philologische Arbeit beschränkt und eigentlich theologische Fragen (also Fragen, die eben am Denken des menschlichen Gottesverhältnisses interessiert sind) als Zumutung empfindet, meint letztere, sich vom hermeneutischen Ursprung der Theologie emanzipiert zu haben, sofern sie etwa mit Schleiermacher den geschichtlich positiven Glauben bloß als kulturelle Ausgestaltung der philosophisch zu beschreibenden Notwendigkeit menschlicher Sinndeutung versteht, statt zu versuchen, ihn als Ausdruck der sich geschichtlich kommunizierenden Wirklichkeit Gottes zu denken. Daraus ergibt sich als zweite, indirekte Zielrichtung der vorliegenden Interpretation der Versuch, durch ein neueres Beispiel einer entschieden systematisch theologischen Interpretation eines biblischen Textes25 die Zusammenarbeit von Exegese und systematischer Theologie zu beleben und beide zum Nachdenken über die Frage der theologischen Enzyklopädie anzuregen. Die Interpretation müsste versuchen, ein Beispiel für das die theologische Aufgabe kennzeichnende Zusammenspiel der theologischen Disziplinen zu sein. Da der Umfang des Buches überschaubar bleiben soll, sind der Durchführung jedoch pragmatische Grenzen gesetzt. Die exegetische Sekundärliteratur kann nur sehr exemplarisch herangezogen und 22 

Ein theologischer oder auch philosophischer Text expliziert (entwirft) eine solche Ganzheit auf bestimmte Weise – andere Texte setzen ihren Zusammenhang nur auf bestimmte Weise voraus, und schon das Sprechen der Sprache überhaupt impliziert ihn. 23  Vgl. auch P.‑G. Klumbies (mit I. U. Dalferth), Paulinisch von Gott schreiben, S. 707– 709. 24  Eine vergleichbare Situation herrschte am Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts. Vgl. P. Stuhlmacher, Vom Verstehen des Neuen Testaments. Eine Hermeneutik. Göttingen 2. Aufl. 1986, S. 161–186; P.‑G. Klumbies, Herkunft und Horizont der Theologie des Neuen Testaments, Tübingen 2015, S. 71–80. 25 Vgl. aus der letzten Zeit z. B. J. Ringleben, Das philosophische Evangelium. Theologische Auslegung des Johannesevangeliums im Horizont des Sprachdenkens, Tübingen 2014, oder Ders., Wort und Geschichte. Kleine Theologie des Hebräerbriefes. Göttingen 2019.



1.  Die Aufgabe einer systematisch-theologischen Interpretation des Römerbriefes

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insbesondere auch der alttestamentliche, religionsgeschichtliche, philosophiegeschichtliche und allgemeiner begriffsgeschichtliche Hintergrund nur ausnahmsweise eigens betrachtet werden. Durchgängig gemustert habe ich nur die letzten, großen Kommentare von Ulrich Wilckens und Michael Wolter.   Die Einschränkung gilt erst recht für die Reflexion der Wirkungsgeschichte. So bereichernd es etwa wäre, die Kommentierung des Origenes, Thomas, Luthers, Melanchthons oder auch Barths zu vergleichen, auch um die Geschichte des eigenen Vorverständnisses ins Bewusstsein zu heben – solche Vergleiche sind hier nur ausnahmsweise (die reformatorische Theologie und Barth betreffend) möglich. Die durch die sog. Neue Perspektive auf Paulus gestellte Frage nach der Angemessenheit der reformatorischen Interpretation ist allerdings bereits im folgenden theologischen Prolog zu diskutieren; bei der Einzelinterpretation wird sie eher implizit mitgeführt.   Der pragmatischen Konzentration entspricht, dass auch die sog. Einleitungsfragen (den Autor, die Entstehungszeit, den Anlass des Briefes betreffend) nur ganz kurz und ohne eigenen Forschungsanspruch abzuhandeln sind.

2.  Theologischer Prolog26 Der Zweck dieses Prologs ist es, vor der fortlaufenden Interpretation des Römerbriefes die Mitte der paulinischen Theologie zusammenzufassen. Dies soll die systematische Organisation der Interpretation erleichtern. Zugleich soll damit ein Schlüssel zum Verständnis der paulinischen Theologie angeboten werden, der geeignet ist, den Zusammenhang der sie tragenden Begriffe zu rekonstruieren und der dabei vorläufig auch die Begriffe bestimmt, die (wie z. B. der des Gesetzes Gottes) vermutlich nicht mehr zu den selbstverständlichen Begriffen des menschlichen Gottesverhältnisses gehören.

a)  Die Schlüsselfrage der paulinischen Theologie Die Schlüsselfrage der paulinischen Theologie ist die Frage, wie der Mensch als Subjekt des Lebens im Gottesverhältnis zu denken ist. Diese Frage erscheint in zwei Komplexen. Der eine Komplex bezieht sich auf den Menschen, der nicht an Christus glaubt – den Menschen unter der Macht (dem Gesetz) der Sünde. Er ist es, der von der Gesetzesforderung Gottes angesprochen wird. Wie ist der Täter der vom Gesetz geforderten Werke gedacht? Und was bedeutet es für das Selbstverhältnis des so Angesprochenen, wenn er durch die Gesetzesforderung seine Sünde erkennt (Röm. 3,20)? Der andere Komplex bezieht sich auf den Menschen, der im Glauben an Christus vom Gesetz der Sünde befreit ist. Was geschieht mit dem Menschen als Subjekt des Lebens (des Denkens und Handelns), wenn Gott ihn „gerecht macht aus Glauben an Jesus“ (Röm. 3,26)? Wie denkt Paulus den gerechtfertigten Sünder in der Gemeinschaft Christi? Wer ist es genau, der von der paulinischen Paränese angesprochen wird? Und wer ist es, der im Glauben und frei vom Gesetz doch das Gesetz erfüllt? Für alle Themen, die in diesen Fragen angeklungen sind, nämlich Gesetz, Sünde, Glaube, Rechtfertigung, Gerechtigkeit, Heiligung, ist die Frage nach dem Subjekt des Lebens, genauer: nach dem konstitutiven Selbstverhältnis die 26  Dieser Prolog wurde in etwas anderer Gestalt bereits vorab veröffentlicht: vgl. T. Kleffmann, Das Gesetz, das Leben, der Tod und die Frage nach dem wahren Selbstverhältnis. Eine systematische Paulusstudie, in: C. Landmesser/​E. E. Popkes (Hg.), Gerechtigkeit verstehen. Theologische, philosophische, hermeneutische Perspektiven, Leipzig 2016, S.41–55.

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2.  Theologischer Prolog

Schlüsselfrage.27 Sie lässt sich als die Schlüsselfrage für die paulinische Theologie bezeichnen. Der Grundgedanke, der dann in c) zu entfalten ist, ist folgender: Der Mensch, der für sich lebt (der für sich selbst Subjekt seines Lebens ist), steht faktisch unter dem Gesetz der Sünde. Sein Selbstverhältnis im Verhältnis zu den anderen Menschen und den Dingen beschreibt die Struktur der Fleischlichkeit – das herrschende Prinzip seines Lebens ist es, Dinge und Menschen für sich zu begehren und zu gebrauchen. Dieser Mensch wird vom Gesetz Gottes angesprochen. Die Gemeinschaft oder Gerechtigkeit, die das Gesetz fordert, widerspricht dem Prinzip seines Lebens. Das Urteil des Gesetzes Gottes besagt als Wahrheit seines Lebens den Tod. Realisiert wird die Wahrheit des Todes in der Selbsterkenntnis, die das Gesetz (sein Urteil) vermittelt. Doch geht aus diesem Tod des Menschen unter dem Gesetz der Sünde, den die Selbsterkenntnis realisiert, neues Leben hervor. Denn indem dieser Tod geglaubt wird als der, den Christus, indem er der Gottes Liebe verkörpernde Mensch ist, schon für mich gestorben ist, ist mir die Gemeinschaft geschenkt, die das Gesetz zur Rechtfertigung fordert. Indem ich meinen Tod als alter Mensch im Tod Christi erkenne, lebt der auferstandene Christus in mir und ich in ihm. Glauben heißt insofern, dass mein Selbstverhältnis, das alle Lebensverhältnisse (zu den anderen Menschen und zur Schöpfung überhaupt) durchzieht, nun das Verhältnis zu Christus ist – nämlich indem ich den Satz sagen kann: „Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20). Eben darin ist die Gemeinschaft geschenkt, die das Gesetz vergebens forderte. Das Tun der Gemeinschaft aber, die Liebe, die das Gesetz vom alten Menschen heteronom forderte  – unerfüllbar, da sie seinem herrschenden Selbstverhältnis widerspricht  – ist nun einfach die (autonome) Selbstentsprechung dessen, in dem Christus lebt. – Dieser Zusammenhang ist in der Tat die Mitte des Christentums, also die maßgebliche Weise, in der sich Menschen auf das Kreuz und die Auferstehung Christi beziehen können – alles Weitere ergibt sich daraus. Die genannte Schlüsselfrage blieb in der theologischen Paulusinterpretation der letzten Jahrzehnte nicht selten weitgehend unbeachtet. Die teils problematischen, teils jedenfalls differenzierungswürdigen Tendenzen der jüngeren Paulusforschung, die diesem Mangel entsprechen, sind im Folgenden kurz zu skizzieren, um anschließend besagten Grundgedanken in Gestalt einer kompakten Paulusinterpretation weiter auszuführen.

27  Natürlich kannte Paulus nicht den Begriff des Selbstverhältnisses. Aber die Einsicht, dass der Mensch keine einfache Identität im Verhältnis zu Gott und den anderen Menschen ist, sondern dass das Verhältnis zum Anderen immer auch ein Selbstverhältnis impliziert – diese Einsicht findet sich der Sache nach ganz präzise.



b)  Skizze problematischer Tendenzen in der jüngeren Paulusforschung 

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b)  Skizze problematischer Tendenzen in der jüngeren Paulusforschung Die Schlüsselfrage der paulinischen Theologie bleibt zum einen insbesondere dort unbeachtet, wo im Gegenzug gegen eine angeblich spezifisch reformatorische Paulusinterpretation, die einseitig an der Rechtfertigung des Sünders allein durch Glauben, nicht durch Gesetzes Werke orientiert sei, ein im Grunde doch affirmativ jüdisches Gesetzesverständnis des Paulus behauptet wird. Zum anderen ist eine mangelnde Beachtung dieser Schlüsselfrage nicht selten auch dafür verantwortlich, dass als Kerngedanke des Paulus statt der Rechtfertigung des Sünders die Partizipation oder Teilhabe an Christus hervorgehoben wird. Im Fokus ist die sog. ‚Neue Perspektive‘ auf Paulus, die in der angelsächsischen Theologie vor allem von Krister Stendahl, James Dunn, Ed Sanders entwickelt wurde und auch in Deutschland spätestens seit den 80er Jahren bekannt und teilweise einflussreich wurde. Manche Ansätze wurden allerdings schon 1904 von William Wrede und 1930 von Albert Schweitzer vorweggenommen.28 Der gemeinsame Grundzug – der sich freilich nur unter Vernachlässigung der Differenzen nachzeichnen lässt – stellt sich folgendermaßen dar: Schon überhaupt dass die Rechtfertigungslehre für die Theologie des Paulus zentral sei und das Wesen des Christentums bezeichne, wird für eine Fehlinterpretation in augustinischer und lutherischer Perspektive verstanden.29 Wenn Paulus die Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werke, allein im Glauben an Christus betone, gehe es nicht um eine im Verhältnis zum herkömmlich jüdischen Gesetzesverständnis grundsätzlich veränderte Stellung des Menschen vor Gott. Denn mit dem Gesetz sei hier nicht das Gesetz Gottes überhaupt gemeint etwa im Sinn der Tora30, sondern lediglich seine Funktion der Identitätstiftung bzw. Abgrenzung gegenüber den Völkern.31 Paulus käme es dann nur darauf an, dass das Gesetz in dieser Funktion insbesondere für die Heidenchristen keine Bedeutung mehr 28 Vgl. J. Schröter, Der Mensch zwischen Wollen und Tun. Erwägungen zu Römer 7 im Licht der „New Perspective on Paul“, in: P.‑G. Klumbies/​D. S. Du Toit (Hg.), Paulus  – Werk und Wirkung. Festschrift für Andreas Lindemann zum 70. Geburtstag, Tübingen 2013, S. 197; C. Landmesser, Umstrittener Paulus, ZThK 105, 2008, S. 393.400. Vgl. zum Folgenden auch J. Thiessen, Gottes Gerechtigkeit und Evangelium im Römerbrief. Die Rechtfertigungslehre des Paulus im Vergleich zu antiken jüdischen Auffassungen und zur Neuen Paulusperspektive, Frankfurt a. M. u. a. 2014. – Zu Albert Schweitzer vgl. T. Kleffmann, Nietzsches Begriff des Lebens und die evangelische Theologie. Eine Interpretation Nietzsches und Untersuchungen zu seiner Rezeption bei Schweitzer, Tillich und Barth, Tübingen 2003, S. 398 ff., besonders S. 404–409. 29 Ihr sei im 20. Jahrhundert dann insbesondere auch Bultmann verfallen. Belege bei C. Landmesser, a. a. O., S. 393.396; J. Schröter a. a. O., S. 195 f. 30  Zu den im Wesentlichen drei verschiedenen Bedeutungen von Gesetz bei Paulus vgl. H.‑J. Eckstein, Gesetz, Evangelium und Weisung nach Paulus, in: W. Haubeck / W. Heinrichs (Hg.), Gesetz und Evangelium. Witten 2009, S. 29–61, besonders S. 31–39. 31  Zu James Dunn vgl. C. Landmesser, Umstrittener Paulus, ZThK 105, 2008, S. 403.

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2.  Theologischer Prolog

habe. Durch Christus sei der Bund auf alle Menschen erweitert worden und so im Glauben an ihn das Tun des Gesetzes allen Menschen möglich – also lehnte Paulus lediglich einen mit dem Gesetz etwa verbundenen jüdischen Anspruch exklusiven Heils ab. Insbesondere Ed Sanders hat diese Argumentation durch die für sich genommen in der Tat weiterführende Feststellung gestützt, dass das Tun des Gesetzes im jüdischen Sinn nicht zum Erreichen des Heils, sondern zum Bleiben in der Gnade des Bundes dient (der sog. Bundesnomismus).32 Auch für Paulus ist der Ursprung jedenfalls des Abrahamsbundes die Gerechtigkeit aus Glauben. Außerdem gehört zu dieser Gnade des Bundes gegenüber der Sünde die Möglichkeit der Sühne durch das Mittel des stellvertretenden Opfers. Beides widerspricht der pauschalen Einordnung des Judentums als Religion der Werkgerechtigkeit. Der Kontext alttestamentlicher Opfertheologie ist in der Tat eine Möglichkeit, die paulinische Rechtfertigungslehre besser zu verstehen – freilich nicht um die paulinische Rede vom Tod des Menschen unter dem Gesetz und vom neuen Leben im Glauben an Christus zu relativieren, sondern um ihren eschatologischen Überbietungsanspruch klar wahrzunehmen. Der Hintergrund der Sühnetheologie etwa von Röm. 3,21 ff. ist an dieser Stelle nicht zu diskutieren. Es reicht aus, den Grundzusammenhang ins Auge zu fassen. Dessen systematische Relevanz wird m. E. insbesondere in der Interpretation von Hartmut Gese und Bernd Janowski deutlich33, auch wenn diese im Einzelnen in der alttestamentlichen Exegese umstritten ist.

Schon in der priesterschriftlichen Sühnetheologie ist es der Tod als Wahrheit des Sünders, den das Opfer stellvertretend erleidet. Um Sühne, d. h. Rechtfertigung zu erlangen, ist es dabei wesentlich, dass sich der Sünder mit dem Opfer identifiziert, d. h. den Tod des stellvertretenden Opfers als seine eigene Wahrheit versteht. Eben diese Bedeutung hat bei Paulus der rechtfertigende Glaube an die Hingabe des Sohnes Gottes. Denn indem der Sünder glaubt, dass Christus für den Sünder gestorben ist, versteht er sich auch darin, mit Christus gestorben zu sein. Der entscheidende Unterschied zu jeder alttestamentlichen Sühnetheologie aber liegt darin, dass für Paulus die Todesverfallenheit der Sünde nicht nur eine kontingente Krise des Bundes, sondern allgemein und total ist. Damit ist auch der Unterschied zu jeder Theologie bezeichnet, die den Bund als Möglichkeit versteht, das Gesetz zu tun – und Sünde also nur als kontingente 32 Vgl. E. P. Sanders, Paulus und das palästinische Judentum. Ein Vergleich zweier Religionsstrukturen [im englischen Original 1977], Göttingen 1985 (STUNT 17); dazu C. Landmesser a. a. O., S. 397–400. 33 Vgl. nur H. Gese, Die Sühne, in: Zur biblischen Theologie. München 1977, 31989, S. 85–106, besonders 104–106. Dazu P. Stuhlmacher, Zum Thema Rechtfertigung, in: Biblische Theologie und Evangelium. Gesammelte Aufsätze, Tübingen 2002, S.54 f.; H. Merklein, Paulus und die Sünde, in M. Merklein (Hg.), Studien zu Jesus und Paulus II, Tübingen 1998, S. 353, sowie „Nicht aus Werken des Gesetzes“, ebd., S. 310 ff.

b)  Skizze problematischer Tendenzen in der jüngeren Paulusforschung 



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Übertretung versteht. Die Frage ist, wie Paulus die Allgemeinheit seiner Behauptung begründet, auch die Juden täten das Gesetz nicht, sondern seien „unter der Sünde“.34 Zwar zeichnet es sie vor den Heiden aus, dass sie im Sinne des Bundes nach der Gerechtigkeit Gottes trachten – doch „zu streben, die eigene Gerechtigkeit aufzurichten“, also überhaupt Gerechtigkeit im eigenen Sein und Tun zu beanspruchen, verkennt die „Gerechtigkeit Gottes“ (Röm. 9,31; 10,2–4) und erweist sich, nur spezifische Gestalt des Unter-der-Sünde-Seins zu sein. Auch im Blick auf die Juden gilt also: Solange sich der Mensch selbst als Subjekt seines Lebens und Tuns behauptet (sei es vor Gott, im Bund, oder nicht), ist er unter der Sünde  – solange bis er den Tod als seine Wahrheit realisiert. Wenn aber die Todeswahrheit in diesem Sinne allgemein und total ist, dann bedeutet das weiter, dass das Heil der Rechtfertigung oder Sühne allein in der eschatologischen Überbietung der priesterlichen Sühnegnade liegt, welche eine kontingente Krise des Bundes überwindet. Diese eschatologische Überbietung ist die, in der der Sohn Gottes selber sich als Sühnemittel für alle gibt – indem er sich der Todeswahrheit des Sünders aussetzt. Die Rechtfertigung als Leben aus dem Tod kann also nur die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen sein. Dieser Hintergrund wird jedoch dann nicht verstanden, wenn gesagt wird, dass für Paulus durch Christus im wesentlichen der Bund auf alle Menschen erweitert worden sei, so dass im Glauben an ihn das Tun des Gesetzes Gottes (oder: der Weisung Gottes) allen Menschen möglich ist  – dies zeige die paulinische Paränese oder seine Rede vom Gesetz Christi.35 Die entscheidende Frage nach dem Subjekt des Tuns des Gesetzes ist hier offensichtlich nicht im Blick, genauer: der notwendige Tod des Sünders, die Negation des Menschen für sich als Subjekt seines Lebens und Tuns überhaupt. Selbst wenn wie in Röm. 7 von der völligen Paralyse des Menschen die Rede ist, der durch den Widerspruch des Gesetzes Gottes das „Gesetz in den Gliedern“ (Röm. 7,23) erkennt, wird dies etwa von Krister Stendahl lediglich als Äußerung zur Ethik verstanden – als Reflexion des Widerspruchs zwischen gewusstem Sollen und Tun36, sozusagen als hysterischer Ausdruck dessen, dass auch Christen das Gesetz nicht ganz erfüllen können. Es geht hier aber garnicht um Ethik, d. h. das Tun als solches, sondern um das Subjekt alles Tuns, welches durch das Gesetz Gottes seine Konstitution, das Gesetz seiner Identität erkennen muss – und damit seine völlige Unfähigkeit zum Guten.37 Durch den Widerspruch des Gesetzes Gottes wird das Fleischlichsein (7,14), das im Verhältnis zum 34 

Insofern haben sie „keinen Vorzug“ – „es gibt keinen Gerechten“ (Röm. 2,13.17 ff.; 3,9 f.). J. D. G. Dunn, The Theology of Paul the Apostle, Grand Rapids (Mi.)/Cambridge 1998, S. 631–658. 36 Vgl. K. Stendahl, Paul and the Introspective Conscience of the West [1963], in: Ders. (Hg.), Paul among Jews and Gentiles and other Essays, Philadelphia 1987, S. 78–96, S.93; dazu J. Schröter a. a. O., S. 202 f. 37  Darauf weist z. B. hin H. Lichtenberger, Das Ich Adams und das Ich der Menschheit. Studien zum Menschenbild in Römer 7. Tübingen 2004 (WUNT I/164), S.165 f. 35 Vgl.

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Anderen herrschende Selbstverhältnis des Für-sich-Begehrens erkannt: ἐγὼ δὲ σάρκινός. Auch wenn dies nicht erkannt ist, ist es faktisch das Selbstverhältnis des Menschen, der für sich Subjekt seiner Werke ist. So kann das Gesetz Gottes nur den Tod als Wahrheit des Menschen aussprechen, der für sich selbst Subjekt seines Lebens, seiner Werke ist (vgl. Röm. 7,11: die Sünde tötete mich durch das Gebot). Konkret besteht dieses Getötetwerden eben in der paralysierenden Entzweiung, in der ich mein eigenes herrschendes Selbstverhältnis als nichtig, dem Gesetz (oder der Gerechtigkeit) Gottes widersprechend erkenne. Allein im Glauben, indem in ihm dieser Tod zum „Getötetwerden durch den Leib Christi“ bestimmt ist, ist er besiegt – also durch die Zugehörigkeit zum auferstandenen Christus als neues Selbstverhältnis (7,4: ὑμεῖς ἐθανατώθητε τῷ νόμῳ διὰ τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ, εἰς τὸ γενέσθαι ὑμᾶς ἑτέρῳ, τῷ ἐκ νεκρῶν ἐγερθέντι). Wenn dies nicht klar gefasst wird, wird auch der Zusammenhang von Rechtfertigung und Leben (bzw. Heiligung) missverstanden  – und damit die Bedeutung der Rechtfertigung überhaupt.38 Wird nicht bedacht, dass die Rechtfertigung des Sünders seinen Tod bedingt und seine Identität ganz neu, d. h. als Leben aus dem Tod, im Christusverhältnis begründet, dann können Rechtfertigung und Heiligung nicht klar unterschieden werden. Denn der Sünder unter dem Gesetz und das Subjekt der Heiligung im Tun der Werke wird als kontinuierlich dasselbe Subjekt vorausgesetzt. Die Rechtfertigung erscheint dann (so etwa bei James Dunn) als Beginn des Erlösungsprozesses, der sich im Tun des Gesetzes vollendet. Dass kommt der pelagianischen Uminterpretation des Paulus recht nahe.39 Der mangelhaften Wahrnehmung des Zusammenhangs von totaler Sünde, Tod (also der Verneinung des Subjekts, das der Mensch für sich und damit faktisch unter Sünde ist) und Rechtfertigung als Mitsterben entspricht nun auf der anderen Seite  – auch wenn kein affirmatives Gesetzesverständnis des Paulus behauptet wird  – eine starke Konjunktur der Auffassung, als Kerngedanken des Paulus nicht mehr die Rechtfertigungslehre, sondern die Partizipation an Christus herauszustellen.40 Wenn aber die Christusgemeinschaft nicht gleichursprünglich mit der Rechtfertigung des Gottlosen durch den Glauben an 38 

Vgl. auch J. Schröter a. a. O., S. 205 f. mit Belegen zu J. Dunn. C. Landmesser (a. a. O., S. 406 f., in Anm. 88 mit Literatur zum pelagianischen Streit) deutet den pelagianischen Bezug an. Zu Pelagius vgl. Ders., Expositions of thirteen Epist­ les of St. Paul, hg. von A. Souter, Tst IX 1–3, Cambridge 1922–1931 (zum Römerbrief vgl. Bd. 2, 1926, S. 6–126). 40  So etwa E. Sanders im Anschluss an Wrede und Schweitzer (der Frage, wie dabei etwa Sanders Christus versteht, ist hier nicht nachzugehen). Aber z. B. auch U. Schnelle stellt den Gedanken der Partizipation oder des In-Christus-Seins in den Mittelpunkt; zu einer begrifflichen Bearbeitung der Frage, wie die Christus-Beziehung als In-Christus-Sein zu denken ist (vgl. Paulus, Leben und Denken, 2. Aufl. Berlin/​Boston 2014, S. 519: der Mensch „findet sein Selbst in der Christus-Beziehung“), kommt es nicht. Vgl. insgesamt ebd. S. 516–520, sowie Theologie des Neuen Testaments, Göttingen 2007, S. 200–203. 39 Schon



c)  Rechtfertigung und Christusgemeinschaft, Tod und Leben

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Christus verstanden wird41, dann ist auch nicht klar, wie das Ich in der Christusgemeinschaft oder auch in der Gemeinschaft des Geistes bestimmt ist. Dieser Mangel beginnt schon im Ausdruck der Partizipation oder Teilhabe selbst, sofern er die Frage nach dem Subjekt ausklammert und eine Art substantieller Teilidentität unterstellt. Für Paulus dagegen impliziert die Christusgemeinschaft eben den Tod des Menschen unter dem Gesetz der Sünde  – das im Glauben geschehende Mitsterben mit Christus, aus dem ein neues Selbstverhältnis im Verhältnis zum auferstandenen Christus hervorgeht. Eben das bringt die Rechtfertigungslehre präzise zum Ausdruck, indem sie den Menschen unter dem Gesetz der Sünde als den vom Gesetz Gottes angesprochenen Menschen identifiziert und sein Mitsterben im Glauben als seine Rechtfertigung – abgesehen von der historischen Frage, in welchem Kontext sie Paulus erstmals expliziert.42 Bei der folgenden knappen Darstellung dieses Zusammenhangs versuche ich die Waage zu halten zwischen der Berücksichtigung des zeitlichen Kontextes, in dem etwa die Begriffe Gesetz und Tod zu verstehen sind, und dem Ziel, ihn gegenwärtig systematisch zu rekonstruieren. Die Textgrundlage bilden hauptsächlich der Galater- und der Römerbrief.

c)  Rechtfertigung und Christusgemeinschaft, Tod und Leben. Die Frage nach dem Subjekt bei Paulus aa)  Mitsterben mit Christus Glaube ist für Paulus das Übergehen oder Übergegangensein in ein Leben, in dem der Mensch sich in Christus und Christus in sich findet, von dem also zu sagen ist: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20). Indem Christus – vorläufig gesagt: Gott in seiner Gemeinschaft mit dem Menschen  – Gegenstand meines Glaubens ist, wird diese Gemeinschaft zum bestimmenden Grund meines Lebens. Genauer: im Verhältnis zu Christus habe ich nun mein durchgängiges Selbstverhältnis. Meine Identität im Verhältnis zur Welt, zu den Menschen habe ich nicht durch mich, sondern durch Christus; ich habe sie nicht in mir, sondern in Christus. Indem er bestimmender Grund meiner Identität ist (Christus lebt in mir), finde ich sie (durch Glaube und Liebe) zugleich außer mir in ihm – denn Christus ist Gott selbst in seiner eschatologischen Gemeinschaft mit mir und allen Menschen.43 41  C. Landmesser kritisiert zu Recht, dass oft der „Zusammenhang zwischen Rechtfertigung und Partizipation nicht angemessen bestimmt“ sei (a. a. O., S. 404). 42  Vgl. unten S. 26 zum Verhältnis zwischen den paulinischen Berichten seiner Bekehrung und der Rechtfertigungslehre. 43 Der paulinische Gedanke des Seins in Christus wird auch unten S. 19 f. weiter ausgeführt.

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Doch dass Christus bestimmender Grund meiner Identität ist, die ich in ihm finde, setzt den Tod des Menschen voraus, der unter dem Gesetz ist (Röm. 6,14 im Kontext von 6,2 ff.; 7,1 ff.), also den Tod des Menschen, der für sich selbst Subjekt seines Lebens, Grund seiner Identität ist. Auch der alte Mensch unterliegt einem Prinzip seiner Identität – der Macht, dem Gesetz der Sünde (7,23). Indem ihm das Gesetz Gottes widerspricht und er sich im Urteil des Todes erkennen muss, ist er als identisches Subjekt des Lebens verneint: „nicht ich lebe“. „ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben. […] Ich lebe, doch nun nicht ich“ (Gal. 2,19 f.). Das Gesetz Gottes, sofern es letztlich durch Liebe erfüllt wird (Röm. 13,8–10; Gal. 5,14), ist εἰς ζωήν (Röm. 7,10). Doch spricht es als Gesetz den Menschen für sich an, der als solcher vom Gesetz der Sünde, von der Notwendigkeit des „nach dem Fleisch“ (κατὰ σάρκα) Lebens (vgl. Röm. 8,5) bestimmt wird.44 Deswegen kann das Gesetz auch nicht lebendig machen (vgl. Gal. 3,21). Das Beherrschtwerden von der Sünde und damit das „nach dem Fleisch“ Leben ist als ein Prinzip zu verstehen, mit dem sich die Identität des Menschen vermittelt – für diese Identität steht das verneinte Ich: „nicht ich lebe“. Das verneinte Ich (bzw. sein Leben) steht unter dem Gesetz, in allen Verhältnissen für sich zu begehren. Das bleibt auch so, wenn es dies durch den Widerspruch des Gesetzes Gottes erkennt und insofern davon entzweit ist.45 So kann das Urteil des Gesetzes Gottes, welches als Wahrheit (als Grund und Ziel) des Lebens die Gemeinschaft fordert, als seine wirkliche Wahrheit nur den Tod aussprechen – die Nichtigkeit seiner Identität vor Gott (die Nichtigkeit, die die Wahrheit des Lebens ist, dessen Subjekt er für sich ist). Eben diese Wahrheit des Todes vollzieht das Gesetz im Prozess der Rechtfertigung allein durch Glauben, d. h. in der Selbsterkenntnis, die der Glauben impliziert. „Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe“ – denn der Glaube an Christus bedeutet, dass eben diesen Tod des Sünders, diese Nichtigkeit der Identität, die ich für mich und durch mich habe, Christus am Kreuz für mich erlitten hat. Indem er sie für mich erlitten hat, hat er sie als meine Getrenntheit aufgehoben – genau dies realisiert der Glaube. Rechtfertigung des Sünders ist dies, weil das Todesurteil des Gesetzes vollzogen wird, aber als Mit-Christus-Gestorbensein, so dass dessen Selbsthingabe (Opfer) aus Liebe zu mir (Gal. 2,20) den Tod als Getrenntheit überwindet (Versöhnung schafft) und ein neues, vom Leben des Auferstandenen bestimmtes Selbstverhältnis ermöglicht. So wird im Glauben die in Gemeinschaft bestehende Gerechtigkeit wiederhergestellt. Statt für mich (und d. h. faktisch: unter der Sünde) zu leben, lebe ich Gott – denn „Christus lebt in mir“.

44  45 

Vgl. auch Gal. 3,19: das Gesetz ist wegen der Übertretungen dazugekommen. Vgl. oben S. 15 f. zu Röm. 7,7–25.



c)  Rechtfertigung und Christusgemeinschaft, Tod und Leben

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Überall, wo von der Bedeutung Christi für mich die Rede ist  – auch dort, wo vom „Sein in Christus“ die Rede ist46, ist von Vollzug und Überwindung des Todes des Sünders die Rede; also mindestens implizit von der Rechtfertigung durch den stellvertretenden Tod.47 Wenn also mit Paulus gesagt werden soll, dass ich im Glauben an Christus teilgewinne an dessen Auferstehungsleben, am ewigen Leben in der Gemeinschaft Gottes, so ist dies entscheidend zu präzisieren: Als Subjekt, das für sich lebt, habe ich nicht teil an Christus, sondern indem ich als das vermeintlich einfach identische Subjekt gerade negiert bin und mich als neue Kreatur in Christus (vgl. 2. Kor. 5,17)48 finde.49 Neue Kreatur heißt, dass ich unter der Bedingung jener Negation Kreatur der Liebe Christi bin, der sich für mich gegeben hat. Indem ich ihr glaube, vermittelt sie die Identität eines neuen Lebens. Dass ich in Christus bin, dass ich Gott in Christus lebe (Röm. 6,11), dass „einst in Christus alle lebendig gemacht werden“ (1. Kor. 15,22), heißt dass ich meine Identität nicht selbst vollziehe und in mir selbst (in meinem leiblichen Bestand, im Bestand meiner Taten) habe, sondern in ihm meinen Grund und mein Ziel, meine Identität finde  – in der schöpferischen und eschatologischen Gemeinschaft Gottes mit allen Menschen, die Gott (als 46 Vgl. E. L. Rehfeld, Relationale Ontologie bei Paulus. Tübingen 2012, S. 44 ff., besonders aber 281 ff. 47 Luther hat diesen unlösbaren Zusammenhang bei Paulus nie außer Acht gelassen, sondern vielmehr neu zur Geltung gebracht – also den Zusammenhang zwischen der Rechtfertigung durch den stellvertretenden Tod Christi, den ich im Glauben als meinen Tod realisiere, und der Christusgemeinschaft. Gerade im Anschluss an Gal. 2,19 f. betont Luther wiederholt, dass die Christusgemeinschaft, die ich im Glauben realisiere, den Tod des Menschen impliziert, der für sich lebt – sie impliziert also eben das, was sonst die Rechtfertigung im Glauben an den stellvertretenden Tod Christi heißt. Und umgekehrt bedeutet Rechtfertigung Christusgemeinschaft. Zu WA 40/I, S. S. 282,15–283,32; 279,34; 280,11 f.; 433,17 ff.; 437,25 ff.; 443,23 ff. (Große Galaterbriefvorlesung) vgl. T. Kleffmann, Grundriß der systematischen Theologie S. 198 f., sowie Die Erbsündenlehre in sprachtheologischem Horizont, Tübingen 1994, S. 219 f. – Denselben Zusammenhang zeigt z. B. auch schon der Hauptgedanke aus der Freiheitsschrift: Wenn die Selbsterkenntnis durch das Gesetz realisiert, „Wie alle deyn leben und werck nichts seyn fur gott“, dann besteht die Freiheit der Rechtfertigung aus Gnade darin, dass „du“ im Vertrauen auf Christus „auß dir und von dir“ loskommst (These 6, vgl. 8 – WA 7, S. 22,26–32; dazu Grundriß der systematischen Theologie S. 195). Das geschieht, indem die Seele im Glauben mit dem Wort vereinigt wird (These 10: WA 7, S. 24,22 ff.). Luther meint also keine substantielle oder personale Einheit, sondern eine Einheit in der Kommunikation, in der ich mich auf das Wort Gottes verlasse, also die Nichtigkeit des Fürsichseins realisiere und zugleich die Liebe Christi, der diese Nichtigkeit für mich auf sich genommen hat. Dasselbe sagt die berühmte These 12 und ihr Bild vom „fröhlich wechßel“ (ebd. S. 25,34) oder der fröhlichen Hochzeit: Der Glaube vereinigt die Seele mit Christus wie in der Gemeinschaft der Ehe, in der zwei ein Leib sind und alles Eigene teilen – indem also die Seele ihre Sünde und Nichtigkeit bei Christus aufgehoben weiß und umgekehrt „begabt“ wird „mit der ewigen gerechtickeit yhrs breudgamß Christi“ (ebd. S. 26,1–4). 48  Vgl. auch Röm. 8,1 f. im Verhältnis zu 8,10; Gal. 5,6; ferner (im Blick auf das Damaskuserlebnis) 2. Kor. 12,2. 49  In dieser Nichtidentität liegt freilich auch ein Moment der Identität. Dazu gleich bb).

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Sohn) ewig ist. Die Auferstehung des für uns Gekreuzigten antizipierte diese Gemeinschaft in der Zeit, damit sie sich verwirklicht, indem sie geglaubt wird. Dass ich in ihm meine Identität finde, bedeutet aber für mein gegenwärtiges Leben im Fleisch: er lebt in mir (vgl. außer Gal. 2,20 etwa noch Röm. 8,10; 2. Kor.13,5)  – ich habe mein durchgängiges Selbstverhältnis im Verhältnis zu Christus, der mich liebt und auf den ich vertraue. Ich bin oder werde mit mir identisch, indem ich mich auf ihn verlasse.50 bb)  Das Subjekt des Im-Fleisch-Lebens – und die Frage seiner Kontinuität im Glauben „Das wissen wir, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt wurde, damit der Leib der Sünde vernichtet werde und wir nicht mehr der Sünde dienen. Denn der Gestorbene ist von der Sünde freigesprochen.“ (Röm. 6,6 f.)

An wen richtet sich die Mahnung, die Sünde im sterblichen Leib nicht herrschen zu lassen (6,12)? Sie richtet sich ja weder an den alten Menschen – er ist mitgekreuzigt – noch an den in mir lebenden Christus, noch an den Menschen im Moment der gewissen Bestimmtheit durch Christus oder durch den Geist seiner Gemeinschaft. Diese Frage zu untersuchen, wird auch den paulinischen Gedanken der im Glauben gegebenen Christusgemeinschaft weiter aufhellen. Zuvor ist aber noch eine andere Frage im Hinblick auf das menschliche Subjekt des Lebens zu beantworten – nämlich die Frage, inwiefern das Leben als lebendiger Leib sowohl dem Leben als alter Mensch als auch dem Leben in der Christusgemeinschaft zu Grunde liegt. Dafür ist es geraten, sich Gal. 2,19 f. noch genauer anzuschauen. „Ich bin mit Christus gekreuzigt. Ich lebe, doch nun nicht Ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben“.

Sowohl das Leben unter der Herrschaft der Sünde als auch der Glaube, in dem sich der Mensch „mit Christus gekreuzigt“ weiß (nicht ich lebe, Christus lebt in mir), setzt voraus, dass ich überhaupt im Fleisch lebe. Dass ich im Fleisch lebe, dass ich überhaupt eine endliche Spanne lang lebe, ist die kontinuierliche Möglichkeit dessen, dass ich entweder vor Gott sagen muss, „das Gesetz der 50  Eine systematische Ausführung dieses Zusammenhangs müsste auch den Begriff des Geistes einbeziehen, der das Sichvollziehen der Gemeinschaft bezeichnet, die Christus antizipatorisch und eschatologisch ist. Dass sie in mir lebt oder sich in mir (in meinem Kommunizieren) vollzieht, lässt sich vorläufig durch eine Analogie zur menschlichen Liebe veranschaulichen (vgl. auch T. Kleffmann, Grundriß der systematischen Theologie, S. 53–56.184 f.). Ich habe mein Selbstverhältnis im Verhältnis zur geliebten anderen Person, indem ich an die Gemeinschaft der Liebe, die zugesagt (offenbart) ist, glaube. Gegenstand des Glaubens ist die zugesagte, antizipierte Gemeinschaft, die sich dadurch im Leben (Kommunizieren) verwirklicht.

c)  Rechtfertigung und Christusgemeinschaft, Tod und Leben



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Sünde ist in meinen Gliedern“ (vgl. Röm. 7,23), oder sagen kann, „ich lebe, aber nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“. Dieses Im-Fleisch-Leben ist freilich nicht etwa als dritter Modus des menschlichen Subjektseins zu verstehen  – neben dem alten Menschen, der sich ganz unter der Macht der Sünde erkennen muss, und der Neuheit des Lebens, wenn Christus in mir lebt. Es ist insbesondere nicht ein zeitlich vorauslaufender Ursprungsmodus des Subjektseins. Vielmehr ist das Im-Fleisch-Leben, welches das Ich des „ich lebe“ bezeichnet, entweder durch das Gesetz der Sünde bestimmt oder durch Christus im Glauben, was den Tod jenes Ich unter dem Gesetz der Sünde impliziert. Gleichwohl enthält das „ich lebe“ oder das Im-Fleisch-Leben auch ein Moment der Identität zwischen dem toten alten Menschen und dem neuen Leben in der Christusgemeinschaft – der Gegensatz setzt dieses Moment der Identität sogar voraus. Dass ich überhaupt lebe, bezeichnet die Möglichkeit dessen, dass ich sagen kann: „nicht ich lebe“. Nicht das Im-Fleisch-Leben ist zu Ende, sondern der Mensch für sich, der unter dem Gesetz steht – den das Gesetz als solchen anspricht und zur Selbsterkenntnis als unter der Macht der Sünde bringt: Der ist mit Christus gestorben, indem er sich auf ihn verlässt. Es ist derselbe überhaupt – im Fleisch – lebende Mensch, der sagt: „ich bin mit Christus gekreuzigt […] Christus lebt in mir“. Aber was heißt das, dass es derselbe ist – wenn doch entscheidend ist: „nicht ich [lebe], sondern Christus lebt in mir“? Es bedeutet nicht eine Kontinuität oder Identität zwischen altem Menschen und neuem Leben, die der Mensch durch sich selber hat. Hätte er sie durch sich selber, wäre sie eine Kontinuität des alten Menschen. Diese Auffassung würde sowohl das „nicht ich lebe“, den Tod mit Christus, als auch das im Glauben gewisse „Christus lebt in mir“ konterkarieren. Vielmehr besteht das Moment der Identität zwischen dem negierten Für-sich-selbst-Leben und dem neuen Leben in Christus der Möglichkeit nach in dem Leib, in dem sich das Geschöpf vom Schöpfer vorgegeben ist.51 Seine Wirklichkeit aber besteht in der Liebe Christi zu mir schon als dem Sünder. Ich glaube „an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben“. Diese Liebe zu mir, als ich Sünder unter dem Gesetz war bzw. als ich noch für mich selbst lebte, lässt aus dem Tod des Für-sich-selbst-Lebens das neue Leben in der Gemeinschaft des Auferstandenen hervorgehen. Dass ich mich auf seine Liebe verlasse, bedeutet: „Christus lebt in mir“. In mir – d. h.: seine Liebe, die den Tod des Fürsichlebens überwindet, indem ich mich auf sie verlasse, bestimmt das Im-Fleisch-Leben zum Leben der Gemeinschaft Christi. Das ist freilich nicht unproblematisch, wie gleich zu zeigen ist. Eine entsprechende Frage nach der personalen Kontinuität stellt sich übrigens im Verhältnis zwischen dem toten Jesus am Kreuz und dem Auferstandenen oder im Verhältnis 51 

Zum Leib als Gabe vgl. etwa 1. Kor.15,38.

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zwischen unserem vom Tod beendeten Leben und unserem Auferstehungsleben. Beidemale ist es gerade nicht der Mensch für sich selbst, der Kontinuität bewahrt, sondern ist es die Liebe Gottes, die Leben aus dem Tod schafft, indem sie den gestorbenen Menschen in seine ewige Gemeinschaft integriert.   Der Unterschied liegt darin, dass im Fall des Glaubens, der den Tod des alten Menschen bedeutet, zugleich noch die Kontinuität des Lebens im Fleisch besteht – als Möglichkeit den Satz zu sprechen: „ich lebe, aber nun nicht ich, Christus lebt in mir“. Die Neuschöpfung bezieht sich noch nicht auf das geschöpflich-leiblich-zeitliche Leben als Ganzes, sondern erst nur auf das herrschende Selbstverhältnis.   Freilich besteht hier auch ein Zusammenhang – der Glaube ist Hoffnung: „Wenn der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er […] auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt“ (Röm. 8,11).

cc)  Die Bedeutung der Paränese – die Ambivalenz des Im-Fleisch-Lebens Nun ist auf dieser Grundlage die Frage zu beantworten, an wen sich die Mahnung richtet, der Sünde nicht zu dienen. Der Mensch, der unter dem Gesetz der Sünde lebte, ist tot: Die Selbsterkenntnis im Glauben realisiert das Urteil des Gesetzes, nämlich den Tod als die Wahrheit dieses Lebens – aber als einen Tod, den Christus für ihn gestorben ist. Doch auch wenn im Glauben der Mensch Gott lebt (Röm. 6,3 ff., hier: V.10 f.), ergibt sich aus dem Leben im Fleisch erneut die Möglichkeit der Sünde. Das heißt nun zwar nicht sogleich, dass die Sünde über das Ich des „ich lebe“ herrscht, dass sie das Prinzip seiner Identität ist. Das Subjekt unter dem Gesetz oder der Macht der Sünde ist mit Christus gestorben – insofern „wird die Sünde nicht herrschen können über euch, weil ihr ja nicht unter dem Gesetz seid, sondern unter der Gnade“ (Röm. 6,14). Doch der sterbliche Leib bleibt als solcher der Bestimmung zur Sünde gegenüber offen, seine Begierden fordern Gehorsam (vgl. 6,12). Insofern bedeutet der Glauben die Aufgabe, den Leib der Sünde zu vernichten (6,6: ἵνα καταργηθῇ τὸ σῶμα τῆς ἁμαρτίας), und zwar durch Hingabe: „gebt euch selbst Gott hin wie Lebende aus dem Totsein (ἐκ νεκρῶν ζῶντας), und eure Glieder Gott als Waffen der Gerechtigkeit“ (6,13b). Gerechtigkeit heißt also hier, das leibliche Leben, statt seinen Begierden zu folgen, zum Mittel der Gemeinschaft zu machen – eben das bedeutet, aus der geschenkten Gemeinschaft Christi zu leben, als „Lebende aus dem Totsein“, und Gott zu leben. Die Begierden des Leibes, sofern sie mit dem „Leben im Fleisch“ überhaupt (auch unter der Bedingung des Glaubens) gegeben sind, lassen sich nüchtern als die Struktur der leiblichen Selbstbezogenheit im Verhältnis zu den Dingen und in gewisser Weise auch Menschen verstehen (wie z. B. Hunger oder sexuelles Begehren oder vielleicht auch das Begehren von leiblichem Schutz). Es ist also insofern nicht von einem Begehren die Rede, das wie z. B. die Habgier



c)  Rechtfertigung und Christusgemeinschaft, Tod und Leben

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selber schon verkehrt ist und als dessen Inbegriff bei Paulus nicht selten (z. B. in Gal. 5,16 f.) das Fleisch (σάρξ) erscheint.52 Bloß als Struktur des leiblichen Lebens ist das etwas für sich Begehren weder gut noch böse, sondern zum geschöpflichen Selbsterhalt notwendig. Sünde wäre das ihm Nachgeben oder Gehorchen (vgl. 6,12) in dem Moment des Fürsichselbstseins, in dem der Mensch vor Gott zur Liebe bestimmt ist und dies dem für sich Begehren widerspricht.53 Wenn dann das Ich des „ich lebe“ den Begierden gehorchte, wäre insofern (so die systematische Interpretation) die leibliche Selbstbezogenheit im Verhältnis zu Dingen und Menschen eben nicht mehr nur leibliche Selbstbezogenheit, sondern sie wäre zum Prinzip des Fürsichselbstlebens überhaupt geworden. Oder konkret auf das Leben des getauften Christen bezogen: Das entsprechende Fürsichselbstleben (Fleischlichsein im Sprachgebrauch des Paulus) würde dessen eigener Wahrheit widersprechen, nämlich dem Totsein (Mitgekreuzigtsein) als Fürsichselbstlebender (als Mensch unter Sünde und Gesetz) sowie dem neuen Selbstverhältnis als Verhältnis zu Christus. Das Ergebnis wäre also wenn nicht ein sozusagen erneuter Sündenfall so doch ein Selbstwiderspruch des Lebens, ein Nebeneinander zweier entgegengesetzter Selbstverhältnisse. Das Mitgekreuzigtsein mit Christus, das Selbstverhältnis im Verhältnis zu Christus wäre zwar dem aktuellen Fürsichselbstleben übergeordnet, im Moment des Fürsichselbstlebens jedoch stillgestellt und erneut zu aktualisieren.54

Die Frage, ob die paulinische Paränese vor dem Selbstwiderspruch des Christen nur warnt oder ob sie denselben auch voraussetzt und heilen will, mag zunächst offen bleiben. Denn in jedem Fall entgegnet sie seiner Entstehung: Die allgemeine Notwendigkeit der Paränese besteht darin, dass die Impulse der leiblichen Selbstbezogenheit auftreten, solange der Mensch zeitlich lebt. Von der paulinischen Paränese angesprochen wird weder der alte Mensch unter dem Gesetz der Sünde  – ihm spiegelt das Gesetz Gottes im wahrsten Sinne heteronom seine Wahrheit – noch Christus in mir, wohl aber der im Glauben zur Christusgemeinschaft befreite Mensch als der, der auch noch im Fleisch lebt. Offenbar geht Paulus davon aus, dass sich die mit der Christusgemeinschaft gegebene neue 52  Vgl. einführend U. Schnelle, Paulus. Leben und Denken, Berlin u. a. 2014, S. 536– 542. – In Röm. 1,24 ff. scheint Paulus davon auszugehen, dass durch die schuldhafte Gottesferne bzw. Götzendienst auch die Begierden pervertieren. 53  Dass und inwieweit das Besorgen des geschöpflichen Lebens einschließlich des „Gebrauchens des Kosmos“ mit der Neuheit des Lebens im Glauben vereinbar ist, reflektiert Paulus z. B. in 1. Kor. 7,25–38 (insbesondere im ὡς μὴ von 7,29–31). Konkret versteht er das leibliche Leben aber wohl nur als negative Voraussetzung für das Leben in Christus bzw. das Leben Christi in mir – d. h. es ist insofern vorausgesetzt, als in seinem Abbau durch Hingabe das ewige Gemeinschaftsleben „im Himmel“ aufgebaut wird: vgl. 2. Kor. 4,16 ff., besonders 5,1. 54  Für Luther geschieht dies durch die Predigt des Gesetzes, die zur erneuten Selbsterkenntnis in der Sünde führt und so die Aktualisierung des Glaubens an das Evangelium ermöglicht. – Die Grundfrage im Blick auf Paulus ist, was das erneute Sündigen für den Glauben im Sinne von Gal. 2,19 f. bedeutet. Hieran knüpft sich auch die Frage, wie Röm. 7 zu interpretieren ist: als Rückblick auf das vorchristliche Leben oder als Selbstentzweiung des Christen.

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2.  Theologischer Prolog

Bestimmung des Lebens zur Liebe gegen die beständigen Impulse der Leiblichkeit durchsetzen muss, die als Für-sich-Begehren sonst auf das Selbstverhältnis (die incurvatio) des alten Menschen überhaupt zielen. Das lässt sich so verstehen: Von der Paränese angesprochen wird der Mensch im Moment des sich aus dem Impuls der Leiblichkeit immer wieder herstellenden Fürsichseins (als der, der sagt: „ich lebe im Fleisch“). Dieses Moment des Fürsichseins ist zwar schöpfungsgemäß und insofern supralapsarisch notwendig – aber dass es seine Bestimmung im Sichverlassen (Glauben) und in der Hingabe erfüllt, statt sich festzuhalten, ist auch in der christlichen Existenz nicht selbstverständlich. Im unausweichlich wiederkehrenden Moment des Fürsichseins wird der Christenmensch vom Apostel auf die Wahrheit seines Glaubens und Lebens angesprochen. Paulus spricht ihn an auf die Wahrheit des Lebens, die durch die Taufe schon seine eigene Wahrheit ist, die aber gleichwohl im Moment des Fürsichseins ihre notwendige Krise erfährt – denn nur im Sichverlassen und in der Hingabe verwirklicht sie sich. In dem Moment des Fürsichseins, das sich aus dem Impuls der Leiblichkeit immer wieder herstellt, muss sich der Christ immer wieder an den Tod erinnern lassen, der die Wahrheit des Fürsichseins als solchen ist, und aus dem das wahre Leben hervorgeht: „Versteht euch selbst als totseiend der Sünde, aber Gott lebend in Christus Jesus“ (Röm.6,11: λογίζεσθε ἑαυτοὺς [εἶναι] νεκροὺς μὲν τῇ ἁμαρτίᾳ ζῶντας δὲ τῷ θεῷ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ). Das Mitgekreuzigtsein ist immer wieder im Glauben als Selbstverständnis zu aktualisieren. Und der Christ wird im Moment des Fürsichseins, das sich immer wieder herstellt, dazu aufgefordert, sich selbst im Handeln zu entsprechen – dem eigenen Getauft- oder Mitgekreuzigtsein. Sich entsprechen heißt also nun paradoxerweise: dem Impuls, das Fürsichsein festzuhalten, nicht nachgeben, sondern lieben, es hingeben. So wird das leibliche Leben zum Medium der Gerechtigkeit (vgl. 6,13). Dass dies für den Glaubenden Selbstentsprechung bedeutet, macht den Unterschied zur heillosen Heteronomie des alten Menschen unter dem Gesetz, das ihm nur widersprechen kann. Paulus ermahnt die, die frei sind vom Gesetz, zur Autonomie des Geistes – eben zur Selbstentsprechung, die Liebe bedeutet.55 Die pragmatisch-kommunikative Situation der Paränese aber entspricht ihrem Inhalt: Das auf die Selbstentsprechung vom Anderen Angesprochenwerden und den Anderen Ansprechen ist ein erster Ausdruck der entsprechenden Liebe oder Gemeinschaft.

55  Es versteht sich von selbst, dass diese Selbstentsprechung wiederum nicht die Tat oder Leistung des Menschen für sich ist – vielmehr ist sie Ausdruck des im Moment des Fürsichseins aktualisierten Glaubens, durch den nicht der Mensch für sich lebt, sondern Christus in ihm.

3.  Kurze historische Einordnung des Römerbriefes a)  Wer war Paulus? Paulus, dessen hebräischer Name Saul war (Apg. 7,58; 9,1 ff. u. ö.), wurde möglicherweise um 5 n. Chr., jedenfalls um die Zeitenwende herum, in Tarsus, der Hauptstadt Kilikiens am nordöstlichen Ende des Mittelmeeres geboren (Apg. 21,39) – eine Stadt mit blühender hellenistischer Kultur. Er entstammt also einer zur hellenistischen Synagoge gehörigen Familie, die theologisch vermutlich pharisäisch geprägt war (Apg. 23,6). Das Griechische ist seine Erstsprache; höchstwahrscheinlich beherrschte er auch das Aramäische, ob auch Hebräisch und etwas Latein, ist fraglich.56 Die Bibel, die er zitiert, war die Septuaginta. Da Paulus sich in der griechischen Sprache, Rhetorik und Allgemeinbildung sicher bewegt, ist auch eine entsprechende Ausbildung anzunehmen, wie sie in der Mittelschicht üblich war.57 Inwieweit sie auch eine philosophische Bildung umfasste, ist unklar. Außerdem genoss Paulus eine pharisäische Ausbildung, zu der er wahrscheinlich als junger Mann (vermutlich noch vor dem Auftreten Jesu) nach Jerusalem zu Gamaliel reiste – jedenfalls rechnet er sich der phärisäischen Partei zu.58 Jedoch war er nicht Rabbi von Beruf, sondern so etwas wie Zeltmacher (Apg. 18,3) – wobei strittig ist, was das eigentlich bedeutet. Im übrigen war er unverheiratet (vgl. 1. Kor. 7,1.8; 9,5) und besass höchstwahrscheinlich das reichsrömische Bürgerrecht.59 Paulus berichtet von sich selbst, dass er ein Eiferer gegen die „Gemeinde Gottes“ war und sie – d. h. wohl insbesondere die sog. Judenchristen – hasste und verfolgte.60 Wie diese Verfolgung genau zu verstehen ist, ist unklar. Doch 56  Vgl.

Apg 21,40; 22,2; 26,14; J. Becker, Paulus. Der Apostel der Völker, Tübingen 1998 S. 35.37; U. Schnelle, Paulus, S. 47 (zum Lateinischen). 57  U. Schnelle, Paulus, S. 45.62. Auch M. Wolter, Paulus. Ein Grundriss seiner Theologie, Göttingen 2021, S. 12 vermutet eine gute Grammatik- und Rhetorikausbildung. 58  Vgl. Phil. 3,5; Apg. 22,3; 26,4 f. J. Becker, Paulus, S. 39.42–44; U.Schnelle, Paulus, S. 48–54. Zum Jerusalembezug auch M. Wolter, Paulus, S. 12–14; zum pharisäischen Bezug sehr differenziert S. 14–18. 59 Vgl. J. Becker, Paulus, S. 36; U. Schnelle, Paulus, S. 42–44; M. Wolter, Paulus, S.9. 60  Gal. 1,13 f.23; 1. Kor. 15,9; Phil. 3,6; vgl. U. Schnelle, Paulus, S. 74–77. Zu Recht betont M. Wolter (Paulus, S. 18 f.; Parallelen zu einem entspr. Eifern werden S. 19–23 diskutiert), dass die Rede von einer Verfolgung der Christen anachronistisch wäre – es handelte sich um eine Verfolgung von Juden, die an den Auferstandenen als Christus glaubten.

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3.  Kurze historische Einordnung des Römerbriefes

ist anzunehmen, dass sie bereits eine intensive Auseinandersetzung mit der urchristlichen Jesus-Verkündigung einschloss.61 Denn sie setzt voraus, dass die christliche Verkündigung für Paulus insofern relevant war, als sie auf die entscheidenden Fragen des Gottesverhältnisses eine neue Antwort gibt – die freilich für Paulus in hassenswerter Weise seiner eigenen Überzeugung widerspricht. Weil er in einem pharisäischen Sinn um die „Bewahrung der exklusiven Gottesbeziehung Israels“ besorgt war, eiferte er für das Halten der Tora.62 Die Bekehrung und Berufung zum Apostel für die Völker geschah vielleicht zwei bis drei Jahre nach der Kreuzigung Jesu. Paulus offenbart sich der auferstandene Jesus Christus als κύριος und Sohn Gottes (vgl. Gal. 1,11 ff.; Phil. 3,7–11); er beschreibt dies als ein ihn überwältigendes Sehen (1. Kor. 9,1; 15,8 f.) sowie als Berufung, das Evangelium unter den Völkern zu verkündigen.63 Ihm widerfährt also die Gewissheit, dass der gekreuzigte Jesus nun an der Herrschaft Gottes teilhat. Das entsprechende Wirken Gottes, das die endgültige Zeitenwende hin zu seiner nun alle Völker ergreifenden Herrschaft heraufführt64, besteht darin, dass er Menschen durch die Verkündigung Christi ergreift und zu der Gemeinschaft bestimmt, die Christus verkörpert (Gal. 2,20: „Christus lebt in mir“) und die ihr Geist vollzieht. In diesem Rahmen versteht Paulus seine Berufung zur Verkündigung unter den Völkern.65 Zwar ergibt sich aus den knappen Schilderungen seiner Bekehrung, die Paulus selbst mitteilt, dass er sie erst später als Rechtfertigung des Sünders formuliert. Doch bedeutet das nicht, dass die Verkündigung der Rechtfertigung des Sünders nicht genau die Christusgemeinschaft spezifisch formuliert, die Paulus bei seiner Bekehrung widerfahren ist.66

Das ganze weitere Leben des Paulus handelt von diesem Auftrag. Er unternimmt mit anderen Christen weite Missionsreisen. Er wirkt erst in der Arabia sowie, unterbrochen von längeren Aufenthalten in Antiochia, dessen Gemeinde er angehörte67, in Syrien und Kilikien. Nachdem es in Antiochia erstmals in größerem Umfang zu einer Missionierung von Nichtjuden gekommen war68 (erst in diesem Zusammenhang taucht auch erstmals die Bezeichnung als „Christen“ auf )69, setzt Paulus auf dem sog. Apostelkonvent in Jerusalem (möglicherweise 61 Nach M. Wolter, Paulus S. 25 ist die Auseinandersetzung mit Jesus die Bedingung dafür, dass Paulus Jesus, dem er vorher nie begegnet war, in seiner Vision identifizieren konnte. 62  M. Wolter, Paulus, S. 21. 63  Vg. auch Röm. 1,1–5. – Die Apostelgeschichte ergänzt als nähere Umstände eine Lichterscheinung, einen Ort nahe Damaskus, die Stimme Jesu, die vorübergehende Erblindung des Paulus und die Taufe in der Gemeinde von Damaskus (Apg. 9,3 ff.; 22,6–16; 26,12–18). 64  Vgl. auch insgesamt U. Schnelle, Paulus, S. 89–92. 65  J. Becker, Paulus, S. 78 f. 66 Vgl. J. Becker, Paulus, S. 75; ferner U. Schnelle, Paulus, S. 82. 67 Vgl. M. Wolter, Paulus, S. 32–35. 68 Vgl. J. Becker, Paulus, S. 90 f. 69  Vgl. Apg. 11,26 u. ö.  – entscheidend ist, dass die zum Glauben an Christus Bewegten dafür nicht Juden werden mussten (M. Wolter, Paulus, S. 33 f.).

a)  Wer war Paulus?



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im Jahr 48) insbesondere gegenüber Petrus, Johannes und Jakobus seine Auffassung durch, dass die Beschneidung und damit das Halten der Tora zur Teilhabe an der Heilsgemeinschaft nicht notwendig ist (Gal. 2,1–21; Apg. 15,1–35). Damit ist seine selbständige Mission begründet und bestätigt. Er reist sodann verschiedentlich nach Galatien, Philippi, Thessaloniki, Korinth, Ephesus und andere Orte. Er gründet Gemeinden (etwa in Korinth und Philippi) und begleitet diese in der Folge durch seine Briefe. Von Anfang an haben diese Briefe in den Gemeinden eine große Bedeutung; sie werden öffentlich vorgelesen, weitergegeben und zwischen Gemeinden ausgetauscht.70 Immer wieder wird Paulus lebensbedrohlich angefeindet und verfolgt sowie mehrfach gefangen genommen (vgl. nur z. B. 2. Kor. 1,8–10; 11,23–33). Möglicherweise im Jahre 56 reist er schließlich nach Jerusalem, um persönlich eine Kollekte heidenchristlicher Gemeinden für die Armen der dortigen Gemeinde zu überbringen und so vielleicht auch den immer noch virulenten Konflikt mit der Jerusalemer Gemeinde um die Frage des Gesetzesfreiheit der Heidenchristen, die aber zunehmend auch von Judenchristen beansprucht wurde, zu entschärfen. Schon im Vorfeld rechnet er dabei mit Anfeindungen „der Ungläubigen in Judäa“ (vgl. Röm. 15,25–31, hier Vers 31). Es ist nicht unwahrscheinlich, dass die Kollekte von der Jerusalemer Gemeinde nicht angenommen wurde.71 Wegen einer angeblichen (unwahrscheinlichen) Übertretung des Tempelgesetzes wird er auf Betreiben jüdischer Gegner verhaftet und gelangt in die Hände der römischen Obrigkeit. In Caesarea, dem Sitz des römischen Statthalters, kommt es zum Prozess, in dem aber wahrscheinlich kein Urteil gesprochen wird. Paulus ist zwei Jahre in Untersuchungshaft und appelliert schließlich – vermutlich als reichsrömischer Bürger – an den Kaiser in Rom. Mit dem Schiff wird er dorthin verbracht. Die Bedingungen seiner Haft, die einer Art Hausarrest gleichen, waren mindestens zeitweise gut erträglich72; evtl. schreibt er hier den Philipperbrief und den Philemonbrief.73 Vom Ausgang des Prozesses und auch von seinem Tod berichtet das Neue Testament nicht. Traditionell wird sein Grab in Rom verehrt.74 Vermutlich wurde er entweder im Rahmen der Christenverfolgungen zur Zeit Neros ermordet oder etwa zu derselben Zeit (in den Jahren 62–64) hingerichtet.

70 Vgl.

U. Schnelle, Paulus, S. 155. U. Schnelle, Paulus, S. 387 f. – Lukas berichtet von der Kollekte im Zusammenhang der Ankunft in Jerusalem nichts: Apg. 21,15 ff. 72  U. Schnelle, Paulus, S. 390; vgl. insgesamt Apg. 22–28. 73 So U. Schnelle, Paulus, S. 392 ff.; anders sieht es z. B. J. Becker. 74  In der Kirche San Paolo fuori le mura (St. Pauli extra muros). 71 Vgl.

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3.  Kurze historische Einordnung des Römerbriefes

b)  Der Anlass des Briefes und die Situation der römischen Gemeinde Paulus verfasst den Brief an die Römer wahrscheinlich im Jahre 56 in Korinth. Er wohnt im Haus des Gaius, den er selbst getauft hatte (vgl. 16,23; 1. Kor. 1,14). Er diktiert den Brief an Tertius (16,22); Phöbe aus Kenchreä vor Korinth soll ihn wahrscheinlich überbringen (16,1). Paulus steht kurz vor der Abreise nach Jerusalem, um die o. g. Kollekte zu übergeben (15,25 ff.). Er will seinen anschließenden Besuch in Rom als Zwischenstation einer Missionsreise nach Spanien vorbereiten (15,24), indem er der ihm persönlich unbekannten Gemeinde sein Verständnis des Evangeliums als Grundlage der Völkermission darlegt. Möglicherweise ist es auch die befürchtete krisenhafte Zuspitzung des erneuten, das Zentrum des Evangeliums berührenden Konflikts mit einflussreichen Teilen der Jerusalemer Gemeinde, die die Grundsätzlichkeit seiner Überlegungen motiviert.75 Diese Reise konfrontiert ihn noch einmal grundsätzlich mit seiner „eigene[n] jüdische[n] Vergangenheit“.76 Man kann sagen, dieser längste und vielleicht auch letzte Brief stelle das theologische „Vermächtnis“ oder „Testament“ des Paulus dar.77 Zur Gemeinde in Rom lässt sich nicht viel Konkretes und Gesichertes mitteilen. Es handelt sich um eine alte Gemeinde, vermutlich die einzig größere der Zeit auf italischem Boden. Paulus respektiert die Selbständigkeit der berühmten Gemeinde (1,18; 15,14), die ja nicht auf seine Mission zurückging. Vermutlich war sie im Umfeld der jüdischen Bevölkerung von Travestere und der Via Appia konzentriert78 und weitgehend als Verbund von Hausgemeinden organisiert.79 Vielleicht war sie indirekt ein Ableger der Stephanusmission unter Mitgliedern der hellenistischen Synagoge.80 Unter Claudius hatte es vermutlich im Jahr 49 eine Ausweisung von Juden aus Rom gegeben, unter denen sich auch Judenchristen befanden. Evtl. handelte es sich auch hauptsächlich um Judenchristen, die auf Veranlassung der einflussreichen jüdischen Synagoge ausgewiesen wurden.81 Jedenfalls war unter ihnen das christliche Ehepaar Aquila und Prisca (Apg. 18,1 f.), die Paulus aus ihrer Exilszeit in Korinth gut kannte; sie waren inzwischen zurückgekehrt und Paulus lässt sie grüssen (16,3 f.).

Die Trennung der Gemeinde von der Synagoge ist zur Zeit des Römerbriefes bereits verfestigt. Paulus spricht sie bisweilen als Gemeinde der Heiden an.82 An75 Vgl.

J. Becker, Paulus, S. 369 f. M. Wolter, Paulus, S. 423. 77  So z. B. J. Becker, Paulus, ebd.; vgl. U. Schnelle, Paulus, S. 319. 78 So J. Becker, Paulus, S. 357. 79  Vgl. 16,5.14 f.; Apg. 28,30 f.; dazu J. Becker, Paulus, S. 357; vgl. U. Schnelle, Paulus, S. 318. 80  A. a. O., S. 354. 81 Vgl. J. Becker, Paulus, S. 352 f., und U. Schnelle, Paulus, S. 320. 82  1,5–7; 15,15–20; vgl. 11,11–25 die Bedeutung der Heiden in der Heilsgeschichte sowie Kap. 14 f. die Rolle der Starken, d. h. Gesetzesfreien, in der Gemeinde. 76 

b)  Der Anlass des Briefes und die Situation der römischen Gemeinde



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dererseits nimmt gerade auch die judenchristliche Perspektive und die bleibende Frage nach der Bedeutung des Gesetzes einen großen Raum ein – das mag für eine Paulus bekannte Virulenz und Diskussion dieser Frage in der römischen Gemeinde sprechen, etwa die Auseinandersetzung von Starken und Schwachen betreffend (14,1–15,13). Einzelne Mitglieder der Gemeinde spricht Paulus als Landsleute an (16,7.11); es waren also Judenchristen. Und wenn Paulus die Freiheit des Evangeliums vom Gesetz als Position der Gemeinde voraussetzt (vgl. 15,30 f.), muss sich das nicht nur auf Heidenchristen beziehen; zunehmend nahmen auch Judenchristen diese Freiheit in Anspruch. Zur sozialen Schichtung der Gemeinde lässt sich aufgrund der Grußlisten in Kap. 16 vermuten, dass sich darunter viele Menschen orientalischer Herkunft sowie Freigelassene, auch Sklaven befanden83, und dass Frauen eine vergleichsweise aktive Rolle spielten.

83 

U. Schnelle, Paulus, S. 317 f.

4.  Aufbau des Römerbriefes Je weniger der Autor selbst den Aufbau seines Gedanken reflektiert und diese Reflexion mitteilt, als desto vorläufiger muss sich die Angabe des Aufbaus durch den Interpreten verstehen. Denn die Identifikation und Differenzierung der Thematik durch den Interpreten, seine Wiedergabe der Logik ihrer Darstellung implizieren immer schon eine bestimmte inhaltliche Auffassung des Textes.84 Zudem findet die Reflexion des Aufbaus des Römerbriefes auch von ihm selbst her eine Grenze. Denn der Aufbau ist aus mindestens zwei Gründen nicht überall streng durchgearbeitet – zum einen weil Paulus den Text über einen längeren Zeitraum hinweg diktiert, zum anderen weil er dabei offensichtlich auf bereits in anderen Briefen und Kontexten vorgeprägte Zusammenhänge zurückgreift – vor allem der Galaterbrief ist hier zu vergleichen.85 Trotzdem ist eine vorläufige Orientierung sinnvoll. Die kunstgemäße Briefeinleitung (1,1–17) enthält schon eine Skizze des Ganzen  – sowohl bei der Angabe des Absenders im Präskript als auch in der zum eigentlichen Gedankengang überleitenden These im Proömium: das Evangelium als Kraft Gottes, welche jeden rettet, der glaubt (1,16). Im Hauptteil (1,18–15,13) lassen sich zwanglos zunächst drei Abschnitte identifizieren: Der erste Abschnitt umfasst 1,18–8,39 und schildert die in Christus geschehene Überwindung der menschheitlichen Gottlosigkeit durch Gott und ihre Bedeutung für das Leben. In 1,18–4,25 wird die Überwindung der Gottlosigkeit im Paradigma der Gerechtigkeit Gottes entworfen, als Rede von seiner Rechtfertigung und Gnade. 1,18–3,20: Es ist die völlige Gottlosigkeit sowohl der Heiden als auch der Juden, aufgrund derer Gott seine Gerechtigkeit in Christus offenbart. Alle Menschen stehen unter dem Gesetz Gottes, das sie verurteilt. Durch Werke des Gesetzes kann kein Mensch gerecht werden (3,20), denn die Gottlosigkeit oder Ungerechtigkeit kennzeichnet gerade den Menschen, der wesentlich für sich selbst Subjekt seiner Werke ist.   3,21–4,25: Gott offenbart seine Gerechtigkeit, indem er die Gottlosigkeit überwindet. Er macht den Gottlosen aus Gnade (also geschenkweise) in Christus gerecht, indem der Gottlose an Christus glaubt. Schon am Anfang der Geschichte Gottes mit Israel ist Abraham Vorbild dieser Gerechtigkeit aus Glauben. 84 

Das gilt hier auch schon für die – nicht ursprüngliche – Kapitel- und Verseinteilung. Vgl. die detaillierte Aufstellung bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, Neukirchen u. a. 2014, S. 47 f. 85 

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4.  Aufbau des Römerbriefes

In 5,1–8,39 beschreibt Paulus das Heil und neue Leben, welches diese Rechtfertigung des Gottlosen bedeutet – Friede mit Gott und Freiheit vom Tod, sowie die Hoffnung auf Vollendung, die darin begründet ist, dass „die Liebe Gottes ausgegossen ist in unsere Herzen durch den heiligen Geist“ (5,5). War, wie das Urteil des Gesetzes herausstellt, die Wahrheit des adamitischen Lebens (des Menschen für sich) durch Sünde der Tod, so bewirkt die Rechtfertigung des Gottlosen durch Christus Leben (5,12–20)  – freilich ein Leben, das (wie die Taufe dokumentiert) das Mitgestorbensein mit Christus voraussetzt (Kap. 6). So sind die Menschen befreit von der Macht der Sünde und vom Gesetz (Kap. 7), indem der Geist Gottes sie zu Kindern Gottes macht, die stellvertretend für die ganze Schöpfung in der Gewissheit seiner Liebe die Vollendung der angefangenen Gemeinschaft erwarten (Kap. 8). Der zweite Abschnitt des Hauptteils, der auch wie ein Exkurs wirken kann, umfasst die Kap. 9–11 und erörtert die Frage, welche Bedeutung in der göttlichen Gesamtgeschichte, die auf das Ziel der Gemeinschaft hinausläuft, Israel hat: seine erste Erwählung zu Kindschaft, Bund, Gesetz und Verheißung, nun das überwiegende Verkennen „der Gerechtigkeit Gottes, indem sie ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten suchen“ (10,3) – bis hin zu der Erwartung, dass am Ende die Völker und Israel zusammen die Gemeinschaft Gottes erfahren. Der dritte und letzte Abschnitt des Hauptteils (12,1–15,13)86 schließt wieder an Kap. 8 an und entwickelt in eher lockerer Reihenfolge, wie sich die geschenkte Gerechtigkeit und Freiheit, die Gotteskindschaft im Geist, im täglich-praktischen Leben der Christen auswirkt. Christliches Leben bedeutet, durch Einsatz der eigenen Begabung die Gemeinschaft zu realisieren, die in Christus wirklich ist. Außerdem wird in einem weiteren, kurzen Exkurs gefragt, in welchem Verhältnis die Christen zur staatlichen Gewalt stehen (13,1–7). Im Briefschluss (15,14–16,23) reflektiert Paulus sein Verhältnis zur Gemeinde in Rom, sein Apostolat (15,14–21) und erläutert seine Reisepläne nach Jerusalem, Rom und Spanien (15,21–33). Nach dem vorläufigen Abschluss mit dem Friedenssegen 15,33 folgt die üblicherweise angehängte Pragmatik des Briefverkehrs: Grüße nach Rom sowie (unterbrochen von einer Warnung der Adressaten vor Irrlehrern) Grüße von Mitarbeitern. Die Verse 16,25–2787 (die sog. Schlussdoxologie) sind in der vorliegenden Gestalt vermutlich (nach überwiegender, aber nicht einhelliger Meinung der Exegeten) nicht von Paulus geschrieben. Der Text findet sich in verschiedenen alten Handschriften an verschiedener Stelle, z. B. nach 14,23 oder 15,33.88 Die wahrscheinlichste Erklärung liegt darin, die Doxologie als bereits in ältester Zeit gebräuchlichen „Abschluß des Römerbriefs als gottesdienstlicher Lesung“ zu verstehen.89 86  U.Wilckens, Der Brief an die Römer 3, Neukirchen 1982, trennt vom Briefkorpus, der bis 11,36 reiche, die Paraklese (12,1–15,13) ab. 87  Vers 24 fehlt in den alten Handschriften (und deshalb auch im Text des Nestle-Aland). 88  Vgl. z. B. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 22–24. 89  Ebd. S. 24.

Interpretation

1.  Eingang: 1,1–17 a)  Präskript (Briefkopf ): 1,1–790 1 Paulus, ein Knecht (oder Sklave: δοῦλος) Christi Jesu, berufen zum Apostel, ausgesondert zu predigen das Evangelium Gottes (Wolter wörtlicher: ausgesondert zum Evangelium Gottes), 2 das er zuvor verheißen hat durch seine Propheten in den Heiligen Schriften, 3 von seinem Sohn, der geboren ist aus dem Geschlecht (Samen) Davids nach dem Fleisch, 4 und nach dem heiligen Geist (Wolter wörtlicher: Geist der Heiligkeit) eingesetzt als Sohn Gottes in Kraft (oder: Macht) durch die Auferstehung von den Toten – Jesus Christus unser Herr. 5 Durch ihn haben wir empfangen Gnade und Apostelamt (oder: Sendungsvollmacht), in seinem (oder: für seinen) Namen den Gehorsam des Glaubens [aufzurichten] unter allen Völkern (wörtlich: Gnade und Apostelamt zum Gehorsam des Glaubens unter allen Völkern), 6 zu denen auch ihr gehört, Berufene Jesu Christi. 7 An alle, die in Rom Geliebte Gottes, berufene Heilige sind: Gnade sei [mit] euch und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn Jesus Christus!

Schon das Präskript, das gewöhnlich einfach die Angabe von Absender und Adressaten mit einen Gruß verbindet, enthält hier die Perspektive auf das Ganze: das Gekommensein des Sohnes Gottes, der Paulus in seiner gegenwärtigen Kraft und Gnade ganz bestimmt und ihn berufen hat, diese Botschaft allen Völkern zu verkündigen. Denn die Gnade oder Liebe, die das Gekommensein des Sohnes bedeutet, ist für alle Völker bestimmt. 1 Paulus (das griechische Äquivalent von Saul) ist Knecht oder Sklave Jesu Christi.91 Er lebt nicht als sein eigener Herr, auch nicht als Diener weltlicher Herren (von denen er so vielmehr gerade in Wahrheit frei ist), sondern die neue Gottesgemeinschaft, deren Gestalt und Inbegriff Christus ist, bestimmt ganz sein Leben. „Nicht Ich lebe, sondern Christus lebt in mir“, schreibt er Gal. 2,20. Das ist für Paulus darin begründet, dass er zum Apostel, zum Gesandten berufen ist92 – und zwar (dieser Zusammenhang ist hier schon zu ergänzen) von 90  In den folgenden Übersetzungen stehen Varianten in runden Klammern, Ergänzungen in eckigen Klammern. 91  Vgl. Gal. 1,10. 92  U. Wilckens weist darauf hin, dass Sklave Christi entsprechend auch ein „geläufiger Titel für den Missionar“ war (Der Brief an die Römer 1, S. 61). M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 81 verweist auf den alttestamentlichen Sprachgebrauch, der auch Propheten als Gesandte bezeichnete.

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1.  Eingang: 1,1–17

Jesus Christus, dem Sohn Gottes, selber. Auch darin lebt und wirkt der gekreuzigte Auferstandene in der Gemeinschaft Gottes. Indem sich Paulus der Sohn Gottes offenbarte, berief dieser ihn zum Apostel.93 Diese Offenbarung bedeutete die das Leben und Denken erschütternde und neu begründende Gewissheit, dass der Sohn Gottes ihn geliebt hat und sich für ihn, um der Gemeinschaft mit ihm willen, hingegeben hat (Gal. 2,20).94 Indem aber diese Liebe, diese Hingabe, diese Gemeinschaft für alle Menschen gilt, ist der prophetische Auftrag, zu dem Paulus sich so ausgesondert weiß95, dieses Evangelium Gottes zu verkündigen – damit sich durch diese Verkündigung und den Glauben, den sie findet, die Gemeinschaft Christi, ihr Geist, bei allen Völkern verwirklicht. Wenn es wörtlich heißt, Paulus sei ausgesondert zum Evangelium Gottes96, so meint das Evangelium zugleich die das Leben neu begründende Gottesgemeinschaft und die Verkündigung, durch die sie sich verwirklicht.97

2 (und 5) Doch das Evangelium kam nicht unvermittelt in die Welt. Zu ihm gehört die ältere Geschichte Gottes mit seinem Volk, in der es erwartet wurde und die das Evangelium in ihrem Sinn erschließt und erfüllt – im letzten Horizont sogar die Geschichte Gottes mit der Welt und Menschheit insgesamt, die mit der Schöpfung beginnt. Die Propheten Gottes, wie sie uns in den Schriften des Alten Bundes gegenwärtig sind, haben es angekündigt.98 Wenn aber das in den Schriften Verheißene sich nun auch für die Völker erfüllt, zu denen Paulus gesandt ist99, impliziert das, dass Israel und die anderen Völker gemeinschaftlich ihre Bestimmung in der Heilsgeschichte Gottes finden – also die ganze Menschheit. Zur vorläufigen Orientierung mag es geraten sein, in zugegebenermaßen grober Verkürzung die Grundlogik der im Verhältnis von Altem und Neuem Testament liegenden Heilsgeschichte anzudeuten100: Am Anfang steht der Bund Gottes mit seinem Volk, das er im Moment der Krise seiner menschlichen Selbstmächtigkeit, im Moment der Ohnmacht erwählt. Dabei entspricht der Bundesgemeinschaft das ursprünglich erfüllbare Gebot. Mose oder auch König David erscheinen als Urgestalten der menschlichen Mittler, durch die Gott seinen Bund regiert. Das prophetische Gerichtswort impliziert dann aber die Erfahrung allgemeiner Sünde im Sinne einer Verkehrung des Menschen als des (kollektiven) Subjekts seines Lebens (seiner Taten) selber. Das setzt auch Paulus 93 Vgl.

Gal. 1,12–17; 1. Kor. 15,5–10.  – Die Berufung zum Apostel war auch von den anderen Aposteln in Jerusalem anerkannt worden (Gal. 2,7 ff.), von anderen Missionaren aber bestritten worden (vgl. Gal. 1,6 ff.; 2,4 f.). 94  Vgl. auch Apg. 9,20. 95  Vgl. auch Gal. 1,15; dazu Jer.1,5 u. ö.; vgl. ferner U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 63 zum Sprachgebrauch der LXX. 96  Vgl. 15,16; 1,9 ist gleichbedeutend vom Evangelium Christi die Rede. 97  Vgl. auch M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 82. 98  Vgl. auch z. B. 3,21; 15,4.8; ferner auch Gal. 3,15 ff.: die Verheißung an Abraham ist durch Christus erfüllt. 99  Vgl. auch Gal. 1,16; Röm. 11,13 f.; 15,16.18 u. ö.; ferner Röm. 9,25 f. und 11,7. 100 Vgl. T. Kleffmann, Grundriß, S. 109–123.



a)  Präskript (Briefkopf ): 1,1–7

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voraus, wenn er das Gesetz als für den alten Menschen unerfüllbar annimmt. Im Moment des offenbaren Gerichts aber, für das alttestamentlich insbesondere das babylonische Exil steht, widerspricht Gott dem Gerichtswort mit der Verheißung einer endzeitlichen Erneuerung des Bundes: Gott wird das steinerne Herz wegnehmen und seinen Geist „in euch geben“: zB. Ez. 36,26 f., vgl. Jer. 31,31–34. Gerade auch für Paulus gilt: Der Glaube an diese Verheißung der Erneuerung antizipiert sie. Erfüllt aber ist die Verheißung, wenn Paulus sagen kann: Christus (die Gemeinschaft Gottes) lebt in mir. Außerdem gehört in dieses Verhältnis von Verheißung und Erfüllung auch die vorläufige Gnade der Sühne der Sünde durch den stellvertretenden Tod des Opfers im Tempel, in dem Gott seine Präsenz vollzieht – eben diese vorläufige Gnade geschenkter Gerechtigkeit erfüllt sich für alle, die darauf vertrauen, durch die Hingabe des Sohnes (vgl. 3,21–30).

Die Verse 3–4 bestimmen den Inhalt des Evangeliums, das Paulus zu predigen hat: In Jesus ist der Sohn Gottes oder Christus gekommen, der nun unser Herr ist. Was heißt bei Paulus ‚Sohn Gottes‘? Es ist nicht vorauszusetzen, dass hier schon der Sohn als Gott selbst zu verstehen ist – Gott in seiner Selbstunterscheidung, wie es der Johannesprolog (Joh. 1,1 f.) für den Fleisch gewordenen Logos ausspricht. Allerdings kennt Paulus den Gedanken der sog. Präexistenz Christi: dass der, der im Leben und Sterben Jesu Gestalt annahm, in Ewigkeit zu Gott gehört, sich aber seiner göttlichen Gestalt entäußerte (Phil. 2,5–11, Röm. 8,3; Gal. 4,4). Auch kann Paulus (analog zum Johannesprolog) davon reden, dass wie durch Gott als Vater so auch durch den Kyrios Jesus Christus alle Dinge gemacht sind (1. Kor. 8,6).   Wie genau eine ältere Rede vom Sohn Gottes nachösterlich auf Jesus übertragen wurde, bleibt im Dunkeln.101 Der Herkunft des Sohnestitels ist jedenfalls primär judenchristlich; er bezeichnet vorchristlich den messianischen König. Damit konnte sich griechisch der Kyriostitel im Sinne einer göttlichen Herrschaft verbinden – was zum einen den Gottestitel in der griechischen Übersetzung des Alten Testamentes aufruft, zum anderen aber im hellenistischen Umfeld wiederum die Erinnerung an Sohnesgottheiten einschließen kann, die vom Tod auferstehen. Aus Jesu Verkündigung kommt noch die menschliche Gotteskindschaft in Betracht, die aus nachösterlicher Perspektive Jesus selbst darstellt und von Gott her vermittelt.102   Im Blick auf Paulus steht fest, dass die Sohnschaft bedeutet, dass Gott selbst in Jesus – und insbesondere in seinem Tod – gegenwärtig war (vgl. nur 2. Kor. 5,19: Gott war in Christus) und dass in Kraft der Auferstehung auch jetzt Jesus Christus, der unseren Tod, unsere Sündengetrenntheit teilte, als Kyrios wirkt und lebt. Es ist Gott selbst, der durch seinen Sohn wirkt. Wie diese göttliche Kraft oder dynamis genau zu denken ist, was das Verhältnis von Gott und Sohn für Gott bedeutet, führt Paulus nicht aus. Der Gedanke der Wesensgleichheit des Sohnes mit dem Vater findet sich jedenfalls nicht explizit.103 101  Bei der Näherbestimmung der Sohnschaft in den Versen 3b–4 hat Paulus evtl. – darauf weisen einige Indizien hin – die Formulierung eines Bekenntnisses oder der Liturgie aufgenommen, wie sie sich ähnlich in 2. Tim. 2,8 findet (vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 59). Für die Interpretation macht das aber keinen Unterschied, da er sich diese Formulierung ja zu eigen macht. 102  Vgl. insgesamt M. K arrer, „Sohn Gottes“ bei Paulus, S. 265–288 (etwa zur Bedeutung der Auferstehung S. 267 f.273). 103  1. Kor. 15,28 scheint den Gedanken einer ewigen Selbstunterscheidung Gottes sogar auszuschließen.

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1.  Eingang: 1,1–17

Dass der Sohn und Herr nach dem Fleisch  – d. h. hier: der Herkunft seines zeitlichen Lebens als Mensch nach – ein Nachkomme Davids ist, gehört zur allgemeinen Messiaserwartung. Die davidische Herkunft wird so zur Metapher für den Zusammenhang der Heilsgeschichte, in der Gott auch schon früher seinen Bund, seine Herrschaft menschlich vermittelte. Von der Jungfrauengeburt, die ja die fleischliche Herkunft, was Josef angeht, konterkarieren könnte (weil die davidische Zeugung ersetzt würde durch eine Zeugung im Geist), redet Paulus hier nicht – entweder kennt er sie nicht oder sie bedeutet ihm nichts.

Eine große Herausforderung, die zugleich großen Erkenntnisgewinn verspricht, liegt in der Formulierung, nach dem Geist der Heiligkeit sei Jesus Christus zum Sohn eingesetzt in Kraft (dynamis) durch die Auferstehung. Nicht denkbar ist die Auffassung, dass Jesus erst durch die Auferstehung zum Sohn wird. Wie gesagt kommt zwar die Weihnachtschristologie mit der Jungfrauengeburt bei ihm nicht vor, doch nimmt er den Gedanken der Präexistenz des Sohnes auf. Zudem war ja zuvor davon die Rede, dass der Sohn ‚nach dem Fleisch geboren‘ ist. Die Formulierung hat dann vermutlich zwei Bedeutungen, die zusammen hängen.  – Zum einen bedeutet sie, dass erst die Auferstehung, also nachdem Jesus am Kreuz sein mit dem leiblichen Leben verbundenes Fürsichsein ganz hingegeben hat, ihn als des ewigen Lebens Gottes teilhaftig offenbart. Zwar ist der Auferstandene ja derjenige, der gelebt hat und unseren Tod (unsere Wahrheit der Sünde als Getrenntheit) gestorben ist. Aber die Präexistenz und Sendung des Sohnes ist erst von der Auferstehung her offenbar.

Zum anderen aber hat die Auferstehung nicht nur die ewige Gotteszugehörigkeit des in Jesus erschienenen Sohnes offenbart, sondern erst kraft der Auferstehung wirkt er nun auch in göttlicher dynamis als universaler Kyrios. So wie er sich als Auferstandener ja auch Paul als Sohn offenbarte, so wirkt er nun durch seine Verkündigung und ihren Glauben. Im Geist dieser Gemeinschaft Gottes mit ihm, die die Auferstehung offenbart, ist er lebendig gegenwärtig. Es ist der Geist, der lebendig macht (8,2.10 f.), und nur im Geist, der sich in der Verkündigung des Evangeliums vermittelt, erkennen wir den Herrn. 5 Nachdem Paulus die Adressaten auf das Evangelium fokussiert hat, zu dem er berufen ist, konkretisiert er den Anspruch seiner Vollmacht. Diese Vollmacht kommt von Christus selbst. Paulus weiß sich gesendet, in Christi Namen unter den Völkern durch seine Verkündigung das alles entscheidende Vertrauen auf Gott, auf die Gemeinschaft des Sohnes zu verbreiten. Die Sendung ist die Gnade, denn sie ist im Geschenk der Offenbarung Christi, seiner Gottesgemeinschaft begründet.104

104 

Vgl. auch 12,3; 15,15; Gal. 1,15 u. ö.



b)  Proömium (Überleitung): 1,8–15

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Gehorsam des Glaubens als Ziel der Predigt heißt hier: Hören und Vertrauen und sich von der Gemeinschaft des Sohnes neu bestimmen lassen. Der Glaubende entspricht dem Evangelium Gottes (vgl. 15,18). Warum zielt dies nun auf alle Völker? Anzunehmen ist: Weil sich die Offenbarung des in das Leben Gottes auferstandenen Sohnes als Offenbarung des letztgültigen Geschenks der Gemeinschaft Gottes an alle Völker (Menschen) richtet.

6–7 Zu den nichtjüdischen Völkern (Heiden), zu denen Paulus sich gesandt weiß, gehören auch die Adressaten, jedenfalls offensichtlich in der Mehrzahl. Die Sendung des Paulus erstreckt sich also auch auf sie – auch wenn sie bereits in die Gemeinschaft Christi berufen sind (Paulus hat die Gemeinde nicht begründet). Was das bedeutet, fasst die Anrede (die sog. adscriptio) einfach und erhaben zusammen: Ihr seid die von Gott Geliebten, im Sichverlassen auf die Gemeinschaft Christi heilig, das heißt: zu Gott gehörig. Denn das ist es, was sie im Glauben bestimmt: die Liebe Gottes, in der er seinen Sohn sandte, der den Tod, die Wahrheit des alten, gottfernen, in sich selbst gefangenen Ich auf sich nahm. Nichts anderes spricht er ihnen in dem Segensgruß (der sog. salutatio) zu, den wir liturgisch als den Kanzelgruß zu hören gewohnt sind: Gott und Christus wirken zusammen Gnade, das erlösende Geschenk der göttlichen Gemeinschaft, und Friede eben mit Gott, mit den anderen Menschen, mit sich und mit der Schöpfung.105

b)  Proömium (Überleitung): 1,8–15 8 Als erstes danke ich meinem Gott durch Jesus Christus für euch alle, dass euer Glaube in aller Welt verkündet wird. 9 Denn Gott ist mein Zeuge, dem ich diene in meinem Geist im Evangelium seines Sohnes (oder: indem ich das Evangelium von seinem Sohn verkündige), dass ich ununterbrochen an euch denke. 10 Immer in meinen Gebeten bitte ich, ob sich’s wohl einmal fügen wird (Wolter: dass ich vielleicht einmal […] auf einen guten Weg geführt werde), zu euch zu kommen durch Gottes Willen. 11 Denn mich verlangt, euch zu sehen, um euch etwas an geistlicher Gabe (oder: Gnadengabe: χάρισμα ὑμῖν πνευματικὸν) mitzuteilen, damit ihr gestärkt werdet; 12 das heißt, dass ich mit euch Zuspruch erfahren würde (oder: getröstet würde) durch euren und meinen Glauben, den wir untereinander haben (oder: austauschen). 13 Ich will euch aber nicht verschweigen, Brüder, dass ich mir oft vorgenommen habe, zu euch zu kommen – und wurde bisher gehindert –, damit ich auch bei euch Frucht bringe wie unter andern Völkern (Heiden). 14 Griechen und Barbaren (βαρβάροις, Nichtgriechen), Weisen und Unverständigen 105 Laut U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 69 ist hier eine am Anfang von Briefen gebräuchliche jüdische Segensformel so ergänzt, dass Gott der Vater und der Herr Jesus Christus zusammen als Geber erscheinen. Dieser Segen findet sich auch sonst im Abschluss des paulinischen Präskripts. Vgl. 1. Kor. 1,3; 2. Kor. 1,2; Gal. 1,3 u. ö.

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1.  Eingang: 1,1–17

bin ich Schuldner (oder: verpflichtet). 15 Darum, soviel an mir ist, bin ich willens, auch euch in Rom das Evangelium zu predigen (εὐαγγελίσασθαι). Das Pröömium dient dazu, das Verhältnis zu den Adressaten auszuweisen und damit auch den Zweck des Briefes anzukündigen.106 Der Abschnitt ist theologisch nicht so dicht und daher eher im Überblick zu interpretieren.

Paulus dankt Gott für den in Christus gegründeten Glauben der römischen Gemeinde107, der eben eine menschliche Gemeinschaft in Christus, in der Gottesgemeinschaft bedeutet. Die soll sich aber auch weiter verwirklichen – durch Stärkung (Vers 11) und weitere Frucht der Predigt (Vers 13). Vielleicht schließt der Dank für die offensichtliche Ausstrahlung der Gemeinde in der Hauptstadt des Reiches also ein, dass dies eine weitere Ausbreitung der Mission auch in anderen Teilen des Reiches unterstützt und erwarten lässt. Das Interesse an der Paulus kaum bekannten Gemeinde in Rom scheint authentisch; er möchte die vielfältige Einheit des Leibes Christi (vgl. 12,4 f.), das gemeinsame Leben Christi in der Gemeinde erfahren. Darauf wird er am Schluss (in 15,22–32) zurückkommen. Zugleich konkretisiert er die ihm gewisse Sendung im Blick auf die Angesprochenen: Paulus weiß und kündigt an, dass er insbesondere den Nichtjuden etwas zu geben, zu sagen hat – dass er eine Gottesgabe hat, die weiterwirken möchte. Wenn Gott es fügt, will er in die Gemeinde kommen und etwas vom χάρισμα πνευματικὸν mitteilen, von seiner geistlichen Gnadengabe. In 12,6 ff. nennt Paulus als Charismen prophetische Rede, Lehre, Mahnung, Freigiebigkeit, Gemeindevorsitz – immer als Dienst oder Hingabe, die der Geist der Gottesgemeinschaft bestimmt.

Hier ist dieses geistliche Charisma wohl nicht von der klaren Predigt und Lehre des Evangeliums zu unterscheiden, durch die sich der Geist der Gemeinschaft Christi vermittelt. Dafür will Paulus nach Rom kommen (Vers 15). Was Paulus aber von seinem Besuch als Frucht erhofft (Vers 13), soll sein Brief auch schon vorwegnehmen – indem er eine Lehre des Evangeliums bietet, die seinen heilsgeschichtlichen Zusammenhang darlegt. Meines Erachtens ist die beabsichtigte göttliche Stärkung, indem Paulus geistliches Charisma mitteilt, nicht scharf von der Frucht zu unterscheiden, die Paulus durch die Predigt des Evangeliums in Rom erwartet. Zwar verweist Wolter darauf, dass Paulus mit der Predigt des Evangeliums (εὐαγγελίσεσθαι) sonst die Missionspredigt meint (vgl. auch 15,20), das hieße hier: eine Predigt in Rom, die auf Nichtchristen zielt.108 Doch kann das 106  Vgl. auch M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 101. Wolter zählt auch die Verse 15–17 hinzu. 107 Vgl. auch das Lob der Gemeinde in Thessaloniki 1. Thess. 1,8. Zum Verhältnis zu anderen Danksagungen des Paulus an vergleichbarer Stelle vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 104 f. 108  Vgl. Der Brief an die Römer 1, S. 110 f.



c)  Die These: 1,16–17

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hier nicht ausschließlich gemeint sein – worin sollte sich geistliches Charisma mitteilen, wenn nicht durch Predigt und Lehre?

Paulus macht aber (in Vers 12) auch deutlich, dass diese Mitteilung und Stärkung nicht bloß einseitig zu verstehen ist. Der Glaube ist wesentlich ein gemeinsamer, und der Geist der geistlichen Gabe ist der Geist der Gemeinschaft Christi. Die gegenseitige Kommunikation dieses Glaubens109, und in diesem Rahmen seine kritische Predigt in der Gemeinde, belebt beide Seiten – er stärkt die Gemeinschaft des Geistes. Der doppelte Bezug auf die Adressaten des Briefes und der künftigen Predigt in Vers 14 ist nicht ganz klar. Griechen und Barbaren meinen alle Nichtjuden – aber was meint dann die pointierte Nennung der „Weisen und Unverständigen“? Paulus schreibt griechisch, auch in Rom Verkehrssprache insbesondere der Gebildeten (einschließlich der Juden und Judenchristen). Mit ihr war der Anspruch hellenistisch philosophischer Bildung verbunden. In diesem Kontext will Paulus mit dem kombinierten Dual Griechen/​Barbaren und Weise/​Unverständige vielleicht betonen, dass sich sein besonderer Auftrag, seine Sendung zu den Völkern (Heiden) auf alle Menschen erstreckt, unabhängig vom Bildungsgrad. Vor Gott und im Sinne der Sendung des Sohnes sind alle Menschen gleich.110

c)  Die These: 1,16–17 16 Denn ich schäme mich nicht des Evangeliums; denn es ist eine Kraft Gottes zum Heil (Luther übersetzt εἰς σωτηρίαν mit: die da selig macht) für jeden, der glaubt, für den Juden zuerst und auch für den Griechen. 17 Denn die Gerechtigkeit Gottes (δικαιοσύνη θεοῦ; Luther: die Gerechtigkeit / die für GOtt gilt) wird in ihm offenbart aus Glauben zum Glauben (Wilckens übersetzt: aufgrund des Glaubens für den Glauben); wie geschrieben steht: „Der Gerechte wird aus Glauben leben“.111 Die Verse leiten zur Entfaltung des Evangeliums über, indem sie thesenartig vorstellen, was es für die, die an es glauben, bedeutet. Um diese Bedeutung zu explizieren, ist auf den Gesamtzusammenhang vorzugreifen.

16 Die göttliche Sendung des Paulus ist es, das Evangelium von Jesus als Christus, als Sohn Gottes zu verkündigen. Doch dieses Evangelium redet vom Tod Jesu, von seiner Ohnmacht am Kreuz. Wer nicht gerade darin die Kraft, die dynamis Gottes erkennt, könnte sich seiner schämen. „Denn das Wort vom 109  Den Glaube in Vers 12 nicht auf das Evangelium zu beziehen, sondern freundschaftsethisch als Vertrauen zu verstehen (M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 109), halte ich für unwahrscheinlich, da im unmittelbaren Kontext von der Mitteilung der Gnadengabe die Rede ist. 110  U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 81 verweist auf eine Passage bei Antiphon, einem Vertreter der sophistischen Aufklärung, wo sich ebenfalls das Pathos der Gleichheit von Barbaren (Nichtgriechen) und Griechen findet. – Anders M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 112. 111  Habakuk 2,4.

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1.  Eingang: 1,1–17

Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren gehen – uns aber ist es Gottes Kraft“ (1. Kor. 1,18). Das Evangelium ist nicht nur eine religiöse Theorie oder eine religiöse Botschaft, sondern Gott selbst wirkt im Evangelium wahres Leben, das vom unwahren Leben und seinem wahren Tod rettet (heilt). Denn das, was das Evangelium (indem es verkündigt wird) ausspricht, bewirkt es auch, indem die Adressaten sich auf es (auf Christus) verlassen. Die Verkündigung des Evangeliums, indem sie Glauben findet, ist eine Kraft Gottes, da das Sichverlassen auf das Verkündigte am Verkündigten Anteil gibt: Leben aus dem Tod. Das impliziert schon hier: Der dem Evangelium entsprechende Glaube ist wesentlich Glaube an die Auferweckung des Gekreuzigten. Er bedeutet, an diesem Tod und dieser Auferstehung teilzuhaben (6,4), indem der alte Mensch stirbt (im Verhältnis von Glaube und Taufe) und ‚Christus in mir lebt‘ (Gal. 2,20). In diesem Sinn wird Paulus Gott (mit Gen. 17,5) den nennen, der die Toten lebendig macht und ruft, was nicht ist, dass es sei (vgl. 4,17). Das ist die Kraft Gottes.

Dass die Kraft Gottes im Evangelium erst die Juden, dann die Griechen rettet, hat einen zweifachen Skopus. Zum einen ruft es die göttliche Würde der Juden als sozusagen Erstgeborene auf: Ihnen wurde zuerst das Heil verkündigt – Jesus und seine Jünger sprachen zuerst als Juden zu Juden  – weil sie bereits in der älteren Heilsgeschichte des Bundes und des entsprechenden Gesetzes, des entsprechenden Gerichtes (der entsprechenden Selbsterkenntnis in der Sünde), der entsprechenden Verheißung standen. Zum anderen aber, indem nun auch den anderen Völkern der Menschheit (für die hier stellvertretend die Griechen stehen) das Heil der Gotteskraft zugesprochen wird, das im Sichverlassen auf den Sohn Gottes liegt, ist die heilsgeschichtliche Auszeichnung der Juden relativiert: Von der rettenden Kraft Gottes ergriffen zu werden, hat weder die Zugehörigkeit zum auserwählten Volk zur Bedingung noch das Tun der Tora. Der Unterschied zwischen Juden und Heiden (Völkern) ist im Blick auf das neue Leben nicht entscheidend.112 17 Im Evangelium wird Gottes Gerechtigkeit offenbart. Wie verhält sich das zur Kraft Gottes, die in Verkündigung und Glauben Leben aus dem Tod schafft? Zunächst ist näher zu bestimmen, was hier Offenbarung heißt. Dass im Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart wird, heißt nicht nur, dass sie darin erkannt wird. Vielmehr bedeutet ihre Offenbarung, dass sie sich, indem das Evangelium zugesprochen wird, ereignet. Das Evangelium bewirkt als Kraft Gottes seine Gerechtigkeit. Es bedeutet, dass sie sich durchsetzt  – und zwar, indem wir uns darauf verlassen. Das heißt, durch das Evangelium von seinem Sohn, der in seiner Liebe unseren Tod teilte, indem es verkündigt und geglaubt wird, vollzieht Gott so seine Gerechtigkeit, dass er uns vor ihm gerecht macht – 112  Außerdem gilt, dass soziale Unterschiede oder Geschlechtsunterschiede für die Gottesgemeinschaft gleichgültig sind: „Da ist nicht Jude noch Grieche, nicht Sklave noch Freier, nicht Mann noch Frau, denn ihr seid alle einer in Christus Jesus“ (Gal. 3,28).

c)  Die These: 1,16–17



43

er schenkt darin seine rettende Gemeinschaft. Kurz: die göttliche Heilskraft des Evangeliums liegt in der Rechtfertigung des Gottlosen (4,5) allein durch Glauben (3,21 f.): Indem der Mensch, der sich selbst in der tödlichen Gottesferne erkennt (1,18 ff.), dem Evangelium glaubt, dass Christus hier zu ihm gekommen und seinen Tod gestorben ist, lebt Christus (die geschenkte Gemeinschaft Christi) in ihm. Der Begriff der Offenbarung der Gerechtigkeit steht hier in einer vielfältigen jüdischen Tradition. Gott setzt seine Gerechtigkeit durch, d. h. das, was er seinem Heilsplan entsprechend mit uns vorhat.113 Das kann die endzeitliche Enthüllung des menschlichen Lebens im Gericht Gottes einschließen.114 Insofern kann hier als Skopus des Evangeliums angenommen werden, dass bereits die Sendung des Sohnes oder sein Kreuz die Gerechtigkeit Gottes vollzieht, indem sie uns das Leben als Gerechte aus Glauben eröffnet. Am Kreuz ist zum einen die Wahrheit der Sünde offenbart und schenkt Gott zum anderen den Sündern seine Gemeinschaft in Christus. Das ist die Grundbotschaft des ganzen Römerbriefs, mindestens aber des 1. Teils: vgl. 3,26.28; 4,5.16; 5,1; auch 10,4 ff.   Das Zitat von Habakuk 2,4 (vgl. auch Gal. 3,10–13) deutet dabei an, dass schon im ursprünglichen Bund die Gerechtigkeit nicht primär im Tun des Menschen, sondern im Vertrauen liegt – und dass eben dieser Glauben sich nun, als Glauben auch der Völker, auf die endgültige Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in Christus bezieht.   Wie aber ist es zu verstehen, dass die Gerechtigkeit Gottes aus Glauben offenbart wird zum Glauben oder für den Glauben? Vielleicht ist damit gesagt, dass der Glaube des Evangeliums (der geschenkten Rechtfertigung) dazu führt, es zu verkündigen – was wiederum auf die weitere Ausbreitung der Gerechtigkeit (Gottesgemeinschaft) zielt, indem sie geglaubt wird.115 Denn die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes in der geschenkten Rechtfertigung des Sünders, indem sie verkündigt wird, vollzieht diese Gerechtigkeit, indem sie Glauben findet.

Mit der These, dass das Evangelium die Gerechtigkeit Gottes offenbart, entfaltet Paulus seine Bedeutung und Kraft in der Sprache des Bundes, die im Kontext der allgemeinen, nicht nur die Heiden sondern auch die Juden beherrschenden Sünde (1,18 ff.) in einem weiteren Sinn juristisch erscheint, sofern sie nämlich die Entscheidung des Gottesverhältnisses als Situation des Gerichts beschreibt. Vereinfacht heißt das: Das dem Bund Gottes mit dem Volk unter der Bedingung der Sünde entsprechende Gesetz bedeutet, dass der Sünder angeklagt ist und im Gericht Gottes das Urteil erwarten muss, das ihm seine Wahrheit zuspricht. Das Gesetz fordert Gerechtigkeit, d. h. kurz und vorläufig gesagt: die Gemeinschaft der Gottes- und Nächstenliebe. Andererseits bewahrt die alttestamentliche Rede von der Gerechtigkeit Gottes auch die Gewissheit, dass das Gottesverhältnis Israels ursprünglich das Geschenk seiner Gemeinschaft ist  – die Gerechtigkeit Gottes und der Menschen setzt Gemeinschaft voraus und bedeutet, ihr zu 113 Vgl.

M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 122 f. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 86 f. 115 Anders M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 126, der hier nur einen Ausdruck dafür sieht, dass die Offenbarung der Gerechtigkeit völlig vom Glauben bestimmt ist. 114 Vgl.

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1.  Eingang: 1,1–17

entsprechen.116 Die Gerechtigkeit Gottes impliziert zwar, dass das Gesetz vom Menschen Gerechtigkeit fordert, zuvor aber auch, dass Gott das Heil der Gemeinschaft schenkt.117 Die Gemeinschaft des Bundes schließt also die Forderung der Entsprechung ein118 – und die Frage ist, was es für die Gerechtigkeit Gottes bedeutet, wenn die Macht der Sünde die menschliche Entsprechung unmöglich macht. Wenn in dieser Situation das Evangelium von Christus die Gerechtigkeit Gottes offenbart, die aus Glauben kommt, und so Gott durch Verkündigung und Glauben diese Gerechtigkeit rettend (zum Heil) durchsetzt, dann schenkt er uns einseitig die Gerechtigkeit – dann setzt Gott seine Gerechtigkeit so durch, dass er uns durch das Evangelium von Christus und unseren Glauben gerecht macht. Eben daran knüpft sich das reformatorische Anliegen Luthers an. Es liegt nahe, hier an seinen 1545 verfassten Rückblick auf seinen reformatorischen Durchbruch zu erinnern, den er bei der Beschäftigung mit eben dieser Passage erreicht – was ihn auch zu seiner eigentümlich theologischen Übersetzung von Röm. 1,17 führte: Ich hasste nämlich dieses Wort, Gerechtigkeit Gottes, denn durch den Brauch und die Übung aller Doktoren war ich gelehrt worden, es philosophisch zu verstehen, von der (wie sie es nennen) […] aktiven Gerechtigkeit, durch die Gott gerecht ist und die Sünder […] straft. Ich liebte nicht, sondern hasste den gerechten und die Sünder strafenden Gott […] Bis ich, Tage und Nächte nachdenkend (meditabundus), auf den Zusammenhang der Worte achtete, nämlich: die Gerechtigkeit Gottes wird darin offenbart, wie geschrieben ist: Der Gerechte lebt aus Glauben. Da fing ich an, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als eine solche Gerechtigkeit, durch die der Gerechte durch Gottes Geschenk lebt, also durch Glauben […]. Jetzt fühlte ich mich ganz neu geboren und durch offene Tore in das Paradies selber eingetreten.119 Vielleicht unterschätzt Luther, dass schon im alttestamentlichen Sinn die Gerechtigkeit Gottes die Gemeinschaft impliziert. Doch schließt dieser alttestamentliche Sinn ja auch den Widerspruch gegen den Sünder ein, der die Gemeinschaft verwirkt. So ist das hier Entscheidende von Luther doch richtig erfasst: dass Gott mit dem Evangelium dem Sünder durch dessen Glauben seine Gemeinschaft schenkt und darin seine Gerechtigkeit vollzieht.   Heute mag die primäre ‚religiöse‘ Frage kaum mehr wie (auf unterschiedliche Weise) bei Paulus oder Luther als die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes erscheinen. Die so gestellte Frage setzt ja den Horizont des Gottesverhältnisses und hier die Relevanz des Gesetzes Gottes bereits voraus und fragt im Bewusstsein der herrschenden Sünde, wie ich der Forderung Gottes gerecht werden kann (so etwa auch Röm. 7,7 ff., wenn auch ohne den Kontext der Rede von der Gerechtigkeit Gottes). Wird heute überhaupt nach Gott gefragt, wird scheinbar noch grundsätzlicher zweifelnd nach der Wirklichkeit Gottes überhaupt gefragt: So wie wir die Welt selbstverständlich, mit unserem aufgeklärten Verstand verstehen, scheint Gott nicht erfahrbar. Andererseits realisiert ja auch die alte Frage 116 Gerechtigkeit meint dann die „Angemessenheit des Verhaltens innerhalb einer bestehenden Gemeinschaft“: M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 122. 117  Vgl. etwa Ps. 31,2; 51,16; Jes. 51,5 f. u. ö. 118  Vgl. etwa Ps. 36,11. 119  Vgl. WA 54, S. 185 f. (hier in eigener Übersetzung). Der Text findet sich auch  – mit anderer Übersetzung – in der LDStA Bd.2, S. 504,23–507,11.



c)  Die These: 1,16–17

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„wie werde ich vor Gott gerecht“ im Bewusstsein des ausweglosen Umsichselbstkreisens, das die Wahrheit der Sünde ist, eine fundamentale Getrenntheit von Gott. Auch die lutherische Frage nach der Gerechtigkeit Gottes dem Sünder gegenüber fragt grundsätzlich, wer Gott für uns ist. Zur Zeit des Paulus wie zur Zeit Luthers gilt ebenso wie heute: wenn Gott sich uns, den Getrennten, den wesentlich im Fürsichsein Gefangenen, nicht erneut zuwendet, kann er für uns allenfalls der ganz Unbekannte, der erschreckend Ferne sein. Das Evangelium aber, wenn es verstanden und geglaubt wird, bedeutet damals wie heute, in das Paradies einzutreten – die Erlösung von der Herrschaft des Fürsichseins und von seinem Tod, die Erlösung von der Sinnlosigkeit seines Lebens.

2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39 a)  Die faktische Gottlosigkeit Aller: 1,18–3,20 Gott vollzieht seine Gerechtigkeit, indem er uns Menschen gerecht macht. Er schenkt uns seine Gemeinschaft, indem wir uns auf die Liebe verlassen, die der Sohn bedeutet. So ist das Evangelium seine Kraft zum Heil. Dieser Gerechtigkeit geht aber unsere Ungerechtigkeit, die Sünde voraus. Die Gerechtigkeit Gottes impliziert notwendig das Gericht, also das Urteil über die Sünde, das uns zur Selbsterkenntnis bringt. Von der Sünde der Menschheit handelt der Abschnitt 1,18–1,32. Vom Gericht (insbesondere auch bei den Heiden) handelt 2,1–2,16 (auch möglich wäre die Einteilung: 1,32–2,16). Abschnitt 2,17–29 (oder: 2,17–3,4) erwägt, inwiefern das Gericht über die Sünde auch für die Juden gilt, die das Gesetz kennen und sich auf sein Tun berufen. Die Verse 3,1 (oder 3,5) bis 3,20 reden zusammenfassend vom Gericht über Juden und Heiden – von der Verkehrung und notwendigen Selbsterkenntnis aller. Diese Einsicht in Gottes Gericht über die Gottlosigkeit ist die Bedingung für die Relevanz des Evangeliums, welches (so dann 3,21 ff.) in Christus die Gerechtigkeit Gottes als geschenkte Rechtfertigung des Sünders offenbart, also als Gnade. aa)  1,18–32: Der Zusammenhang von Gottlosigkeit und Selbstsucht 18 Offenbart wird nämlich Gottes Zorn vom Himmel her über alle Gottlosigkeit (ἐπὶ πᾶσαν ἀσέβειαν) und Ungerechtigkeit der Menschen, die die Wahrheit durch Ungerechtigkeit niederhalten. 19 Denn was erkennbar ist von Gott, ist unter ihnen offenbar (oder: offenkundig); denn Gott hat es ihnen offenbart (kundgetan). 20 Denn seine Unsichtbarkeiten (τὰ ἀόρατα) werden seit Schöpfung der Welt in den (Schöpfungs-) Werken vernünftig (oder: als zu denkende) geschaut (Luther: Gottes unsichtbares wesen […] wird ersehen / so man des warnimpt an den Wercken): seine ewige Kraft (δύναμις) und Gottheit. Deshalb sind sie ohne Entschuldigung. 21 Denn obwohl sie Gott kannten, haben sie ihm nicht als Gott Ehre oder Dank erwiesen (Wolter: haben sie ihn nicht als Gott verherrlicht oder ihm gedankt), sondern sind dem Nichtigen verfallen in ihren Gedanken, und ihr unverständiges Herz wurde finster (oder: verfinstert). 22 Indem sie behaupteten, weise zu sein, wurden sie zu Toren 23 und vertauschten die Herrlichkeit des unvergänglichen Gottes mit der Gestalt eines Bildes des vergänglichen Menschen und von Vögeln,

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Vierfüßlern und Kriechtieren. 24 Deshalb hat Gott sie ausgeliefert in den Begierden ihrer Herzen an die Unreinheit, so dass ihre Leiber durch sie entwürdigt (oder: geschändet) werden. 25 Sie, die die Wahrheit Gottes in die Lüge verkehrten und die das Geschaffene verehrten und ihm dienten statt dem Schöpfer – der gepriesen sei in Ewigkeit, Amen. 26 Deshalb hat Gott sie übergeben (oder: preisgegeben an) schändlichen (oder: würdelosen) Leidenschaften. Ihre Frauen verkehrten nämlich den natürlichen Verkehr in den widernatürlichen; 27 ebenso verließen auch die Männer den natürlichen Verkehr [mit] der Frau und entbrannten in ihrer gegenseitigen Begierde; Männer mit Männern vollbringen sie Schande und empfangen den Lohn, der ihrer Verirrung notwendig ist, durch sich selbst. 28 Und weil sie es verworfen haben, Gott zu erkennen (oder: Gott zu haben in Erkenntnis; Wolter: an der Erkenntnis Gottes festzuhalten), gab Gott sie einem verwerflichen Denken preis (παρέδωκεν […] εἰς ἀδόκιμον νοῦν; besser vielleicht Luther: hat sie GOtt auch dahin gegeben in verkehrten sinn), das Unziemliche (oder: sich nicht Gehörende) zu tun: 29 Erfüllt von jeglicher Ungerechtigkeit, Schlechtigkeit, Habgier, Bosheit; voller Neid, Mord, Streit, List, Niedertracht. [Sie sind] Zuträger (Wolter: Ohrenbläser), 30 Verleumder, Gotthasser, Gewalttäter, Hochmütige, Prahlhänse, Erfinder von Schlechtigkeiten, den Eltern ungehorsam, 31 uneinsichtig, unzuverlässig, lieblos, erbarmungslos. 32 Obwohl sie Gottes Rechtsatzung (τὸ δικαίωμα, Rechtsforderung) kennen, dass die, die solches tun, des Todes schuldig sind, tun sie es nicht nur, sondern spenden auch denen Beifall, die es tun.

Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes, die Gemeinschaft schenkt, setzt die Offenbarung des Gerichts, des wahren Urteils über uns Menschen in unserer Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit voraus. Aber auch schon vor dem expliziten Urteil Gottes ist die Menschheit, sofern sie doch von Gott weiß, für ihre Gottlosigkeit auch verantwortlich. – Die Verse 1,18–32 handeln von der Gottlosigkeit der ganzen Menschheit, die primär in der Verehrung falscher Götter besteht und sekundär (als mit göttlicher Notwendigkeit ergehende Konsequenz) bedeutet, lebensfeindlichen, selbstsüchtigen Leidenschaften ausgeliefert zu sein.1 18 Was ist Gottes Zorn und wie wird er offenbart? Gottes Zorn ist nach jüdischer Tradition das gerechte, strafende Gericht über die Sünder – also das Gericht Gottes, das die Wahrheit der Sünde zur Geltung bringt und dem Sünder als Unheil oder Vernichtung2 vergegenwärtigt. Die Frage ist, inwiefern dies jetzt offenbart und d. h. vollzogen wird. Dass das Gericht vom Himmel her ergeht, ist eine Metapher dafür, dass es dem kollektiven Sünder unausdenkbar, von außen widerspricht. Das schließt aber insbesondere im Kontext des Evangeliums nicht aus, dass es menschlich begegnet. Es liegt nahe, dass Paulus die tradierte Vorstellung des endzeitlichen Gerichts Gottes unter dem Eindruck seiner Christuserfahrung transformiert 1  U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 96 f. zeigt, dass die Passage in ihrer Rhetorik und Motivik eine starke Parallele in Weish. 13 f. hat (z. B. den Zusammenhang von Götzendienst und Lasterkatalog betreffend). Ferner gibt es Parallelen im hellenistischen Judentum und in apokalyptischen Texten: vgl. ebd. S. 97–99 und M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 130. 2 Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 131.



a)  Die faktische Gottlosigkeit Aller: 1,18–3,20

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hat – wobei sich die Bedeutung des Kreuzes Christi und des Mitsterbens mit ihm (6,2–11) als entscheidend erweist. Die im Evangelium offenbarte Gerechtigkeit Gottes aus Glauben (1,17) kann von der Offenbarung des Zorns über alle Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit in 1,18 nicht getrennt sein. Es muss sich um dieselbe Gerechtigkeit handeln. Dann aber meint Paulus, dass die Offenbarung der mit Christus geschenkten Gerechtigkeit, die aus Glauben wirklich wird, die Offenbarung des Zorns unmittelbar voraussetzt – so wie etwa eben in der apostolischen, prophetischen Predigt.3 In diesem Sinn setzt die vorliegende Darlegung des Evangeliums eben die Darlegung des Gerichts unmittelbar voraus. Das Evangelium setzt die Todeswahrheit der Sünde voraus, die das Gericht, d. h. seine Predigt ausspricht. Deswegen gilt nach 1. Kor, 1,18, dass derjenige, der das Wort vom Kreuzestod Jesu nicht als Heil realisiert (Heil, weil hier der Sohn den Tod als Wahrheit unserer Sünde teilt), verloren ist – dass also in diesem Fall die Todeswahrheit der Sünde, die das Wort vom Kreuz ausspricht, Bestand hat.   Auch 2. Kor. 2,15 f. lässt sich so verstehen, dass die apostolische Predigt denen, die verloren werden, da sie die Zuwendung Gottes im Evangelium nicht ergreifen, den wahren Tod vergegenwärtigt. Die Predigt vergegenwärtigt die Entscheidung  – sie vollzieht das göttliche Urteil über die Sünde.

Die Offenbarung des Zornes Gottes ist also hier konkret die apostolische Predigt in Vollmacht Gottes (Christi), indem sie die Wahrheit des Sünders ausspricht: seinen (geistigen) Tod (1,32 ff.) – das Getrenntsein von Gott und den Menschen und sich selbst. Doch indem der Sünder diese Wahrheit in Selbsterkenntnis realisiert und als Mitgekreuzigtsein mit Christus erfährt, erfährt er auch die endzeitliche Gnade geschenkter Rechtfertigung und Gemeinschaft: „ich bin mit Christus gekreuzigt, […] Christus lebt in mir“ (Gal. 2,19 f.). Zwar gehört dieser Zusammenhang von Gericht und Gemeinschaftsvollzug für Paulus schon in das Kraftfeld der endzeitlichen Entscheidung Gottes. Doch schließt das ein (wie gleich die Verse 2,5 f. verdeutlichen werden), dass die letztgültige und allgemeine Offenbarung des Gerichts und des Zornes auch noch aussteht und von der apostolischen Predigt nur vorweggenommen wird. Dass die apostolische Predigt jetzt das Gericht Gottes offenbart, schließt natürlich nicht den Gedanken einer abschließenden Wiederkunft Christi und eines allgemeinen Gerichtes aus. Doch durch die im Glauben begonnene Christusgemeinschaft kann die endgültige Gotteswahrheit getrost erwartet werden. Für den sich auf das Kreuz Christi Verlassenden ist das Gericht über die Sünde als grundsätzliche Entscheidung zwischen Heil und Unheil, Leben und Tod bereits geschehen.4 3  Ähnlich versteht es u. a. auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 102 f.; anders M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 102 f. 4  Für das Johannesevangelium bedeutet entsprechend der Glauben an die Gemeinschaft von Vater und Sohn, an der die Glaubenden teilhaben, dass für sie das noch ausstehende Gericht ganz zu vernachlässigen ist: „Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen“ (Joh. 5,24).

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Gottes Widerspruch bezieht sich auf „Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit“. Der Mensch ist darin gottlos, dass er Gottes Gesetz nicht folgt – nicht aus der Gemeinschaft der Liebe Gottes und der Gemeinschaft der Menschenliebe lebt, in der die Gerechtigkeit besteht. So unterdrücken die Menschen die Wahrheit Gottes nicht nur für sich, sondern auch im täglichen Verhältnis zu den anderen Menschen.5 Denn der Wahrheit Gottes in seiner schöpferischen Kraft (Vers 20) ist nicht nur im Erweisen von Ehre und Dankbarkeit zu entsprechen (Vers 21), sondern seine Wahrheit vollzieht sich auch in jener Gemeinschaft. 19–20 Nun begründet Paulus die Verantwortlichkeit der Menschen vor Gott. Er nimmt ein ursprünglich allen Menschen zukommendes Bewusstsein des einen und wahren Gottes an – obwohl die Annahme eines einzigen Gottes nur für die Juden und Judenchristen sowie anders für die klassischen, griechisch philosophischen Ansätze zum Monotheismus etwa im Sinne Platons vorauszusetzen war. Alle Religionen der antiken Umwelt waren polytheistisch, mit mehr oder weniger henotheistischen Tendenzen – Paulus deutet dies in der Folge als Abfall von einem ursprünglichen Offenbarsein Gottes. Scheinbar ist hier die Frage der sog. natürlichen Theologie aufgerufen, die schon in der Reformation, dann erneut seit dem 18. Jahrhundert und verschärft noch einmal in der evangelischen Theologie des 20. Jahrhunderts grundsätzlich diskutiert wurde  – also 1. die Frage, ob und inwieweit der Mensch mit seiner natürlichen Vernunft Gott erkennen kann, insbesondere aus der Natur, etwa im Rückschluss auf einen ersten Grund oder Verursacher, und 2. die Frage, wie sich dazu die geschichtlich kommunikative Offenbarung Gottes durch Menschen oder als Mensch verhält, also die Offenbarung, die sich durch das menschliche Gespräch vermittelt.

Sofern die These der natürlichen Theologie Vernunft und Offenbarung trennt, kann sie sich aber kaum auf Paulus berufen. Zwar geht Paulus von einem ursprünglich allgemeinen Erkennen Gottes aus, das in der Tat Vernünftigkeit voraussetzt. Doch das Erkennbare Gottes ist offenbar: seine unsichtbare, ewige Kraft und Gottheit. Seine Kraft ist offenbar, indem wir sie aus ihren Wirkungen vernünftig wahrnehmen können – eben aus der Schöpfung. Paulus nimmt also an, dass es eine vernünftige Wahrnehmung ist, wenn die Menschen die Welt (vielleicht auch: Weltgeschehen) als Werk Gottes wahrnehmen, als Ausdruck der Kraft des Einen, Unsichtbaren. Die Frage ist: was heißt hier vernünftig? Die Kommentare verweisen hier auf zeitgenössische philosophische, auch populär verbreitete Argumentationen der mittleren Stoa, die etwa von einem hellenistisch-jüdischen Autoren wie Philon aufgenommen wurden, nach denen die Ordnung des Kosmos auf den einen Gott zurückzuführen sei.6 Wenn von Paulus im Folgenden die Götterbilder der Religionen als nichtig kritisiert werden – nimmt er hier entsprechend den Anspruch auf Vernünftigkeit einer philosophischen Kritik polytheistischer Religion auf, wie er schon mit der Suche nach einem ersten Prinzip bei Parmenides und Empedokles verbunden 5  6 

Vgl. auch gleich 2,8: Der Ungerechtigkeit gehorchen heißt, der Wahrheit nicht gehorchen. Vgl. z. B. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 139 f.



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ist und sich weiter bei Platon, im Gottesbegriff bei Aristoteles oder in der Theologie der Stoa positiv ausformulierte? Die Frage muss offen bleiben. Will man aber eine Rezeption philosophischer Polytheismuskritik annehmen, so wäre dies wohl so zu verstehen, dass Paulus von einem grundlegenden Offenbarsein Gottes ausgeht, das sich in entsprechenden philosophischen Reflexionen ausdrückt, wie er sie vielleicht aus dem hellenistisch gebildeten Judentum kennt. Ein solches philosophisches Gottesbewusstsein widerspräche für ihn aber offensichtlich nicht der allgemeinen Gottlosigkeit.

Heute müsste eine Argumentation, die nach der Analogie des Verhältnisses zwischen einem menschlichen Handwerker und seinem Werk von der Natur auf Gott als Urheber schließt, im Kontext der Einsicht in die physikalische und biologische Evolution als unvernünftiger Kreationismus gelten. Dagegen nach einer – an sich verborgenen, unsichtbaren – Einheit des Grundes der Welt zu fragen oder auch ihre Evidenz anzunehmen, könnte durchaus auch heute vernünftig heißen. Lässt sich so die Annahme des Paulus verstehen und bejahen, dass eine vernünftige Wahrnehmung der Welt Gottes ewige Kraft erkennt? Wenn man es so verstünde, so bliebe doch das Problem, dass auch ein solcher Grund der Welt nicht einfach mit dem Gott des Evangeliums zu identifizieren wäre – und überhaupt nicht mit einem Gott, zu dem ein Verhältnis bestehen kann. Erst indem Gott seine Gemeinschaft kommuniziert, kann er sich darin auch als Grund der Welt zu verstehen geben.

Festzuhalten ist, dass die allgemeine Erkenntnis Gottes, die Paulus annimmt, nicht in einem Akt autonomer Vernunft besteht, die etwa von der Welt auf Gott schließt. Überhaupt darf Paulus nicht ein heutiger Vernunftbegriff unterstellt werden. Vernunft ist bei Paulus nicht wie im Gefolge der Aufklärung als autonomes Erkenntnisvermögen des Menschen zu verstehen, sondern (hier jedenfalls) als Fähigkeit, die Wahrheit der Welt im Ganzen zu vernehmen – die Welt im Ganzen als Ausdruck von Gottes Kraft. Vernunft ist also die Fähigkeit, eine an sich selbst offenbare Wahrheit des zugleich für die Sinne Unsichtbaren zu vernehmen. „Gott hat es ihnen offenbart“. Der Mensch versteht Gott in seiner Kraft, weil sie sich im Ganzen der Schöpfung zeigt. Das Sehen der Unsichtbarkeiten Gottes ist kein gegenständliches Sehen, wie etwas innerweltlich wahrgenommen wird. Vielmehr bedeutet es, die ganze Welt in ihrer (gegenständlich unsichtbaren) Wahrheit zu sehen – ein Sehen, was ein Denken ist.7

Was aus dem Gottesbewusstsein folgt, ist die Verantwortlichkeit des Menschen für die Sünde vor Gott. Nur wenn Gott bewusst ist, ist der Mensch auch vor Gott verantwortlich  – denn die Gotteserkenntnis impliziert konkret auch eine bestimmte Kenntnis des göttlichen Rechts oder Gesetzes, auch unter den Völkern (1,32; 2,14 f.). 7  Zu entsprechend platonisch-stoischen Ansätzen der Zeit vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 139.

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Auch wenn vorausgesetzt wird, dass das Gottesbewusstsein auch ein Bewusstsein göttlichen Rechts umfasst, ist doch zu fragen, ob Paulus die allgemeine Verantwortlichkeit der Menschen, also auch der polytheistischen Heiden, vor dem einen, wahren Gott für uns überzeugend dargelegt hat.  Religionsgeschichtlich scheint heute ausgeschlossen, dass eine ursprünglich allgemeinmenschlicher Monotheismus vorauszusetzen ist, dem gegenüber der Polytheismus historisch sekundär (eine Verfallserscheinung) ist. Vielmehr kann der Monotheismus gegenüber älteren animistischen und polytheistischen Religionsformen als Ergebnis einer geistesgeschichtlichen Entwicklung gelten, die gleich ursprünglich das menschliche Selbstbewusstsein und Weltbewusstsein umfasst – erst indem sich der Mensch als Erkenntnissubjekt einer Welt im Ganzen gegenüber weiß, kann er auch die Rede von dem einen, welttranszendenten Gott verstehen. Dieser allgemeine religionsgeschichtliche Zusammenhang gilt zunächst auch abgesehen von der Frage, wie theologisch in einer solchen Entwicklung ein Wirken Gottes selbst zu denken wäre.   Aber was bedeutet das für die theologische Frage der Verantwortlichkeit aller Menschen vor Gott? Paulus nimmt ja später an (2,14 f.), dass auch das Gewissen der – polytheistischen – Heiden bezeugt, dass sie das Gesetz Gottes kennen und sogar in bestimmten Grenzen tun, wenn auch nicht als Gesetz des einen Gottes. Diese Annahme lässt sich systematisch vielleicht dahingehend erweitern, dass sich auch im polytheistischen Bewusstsein des Göttlichen ein echtes Gottesbewusstsein identifizieren lässt, dem das Gewissen entspricht. Eine solche Erweiterung scheint aber den folgenden Vesen 21–23 zu widersprechen – außer man wollte hier den faktischen Götzendienst von einer ursprünglichen Wahrheit der entsprechenden Religionen (etwa im Sinne von Apg. 14,16 f. oder Apg. 17,26–29) unterscheiden – was aber vom Wortlaut nicht gedeckt ist.

21–23 Die Gottlosigkeit, für die die Menschen verantwortlich sind, besteht darin, Gott, um dessen Gottheit und Kraft sie wissen, nicht zu verherrlichen und ihm zu danken. Auch wenn Gott als unverfügbares Gegenüber sich den Menschen noch nicht zum Bund öffnet, so schenkt er ihnen doch Welt und Dasein. Die Erkenntnis der Gottheit müsste ihr ganzes Leben bestimmen, vor allem zum Dank. Statt dessen sind sie in ihrem Denken dem Nichtigen verfallen  – und zwar so, dass dieser Abfall das Denken und Leben im Nichtigen verstrickt: Eine Rückkehr zum Bewusstsein Gottes ist von selbst nicht möglich (die unverständigen Herzen wurden verfinstert). Wie wäre das Verhältnis zwischen der ursprünglichen Kenntnis Gottes und der aus seiner Nichtverherrlichung folgenden Verfinsterung des Herzens, das nun Gott töricht verkennt, zu denken? Vielleicht so, dass das Bewusstsein der Gottheit Gottes nur noch als Grenze und Krise des das Leben orientierenden Denkens möglich ist.

Die Nichtigkeit ist zum einen die Nichtigkeit der Götzen, an denen die Menschen ihr Leben orientieren, zum anderen eine Nichtigkeit des Lebens und Denkens. Indem sie, statt Gott in seiner unsichtbaren Wirklichkeit zu vernehmen und anzuerkennen, sich für ihr Leben sichtbare, selbst hergestellte Götter einsetzten, ist Nichtigkeit die verborgene Wahrheit ihres Lebens. Denn statt dass das Leben im Verhältnis zu Gott und dem entsprechenden Verhältnis zur Schöpfung seine Bestimmung erfährt (selbst wenn dies noch nicht im Sinne der Gemeinschaft



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des Bundes oder des Evangeliums geschieht), bleibt der Mensch im Kult der von ihm selbstgemachten Götter absolut mit sich allein. Paulus folgt hier der jüdischen Tradition.8 Die Verehrung von Götterbildern in Menschen- oder Tiergestalt (letzteres zielt vor allem auf ägyptische Kulte), wie sie in den Tempeln der Antike verbreitet sind, verfehlt den lebendigen Gott und ist unvernünftig, eine Torheit. Dabei geht es aber nicht um einen Irrtum, der durch einen einfachen Erkenntnisakt zu beheben wäre, sondern um eine das ganze Leben und Denken bestimmende Verkehrung: Die Zusammenfassung in Vers 25 formuliert als Skopus, dass „das Geschaffene“ an Stelle des Schöpfers zur orientierenden, sinngebenden Lebensmitte geworden ist. Indem diese Vergötterung des Geschöpflichen eine Tat des Menschen selber ist, ist er selber die Wahrheit seiner Götter – er bleibt im Verhältnis zu ihnen mit sich allein. Für uns ist der religiöse Polytheismus irrelevant. Aber schon auch Luther übetrug die Diagnose einer allgemeinen Verehrung falscher Götter auf einen nicht offensichtlich religiösen, aber sozusagen funktionalen Polytheismus: Woran du dein Herz hängst und worauf du dich verlässt, woran du glaubst, das ist dein Gott9 – was eine Fragmentierung des Lebens durch möglicherweise viele, teils mehr individuelle (mein Besitz, meine Anerkennung), teils mehr kollektive (mein Verein, meine Familie) Götter einschließen kann.

24–25 Aus der Verfehlung des Gottesverhältnisses, der Anbetung nichtiger Götter ergibt sich eine Verkehrung des Lebens überhaupt, insbesondere des Zusammenlebens mit den Anderen. Und zwar versteht Paulus dies so, dass Gott die Menschen dieser Verkehrung ausliefert (diese Konsequenz wird dreimal ausgeführt: in Vers 24, mit Bezug auf Vers 25 in den Versen 26 f., sowie in den Versen 28–32). Das lässt sich so interpretieren10, dass Gott den Menschen, der sich abgekehrt hat, zunächst sich selbst überlässt, ihm also nicht sogleich (wie in der Gegenwart) durch Gericht und Evangelium widerspricht. Weil im Verhältnis zu den geschöpflichen Dingen, zu den anderen Menschen und auch zu sich selbst (zum eigenen Leib) die wahre Orientierung fehlt, die im Verhältnis zu Gott als dem Schöpfer und wahren Gegenüber liegt, verselbständigen sich vielfältige Begierden gegenüber dem vermeintlich herrschenden Selbst. Das ergibt sich also aus dem sich selbst Überlassensein – ist der Mensch von Gott getrennt, gerät der Mensch in Selbstwidersprüche, weil sein Begehren sinnlos wird und ihn beherrscht. Es handelt sich nicht einfach um leiblich geschöpfliche Begierden als solche, sondern um Begierden „des Herzens“. Das heißt, gleich ob unmittelbar leiblich oder eher geistig begehrt wird, es handelt sich um ein Begehren, welches das 8  Zum Hintergrund (insbesondere im Blick auf Ex. 32, Ps. 94 u. a., aber auch Philo) vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 143 f. 9  Vgl. z. B. WA 47, S. 357 f.; 30I, S. 133. 10  So schon von Augustinus in De civitate Dei im Blick auf die Verdammung des Menschen nach dem Sündenfall (vgl. etwa DcD XIV,15 und dazu T. Kleffmann, Erbsündenlehre, S. 74–78).

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zum Gottesverhältnis bestimmte Selbst in Anspruch nimmt: Durch sein Erfüllen verdrängt der Mensch das Fehlen des Gottesverhältnisses, also der Lebensmitte (so verstehe ich in Vers 25 das subjektive Moment der Lüge, in der der Mensch die Wahrheit Gottes ersetzt – was wiederum der Verfinsterung des Herzens entspricht). Dies geschieht in Gestalt sozusagen von Süchten11, die ihn beherrschen, also Unfreiheit bedeuten. Ganz im Sinne des späteren theologischen Begriffs der Konkupiszenz gebraucht der Mensch zwanghaft Menschen und Dinge für sich, für die Begierde seines Herzens. Dass dies Unreinheit bedeutet, ist von der jüdischen Vorstellung kultischer Reinheit her zu verstehen, die hier vermutlich (wenn auch nicht ausschließlich) sexuell konnotiert ist.12

Genau genommen kommt die Unreinheit durch die Begierden des Herzens; in ihr zeigt sich die Verkehrung des Herzens in erster Linie: Das geschöpfliche Dasein, die Leiber, die Medium der Gottes- und Menschenliebe sein sollen, Tempel des heiligen Geistes (1. Kor. 6,19), werden zum Medium eines ausschließlich selbstbezogenen Gebrauchens der anderen Geschöpfe, das dem göttlichen Schöpfungssinn widerspricht. Das aber bedeutet ihre Entwürdigung. Die Verse 26–27 führen das in Vers 24 Gesagte aus. Dabei wird auf eine für uns schwer nachvollziehbare, kulturgeschichtlich bedingte Weise die Bedeutung sexuellen Begehrens stark betont. Systematisch ließe sich dies allenfalls so einordnen, dass hier eine sich verselbständigende, nicht am Sinn des geschöpflichen Daseins orientierte Sexualität als signifikantes Beispiel eines dem schöpfungsmäßig kommunikativen Sinn widersprechenden und insofern zerstörerischen Beherrschtseins von Begierden und Leidenschaften13 erscheint. Die verallgemeinerte Rede von Frauen und Männern kann ohnehin nicht wörtlich gemeint sein. Dabei bezeichnet Paulus wiederum nicht Leidenschaften als solche als verkehrt, sondern solche, durch die sich der Mensch entwürdigt, weil sie, indem sie ihn beherrschen und ihrer schöpfungsmäßigen Bestimmung widersprechen, seine (geistige) Orientierungslosigkeit, sein Bestimmtsein durch das Nichtige zeigen. Dass als Maßstab der Verkehrung die Natürlichkeit des sexuellen „Gebrauchs“ gilt, knüpft insofern an geläufige hellenistisch-philosophische Positionen an14 und kann sich nur auf den biologisch geschöpflichen Sinn des Kinderzeugens beziehen. Konkret hat Paulus hier insbesondere bei Männern praktizierte Homosexualität im Blick (für die Frauen wird der widernatürliche „Gebrauch“ nicht ausgeführt), wobei aber an eine sexuelle Orientierung gar nicht gedacht ist, sondern nur an die Praxis. Damit folgt er einem traditionell jüdischen Bild der Verkommenheit der heidnischen hellenistischen Gesellschaften. Zwar waren in ihnen in der Tat neben etwa der Päderastie eben auch Ho11 

Vgl. dazu gleich die Ausführung zu den Versen 26 f. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S.108 f.; M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 146. 13  „Leidenschaft“ ist erst seit dem 18. Jahrhundert als Übersetzung von πάθος gebräuchlich (vorher gibt es das Wort nicht); Luther übersetzt noch mit „Lüste“. 14 Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 149 f. 12 Vgl.

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mosexualität teils kulturell anerkannt. Doch gab es ebenso Kritik. Jedenfalls ist deutlich, dass Paulus hier ein „jüdisches Stereotyp“ der Abgrenzung von den Völkern (Heiden) wiedergibt.15

Sehen wir von der (nicht spezifisch christlichen) kulturgeschichtlichen Bedingtheit des Textes ab, so ist hier systematisch lediglich festzuhalten, dass die Gottlosigkeit, das Verehren von falschen Göttern, indem Gott den Menschen sich selbst überlässt, dazu führt, dass das Für-sich-Begehren des Anderen zum beherrschenden Prinzip des Lebens wird. Ergänzen ließe sich die These, dass dabei der Zwangscharakter als Sucht (das dauerhafte Beherrschtsein) nicht nur in der Struktur der Begierde selbst besteht, sondern in der Notwendigkeit, die Orientierungslosigkeit oder Leere des von Gott isolierten Selbst zu verdrängen. Der Mensch, den das Prinzip des Für-sich-Begehrens des Anderen beherrscht, bleibt darin mit sich allein. Deswegen ist die entsprechende Kommunikation ein Selbstwiderspruch (in sich eine Lüge). Zudem bedeutet sie (als Erfahrung sozusagen der Sucht) eine Selbstentfremdung des Menschen – eine mindestens virtuelle16 Entfremdung zwischen dem „Ich“ des Lebens und dem Beherrschtsein von dem, was er für sich begehrt. Und schließlich ist so der Leib, das leibliche Kommunizieren (sofern es denn Medium dieses verkehrten Begehrens ist) seines schöpfungsmäßigen Sinns und seiner Bestimmung zur menschlichen Gemeinschaft entfremdet. Das Gegenbild dazu wäre also die Bestimmung des schöpfungsmäßig leiblichen Begehrens durch eine Liebe, die dem göttlichen Gesamtsinn von Schöpfung und Menschsein, dem göttlichen Geist der Gemeinschaft entspricht. Im Fall sexuellen Begehrens könnte das bedeuten, dass es Moment eines Liebesverhältnisses ist, das die dauerhafte, gemeinsame Hingabe für Kinder einschließt.

Ein solches Leben ist sich selbst sein Lohn oder besser: seine Strafe (Vers 27). Paulus diagnostiziert also, dass das suchtmäßige Beherrschtsein durch die Begierden des Herzens am Ende nur als elementares Unglück erfahren werden kann. Wenn nicht nur analog zu den Versen 21–24 die verkehrte Leidenschaft als Strafe für die Verirrung der Gottlosigkeit gemeint ist, ist der Gedanke, dass dieses Leben an sich (durch sich) selbst seine Strafe ist, vielleicht auf die Dialektik jeder selbstsüchtigen Begierde zu beziehen: dass die Befriedigung des Augenblicks, weil ihr der Zusammenhang mit dem wahren (göttlichen), verbindenden Sinn der Welt, des Daseins, der zwischenmenschlichen Kommunikation fehlt, im notwendigen Moment der Reflexion einem gesteigerten Aufsichselbstgeworfensein weichen muss, einer intensiveren Leere  – die eine erneute Flucht ins Begehrte und eine Steigerung seiner Dosis notwendig macht.17 15 

Vgl. ebd. S. 153. Sie wird durch das Gesetz real: vgl. später 7,8–25. 17  Vgl. zur Sache T. Kleffmann, Grundriß der Systematischen Theologie, dort in der Sündenlehre S. 94 f., ferner P. Tillich zur Konkupiszenz, in: Systematische Theologie II, 16 

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28–31 Paulus sagt dasselbe (parallel zu den Versen 21–27) noch einmal, nun aber nicht in der spezifisch jüdischen Perspektive auf sexuell bestimmte Verkehrungen des Zusammenlebens bei den vom Polytheismus geprägten Völkern der Umwelt, sondern erweitert auf alles, was sich menschlich als Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit identifizieren lässt. Indem die Menschen das gegebene Erkennen Gottes nicht bewahrten, überlässt dieser sie einem verkehrten Sinn ihres Lebens, einer verkehrten Logik ihres Lebens. Aus der verkehrten Weise, das Leben zu denken, ergibt sich alle Ungerechtigkeit und Schlechtigkeit. Wie schon die Formulierung vom verwerflichen Denken die Sprache hellenistisch-philosophischer Ethik aufnimmt18, so ist auch der folgende sog. Lasterkatalog als literarische Form hellenistisch geläufig, aber auch jüdisch rezipiert. Paulus will also daran anknüpfen, dass das, was als Folgen der Abkehrung von Gott zu verstehen ist, auch schon in der hellenistischen Welt und überhaupt bei allen Menschen als verkehrt diagnostiziert werden konnte.   Da es sich um eine bloße Aufzählung der Verkehrungen handelt, die zudem ungeordnet ist, wirkt das Ganze pauschal. Es geht um den Ausdruck aller Verkehrtheit, nicht um eine konkrete Analyse. So bezeichnen die ersten vier Begriffe die Verkehrtheit eher allgemein. Dabei ist Ungerechtigkeit insbesondere für jüdisches Denken der Oberbegriff. Nur die allgemeine Habgier veranschaulicht schon konkreter das herrschende Für-sich-Begehren. Daran schließen sich an entsprechend selbstsüchtige Verhaltensweisen (Mord, Streit usw.) sowie entsprechende menschliche Eigenschaften (bzw. das entsprechende Fehlen der Eigenschaften der Liebe).

Vers 32 enthält die zum einen zusammenfassende, zum anderen vorgreifende Konsequenz: Die Menschen, die eigentlich Gott kennen, kennen auch seine Forderung für das menschliche Leben – zwar nicht das Israel offenbarte Gesetz als solches, aber doch Gottes Rechtsforderung. In 2,14 f.(26) führt Paulus aus, dass sich die Heiden in ihrem Gewissen selbst das Gesetz sind; das Werk des Gesetzes ist in ihr Herz geschrieben. Das und die Frage, wie sich dazu die Gotteskenntnis verhält, ist später aufzugreifen. Vorab nur soviel: offenbar nimmt Paulus an, dass dem Bewusstsein der Kraft Gottes als Schöpfer das Bewusstsein einer auf ihn zurückgehenden, quasi natürlich gegebenen, schöpfungsgemäßen Lebensordnung entspricht, die Gerechtigkeit und Gemeinsinn fordert und auch dem Dekalog (hier in seiner 2., das zwischenmenschliche Verhältnis betreffenden Tafel) entspricht.

So entspricht dem verkehrten Tun, das aus dem Götzendienst folgt, doch auch das mindestens untergründige Bewusstsein, dass solches Leben in Wahrheit tot ist. Paulus schreibt freilich: Sie wissen, dass sie im Urteil Gottes den Tod – als Strafe – verdienen.19 Der Skopus ist aber im Kontext des Evangeliums nicht, dass Gott sie vernichten Berlin u. a. 1987, S. 60–64. Zur Sucht als Bild der Sünde bei Paulus vgl. zudem W. Pannenberg, Anthropologie, Göttingen 1984, S.114 f. 18 Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 155. 19  Vgl. gleich 2,6–8.

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wird, sondern die notwendige Selbsterkenntnis der Sünder – die Selbsterkenntnis, dass sie in Gottes Urteil den Tod, die letzte Beziehungslosigkeit als ihre Wahrheit erkennen müssen.

Doch zum Leben in der Verkehrtheit gehört es, jeden Ansatz zur Selbsterkenntnis in ihrer Wahrheit zu unterdrücken – und zwar kollektiv: die Sünder bestätigen sich gegenseitig in diesem Leben. bb)  2,1–16: Das Gericht Gottes widerspricht der Selbstgerechtigkeit aller – es richtet nach der Lebenswirklichkeit sowohl derer, die das Gesetz (des Bundes) kennen, als auch derer, die es nicht kennen 1 Darum bist du unentschuldbar, o Mensch, jeder, der richtet (Luther: wer du bist / der du richtet). Worin du nämlich den anderen richtest, verurteilst du dich selbst; denn dasselbe tust du, der du richtest. 2 Wir wissen aber, dass das Gericht Gottes in Wahrheit über die ergeht, die solches tun. 3 Denkst du etwa, o Mensch, der du die richtest, die solches tun, und es [selbst] tust, dass du dem Gericht Gottes entfliehen wirst? 4 Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte und Geduld und Langmut, indem du verkennst, dass die Güte Gottes dich zur Umkehr (zur Buße: εἰς μετάνοιάν) führt (oder: führen will)? 5 Mit deinem Starrsinn und nicht umkehrgesinnten Herzen (Luther: nach deinem verstockten und unbußfertigen Hertzen; κατὰ δὲ τὴν […] ἀμετανόητον καρδίαν)20 häufst du dir selbst Zorn auf für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichts Gottes, 6 der jedem nach seinen Werken vergelten (zurückgeben) wird: 7 Den einen, die mit ihrem Beharren im guten Werk Herrlichkeit, Ehre und Unvergänglichkeit erstreben, ewiges Leben (oder: den einen entsprechend ihrem Beharren im guten Werk Herrlichkeit, Ehre und Unvergänglichkeit als solchen, die ewiges Leben erstreben); 8 den anderen aber aus Selbstsucht (ἐξ ἐριθείας; Luther: denen, die da zänckisch sind) und weil sie der Wahrheit ungehorsam, aber der Ungerechtigkeit gehorsam waren, Zorn und Grimm. 9 Bedrängnis und Angst über jede Seele eines Menschen, der das Böse tut, des Juden zuerst, und auch des Griechen; 10 Herrlichkeit aber, Ehre und Friede jedem, der das Gute bewerkstelligt, dem Juden zuerst und auch dem Griechen. 11 Denn es gibt kein Ansehen der Person bei Gott.   12 Welche nämlich ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz zugrunde gehen; und die, die mit (oder: unter) dem Gesetz gesündigt haben, werden durch das Gesetz verurteilt werden. 13 Denn nicht die Hörer des Gesetzes sind gerecht bei Gott, sondern die Täter des Gesetzes werden gerechtfertigt werden. 14 Wenn nämlich Heiden, die das Gesetz nicht haben, von Natur (φύσει) aus die Dinge (oder: Forderungen) des Gesetzes tun, so sind diese, die das Gesetz nicht haben, sich selbst Gesetz. 15 Diese zeigen das Werk des Gesetzes als geschrieben in ihren Herzen (Luther: sie beweisen / des Gesetzes Werck sey beschrieben in ihrem Herzen), wobei Zeugnis gibt ihr Gewissen und die Gedanken, die sich gegenseitig anklagen und verteidigen, 16 an jenem Tag, an dem Gott das Verborgene der Menschen richtet, nach meinem Evangelium, durch Christus Jesus. 20 

Die Formulierung findet sich im Neuen Testament nur hier.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Da ihm grundsätzlich eine Gotteserkenntnis gegeben ist, ist der Mensch für seine Gottlosigkeit, d. h. seinen Götzendienst, und das sich daraus ergebende vielfältige Beherrschtsein vom Für-sich-Begehren vor Gott verantwortlich. Nun bringt Paulus das allgemeine Gericht Gottes zur Geltung, das diese Verantwortung realisiert und die Wahrheit offenbart und vollzieht. Es muss dabei der allgemeinen Selbstgerechtigkeit widersprechen, die ein wesentlicher Modus der Verkehrung ist – und zwar sowohl bei denen, die das Gesetz Gottes als solches, als geschichtlich gegebenes kennen (dazu weiter 2,17 ff.), als auch bei den Anderen. Gott richtet nach dem wirklichen Leben des Menschen. Die Frage ist, ob das vom Gesetz als das Gute und Gerechte geforderte (die Gemeinschaft) wirklich getan wurde. Ob der Mensch das Gesetz Gottes als solches kennt (wie die Juden) oder nicht (wie die Anderen), ist dafür nicht entscheidend. Bei den Heiden, auch wenn es ihnen nicht als solches gegeben ist, ist nicht nur eine ursprüngliche (wenn auch verstellte) Gotteserkenntnis vorauszusetzen, sondern offensichtlich gibt es bei ihnen auch ein Bewusstsein des Guten – und auch Ansätze, ihm zu entsprechen. Die Predigt des Gerichtes durch den Apostel (oder hier: die entsprechende Lehre) aber nimmt das endgültige Gericht Gottes vorweg. Möglich macht dies die Geduld Gottes, die auf die Umkehr der Menschen durch das Evangelium zielt. Systematisch ist vor allem das Verhältnis zwischen dem Endgericht Gottes und seiner Vorwegnahme in der (auf das Evangelium zielenden) Predigt zu klären. Außerdem ist vorab zu klären, wie sich das Gericht des wirklichen Lebens, die Gerechtsprechung nur angesichts des Tuns des Gesetzes, zur Rechtfertigung allein durch Glaube an Christus verhält.

1–3 „O Mensch“ – wer wird hier in die Verantwortung vor Gott gerufen? Auf die Adressaten des Briefes als „berufene Heilige“ (1,7) passt das Gericht über den alten Menschen nicht. Der Ruf in die Verantwortung geschieht hier also lehrhaft fiktiv.21

Offenbar jeder Mensch, gleich ob Jude oder Heide (stellvertretend erscheint dafür in den Versen 9 f.: Grieche) – und zwar als ein Mensch, der selbst richtet und urteilt, also einen Maßstab von Gerechtigkeit, rechtem Leben (insbesondere sozial rechtem Leben) hat. Paulus geht offenbar davon aus, dass das bei jedem Menschen gegeben ist  – so wie auch jeder Mensch ein ursprüngliches Gottesbewusstsein hat. Und dieser Maßstab ist, wie sich dann aus den Versen 12–16 ergibt, auch ursprünglich auf Gott zurückzuführen, wenn auch in ganz unterschiedlicher Weise – bei den Juden besteht er in der Kenntnis des gegebenen Gesetzes Gottes, bei den Griechen oder Völkern (Heiden) in einer Kenntnis desselben Guten im Herzen und dem entsprechenden Gewissen. 21  Zur entsprechenden, geläufigen literarischen Form in der hellenistischen Philosophie U. Wilckens, a. a. O., S.122; M. Wolter a. a. O., S. 166.



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Bezieht sich der auch bei den Heiden festzustellende Maßstab der Gerechtigkeit nur auf die zwischenmenschliche Gerechtigkeit (also etwa die 2. Tafel des Dekalogs), oder auch auf die Gerechtigkeit des Gottesverhältnisses (die 1. Tafel)? Auch wenn sich die folgende Rede vom guten Tun oder Werk eher auf das zwischenmenschliche Verhältnis bezieht, lässt sich im Anschlus an 1,19 ff. vermuten, dass für Paulus das ursprüngliche Gottesbewusstein auch ein Bewusstsein des rechten Gottesverhältnisses impliziert und dass dies mit dem Bewusstsein zwischenmenschlicher Gerechtigkeit einen Zusammenhang bildet; das Gottesverhältnis entscheidet sich für Paulus ja auch auf der zwischenmenschlichen Ebene.

Alle Menschen stehen unter dem Gericht Gottes und sind in ihrer Verkehrtheit ohne Entschuldigung, weil allen ein ursprüngliches Bewusstsein von Recht zuzuschreiben ist, das das Recht Gottes ist (1,32) und seinem Gesetz entspricht (2,14 f.). Das Urteil des Gerichtes aber bezieht sich konkret zuerst auf eine allgemeine Verkehrung dieses Bewusstseins, die vielleicht gerade den Zusammenhang zwischen der Gottlosigkeit und der Herrschaft selbstsüchtiger Begierden kennzeichnet: die Selbstgerechtigkeit. Von ihrer spezifischen Gestalt bei den Juden werden dann die Verse 17 ff. handeln. Im Allgemeinen besteht die Verkehrung darin, dass das den Menschen gegebene Kriterium des rechten Tuns22 – sein Inhalt wird von Paulus hier vorausgesetzt: etwa Gottes- und Nächstenliebe  – nur zum Urteil über die Anderen angewendet wird, nicht zur Selbsterkenntnis. Das heißt etwa, von Anderen wird das Gemeinschaftsdienliche gefordert, aber die eigene Verkehrtheit (die Notwendigkeit der Umkehr: Vers 4 und 5) nicht erkannt. Beim Anderen wird verurteilt, was doch zugleich das eigene Leben, beherrscht von den Göttern der Süchte, bestimmt. Der Diebstahl der Anderen wird verurteilt, während ich zugleich selber selbstverständlich im Verhältnis zu den Anderen meinen Vorteil suche. Geschähe das Urteil über Andere dagegen im Modus der Selbsterkenntnis vor Gott, würde es sich zurückhalten: Hier klingt Mt. 7,2–5 an – „Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet […]“.

Das Gericht Gottes, das der Apostel (analog zur Reich-Gottes-Predigt Jesu) zugleich erwartet und in seiner Predigt vorwegnimmt, widerspricht der Selbstgerechtigkeit, der falschen Selbstsicherheit. Es bringt die Wahrheit derer zur Geltung, die nur Andere verurteilen: dass sie sich selber verurteilen, weil die Herrschaft der Konkupiszenz die gebotene Gemeinschaft ausschließt. Ein Bewusstsein des Rechten, Gerechten, Guten, das aber nicht zur Selbsterkenntnis führt, ist im Gericht Gottes keine Entschuldigung. Kein Mensch kann auf Dauer seiner Wahrheit entrinnen.

22  Von Gerechtigkeit ist in diesem Abschnitt (wie auch schon 1,19; 1,29) nur indirekt die Rede, im Vorwurf der Ungerechtigkeit (2,8).

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Soll von der apokalyptischen Vorstellung des Gerichts abgesehen werden, dann lässt sich das so interpretieren, dass die Wahrheit, indem dem gelebten Leben die Gemeinschaft Gottes fehlt, spätestens mit dem eigenen Tod vollzogen wird (vgl. 1,32: der Tod als gerechte Folge der Verkehrung). Wie gleich die Verse 9 f. zeigen, muss das Gericht ebenso der Selbstgerechtigkeit der Juden wie der Selbstgerechtigkeit der Griechen oder Heiden widersprechen. Nur die Kenntnis des Gesetzes Gottes bei den Juden, ohne dass die vom Gesetz geforderte Gottes- und Nächstenliebe Wirklichkeit ist, bedeutet keine Rechtfertigung und keine größere Gottesnähe.

4–5 Eine grundlegende μετάνοια, Umkehr ist notwendig (und zwar bei Allen). Andererseits ist festzustellen, dass der Mensch, so wie er für sich ist, in seiner allgemeinen Gottlosigkeit und Ungerechtigkeit, zur Umkehr nicht fähig ist. Aus sich kann er sie nicht hervorbringen. So lässt sich jedenfalls die Diagnose der Verstockung und des „nicht umkehrgesinnten Herzens“ verstehen, die die in 1,21–24 gegebene Diagnose des verfinsterten Herzens, des Verfallenseins an das Nichtige, des Ausgeliefertseins aufgreift. Der Mensch kann in dieser Verfassung, die zudem mit der Selbstgerechtigkeit den Selbstbetrug über seine Wahrheit einschließt, die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen nicht hervorbringen. Paulus beschreibt hier die Verfassung des Menschen tendenziell in der Bedeutung, wie sie 350 Jahre später Augustinus als peccatum originale, als Grundsünde begreift  – eine Verkehrung, die nicht nur das Handeln, sondern schon das Subjekt des Handelns betrifft. Hier erscheint sie vor allem als Selbstgerechtigkeit, sowohl im Verhältnis zu Gott als auch im Verhältnis zu den anderen Menschen.

Gleichwohl eröffnet Gott in der Tatsache, dass er das Gericht noch nicht endgültig vollzieht, sondern in der Predigt (und Lehre) des Evangeliums nur vorwegnimmt, eine Möglichkeit der Umkehr. In der Gerichtspredigt des Apostels, die zur Selbsterkenntnis bringen will, ist der Widerspruch Gottes bereits in Kraft. Die Zeit, die Gott lässt, ist Ausdruck seiner Freundlichkeit und Nachsicht, die auf die Umkehr des Menschen zielt. Aber in seiner Selbstgerechtigkeit und falschen Sicherheit verkennt der Mensch auch das. Dass Gott Zeit zur Umkehr lässt, entspricht dem Schöpfungssinn (der Erhaltung der Schöpfung) und auch dem Sinn der Bundesgemeinschaft. Aber der Skopus ist hier, dass das (jüdische?) Wissen um die Geduld Gottes seine Wahrheit völlig missverstehen würde, wenn sie die Geduld als Ermäßigung des Gerichts verstünde. Der Sinn der eröffneten Zeit ist allein die Umkehr. Für eine solche Predigt der Umkehr gibt es zwar, wie Wolter etwa mit dem Vergleich von Sir. 5,4–7 zeigt, jüdische Parallelen23, jedoch widerspricht sie auch jeder Erwartung der göttlichen Bundesgnade oder Sühnemöglichkeit ohne Umkehr.24 23 Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 169; weitere alltestamentliche und jüdische Texte bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 150. 24 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 125 f.

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Wenn es nun heißt, dass Gott es ist, der selber zur Umkehr führen will oder führt, hat Paulus schon das Evangelium im Blick. Der Mensch aus sich selbst kann nicht in die Gemeinschaft Gottes umkehren. Aber indem ihn die Predigt des Gesetzes oder Gerichtes zur Selbsterkenntnis in der Sünde bringt (3,20; 7,7), die den Tod (die letzte Beziehungslosigkeit) als Wahrheit der Sünde realisiert, aber nun als Mitsterben mit Christus (6,3–11), bedeutet dies das in Christi Kreuzestod gegebene, erlösende Geschenk der Gemeinschaft oder Gerechtigkeit (dazu 3,21 ff.). Christus in seiner Liebe hat den Tod als Wahrheit des Sünders geteilt, um sie zu überwinden.

Doch davon ist hier noch nicht die Rede. Noch wird (fiktiv) der alte Mensch in seinem gottlosen Fürsichsein, in seinen selbstsüchtigen Begierden, in seiner Lebenslüge angesprochen. Indem er zur Umkehr nicht fähig ist, muss das Gericht Gottes kommen und seine Unwahrheit vollziehen. 5–11.13.16 Als Kriterium des Gerichtes werden wie schon in den Versen 1–3, so auch hier das Tun des Guten oder Bösen, das Tun des Gesetzes, die Werke genannt (Verse 6.7.9 f.13). Und zwar gilt dieses Kriterium auch für die Heiden, die das Gute oder das vom Gesetz Gottes Geforderte ursprünglich genauso tun könnten wie ursprünglich die Juden. Die in guten Werken leben (Vers 7), die Täter des Gesetzes (Vers 13), erhalten das ewige Leben, die vom Für-sich-Begehren beherrscht sind und in Selbstgerechtigkeit leben, erfahren den Zorn Gottes, Bedrängnis, Angst.25 Zunächst lässt sich fragen, auf welche Werke, welches Tun sich das Gericht Gottes bezieht. Schon vorhin wurde festgestellt: es geht Paulus nicht nur um ein bestimmtes Handeln im zwischenmenschlichen Verhältnis, sondern um den Lebenszusammenhang zwischen der Verachtung Gottes und dem verkehrten Verhältnis zu den anderen Menschen. Es geht also nicht um isolierte Taten, nicht um bestimmte verbotene oder gebotene Werke. Paulus will vielmehr betonen: Gott richtet nach dem wirklichen Leben im Verhältnis zu ihm und den Menschen (und evtl. auch im Verhältnis zu den anderen Geschöpfen). Den Grund dafür fasst Vers 11 zusammen: Was eine Person vor sich und den Angehörigen seiner sozialen (ethnischen, religiösen) Gruppe gilt, spielt vor Gott keine Rolle.26 Das schließt an ein traditionelles jüdisches Verständnis des Gottesgerichts an, das dies nicht als vergeltende Rache bestimmt, sondern als Vollzug der Wahrheit des Tuns auch für den Täter. Jahwe „setzt die Folge der menschlichen Tat in Kraft“ und vollstreckt die „Unheilsfolge der Freveltaten“.27 Das heißt, wenn Sünde in Wahrheit Beziehungslosigkeit, Umsichselbstkreisen, inneren Tod bedeutet, dann vollzieht oder realisiert Gottes Gericht diese Wahrheit an den Sündern und für die Sünder. 25 

Zum symmetrischen Aufbau der Passage M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 173. Vorkommen dieses verbreiteten juristischen Topos im Alten Testament vgl. M. Wolter, a. a. O., S. 178. 27  U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 129; vgl. auch S. 127–131 insgesamt. 26 Zum

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Doch zielt Vers 11 ebenso wie auf die Selbstgerechtigkeit unter den Völkern so auch (wie die Verse 17 ff. zeigen) auf ein Selbstverständnis der Juden, durch Bundeserwählung, Gotteserkenntnis und das Hören des Gesetzes (Vers 13) der Langmut Gottes sicher zu sein. Die Predigt des Gerichtes muss dem widersprechen. Entsprechend formuliert Paulus das Tun oder Leben, insofern es Gegenstand des Gerichtes ist, von Anfang an so, dass es auch ein allgemeinmenschliches, auch die Griechen (stellvertretend für die Heiden) umfassendes Vorverständnis der Verkehrung aufruft: Während die Rede von gutem oder bösem Tun eher einem hellenistischen (auch philosophischen) Sprachgebrauch entspricht, spricht die Forderung, das Gesetz Gottes zu tun, die Juden an. Die Schilderung des Gerichtes selber ist im jüdischen Sinn nicht ungewöhnlich: Zorn meint dabei nicht primär so etwas wie eine negative Emotion Gottes, sondern steht metonym für das endgültige Gericht als das, was den Tod (die Vernichtung) als Wahrheit der Sünde vollzieht.28 Doch die Bezeichnung dessen, was mit dem Leben im Guten eschatisch (in der Ewigkeit) erreicht wird (Herrlichkeit, Ehre, Unvergänglichkeit oder auch Frieden), ist wiederum so allgemein formuliert, dass es alttestamentlich jüdisch, aber auch für die Vorstellungswelt heidnischer eschatischer Erwartungen anschlussfähig ist.   Dass das Gericht über die nicht umkehrenden Gottlosen ihnen ‚Bedrängnis und Angst‘ oder Drangsal (θλῖψις καὶ στενοχωρία) bringt (Vers 9), ist eine aus der Septuaginta geläufige Wendung.29 Wenn das Endgericht Gottes darin besteht, den Tod, die Nichtigkeit, Beziehungslosigkeit als zunächst verborgene Wahrheit der Sünde am Sünder zu vollziehen, dann passt die Selbsterkenntnis der Sünder in ‚Bedrängnis und Angst‘ im Grunde aber eher für die Vorwegnahme des Gerichts durch die Predigt, die auf Umkehr zielt.

Überhaupt ist das Gerichtswort nicht als Drohung mit Strafe und Vergeltung zu verstehen. Es soll auch nicht Angst gemacht werden, wo sie grundlos ist. Aber Angst ist die Offenbarung der Wahrheit der Sünde. Die Barmherzigkeit, das Geschenk der Rechtfertigung und Gemeinschaft ist mit dem Evangelium angeboten – doch kann auch dieses Geschenk nur in Selbsterkenntnis und als Umkehr wirklich werden, indem der Mensch es annimmt. Das Gericht über das nicht umkehrgesinnte Herz bedeutet nichts als die Offenbarung des selbstgerechten, umsichselbstkreisenden Lebens, in dem der Mensch sich selbst von der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen  – und damit von der wahren menschlichen Gemeinschaft – ausschließt. Die Angst angesichts der vernichtenden, wirklichen Ferne Gottes ist nicht Vergeltung, sondern die offenbare Wahrheit der Sünde. Wenn aber das Gericht über die Sünde als Wahrheit vorgestellt wird, die künftig (in Gottes Ewigkeit) endgültig ist – macht diese Vorstellung nicht doch dem Sünder jetzt Angst, um ihn zur Umkehr zu bewegen? Entscheidend ist die Frage nach dem Grund der Angst. Die künftige Endgültigkeit der Wahrheit des Lebens, wenn es in der Zeit zu Ende sein wird – sei es seine Beziehungslosigkeit, sei es das Leben in der Gemeinschaft Christi (vgl. 28 Vgl. 29 

M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 131.172 f. Vgl. ebd. S. 176.



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erneut Gal. 2,20), das sich in Glaube und Liebe vollzieht – ist nicht zu leugnen. Die Angst, die dieses Gericht vor Gott vorwegnimmt, kann also die Selbsterkenntnis bezeichnen, die die Veränderung ermöglicht.

Systematisch ist nun noch wenigstens vorläufig folgende Frage zu diskutieren: Widerspricht das behauptete Gericht nach den Werken oder nach dem Tun (die Rechtfertigung der Täter des Gesetzes: Vers 13), auch wenn wir dies als Gericht nach dem wirklichen Leben im Verhältnis zu Gott und den Menschen interpretiert haben, nicht dem Gedanken, dass das Evangelium die Gerechtigkeit aus Glauben offenbart (1,16 f.) – dass der Mensch vor Gott gerecht wird, indem er der Gnade Gottes in Christus vertraut? Zunächst ist zu bedenken: Paulus sagt hier durchaus nicht, dass der Mensch, gefangen im Unheilszusammenhang von Gottlosigkeit und süchtigem Leben, sich selbst zur Umkehr bestimmen könnte, vermittelt durch die Gerichtspredigt und die entsprechende Selbsterkenntnis  – alternativ zur Rechtfertigung und Erlösung durch den Glauben an Christus. Das Beharren im wahren Leben (Vers 7) setzt die bestimmende Gottesgemeinschaft voraus, die doch für die in den Versen 1–5 Angeredeten verloren ist. Darüber hinaus widerspricht das Gericht nach dem wirklichen Leben nicht der Rechtfertigung aus Glauben an Christus, da für Paulus (wie er später ausführt) sich im Glauben selber zum einen das Gericht vollzieht und zum anderen die Christusgemeinschaft realisiert, welche als Geist neuen Lebens die Liebesforderung des Gesetzes erfüllt.   Der Glaube vollzieht das Gericht, indem er ein mit Christus Gestorbensein bedeutet (Röm. 6,2 ff.; Gal. 2,19 f.) – er ist wesentlich der Glaube, dass Gott in Christus den Tod des Sünders teilt und so, nämlich in der Gemeinschaft, auf die sich der Glaubende verlässt, überwindet. In diesem Tod erkennt der Sünder seine Wahrheit. Daraus folgt neues Leben – ein Leben, in dem Christus, seine Gemeinschaft, ‚in mir lebt‘. Das schließt auch ein, dass jetzt schon die Gewissheit der Teilhabe am ewigen Leben bestehen kann, auch wenn sie im zeitlichen Leben noch unsichtbar und erst durch das letzte Gericht hindurch offenbar ist.

Schon der Glauben bedeutet die entscheidende Veränderung des Lebens: Tod und Neubestimmung seines Subjekts. Doch sowohl der Gottlosigkeit, die ja wesentlich ein Fürsichleben ohne Gott ist, als auch dem Glauben an das Evangelium, indem er das Leben der Gemeinschaft Christi in mir bedeutet (die Gegenwart ihres Geistes), entspricht ein bestimmtes Tun als kommunikative Wirklichkeit. Das Gericht, welches die Wahrheit des Menschen (seines Lebens) offenbart und vollzieht, umfasst das Ganze. Auf dieses Ganze zielt auch schon das Gesetz Gottes als Kehrseite des Bundes – was es wirklich fordert, ist nicht das äußere Werk, was aus Furcht vor Strafe erzwungen sein kann, sondern lebendige Gottes- und Menschenliebe aus dem Geist der Liebe. Das betont Luther in seiner Vorrede zum Römerbrief: Gott […] richtet nach des hertzen grund. Darumb foddert auch sein Gesetz des hertzen grund, und lesset jm an wercken nicht benügen, Sondern straffet viel mehr die werck

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on hertzen grund gethan, als heuchley und lügen. Da her alle Menschen lügner heissen, Psal. 116. darumb, das keiner aus hertzen grund Gottes gesetz helt noch halten kann, Denn jederman findet bey sich selbs unlust zum guten, und lust zum bösen. Wo nu nicht ist freie lust zum guten, da ist des hertzen grund nicht am gesetz Gottes […] DAher schleusst S. Paulus am ii. Cap. […] und spricht, Das alleine die theter des Gesetzes gerecht sind bey Gott. Wil damit [sagen], das niemand mit wercken des Gesetzes theter ist […]. Du lebest eusserlich fein in des Gesetzes wercken, und richtest die nicht also leben, und weissest jederman zu leren, Den Splitter sihestu in der anderen auge, Aber des Balcken in deinem auge wirstu nicht gewar. DEnn ob du wol auswendig das Gesetz mit wercken heltest, aus furcht der straffe, oder liebe des lohns, So thustu doch alles, on freie lust und liebe zum Gesetz, sondern mit unlust und zwang, woltest lieber anders thun, wenn das Gesetze nicht were. Daraus denn sichs schleusst, das du von hertzen grund dem Gesetze feind bist. Was ist denn, das du andere lerest nicht stelen, so du im hertzen selbs ein Dieb bist, und eusserlich gerne werest, wenn du thürstest [es wagtest]?30

Was das Gesetz fordert, kann nur in dem Sichverlassen auf Christus wirklich werden, in dem der Mensch für sich seinen wahren Tod realisiert und ein Leben in der Gemeinschaft Christi beginnt. Wie aber ist dann das endgültige Gericht „nach meinem Evangelium durch Christus Jesus“ (Vers 16) zu verstehen? Der Anschluss von den Versen 12–15, in denen Paulus die Verantwortung auch der Nichtjuden vor Gott begründet (inhaltlich dazu gleich), liegt darin, daraus auf das Gericht Gottes über alle Menschen, Juden und Heiden, zu schließen.

Paulus will nicht nur festhalten, dass das Endgericht Gottes zur Gesamtbotschaft des Evangeliums dazu gehört.31 Vielmehr ist hier schon die Veränderung der Gerichtsvorstellung mitzudenken, die angesichts der Umkehr eintritt, die das Sichverlassen auf das Evangelium von Christus bedeutet. Das Evangelium, indem es geglaubt wird, verspricht und vollzieht die Vorwegnahme der Rechtfertigung im endgültigen Gericht. Das heißt, es wird auch geglaubt, dass das künftige Gericht seine Vorwegnahme bestätigt, die in der Umkehr (μετάνοια) des an das Evangelium Glaubenden liegt – im Tod des alten Menschen und im neuen Leben – und die ewige Gottesgemeinschaft endgültig zuspricht. Nichts anderes bedeutet die Vorstellung des Glaubens, dass Christus, der aus Liebe den Tod als Wahrheit unserer Sünde geteilt hat, im Namen Gottes richten wird. Das Gericht wird das Verborgene umfassen (vgl. auch 1. Kor. 4,5)  – indem es die vom Sünder (auch vor sich selbst) verleugnete oder nur im Herzen oder 30  WA DB 7, S.3,23–5,23. – Was unterscheidet dann die lutherische Betonung des imputativen Momentes der Rechtfertigung allein aus Glauben von Paulus? Wenn sie betont, dass der Mensch im glaubenden Sichverlassen gerechtfertigt und mit Christus vereint ist, dann heißt das zwar, dass dies „des Herzens Grund“ zum Guten, zur Liebe bestimmt – aber sie rechnet zugleich damit, dass derselbe Mensch auch immer wieder auf ein verbleibendes oder sich wiederherstellendes Fürsichsein reflektieren muss – sich aber gleichwohl eben auf Christus verlassen und der Rechtfertigung gewiss sein kann. 31 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S.137.



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Gewissen (Vers 15) bewusste Verkehrung zu einer manifesten, öffentlichen32 Wahrheit macht. Indem dieser Gedanke eine jüdisch „verbreitete Vorstellung“ ist33, ist vielleicht anzunehmen, dass die Vorwegnahme des Gerichts durch Verkündigung und Glauben auch diesen Aspekt umfasst. Vielleicht ist aber auch schon etwas angedeutet, was dann lutherische Interpretationen herausstellen: dass auch bei den Glaubenden, solange wir leben, Wirklichkeiten oder Identitätsschichten der Sünde, des Fürsichselbstlebens verbleiben oder sich wiederherstellen, die der letzten Offenbarung bedürfen – ohne deshalb die Rechtfertigung im Gericht durch Christus in Frage zu stellen.34

12.14–15 Die Heiden kennen das Gesetz Gottes nicht, das seiner Bundesgemeinschaft entspricht. Doch obwohl das Gesetz Gottes ihnen nicht als Tora gegeben ist, lehrt die allgemeine Erfahrung, dass es Heiden gibt, die vom Gesetz Gefordertes tun – und zwar, weil ihr Gewissen es ihnen vorschreibt. Freilich ist der Skopus des Abschnitts nicht, die Sündlosigkeit der Heiden herauszustellen, sondern ihre Verantwortlichkeit – für die das Gewissen ein Indiz ist. Es stellen sich also zwei Fragen: Wie ist die Verantwortlichkeit der Heiden vor Gott zu denken? Und: Wie passt das festgestellte Tun des vom Gesetz Geforderten mit der allgemeinen Gottlosigkeit und Erlösungsbedürftigkeit zusammen? Die Verantwortlichkeit auch der Heiden besteht darin, dass sie ein Bewusstsein des gebotenen Lebens haben und ihr Leben und Handeln entsprechend im Gewissen prüfen. Dieses Bewusstsein und sein Gewissen ist ihnen natürlich, d. h. wesentlich – es gehört zum menschlichen Wesen. Auch sofern sie es nicht tun, haben sie dieses Bewusstsein des Gebotenen. Also sind sie auch verantwortlich und unterliegen als solche, die sündigen, dem Gericht Gottes ebenso wie die Juden, die die Tora haben. Ein Unterschied scheint lediglich darin zu liegen, dass für die Juden das Gericht als ausdrückliches Urteil im Sinne der gegebenen Tora ergeht, während es für die Völker einfach im der Sünde entsprechenden Vollzug der Nichtigkeit besteht.

Dass Heiden von Natur aus bzw. ihrem menschlichen Wesen nach Forderungen des Gesetzes tun können, erklärt Paulus so, dass sie sich selbst Gesetz sind. Das heißt nicht, dass sie die Bestimmungen des Gebotenen frei erfinden, sondern dass sie das grundsätzlich Gebotene als Notwendigkeit ihres eigenen Daseins in sich vorfinden. Dafür gibt Paulus zwei Begründungen, die sich gegenseitig interpretieren. Die eine ist theologisch anschlussfähig: Das Gebotene ist – vom Schöpfer  – in ihr Herz geschrieben. Die andere ist das Grundphänomen des Gewissens, mit dem Paulus das In-das-Herz-Geschriebensein interpretiert. Das Herz als Personmitte erscheint als Ort, wo das Gewissen spricht. Das Gebotene 32 Dem entspricht, dass auch die Sünde ja wesentlich eine Verkehrung menschlicher Gemeinschaft ist (den Anderen für sich gebraucht usf.). 33 Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 188 mit Anm. 87. 34  Vgl. oben Anm. 30.

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gehört also zur zentralen, allgemeinen Bestimmung des Selbstbewusstseins im Verhältnis zum Anderen (als Gegenstand des Handelns): Der Mensch (auch der „Heide“) steht der Unmittelbarkeit seiner Lebensverhältnisse wesentlich gegenüber und überprüft sein Leben nach der Bestimmung des Gebotenen. Die sich anklagenden und verteidigenden Gedanken sind als Modus des Gewissens zu verstehen – auch die anklagenden Gedanken bezeugen das ins Herz geschriebene „Werk des Gesetzes“.35

Paulus geht also davon aus, dass zum menschlichen Wesen sozusagen ein ethisches Bewusstsein gehört, und zwar als Bewusstsein einer höheren, den Einzelnen verpflichtenden Wahrheit rechten Tuns, eines göttlichen Rechts. Was ist der Grundsatz des in diesem Sinne allgemein Gebotenen? Lässt er sich auch philosophisch begründen? Konkret ist hier etwa an die sog. goldene Regel zu denken: Verhalte dich zu anderen so, wie es du von ihnen erwartest.36 Auch z. B. schon Augustinus verstand die Passage so.37 Vorausgesetzt ist dabei eine dem Menschen wesentliche Empathie  – die Möglichkeit, sich in den anderen hineinzuversetzen.

In der Tat knüpft Paulus hier nicht nur an eine allgemeine Erfahrung an, sondern auch an einen in der hellenistischen (stoischen) Philosophie verbreiteten Ansatz, der ein in der menschlichen Natur liegendes, ungeschriebenes Gesetz annimmt. Schon vor Paulus wurde das vom hellenistischen Judentum rezipiert – Philon etwa redet vom gottgegebenen (oder: „von der unsterblichen Natur […] eingeprägten“)38 natürlichen Gesetz, das inhaltlich der Tora entspricht.39 Systematisch fragt sich: ist wirklich von einem allgemeinmenschlichen Gewissen auszugehen, was in der Grundtatsache liegt, ein sich im Bewusstsein von Normen, die dem unmittelbaren Begehren widersprechen, entscheidendes Ich oder Selbst zu sein? M. E. gehört das in der Tat zum Begriff des Menschen – wie auch immer entsprechende Normen kulturgeschichtlich ausbuchstabiert erscheinen. Paulus interpretiert dieses Gesetz des Gewissens so, dass es, auch wenn es nicht als Gesetz Gottes gegeben ist, doch auf Gott (als Schöpfer) zurückgeht und so eine Verantwortlichkeit vor Gott bedeutet. Das gilt auch, sofern diese Verantwortlichkeit nicht als solche erkannt wird  – obwohl es andererseits naheliegt, das nach 1,19 f. vorauszusetzende ursprüngliche Bewusstsein Gottes auch auf das Gesetz des Gewissens zu beziehen.   Schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob und inwiefern solche Normen bzw. ein solches Gesetz des Gewissens zugleich in einer allgemeinen Vernunft begründet erschei35 Zum Gewissen vgl. noch 1. Kor 4,4: nicht das Gewissen rechtfertigt, sondern Gott; ferner 1. Kor. 8,7–11; 2. Kor. 1,12. 36  Hier wäre Mt. 7,12; Lk. 6,31 zu vergleichen. 37  Vgl. Conf. I 18,29: et certe non est interior litterarum scientia quam scripta conscientia, id se alteri facere quod nolit pati. 38  Zitiert nach M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 186. 39 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 133–135 und M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 186 f.



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nen können – etwa indem diese eine empathische Gleichheit der Menschen als Grundsatz ihres Zusammenlebens auf den Begriff bringt. M. E. ist das eine mögliche Interpretation. Schließlich wäre noch zu fragen, ob ein solches Gewissen nur das zwischenmenschliche Verhältnis betrifft, oder ob, wenn so etwas wie ein allgemeinmenschliches Bewusstsein des Göttlichen und Heiligen gegeben ist, dieses auch ein Bewusstsein der notwendigen Achtung, des notwendigen Respekts bedeutet. M. E. ist nur von einer allgemeinmenschlichen Möglichkeit eines Bewusstsein des Göttlichen auszugehen, die aber, wenn sie realisiert ist, auch das Gewissen prägt.

Nun zu der Frage, wie das Tun des Gebotenen bei den Heiden (Vers 14) mit der allgemeinen Gottlosigkeit und Erlösungsbedürftigkeit zusammen passt. Paulus will nicht sagen, dass alle Heiden das Gesetz erfüllen, und auch nicht, dass einige von ihnen das Gesetz grundsätzlich (im Ganzen) erfüllen – das widerspräche seiner Diagnose von der Gottlosigkeit der Menschen, die eine Umkehr nötig macht, zu der sie nicht fähig sind. Er sagt lediglich, dass sie, wie Zeugnisse ihres Gewissens und entsprechender Taten dokumentieren, ein bestimmtes Bewusstsein des Gebotenen haben und es auch in einem gewissen, beschränkten Sinn tun können und tun  – dass sie also z. B. mindestens im Rahmen der eigenen Gruppe tatsächlich nicht stehlen, nicht töten, sich vielmehr einsetzen usf. Dasselbe gesteht Paulus natürlich auch den Juden zu, auch wenn das hier nicht ausgeführt wird. Aber das ändert nichts an der grundlegenden Gottesferne, am grundlegenden Beherrschtsein vom Für-sich-Begehren und Umsichselbstkreisen.40 Ein grundsätzliches im Guten Beharren (Vers 7, vgl. 10), ein grundsätzlich wahres Leben und die entsprechende Rechtfertigung vor Gott als „Täter des Gesetzes“ (Vers 13) bedeutet das nicht.41 Festzuhalten ist: der Skopus ist hier nicht die Gerechtigkeit der Heiden, sondern er liegt darin, die Verantwortlichkeit aller Menschen für die Sünde herauszustellen. Das zeigt auch noch einmal der Anschluss von Vers 16 an Vers 15: Auch die Wirklichkeit des Gewissens der Heiden steht im Horizont des künftigen Gerichtes Gottes, in dem Gott die Wahrheit jedes Lebens im Ganzen offenbaren wird. Eben dieses Gericht aber nimmt das Gerichtswort vorweg, das im Sinne des Evangeliums zu der Selbsterkenntnis bringt, in Wahrheit (geistig) tot zu sein. cc)  2,17–29: Auseinandersetzung mit dem Judesein: Der Gegensatz zwischen faktischer Selbstgerechtigkeit und wahrer Beschneidung im Geist 17 Wenn du dich aber Jude nennst und verlässt dich auf das Gesetz und rühmst dich Gottes 18 und (er)kennst den Willen und prüfst, worauf es ankommt (δοκιμάζεις τὰ διαφέροντα – die zu unterscheidenden Dinge; Luther: was das beste zu thun 40 Wie das Verhältnis zwischen der grundlegenden Verkehrung und der (partiellen) Möglichkeit des Guten zu denken ist, führt Paulus nicht aus. 41  Im Zusammenhang von Abschnitt 2,26–29 ist diese Fragestellung erneut aufzugreifen.

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sey), unterrichtet aus dem Gesetz; 19 traust dir zu, Führer der Blinden zu sein, ein Licht derer, die in Finsternis sind, 20 Erzieher von Unverständigen, Lehrer von Unmündigen, der die Verkörperung der Erkenntnis (ἔχοντα τὴν μόρφωσιν τῆς γνώσεως) und der Wahrheit im Gesetz hat – 21 Der du also einen anderen lehrst, lehrst dich selber nicht? Der du verkündigst, nicht zu stehlen, stiehlst? 22 Der du sagst, die Ehe [sei] nicht zu brechen, begehst Ehebruch? Der du die Götzenbilder (τὰ εἴδωλα) verabscheust, begehst Tempelraub? 23 Der du dich des Gesetzes rühmst, durch die Übertretung des Gesetzes entehrst du Gott! 24 Denn „der Name Gottes wird euretwegen gelästert unter den Heiden“, wie geschrieben steht.42   25 Die Beschneidung nämlich nützt zwar, wenn du das Gesetz tust; wenn du aber Übertreter des Gesetzes bist, ist deine Beschneidung Unbeschnittenheit geworden (ἀκροβυστία γέγονεν; wörtl: zur Vorhaut geworden). 26 Wenn nun die Unbeschnittenheit (hier wie im Folgenden wörtlich: Vorhaut) die Rechtsforderungen des Gesetzes bewahrt (Luther: So nu die Vorhaut das recht im Gesetz hält), wird dann nicht seine Unbeschnittenheit als Beschneidung gerechnet werden? 27 Und richten wird die von Natur gegebene Unbeschnittenheit, die das Gesetz erfüllt, dich, den – trotz Buchstabe und Beschneidung – Übertreter des Gesetzes (σὲ τὸν διὰ γράμματος καὶ περιτομῆς παραβάτην νόμου – Wolter übersetzt: dich … der du durch Geschriebenes und Beschneidung ein Übertreter … bist). 28 Es ist nämlich nicht derjenige Jude, der es im Sichtbaren ist (ἐν τῷ φανερῷ; Luther: der außwendig ein Jude ist), und Beschneidung ist auch nicht die, die im Sichtbaren am Fleisch [vollzogen wurde] (Luther: auch ist das nicht eine Beschneidung / die außwendig im Fleisch geschicht), 29 sondern der ist Jude, der es im Verborgenen ist, und [Beschneidung ist] Beschneidung des Herzens im Geist, nicht im Buchstaben – dessen Lob kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.

Systematisch bietet der Abschnitt eine Konkretisierung des schon Gesagten. Die Selbstgerechtigkeit als Grundgestalt der allgemein herrschenden Sünde war ab 2,1 ff. Thema  – zunächst allgemein, d. h. Juden und Heiden betreffend (Verse 1–13). In den Versen 14–16 war dann von dem prinzipiell auch den Heiden gegebenen Gerechtigkeitssinn die Rede, was zum einen ihre Verantwortlichkeit bekräftigt, zum anderen aber implizit bereits einem jüdischen Selbstverständnis widerspricht, welches sich auf die Gesetzeskenntnis als Vorrang bei Gott beruft. Das wird nun in den Versen 17–24 ausgeführt, indem Paulus die Diagnose der Selbstgerechtigkeit im Blick auf die Juden konkretisiert, die sich von Gott zum Bund erwählt wissen, ohne sein Gesetz zu erfüllen – also im Blick auf ein religiöses Selbstverständnis als Jude unter der Bedingung der Sünde. In den Versen 17–20 wird ein solches Selbstverständnis dargestellt, in den Versen 21–24 wird der in der Sünde begründete Selbstwiderspruch des entsprechenden Lebens herausgestellt, der aber verleugnet wird. Die Verleugnung des Selbstwiderspruchs ist der Selbstgerechtigkeit konstitutiv und potenziert die Sünde.   In den Versen 25.27 wird dasselbe Urteil fokussiert auf die Beschneidung als Hauptgegenstand des entsprechenden Selbstverständnisses, und zwar so, dass in den Versen 26–27a (parallel zu 2,14 f.) die Wahrheit der Beschneidung (als Heilszeichen des Bundes) 42 

Paulus zitiert Jes.52,5 nach der Septuaginta.



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potentiell auch den äußerlich unbeschnittenen Heiden zugeschrieben wird, sofern sie das Gesetz erfüllen.   In den Versen 28–29 wird dies im impliziten Vorgriff auf das Juden und Heiden geltende Evangelium zusammengefasst. Die wahre Beschneidung, die die Zugehörigkeit zum Gottesvolk bedeutet, ist die Beschneidung, also Umkehr (μετάνοια) des Herzens im Geist der Gemeinschaft Christi – sie führt dazu, dass in diesem Geist die gebotene Liebe Wirklichkeit wird.

Abgesehen vom Kontext der Auseinandersetzung mit dem Judentum heißt das: Was Gott vom Menschen als wahres Leben fordert, erfüllt nur der Geist seiner Gemeinschaft. Kein religiöser Ritus, keine religiöse Konformität, keine äußerliche Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe ist als solche oder an sich für das Gottesverhältnis von Bedeutung  – und die entsprechende religiöse Selbstgerechtigkeit, die sich auf solcherlei beruft, ist vielmehr ein Ausdruck der Grundsünde. Das schließt aber nicht aus, sondern ein, dass gemeinschaftliche (kirchliche) Riten der Kommunikation des Glaubens und zwischenmenschliches Tun Medien des wahren Lebens, der wahren Gemeinschaft und Liebe sein können und müssen.

17–24 Die religiöse Selbstgerechtigkeit der hier kollektiv (und fiktiv) angesprochenen Juden ist eine spezifische Gestalt der allgemeinen Selbstgerechtigkeit, der auch die Heiden kennzeichnenden Gottesferne und Sünde. Indem sie sich als die, die Gott und seine Tora kennen, über die Heiden erhoben wissen, vereinnahmen sie das Gottesverhältnis als Selbstverständlichkeit und verkehren es so. Wohlgemerkt nicht das sie auszeichnende Kennen Gottes und seiner Tora, nicht das entsprechende Selbstverständnis an sich ist die Verkehrung. Sondern die Verkehrung ist die Selbstgerechtigkeit, die darin besteht, das kritische Moment des vor Gott Stehens, eben das Bewusstsein des geforderten wahren Lebens, auf die Anderen, nicht aber auch radikal auf sich selbst zu beziehen. Der Grundzusammenhang zwischen Gottlosigkeit (trotz Gotteskenntnis) und der Herrschaft selbstsüchtiger Begierden, wie er in 1,18 ff. zunächst im Blick auf die Heiden entfaltet wurde, ist ebenso bei den Juden zu finden. Deshalb gilt auch das entsprechende Gericht für alle Menschen. Die Selbstgerechtigkeit, den Zusammenhang von Gottesferne oder Gottesverachtung und Konkupiszenz bei sich selber nicht wahrzunehmen, bedeutet bei den Juden aber eine Verkehrung gerade der gegebenen und ausdrücklich festgehaltenen Gotteserkenntnis. Diese Gotteserkenntnis ist begründet in der Geschichte des Bundes Gottes mit Israel, in dem er sich ihm in seinem Willen, mit dem Gebot des dem Bund entsprechenden Lebens, zu erkennen gab. Dem entspricht das Selbstverständnis, nach göttlichem Maßstab das wahre vom unwahren Leben zu unterscheiden. Die Gotteserkenntnis im Bund, das Bewusstsein der Bestimmung des Lebens durch den Willen Gottes, ist als Auszeichnung unter den Völkern zu verstehen: Im Gesetz ist für die Juden die göttliche Wahrheit des Lebens verkörpert, die

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eine Orientierung und Weisheit bedeutet, die den Völkern fehlt – und eine Verantwortung für die ganze Menschheit bedeutet (Verse 19 f.).43 All dem widerspricht Paulus nicht. Wohl aber widerspricht er der von ihm behaupteten Tatsache, dass der kollektiv angesprochene Jude sich in der Weise darauf verlässt, dass dieses Selbstverständnis zum Ausdruck oder sogar zu der Funktion der Selbstgerechtigkeit verkehrt ist – eine Selbstgerechtigkeit, die den Widerspruch des wirklichen Lebens zum Willen oder Gesetz Gottes verleugnet. Das bedeutet, dass die eigentlich gegebene Gotteserkenntnis eben nicht Selbsterkenntnis bedeutet (Vers 21) – und damit auch als Gotteserkenntnis verkehrt wird. Denn die Lebenswirklichkeit, die diese Selbstgerechtigkeit verleugnet, ist eben das Bestimmtsein durch selbstsüchtige Begierden. Dies aber, das herrschende Für-sich-Begehren, tastet in Wahrheit die Heiligkeit Gottes an (etwa den Leib als Tempel des heiligen Geistes – vgl. 1. Kor. 6,19). Stehlen, Ehebruch und Tempelraub sind in dieser Kombination als Inbegriff des Verwerflichen auch in hellenistischer ethischer Philosophie gebräuchlich, stehen hier also (im Kontext der Tora) griechisch und jüdisch für das verkehrte Leben überhaupt.44 Tempelraub steht hier im allgemeinen Sinn wahrscheinlich metonym für die das Sakrileg, also die Verachtung von Gottes Heiligkeit. Das heißt, die Verachtung der Götzenbilder durch den Juden ist heuchlerisch, da er zugleich Gottes Heiligkeit verachtet – ob das auch umgekehrt so etwas wie einen verborgenen Götzendienst bedeutet, wird nicht ausgeführt.45

Die Sünde (die herrschende Verkehrtheit des Lebens) besteht nicht nur in den selbstsüchtigen Lebensstrukturen als solchen, die der bekannten Lebensforderung Gottes (und damit auch ihm selbst, seiner Offenbarung im Bund) widersprechen, sondern darin, dass dieser Widerspruch verleugnet wird – dass sie als dem Gottesverhältnis unwesentlich verstanden werden. Dieses Sichverstehen im Gottesverhältnis, dieses Haben des Gesetzes, das seine Forderung des wahren Lebens nicht erfüllt, entehrt in Wahrheit Gott und macht die Rede von ihm (seine angebliche Verehrung) verächtlich – auch bei den Völkern, die Israel eigentlich Gott lehren sollte. In der Lebenswirklichkeit wird Gott nicht als Gott anerkannt und geachtet. Damit ist noch einmal deutlich ausgesprochen, dass für Paulus das selbstgerechte Verfehlen des zwischenmenschlich Gebotenen mit dem selbstgerechten Verfehlen des im Verhältnis zu Gott Gebotenen (hier etwa das 2. Gebot, den Namen Gottes nicht zu missbrauchen) eine Einheit bildet. Mit einem theologischen Blick auf die Kirchengeschichte ist festzuhalten, dass sich auch hier immer wieder die Gefahr eben derselben Selbstgerechtigkeit vor Gott einstellt, die 43  Für nahezu alle entsprechenden Formulierungen in den Versen 17b–20 finden sich Vorlagen oder Anklänge im Alten Testament und anderen frühjüdischen Texten – vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 192–195 und U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 148. 44  M. Wolter, a. a. O., S. 196 nennt Belege bei Aristoteles, Diogenes Laertius, Philo und anderen; vgl. auch U. Wilckens, a. a. O., S. 150. 45  So auch M. Wolter, a. a. O., S. 197 f.



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Paulus als Verkehrung des zuvor gegebenen Gottesverhältnisses (bzw. des Bundes) bei den Juden ansieht.   Dabei geht es hier aber nicht um das Problem der Werkgerechtigkeit, also das Gottesund Selbstverständnis, durch eigene Leistung das Gottesverhältnis positiv bestimmen zu können  – obwohl auch dies eine Selbstgerechtigkeit bedeuten kann, die die eigene Erlösungsbedürftigkeit (also mit Röm. 6 gesagt: die Notwendigkeit, mit Christus zu sterben) noch garnicht realisiert. Vielmehr liegt es näher, an das Problem der sog. billigen Gnade zu denken, wie es etwa auch Dietrich Bonhoeffer in seinem 1937 erschienenen Buch „Nachfolge“ diagnostizierte, das aber schon früher das Problem einer missverstandenen – paulinischen oder auch reformatorischen  – Rechtfertigungslehre war. Das existenzielle Missverständnis lässt sich so beschreiben: dem Sünder, der sich nicht selbst zum wahren Leben bestimmen kann, ist in Christus die Rechtfertigung aus Gnade geschenkt, die er im Glauben realisiert. Doch diese Rechtfertigung, dieser Glauben, impliziert eben die Selbsterkenntnis in der Sünde, die das paulinisch gedachte Mitsterben mit Christus realisiert. Ohne diese Selbsterkenntnis verkehrt sich die Botschaft der Rechtfertigung aus Gnade zur billigen Gnade – also nun zu einer christlichen Selbstgerechtigkeit, die sowohl die Selbsterkenntnis als auch die Erkenntnis der wahren Liebe Gottes, die Christusgemeinschaft im Sichverlassen, ausschließt.

Nun zu den Versen 25–29. Paulus wiederholt den in 2,17–24 ausgeführten Vorwurf der verkehrten Selbstgerechtigkeit, der fehlenden Selbsterkenntnis in der faktischen Sünde, die den ursprünglichen Bund verfehlt  – und zwar, sofern sich das entsprechende Selbstverständnis der Juden in der Beschneidung als konstitutivem Zeichen des Bundes und seines Heils zusammenfasst. Zugleich bekräftigen die Verse 26 f. den schon in den Versen 14 f. gegebenen Vergleich mit der Rechtschaffenheit von Nichtjuden oder Heiden. Die Beschneidung nützt dem Juden nur, wenn er das Gesetz erfüllt. Paulus verneint also nicht grundsätzlich den ‚Nutzen‘ der Beschneidung als Heilszeichen: Entsprechend etwa zuerst der priesterschriftlichen Theologie von Gen. 17,1–14 ist sie Zeichen des exklusiven Bundes Gottes mit Israel. Doch als äußerer, sichtbarer Akt ‚am Fleisch‘ vollzieht oder garantiert sie die Bundeszugehörigkeit nicht – auch einen entsprechenden Glauben bringt Paulus hier nicht als Bedingung dafür in Anschlag, dass sie die Bundeszugehörigkeit als solche zueignet. Vielmehr gilt hier: ohne das Tun des Gesetzes bedeutet das Zeichen der Beschneidung nichts.46 Das Tun des Gesetzes wird aber (so ist erneut im Vorgriff zu betonen) erst durch eine grundsätzliche Umkehr (μετάνοια) ermöglicht, die für Paulus darin besteht, dass der Mensch als Sünder, als von der Sünde beherrschter alter Mensch im Sichverlassen auf Christus gestorben ist.

Zwar gehört auch für einen fiktiven jüdischen Gesprächspartner das Tun des Gesetzes notwendig zum Bundesheil dazu47, doch Paulus radikalisiert diesen 46  Vgl. auch ganz klar 1. Kor. 7,19: „Beschnittensein ist nichts und Unbeschnittensein ist nichts, sondern: Gottes Gebote halten“. 47 Vgl. M. Wolter, a. a.O, S. 201.

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Zusammenhang, indem für ihn das Übertreten den Heilssinn der Beschneidung (als Heilszeichen) geradezu vernichtet („deine Beschneidung ist Unbeschnittenheit geworden“). Ohne das Tun des Gesetzes ist die ursprüngliche Zugehörigkeit zum Gottesvolk sistiert. Das lässt sich nur durch die Radikalität der von ihm diagnostizierten Sünde (Gottesferne und zugleich verkehrtes Für-sich-Begehren) erklären. Indem sie den Menschen beherrscht, wird die Lebenswirklichkeit des Bundes Gottes, wie sie das Gesetz vom Sünder fordert, als Ganze verfehlt. Das kann aber entsprechend dem in 2,1–5 zur Selbstgerechtigkeit und Notwendigkeit der Umkehr Gesagten heißen: Gerade das Selbstverständnis, dass die Beschneidung als Vollzug ‚am Fleisch‘ Merkmal der Zugehörigkeit zum Bundesheil ist, kann dazu dienen, die Selbsterkenntnis in der Sünde zu verweigern und die Wahrheit des eigenen Lebens zu verleugnen.   Dieses Selbstverständnis konnte sich etwa darauf berufen, dass gerade die Beschneidung wesentliches Gebot der Tora sei – indem es bei den Juden erfüllt würde, könnten sie als gerecht gelten.48 Das heißt, die Beschneidung gilt als Heilszeichen, weil sie auf grundlegende Weise das Gesetz des Bundes erfüllt.   Auf diesen Gedanken geht Paulus in Gal. 5,2–6 (im Kontext der Frage, ob Christen die Beschneidung brauchen) näher ein und widerspricht ihm, indem er auf den Gesamtsinn der Gesetzesforderung verweist, dem hier in Röm. 2,29 die Beschneidung des Herzens entspricht. Die Beschneidung ist als Heilzeichen nur wirklich, wenn das Gesetz insgesamt getan wird. Wer sich beschneiden lässt, „ist schuldig, das ganze Gesetz zu tun“ – das aber geschieht nicht. Wer sich beschneiden lässt, will „durch das Gesetz gerecht werden“ (statt durch Christus) – d. h. aber, er bleibt bei sich als Subjekt des Handelns nach dem Gesetz, als alter Mensch, behaftet. Das bedeutet, das Gesetz wird ihn verurteilen. Denn gerade das, was das Gesetz fordert, die gebotene Liebe, kann der Mensch für sich oder aus sich nicht hervorbringen. Das Gesetz fordert keine äußeren Taten als solche, sondern (mit Luther in seiner Vorrede gesprochen): Liebe von Herzens Grund.49 Die aber bringt der Geist der Gemeinschaft Christi auf, wenn der Mensch für sich im Sichverlassen auf Christus gestorben ist.

Später (in 4,11) findet sich noch eine Variante, die die Beschneidung als Heilszeichen mit der allen Menschen angebotenen Rechtfertigung (Gottesgemeinschaft) allein aus Glauben zusammendenkt. Darauf ist hier im Vorgriff hinzuweisen – zumal dies im Kontext der „Beschneidung des Herzens“ zu verstehen ist, von der Vers 29 redet (dazu gleich). In 4,11 heißt es zu Abraham, dem als noch Unbeschnittenem die Gerechtigkeit aus Glauben zugerechnet wurde:   „Das Zeichen der Beschneidung aber empfing er als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, den er hatte, als er noch nicht beschnitten war. So sollte er ein Vater werden aller, die glauben, ohne beschnitten zu sein, damit auch ihnen Gerechtigkeit zugerechnet wird.“   Nicht die Beschneidung schafft Abraham die Gerechtigkeit vor Gott, die Bundesgemeinschaft, sondern der Glauben: das Sichverlassen auf Gottes Bundesgnade. Das heißt jetzt: es ist der Glaube an Christus als „Beschneidung des Herzens“ im Geist der in 48  49 

Vgl. die Belege bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 154, Anm. 395. Vgl. das Zitat oben S. 63 f.

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ihm geschenkten Gemeinschaft, durch den eben die Gemeinschaft wirklich wird, die das Gesetz fordert. Schon für Abraham war die Beschneidung nur ein sekundäres Zeichen der Gerechtigkeit im Glauben – das aber für Heidenchristen unnötig, durch die Taufe ersetzt ist. Die Rechtfertigung vor Gott, die Gemeinschaft Gottes kommt durch die Umkehr im Glauben, das Mitsterben mit Christus, in dem sich der Mensch auf seine Gemeinschaft verlässt.

In den Versen 26 f. greift Paulus wie gesagt 2,14 f. wieder auf. Wenn die Nichtjuden oder Heiden die Forderungen des Gesetzes erfüllen, gehören sie auch ohne Beschneidung zu einer Gemeinschaft Gottes, die dem von der Beschneidung bezeichneten Bund entspricht. Ob und inwiefern und wodurch dies möglich ist, sagt Paulus hier noch nicht; dass auch die Heiden unter der Herrschaft der Grundsünde stehen, hatte er in 1,18 ff. ausgeführt. Es ließe sich erneut fragen, ob Paulus an eine seltene Ausnahme von Heiden denkt, die auch vorchristlich in gewissem Umfang das Gebotene erfüllen. Eine andere Interpretationsvariante wählten schon Origenes, Augustinus, Luther und im 20. Jahrhundert Bultmann50: Danach ist hier der äußerlich unbeschnittene Heidenchrist gemeint, der vermittels der Umkehr (μετάνοια), die Taufe und Glaube an Christus vollziehen, in der gebotenen Gemeinschaft lebt – im Gegensatz zu dem hier fiktiv angesprochenen Juden, der auf die Beschneidung als äußerliches Zeichen und den äußerlichen Besitz des Buchstabens der Tora pocht. Doch gibt es zwei Argumente gegen dies jedenfalls als Hauptsinn: Zum einen waren in der Parallele 2,14 f. offensichtlich nicht Heidenchristen gemeint (sie tun das Gesetz von Natur aus, so wie hier die Heiden von Natur aus unbeschnitten sind). Zum anderen würde im Blick auf den Heidenchristen die Opposition zum Juden, der den Buchstaben der Tora und die Beschneidung hat, nicht gut passen. Denn auch der Heidenchrist bezieht sich auf die Schrift, auch wenn er sich nicht mit der Äußerlichkeit des Buchstabens begnügt, sondern sie im Geist Gottes versteht, durch den er sie (die Tora) auch erfüllt.51 Theologisch systematisch ist gleichwohl der Zusammenhang schlüssig, dass die konkrete Möglichkeit, dass von Natur aus unbeschnittene Heiden das Gesetz in seinem Vollsinn erfüllen, in der Beschneidung des Herzens (Vers 29) durch Glauben und Taufe liegt. Das ist auch hier für den Gedankengang des Paulus mindestens als Hintergrund anzunehmen. Dagegen ist die Möglichkeit des dem Gesetz Gottes entsprechenden, nichtchristlichen Heiden hypothetisch offen, aber nicht recht zu Ende gedacht (er müsste insofern eine Ausnahme von der Herrschaft der Sünde darstellen). Es ist ja gerade der Kern des Evangeliums: „Weil das Gesetz, ohnmächtig durch das Fleisch“, also die Herrschaft der Sünde, „nichts vermochte, sandte Gott seinen Sohn in der Gestalt des Fleisches, das unter der Macht der Sünde steht […] damit die Forderung des 50 

Vgl. die Belege bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 158, Anm. 417. ist 2. Kor 3,6 zu vergleichen: Christen sind Diener „des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, der Geist aber macht lebendig“. 51  Hier

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Gesetzes durch uns erfüllt werde, die wir nicht nach dem Fleisch, sondern nach dem Geist leben“ (8,3 f.). Der Geist, durch den das wahre Leben wirklich wird, ist nicht natürlich gegeben, sondern kommt im Sichverlassen auf Christus. Die Forderung des Gesetzes wird im Grunde nur erfüllt durch den Tod des vom Gesetz angesprochenen Menschen im Sichverlassen auf Christus.

Im Zuge des Gedankengangs stellt sich die Wahrheit der Beschneidung als Metapher heraus: Wenn äußerlich unbeschnittene Heiden das Gesetz erfüllen, wird ihnen das von Gott im Gericht als Beschneidung zugerechnet – das heißt, ihnen wird das Heil der Gemeinschaft zuerkannt, die ursprünglich (im Blick auf den Bund mit Israel) die Beschneidung als Zeichen bedeutet. Dass die Unbeschnittenheit über den bloß äußerlich Beschnittenen richten wird, heißt nicht, dass die Heiden über die Juden richten – Richter ist Christus im Namen Gottes. Vielmehr bedeutet es, dass die Heiden, wenn sie in ihrem Leben das von Gott gebotene wahre Leben zeigen, damit eben die Wahrheit zeigen, die der Maßstab des Gerichts ist.

Die Verse 28 f. fassen das zusammen. Wenn Judesein (im Unterschied zum bloßen sich Jude Nennen: 2,17) in Wahrheit die Teilhabe am Heil eben der Gottesgemeinschaft und entsprechenden Gerechtigkeit bedeutet, und die Beschneidung traditionell als Ausdruck dieses Heils gilt, dann ist festzuhalten: es besteht nicht in der äußerlichen Beschneidung oder im buchstäblichen Besitz des Gesetzes. Im Gegenteil: das Selbstverständnis, das sich darauf selbstgerecht verlässt, kann eine Potenzierung des faktischen Verfehlens der Gottesgemeinschaft sein. Wahre Beschneidung ist die „Beschneidung des Herzens“.52 Wenn die Beschneidung des Herzens eine Wirklichkeit des Geistes oder im Geist ist, ist genau genommen wahrscheinlich noch nicht wie etwa in 8,3 f. und 2. Kor. 3,6 vom Geist Gottes (d. h. konkret dem Geist der Gemeinschaft Christi) die Rede – das ist erst sinnvoll möglich, wenn ab 3,21 ff. und 5,1 ff. die begonnene Christusgemeinschaft auch als solche dargestellt wurde. Dann wäre mit Geist hier zunächst nur die innere Bestimmtheit des menschlichen Denkens und Wollens gemeint. Das heißt: Eine Beschneidung des Herzens ist eben nicht eine äußere, sichtbare, buchstäblich feststellbare Eigenschaft am Fleisch, sondern eine Beschneidung im Geist. Andererseits meint sie auch dann ja eine Bestimmung der personalen Identität des Menschen – also im Grunde doch die Umkehr, von der 2,4 redete. Also wäre doch schon mitzuhören, dass diese Bestimmung eine Wirklichkeit der Gottesgemeinschaft ist. Wenn hier die Beschneidung des Herzens als Umkehr anklingt, dann ist auch an die Verheißung der entsprechenden eschatischen Veränderung des Menschen (genauer: Israels) durch Gott zu denken, indem er seinen Geist schenkt  – etwa wenn von einem neuen Bund die Rede ist, der im Namen Gottes so begründet wird: „ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein“ (Jer.31,33) – und 52 Zu entsprechenden alttestamemtlichen Passagen vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 206 mit Anm. 62.



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der neue Geist, der ein neues Herz bedeutet, Gottes Geist ist: „Und ich will euch ein neues Herz und einen neuen Geist in euch geben und will das steinerne Herz aus eurem Fleisch wegnehmen […] Ich will meinen Geist in euch geben und will solche Leute aus euch machen, die in meinen Geboten wandeln […]“ (Ez. 36,26).53

Die Frage ist nun noch, wen Paulus mit dem Juden im Verborgenen, dessen Herz beschnitten ist, meint. Die Möglichkeiten, sie zu beantworten, entsprechen dem eben zur Bedeutung des Geistes Gesagten, schließen sich aber wiederum nicht notwendig aus.

Entweder soll der Satz zunächst nur heißen, der wahre Jude sei eben der, der die Beschneidung des Herzens und Umkehr im genannten Sinn aufweist. Mitzudenken, ohne dass es hier schon gesagt ist, wäre dann, dass dies für Paulus konkret eben im Sichverlassen auf Christus, im Mitsterben mit dem Gekreuzigten geschieht – d. h. die Judenchristen sind die wahren Juden, in denen sich der Sinn des ursprünglichen Bundes erfüllt. Andererseits ist dafür die äußere Beschneidung nicht wesentlich – auch die äußerlich unbeschnittenen Völker können zur Beschneidung des Herzens kommen und in die Gemeinschaft des neuen Bundes eintreten. Insofern wäre bereits die weitere Konsequenz mitzudenken, dass alle Christen, auch die äußerlich unbeschnittenen Heidenchristen, in ihrer „Beschneidung des Herzens“ den Sinn des Bundes und damit die göttliche Wahrheit des Judeseins erfüllen54; sie tun das Gebotene von innen heraus, indem der Geist Gottes ihr Herz bestimmt – frei vom Gesetz, dem Gesetz gestorben, in der neuen Wirklichkeit des Geistes (vgl 7,6). dd)  3,1–20: Fortsetzung: Juden und Heiden unterliegen ganz der Sünde und dem Gericht. Durch eigene Werke wird kein Mensch vor Gott gerecht 1 Was nun ist der Vorzug des Juden oder was ist der Nutzen der Beschneidung? 2 Groß (oder: viel) [ist er] in jeder Weise! Zuerst, dass ihnen die Worte Gottes anvertraut wurden (ἐπιστεύθησαν τὰ λόγια τοῦ θεοῦ). 3 Was aber? – Wenn welche untreu waren, wird dann etwa ihre Untreue die Treue Gottes aufheben (μὴ ἡ ἀπιστία αὐτῶν τὴν πίστιν τοῦ θεοῦ καταργήσει;)? 4 Keineswegs! Es soll sich vielmehr Gott als wahrhaftig erweisen, jeder Mensch aber als Lügner, wie geschrieben steht: „Damit du dich als gerecht erweist in deinen Worten und siegst, wenn man mit dir rechtet.“55 5 Wenn aber unsere Ungerechtigkeit Gottes Gerechtigkeit erweist, was sollen wir sagen: Ist Gott etwa nicht ungerecht, wenn er den Zorn verhängt (Luther: daß er darüber zürnet)? Ich rede nach Menschenart (κατὰ ἄνθρωπον λέγω). 6 Keineswegs! Wie könnte Gott sonst die Welt richten? 7 Wenn sich aber die 53  Vgl. auch Ez.11,19 f.: „ich will ihnen ein anderes Herz geben und einen neuen Geist in sie geben und will das steinerne Herz wegnehmen aus ihrem Leibe […] damit sie in meinen Geboten wandeln“. 54  So auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 157. 55  Vgl. Ps. 50,6 nach der Septuaginta.

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Wahrheit Gottes durch meine Lüge als übergroß erwiesen hat (Wolter: umsomehr hervorgetreten ist) zu seiner Verherrlichung (εἰ δὲ ἡ ἀλήθεια τοῦ θεοῦ ἐν τῷ ἐμῷ ψεύσματι ἐπερίσσευσεν εἰς τὴν δόξαν αὐτοῦ), was werde dann ich noch als Sünder gerichtet? 8 Und [wahr ist ja] nicht, wie wir verlästert werden und Einige behaupten, dass wir sagten: „Lasst uns das Böse tun, damit das Gute komme“? Deren Verurteilung ist gerecht.   9 Was nun? Haben wir [Juden] einen Nachteil (προεχόμεθα; die Mehrheit übersetzt: haben wir einen Vorzug)56? Durchaus nicht! Denn wir haben vorhin Anklage erhoben, dass Juden und Griechen allesamt unter der Sünde sind, 10 wie geschrieben steht: „Da ist kein Gerechter, auch nicht einer. 11 Da ist kein Verstehender (oder: Verständiger), keiner, der Gott sucht. 12 Alle sind sie abgewichen, allesamt verdorben (oder: nichtsnutzig). Da ist keiner, der das Richtige tut (oder: der rechtschaffen handelt); keinen gibt es, nicht einmal einen. 13 Ein geöffnetes Grab ist ihr Rachen. Mit ihren Zungen betrogen sie; Schlangengift ist unter ihren Lippen. 14 Ihr Mund ist voll Fluch und Bitterkeit. 15 Rasch sind ihre Füße, um Blut zu vergießen. 16 Verwüstung und Elend sind auf ihren Wegen, 17 und den Weg des Friedens erkannten sie nicht. 18 Da ist keine Gottesfurcht vor ihren Augen.“57 19 Wir wissen aber: was das Gesetz sagt, sagt es denen, die unter dem Gesetz (wörtlich: die im Gesetz) sind, damit jeder Mund gestopft werde und die gesamte Welt schuldig dastehe (Wilckens: dem Recht verfällt) vor Gott (καὶ ὑπόδικος γένηται πᾶς ὁ κόσμος τῷ θεῷ): 20 Denn aufgrund von Werken des Gesetzes wird kein Fleisch gerechtfertigt werden vor ihm; denn durch das Gesetz [kommt] Erkenntnis der Sünde (διὰ γὰρ νόμου ἐπίγνωσις ἁμαρτίας).

Zunächst (in den Versen 1–4) bestimmt Paulus, was der heilsgeschichtliche Vorsprung der Juden, der ihnen mit den Worten Gottes (also mit Bund, Tora und Verheißung) gegeben ist, angesichts der Tatsache bedeutet, dass gleichwohl auch sie von der Gottlosigkeit und Verkehrtheit der Lebensverhältnisse beherrscht sind. Gott bleibt sich in seiner Zuwendung treu, auch wenn das zuerst das Gericht über die Sünde bedeutet. In diesem Zusammenhang diskutiert Paulus sodann (in den Versen 5–8) einen Einwand gegen die Gerechtigkeit des Gerichts, der sich so zuspitzen lässt: Wenn kein Mensch gerecht ist, ist dann nicht die Ungerechtigkeit (Sünde) notwendig – und also Gottes Zorn ungerecht? Denn dann hätte das Gesetz angesichts der allgemeinen Sünde nur die Bedeutung, Gottes Gerechtigkeit zu offenbaren – ohne die Möglichkeit des Menschen, es zu erfüllen. Vielleicht wäre nicht nur von einer menschlichen, sondern sogar von einer göttlichen Notwendigkeit zu reden: Unsere Ungerechtigkeit oder Sünde wäre von Gott als Voraussetzung der Offenbarung seiner Gerechtigkeit vorgesehen und insofern notwendig.

In den Versen 9 ff. wird die ganze Passage ab 1,18 zusammengefasst: Alle Menschen, Juden und Griechen bzw. Völker, leben in selbst verschuldeter Gottes56  Zu den Übersetzungsmöglichkeiten vgl. U. Wilckens a. a. O., S. 172; M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 225 f. 57  Zitiert werden weitgehend, mit kleinen Veränderungen und Kürzungen nach der Septuaginta Ps.13,1–3; Ps. 5,10; Ps. 139,4; Ps. 9,28; Jes. 59,7 f.; Ps. 35,2. Vgl. unten Anm. 63.



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ferne, die das Denken, Streben, Tun und Reden bestimmt. Die Juden haben hier weder Vor- noch Nachteil. Aus sich selbst, als Lebenssubjekt, das für sich Subjekt seiner Werke ist, wird niemand („kein Fleisch“) vor Gott gerecht. Das Gesetz Gottes, das den Menschen anspricht, wie er für sich selbst in Wahrheit ist und lebt, dient dem Menschen faktisch nur zur Erkenntnis der Sünde. Es stellt ihm seine Verurteilung dar – der Mensch, der für sich selbst Subjekt seines Lebens ist, ist von Gottlosigkeit und Verkehrung beherrscht und kann das Gesetz nicht erfüllen. Systematisch stellen sich im Besonderen folgende, zusammenhängende Fragen: 1. Was bedeutet die den ganzen Menschen beherrschende Sünde für das gegebene Bewusstsein der Worte Gottes, für die Wahrheit des Gottesverhältnisses – ist sie sistiert? Eine entsprechende Frage ließe sich im Blick auf eine sich in der christlichen Existenz wiederherstellende Grundsünde stellen – von der Paulus freilich nicht ausgeht.

2. Wie ist eine solche den ganzen Menschen beherrschende Sünde zu denken? 3. Wer ist der Mensch „unter dem Gesetz“, also der noch nicht mit Christus und damit dem Gesetz gestorbene Mensch? 1–2 Auch wenn die Beschneidung des Herzens – die, wie in 3,21 ff. ausgeführt werden wird, mit Christus allen Menschen eröffnet ist – die Wahrheit des Lebens vor Gott beginnen lässt, so ist doch der geschichtliche Vorsprung der Juden vor den Heiden, für den die Beschneidung ein Zeichen ist, nicht zu leugnen. Freilich besteht er nicht darin, dass ihnen der Bund Gottes wie eine feste, äußere Eigenschaft oder Selbstverständlichkeit zukommt. Sondern er bedeutet, dass sie mit den Worten Gottes betraut wurden. Ihre gemeinsame Geschichte als Volk und Sprachgemeinschaft ist dadurch bestimmt, dass der eine Gott und Schöpfer sie in ihrer Sprache anredete, sich ihnen zu verstehen gab, und darin sich selbst zum Bund (zur Fürsorge und Liebe), zu einer Gemeinschaft des Lebens bestimmte – und das heißt: dazu kondeszendierte. In 9,4 f. wird als das, was die Israeliten kennzeichnet, Kindschaft, Herrlichkeit, der Bund, das Gesetz, der Gottesdienst und die Verheißungen genannt. Erst dort, in den Kapiteln 9–11, führt Paulus die Frage der Erwählung Israels weiter aus.

Dass ihnen die Worte Gottes anvertraut sind, bedeutet, dass diese die Geschichte Israels (als Lebens- und Sprachgemeinschaft) definieren – also die Geschichte Israels, wie sie in öffentlicher Geltung erinnert, erfahren und erwartet wird. Dies tun sie in Gestalt der überlieferten Schriften insbesondere von Gottes Zusagen (Offenbarungen) seines Bundes, die das Gesetz als entsprechende Lebensordnung einschließen, aber auch in Gestalt der weiteren Bundesgeschichte etwa in den Gerichts- und Verheißungsworten der Propheten, die im Namen Gottes ergehen.

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Was der menschheitliche Sinn dieser Erwählung Israels ist, der sich dann in der Bedeutung von Kreuz und Auferstehung Jesu für alle Menschen offenbart, reflektiert Paulus hier nicht.

Doch wenn den Juden die Worte Gottes anvertraut sind, dann soll ihnen auch vertraut werden. Wenn Gott sich ihnen zu verstehen gab, um ihnen ein Leben im Bund, als seine Kinder zu eröffnen, dann wollen diese Worte der gottesdienstlichen oder prophetischen Erinnerung und Ermahnung auch anerkannt und im Leben beantwortet werden. Da dies nicht geschieht, ist der Vorzug sistiert. Die Geltung der Worte Gottes ist eine Äußerlichkeit geworden, von der das wirkliche Leben in der es beherrschenden Struktur entfremdet ist. Eben insofern Paulus von einer Grundstruktur des Lebens in der Sünde (Ungerechtigkeit) ausgeht, die Juden wie Heiden beherrscht, rechnet er auch nicht mit der Möglichkeit der Juden, den Worten Gottes wenigstens mehr oder weniger gerecht zu werden. Wie Röm. 4 zeigen wird, schließt das freilich nicht aus, dass es ihnen auch vor Christus offenstand, im Glauben an Gottes Gnade ohne des Gesetzes Werke gerechtfertigt zu sein. Dieser Glaube aber erreicht jetzt seine Erfüllung als Glaube an Christus.

3–4 „Wenn welche untreu waren“ – im Kontext des bisher Gesagten und auch in Anbetracht der erneuten Diagnose, dass jeder Mensch Lügner ist (also die Wahrheit Gottes, zu dessen Gemeinschaft er bestimmt ist, verleugnet), können nicht einige, sondern nur alle gemeint sein – und zwar hier zunächst alle Juden. Vielleicht ist die Formulierung „welche“ oder „einige“ damit zu erklären, dass Paulus sich auch hier schon mit einem Einwand aus traditionell jüdischer Perspektive auseinandersetzt58 – dass es sich also um zwei zusammenhängende Einwände handelt. Der erste Einwand (der zweite findet sich in den Versen 5–8) basierte dann eben auf der Annahme der geschichtlichen Vorzugs Israels, zum Bund erwählt zu sein. Er lautete: die Sünde einiger, der Bundesbruch einiger hebt nicht den Bund Gottes mit dem Volk insgesamt auf. Denn, so wäre zu ergänzen: wenn der Lebenszusammenhang des Volkes wesentlich ein Leben in der Bundesgemeinschaft ist (wie es sich im Gebet, im Gottesdienst, in der Gesetzestreue ausdrückt), dann hebt die Sünde Einzelner oder auch der Einzelfall von Sünde dies nicht auf. Außerdem gibt es die Möglichkeit der Vergebung oder Sühne im Opferkult des Tempels.

Paulus hält fest, dass in der Tat die Untreue gegenüber den Worten Gottes (das Nichtvertrauen, das gemeinschaftsverachtende Leben) die Treue Gottes (πίστις), also seinen Bundes- oder Gemeinschaftswillen nicht aufhebt. Das gilt hier im Blick auf die Juden, aber anders auch im Blick auf die Sünde der Völker, die zum einen im Sinne von 1,18 ff. auch vor Gott verantwortlich sind, und zum anderen ebenfalls zur eschatischen Gemeinschaft bestimmt sind.

Die Treue Gottes heißt aber nicht, dass die Juden nicht der Wahrheit des göttlichen Gerichts über die allgemeine Sünde unterliegen. Es sind nicht nur einige, 58 So

U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 161–164.

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die untreu waren – wie die Heiden sind die Juden in einem gottfernen Lebensprinzip befangen, das sie zugleich verleugnen: Alle Menschen sind Lügner. Die Treue Gottes ist also nicht in der Treue oder Gerechtigkeit wenigstens einiger Menschen begründet. Paulus widerspricht jedenfalls im Blick auf die Gegenwart der Vorstellung, wie sie sich z. B. in Jes.4,2–6; 6,13 findet, dass gegenüber der verbreiteten Herrschaft der Sünde, wie sie das prophetische Gerichtswort ausspricht, doch ein heiliger Rest bestehen bleibt. Wilckens weist darauf hin, dass sich zur Zeit des Paulus die Auffassung, dass alle der Sünde unterliegen, z. B. auch in der Qumrangemeinde findet.59   In diesem Zusammenhang ist erneut an die Frage zu erinnern, wie eigentlich bei Paulus die Totalität der Sünde, das „Alle“, begründet ist. Der Herrschaftscharakter der Sünde für den Einzelnen wurde im Anschluss an Kap. 1,18 ff. mit dem Zusammenhang von Gottlosigkeit und den sich verselbständigenden Suchtstrukturen des Lebens beschrieben.   Dass alle der Sünde unterliegen, entspricht wie gesagt bereits dem späteren Gedanken des mit dem Sündenfall gegebenen peccatum originale (der Ursprungs- oder Erbsünde), der sich ja in der Tat dann in Röm. 5,12 ff. (durch einen Menschen ist die Sünde in die Welt gekommen) weiter andeutet. Doch der Verweis auf die Ursprungssünde Adams setzt ja die Allgemeinheit der Sünde nur mythisch voraus, begründet sie aber nicht. Paulus diskutiert die Allgemeinheit nicht, sondern setzt sie voraus.   Ein möglicher Begründungsansatz wäre, dass die Allgemeinheit oder Selbstverständlichkeit der Gottlosigkeit und Verkehrung eine Erfahrung ist – eine Erfahrung, die vermutlich der Erfahrung der Erlösung von der Sünde korrespondiert. Diese Erfahrung würde dann im Blick auf die Juden besagen, dass sie nur scheinbar, im Sinn besagter Selbstgerechtigkeit in der Bundesgemeinschaft leben  – was zugleich das Fehlen der Selbsterkenntnis bedeutet. Das widerspräche dann auch der Möglichkeit der Sühne im Opferkult. Doch bloß eine menschliche, sozusagen empirische Erfahrung, dass das kollektive Leben kein Leben im Geist des Bundes ist, könnte die strenge Allgemeinheit der Sünde nicht begründen. Erweist sich die Allgemeinheit der Sünde also erst durch die schlechthin allgemeine Bedeutung des (stellvertretenden) Gerichts über die Menschheit und des Sühnopfers (der gemeinschaftstiftenden Hingabe), die der Tod Christi, als eschatologische Überbietung der bisherigen Opferkults bedeutete? So wird ja auch in 5,12 ff. die in ihrem adamitischen Ursprung begründete Allgemeinheit der Sünde wesentlich im Gegenüber zur Gerechtigkeit Christi erscheinen  – wie die Sünde des Einen das Urteil über alle bedeutet, so die Gerechtigkeit des Einen die Rechtfertigung für alle (vgl. 5,18).   Natürlich war die Sünde auch schon alttestamentlich vorchristlich durch das Gesetz und prophetisches Gerichtswort ausgesprochen und bedacht, auch als mehr oder weniger allgemeine Macht. Doch vielleicht erscheint sie nun deshalb als schlechthin allgemein, weil die in Christus eröffnete Gerechtigkeit (das durch ihn eröffnete Leben aus Gottes Gemeinschaft) bedeutet, dass nicht der Mensch für sich (als alter Mensch) Subjekt des Lebens ist, sondern im Moment des Glaubens Gottes Geist der Gemeinschaft, den eben das Sichverlassen auf Christus schenkt. So impliziert die Möglichkeit der Gemeinschaft Christi zugleich eine neue, grundsätzlichere, nämlich auf das Subjekt des Lebens überhaupt bezogene Auffassung der Sünde  – so wie schon Jesu Predigt vom Kommen der Gottesherrschaft dieses Kommen zugleich zum aktuellen, konkreten Kriterium des Gerichts machte. 59 Vgl.

U. Wilckens, a. a. O., S. 164.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Der Gedanke, dass die Sünde der Menschen, d. h. hier: die Untreue gegenüber den Worten Gottes, den Gemeinschaftswillen Gottes nicht aufhebt, bedeutet gerade nicht, dass Paulus den Juden trotz der Untreue die Gerechtigkeit, das Heil der Bundesgemeinschaft zuspricht. Vielmehr ist dies zunächst eine Aussage des Glaubens an Gott, über Gott: Trotz der Sünde bleibt Gottes Gemeinschaftswillen bestehen; die entsprechenden Zusagen des Bundes und der eschatischen Verheißung bleiben in Geltung – ebenso wie die Wahrheit der Gerichtsworte. Das aber heißt: Gott setzt seinen Gemeinschaftswillen durch  – und dieser Gemeinschaftswillen schließt die Durchsetzung der Gerechtigkeit Gottes, die Wahrheit des Gerichts gegen die Lüge der Menschen ein (Vers 4 im Zitat von Ps. 50,6). Das ist der Sinn des Gerichts, in dem sich die Menschen als Lügner erweisen oder bekennen müssen: dass sich die Gerechtigkeit, die dem Bund entspricht, durchsetzt. So bleibt Gott sich selbst in seinem Gemeinschaftswillen treu. Konkret bedeutet das für Paulus aber nichts anderes als das, was er in 3,21 ff. ausführt: Die Gerechtigkeit Gottes, bezeugt von Gesetz und Propheten, ist in Christus offenbart worden  – hier ist das Gericht als Gnade der Gemeinschaft vollzogen für alle, die im Glauben mit Christus gestorben sind. Was dies für diejenigen Juden bedeutet, die diesen Glauben nicht teilen, davon handeln dann die Kap. 9–11.

5–8 Nun verhandelt Paulus in zwei Anläufen den Haupteinwand (oder: den zweiten Einwand) aus traditionell jüdischer Perspektive (Vers 5 und 7). Wenn unsere Ungerechtigkeit, unsere Lüge notwendige Voraussetzung für die Durchsetzung von Gottes Gerechtigkeit, von Gottes Wahrheit ist, wenn also Sünde und Lüge sozusagen göttlich notwendig sind – wäre es so (in allzu menschlicher Weise) gedacht nicht ungerecht, wenn Gott tatsächlich verurteilt? Wenn alle Sünder sind und keine Möglichkeit besteht, das Gesetz zu erfüllen und sich zur Gerechtigkeit und Wahrheit Gottes zu entscheiden, wenn also der Sinn des Gesetzes nur darin läge, dass sich Gottes Gerechtigkeit erweist und er die Sünder verurteilt – wäre dann nicht Gott ungerecht? Setzt der Sinn des Gerichtes Gottes nicht voraus, dass die Gebote erfüllbar sind (also auch mehr oder weniger erfüllt werden)  – statt dass es nur Ungerechtigkeit und Lüge feststellt, um Gottes Gerechtigkeit und Macht und Wahrheit zu erweisen? In letzter, absurder Konsequenz würde daraus folgen, dass die Gerechtigkeit oder das Gute garnicht anzustreben ist, da das Gute – vermutlich nun: die Gnade im Gericht – nur durch das Böse kommt. Offenbar haben jüdische oder judenchristliche Gegner Paulus eben dies als Konsequenz seiner Auffassung von der Herrschaft der Sünde, von der allein Gottes Gnade in Christus befreit, vorgeworfen (Vers 8).60 Im Grunde ist hier schon die Frage versteckt, ob der Mensch für sich die Freiheit hat, sich für oder gegen das (rechte) Gottesverhältnis, für oder gegen Sünde und Heil zu ent60  Zu den syntaktischen Schwierigkeiten der Verse 7 f. vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 221 f.



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scheiden, oder ob mit dem Fürsichsein des Subjekts der Entscheidung faktisch schon die Verkehrung verknüpft ist. Diese Frage wurde dann in neuen Konstellationen insbesondere von Augustinus (im Streit mit Pelagius) oder von Luther (im Streit mit Erasmus, aber anders auch in Auseinandersetzung mit der spätmittelalterlichen Sünden- und Gnadenlehre) verhandelt. An sie wiederum schließt sich sogleich die Frage an, ob der Mensch bei seiner Rechtfertigung (kraft der bereits mit Christus gegebenen Gnade) frei und gefordert ist, durch das Tun des Gebotenen mitzuwirken, oder ob allein der Mensch, dem im Sichverlassen auf Christus mit der Rechtfertigung auch der Geist geschenkt ist, in dessen Gemeinschaft das wahre Leben erreicht.61 Das impliziert die Frage nach der Wirklichkeit der Sünde im Glaubenden und die Frage, wie seine Christusgemeinschaft zu denken ist.

Paulus weist die Logik des Einwandes ab. Die Begründung (in Vers 6) bleibt aber zunächst knapp und ergibt sich aus dem zuvor und nachfolgend Gesagten. In 6,1 ff. wird Paulus den Vorwurf erneut aufgreifen und mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit und Gnade des mit Christus Mitsterbens beantworten, welches von der Sünde befreit.

Gott ist im Gericht der Sünde gerecht und wahr, auch wenn die Sünde (wie in den Versen 9 ff. durch Gerichtsworte des Alten Testaments bekräftigt wird) allgemein ist und dies bedeutet, dass allein Gott (und nicht der Mensch) seine Gerechtigkeit gegen unsere Ungerechtigkeit durchsetzt – und zwar (wie gleich 3,21 ff. ausführt), indem mit dem Gericht die Gnade in Christus dem Sünder die Gerechtigkeit in seiner Gemeinschaft schenkt. Die Allgemeinheit sowie der Suchtcharakter der Sünde (dass sie den Einzelnen beherrscht) schränkt also die Gültigkeit der Worte Gottes keinesfalls ein. In systematischer Absicht lässt sich der Gedanke einfügen: Auch wenn sie über den Menschen ganz herrscht, auch wenn der Sünder nicht die Freiheit hat, sich selbst zur Gerechtigkeit, zur Gemeinschaft Gottes zu bestimmen, ist dies sein eigenes Leben, das er ganz als er Selbst lebt, und zu dem er nicht äußerlich gezwungen wird. Die Sünde ist eine innere Notwendigkeit geworden, aber nicht gezwungen (neccesario, non coacte).62

Die Verse 9–20 fassen wie gesagt den ganzen 1.Teil des Briefkorpus zusammen. Aus der Geschichte des Bundes Gottes mit den Juden – zu denen Paulus sich hier ausdrücklich dazuzählt – ergibt sich aktuell weder ein Vorteil (ein privilegiertes Gottesverhältnis), noch bedeutet die Sistierung des Bundesheils wegen der Sünde einen Nachteil  – denn Juden wie Griechen, d. h. alle Menschen, sind unter der Sünde (der Begriff Sünde fällt hier das erste Mal). Schon die Formulierung, dass alle unter der Sünde sind, drückt aus, dass Sünde nicht als bestimmte 61  Zu dem entsprechenden Problem der Paränese bei Paulus vgl. schon oben: 2., Theologischer Prolog, S. 22–24. 62  Bevor Gott das Heil in uns bewirkt, bewirken wir nur Sünde – „Necessario vero dico, non coacte“ (notwendig, sage ich, nicht gezwungen). „Wenn der Mensch ohne Heiligen Geist ist, tut er nicht durch Gewalt […] das Böse, […] sondern aus eigenem Antrieb und frei [sponte et libenti voluntate]. Diese Freiwilligkeit […] aber kann er nicht aus eigenen Kräften unterlassen.“ M. Luther, De servo arbitrio (1525), WA 18, S. 634 (LDStA 1, S. 288,14–19; deutsch S. 289).

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Tat, sondern als Macht zu verstehen ist, die das Leben der Einzelnen und das gemeinsame Leben beherrscht. Später (7,23; 8,2) wird Paulus vom Gesetz der Sünde reden, das den Menschen beherrscht. Dass die Annahme der allgemein herrschenden Macht der Sünde nicht seine Erfindung ist, sondern schon ein durchgängiger Sinn der Klagen und Gerichtsworte von Psalmen, Propheten und Tora selbst ist, will Paulus in den Versen 10–18 durch ein Cento aus Psalmstücken und Jesaja zeigen. Zitiert wird weitgehend, mit kleinen Veränderungen und Kürzungen nach der Septuaginta Ps.13,1–3; Ps. 5,10; Ps. 139,4; Ps. 9,28; Jes. 59,7 f.; Ps. 35,2.63   Freilich reden die zitierten Passagen explizit nur von einer faktischen, nicht von einer notwendigen Allgemeinheit der Sünde. Erst Paulus führt dies in dem Sinn aus, dass alle in dem Sinne unter der Macht der Sünde leben, dass eine Selbstbestimmung zur Gerechtigkeit vor Gott unmöglich ist.

In der Weise, wie Paulus sie zusammenstellt, bestimmen die Zitate das allgemeine ‚unter der Sünde Sein‘ näher. Am Anfang (in den Versen 10 und 12) und im zusammenfassenden Schluss (Vers 18) bekräftigen sie die allgemeine Verkehrheit überhaupt; ansonsten zeigen sie, worin sie sich ausdrückt. Nicht Einer versteht, wie es um die Wahrheit der Menschheit, der Welt vor Gott wirklich bestellt ist. Niemand fragt auch nur wirklich nach Gott  – eine Fraglosigkeit, die auf der anderen Seite eine verkehrte Selbstsicherheit, die ausfallende Selbsterkenntnis bedeutet. Die Verse 13–17 deuten an, was dieser Verkehrteit aktiv entspricht: ein Leben in Lüge, welches die Wahrheit des Lebens vor sich und den Anderen verleugnet (vgl. auch schon Vers 4), so dass aus dem Mund, aus dem göttliche Wahrheit und Liebe sprechen sollte, der Tod spricht – sowie ein Leben, in dem der eine dem Anderen Gewalt antut, weil er sein Für-sich-Begehren durchsetzt. Vers 18 fasst zusammen: Es fehlt die Furcht Gottes – Gott wird nicht als Gott anerkannt. 19–20 „Wir wissen aber“ – was folgt, bringt die Zusammenfassung des ganzen bisherigen Gedankens (ab 1,18) auf den höchsten Punkt. Paulus setzt nun an, den Kern seiner Theologie zu formulieren: Das Gesetz Gottes dient nicht der Rechtfertigung vor Gott, sondern das Gesetz Gottes, wie es jetzt (im Kontext des allen Menschen geltenden Evangeliums) zu predigen ist, offenbart die Schuld der Welt, d. h. die Sünde aller Menschen. Der Grund dafür ist, dass diese Sünde aller (gleichermaßen Juden und Heiden umfassend) im Zusammenhang von Gottlosigkeit oder Vergötzung des Geschöpflichen und Für-sich-Begehren eben eine Macht des Lebens ist, die sein Subjekt – sein Entscheiden, Wollen, Denken ganz 63 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 171 f.; M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 227 f.  – Die Exegeten fragen, ob Paulus diese Sammlung bereits als Tradition  – vielleicht im liturgischen Gebrauch – vorlag (vgl. U. Wilckens ebd. und M. Wolter, a. a. O., S. 229 f.). Dafür gibt es aber keine weiteren Hinweise; mindestens ebenso wahrscheinlich ist, dass er das Schriftzeugnis selbst zusammenstellt.

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bestimmt. Eine Selbstbestimmung zum Tun des Gesetzes (des Gebotenen) und damit zur Rechtfertigung vor Gott, zur Gemeinschaft Gottes ist ausgeschlossen. Eine entscheidende Interpretationsfrage dabei ist: Wer sind die „unter dem Gesetz“, denen das in den Versen 10–18 zitierte Gericht gilt? Natürlich sind es zunächst die Juden, denen die Tora gegeben war.64 Indem das Gericht des Gesetzes aber nun die „gesamte Welt“ zur Selbsterkenntnis in der Schuld und Sünde bringt, spricht seine Predigt jetzt offenbar nicht nur die Juden, sondern jeden Menschen an, der für sich Subjekt seiner Werke und faktisch von der Sünde beherrscht ist.

Dieser theologische Kern findet sich ähnlich in Gal. 2,16 ff.  – daher ist es erneut65 geraten, dies vergleichend hinzuzuziehen. Durch Werke des Gesetzes wird kein Fleisch gerecht (oder Gal. 2,16: durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht) – vielmehr offenbart das Gesetz die Sünde aller. Das heißt in der stärkeren Formulierung von Gal. 2,19: es tötet, es offenbart den Tod als Wahrheit des Menschen, der „unter der Sünde“ ist (Röm. 3,9) – „ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben“. Das Gesetz ist nicht mehr das nur den Juden gegebene Gesetz, sondern es spricht jetzt wesentlich den Menschen überhaupt an, der für sich Subjekt seiner Werke ist – nichts anderes meint hier das Wort „Fleisch“. Unter dem Gesetz ist überhaupt das „ich“, das Subjekt seiner Werke ist, und das Gesetz spricht zu ihm (Röm. 3,19) eben im Rahmen der nun an alle Menschen ergehenden Predigt des Evangeliums, das die Gerechtigkeit aus Glauben offenbart (1,16 f.). Das heißt, das Zitat der Gerichtsworte über Israel (hier in Röm. 3,10–18) erweitert das Gericht nun auch auf die Völker. Das Gesetz Gottes zwingt den Menschen überhaupt zur Selbsterkenntnis, indem es ihn mit der Unmöglichkeit konfrontiert, aus sich selbst das Gebotene (mit Röm. 13,8 oder Gal. 5,14 zusammengefasst: die gebotene Liebe) hervorzubringen. So offenbart es ihm die Macht der Sünde. Zugleich widerspricht es potenziert einem Selbstverständnis, in dem sich der Mensch, dem das Gesetz Gottes bereits gesagt ist, als Subjekt oder Täter seiner Gerechtigkeit versteht. Nicht nur ist eine Selbstbestimmung zum Tun des Gesetzes ausgeschlossen, sondern dem entsprechenden Selbstverständnis, durch Werke des Gesetzes gerechtfertigt zu werden, muss als Potenzierung der Verkehrung widersprochen werden, die die Selbsterkenntnis verweigert. Dieses Selbstverständnis ist für Paulus als jüdisch konnotiert.

„Ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben“ als Inbegriff der Selbsterkenntnis heißt dann, ich habe als der Mensch, der für sich selbst (mit sich allein) das Subjekt seiner Werke ist, den Tod, die Getrenntheit des Sünders als meine Wahrheit realisiert. Das heißt nicht, dass ein wirkliches Tun des Gebotenen – die völlige Liebe, das Leben aus der Gemeinschaft – nicht vor Gott gerecht (das wahre Leben) wäre. Doch dieses Tun 64 So

M. Wolter, Der Römerbrief 1, S. 230 f. Vgl. oben im Prolog c) (S. 17 ff.); insbesondere im Kontext von 6,1–11 werde ich auf den Vergleich zurückkommen. 65 

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

des Gesetzes schenkt nur der Geist Gottes oder das Leben Christi „in mir“, wenn das Ich für sich tot ist und sich auf die Gemeinschaft Christi verlässt (Gal. 2,20). Nicht der Mensch für sich kann es tun, um gerecht zu werden – sondern die ihm im Sichverlassen auf Christus geschenkte Rechtfertigung, die im Sichverlassen in ihm lebende Christusgemeinschaft lässt ihn handeln, wie es dieser Gemeinschaft entspricht. Das besagt auch gleich Röm. 3,27: Die Gerechtigkeit aus Glauben widerspricht dem Rühmen, also dem Selbstverständnis, für sich selbst durch Werke das Gesetz zu erfüllen.

Kurz: Unter der Bedingung der Sünde, in der der Mensch, der für sich Subjekt seines Tuns und Lebens ist, in allem Tun und Leben doch in sich gefangen bleibt, dient das Gesetz Gottes nur der Selbsterkenntnis in eben dieser Sünde. Den geistlichen Sinn des Gesetzes Gottes, seinen Gemeinschaftssinn erfüllen kann der Mensch nur in dem Geist Gottes, der der Geist der Gemeinschaft Christi ist und sich im Glauben an ihn (an die Vergebung, die er bedeutet) vermittelt.

b)  Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25 aa)  3,21–3,31: Gerechtigkeit durch Glauben an Christus 21 Nun aber ist ohne Gesetz die Gerechtigkeit Gottes (δικαιοσύνη θεοῦ; Luther: die Gerechtigkeit die für Gott gilt) offenbar geworden, bezeugt von dem Gesetz und den Propheten, 22 und zwar die Gerechtigkeit Gottes (Luther: Gerechtigkeit für Gott) durch Glauben an Jesus Christus (διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ) für alle Glaubenden. Denn es ist kein Unterschied: 23 Alle haben nämlich gesündigt und entbehren der Herrlichkeit Gottes (τῆς δόξης τοῦ θεοῦ; Luther: und mangeln des Ruhms / den sie an GOTT haben sollen), 24 [und] werden geschenkweise (Luther: ohn verdienst) gerechtfertigt aus seiner Gnade durch die Erlösung (διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως), die durch Christus Jesus [geschehen ist] (oder, da wörtlich von der Erlösung in Christus die Rede ist: „die in Christus Jesus [liegt]“), 25 welchen Gott als Sühnemittel (oder mit Wilckens: Sühneort) hinstellte – durch Glauben – in seinem Blut (ὃν προέθετο ὁ θεὸς ἱλαστήριον διὰ [τῆς] πίστεως ἐν τῷ αὐτοῦ αἵματι; Luther: Welchen GOTT hat fürgestellet zu einem Gnadenstul / durch den Glauben in seinem Blut; neue Lutherbibel: Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut; Wolter: den Gott durch den Glauben zu einem Gnadenort gemacht hat in seinem Blut), zum Erweis seiner Gerechtigkeit, um der Vergebung der zuvor geschehenen Sünden willen 26 durch die Geduld Gottes (Luther: welche biß anher blieben war unter Göttlicher Gedult) – zum Erweis seiner Gerechtigkeit in der jetzigen Zeit (ἐν τῷ νῦν καιρῷ), auf dass er gerecht ist und gerecht macht den, der aus Glauben an Jesus [lebt – oder: ist].   27 Wo [bleibt] nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz: [das] der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. 28 Denn wir behaupten, dass ein Mensch durch Glauben (Luther: allein durch den Glauben) gerechtfertigt wird ohne Werke des Gesetzes. 29 Oder ist Gott nur [Gott] der Juden? Nicht auch der Heiden? Ja, auch der Heiden, 30 – wenn denn Gott einer ist (oder: derselbe ist, εἴπερ εἷς ὁ θεὸς), der sowohl die Beschnittenen (wörtlich:



b)  Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25

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die Beschneidung) aus Glauben rechtfertigen wird als auch die Unbeschnittenen (wörtlich: die Vorhaut oder Unbeschnittenheit) durch den Glauben. 31 Setzen wir nun das Gesetz außer Kraft durch den Glauben? Mitnichten! Sondern wir richten das Gesetz auf (νόμον ἱστάνομεν; Wolter: wir halten am Gesetz fest)!

Nachdem klar gestellt ist, dass alle Menschen unter der Macht der Sünde sind, also das Gesetz Gottes (wie weit auch immer es ihnen bewusst ist) gar nicht (mehr) erfüllen können und somit dem Urteil Gottes unterliegen, welches den Tod als Wahrheit dieses Lebens bedeutet, verkündigt Paulus nun endlich das Evangelium. Er verkündigt die Mitte seiner Theologie, die er in 1,16 f. angekündigt hatte: Gott macht den Sünder gerecht durch die unverdiente Zuwendung, die Gnade, die die Übernahme unserer Todeswahrheit durch Christus bedeutet, indem der Sünder sich darauf verlässt (glaubt).66 Darin besteht die Befreiung (Erlösung) von der Sünde, also von einem unwahren, sinnlosen Leben, in dem der Mensch von Gott und in Wahrheit auch von den anderen Menschen, von der Schöpfung und von sich selbst getrennt ist. Die Verse 21–26 stellen dieses Evangelium dar; die Verse 27–30 ziehen im Rückbezug auf die Frage des Vorsprungs der Juden und ihrer Kenntnis des Gesetzes die erste Konsequenz: Wie die Macht der Sünde allgemein ist, so wird auch die Gnade und Gerechtigkeit für alle Menschen (Juden und Heiden) wirklich, indem sie glauben. Kein Mensch kann sich selbst die Gerechtigkeit als Leistung (im vermeintlichen Tun des Gesetzes) zuschreiben – sie ist allen geschenkt, die sich verlassen auf Christus. Vers 31 macht den Übergang zu 4,1–25, indem vom Evangelium aus zurückgefragt wird, wie sich nun die Wahrheit des Gesetzes darstellt und wie sich der Glauben (das Sichverlassen) dazu verhält. Indem in diesem Kontext (am Beispiel Abrahams) die mit schon Vers 29 wieder explizit aufgegriffene Frage des Verhältnisses von Juden und Heiden fortgeführt wird, also 4,1–25 die Verse 3,29–30 weiter ausführen, könnte man auch 3,29–4,25 als Zusammenhang sehen (entsprechend klingt 3,28 wie eine Zusammenfassung).

21 (26) Vermutlich entspricht das „Jetzt“ oder „Nun“ der Rede von der jetzigen Wendezeit (vom Kairos) aus Vers 26.67 Das heißt: die Gerechtigkeit Gottes ist jetzt offenbar geworden – in der nun angebrochenen, endgültigen Heilszeit, der Zeit des verheißenen Christus, in der Gott die Macht der Sünde überwunden hat. Dass sie offenbar wurde, heißt, dass Gott selbst sich in ihr neu zeigt und sie zugleich als Wende der menschlichen Geschichte, des menschlichen Lebens vollzieht – sie durchsetzt. Sie ist denen eröffnet, die in keiner Weise damit rechnen konnten – eben den Sündern, die sich im Sinne des Gesetzes Gottes verurteilt wissen mussten (die den Tod als ihre Wahrheit erkennen mussten). 66  Zur Gerechtigkeit Gottes (einschließlich der Vor- und und Wirkungsgeschichte dieses Begriffs) vgl. den gründlichen Exkurs bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 202–233. 67 Anders M. Wolter, a. a. O., S. 246.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Entscheidend ist hier zunächst die Frage, was die Gerechtigkeit Gottes im Verhältnis zu seinem Gesetz besagt – wenn nun gerade die Gerechtigkeit Gottes, die das Gesetz bezeugt, ohne Gesetz offenbar wurde (dieselbe Spannung greift Vers 31 wieder auf ). Die Gerechtigkeit Gottes wurde für den Sünder (für seinen Glauben: Vers 22 und 26) am Sünder offenbar (sie macht ihn gerecht: Vers 26). Sie setzt sich (als Tat Gottes) durch, indem sie die Sünder gerecht macht  – indem sie ihnen in Christus die Gemeinschaft schenkt, die im Sichverlassen auf ihn wirklich wird. Dass eben diese Gerechtigkeit auch schon durch Gesetz und Propheten bezeugt ist68, meint konkret nicht nur, dass Gott schon in der Tora und dem verurteilenden Gerichtswort der Propheten seine Gerechtigkeit offenbart, sondern wahrscheinlich auch die prophetische Verheißung der endgültigen Erlösung69, die nun eben darin wirklich wird, dass Gott die Sünder gerecht macht, indem sie sich auf Christus verlassen. Sie bietet den heilsgeschichtlichen Verstehenshorizont dessen, was durch Christus geschehen ist. Der Rückbezug v. a. auf Abraham im 4. Kapitel wird darüber hinaus zeigen, dass auch die Gerechtigkeit des Menschen (vor Gott) durch Glauben schon durch die Schrift bezeugt ist – dass also schon die Gerechtigkeit des Bundes ursprünglich eine Gerechtigkeit des Glaubens, nicht der Werke ist.

Nach Paulus ist die Gerechtigkeit Gottes eben „nicht als eine Eigenschaft, sondern als ein Beziehungsgeschehen zu begreifen“.70 Die Gerechtigkeit Gottes ist sein Gemeinschaftswillen, dem die Bestimmung des menschlichen Lebens entspricht. Das heißt für den Skopus der Spannung, dass die Gerechtigkeit, die das Gesetz bezeugt, ohne Gesetz offenbar wurde: Das Gesetz fordert vom Sünder die Bestimmung zur Gemeinschaft – indem er es nicht erfüllen kann, konfrontiert es ihn mit dem Urteil Gottes (mit dem Tod). Durch Christus aber setzt Gott die Gemeinschaft, die der Sinn des Gesetzes ist, wie ein Leben aus dem Tod durch. Die Gerechtigkeit Gottes, die offenbar wurde, ist die Gerechtigkeit, die den gerecht macht, der durch das Gesetz zur Erkenntnis seiner Sünde kam (3,20) und an die in Christi Tod geschenkte Gemeinschaft glaubt. Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes und der Erweis der Gerechtigkeit Gottes, die durch Glauben besteht und den Menschen gerecht macht, die also die Gerechtigkeit des Menschen vor Gott ist, sind also gar keine Alternative. In der Rechtfertigung des Sünders vollzieht sich Gottes Gerechtigkeit darin, dass er den Ungerechten rechtfertigt, ihm also im Moment der Selbsterkenntnis seine Gemeinschaft zuspricht. Deswegen versteht Luther hier auch „Gerechtigkeit Gottes“ richtig als „Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“. 68  U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 186 versteht das Bezeugen forensisch im Sinne einer traditionell jüdischen Wahrheitsnorm vor Gericht: Die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes sei „als eschatologischer Rechtsakt durch zwei Zeugen bestätigt (Dtn. 19,25).“ M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 247 will davon nichts wissen. 69  Vgl. auch z. B. Hebr. 1,1 f.; Lk. 18,31; Apg. 3,18 u. ö. – oder Paulus selbst in Gal. 4,21 ff. 70  P.‑G. Klumbies, Der Eine Gott des Paulus, 1994, S. 201.



b)  Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25

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22–24 Das Evangelium ist das Offenbargewordensein der Gerechtigkeit Gottes, die durch Glauben an Jesus Christus kommt – Gott schenkt die Gemeinschaft, die er als das wahre, ihm entsprechende Leben fordert, indem der Mensch sich auf Jesus Christus verlässt. Die Gerechtigkeit Gottes, die den Sünder rechtfertigt und ihn an der Herrlichkeit Gottes teilhaben lässt, also am Glanz seiner Nähe71 – diese Gerechtigkeit kommt für alle Menschen, Juden und Nichtjuden, indem sie an Christus glauben. Die Gerechtigkeit Gottes vollzieht sich als Gnade, nämlich als Geschenk der Rechtfertigung für alle die, die sich auf die Erlösung in Christus verlassen. Der Glaube an die Erlösung in Christus realisiert diese Erlösung zunächst als Gnade des eigenen Gerechtfertigtwerdens. Das Gerechtfertigtwerden ist die Zueignung der Erlösung. Wer sich auf Christus verlässt, ist befreit von der Macht der Sünde und dem Tod, den sie bedeutet72 (vgl. z. B. auch Eph.1,7.14; als auch noch ausstehende Erlösung Röm. 8,23; Eph. 4,30; Lk. 21,2). Genauer: Er ist befreit von dem Tod, den das Urteil über die Sünde besagt. Denn er hat an Christi Tod Teil und erfährt darin die Gnade der Gemeinschaft Gottes. Dass die Gnade Gottes oder Erlösung wirklich wird, entfaltet sich also in der untrennbaren Unterscheidung von Glauben und Geglaubtem. Die Erlösung und erneute Gemeinschaft ist in Christus gegeben (sie ist Gegenstand der allen Sündern geltenden Verkündigung und des Glaubens) – sie wird aber nur darin zuerst als jemeinige Rechtfertigung wirklich, indem sich der Sünder, der sich in seiner Sünde durch das Gesetz (das Urteil des Todes) erkennt, darauf verlässt.73 Die verkündigte Erlösung in Christus bedeutet dem Sünder, der sich auf sie verlässt, seine Rechtfertigung – also das „geschenkweise“ ergangene Urteil, das ihm die Gemeinschaft Gottes zuspricht und so seine Erlösung Wirklichkeit werden lässt. Zugespitzt gesagt: die verkündigte Erlösung durch oder in Christus wäre nicht wirklich, wenn sie nicht, indem sie geglaubt wird, die Rechtfertigung des

71  Vgl. unten S. 112 zu 5,2.  – C. Landmesser versteht unter der verlorenen Herrlichkeit die Hohheit, mit der Gott den Menschen als Geschöpf ausgezeichnet hat (Der Vorrang des Lebens. Zur Unterscheidung der anthropologischen und soteriologischen Kategorien Tod und Leben in der Theologie des Paulus im Anschluß an Röm 5 und 6, in: P. Bahr/​St. Schaede (Hg.), Das Leben Bd. 1, historisch-systematische Studien zur Geschichte eines Begriffs, Tübingen 2009, S. 109) – die wäre aber konkret auf seine Bestimmung zum Gottesverhältnis zu beziehen. 72  Worin die Erlösung durch Christus besteht, führen die Verse 25–26a aus. Zum Kontext des Wortes im damaligen Sprachgebrauch mag auch die antike Möglichkeit der Sklavenbefreiung gehören. Außerdem ist er ein in der Septuaginta regelmäßig gebrauchter Ausdruck für die Befreiung aus dem Exil, also der Gottesferne. Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 189; M. Wolter ist, was die Relevanz dieser Kontexte angeht, skeptischer (Der Brief an die Römer 1, S. 254). 73 Dem entspricht die modale Interpretation des Genitivs διὰ πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ (durch Glauben Jesu Christi) bei M. Wolter, a. a. O., S. 249 f. – die Gerechtigkeit Gottes wird im Glauben an Jesus Christus wirklich. Dagegen ist die Übersetzung: durch den Glauben, d. h. die Treue, den Gehorsam Jesu Christi, gewaltsam und abwegig.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

sich auf sie Verlassenden bedeutete.74 So ist es die Gemeinschaft Christi, die sich durch den Glauben verwirklicht. Im Vorgriff auf die Interpretation des Sühnetodes gesagt: der Gegenstand von Verkündigung und Glauben ist, dass Christus die Todeswahrheit des Sünders teilte (sich mit dem Sünder in der Todeswahrheit identifiziert), der Glaube des Sünders aber bedeutet, dass dieser seine Wahrheit im Tod Christi identifiziert75 – so gewinnt er Teil an seiner ewigen Gottesgemeinschaft, wie sie im Auferstandenen offenbart ist. Wenn Christus den Tod des Sünders teilte und in das neue Leben in der Gemeinschaft mit Gott auferweckt wurde, so bedeutet das Sichverlassen darauf Mitsterben um des Mitlebens willen. Der Mensch ist von der Macht der Sünde und ihrem Tod erlöst, indem er, wenn er sich auf Christus verlässt, mit ihm stirbt und indem ein neues Leben in seiner Gemeinschaft beginnt. Das heißt, die Gottesgemeinschaft Christi kommuniziert sich durch Verkündigung und Glauben – durch den im Glauben realisierten Tod des Sünders (des Menschen für sich) hindurch.   Doch auch wenn dies zwar der systematische Zusammenhang ist – hier ist zunächst nur die im Glauben anzueignende Rechtfertigung durch Gott mittels der Hingabe Christi der Skopus, nicht wie in Röm. 6 oder Gal. 2,16–21 auch das Mitsterben und die Kommunikation der Gottesgemeinschaft Christi.

Wörtlich ist wie gesagt von der Erlösung in Christus Jesus die Rede.76 Dass die Erlösung in Christus geschehen ist oder liegt betont dann zunächst, dass die Erlösung nicht nur eine Tat Gottes oder die Hingabe Christi ist, sondern dass zugleich Christus selbst, der gekreuzigte Auferstandene, die Erlösung ist – und weiter, dass der Mensch sie eben in der sich verlassenden Teilhabe an seinem Kreuz und seiner Gottesgemeinschaft findet. So befreit die Erlösung in Christus davon, „im Gesetz“ zu leben (was gewöhnlich mit „unter dem Gesetz“ übersetzt wird: 3,19; 2,12). Mit der Gegenüberstellung von „im Gesetz“ leben und Erlösung „in Christus“ wird der Gegensatz dessen betont, was das menschliche Leben bestimmt  – als bestimmender Lebenswahrheit, in der der Mensch lebt oder in der er seine neue Bestimmung findet. Dabei impliziert der Gegensatz der Lebenswahrheit nun sein Bewusstsein – im Gesetz sein heißt nicht nur, unter der Sünde und von Gott getrennt zu sein, sondern, als Mensch für sich unter der Sünde mit dieser Wahrheit (mit dem Urteil, von Gott getrennt zu sein) konfrontiert zu sein. Die Erlösung in Christus aber heißt, dass der Sichverlassende in seiner Gemeinschaft seine neue Bestimmung findet.

25–26 Paulus sagt nun, worin die Erlösung durch Christus und damit die Gnade der Rechtfertigung für alle, die sich darauf verlassen, eigentlich besteht. 74  Zu Recht betont P.‑G. Klumbies im Zusammenhang von 3,25 f., dass der Glauben zum Heilshandeln Gottes, zur Gnade seiner Gemeinschaft dazugehört: Der Eine Gott des Paulus, S. 197 f. (sehr deutlich auch ders., Die Rede von Gott bei Paulus, S. 185 f.). 75  P.‑G. Klumbies, Die Rede von Gott bei Paulus, S. 186 redet hier von der „Übernahme des Kreuzes“ durch den Glaubenden. 76 Nach U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 190 ist das typisch paulinischer Sprachgebrauch.



b)  Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25

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Viele Exegeten nehmen an, dass er dazu die Worte eines bestimmten, unbekannten Textes urchristlicher Tradition gebraucht.77 Die Indizien dafür – insbesondere die Häufung von Begriffen, die Paulus sonst kaum verwendet, in Vers 25 und 26a – können aber auch einfach darauf hindeuten, dass Paulus hier, wo es um die Mitte und das Wesen des christlichen Glaubens geht, um die alles entscheidende, erlösende Gnade Gottes, an urchristlich bereits geprägte Formulierungen anknüpft.78 Auch wenn sie nicht von ihm sind, macht er sie sich, so wie er sie interpretiert, ganz zu eigen.

Gott hat Jesus Christus als „Hilasterion“ hingestellt – was heißt das? Das Wort kommt bei Paulus nur hier vor (und im Neuen Testament nur noch Hebr. 9,5); seine Bedeutung zu klären ist nicht ganz leicht.   Es mag zwar sein, dass oberflächlich auch eine ursprünglich heidnische Bedeutung des griechischen Wortes im Sinne von Weihegabe, Weihegeschenk oder Sühnegabe mitschwingt (insbesondere wenn denkbar ist, dass sie „in einer der Gottheit geweihten Seele besteht“).79 Doch der entscheidende Hintergrund ist die Bedeutung, die das Wort in der Septuaginta hat.

Die Bedeutung des Wortes in der Septuaginta zeigt das (mindestens für Paulus) zentrale, ursprünglich judenchristliche Verständnis des Kreuzes Jesu als endgültiges Versöhnungs- und Gnadengeschehen in der Sprache des Opferkults an. Hilasterion übersetzt hier in in der Regel das hebr. Wort kapporät, ‫כפורת‬, was den Aufsatz oder Deckel auf der Bundeslade im Allerheiligsten im Tempel bezeichnete.80 Hier wurde nach Lev. 16,11–17 am jährlichen großen Versöhnungsfest (Jom Kippur) durch den Hohepriester das Opferblut zur Sühnung der Sünden versprengt – und zwar unter der Voraussetzung, dass dort in diesem Akt Gott in seiner Gnade anwesend ist. Nur am großen Versöhnungstag kam es (neben der Entsühnung des Tempels) zur Sühne für ganz Israel, wobei der Hohepriester stellvertretend für alle die Sünden bekannte  – und nur hier wurde die Hingabe des stellvertretenden Opfers im Allerheiligsten, eben am Hilasterion vollzogen.81

Die Kapporät bzw. das Hilasterion bedeutet also hier die im Moment der Hingabe versöhnende, vergebende Gegenwart Gottes.82 „Gott hat ihn hingestellt 77  Vgl. nur U. Wilckens, a. a. O., S. 183.190; P.‑G. Klumbies, Der eine Gott des Paulus, S. 195–200. 78  So zu Recht M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 244–246. 79  U. Wilckens a. a. O., S. 190. 80 So M. Wolter, Der Römerbrief 1, S. 256.258 sowie Wilckens u. a. mit Stuhlmacher (a. a. O., S. 190 f.). Vgl. auch U. Schnelle, Gerechtigkeit und Christusgegenwart. Vorpaulinische und paulinische Tauftheologie (GTA 24), Göttingen 1986, S. 69 f. 81  Vgl. insgesamt B. Janowski, Das Geschenk der Versöhnung. Leviticus 16 als Schlussstein der priesterlichen Kulttheologie, in: T. Hieke/​T. Niklas (Hg.), The Day of Atonement, Leiden/​Boston 2012, S. 3–31. 82  Deshalb übersetzt U. Wilckens mit Sühneort und M. Wolter mit Gnadenort (und entsprechend schon Luther Gnadenstuhl). U. Wilckens (a. a. O., S. 192) redet von der „Stätte der Sühne gewährenden Gegenwart Gottes“. – Einen kurzen Überblick zur Diskussion um die

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als Hilasterion in seinem Blut“ wäre also auch einfach zu übersetzen: Er hat ihn zur Sühne gemacht, d. h. Gott ist in Jesu Hingabe gegenwärtig, um alle Sünder zu versöhnen (Gott manifestiert sich in dieser Hingabe als der gegenwärtige, um zu versöhnen). Dass im Sinn dieses Rückbezugs auf Lev. 16 Jesus zugleich Hilasterion, also Ort der Präsenz der Gnade Gottes, und Opfer ist, ist kein Widerspruch oder Einwand83, weil eben nun Gottes Gegenwart in Christus mit der Hingabe am Kreuz zusammenfällt. Zwar ist damit, dass nun Christus als Hilasterion die sühnende Gegenwart Gottes bedeutet, die „kultische[n] Sühneauffassung“ im Sinn von Lev. 16 überwunden.84 Dabei entspricht der nun in Christus konzentrierten Gnade schon die bei Paulus im Verhältnis etwa zur Priesterschrift verschärfte Auffassung von der adamitisch kollektiven Macht der Sünde. Doch gerade der Ausdruck der letzten, in Ewigkeit entscheidenden Versöhnung des Menschen mit Gott durch Gott in Christus gebraucht hier die Sprache der kultischen Sühne nach Lev. 16. Die Versöhnung in Christus widerspricht ihr nicht einfach, sondern, indem sie sie überbietet und den kultischen Rahmen sprengt, bewahrt und verwandelt sie ihre Grundwahrheit, dass der Tod als Wahrheit der Sünde vollzogen werden muss und dass seine Überwindung darin besteht, dass dieser Tod als stellvertretender Tod geschieht, der zum einen Hingabe (Opfer) und zum anderen die Gnade der Präsenz Gottes bedeutet.85 Auch wo Paulus das Heil des Kreuzes nicht direkt in der Sprache des Opferkultes anspricht wie etwa in 6,1–11 oder 8,32 (die Hingabe des Sohnes), ist dieser Zusammenhang gegeben.

Die Hingabe seines Lebens am Kreuz (dafür steht das Blut) bedeutet, dass die Todeswahrheit des Sünders zugleich (stellvertretend) vollzogen und in seiner Gemeinschaft aufgehoben wird  – indem die Todeswahrheit nämlich durch Christus (den Sohn Gottes) vollzogen wird, den Gott in die Gemeinschaft seines ewigen Lebens auferweckte. Die Auferweckung offenbarte, dass die Todeswahrheit des Sünders in der Gegenwart Gottes vollzogen und so aufgehoben wurde. Dieses Vollziehen und Aufheben der Todeswahrheit der Sünde aber geschieht für den Glauben, denn nur für den Glauben ist die Überwindung der Todeswahrheit der Sünde dargestellt. Nur indem das Sichverlassen bedeutet, mit Christus gestorben zu sein, wird die Sühne für den Glaubenden wirklich. Und nur der Glauben (als Sichverlassen darauf ) realisiert die damit verkündigte Gemeinschaft (nur im Glauben an den Auferstandenen ist seine Gemeinschaft gegenwärtig). Die konstitutive Bedeutung des Glaubens aber galt anders und mindestens implizit schon für den Versöhnungskult beim Jom Kippur, wie ihn die Priesterschrift denkt. Zugespitzt gesagt: Der Sünder muss sich mit dem Opfertier, das stellvertretend für ihn die gerechte Bedeutung bietet D. T. Solon, Rechtfertigung der Sünder und Solidarität mit den Opfern. Eine befreiungstheologische Auslegung des Römerbriefs, Berlin 2015, S. 95–99. 83  Das ist gegen M. Wolter (Der Römerbrief 1, S. 258 f.) gesagt. 84  P.‑G. Klumbies, Der Eine Gott des Paulus, S. 197. 85  Vgl. auch B. Janowski, Das Geschenk der Versöhnung, S. 27.



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Todeswahrheit erleidet, identifizieren – sozusagen in Selbsterkenntnis, in Erkenntnis der Sünde, mitsterben.86

So erweist „in der jetzigen Zeit“ Gott seine Gerechtigkeit, indem er die Gemeinschaft, die ihr Sinn ist, in Christi Kreuzestod (Hingabe) endgültig vollzieht und dem Glauben aller Menschen anbietet. Die Geduld Gottes, in der er die Sünde zulässt und den Sündern Zeit gibt, kommt an ihr Ziel. Die frühere, vorläufige, kultische Sühne- und Vergebungsmöglichkeit insbesondere am Versöhnungstag im Tempel aber ist so ein für alle Mal (überall und jederzeit gültig) eingeholt und überboten. Denn Christus, der Sohn Gottes selbst, ist wie ein Hohepriester, der sich selbst opfert und darin selbst in seiner Hingabe am Kreuz die vergebende, die Todeswahrheit der Sünde aufhebende Gegenwart Gottes darstellt und verkündigt.87 In letzter, freilich von Paulus noch nicht eindeutig vollzogener Konsequenz heißt das: Gott selbst teilt als Mensch gewordener, präexistenter Sohn die Todeseinsamkeit des Sünders und hebt sie so, indem der Sünder sich darauf verlässt, auf. Erst im Zuge der ausgebildeten Trinitätslehre vermag es die Theologie, diese Konsequenz eindeutig zu denken. Es gibt aber noch einen weiteren möglichen Bedeutungshintergrund des Wortes Hilasterion  – der aber (ebenso wie die heidnische Bedeutung als menschliche Weihe- oder Sühnegabe) eher nur mitschwingt. Im Spätjudentum gab es offenbar die Vorstellung, dass der „stellvertretende Märtyrertod […] sühnende Wirkung“ hatte – z. B. in 4. Makk.17,21 f. ist vom Hilasterion des Todes der Märtyrer die Rede, also ihrem Sühnetod, durch den Gott Israel rettet.88 Auch dieser Sprachgebrauch steht im weiten Kontext der alttestamentlichen Sühnevorstellung und zeigt, dass der Sühnegedanke nicht auf Tempel und Kult beschränkt ist – und nun als Gedanke einer allgemeinen Sühne durch stellvertretende Selbsthingabe von Menschen aus Liebe erscheint.   Dem entspricht immerhin im Blick auf Jesus Christus, dass er als Sohn am Kreuz auch der dem Vater gehorsame, sich hingebende wahre Mensch ist (auch im Hebräerbrief ist das in der Sprache des Opferkultes gesagt, wenn Jesus der Sohn als Hohepriester ist, der sich selbst hingibt).   Das entscheidende Element, das hier fehlt und das nur in der kultischen Bedeutung von Hilasterion im Sinne von Lev. 16 zu finden ist, liegt jedoch darin, dass die Präsenz Gottes die Gnade ist, die die Sühne und Vergebung schafft – eben im Hilasterion im Allerheiligsten oder in Jesus, in dem Gott ist. Gott selbst sühnt, indem er den Sohn als Sühne hinstellt.

Konnten die Heidenchristen in Rom das verstehen? Paulus expliziert den Zusammenhang des Blutritus ja nicht. Es ist anzunehmen, dass auch Heidenchristen Lev. 16 als Grundtext der nun von Christus her verstandenen Schrift kannten.89 86  Vgl. dazu insgesamt T. Kleffmann, Grundriß der Systematischen Theologie, S. 139– 145, besonders S. 142 ff. – Diese Interpretation wird von Anderen bestritten. 87  Im weiteren Zusammenhang ist hier Hebr. 9,11–15.24–26 zu vergleichen. 88 Vgl. U. Wilckens, Der Römerbrief 1, S. 192 f. 89  Das ist umso wahrscheinlicher, als auch der Hebräerbrief nicht zuletzt an Heidenchristen gerichtet war.

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Darüber hinaus schließt der Hintergrund von Lev. 16 wie gesagt ein Mitschwingen der heidnischen Bedeutung „Sühnegabe“ nicht aus – beides kann sich gegenseitig interpretieren, und auch dann wäre der Skopus, dass nun Gottes Sohn sich selbst als Mensch hingibt.

Vor allem aber geht es ja um die Bewahrung und Überbietung der Grundwahrheit von Entsündigung durch Hingabe. Mit der hier verkündigten Überbietung durch die Sühne oder Rechtfertigung für alle, die daran glauben, dass Gott selbst in Christus unsere Todeswahrheit teilt („Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber“: 2. Kor. 5,19), verlieren die Details des Sühnekultes Israels ohnehin ihre Bedeutung. 27–31 Paulus bezieht das Gesagte nun noch einmal zurück auf die Frage nach dem Vorsprung Israels (vgl. 3,1 ff.), der darin bestehen mag, dass sich Gott ihnen zuerst offenbarte und ihnen das Gesetz (die Tora) gab, das der Erwählung zum Bund entspricht. Dabei widerspricht er erneut (wie 2,17 ff.) einer Selbstgerechtigkeit, die wesentlicher Ausdruck der Sünde ist – hier im Blick auf die spezifische Selbstgerechtigkeit von Juden90, wenn sie sich Gottes als ihres Gottes rühmen (vgl. Vers 29), also der Erwählung, der Bestimmung durch die Tora und damit wenigstens der Möglichkeit, ihre Forderungen zu erfüllen. Das Rühmen bedeutet eine Selbstverständlichkeit des Gottesverhältnisses, die es verkehrt – es ersetzt die Rechtfertigung durch Gott im Moment der realisierten Todeswahrheit der Sünde. Das gilt insbesondere (aber nicht nur) für eine Selbstgerechtigkeit, in der sich der Mensch selbst als Täter der Werke des Gesetzes rühmt oder entsprechende Rechtfertigung erwartet.91 In 2,17 ff. hatte Paulus dem Sichrühmen Gottes und der Tora widersprochen, weil das Gesetz auch von den Juden nicht getan wird und unter der Macht der Sünde, ohne die „Beschneidung des Herzens im Geist“, auch nicht getan werden kann. Indem nun aber die Erlösung in Christus, in seiner Hingabe verkündigt ist, die allen Menschen unter der Macht der Sünde, Juden und Völkern, offenbart und eröffnet wurde, ist dem falschen Rühmen auch positiv widersprochen: Da alle durch das Sichverlassen darauf die Erlösung von der Macht der Sünde als geschenkte Rechtfertigung erfahren, hat Gott den Vorsprung nivelliert. Der Glaube an Christus, durch den Gott mich ohne Verdienst gerecht macht, bedeutet: Ich bin durchs Gesetz (in der Selbsterkenntnis der beherrschenden Sünde) dem Gesetz (als der Sünder, der für sich selbst lebt und Subjekt seiner Werke ist, der also unter der Forderung der Gerechtigkeit steht) gestorben (Gal.2,19). Die göttliche Gerechtigkeit, in der ich nun lebe, ist schlechthin geschenkt. Indem ich mich darauf verlasse, weiß ich, dass ich mich nicht als ihr Täter rühmen kann.

90  In 11,17 ff. wird Paulus einem verkehrten Sichrühmen der Heidenchristen gegenüber den Juden widersprechen. 91  Die pauschale Ablehnung dieses Zusammenhangs bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 267 ist übertrieben und künstlich.



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Was aber heißt, dass durch das Gesetz des Glaubens (und nicht das Gesetz der Werke) das Rühmen ausgeschlossen ist? Hier werden verschiedene Lösungen diskutiert; nur auf die plausibelsten gehe ich hier ein.92 So wird etwa folgendes Verständnis vorgeschlagen: Erst durch den Glauben an die in Christus geschenkte Erlösung von der Sünde und Rechtfertigung kann das Gesetz Gottes erfüllt werden – aber nun nicht als Werk des (vielmehr mit Christus gestorbenen) Menschen für sich, sondern im Geist der Liebe, der den Glaubenden bestimmt und der der Geist der Gottesgemeinschaft Christi ist. Das ist auch die Bedeutung von Vers 31. Das Gesetz, das im Glauben erfüllt wird (nicht das Gesetz, das vom Menschen für sich Werke zu seiner Rechtfertigung fordert), schließt also das Rühmen des Menschen aus.   Eine anderer Lösungsversuch versteht „Gesetz des Glaubens“ im Sinne von Röm. 4: Schon die Tora spricht Gerechtigkeit primär aus Glauben an die Verheißung des Bundes zu – die nun in der Gerechtigkeit aus Glauben an Christus erfüllt ist. Doch ist in Röm. 4 nicht vom Gesetz, sondern von der „Schrift“ die Rede, die Abrahams Gerechtigkeit aus Glauben bezeugt. Außerdem wäre dann weiter zu klären, wie hier die Opposition zwischen der in der Tora bezeugten Gerechtigkeit aus Glauben und dem Gesetz der Werke zu verstehen ist.   Eine weitere Lösung schlägt Wolter vor. In der Formulierung „Gesetz des Glaubens“ sei Gesetz eine „Metapher zur Bezeichnung eines Prinzips“ wie in 7,21.23; 8,2 f. Schwer verständlich ist dabei freilich, dass dann im unmittelbaren Zusammenhang Gesetz erst (in der Verneinung) die Tora meint, die Werke fordert, und dann metaphorisch ein Prinzip. Allerdings ist später in 8,2–4 auch vom Gesetz des Geistes und dem Gesetz der Sünde als entgegengesetzten, herrschenden Lebensprinzipien die Rede, wobei das Gesetz des Geistes schafft, was das Gesetz (d. h. die Tora) mit seiner Forderung nicht vermag, nämlich das Gesetz der Sünde zu überwinden. Die sachlich in der Tat naheliegende Übertragung auf 3,27 ist aber erschwert, weil hier eben dasselbe „Gesetz“ als Oberbegriff für das Gesetz der Werke und das des Glaubens erscheint (entsprechend zielt auch Vers 31 auf einen Zusammenhang von Glauben und Tora). Doch in jedem Fall ist auch bei dieser wie bei den vorgenannten Lösungen der theologische Zusammenhang richtig festgehalten: Das Rühmen ist ausgeschlossen, weil die Gerechtigkeit dem Sünder aus Glauben an Christus geschenkt ist.

Vielleicht redet Paulus deshalb etwas missverständlich vom Gesetz des Glaubens, weil eben das im Glauben, mit der dem Sünder geschenkten Gerechtigkeit oder Gemeinschaft, gegebene Neuverständnis des Gesetzes das Rühmen (die Selbstgerechtigkeit) ausschließt. Glauben bedeutet, dass mich das Gesetz als einsames Subjekt meiner Werke mit Christus mitsterben lässt  – in der Selbsterkenntnis meiner Unfähigkeit, aus mir selber das Gesetz (die Liebe, die Gemeinschaft) zu erfüllen. Doch hebt der Glauben als dieses Mitsterben die Wahrheit des Gesetzes gerade nicht auf (Vers 31). Sondern zum einen wird im Glauben, der die Selbsterkenntnis am Kreuz (das Mitsterben des alten Menschen, des in sich selbst gefangenen Sünders) impliziert, das Urteil des Gesetzes Gottes vollzogen. Zum anderen erfüllt der sich auf Christus verlassende Mensch, den Gott darin gerecht 92  Einen Überblick bietet M. Wolter a. a. O., S. 268 f.; seine eigene Lösung entfaltet er auf S. 270.

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macht, den geistlichen Sinn des Gesetzes, eben die Liebe: Die Gemeinschaft Gottes bestimmt ihn – „Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20). Eben das fasst Vers 28 im Sinne eines abschließenden Urteils oder „Lehrsatzes“93 zusammen: Der Mensch wird gerecht durch Glauben ohne die Werke, die das Gesetz fordert. Das Gesetz zielt auf Gerechtigkeit (Gemeinschaft), aber der Mensch, der abgetrennt von Gott unter der Macht der Sünde ist, kann nicht tun, was das Gesetz von ihm fordert. Aus sich kann er die Werke der Liebe nicht hervorbringen. Der Mensch aber, der sich auf die Übernahme seiner Todeswahrheit durch Christus verlässt, liebt schon darin, dass er sich auf die (alle Menschen umfassende) Gemeinschaft Gottes verlässt, und wird lieben, indem durch den Geist Gottes die Liebe Gottes sein Denken, Wollen und Fühlen bestimmt (vgl. 5,5).94 Diese Rechtfertigung aus Glauben aber gilt für alle Menschen, die sich in der Sünde erkennen – Juden wie Heiden. Der einzige Gott (Vers 30), der ursprünglich Israel zur Bundesgemeinschaft erwählte, hat sich nun auch den Heiden zugewandt  – die ihn über die Schöpfung und das natürliche Gesetz kannten, aber verfehlten (1,19 ff.; 2,14 f.) Die Erlösung in Christus macht jeden Menschen gerecht, der sich als Sünder erkennt und auf die Gnade verlässt. Das heißt, durch Christus und seine Verkündigung, in der Eröffnung seiner Gemeinschaft nun für alle Menschen, verwirklicht der einzige Gott sich als der einzige Gott.95 An dieser Stelle bietet sich eine zugleich systematische und hermeneutische Zwischenfrage an. Wie kommt Paulus darauf, dass die Erlösung in Christus, seine Übernahme der Todeswahrheit des in sich gefangenen Menschen (und entsprechend: die Sendung des Sohnes), nun für alle Menschen gilt? Ich mache mehrere Gründe namhaft, die aber zusammenhängen.   Gott, der in Christus (in seinem Tod und Auferstehen) die Erlösung gewährt, ist der einzige Gott als der eine Schöpfer aller. Dabei geht Paulus wie gesagt auch davon aus, dass es auch so etwas wie ein ursprüngliches allgemeines, wenn auch von den Heiden verfehltes Gottesbewusstsein und ein zum Wesen des Menschen gehöriges, allgemeines Bewusstsein seines Gesetzes gibt. Dem entspricht, dass auch die Sünde von Juden und Völkern (Heiden) wesentlich Sünde vor Gott und (schuldhafte) Getrenntheit von Gott ist. Dass die Sünde mit ihrer Todeswahrheit wirklich allgemein ist (alle betrifft) setzt Paulus voraus. Das allgemeine (wenn auch verfehlte) Gottesbewusstsein (und die entsprechende Selbsterkenntnis vor Gott) aber kommt erst jetzt, durch die Verkündigung des Gerichts und des Evangeliums für alle Menschen, zu seiner Bestimmung und Erfüllung.   Jetzt, in der Rechtfertigung aller Menschen aus Glauben an Christus zeigt sich, dass Gott der eine Gott aller Menschen ist. Für Paulus ist „die Rechtfertigung aller Menschen […] authentischer Ausdruck von Gottes Gott-Sein“96, also seiner Einzigkeit. Die Frage ist aber, ob der gegebene Gedanke der Einzigkeit Gottes für Paulus die Allgemeinheit der 93 So

U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S.247. gleichwohl notwendigen Paränese, dass sich der Glaube in der Versuchung des Fürsichseins bewährt, vgl. oben in der Einleitung 2.c)cc). und unten S. 137 ff. zu 6,12–23. 95  So auch P.‑G. Klumbies, Der Eine Gott des Paulus, S. 203 f. 96  So zu Recht M. Wolter, Paulus, S. 352 (Hervorhebung vom Verfasser); vgl. S. 386. 94 Zur



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Rechtfertigung durch Christus begründet97, oder ob (so P.‑G. Klumbies) umgekehrt die konkret „gewonnene Universalität des Gottesgedankens […] Folge der christologischen Interpretation Gottes durch Paulus“98 oder letztlich durch Gott selbst ist.   Schon alttestamentlich entspricht dem Selbstverständnis im exklusiven Bund des einen Gottes (vgl. Dtn. 6,4) mit Israel die Verheißung oder Erwartung einer eschatologischen Offenbarung (und Herrschaft) dieses einzigen Gottes für alle Menschen. Paulus selbst wird gleich (4,13–25) die Verheißung an Abraham, Erbe der Welt zu sein, im Sinne der sich durchsetzenden, universalen Wahrheit der Gnade Gottes verstehen.   Dem entsprechen dann Ansätze bei Jesus, die Verkündigung des anbrechenden Reiches Gottes nicht nur überhaupt auf gesellschaftlich Ausgegrenzte (Sünder, Huren usf.) zu beziehen, sondern auch über Israel hinaus zu entgrenzen.99 Hier kündigt sich also bereits die sozusagen christologische Selbstbestimmung Gottes dazu an, nun auch für alle Menschen Gott aller Menschen zu sein oder zu werden.   Eben diese Selbstbestimmung Gottes aber entschied sich am Kreuz. Für die Einsicht, dass Gott seine Einzigkeit darin verwirklicht, dass er alle Menschen aus Glauben rechtfertigt, war das Verständnis des Kreuzes Jesu im Kontext der Auferstehungsbotschaft entscheidend. Dieses Verständnis erwies sich faktisch als eines, dessen Geist Juden und Heiden im Sinn jener alttestamentlichen Verheißung einer allgemeinen, eschatischen Offenbarung vereint: Dies war der Kairos einer neuen Zeit! Verdichtet erscheint dies im Bericht des Pfingstereignisses (Apg. 2): Juden und Heiden glauben der Predigt und finden sich im Geist der neuen Gemeinschaft vereint. Das Christusgeschehen, und weiter: dass Gott als Geist das neue Leben aus dem Tod schafft (dass er dem Sünder neue Gemeinschaft schenkt), erwies sich nicht nur als Wahrheit in derselben Universalität wie die Schöpfung aus dem Nichts (vgl. gleich Röm. 4,17), sondern es verwirklicht die Einzigkeit Gottes nun für alle Menschen.100

bb)  4,1–4,25: Schon mit Abraham beginnt die Heilsgeschichte der Gerechtigkeit aus Glauben – die nun allen Menschen eröffnet ist 1 Was, sollen wir nun sagen, hat Abraham, unser Vorvater dem Fleische nach, gefunden? 2 Denn wenn Abraham aufgrund von Werken gerechtfertigt worden wäre, hat er Ruhm[101], aber nicht vor Gott. 3 Denn was sagt die Schrift? „Es glaubte aber Abraham Gott, und es wurde ihm angerechnet als Gerechtigkeit.“102 4 Dem aber, der Werke tut, wird der Lohn nicht aus Gnade angerechnet, sondern aus Schuldigkeit. 5 Dem aber, der keine Werke tut, sondern an den glaubt, der den Gottlosen rechtfertigt, wird sein Glaube als Gerechtigkeit angerechnet (πιστεύοντι 97 So M. Wolter, Paulus, S. 387. Ausdrücklich will er festhalten, „dass Paulus die Einzigkeit Gottes hier nicht aus dessen geschichtlichem Heilshandeln im Christusgeschehen erschließt, sondern dass er genau umgekehrt vorgeht.“ 98  P.‑G. Klumbies, Der Eine Gott des Paulus, S. 203. 99  Vgl. etwa Jesus und die Frau aus Syrophönizien (Mk. 7,24–30; Mt. 15,21–28); Jesus und die Samaritanerin (Joh. 4,1–42). 100  Das impliziert freilich, dass sich auch alle Menschen mit der Todessituation des Kreuzes als ihrer eigenen Wahrheit (der Sünde) identifizieren können. 101  Zur „syntaktischen Inkohärenz“ vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 281. 102  Gen. 15,6.

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δὲ ἐπὶ τὸν δικαιοῦντα τὸν ἀσεβῆ λογίζεται ἡ πίστις αὐτοῦ εἰς δικαιοσύνην). 6 Wie auch David die Seligpreisung des Menschen ausspricht (λέγει τὸν μακαρισμὸν τοῦ ἀνθρώπου), dem Gott Gerechtigkeit ohne Werke anrechnet: 7 „Selig [sind die], deren Gesetzlosigkeiten vergeben und deren Sünden bedeckt wurden. 8 Selig ein Mann, dem der Herr Sünde nicht anrechnet.“103   9 [Gilt] diese Seligpreisung nun der Beschneidung oder auch der Unbeschnittenheit? Wir sagen doch: „Der Glaube wurde Abraham zur Gerechtigkeit angerechnet.“104 10 Wie (Wolter: In welchem Zustand) wurde er nun angerechnet? Als er in der Beschneidung war oder in der Unbeschnittenheit? Nicht in der Beschneidung, sondern in der Unbeschnittenheit! 11 Und das Zeichen der Beschneidung empfing er als Siegel der Gerechtigkeit des Glaubens, in der Unbeschnittenheit (Luther: welchen er noch in der Vorhaut hatte; moderne Lutherbibel: den er hatte, als er noch nicht beschnitten war), auf dass er Vater aller sei, die in der Unbeschnittenheit (oder: als Unbeschnittene) glauben (πατέρα πάντων τῶν πιστευόντων δι’ ἀκροβυστίας), auf dass ihnen die Gerechtigkeit angerechnet werde; 12 und Vater der Beschneidung (moderne Lutherbibel: der Beschnittenen) für die, die nicht allein aus der Beschneidung [sind, oder: leben], sondern die auch der Fußspur des Glaubens unseres Vaters Abraham in (seiner) Unbeschnittenheit nachfolgen (Luther: die wandeln in den Fußstapffen des Glaubens / welcher war in der Vorhaut unseres Vaters Abrahams – moderne Lutherbibel: den unser Vater Abraham hatte, als er noch nicht beschnitten war).   13 Denn nicht durch [das] Gesetz [wurde] die Verheißung Abraham oder seinem Samen (oder: seinen Nachkommen) [zuteil], dass er der Erbe der Welt sein solle (Wolter: dass sie Erbe der Welt sind), sondern durch Gerechtigkeit des Glaubens. 14 Wenn nämlich die aus [dem] Gesetz Erben sind, ist zunichte gemacht (oder: entleert) der Glaube und wirkungslos gemacht die Verheißung. 15 Denn das Gesetz bewirkt Zorn. Wo aber kein Gesetz, auch keine Übertretung. 16 Deshalb: aus Glauben, damit: nach Gnade (Luther: Derhalben muß die Gerechtigkeit durch den Glauben kommen / auff daß sie sey aus Gnaden), auf dass feststeht die Verheißung für allen Samen (oder: für alle Nachkommenschaft), nicht allein für den (oder: für die) aus dem Gesetz, sondern auch für den (für die) aus dem Glauben Abrahams, der unser aller Vater ist, 17 wie geschrieben steht: „Zum Vater vieler Völker habe ich dich eingesetzt.“105 Angesichts des Gottes glaubt er, der den Toten Leben schafft und das Nichtseiende ins Sein ruft (κατέναντι οὗ ἐπίστευσεν θεοῦ τοῦ ζῳοποιοῦντος τοὺς νεκροὺς καὶ καλοῦντος τὰ μὴ ὄντα ὡς ὄντα.; Luther: für Gott / dem du geglaubet hast / der da lebendig macht die Todten / und ruffet dem / das nicht ist / daß es sey). 18 Gegen [alle] Hoffnung glaubte er auf Hoffnung hin ( Ὃς παρ’ ἐλπίδα ἐπ’ ἐλπίδι ἐπίστευσεν; Luther: der hat geglaubet auff Hoffnung / da nichts zu hoffen war), auf dass er Vater vieler Völker werde nach dem Gesagten (κατὰ τὸ εἰρημένον; Wilckens: nach dem Schriftwort): „So [zahlreich] soll dein Same (oder: deine Nachkommenschaft) sein.“106 19 Und ohne schwach im Glauben zu werden, betrachtete er seinen erstorbenen Leib, etwa hundert Jahre alt, und das Abgestorbensein des Mutterschoßes Saras (τὴν νέκρωσιν τῆς μήτρας 103 

Ps. 31,1. Vgl. Gen. 17,11. 105  Gen. 17,5. 106  Gen. 15,5. 104 

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Σάρρας). 20 Aber an der Verheißung Gottes zweifelte er nicht im Unglauben, sondern wurde stark im Glauben, indem er Gott die Ehre gab 21 und voll überzeugt war, dass er die Macht hat, das, was er verheißen hat, auch zu tun. 22 Deswegen ‚wurde es ihm zur Gerechtigkeit angerechnet.‘107 23 Aber nicht allein um seinetwillen wurde geschrieben, dass „es ihm angerechnet wurde“, 24 sondern auch um unseretwillen, denen angerechnet werden soll – die wir glauben an den, der Jesus, unseren Herrn, von den Toten auferweckt hat; 25 der dahingegeben wurde wegen unserer Verfehlungen und auferweckt wurde um unserer Rechtfertigung willen (ὃς παρεδόθη διὰ τὰ παραπτώματα ἡμῶν καὶ ἠγέρθη διὰ τὴν δικαίωσιν ἡμῶν).

In 3,21–28 hat Paulus das Evangelium von der Erlösung in Christus zur Sprache gebracht: Die Gottesgemeinschaft in der Todeswahrheit der Sünde bedeutet für alle, die darauf verlassen, Rechtfertigung aus Gnade, also eben das Geschenk dieser Gemeinschaft. Das Gericht spricht den Tod als Wahrheit der Sünde aus – durch das Sichverlassen darauf, dass Gott in ihr präsent ist (Gott hat Christus als Hilasterion dargestellt), ist dieses Urteil, die Todeswahrheit aufgehoben.

Zudem hat Paulus die Verkündigung, dass dieses Geschenk allen Menschen gilt, in 3,29–30 dadurch erläutert, dass sich der einzige Gott eben durch die Rechtfertigung derer, die an die Erlösung in Christus am Kreuz glauben, als Gott aller Menschen verwirklicht. Nun kommt er von da aus auf die in 2,17–3,20 erörterte Frage nach dem Vorsprung der Juden im Gottesverhältnis zurück (die Frage nach der Gültigkeit des Gesetzes in 3,31 bildet dafür den Übergang). Paulus will zum einen zeigen, dass der Bund Gottes mit Israel – hier in Gestalt der Gerechtigkeit und überhaupt des Gottesverhältnisses des Stamm- oder Vorvaters Abrahams – von Anfang an auf der menschlichen Seite im Glauben als Sichverlassen auf die Gnade besteht, und nicht in eigener Leistung. Zum anderen will er zeigen, dass schon der Anfang dieser Heilsgeschichte in Abrahams Verheißung und Glauben auf ihre Vollendung für die ganze Menschheit zielt – ihre zunächst spezifisch jüdische Bestimmtheit, wie sie sich im Zeichen der Beschneidung äußert, schränkt diese Universalität, die sich jetzt durch das Evangelium Christi vollzieht, nicht ein. Zunächst (1–8) wird dargelegt, dass die Gerechtigkeit vor Gott, wie sie zuerst Israels Vorvater Abraham auszeichnet, grundsätzlich eine Gerechtigkeit aus Glauben ist, nicht aus Werken. Dann (9–12) zeigt Paulus, dass die Verbindung von Glauben (Gerechtigkeit des Glaubens) und Beschneidung, wie sie seit Abraham den Bund Gottes mit Israel kennzeichnet, nicht der universalen (für alle Menschen geltenden) Wahrheit der Gerechtigkeit aus Glauben widerspricht, die sich jetzt durch die Verkündigung der Erlösung in Christus verwirklicht. Die Beschneidung war schon bei Abraham lediglich nachträgliches Zeichen der Gerechtigkeit aus Glauben, nicht Bedingung der Gerechtigkeit. Abraham 107 

Vgl. Gen. 15,6.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

ist nicht nur der Vorvater Israels, sondern der Vorvater aller, die Gerechtigkeit (Gemeinschaft) aus dem Glauben erlangen  – auch ohne Beschneidung. Dies konkretisiert Paulus (13–25) im Anschluss an die Verheißung, Erbe der Welt zu sein, die an Abraham gerade im Moment der Hoffnungslosigkeit, der Ohnmacht, der Ausweglosigkeit des kommenden Todes erging. Indem Abraham an die Verheißung Gottes glaubte, ist dies der geschichtliche Anfang des Glaubens an den Gott, der die Welt aus Nichts schuf und den Tod, die Ohnmacht, die Hoffnungslosigkeit durch das Geschenk seiner Gemeinschaft überwindet, und der nun, durch die Verkündigung Jesu Christi, den Gott von den Toten erweckte, allen Menschen eröffnet ist. So erfüllt sich die Verheißung des Glaubens Abrahams in der Gerechtigkeit und Gottesgemeinschaft aller Menschen aus Glauben. 1–8 (und ff.) Abraham gilt als Vorvater des Volkes der Juden, zu dem auch Paulus gehört, und zugleich als Ursprung der Geschichte des Bundes Gottes mit Israel. Aber dieser Ursprung hat Bedeutung für alle Menschen. Wie der Fortgang des Kapitels zeigt, ist der Skopus: Mit Christus erweist sich, dass Abraham in seinem Glauben auch schon der Vater, d. h. Ursprung und Vorbild, aller Nichtjuden war, die sich auf Gott verlassen, die also jetzt im Glauben an Christus vor Gott gerecht werden (Vers 11). Juden und Nichtjuden, obwohl sie für sich Sünder sind, bekommen im Glauben die Gemeinschaft Gottes geschenkt. Die Kehrseite der sich nun eröffnenden Universalität der göttlichen Heilsgeschichte liegt in der ebenso allgemeinen Sünde – also darin, dass nicht nur die Heiden, sondern auch die Juden unter der Macht der Sünde und ohne Gerechtigkeit vor Gott leben (3,9), so dass das dem Bund entsprechende Gesetz sie nurmehr verurteilen kann (dazu dann die Verse 13–16). Die Frage, inwiefern es eine spezifische Gestalt der Sünde ist, die Gerechtigkeit nicht aus Glauben, sondern aus Werken zu suchen, ist später noch einmal im Zusammenhang von 9,30–32 zu erörtern.

Anders als eine Theologie z. B. im Sinne von Jak. 2,21–23108 meint, hat Abraham nicht durch Werke (und sei es auch die Leistung letzter Opferbereitschaft) vor Gott Gerechtigkeit erlangt.109 Zwar ist er aufgrund seiner Werke durchaus menschlich zu rühmen. Doch nach Gen.15,6 war es der Glauben an die Verheißung, der ihm von Gott zur Gerechtigkeit gerechnet wurde. Er hat sich die Gemeinschaft Gottes nicht verdient. Über den Zusammenhang zwischen der geschenkten Rechtfertigung aus Glauben und dem Tun Abrahams, wie es in der Tat zu rühmen ist – ob sich dieses erst aus dem Glauben ergibt –, sagt Paulus hier nichts; ebensowenig zu der Frage, ob unter dem Gesetz, aber vor Christus, eine abrahamitische Gerechtigkeit aus Glauben möglich ist. 108  „Ist nicht Abraham, unser Vater, durch Werke gerecht geworden, als er seinen Sohn Isaak […] opferte? Da siehst du, dass der Glaube zusammengewirkt hat mit seinen Werken, und durch die Werke ist der Glaube vollkommen geworden. So ist die Schrift erfüllt, die da spricht: Abraham hat Gott geglaubt, und das ist ihm zur Gerechtigkeit gerechnet worden […].“ 109  Weitere Belege für diese Auffassung bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 281.

b)  Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25



99

An dieser Stelle ist ein theologiegeschichtlicher Hinweis auf eine auch heute noch relevante Interpretationsmöglichkeit angbracht. Die Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit vor Gott, die allein aus Glauben kommt, und der Gerechtigkeit oder dem Ansehen im menschlichen Sozialverhältnis haben Luther und Melanchthon zu einem wichtigen Moment ihrer Rechtfertigungslehre gemacht. Die Gerechtigkeit der äußerlich feststellbaren Werke ist Gerechtigkeit coram mundo, menschlich bürgerliches Ansehen. Sie hat eine wichtige gesellschaftliche Funktion, hat aber allenfalls indirekt etwas mit dem Gottesverhältnis zu tun – sie bedeutet nicht Gerechtigkeit coram deo. Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, schenkt Gott dem Sünder (dem, der sich vor Gott in seiner Grundsünde erkennt) allein aus Gnade, indem dieser sich auf die Erlösung in Christus verlässt. Diese Gerechtigkeit wird ihm zugerechnet (imputative Gerechtigkeit), obwohl er für sich Sünder ist. Aber (das betont Luther) indem er sich coram deo, in der Todeswahrheit des Kreuzes, in der Nichtigkeit des Fürsichseins erkennt und Christus am Kreuz glaubt, ist er zur Gemeinschaft verändert  – hier wäre Luthers Gedanken vom Glauben als fröhlicher Wechsel zu vergleichen.110 Wenn sich durch den Glauben die Gemeinschaft Christi kommuniziert, erfüllt der Mensch die vom Gesetz geforderte Liebe frei, ohne dies als frommes Werk zur Rechtfertigung zu bedürfen.

Systematisch lässt sich fragen: Wieso wird Glaube als Gerechtigkeit angerechnet? Wieso braucht die Gnade Gottes den Glauben des Menschen? – Nur das Sichverlassen ist der Gnade Gottes, in der er seine Gemeinschaft anbietet, angemessen. Denn seine Gemeinschaft setzt die Erkenntnis der Nichtigkeit des Menschen voraus, wie er für sich ist – die Realisierung der Gottlosigkeit des Sünders (Vers 5), der Todesverfallenheit, und die Erkenntnis, schon als Geschöpf nichts aus sich zu sein (Vers 17). Die erlösende Gemeinschaft Gottes in dieser Selbsterkenntnis kann sich nur im Sichverlassen auf sie ereignen. Sich selbst zur Gemeinschaft Gottes bestimmen zu wollen, verfehlt den Gott, der den Gottlosen rechtfertigt, den Toten Leben schafft und das Nichtseiende ins Dasein ruft. Die Verse 4–5 reden nicht mehr konkret von Abraham, sondern entfalten im Anschluss an Abrahams Glauben aus Gerechtigkeit den Unterschied zwischen dem Prinzip, dass Leistung entlohnt wird (als Prinzip menschlicher Gerechtigkeit und Gesellschaft), und der Gerechtigkeit vor Gott. Der Gottlose kann sich nicht vor Gott rechtfertigen. Er kann es nicht, weil die Gottlosigkeit, die Sünde ihn beherrscht. Paulus setzt also nach wie vor voraus, dass vor Gott alle Menschen (im Gefolge Adams: 5,12 ff.) für sich oder aus sich Sünder, gottlos sind. Das Leben des Menschen für sich ist konkret, d. h. in den Lebensvollzügen seiner Identität im Verhältnis zum Anderen, immer als Sünde bestimmt. Das ist schon darin begründet, dass er die Identität, die er als er selbst111 im Verhältnis zum Anderen hat, aus sich und für 110 Vgl.

T. Kleffmann, Grundriß der Systematischen Theologie, S. 195 zu WA 7, S. 24 f. Zur notwendigen Unterscheidung zwischen geschöpflicher Selbstsorge und der Grundsünde der Selbstsorge, in der sich das Fürsichsein festhält, vgl. T. Kleffmann, Kleine Summe der Theologie, Tübingen 2021, S. 36–39. 111 

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

sich selbst hervorbringt, statt sie in Gottes Gnade und Verheißung seiner Gemeinschaft zu finden. Dabei ist aber systematisch zu ergänzen, dass das Moment des Fürsichseins als solches (von dem Paulus freilich streng genommen nicht redet), dem die Selbsterkenntnis vor Gott entspricht, nicht Sünde ist, sondern gerade den Menschen als Geschöpf und Gegenüber Gottes vollendet. Die realisierte Nichtigkeit des Fürsichseins, die alle innerweltlichen Verhältnisse umfasst, ist Bedingung eines Gottesverhältnisses.112 Dann aber ist zu betonen, dass der Mensch für sich auch abgesehen von der Sünde das Gottesverhältnis nicht selber stiften, die Gemeinschaft Gottes nicht durch seine Leistung erreichen oder verdienen kann.

Rechtfertigung heißt nicht, dass Gott die Werke des Menschen belohnt, indem er ihn im Gericht freispricht. Gott rechtfertigt den Menschen aus Gnade, indem dieser sich auf seine Verheißung verlässt  – was nun eben heißt: indem Gott Christus als Geschenk seiner Gemeinschaft hingestellt hat und der Mensch sich darauf verlässt. Es heißt, der Glaube wird von Gott angerechnet zur Gerechtigkeit oder angenommen als Gerechtigkeit (λογίζεται).113 Menschlich gilt das Prinzip des gerechten Anrechnens und Verrechnens für das Verhältnis von Leistung und Lohn (Verdienst). Man könnte sogar sagen, menschliche Gerechtigkeit ist wesentlich als Prinzip des gerechten Anrechnens. Dass nun nichts als der Glaube des Gottlosen zur Gerechtigkeit angerechnet wird, widerspricht diesem Prinzip menschlicher Gerechtigkeit diametral: Dem Menschen, der in der Selbsterkenntnis, dass er nichts zum Anrechnen hat (also in der Selbsterkenntnis seiner Ungerechtigkeit, seiner Gottlosigkeit, seiner Ohnmacht, seiner Todesverfallenheit) alles von Gott erwartet, dem schenkt Gott seine rettende Gemeinschaft, so wie er aus nichts ins Dasein ruft. Es ist das passive (vgl. Vers 5) Sichverlassen auf die von Gott verheißene oder in Christus verkündigte Gemeinschaft mit dem für sich toten Menschen, das deren Geschenk (als Gerechtigkeit) realisiert. Schon für Israel gilt: Der Anfang ist die Verheißung der grundlosen Zuwendung Gottes zum Menschen – die ja mit der Verheißung selbst schon beginnt. Und diese Zuwendung verwirklicht sich als Rechtfertigung des Einzelnen (unbeschadet der weiteren Offenbarungs- oder Erfüllungsgeschichte), indem er sich darauf (und nicht auf sich, auf seine Werke oder Leistung) bedingungslos verlässt. Das heißt jetzt: es ist Gottes Kraft, die rettet oder heilt, und diese Kraft ist das Evangelium (der Erlösung in Christus) für alle Menschen, sich auf es (seine Predigt) verlassen (1,16).

Die Verse 6–8 bekräftigen, dass die Gerechtigkeit des Sünders vor Gott aus Glauben, also durch Vergebung, dem Gottesverhältnis Israels von Anfang an wesentlich war. Paulus zitiert und interpretiert hier den auf David zurückgeführten Ps. 31,1b–2a114: Die Vergebung oder Nichtanrechnung der Sünde durch Gott bedeutet Glückseligkeit, unerwartetes, geschenktes Glück. Von 3,21–26 oder 112 

Vgl. ebd. § 1, S. 1–5. So auch schon in der Septuagintaversion von Gen. 15,6. 114  Freilich ist dieser Text weniger einschlägig als Gen. 15,6 – vom Glauben oder dem Bund 113 



b)  Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25

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auch im Rückblick vom Schluss des Kapitels her heißt das wiederum: Diese Vergebung und Glückseligkeit, wie sie auch Israel schon erfahren hat, ist nun, mit der ein für alle Mal geschehenen Hingabe Christi, dem Glauben aller Menschen eröffnet. In den Versen 9–12 kommt Paulus auf die Frage des besonderen Gottesverhältnisses der Juden zurück, mit der er in den Versen 1–3 wieder eingesetzt hatte. Dabei geht es (wie schon in 2,25–29) insbesondere um die exklusive Bedeutung der Beschneidung. Schon Abraham zugleich als Vorvater der Juden „nach dem Fleisch“ und als geschichtlicher Anfangspunkt der ihnen von Gott eröffneten Gerechtigkeit oder Gemeinschaft erfuhr eben allein durch Glauben an die Verheißung diese Gerechtigkeit – das Glück der geschenkten Rechtfertigung. Wenn aber die Rechtfertigung aus Glauben nun (indem die Versöhnung in Christus, also die erfüllte Verheißung Gegenstand des Glaubens ist) allen Menschen eröffnet ist – was bedeutet das für das bisher exklusive Gottesverhältnis Israels, wie es sich in der Beschneidung äußerte? Diese Frage ist sowohl für das Verhältnis zwischen beschnittenen Judenchristen und unbeschnittenen Heidenchristen von Bedeutung, gilt aber auch sozusagen rückwirkend für die Juden. Aus der erst mit Christus in ihrem Vollsinn erschlossenen Einsicht, dass allein der Glaube vor Gott zur Gerechtigkeit gerechnet wird, ist die Konsequenz zu ziehen für die Frage, welche Bedeutung dann die Beschneidung und (dazu die Verse 13 ff.) das Tun des Gesetzes für die Gerechtigkeit (für die mit Christus eröffnete Gottesgemeinschaft) haben – für die Judenchristen, aber auch die Heidenchristen. Schon für Abraham gilt: der Bund (die Gottesgemeinschaft als Gerechtigkeit) ist konstituiert in der Rechtfertigung des für sich Gottlosen. Er besteht zum einen im göttlichen Wort der Verheißung der Gnade, das sie auch schon vorwegnimmt, zum anderen im Sichverlassen des Menschen darauf. Dem noch unbeschnittenen Abraham wurde sein Sichverlassen auf die Verheißung zur Gerechtigkeit gerechnet. Die in Gen.17,10 ff. berichtete Beschneidung ist nur Siegel oder Zeichen des Bundes – ein individuelles und kollektives Zeichen für die Gerechtigkeit aus Glauben. Zwar ist in Gen. 17,11 in der Tat vom Zeichen des Bundes die Rede, aber in Vers 14 heißt es auch: wer nicht beschnitten wird, „wird ausgerottet werden aus seinem Volk, weil er meinen Bund gebrochen hat.“ Hier erscheint Beschneidung als gesetzmäßig notwendig zu leistendes Treuezeichen des Bundesvolkes.

Ist die Beschneidung als Zeichen der Gerechtigkeit aus Glauben notwendig? Als Zeichen war sie eine Gottesgabe (Vers 11). Aber als Zeichen ist sie für Paulus jedenfalls nicht notwendig oder geboten für die geschenkte Gemeinschaft (Rechtfertigung) im Glauben an Christus. Zeichen für die Gerechtigkeit, als die ist hier garnicht die Rede. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 263 weist darauf hin, dass dieser Text liturgisch am Versöhnungstag verankert war.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

der Glaube angerechnet wird, ist sie nur im Blick auf die seinen Nachkommen dem Fleisch nach geltende Verheißung Abrahams und seinen Glauben. Nicht klar ist, wie Paulus zur Beschneidung als Zeichen des kollektiven Bundes steht, das an den Kindern Abrahams auch vor ihrem individuellen Glauben vollzogen wird. Fest steht: die Bescheidung an sich führt nicht zur Gerechtigkeit, nur das Sichverlassen. Das Vorbild Abrahams lehrt, was sich durch Christus für alle Menschen erfüllt: dass der Glaube, der gerecht macht, allein die Verheißung Gottes voraussetzt, nicht aber die leibliche Abstammung von Abraham oder die Beschneidung. Wenn bis Christus faktisch zunächst die Möglichkeit des Glaubens und der Gerechtigkeit Abrahams auf seine leiblichen Nachkommen und die Geschichtsgemeinschaft der Beschnittenen begrenzt war115, so erfährt dieses Vatersein Abrahams nun gerade in der letzten Erfüllung der Verheißung seine Entgrenzung und Überbietung – nämlich darin, dass er auch Vater der Unbeschnittenen (der Heiden) heißt, die sich auf die Erlösung und Gottesgemeinschaft in Christus verlassen (Vers 11 f.).

Paulus versteht Abraham als Vater aller Menschen, die nicht aus den eigenen Werken, sondern aus dem Vertrauen auf die Zukunft Gottes leben. Das heißt, in seinem Glauben ist Abraham nicht nur Vorbild, sondern – wie gleich die Verse 13 ff. ausführen – nun als Anfangspunkt der Heilsgeschichte erwiesen, die sich jetzt im Glauben an die Erlösung in Christus (3,24) erfüllt. Die Frage ist, wie der heilsgeschichtliche Zusammenhang zu verstehen ist, wenn zugleich beides gilt: Abraham ist Vater der Juden, die als Zeichen des ursprünglichen Bundes beschnitten sind und – mit der Selbsterkenntnis als für sich Gottlose – den Glauben Abrahams geschichtlich fortführen (Vers 12) und darin die Rechtfertigung erfahren. Und der Glaube Abrahams, also der Glauben, der an sich (ohne Werke und ohne Beschneidung) rechtfertigt, ist nun der Glaube an die allen Menschen eröffnete Erlösung in Christus.116 Dass die Juden Abraham zum Vater haben, impliziert für Paulus, dass bereits für ihn und mit ihm (mit seiner Gerechtigkeit oder Gottesgemeinschaft) die Gnade verkündigt ist, die auf Christus zuläuft – die Gemeinschaft, die in ihm für alle Menschen eröffnet ist. Doch dass es dieselbe Gnade Gottes ist, die sich nun endgültig in Christus verwirklicht, enthüllt erst das Geschenk der Gerechtigkeit im Kreuzesgeschehen, wie es jetzt verkündigt und im Glauben angeeignet ist.

Mit den Beschnittenen, deren Vater Abraham ist, sind aber vermutlich nicht nur Judenchristen gemeint; vielmehr schließt die zu Christus führende Fußspur des bedingungslosen Glaubens Abrahams auch aus Glauben gerechte Juden vor 115  Die Frage ist überdies, ob für den Bund Gottes mit Israel die Abstammung als solche von Bedeutung war, oder ob nur faktisch die Volksgemeinschaft als Gemeinschaft derselben Sprache und Geschichte auch die Gemeinschaft des Bundes, der Gotteserkenntnis ausmacht. Vgl. dazu gleich die Bemerkungen zu Vers 13. 116  Vgl. auch Gal. 3,7.16.



b)  Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25

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Christus ein. Zwar scheint dagegen die von Paulus behauptete Totalität der Sünde bis zur Erlösung zu sprechen. Andererseits ist die allgemeine Macht der Sünde auch vor Christus wiederholt, wenn auch nicht grundsätzlich, gebrochen  – durch das Gerichtswort, durch erneute (die Tradition Abrahams aufgreifende) Verheißung der Gnade und eben entsprechenden Glauben. Eben das ist ja die Wirklichkeit der „Schrift“, die Paulus hier zitiert. Für Judenchristen ist jedenfalls die Beschneidung ein Zeichen der Zugehörigkeit zur schon abrahamitischen, in Christus erfüllten Gerechtigkeit aus Glauben. Für Juden- und Heidenchristen aber ist gemeinsam die Taufe auf Christi Kreuz und Auferstehung nicht nur das entscheidende Siegel des Glaubens117, sondern der Vollzug des Mitsterbens des alten Menschen, um in der Gemeinschaft Christi zu leben (6,3 ff.).

Die Verse 13–25 lassen sich noch weiter unterteilen: Die Verse 13–16 führen die Verheißung Abrahams in ihrem heilsgeschichtlichen Zusammenhang weiter aus, und zwar insbesondere als erneute Antwort auf die Frage, wie sich darin Glaube und Gesetz zueinander verhalten. Die Verse 16–22 (Vers 16 bildet den Übergang) bestimmen den Glauben näher, der von Abraham (als Glaube Israels) bis heute (als Glaube der Christen) reicht. Und die Verse 23–25 behaupten die heilsgeschichtliche Erfüllung des Glaubens Abrahams im Glauben an den Gott, der in Jesu Hingabe und Auferweckung die Erlösung oder Rechtfertigung aller Menschen eröffnet. 13–16 Erst hier redet Paulus von der Verheißung.118 Abraham und seinen Nachkommen wurde verheißen, Erbe der Welt zu sein119  – in Gen.15,4 ff., 17,1 ff. sind Abraham unzählige Nachkommen und Land verheißen. Das heißt aber für Paulus durchaus nicht, dass Abrahams Nachkommen im Sinne einer leiblich volksmäßigen, kollektiven Identität die Weltherrschaft gegeben ist.120 Vielmehr gilt im Zusammenhang mit den Versen 23 f. gerade umgekehrt: Alle Völker erben, die Menschheit erbt in Christus die Erfüllung der zuerst Abraham gegebenen Verheißung; die ganze Erde wird zur Heimat der Glaubenden. Zunächst geht es allerdings um die Frage, wodurch sich auf Seiten des Menschen das Verheißene für Abraham und seine Nachfolger auch in der Gegenwart realisiert (erfüllt). Nicht indem der Mensch etwas beiträgt, nicht durch das Tun des Gesetzes, sondern indem zuerst Abraham der menschlich unmöglichen Verheißung Gottes unbedingt vertraute (und nur dies Gerechtigkeit bedeutete), erfüllt sie sich auch. Die Verheißung der Nachkommenschaft enthüllt sich schließlich als Verheißung der allen Menschen (dem 117  Zum Terminus „Siegel“ im Kontext von Beschneidung und Taufe vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 266 f. 118  Vgl. auch Gal. 3,17 ff. 119  Frühjüdische Parallelen zur Rede vom Erbe der Welt bringt M. Wolter, Der Römerbrief 1, S. 296. 120 Ausdrücklich kritisch wendet Paulus das in 9,6 ff.: „nicht alle, die Abrahams Nachkommen sind, sind darum seine Kinder […] nicht das sind Gottes Kinder, die nach dem Fleisch Kinder sind, sondern nur die Kinder der Verheißung werden als seine Nachkommenschaft anerkannt.“ Auch das oben zur Beschneidung des Herzens (2,29) Gesagte ist hier aufzugreifen.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

für sich gottlosen Menschen überhaupt) geltenden Gemeinschaft – und diese kann sich nur (als Gnade) verwirklichen, indem sich der Mensch unbedingt (auf sie) verlässt. Dem Menschen für sich selbst, menschlichem Tun (des Gesetzes) ist sie unmöglich.

Die Heilserfahrung Abrahams ist der Beginn einer göttlichen Heilsgeschichte, die von Verheißung und Glauben getragen ist, nicht vom Tun des Gesetzes. Schon die Heilserfahrung Abrahams spannt sich im Kommunikationsverhältnis von Verheißung, Glauben und göttlicher Erfüllung auf: Dass Gott sich ihm in der Verheißung offenbart, dass Abraham ihm vertraut und sich darin gerechtfertigt weiß, ist bereits Heil – das zudem seine erste, weitere Erfüllung mit dem Nachkommen Isaak findet. Doch ist diese Erfüllung zugleich Anfang und Ausdruck der weiteren geschichtlichen Verheißung, Erbe der Welt zu sein. Verheißung, Glauben und beginnende Erfüllung ist zugleich Anfang einer Geschichte von Verheißung, Glauben und künftiger Erfüllung. Die Heilserfahrung Abrahams ist der Beginn einer göttlichen Heilsgeschichte, die auf die Menschheit zielt. In Christus und durch Christus (durch seine Verkündigung) zeigt sie sich zum Heil der Welt erweitert und verwirklicht – und gerade darin erfüllt sich auch die Verheißung an Abraham. Die Rede vom Gesetz – die Betonung, dass sich durch den Glauben der Verheißung die Rechtfertigung und schließlich auch das verheißene Heil vermittelt, nicht durch das Gesetz – dies bringt nun aber auch die allgemeine Wirklichkeit der Sünde ins Spiel. Die Sünde macht nicht die Verheißung unwirksam, wohl aber die Gerechtigkeit aus Glauben. Insofern sistiert sie auch die Heilsgeschichte des Bundes. Das Gesetz Gottes wirkt dann (wie im prophetischen Gerichtswort) im Sinne der Bundesgemeinschaft als Widerspruch gegen die Sünde. Doch erfüllt sich die Verheißung Gottes  – nun als Überwindung der Sünde  – nicht durch menschliches Tun des Gesetzes, sondern wiederum nur durch Glauben. Wie gesagt bedeutet für Paulus die Macht der Sünde und Gottesferne, dass das Gesetz mit seiner Forderung vom Menschen nicht erfüllbar ist und nur zu ihrer Erkenntnis dienen kann (3,20). Die Forderung des Gesetzes Gottes versetzt nicht in die Lage, das Gesetz (die Liebe) zu erfüllen, sondern führt nur zur Selbsterkenntnis in der Unmöglichkeit, die Liebe zu tun – es vergegenwärtigt die Gottesferne121, und zwar für Juden ebenso wie für Heiden. Die Liebe zu tun vermag nur der Geist der Gemeinschaft Christi, der sich im Glauben vermittelt (dazu Kap. 8).

Dass sich die Verheißung an Abraham jetzt erfüllt, kann also nicht bedeuten, dass nun auch die Völker wie Israel der Forderung des Gesetzes, der Tora unterworfen werden. Genauso wenig wie Israel werden die Völker durch das Tun des Gesetzes die Gottesgemeinschaft, die zuerst Abraham im Glauben vorwegnahm, erfahren – das würde der Gnade der Verheißung und dem Wesen des Glaubens widersprechen (Vers 14), und zugleich der Macht der Sünde. Sondern Abra121 

Zum Zorn vgl. schon 1,18.

b)  Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25



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hams Glauben an die Verheißung wird sich erfüllen, indem sich die Menschen der Völker wie er unbedingt auf Gott verlassen – das heißt nun auf die Erlösung in Christus. Das impliziert freilich die Selbsterkenntnis in der Sünde durch das Gesetz. Der Satz Vers 15b, „wo aber kein Gesetz, auch keine Übertretung“, ist in seiner Kürze schwer zu verstehen. Er will nicht bedeuten, dass es ohne Gesetz die Sünde nicht gäbe. Paulus wird später mit dem Gedanken der adamitischen Sünde (der ja auch ein adamitisches Gebot vorausgeht) zeigen, dass sie in der Welt ist, auch bevor Gott ihr durch die Tora widerspricht. In 5,13 wird es dazu heißen: „Denn die Sünde war wohl in der Welt, ehe das Gesetz kam, aber wo kein Gesetz ist, da wird die Sünde nicht angerechnet.“122

Paulus betont also auch hier, dass der Sinn des Gesetzes ist, die Übertretung zu offenbaren. Der Zorn Gottes („das Gesetz bewirkt Zorn“) ist die der Übertretung entsprechende, offenbare Gottesferne. Zwar ist sein Sinnhorizont die Gottesund Menschenliebe, die es fordert. Aber die Forderung als solche gibt nur das Scheitern an diesem Sinn zu erkennen. Die Verwirklichung des Geforderten kann nicht darin bestehen, dass der Mensch für sich dies durch Werke leistet. Vielmehr bedeutet das Selbstverständnis, die Gerechtigkeit (oder im Kontext der Geschichte Abrahams: das Eintreten der Verheißung) durch das Tun der Werke des Gesetzes zu befördern, die Verheißung außer Kraft zu setzen.

16–22 Die Verse 16.17a ziehen die Konsequenz: Die Verheißung an Abraham, „Vater vieler Völker“ zu sein, beginnt sich für den daran glaubenden Abraham zu erfüllen. Sie impliziert aber auch Verheißung und Gnade Gottes für alle, die in der Nachfolge Abrahams glauben – Juden (die sich unter dem Gesetz Gottes wissen) und schließlich auch Heiden (die auch ohne die Tradition des Gesetzes wie Abraham glauben, nämlich an die Erlösung in Christus). Das heißt, die Verheißung erfüllt sie sich nicht nur darin, dass Abraham leibliche Nachkommen hat, sondern letztlich darin, dass auch die Völker Nachfolger seines Glaubens sind. Worin besteht aber die Verheißung für die Glaubens-Nachkommen, sei es, dass sie ursprünglich „aus dem Gesetz“ sind, sei es, dass sie Heidenchristen sind? Auch für sie wird ihr Glaube zur Gerechtigkeit angerechnet – wie verhält sich also diese Gerechtigkeit zum Verheißenen?   Das Verhältnis von Verheißung, Glauben und Gerechtigkeit ist systematisch m. E. so bestimmt: Die Verheißung umfasst das heilsgeschichtliche Ziel im Ganzen – auch wenn es in der Sprache Abrahams noch nicht so ausgesprochen ist wie es durch Christus verstanden wird. Die Gerechtigkeit oder Gottesgemeinschaft aber, die im Glauben daran realisiert wird, nimmt dieses verheißene Ziel für die Gegenwart des Glaubenden vorweg. Letztlich ist das Verheißene die vollendete Gerechtigkeit oder Gottesgemeinschaft, die schließlich alle Menschen umfasst, auch die noch nicht geborenen.

122 

Vgl. auch 5,20 und 7,7 ff.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Paulus bestimmt nun das durchgängige, Abraham und seinen Nachfolgern geltende Wesen des von Gott Verheißenen dadurch näher, dass er den Glauben an Gottes Verheißung näherbestimmt, der zuerst der Glaube Abrahams war – und zwar so, dass das Verheißene, das geglaubt wird, zugleich das Wesen Gottes bedeutet: In seiner Verheißung offenbart Gott sein Wesen, das im Glauben erkannt wird. Das Verheißene, an das Abraham gegen alle Hoffnung glaubte – gegen alles, was mit weltlichem Verstand zu erwarten ist – ist Leben aus dem Tod: Gott wird geglaubt als der, „der den Toten Leben verschafft“, so, wie er durch sein Wort die Welt schafft und aus nichts ins Dasein ruft.123 Es war Luther, der betonte, dass sich Gottes Wesen für uns darin offenbart, dass er aus nichts schafft: „Gottis natur ist, das er auß nicht etwas macht. darumb wer noch nit nichts ist, auß dem kann gott auch nichts machen“.124 In Schöpfung, Auferweckung und Rechtfertigung überwindet Gott das Nichts, den Tod, die Sünde – letztlich, indem er sich ihm selbst (als Mensch) aussetzt.

Die schöpferische Kraft Gottes überwindet das Nichts und den Tod, so wie er den Gottlosen rechtfertigt (Vers 5), also auch die Gottlosigkeit oder Sünde überwindet. Ihre Geschichte beginnt mit der Schöpfung, in der menschlichen Geschichte aber geschieht sie eben in der Spannung zwischen der Verheißung dieser Überwindung, deren Glauben sie vorwegnimmt, und ihrer kommenden Erfüllung. So macht sie die Geschichte, die doch von Tod und Sünde bestimmt ist, als Geschichte der Verheißung und des Glaubens (zuerst Abrahams) doch zu einer Heilsgeschichte – welche sich in der allgemeinen, alle Völker einbeziehenden Erlösung und Gemeinschaft durch Christus entscheidet, in der allen Menschen die Rechtfertigung durch Glauben angeboten ist. Der entsprechende, abrahamitische Glauben aber behält in Bezug auf die (individuelle und allgemeine) Vollendung des Heils, eben indem er sie in der Situation der Gottlosigkeit, des Todes als verheißene vorwegnimmt, den Charakter von Hoffnung (Vers 18). Indem Paulus den Glauben Abrahams als Anfang und Vorbild auch des gegenwärtigen, christlichen Glaubens versteht, nimmt er also an, dass diese Situation anders auch christlich virulent bleibt. Der Hoffnungscharakter des Glaubens gilt auch christlich: Auch der Glaube an das in Kreuz und Auferstehung Christi vollzogene neue Leben aus dem Tod bedeutet, dass es für den Glaubenden als geschenkte Rechtfertigung (und auch als Begabung mit dem Geist der Gemeinschaft Christi) zwar präsent ist  – aber eben als Vorwegnahme. Seine Vollendung steht für den Glaubenden und für die Heilsgeschichte der Menschheit insgesamt auch noch aus.   Entsprechend haben für Paulus zwar Glauben und Taufe das Mitsterben mit Christus grundlegend vollzogen (es muss nicht wie später bei Luther in Selbsterkenntnis und 123 Zu

S. 274.

Traditionen dieser Formulierung vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1,

124  WA 1, S. 183,39–184,2 (1517); vgl. T. Kleffmann, Grundriß der Systematischen Theologie, S. 170.

b)  Die Rechtfertigung des Sünders aus Gnade im Glauben: 3,21–4,25



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Glauben immer wieder vollzogen werden), doch das begonnene Leben in der Christusgemeinschaft behält einen futurischen Aspekt  – das in Christus Gott-Leben ist selbst Gegenstand des Glaubens und der weltliche Augenschein sieht es nicht. Hier ist später 6,6.8.11 zu vergleichen.

Diesen Grundzug des Glaubens an Gott zeigt Paulus in den Versen 19–21 am ursprünglichen Glauben Abrahams auf. Abraham realisiert die absolute Grenze des für sich Lebens, die Unmöglichkeit, ihm wahre Zukunft zu geben. Doch angesichts der Selbsterkenntnis im Absterben, im mit der Zeit herrschenden Tod (hier: die alten, nicht mehr zeugungskräftigen Leiber Abrahams und Saras), verlässt er sich auf Gottes Verheißung des neuen Lebens, ohne schon zu verstehen, wie sich dies später erfüllen wird. Das Sichverlassen auf die Verheißung Gottes widerspricht dem, was der für sich, mit seinen Sinnen und seinem Verstand natürlich gottlose Mensch vom Leben und Tod sieht und versteht. Es stößt sich davon ab, um die Gemeinschaft des Gottes zu erfahren, der schließlich in Christus eben das gottlose Leben und Sterben des Menschen teilt. Für Abraham heißt das zunächst: er verlässt sich ganz auf die Gottheit des unsichtbaren Gottes, der doch schon menschlich zu ihm spricht. Er ist die Kraft oder Macht, die das von ihm Verheißene tun kann. Und mit eben diesem Glauben beginnt auch, freilich erst verborgen, das verheißene Leben, das ein Leben in der Gemeinschaft Gottes ist  – der Glauben (das Sichverlassen) des für sich Gottlosen wird diesem (so sagt Paulus erneut mit Gen. 15,4) zur Gerechtigkeit angerechnet (Vers 22). Der Glaube an das verheißene Ziel glaubt zugleich (ist sich gewiss), das er eine Gottesgemeinschaft realisiert, die das Ziel vorwegnimmt. 23–25 Die Geschichte der Verheißung und des Glaubens Abrahams sowie seiner Gerechtigkeit aus Glauben wurde auch für uns geschrieben. Sie wurde zur heiligen Schrift und wird bis heute (der Zeit des Paulus und der ersten Christen in Rom, aber auch in der Zeit, in der wir zusammen mit der Vätergeschichte seinen Brief in der Bibel lesen) verkündigt. So bezeichnet und verkündigt sie den Anfang der Heilsgeschichte, die von Anfang an über die Bundesgeschichte Israels hinaus auch auf uns Leser und auf alle Menschen zielt, die im Glauben an die erlösende Gemeinschaft in Christus Rechtfertigung erfahren. „Um unseretwillen“ wurde das Ereignis von Abrahams Gerechtigkeit aus Glauben aufgeschrieben125: Damit wir wissen, dass die Grundwahrheit des Glaubens  – sich in der Situation der Todesmacht, der Ohnmacht, auf die Verheißung Gottes zu verlassen und darin als Lebender gerechtfertigt zu sein – seit Abraham besteht, zunächst im Gottesverhältnis Israels. Und damit wir wissen, dass es die am Anfang Abraham gegebene, von ihm geglaubte Verheißung ist, die sich durch Christus für alle Menschen, die ihn glauben, zu erfüllen beginnt.

Das heißt auch: zur Heilsgeschichte gehört die Erkenntnis der Heilsgeschichte (hier vor allem im Verhältnis von Verheißung, rechtfertigendem Glauben und 125 

Vgl. auch 1. Kor. 9,10.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Erfüllung). Insofern bewirkt Gott das Heil seiner Kommunikation auch durch das Wort, das seine Geschichte erinnert und verkündigt, also insbesondere durch das biblische Zeugnis. Die Schrift bezeugt und bewahrt die schöpferischen Entwicklungen oder auch Wenden in dieser Geschichte, durch die Gott seine menschliche Offenbarung, sein Verhältnis zum Menschen neu interpretiert: etwa durch das Gesetz oder im prophetischen Wort von Gericht und Verheißung. Doch Gegenstand der heiligen Schrift ist insgesamt die Gerechtigkeit vor Gott aus Glauben, der nun der Glauben an Christus ist (vgl. schon 1,1 f.; 3,21). Denn die letzte Wende der Heilsgeschichte, in der Gott alles neu interpetiert und erschließt, besteht im Kommen, Sterben und Auferstehen des Sohnes. Den Glauben, den Gott nun, in dieser Wendezeit (vgl. 3,21.26), den Gottlosen zur Gerechtigkeit anrechnet und mit dem sich die Verheißung an Abraham zu erfüllen beginnt, fasst Paulus in Vers 24b zunächst (wie später in 10,9) in einer bereits vorgeprägten, vielleicht liturgischen Form des Christus-Bekenntnisses zusammen: Jesus ist Herr, indem Gott ihn von den Toten auferweckt hat.126 Das ist das Kernkerygma, weil es die Offenbarung der erlösenden Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen eben in der äußersten Situation des Fürsichseins und seiner Nichtigkeit, in Situation des Todes als der letzten Wahrheit der Sünde bedeutet. Die Verkündigung dieser offenbar gewordenen Gemeinschaft impliziert die Bedeutung der Hingabe Jesu für uns am Kreuz (aber eigentlich auch schon in seinem ganzen Leben). Das führt Vers 25 aus: Als Grundbedeutung des versöhnenden Opfers Jesu (3,25) erscheint die Hingabe. Hier ist (wie dann in 8,32), im Anklang an die sühnende Hingabe des Gottesknechts aus Jes. 53,10–12127, davon die Rede, dass Gott ihn hingibt – Paulus kann aber ebenso von der Selbsthingabe Jesu für uns reden (vgl. Gal. 1,4; 2,20). Wenn Gott in Christus war und die Welt mit sich versöhnte (2. Kor. 5,19), ist beides nur zugleich wahr – freilich mit der Asymmetrie, dass Sünde und Tod ursprünglich die Wahrheit des Menschen sind und dass wie die Auferweckung in die ewige Gemeinschaft so auch das zeitliche In-Jesus-Sein von Gott (dem ‚Vater‘) ausgeht. Aber dass der Sohn, dass Gott in Christus den Tod als Wahrheit der Trennung, der Sünde erleidet und dass Gott (der ‚Vater‘) das neue Leben aus dem Tod schafft, ist nicht auseinander zu dividieren – und auch nicht aufeinander zu reduzieren. Jesus teilt in der Hingabe für uns auch den Tod als Wahrheit der Sünde, hat sich mit uns in ihr identifiziert. Als Tat Gottes ist dies nur so zu verstehen, dass Gott sich mit ihm (und so mit uns Menschen) identifizierte, ihn also zum Sohn machte und in seine ewige Gemeinschaft auferweckte. Indem wir aber glaubend unsere Todeswahrheit im Kreuz Jesu identifizieren, realisieren wir auch seine Auferweckung vom Tode als unsere Erlösung und das 126 Zu Parallelstellen und Formgeschichte vgl. M. Wolter, Der Römerbrief 1, S. 310; ferner U. Wilckens, Der Römerbrief 1, S. 278 f. 127 Ob diese Verknüpfung Paulus schon vorgegeben war, evtl. im Zusammenhang der Abendmahlstradition (vgl. 1. Kor. 11,23 f., wo von der Selbsthingabe des Leibes die Rede ist, und dazu U. Wilckens, Der Römerbrief 1, S. 279), lässt sich nicht sagen.

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Geschenk unserer Rechtfertigung128 – und realisieren so unsere beginnende, wenn auch in der Zeit verborgene Teilhabe an seiner ewigen Gottesgemeinschaft (Gemeinschaft mit Gott dem ‚Vater‘).

Dies ist der Glaube, für den sich die mit Abrahams Verheißung und Glaube begonnene Heilsgeschichte für alle Völker zu vollenden beginnt. Doch auch die erschienene Christusgemeinschaft ist als verkündete und geglaubte erst die Vorwegnahme der Gemeinschaft in Christus, zu der alle Menschen (auch die noch nicht geborenen) bestimmt sind. Das heißt, es gibt auch eine Heilsgeschichte nach Christus, individuell und universal  – geschichtlich durch die Ausbreitung von Selbsterkenntnis, Glaube und Liebe unter den Völkern, und schließlich durch die letzte Vollendung der Gemeinschaft, wenn „in Christus alle lebendig gemacht“ sein werden, der Tod vernichtet sein wird und Gott alles in allem ist (1. Kor. 15,23–28).

c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38129 aa)  5,1–11: Die geschenkte Rechtfertigung bedeutet Friede mit Gott durch seinen Geist und seine versöhnende Liebe – auch wenn die letzte Rettung noch aussteht 1 Gerechtfertigt nun aus Glauben haben wir Frieden mit Gott (εἰρήνην ἔχομεν πρὸς τὸν θεὸν) durch unseren Herrn Jesus Christus, 2 durch den wir auch den Zugang erhalten haben im Glauben hinein in diese Gnade (oder: zu dieser Gnade), in der wir stehen; und wir rühmen uns der Hoffnung (ἐπ’ ἐλπίδι) auf die Herrlichkeit Gottes. 3 Aber nicht nur [das], sondern wir rühmen uns auch der Bedrängnisse, indem wir wissen, dass die Bedrängnis Geduld (Wolter: Standhaftigkeit) bewirkt, 4 die Geduld aber Bewährung, die Bewährung aber Hoffnung. 5 Die Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden (οὐ καταισχύνει; auch: enttäuscht nicht), denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den heiligen Geist (auch möglich ist mit Wolter: in Gestalt des heiligen Geistes), der uns gegeben ist. 6 Denn Christus ist, noch als wir schwach waren, zu [jener] Zeit noch (ἔτι κατὰ καιρὸν), für [uns] Gottlose gestorben. 7 Nun aber stirbt kaum jemand für einen Gerechten; für das Gute (oder auch: für den Guten) aber nimmt es vielleicht (τάχα) jemand auf sich zu sterben. 8 Gott aber beweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, noch als wir Sünder waren. 9 Um wie viel mehr also werden wir, nun gerechtfertigt durch sein Blut (wörtlich: in seinem Blut), durch ihn vor dem Zorn gerettet werden. 10 Denn wenn wir als Feinde mit Gott durch den Tod seines Sohnes versöhnt wurden, um wie viel mehr werden wir als Versöhnte durch sein Leben (wörtlich: in seinem Leben) gerettet werden. 11 Aber nicht allein [das], sondern wir rühmen uns auch Gottes (auch möglich: sondern auch als solche

128 

Toten.

Auch gemäß 1. Kor. 15,17 hängt die Rechtfertigung an der Auferweckung Jesu von den

129  Über die Einteilung, 3,21–4,25 und 5–8 zu trennen, kann man streiten. Kap. 3–5 gehören auch zusammen.

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[werden wir gerettet werden], die sich Gottes rühmen …130) durch unsern Herrn Jesus Christus, durch den wir jetzt die Versöhnung empfangen haben.

Uns Schwachen, Gottlosen (Vers 6), Sündern (Vers 8), Feinden Gottes (Vers 10) ist darin, dass Christus unseren Tod teilte, der der Inbegriff unserer Schwäche, die Wahrheit der Sünde und Gottlosigkeit ist, die Befreiung davon geschenkt. Indem wir uns darauf verlassen, wird dieses Geschenk für uns als unsere Rechtfertigung wirklich. Diese Rechtfertigung und Versöhnung (Vers 11) bedeutet Frieden mit Gott (Vers 1). Die Gemeinschaft dieses Friedens vollzieht sich, indem wir von der Liebe Gottes und dem heiligen Geist bestimmt werden. Als in der Zeit vorläufige aber ist diese Gemeinschaft zugleich Gegenstand der gewissen Hoffnung auf künftige Erfüllung. Im Sinn dieser Spannung beschreibt Paulus das Selbstverständnis der an Christus Glaubenden, ihr Selbstbewusstsein im Verhältnis zu Gott – ihr Sich-Rühmen. Nachdem er die durch Christus gestiftete, im Glauben realisierte Gottesgemeinschaft grundsätzlich als Frieden charakterisiert hat, bestimmt Paulus (in den Versen 2b–5) zunächst im Rückgriff auf 4,18–21 das Verhältnis zwischen der Gottesgemeinschaft, sofern sie im Glauben gegenwärtig ist, und der Hoffnung auf das noch Ausstehende näher: Der im Sichverlassen gegebene Geist der Liebe Gottes in uns lässt in der Hoffnung das ausstehend Erhoffte vorwegnehmen. Dann verortet Paulus dieses Verhältnis von im Glauben (Sichverlassen) begonnener Gottesgemeinschaft und Hoffnung im lebendigen Christus selber (vgl. die Verse 6–10): Wie uns Gottlose sein Tod mit Gott versöhnte, weil er unseren Tod (unsere Trennung) übernahm, so wird sein Leben die Hoffnung erfüllen. Vers 11 fasst das christliche Selbstbewusstsein zusammen: Glaubend haben wir es in unserem in Christus begründeten Verhältnis zu Gott.131 1–2a Die Rechtfertigung des Gottlosen vor Gott ist der angesichts der Wahrheit seiner Gottlosigkeit, die das Gericht feststellt, geschenkte Beginn der Gemeinschaft  – d. h. sie beginnt sich zu vollziehen. Diese Rechtfertigung, die im Sichverlassen wirklich wird, bedeutet ein Leben in Frieden mit Gott. Anstelle der Gottesfeindschaft des Gottlosen tritt Frieden der Versöhnung, der die Rechtfertigung vor Gott impliziert. „Als Feinde mit Gott wurden wir durch den Tod seines Sohnes versöhnt“ (der Gedanke der Versöhnung in den Versen 10 f. nimmt die Aussage des Friedens in Vers 1 auf ). Der Sohn teilte in seinem Tod, Gott in Christus teilte in Christi Tod den Tod als Wahrheit unserer Sünde und hob so die Todeswahrheit der Trennung auf  – diese Versöhnung ist nun die Wahrheit des weiteren Lebens. Frieden meint hier also nicht nur die Abwesenheit von Feindschaft, sondern ein Leben, was sich aus der Gewissheit der Liebe Gottes speist (Vers 5: „die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen 130 

Zur Begründung dieser Übersetzung vgl. M. Wolter, Der Römerbrief 1, S. 337. Vgl. weitere Überlegungen zum Aufbau bei D. Hellbohm, Stilkritische Bemerkungen zu Röm. 5,1–11, in: P.‑G. Klumbies/​D. S. Du Toit (Hg.), Paulus – Werk und Wirkung, Tübingen 2013, S. 180–183. 131 



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durch den heiligen Geist“). Indem diese Liebe auch den Sinn der Schöpfung und der menschlichen Gesellschaft erschließt, schließt er den Frieden mit der Schöpfung und den Menschen ein. Die den Tod, die Trennung des Sünders, die Nichtigkeit des Fürsichseins überwindende Gemeinschaft, die Christus darstellt und die als Rechtfertigung zugesprochen wird, vollzieht sich nun im weiteren Leben – „Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20). Dieser Friede ist also wiederum nicht unsere Leistung, sondern Geschenk oder Gnade Gottes. Indem Christus uns Friede mit Gott vermittelt, gewährt er Zugang in die Gnade – den wir wiederum allein darin wahrnehmen, dass wir uns auf ihn verlassen. Von der Gnade spricht Paulus hier wie von einem Ort oder Raum, in dem wir leben – sie ist wie der Tempel Gottes, in dem wir nun leben. Der ursprüngliche Kontext der Rede vom Zugang liegt vor allem im Zutritt der Priester zum Heiligtum oder Allerheiligsten, also zu Gottes Gegenwart im Tempel.132

Die Gnade Gottes meint eben die geschenkte Rechtfertigung durch die erlösende Hingabe Christi (3,24)  – nun aber erweist sich diese Gnade, die uns Gottlosen den Glauben an Christus zur Rechtfertigung anrechnete (vgl. zuletzt 4,24 f.), als Gnade der in Christus vermittelten, uns umgebenden Gegenwart des liebenden Gottes.133 In dieser Gnade gewinnen wir Stand („in der wir stehen“): wahre Identität, die wir nicht in uns selbst und durch uns selbst haben, sondern (durch Christus) bei Gott finden – ein Stand, der die Vergänglichkeit des bloß geschöpflichen Lebens und des Lebens für sich überdauert. In den Versen 2b–10 wird das dem Gesagten entsprechende Selbstverständnis oder Selbstbewusstsein des Glaubenden (das wahre Sichrühmen) entfaltet – das Wissen darüber, worin wir unsere wahre Identität finden. Dieses wahre Sichrühmen steht dem in 2,17 ff.; 3,27 besprochenen verkehrten Sichrühmen, einem verkehrten Selbstverständnis vor Gott gegenüber. In diesem verkehrten Sichrühmen verfehlt der Mensch die Selbsterkenntnis in der Sünde und Nichtigkeit des Fürsichseins oder Durchsichseins vor Gott. Er rühmt sich seiner Gotteskenntnis oder des Habens von Tora und Beschneidung oder auch des Tuns der Werke des Gesetzes Gottes – indem er so eine positive Identität vor Gott behauptet, die ihm an sich eigen ist oder die er durch sich erhält (auch wenn das Vermögen dazu als Gottes Gabe gilt), verfehlt er die Rechtfertigung und Gnade und den Frieden, die Gott in Christus anbietet.

Paulus entfaltet das Selbstverständnis der Glaubenden in der konstitutiven Spannung des Glaubens – nämlich der Spannung zwischen der im Glauben und für den Glauben geschehenen Rechtfertigung, dem bereits wirklichen Frieden, 132  Im Hebräerbrief ist die Rede vom Zugang zum Allerheiligsten durch Christus als Hohepriester, der durch den Kreuzestod ins himmlische Heiligtum vorausgegangen ist und uns so den Weg zur Gegenwart Gottes eröffnet (vgl. Hebr.9,11–14; 4,14–16). Vgl. dazu U. Wilckens, Der Römerbrief 1, S. 289, ferner M. Wolter, Der Römerbrief 1, S. 320 f. 133  Diese Interpretation setzt freilich wiederum schon Vers 5 voraus.

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also einer zwar gegenwärtigen, aber in der Zeit auch noch vorläufigen Gottesgemeinschaft, und der gewissen Hoffnung auf ihre Vollendung durch Gott. In dieser Spannung entspricht der christlich Glaubende Abraham. 2b–5 Begründet ist das Selbstverständnis der Glaubenden, also das Selbstverständnis im Gottesverhältnis, in der Hoffnung auf Gottes Herrlichkeit. In der Formulierung liegt zweierlei, was aber zusammenhängt. Zum einen: unser mit dem Glauben gegebenes Wissen um unsere wahre Identität (unser Rühmen) liegt im Hoffen auf die Herrlichkeit, im Erwarten der Herrlichkeit, mit der Gott uns empfangen wird. Zum anderen: diese Hoffnung bezieht sich nicht auf ein vages Vielleicht, sondern sie bedeutet das positive Selbstbewusstsein in der Gewissheit, dass Gott dies geschehen lässt. Die Hoffnung nimmt die Herrlichkeit vorweg. Zugespitzt heißt das, die Wirklichkeit der Herrlichkeit Gottes für uns beginnt in der Hoffnung. Unser Wissen um unsere wahre Identität ist das Wissen, dass Gott diese wahre Identität schenkt. Unsere wahre Identität ist nicht ein Sein, das wir in uns, durch uns selbst haben, sondern ein Werden, das im Sichverlassen besteht und insofern immer auch die gewisse Hoffnung ist, dass dieses Werden in dem, worauf ich mich verlasse (in der Gemeinschaft Gottes) vollendet sein wird. Herrlichkeit ist hier ein Relationsbegriff. Die Herrlichkeit (δόξα: auch Schein, Glanz) Gottes meint nicht einfach eine Eigenschaft Gottes. Die Übersetzung ist insofern missverständlich. Ebensowenig ist, wenn von der dem Menschen zukommenden Herrlichkeit die Rede ist (als durch die Sünde verlorene Herrlichkeit: 3,23 – oder als Ziel des Heils: 2,7.10), eine Eigenschaft gemeint, die dem Menschen an sich zukommt. Die Herrlichkeit Gottes meint den Schein, das Ausstrahlen seiner Gegenwart auf den Menschen, also seine wirkkräftige Wahrheit, seine lebenschaffende Macht.134 Dies ist die Sphäre, in der zu leben die göttliche Bestimmung des Menschen ist. Deshalb wurde Christus „durch die Herrlichkeit des Vaters“ auferweckt (6,4). Und wir werden mit ihm „zur Herrlichkeit erhoben werden“ – zur Freiheit und Herrlichkeit der Kinder Gottes, nach der sich die ganze Schöpfung sehnt (8,17 f.21).135 Gott wird die Gemeinschaft, die Christus, die Kreuz und Auferweckung darstellen und die uns durch unseren Glauben als Rechtfertigung erreicht, vollenden und den Widerspruch des Lebens mit Christus im Glauben zu unserer Existenz in Zeit und Welt, wie sie den Sinnen und dem Verstand erscheint, aufheben  – durch seinen Geist und schließlich in seiner Ewigkeit.

In den Versen 3–4 wird diese Spannung im Blick auf das Leben in der Zeit konkretisiert. Das Sichrühmen oder Wissen um die wahre Identität in der Hoffnung bedeutet ein paradoxes Selbstbewusstsein – eine paradoxe Weise, sich mit sich in den Lebensverhältnissen identisch zu wissen. Wir rühmen uns nicht unserer Stärke, unserer Macht, des Erfolges unserer Selbstbestimmung, sondern im Gegenteil unseres Leidens, unserer Verfolgung, unserer Ausgrenzung, ja unseres Sterbens. Was bedeuten die „Bedrängnisse“? 134  135 

Vgl. oben S. 87 zu 2,23: der Glanz der Nähe Gottes. Vgl. auch 9,23; ferner 1. Kor. 15,43; 1. Thess. 2,12.



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Hier ist die zeitbedingt praktische Bedeutung von der theologisch grundsätzlichen zu unterscheiden.   Zwar ist die heutige Lebenswirklichkeit von Christen in Europa nicht mit der unmittelbaren Bedrohung der Gemeinden zur Zeit des Paulus zu vergleichen. Gleichwohl ist auch heute ein vergleichbares Verständnis des wahren Lebens anzunehmen. Schon damals bedeutete es nicht christliche Weltflucht oder Askese, sondern ist in der Wahrheit des Kreuzes begründet: Die wahre Identität oder Bestimmung in Christus, in der Gemeinschaft des ewigen Gottes finden, heißt in der Zeit, das natürliche Fürsichsein hingeben oder einsetzen in Liebe. Das schließt ein, die Anfeindung des herrschenden Lebens in der kollektiven Lebenslüge der Sünde auszuhalten, das den Widerspruch der Liebe schlecht erträgt.136 Ein solches Sichhingeben oder Sicheinsetzen entspricht dem Sinn der Taufe als Mitsterben mit Christus nicht nur in der Selbsterkenntnis der Gottlosigkeit, sondern in der Lebenspraxis (vgl. 6,6 mit 6,13: „gebt euch selbst Gott hin“)137.

Dass die Bedrängnisse im Selbstbewusstsein des Glaubenden Standhaftigkeit bewirken  – das kann dann zunächst heißen, dass im Rahmen der gewissen Hoffnung auf die Vollendung der Sinn der Bedrängnisse realisiert wird. Im Glauben wird mitgewusst, dass es eben die vorwegnehmende Kraft der kommenden Herrlichkeit Gottes ist, die in der Bedrängnis die Standhaftigkeit des Glaubens bewirkt, Sicheinsetzen im Bewusstsein des Sinns. So aber bewirkt die Bedrängnis, das Leiden, das Sicheinsetzen, nicht nur Standhaftigkeit, sondern Bewährung, also Bestärkung der Gewissheit, dass ihm das Finden der wahren Identität in Gottes Liebe und ewiger Gemeinschaft, die endgültige Überwindung der Trennung des Fürsichseins zukommt. Denn diese Bewährung des Glaubens auch in der Annahme des Leidens und in der eigenen Hingabe geschieht ja schon kraft der geschenkten Gemeinschaft. So bekräftigt sie wiederum die Gewissheit in der Hoffnung auf ihre letzte Vollendung durch Gott und in Gott. Begründet sind die Bewährung und die Hoffnung letztlich in der Gewissheit, dass Gott in Christus bereits alles Leid und auch den Tod, was dem Glaubenden in der Zeit auch noch bevorsteht, geteilt hat. Deswegen ist der Glaubende gewiss, dass ihn kein Leid von dieser Liebe Gottes trennen kann: Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung […]? […] Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges […] uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn. (8,35.38) Zum Traditionshintergrund des sich der Bedrängnisse Rühmens gehört der frühjüdisch und urchristlich geläufige Gedanke, das Leiden des Gerechten als Bewährung dieser Gerechtigkeit vor Gott zu verstehen, im Blick auf das eschatische Ziel und das damit verbundene letzte Gericht. Auch die rhetorische Gestalt der stufenförmigen Steigerung war gebräuchlich  – dass Paulus hier eine für den Zusammenhang von Bedrängnis, Geduld 136  Schließt es auch ein, das wiederkehrende Fürsichsein, die Anfechtung des Glaubens selber auszuhalten (vgl. K. Barth, Römerbrief S. 131 f. u. a. mit Luther), in der das Sichverlassen auf die Gottesgemeinschaft sie nicht vorwegnimmt, sondern nur eben erhofft oder erwartet? 137  Vgl. auch 2. Kor. 4,17–5,4: die kleine Last der gegenwärtigen Bedrängnis bereitet ein Übermaß ewiger Herrlichkeit – was sichtbar ist, ist zeitlich, was aber unsichtbar ist, ist ewig.

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und Bewährung christlich verbreitete Redeweise aufgreift, zeigen die (freilich anders akzentuierten) Parallelen in Jak. 1,1–4 und 1. Petr.1,6–9.138 Bei Paulus selbst wäre noch 2.Thess.1,3–12; 3b–5 zu vergleichen: Denn euer Glaube wächst sehr und die gegenseitige Liebe nimmt zu bei euch allen. Darum rühmen wir uns euer unter den Gemeinden Gottes weil ihr im Glauben standhaft bleibt in allen Verfolgungen und Bedrängnissen, die ihr erduldet; ein Anzeichen des gerechten Gerichtes Gottes und dafür, dass ihr gewürdigt werdet des Reiches Gottes, für das ihr auch leidet. Auch hier entspricht der Standhaftigkeit im Leiden ein Wachsen von Glaube und Liebe, und zwar ein Wachsen in der Gewissheit der kommenden, vollendeten Gottesgemeinschaft, die sich in der Standhaftigkeit schon jetzt beweist und in der Hingabe vollzieht.

In Röm. 5 aber betont Paulus wie gesagt die Glaubenshoffnung. Zum einen entwickelt er die Spannung des Glaubens, in dem sich der Mensch zwar in der Sphäre des versöhnten Friedens mit Gott weiß, zugleich aber aufgespannt findet zwischen der Gegenwart des geglaubten Christus und geschehener Rechtfertigung und der gewiss erhofften Vollendung. Zum anderen zeigt er eine göttliche Dynamik der Spannung. Die Hoffnung verstärkt sich, indem sich das Sichverlassen auf Christus in der Hingabe, im Leiden, in der Nachfolge bewährt. Das bedeutet wie gesagt durchaus nicht, dass dies das christliche Leben auf Schmerz und Leid festlegt. Vielmehr schließt es in jeder vorläufigen Erfahrung der göttlichen und menschlichen Gemeinschaft wahre Freude und Seligkeit ein.

Vers 5 (dessen erster Teil eine häufige alttestamentliche Formulierung aufgreift139) zeigt nun, dass die Gewissheit der erhofften Vollendung der Gottesgemeinschaft, dem Evangelium entsprechend, in der lebendigen Gegenwart dieser Gemeinschaft begründet ist, die mit dem Glauben und für den Glauben an Christus schon eingetreten ist. Der Grund der Hoffnung liegt insofern auch im Menschen selbst und besteht darin, dass er, indem er sich auf die Versöhnung in Christus verlässt, eben nicht mehr nur für sich ist, sondern dass der heilige Geist dieser mit Christus gegebenen Gemeinschaft Gottes ihn bestimmt. Im Sichverlassen auf Christus erfüllt ihn seine Gemeinschaft, die als Gottes Geist zugleich von ihm unterschieden und in ihm lebendig ist. Indem er sich im Moment der Selbsterkenntnis in der Nichtigkeit des Fürsichseins auf die Liebe Gottes, die Christus bedeutet, verlässt, erfüllt sie ihn – sein Denken, Wollen, Fühlen. Paulus redet hier davon, dass durch die Liebe Gottes, die Christus bedeutet, die Verheißung etwa aus Ez. 36,26 f. erfüllt ist, dass Gott ein neues Herz und einen neuen Geist geben wird, indem er seinen Geist schenkt: „Ich will meinen Geist in euch geben“. Das ist zugleich die Erfüllung der Verheißung des neuen Bundes nach Jer. 31,33: „ich will mein Gesetz in ihr Herz geben“ – nur dass die im Herzen realisierte Liebesforderung des Gesetzes nun nichts anderes ist als die Liebe Gottes im Herzen. 138  Vgl. im Einzelnen U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 291 f. und M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 324 f. 139  Vgl. nur z. B. Ps. 21,6; 24,20; Jer. 31,13 in der Septuagintaversion.

c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38



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Dabei sind für Paulus aber die Liebe Gottes und der Geist Gottes nicht unmittelbar dasselbe: Die Liebe Gottes ist ausgegossen durch den Geist. Das gilt abgeschwächt auch dann, wenn das διά mit Wolter modal statt instrumental übersetzt wird140: Die Liebe ist ausgegossen in Gestalt des heiligen Geistes.

Der Geist Gottes meint dann die gewisse, bestimmende Anwesenheit Gottes: Gott selbs, indem er seine Gemeinschaft mit mir vollzieht – und zwar seine Gemeinschaft, die mich bestimmt, indem ich mich auf Christus (die Liebe Gottes in Christi Kreuz und Auferstehung) verlasse. Gott wirkt im Sichverlassen des Menschen die Gemeinschaft, auf die er sich verlässt – was das gewisse Bewusstsein dieser Gemeinschaft bedeutet, also Christus als geglaubten, an dessen Gemeinschaft ich teilhabe, zugleich aber das Bewusstsein, dass Gott sie (eben als Geist) vollzieht. Das wiederum heißt, dass die Liebe das herrschende Leben ist: Ich bin gewiss, dass Gott mich liebt, und dies bestimmt Denken, Fühlen, Wollen. Dass die Liebe Gottes mich erfüllt, bedeutet dann auch (ohne dass das hier weiter expliziert wird), dass sie zu meiner Liebe wird, indem ich mich im Selbstbewusstsein des Geliebtseins auch selbst liebend für die Anderen einsetze. Dabei bleibt sie aber die Liebe Gottes, an der ich teilhabe.141 Allerdings ist der Geist Gottes oder die Liebe Gottes durch seinen Geist auch im Glaubenden nicht einfach – seit der Taufe – da. Hier ist später 8,23 zu vergleichen, wo vom Geist als Erstlingsgabe die Rede ist, der aber das Sehnen nach der Kindschaft und Erlösung des Leibes nicht ausschließt, sondern gerade begründet. Der Mensch ist immer wieder auf sein Fürsichsein anzusprechen, in dem er sich immer wieder vorfindet: Bei Paulus zeigt sich das insbesondere im Zusammenhang der notwendigen Paränese – also dann, wenn er den Glaubenden auffordert, seinem Leben im Geist zu entsprechen (z. B. Gal. 5,25 im Kontext von 5,16 ff.)   In gegenwärtiger systematischer Rekonstruktion ist auch über den paränetischen Zusammenhang hinaus die geschöpfliche Notwendigkeit des Fürsichseins zu beachten. Das heißt: der Geist, durch den die Liebe Gottes das Leben bestimmt, setzt immer wieder die Selbsterkenntnis im sich geschöpflich wiederherstellenden Fürsichsein und dann auch in der Sünde (als der Potenzierung des Fürsichseins im Sichfesthalten) voraus – und er vermittelt sich immer wieder im Glauben als Sichverlassen auf die Liebe Gottes (in Christus). – Was der Geist bedeutet, bedenkt Paulus weiter in 8,1–17 und ff.

6–10 Nachdem Paulus darauf verwiesen hat, dass die gewisse Hoffnung des Glaubens auf Vollendung in der Gegenwart des Geistes Gottes begründet ist, führt er diese Begründung nun auf das Christusereignis als Gegenstand des Glaubens selber zurück. Für uns Gottlose ist Christus gestorben – für die, die unter dem Gesetz der Sünde (7,25), d. h. des Umsichselbstkreisens, des Fürsichbegehrens von Gott getrennt, ja Gottes Feinde (Vers 10) waren; für die, die also mit ihrem ganzen Dasein dem Sinn der Schöpfung, der Bestimmung zur Er140 

M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 327. zur Stelle und zum Verhältnis von Liebe und Geist auch W. Härle, Dogmatik, Berlin 22000, S. 368 f. 141  Vgl.

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kenntnis und Gemeinschaft Gottes und zur Liebe widersprachen und dies auch nicht aus eigenem Antrieb ändern konnten. Als Gottloser oder Feind Gottes hat der Mensch keine Möglichkeit, sich selbst zum Gottesverhältnis, zur Gerechtigkeit zu bestimmen („noch als wir schwach waren“). Dass Christus für uns starb, geschah, als wir der Macht oder dem Gesetz der Sünde unterlagen. Es bedeutet, dass er selbst den Tod als Wahrheit der Gottlosigkeit oder Sünde, die letzte Getrenntheit geteilt hat. Eben darin beweist Gott seine Liebe, das Geschenk seiner Gemeinschaft – denn er war in Christus, um uns zu versöhnen. Dieser Erweis der Liebe Gottes widerspricht aller menschlichen Erfahrung. Menschlich ist es sogar selten, dass jemand für einen (mehr oder weniger) Gerechten, für einen guten oder geliebten Menschen stirbt. Wenn überhaupt ein Mensch sich bedingungslos einsetzt142, dann allenfalls für das, was ihm das Gute an sich zu verkörpern scheint.   Freilich war etwa das Selbstopfer der makkabäischen Märtyrer zur Sühne der Sünden des Volkes eine mögliche jüdische Vorstellung143, und der Gedanke des Opfers zum Wohl oder zur Ehre der Familie oder des Volkes ist auch bei den Heiden eine mögliche Vorstellung. Doch wenn Menschen sich aus Liebe ganz für Andere einsetzen und dabei über die vielleicht mangelnde Gerechtigkeit, das mangelnde Gutsein hinwegsehen, ist die Gemeinschaft (das Sichidentifizieren) vorausgesetzt. Menschlich stirbt niemand für den Feind.

Gott aber liebt den Gottlosen, den Feind Gottes (Vers 8), indem Christus den Tod als Wahrheit dieser Feindschaft teilt. So wird dem Gottlosen im Moment der Selbsterkenntnis in dieser Todeswahrheit die Vergebung zugesprochen. Indem er sich auf die Gemeinschaft Christi verlässt, ereignet sie sich für ihn – die Versöhnung. Eben dies bedeutet oder begründet aber auch die Gewissheit der Hoffnung des Glaubens, dass Gott das Geschenk des Lebens in seiner Gemeinschaft vollenden, die Versöhnten vollends heilen wird. Wenn wir schon als Gottlose durch den Tod Christi versöhnt wurden, so werden wir als Versöhnte (so schließt Paulus de minore ad maius) erst recht gerettet durch das Leben des Christus, der unseren Tod gestorben ist. Denn Glauben und Versöhnung bedeuten ja jetzt schon, dass uns der göttliche Geist dieser Gemeinschaft und seine Liebe bestimmt (Vers 5), dass also der ins Leben Gottes auferweckte Christus in uns lebt (Gal. 2,19 f.). Das heißt, so wie Gott schon Christus in sein Leben auferweckt hat und dieser nun (durch unser Mitgestorbensein in Glaube und Taufe) in der Kommunikation seiner Gemeinschaft und Liebe unser Leben bestimmt, so werden wir durch sein Leben, in der Teilhabe am ewigen Leben seiner Gemeinschaft, auch endgültig gerettet, also aufgenommen werden (vgl. auch 8,11). 142 

V. 7b bildet zu 7a keinen Gegensatz, sondern meint vermutlich eine Verstärkung. U. Wilckens a. a. O., S. 296.

143 Vgl.



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Die Rettung vor Zorn (Vers 9b) bezieht sich auf eine traditionelle Vorstellung des Gerichts, nach der Gott am Ende der Zeit kommen wird und alles ihm Widersprechende vernichtet.144 Das ist hier aber schon dadurch modifiziert, dass nicht einfach Gott als künftiger Richter richtet, sondern der bereits zu uns gekommene, für uns gestorbene, auferstandene Christus (2,16; vgl. 1. Thess. 1,10; ferner 2. Kor. 5,10). Er wird uns in seiner ewigen Gemeinschaft retten, an der wir ja jetzt schon durch den Glauben Anteil haben.

Vers 11 fasst zusammen, wessen Christen sich rühmen, worin sie also ihr wahres Selbstbewusstsein finden, was ihr Selbstverständnis im Blick auf ihre wahre Identität ist. Ausgeschlossen ist es, sich – vor Gott, vor den Menschen, vor sich selbst – seiner selbst zu rühmen, etwa der eigenen Leistung, des eigenen Willens, der eigenen Erkenntnis. Vielmehr ist dieses Selbstbewusstsein, diese wahre Identität in Gott selbst begründet, indem wir durch Jesus Christus, auf den wir uns verlassen, mit ihm versöhnt und in zukunftsträchtigem Frieden leben. Denn dies heißt, als mit ihm Gestorbene (6,6–8) am Leben seiner Gemeinschaft Anteil gewinnen. Darin finden wir unsere Bestimmung, den Sinn unseres Daseins und der ganzen Schöpfung. Im Glauben an Christus kann sich die ganze Menschheit Gottes rühmen. bb)  5,12–21: Die Wahrheit der Menschheitsgeschichte – Christi Leben überwindet Adams Tod, Christi Gemeinschaft überwindet Adams Sünde 12 Darum: wie durch einen einzigen Menschen die Sünde in die Welt hineinkam und durch die Sünde der Tod, und so der Tod zu allen Menschen durchdrang (διῆλθεν – der Vergleich „wie […]“ bricht ab und wird erst ab 18b wieder aufgegriffen; deshalb übersetzt die moderne Lutherausgabe  – nicht aber Luther selber  – grammatisch gefälliger: „so ist der Tod zu allen Menschen durchgedrungen“), weil sie alle sündigten (ἐφ’ ᾧ πάντες ἥμαρτον) 13 – vor dem Gesetz nämlich war Sünde in der Welt; aber Sünde wird nicht angerechnet (οὐκ ἐλλογεῖται), wo kein Gesetz ist; 14 dennoch herrschte der Tod von Adam bis Mose auch über die, die nicht gesündigt hatten in der Art (oder: Gleichgestalt) der Übertretung Adams (ἐπὶ τῷ ὁμοιώματι τῆς παραβάσεως Ἀδὰμ), der ein Bild des Kommenden ist (τύπος τοῦ μέλλοντος). 15 Aber nicht wie die Verfehlung [ist] auch die Gnadengabe (ὡς τὸ παράπτωμα, οὕτως καὶ τὸ χάρισμα): Denn wenn durch die Verfehlung des Einen die Vielen gestorben sind, um wie viel mehr ist die Gnade Gottes und das Gnadengeschenk (wörtlich: das Geschenk in Gnade: ἡ δωρεὰ ἐν χάριτι; auch möglich: das Geschenk voll Gnade) des einen Menschen Jesus Christus (oder: die Gabe, die durch den einen Menschen Jesus Christus gegeben ist) den Vielen überreich zuteil geworden. 16 Und nicht wie [das, was] durch den einen Sünder (δι’ ἑνὸς ἁμαρτήσαντος) [geschehen ist, ist] das Geschenk (oder: die Gabe). Denn das Urteil [führte] von Einem her (oder: von [der Übertretung] des Einen her) zur Verurteilung (oder: Verdammnis), die Gnadengabe aber von vielen Übertretungen aus zur Rechtfertigung. 17 Denn wenn durch die Verfehlung des Einen der Tod durch den 144  Vgl. auch oben S. 48 f. zu 1,18 sowie S. 61–65. Zur Stelle M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 131.333.

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Einen zur Herrschaft kam, um wie viel mehr werden die, die das überreiche Maß der Gnade (Wolter: die reiche Fülle der Gnade) und des Geschenks der Gerechtigkeit empfangen, im Leben herrschen durch den Einen, Jesus Christus. 18 Also: Wie es durch die Verfehlung des Einen für alle Menschen zur Verurteilung [kam], so auch durch die Rechtfertigungstat des Einen (δι’ ἑνὸς δικαιώματος) für alle Menschen zur Rechtfertigung des Lebens (εἰς δικαίωσιν ζωῆς). 19 Denn wie durch den Ungehorsam des einen Menschen die Vielen zu Sündern (gemacht) wurden, so werden auch durch den Gehorsam des Einen die Vielen zu Gerechten (gemacht) werden. 20 Das Gesetz aber ist dazwischen hineingekommen (παρεισῆλθεν), damit die Verfehlung mächtig werde. Wo aber die Sünde mächtig wurde (ἐπλεόνασεν), wurde die Gnade noch reichlicher (ὑπερεπερίσσευσεν ἡ χάρις  – Luther: da ist doch die Gnade viel mächtiger worden), 21 damit, wie die Sünde herrschte im Tod (oder: zum Tod), so auch die Gnade herrsche durch Gerechtigkeit zum ewigem Leben, durch Jesus Christus, unseren Herrn.

Der Textabschnitt fasst das bisher zur Sünde, zur Erlösung in Christus und ihrer Vorgeschichte, zur Rechtfertigung des Gottlosen und der gewissen Hoffnung auf Vollendung Gesagte zusammen, indem er Adam und Christus als die beiden herrschenden Mächte gegenüber stellt, aus deren Verhältnis die gesamte Geschichte zu verstehen ist – aus dem Verhältnis von Sünde (bzw. Sündenfall) und Christusgemeinschaft, Todesherrschaft und Leben mit Christus. Damit prägte dieser Text in unvergleichlicher Weise das christliche Verständnis zum einen der Sünde, zum anderen der Heilsgeschichte. Augustinus fand hier seinen Gedanken des peccatum originale, der Ursprungs- oder Erbsünde grundgelegt  – ob und inwiefern zu Recht, wird zu diskutieren sein.

Systematisch besteht vor allem die Aufgabe, den Begriff Adams als Einheit der Menschheit in ihrer göttlichen Bestimmung und ihrer Verfehlung zu interpretieren – wenn Adam nicht nur eine mythische Gestalt bleiben soll, mit der die Allgemeinheit der Sünde und der Anfang der allgemeinen Sünde behauptet wird.145 Außerdem ist zu interpretieren, was die mit Adams Sünde gegebene Herrschaft des Todes bedeuten soll, wenn dies nicht einfach den biologisch zu beschreibenden, leiblichen Tod meinen kann  – eine Auffassung, die die wiederum mythische Annahme einer leiblichen Unsterblichkeit des Menschen vor dem Sündenfall impliziert. Im Überblick: Schon von Anfang an hatte Paulus die Geschichte der Menschheit insgesamt im Blick – so wenn er 1,18 ff. von der Macht der Sünde bei Heiden und Juden redet, die nun für alle Menschen durch die Erlösung in Christus gebrochen ist. Auch hatte er in Kap. 4 bereits den wahren Glauben 145  Zu vergleichen ist hier noch ein etwas älterer, kürzerer Text des Paulus, der ebenfalls schon dem Tod aller Menschen durch Adam die Auferstehung von den Toten durch Christus gegenüberstellt: 1. Kor. 15,21 f.45–49. In Vers 22 heißt es dort: „Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden“. Das wird hier im Römerbrief ausgeführt. – Zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund im Blick auf Adam u. a. bei Philo vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 308 f.

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Israels, der mit Abraham begann, so verstanden, dass er eine Verheißung und Bestimmung für die ganze Menschheit in sich trägt – die durch Christus erfüllt wird. Nun stellt Paulus Adam und Christus als geschichtliche Ursprünge von allgemeinem Unheil und allgemeinem Heil gegenüber, in deren Spannung als komplementäre Urbilder des menschlichen Lebens vor Gott sich die Dynamik der Heilsgeschichte erschließt. Genauer gesagt, er setzt in Vers 12 dazu an, führt dies aber erst ab Vers 14b (wo von Adam als „Bild des Kommenden“ die Rede ist) aus. Im expliziten Anschluss an Vers 12 wird der Vergleich von Adam und Christus sogar erst ab Vers 18 ausgeführt.

Zunächst (Vers 12) ist von der Einheit (oder: einheitlichen Bestimmtheit) der Menschheit in der Sünde die Rede. Die Sünde hat in der Vorgeschichte das Leben aller Menschen ergriffen (durch „Adam“, der als erster Mensch zugleich die ganze Menschheit vorstellt). Durch sie beherrscht zugleich auch der Tod das Leben der Menschen. Dabei stellt sich systematisch die Frage, ob oder inwieweit die mit „Adam“ zunächst abstrakt vorausgesetzte einheitliche Bestimmtheit der Menschheit in der Sünde auch konkret im Blick die bekannten, vergangenen und gegenwärtigen Kulturen der Menschheit zu denken ist. Damit verbinden sich weitere Fragen: etwa nach der sozialen Vermittlung der ursprünglichen Sünde, die sie zu einer allgemeinen macht, und nach der konkreten Möglichkeit von Kulturen (und Religionen) sozusagen vor einem Sündenfall – was eine konsistente Theologie der Religionen auch hinsichtlich der Frage impliziert, ob Gott sich auch in nichtmonotheistischen Religionen mitteilt.146 In jedem Fall müsste die Struktur der Sünde (im Kontext des möglichen Gottesverhältnisses) konkret verifiziert werden können.  – Dieser ganze Fragenkomplex lässt sich hier nicht sinnvoll ausarbeiten. Festzuhalten ist, dass für Paulus die einheitliche Bestimmung der ihm bekannten Menschheit durch die Sünde offenbar nicht fraglich ist.

Dann (in den Versen 13–14a) wird gefragt, wie die Herrschaft von Sünde und Tod zu verstehen ist, bevor (am Sinai) das Gesetz gegeben wurde (das wird in den Versen 20 f. fortgeführt). Anschließend (in den Versen 14b–19) führt Paulus wie gesagt das komplementäre Verhältnis von Adam und Christus als Ursprungsbestimmungen des kollektiven Lebens aus. Dieses komplementäre Verhältnis lässt die Menschheitsgeschichte als Heilsgeschichte erscheinen: Am Anfang steht Adam, der ein kollektives Leben bedeutet, das von Sünde und Tod bestimmt ist. Doch Sünde und Tod überwindet der (spätestens seit Abraham verheißene) Christus. Der in Adam vorgestellten Gemeinschaftlichkeit der Sünde aller Menschen entspricht, dass Christus, der für alle Menschen starb, die rettende Gottesgemeinschaft für alle Menschen bedeutet. Die Verse 20 f. schließlich komplettieren die Enthüllung der Geschichte als Heilsgeschichte, indem sie die Frage beantworten, welchen Sinn das mit Mose zunächst Israel gegebene, aber nun der Sünde aller Menschen widersprechende Gesetz bei der „Recht146 Vgl.

T. Kleffmann, Grundriß der Systematischen Theologie, S. 99–103.

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fertigung des Lebens“ durch Christus hat – wenn doch der Mensch unter der Macht der Sünde es garnicht erfüllen kann. 12 Die Sünde ist wesentlich eine Verkehrung der geschöpflichen Bestimmung des Menschen, d. h. ihre Herrschaft hat sich in der Geschichte kontigent ereignet. Dass sie sich im einzelnen Menschen und in der kollektiven menschlichen Geschichte ursprünglich durchsetzte, war ein kontingentes Ereignis.147 Traditionshintergrund für Paulus, dies zu verstehen, ist Gen. 2,4b–5,5 (und ff.). Dabei scheint es, dass er die mythische Figur Adams, des Urmenschen, eben nicht als Mythos im Unterschied zur geschichtlichen Realität versteht, sondern unmittelbar als Wahrheit annimmt.148 Andererseits fällt auf, dass er die Rede vom ersten Menschenpaar, in dessen Verhältnis sich die Ursünde kommunikativ vermittelt, bewusst ausblendet, um eben die einheitliche Bestimmtheit der Menschen in der Sünde, ihr einheitlich herrschendes und auf einen geschichtlichen Anfang zurückzuführendes Prinzip zu betonen. Durch Adam wurde die Sünde und damit der Tod zur herrschenden Wirklichkeit: durch die Tat des Menschen, in der er der Versuchung folgte, wie Gott zu sein. Wie ist das systematisch zu verstehen – wenn ein realistischer Monogenismus (also die Auffassung, dass alle Menschen von einem, zuerst geschaffenen Menschen oder Menschenpaar abstammen) und die Annahme einer ursprünglichen leiblichen Unsterblichkeit unmöglich sind?   Theologisch festzuhalten, da zum Grundzusammenhang der Evangeliumsverkündigung gehörig, sind jedenfalls sowohl der Gedanke einer kollektiven Herrschaft der Sünde und einer entsprechend kollektiven Erlösungsbedürftigkeit, als auch der Gedanke, dass der Tod, sofern wir vor ihm Angst haben und er uns mit dem Nichts konfrontiert, Inbegriff der Sünde als Getrenntheit ist.   Auch wenn klar ist, dass die Entstehung der Menschheit nur als allmähliche Entwicklung einer Population (oder auch mehrerer solcher) zu verstehen ist149, lässt sich fragen, inwiefern der theologische Sinn des Monogenismus, also der mythischen Vorstellung Adams als Stammvaters, auf diesen Grundzusammenhang zielt. Adam lässt sich dann als Name für eine ursprüngliche, vorgeschichtliche Menschheit verstehen, die kollektiv erst in einer ursprünglichen Gottesgemeinschaft lebte (dem entspricht die mythische 147  Zur Frage, ob Paulus auch die Allgemeinheit der Sünde selbst in Adam begründet sieht, oder nur die Allgemeinheit des Todes als Konsequenz der Sünde, vgl. gleich S. 121 f. 148  Dass er dabei, wie schon etwa R. Bultmann gegenüber K. Barth (vgl. ders, Christus und Adam nach Röm. 5. Ein Beitrag zur Frage nach dem Menschen und der Menschheit [1952]) geltend machte, einen gnostischen Urmenschen-Mythos verarbeitete (vgl. ders., Adam und Christus nach Rm5, S. 155), wird in der neueren Exegese kaum noch vertreten (vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 342 Anm. 3 u. a. auch gegen E. Brandenburger und U. Wilckens), obwohl es dafür Anhaltspunkte gibt. – Auch E. Jüngel geht davon aus, dass Paulus sich „des in mythischer Konzeption gnostischer Herkunft wurzelnden Entsprechungsgedankens“ bedient (Das Gesetz zwischen Adam und Christus. Eine theologische Studie zu Röm.5,12–21, Tübingen 2000, S. 153), zeigt aber im Folgenden, wie Paulus das Konzept mythischer Entsprechung durch die Feststellung der geschichtlichen Wirklichkeit der Sündigens korrigiert (ebd. S. 154 f.159 ff.). 149  Auch dann erhebt sich freilich die Frage nach der Emergenz dessen, was – im Zusammenhang der Sprachlichkeit des Daseins – das Wesen des Menschen ausmacht.



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Vorstellung des Gartens Eden), dann aber einer ebenso kollektiven, zwischenmenschlich irgendwie vermittelten Verkehrung unterlag.150

Paulus betont also die einheitliche Macht der Sünde der Menschheit in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit  – um dem (ab Vers 14) gegenüberzustellen, dass auch die Erlösung der Menschheit einen Ursprung hat, nämlich die Gnade, die Gott durch den Menschen Jesus Christus, durch seine Gemeinschaft erweist. Auch Jesus Christus aber ist als der eine Ursprung der Erlösung zugleich ihre einheitliche geschichtliche Wirklichkeit. Zugespitzt als Bild (Typos: Vers 14) eines geschichtlichen Menschen ist Adam nach Christus entworfen – der umgekehrt als der Mensch verkündigt ist, durch den die einheitliche Macht der Sünde der Menschheit überwunden ist.

Dass durch die Sünde auch der Tod zur Herrschaft kam, erscheint zunächst als mythische Erklärung des leiblichen menschlichen Todes. Hier ist Gen. 2,17; 3,3 f.19.22–24 zu vergleichen: Adam, der Erdgeborene, soll wieder zu Erde werden; Gott verwehrt ihm nach der Sünde, in der er in auf verkehrte Weise wie Gott sein wollte, durch die Austreibung aus dem Garten Eden das ewige Leben. Es fällt freilich auf, dass Paulus nicht klar die Möglichkeit nutzt, im Anschluss daran den Tod als erste Antwort, erstes Gericht Gottes heraus zu stellen. Er stellt ihn eher als unmittelbare Konsequenz der Sünde dar.

Mit der Einsicht in den kreatürlich notwendigen Zusammenhang zwischen individuellem Leben (seiner Evolution und Fortpflanzung) und Tod ist die mythische Erklärung des leiblichen Todes unmöglich. Andererseits enthält ja auch die mythische Erklärung, sei der leibliche Tod nun als göttliche Antwort oder unmittelbare Konsequenz der Sünde verstanden, den gedanklichen Zusammenhang zwischen der Sünde der Gottlosigkeit, des wesentlichen Fürsichlebens, und der Bedeutung des Todes für ihr Subjekt. Schon in Gen 2 f. und auch bei Paulus ist nicht nur der leibliche Tod gemeint, sondern der Tod als Wahrheit des von Gott getrennten Sünders. Schon Luther interpretierte den Zusammenhang von Sünde und Tod in seiner GenesisVorlesung so, dass es vor der Sünde (im Paradies) zwar den leiblichen Tod gab, der den Übergang in das ewige Leben bezeichnet, nicht aber die Angst des Todes151, also den Tod als Wahrheit des für sich lebenden Menschen.

Ob Paulus annimmt, dass durch die Sünde des Einen nur der Tod zu Allen kam, oder auch die Sünde selbst, und wie er das Durchdringen des Todes zu allen und gegebenfalls der Sünde zur ganzen Menschheit denkt, ist für unsere 150  Zu meinem Versuch, die ursprüngliche Versuchung der Sünde im Zusammenspiel der Angst des Fürsichseins und der Lust der Selbstbestimmung zu denken und ihre gesellschaftliche Vermittlung als eine primär sprachlich-kommunikativ vermittelte Selbstverständlichkeit, sich, das Leben, die Welt und ggflls. auch Gott zu denken, vgl. in Kürze Kleine Summe der Theologie, § 8–9 (S. 41–49); ferner Grundriß der Systematischen Theologie, S. 103–108. 151 Vgl. T. Kleffmann, Erbsündenlehre, S. 146 zu WA 42, S.46,20; 86,11–13.

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systematische Interpretation ziemlich unerheblich. Denn so oder so ist die Einheit der Menschheit, das gemeinschaftliche von Sünde und Tod Beherrschtsein, in der Figur Adams bzw. im Gedanken der Abstammung von ihm nur postuliert. In der Exegese hängt die Frage, welche Bedeutung die Figur Adams für die Allgemeinheit der Sünde hat, von Anfang an von der Interpretation des ἐφ’ ᾧ ab (heute in der Regel übersetzt: weil oder indem sie alle sündigten). Wenn Augustinus seine Lehre vom peccatum originale, also von der Ursprungs- oder Erbsünde mit Röm. 5,12 unterfütterte, so las er mit der älteren Vetus latina „in quo omnes peccaverunt“: in dem alle sündigten.152 D. h. er entwickelt die Vorstellung, dass die ganze Menschheit quasi keimhaft in Adam schon vorhanden war und so an seiner Verfehlung und Verkehrung teilhatte – die Vorstellung der natürlichen Abstammung von Adam, die dann als Übertragung der Verkehrung zwischen den Generationen erscheint, führt diesen Gedanken der Einheit der Menschheit in Adam nur aus.153   Im Blick auf den griechischen Urtext wird die Übersetzung von ἐφ’ ᾧ mit „in dem“ heute in der Regel – nicht aber von allen – ausgeschlossen.154

Paulus sagt nicht ausdrücklich, dass mit Adams Ursprungssünde die Notwendigkeit der Sünde aller gegeben ist, also ihre Herrschaft über alle – wohl aber die Herrschaft (die Notwendigkeit) des Todes aller (vgl. Vers 14 und 17). Er stellt fest, dass die Sünde zuerst mit Adam in die Welt kam, und dass faktisch alle sündigen (genauer: dass auch vor dem Gesetz alle sündigten) und deshalb der Tod herrscht. Freilich kann der Zusammenhang dieser beiden Feststellungen (durch Adam wurde die Sünde wirklich, und: alle sündigen, mit der Folge der Todesherrschaft) nur den Sinn haben, dass seit jenem Anfang der Sünde eben diese Sünde die Menschheit beherrscht. Im Vorgriff auf 7,14–25 lässt sich hier der Gedanke einbringen, dass die Sünde, wenn sie einmal in der Welt ist, als Macht auftritt, der gegenüber der Einzelne nicht mehr frei ist. Aus Kap. 1 und 2 ist dann daran zu erinnern, dass diese Macht einen Zusammenhang zwischen Gottlosigkeit und dem Leben im Verhältnis zum Anderen impliziert: Die Sünde der Abkehr von Gott führt dazu, dass der Mensch suchtartigen Begierden verfällt. Doch expliziert Paulus in Röm. 7 nur die Macht der Sünde über den Einzelnen, nicht ihre Allgemeinheit. Bei dem Gedanken der Herrschaft der Sünde lassen sich zwei Aspekte unterscheiden, wobei der zweite den ersten übergreift. Der erste Aspekt ist, dass der Einzelne nicht frei ist, sich selbst zur Sündlosigkeit zu bestimmen. Der zweite, übergreifende Aspekt ist, dass die Herrschaft oder Macht der Sünde zugleich eine allgemeine ist, weil sie nicht nur das zwischenmenschliche Leben beherrscht, sondern – das ist jedenfalls die klassische These der Erbsündenlehre – sich in ihm vermittelt. 152  In Libri quattuor contra duas epistolas pelagianorum 4,4,7; vgl. Ad simplicianum 1,2,13; De pecc. mer. et rem. III,7,14 (in Adam omnes tunc peccaverunt). Dazu auch M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 344. 153 Vgl. T. Kleffmann, Erbsündenlehre, S. 58–60 (dort auch Belege). 154 Vgl. M. Wolter, a. a. O., S. 344.

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Denkt schon Paulus so etwas wie eine Erbsünde oder allgemein herrschende Grundsünde, also eine durch „Adam“ notwendige, gemeinschaftliche Verkehrung, die gleichwohl die je eigene ist? Nach Wilckens wäre das ein Missverständnis, da es in Vers 13 „nicht um ein noch uneigentlich-potentielles, sondern um ein wirklich-aktuales Sündigen“ ginge.155 Doch ist dies wiederum ein Missverständnis des Erbsündengedankens durch Wilckens. Denn zwar hat er Recht: Paulus unterscheidet nicht zwischen Erb- und Tatsünde. Doch wie die reformatorische Theologie neu herausstellte, ist die Erb- oder Grundsünde gerade nicht nur als potentielle Sünde, sondern als je aktuelle, selbst vollzogene Sünde zu verstehen – ja mehr noch: sie betrifft gerade nicht nur einzelne selbst vollzogene Taten, sondern besteht darin, dass das Subjekt aller Taten und Unterlassungen schon in seinem Denken und Wollen verkehrt ist – eine verkehrte Struktur der Identität (also der Weise, wie ich meine Identität im Verhältnis zur Welt und den anderen Menschen finde). Die Frage ist, wie die Allgemeinheit oder Kollektivität dieser Verkehrtheit zu denken ist.

Eine explizite Reflexion auf eine kollektive Verkehrtheit der Person (oder der Struktur der Identität) findet sich bei Paulus nicht. Aber es lässt sich doch sagen, dass eine solches Verständnis von Grundsünde weiterdenkt, was Paulus mit der Macht der Sünde beschreibt, die in der Geschichte der bekannten Menschheit von „Adam“ her zur Herrschaft gekommen ist und von der sich der Einzelne nicht selbst befreien kann. Seitdem sie in die Welt gekommen ist, beherrscht sie das Leben der Menschen, bildet sie das Gesetz ihrer Identität im Verhältnis zum Anderen (zu den Menschen, den Dingen und auch Gott). Seit der Übertretung Adams ist festzustellen: Alle sind von der Sünde als Macht beherrscht. Wie diese allgemeine Herrschaft der Verkehrtheit zu denken ist und in welchem Sinne von einer Vermittlung zwischen den Menschen und Generationen zu reden wäre, das interessiert Paulus freilich nicht. 13–14a In einem kleinen Exkurs bedenkt Paulus nun die Frage, inwiefern auch schon vor dem durch Mose gegebenen Gesetz von Sünde die Rede sein kann, also sozusagen zwischen Adam und Mose – wenn doch erst das Gesetz die Sünde als Sünde ausspricht.156 Die Allgemeinheit der Sünde (dass „alle sündigten“) setzt Paulus voraus – doch das Gesetz, das ihr widerspricht und als Sünde ausspricht, ist erst zu einer bestimmten Zeit einer bestimmten Gruppe (nämlich Israel) gegeben. Dieser allgemeinen Wirklichkeit der Sünde, ohne dass sie vom Gesetz als Sünde festgestellt ist, unterliegt also auch Abraham. In 4,1 ff., wo von der Rechtfertigung Abrahams aus Glauben, nicht durch Werke die Rede war, setzt Paulus voraus, dass Abraham nicht selbstverständlich vor Gott gerecht ist, sondern die Rechtfertigung nötig hatte157, obwohl

155 

Vgl. Der Brief an die Römer 1, S. 319 f. auch E. Jüngel, Das Gesetz zwischen Adam und Christus. Eine theologische Studie zu Röm.5,12–21, S. 156 ff. 157  Vgl. auch den Kontext der Sünde in 4,5.7 f. 156 Vgl.

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das Gesetz, wie Paulus früher in Gal. 3,15–19 schrieb, 430 Jahre danach gegeben wurde. Aber kann es eine Rechtfertigung aus Glauben ohne Erkenntnis der Sünde geben?

Dem geschichtlich gegebenen Gesetz Gottes geht die allgemeine Sünde voraus (vgl. auch Gal. 3,19)  – seine Funktion ist es, sie zu verurteilen (vgl. oben zu 4,15), also zur Selbsterkenntnis in der Sünde zu führen (3,20). Aber inwiefern kann von Sünde die Rede sein, ohne dass sie als Übertretung oder Verkehrung ausgesprochen und ursprünglich bewusst ist? Hier kommt zunächst in Betracht, dass die ursprüngliche Sünde (als Sünde „Adams“) sehr wohl als eine Übertretung eines göttlichen Gebotes gedacht ist. Es gab ein Gebot Gottes vor dem Gesetz des Moses, wenn auch in anderer Gestalt (vgl. Gen. 2,16 f.; 3,11)  – also ein mit der Gottesgemeinschaft gegebenes Bewusstsein ihrer Grenze, die dann überschritten wird, wenn der Mensch, statt ihrem Sinn zu folgen, sich in seinen Verhältnissen selbst zu bestimmen beansprucht. Außerdem geht Paulus wie gesagt davon aus, dass die Heiden auch ohne, dass das Gesetz Gottes als solches geschichtlich gegeben war, ein teilweise entsprechendes Bewusstsein hatten, indem sie sich selbst das Gesetz waren bzw. Gott die Gesetzesforderung in ihr Herz geschrieben hat (2,14 f.). Wäre das als eine Art Erinnerung des adamitischen Gebotes zu verstehen? Doch diese Möglichkeit eines heidnischen oder allgemeinen Bewusstseins des Gesetzes (und damit der Sünde) vernachlässigt Paulus hier.

Dass auch bevor das Gesetz die Sünde bewusst macht, alle sündigten, aber nicht „in der Art (oder: Gleichgestalt) der Übertretung Adams“, heißt dann, dass die Sünde anders als bei Adam, als sie als Verfehlung der ursprünglichen Gottesgemeinschaft, als grundsätzliche Grenzüberschreitung vollzogen wurde, eben nicht mehr als Sünde, als Übertretung bewusst war. Das lässt sich systematisch vielleicht damit interpretieren und begründen, dass die kollektive Verleugnung ihrer Wahrheit zu ihrem Wesen gehört.158 Insofern sie aber nicht im Namen Gottes als Sünde ausgesprochen ist, kommt es auch noch nicht zum Urteil über die Sünde im Sinne des Gesetzes – sie „wird nicht angerechnet“. Doch auch wenn die Sünde nicht angerechnet wird, herrscht doch der Tod über die Menschheit. Das heißt nicht nur, dass die Gottlosigkeit real ins Nichts führt. Vielmehr lässt es sich auch so verstehen, dass trotz des mangelnden Bewusstseins einer Verkehrung mit dem Tod (seiner Angst) doch die Getrenntheit, das drohende Nichts, das die Wahrheit der Sünde ist, an der Grenze des selbstverständlichen Lebens bewusst ist.

Dass die Sünde nicht angerechnet wird, kann nicht heißen, dass sie bei Gott garnicht als Sünde gilt, dass Gott sich nicht für sie interessiert. Vielmehr impliziert das göttliche Urteil über die Sünde eben die konkrete geschichtliche Relation oder Kommunikation des Gerichts, indem im Namen Gottes und seines Ge158 Vgl. T. Kleffmann, Grundriß der Systematischen Theologie, S.  83–109; Kleine Summe der Theologie S. 38 f.43 f.47 f.



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setzes die Sünde offenbart wird. Dieses Gericht kann eine Zeit lang ausbleiben (das ist im sogar die Grundsituation des Lebens in der Sünde). Wenn es aber dazu kommt, so schließt das spätere Urteil über die Sünde im Sinne des Gesetzes auch die schon zuvor wirkliche Sünde ein (vgl. Verse 16b.18a). Zur systematischen Interpretation ist hier bereits Vers 20 dazuzunehmen – das Gesetz kam hinein, damit die Verfehlung bzw. Sünde mächtig wurde. Später in 7,7 f. heißt es noch stärker: „ich hätte die Sünde nicht erkannt, wenn nicht durch das Gesetz […]“, denn indem „die Sünde durch das Gebot die Gelegenheit ergriff, bewirkte sie in mir jede Begierde“. Das Aussprechen des Verbotes war für die Sündenmacht (die Sündenstruktur) der Anlass, die Begierden allererst als solche, als mich beherrschende Süchte hervortreten zu lassen – was zugespitzt heißt: „Ohne Gesetz ist die Sünde tot“.

Dass das Gesetz die Sünde mächtig macht oder lebendig macht, heißt nicht, dass das Gesetz Sünde, die zuvor nicht da war, erst hervorbringt. Die Verkehrung ist da, auch wenn sie nicht mehr (wie bei „Adam“, also in Erinnerung der ursprünglichen Gottesgemeinschaft und des ihre Grenze bezeichnenden Gebotes) oder noch nicht (durch das konkret gegebene, hier: von Mose übermittelte Gesetz Gottes) bewusst ist. Das Wissen um die Sünde, indem das Gesetz ihr widerspricht, macht sie mächtig, weil ich sie nun erst in ihrer herrschenden Macht, als Selbstwiderspruch meines Lebens realisiere. Ohne den Widerspruch Gottes lebte ich in ihr (in der Gottlosigkeit des Alltags, im kollektiven Fürmichbegehren, im allgemeinen Umsichselbstkreisen), ohne einen Mangel, eine Entfremdung zu empfinden – abgesehen vom Tod. Durch das Gesetz aber wird mir die Sünde oder Verkehrtheit zwar als solche bewusst – doch dieses Bewusstsein befreit mich nicht von der Sünde. Es führt nur zum Widerspruch zwischen dem entfernten Wissen davon, was das wahre Leben wäre (ein Leben in Gottes- und Menschenliebe), und dem wirklichen Leben, in dem ich wesentlich mit mir allein bin und zugleich ohnmächtig gegenüber der alltäglichen Konkupiszenz, dem Begehren und Gebrauchen des Anderen, welche die Leere und Getrenntheit verdrängt.159 Das aber heißt im Kontext der zu verkündigenden Gnade und Erlösung: das Gesetz macht die Sünde mächtig, damit der Sünder in seiner Ohnmacht seine Erlösungsbedürftigkeit realisiert und mit 7,23 fragt: „ich unglücklicher Mensch; wer wird mich erlösen […]?“ 14b–19 Adam ist sowohl Inbegriff der schöpfungsmäßigen Einheit der Menschheit vor Gott, bezeichnet also ihre gemeinsame Herkunft und Bestimmung, als auch Inbegriff der ganzen Unheilsgeschichte der Menschheit, Inbegriff dessen, dass alle der Sünde unterliegen und der Tod über alle herrscht – ob nun das Gesetz die Sünde als Wahrheit des Todes ausspricht oder nicht. Eben darin aber ist Adam von Anfang an Typus, Bild und Gegenbild des kommenden 159  Es ließe sich auch sagen: Das Gesetz reduziert den Sünder wieder auf das Fürsichsein vor Gott, indem es die Nichtigkeit der Konkupiszenz verurteilt, die Wahrheit der Getrenntheit ausspricht.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Christus (Vers 14b). Das meint vermutlich nicht nur, dass der menschheitlich einheitlichen Sünde, der einheitlichen Erlösungsbedürftigkeit eben die Erlösung aller, die sich darauf verlassen, durch oder in Christus entspricht. Auch wenn Paulus hier nicht darauf den Ton legt160, ist doch Folgendes mitzudenken: Christus als Bild Gottes (εἰκὼν τοῦ θεοῦ: 2. Kor. 4,4161), als „der zweite Mensch vom Himmel“ (1. Kor. 15,47), der durch seine Hingabe die Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen darstellt, erfüllt damit auch die ursprüngliche Bestimmung Adams (des Menschen überhaupt) als Bild Gottes (Gen. 1,27) und stellt sie in uns wieder her. Dies geschieht, indem in ihm Sünde und Todesherrschaft überwunden sind und der Geist seiner Gemeinschaft dies (durch Verkündigung und Glauben) vermittelt. Auch insofern, im Blick auf die Bestimmung zur Gottesgemeinschaft, wäre dann Adam τύπος Christi. Die Verse 15–17 führen aus, inwiefern Adam Bild (Typus) Christi ist, wie sich also die menschheitliche Bedeutung des Christusereignisses auf die menschheitliche Wirklichkeit der Sünde bezieht  – wie sich die Gemeinschaft Gottes mit allen Menschen, die der eine Mensch Christus darstellt, auf die kollektive Sünde der Menschen und ihr gemeinschaftliches Unheil bezieht. Sie tun das, indem sie in zwei bzw. drei, die Konkretion steigernden Anläufen nicht nur die Überwindung, sondern die Überbietung der Wirklichkeit des Unheils durch die umfassendere Wirklichkeit des Heils behaupten („um wieviel mehr“): Die Gnade Gottes in Christus überwindet nicht nur Sünde und Tod, sondern schenkt die Fülle und Lebenszukunft seiner Gemeinschaft. Zwar führte die ursprüngliche Übertretung zur Herrschaft des Todes über alle, indem alle sündigen, doch Gottes Geschenk der Zuwendung in dem einen Menschen Christus bricht und überbietet die Macht dieses Zusammenhangs bei allen, die sich auf es verlassen  – so der erste Anlauf in Vers 15. In Vers 16 wird dasselbe nun nicht im Blick auf das Verhältnis zwischen der Macht der ursprünglichen Verfehlung und der Wirklichkeit der Gnade Gottes gesagt, sondern im Blick auf uns. Die Gnadengabe, die Christus bedeutet, löst die (auf jene ursprüngliche Verfehlung zurückzuführende) Verurteilung der Menschheit als Sünder ab durch das Geschenk ihrer Rechtfertigung. Vers 17 erweitert dies durch die Ausführung dessen, was aus dem Geschenk der Rechtfertigung folgt. Beides, dieses Geschenk und seine weitere Folge, ist darin begründet, dass in Christus (durch seine Hingabe und seine Auferweckung in das ewige Leben) die Todesherrschaft überwunden ist. Die Gnade in Christus beendet aber nicht nur die adamitische Todesherrschaft, sondern denen, die sie im Glauben als Rechtfertigung empfangen, eröffnet sie die göttliche Zukunft des Lebens. Sie werden durch Christus „im Leben herrschen“, d. h. sie werden im Leben frei sein vom Tod – aber nicht durch sich (das wäre gerade die adamitische Gestalt von Selbst160  161 

Vgl. auch 1. Kor. 15,21 f.45–49. Vgl. 1. Kor. 15,49 und später Kol. 1,15.



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behauptung, die auf die Herrschaft des Todes hinauslief ), sondern indem die Gemeinschaft Christi sie bestimmt, indem sie an der Gemeinschaft Gottes mit Jesus Christus teilhaben. Die Verse 18–19 schließen einerseits inhaltlich unmittelbar an 15–17 an (die Gegenüberstellung der adamitischen Sündenwirklichkeit zum Heil in Christus ist parallel gestaltet). Andererseits kommt es nun zu der zweifach ausgeführten Zusammenfassung durch den Abschluss des in Vers 12 begonnenen Vergleichs zwischen der Wirklichkeit Adams, des ursprünglich gefallenen Menschen, und der Hingabe Christi, die alle Menschen rechtfertigt. Durch die ursprüngliche Verfehlung, durch die alle zu Sündern wurden, kam es auch für alle zur Verurteilung durch Gott – auch wenn ihnen nach der ursprünglichen Verkehrung („Adams“) und vor dem Widerspruch durch das Gesetz Gottes die Sünde nicht bewusst war. Diese Verurteilung oder Verwerfung meint aber eben das, was Christus am Kreuz teilt: das Nichts des Todes, die zugehörige Angst und Einsamkeit als Wahrheit der wirklichen Gottesferne. Die „Rechtfertigungstat des Einen“ für alle besteht eben darin, dass Christus in seiner letzten Hingabe dieses Gericht über die Sünde teilt. Das bedeutet für uns, für alle die „Rechtfertigung des Lebens“. Das heißt, es ist eine Rechtfertigung, die das Leben162 zu seiner wahren Bestimmung befreit, die freilich erst im Werden ist. Mit der Rechtfertigung des Gottlosen durch die Rechtfertigungstat Christi beginnt das Leben neu in der Gemeinschaft Christi – in der Zeit (vgl. den Schluss von Vers 19) und bis in Ewigkeit (vgl. Vers 21). Der Genitiv „des Lebens“ bezeichnet hier primär das Ziel der Rechtfertigung.163 Die „Rechtfertigung des Lebens“ bedeutet also nicht die Rechtfertigung des faktisch sündigen, gottfernen Lebens, wohl aber auch die Rechtfertigung des geschöpflichen Lebens, indem es sie im Gottesverhältnis erfährt. Das Kreuz bedeutet die Rechtfertigung des Gottlosen, nicht die Rechtfertigung der Gottlosigkeit oder der Gottesferne als solcher.

Wenn in Vers 19 der Gehorsam Christi als Rechtfertigungstat für alle dem Ungehorsam Adams und der ihm nachfolgenden Menschheit gegenübergestellt wird164, so bedeutet Gehorsam, dass Jesus der Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft, wie sie sich in den Worten Gottes ausspricht, entspricht – statt ihr zu widersprechen und wesentlich für sich zu leben. Im Kreuz bedeutet Gehorsam die vollendete Hingabe, den Tod als Wahrheit der Sünde für alle zu erleiden, um ihn zu überwinden. Allerdings ist daran zu erinnern, dass der Gehorsam des Menschen Jesus gegenüber Gott, der alle zu Gerechten macht, die sich darauf verlassen, ursprünglich die Tat der Liebe 162  Dass es hier um das Leben ist seiner realen Leiblichkeit geht, betont P.‑G. Klumbies, Gott und Freiheit nach Röm 5–7, S. 50 f. 163  Vgl. auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer 1, S. 326, M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 356 f., und C. Landmesser, Der Vorrang des Lebens, S. 113. 164  Vgl. auch Phil. 2,8; ferner Hebr. 5,8 f.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Gottes ist (vgl. 5,8: „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist“), der in Christus ist und im Kreuzesgeschehen seine versöhnende Gegenwart erweist. In der Hingabe, im Gehorsam Christi verwirklicht sich die Hingabe, das endgültige Kommen Gottes. Es ist die Liebe Gottes, der Geist seiner Gemeinschaft, der in Jesu Leben und Sterben als seine Hingabe zur Geltung kommt.   Letztlich entspricht also hier Gott in seiner Liebe zum Menschen sich selber – indem er als Mensch die Wahrheit der menschlichen Sünde, den menschlichen Tod erleidet, um Sünde und Tod, um die Getrenntheit zu überwinden. Dadurch dass Jesus der Liebe Gottes zu allen Menschen entspricht (gehorsam ist), so dass sie sich durch ihn vollzieht, können dann auch wir, indem wir darauf vertrauen, Gottes Liebe entsprechen (ihm gehorsam sein). Auch das ist aber letztlich eine Selbstentsprechung Gottes in mir: Im Glauben lebt Christus in mir, und das bedeutet, ich entspreche dem Willen Gottes darin, dass ich selbst liebe.

Zu den Versen 20 f. wurde das Wichtigste schon gesagt. Erst wenn die Sünde durch das Gesetz als solche bewusst wird, wenn es zur Selbsterkenntnis kommt, kann die Gnade wirken und das Urteil im Sinne des Gesetzes – die Wahrheit des Todes  – überwinden. Herrschte die Sünde  – auch ohne darin erkannt zu sein – mit der Nichtigkeit und Angst des Todes, so überwindet die Gnade Gottes diese Herrschaft unvergleichlich, indem sie durch „Gerechtigkeit zum ewigen Leben“ führt. Das heißt, die „Rechtfertigungstat“ Christi (Vers 18), die die Rechtfertigung der Gottlosen aus Glauben (3,22) bedeutet, wirkt als geschenkte Gemeinschaft (Gerechtigkeit) weiter. Die Gnade herrscht „durch Gerechtigkeit“, d. h. sie bestimmt das gegenwärtige Leben zur Liebe Gottes und der Menschen. Darin baut sich das wahre Leben auf, das bei Gott ewiges Leben ist – das Leben der Gemeinschaft Gottes mit den Menschen, die Christus ist. cc)  6,1–11: Die Taufe bedeutet: der alte Mensch ist mit Christus gestorben – ein neues Leben in der Gemeinschaft Christi beginnt 1 Was sollen wir nun sagen? Lasst uns in der Sünde bleiben, damit die Gnade zunehme (oder: mächtiger würde)? 2 Keinesfalls! Wir, die wir der Sünde starben, wie sollten wir noch in ihr leben? 3 Oder wisst ihr nicht, dass wir, die wir auf Christus Jesus getauft wurden (wörtlich: in Christus Jesus hinein: ἐβαπτίσθημεν εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν), in seinen Tod hinein (oder: auf seinen Tod) getauft wurden? 4 Wir sind also mit ihm begraben durch die Taufe in den Tod (oder: durch die Taufe auf den Tod), damit wie Christus auferweckt wurde von den Toten durch die Herrlichkeit des Vaters, so auch wir in der Neuheit des Lebens (ἐν καινότητι ζωῆς; Luther: in einem newen Leben) wandeln. 5 Wenn wir nämlich verbunden (wörtlich: zusammengewachsen) sind mit der Gleichgestalt (Wolter: dem Abbild) seines Todes, werden wir es auch mit [der seiner] Auferstehung sein. 6 Das wissen wir ja, dass unser alter Mensch mitgekreuzigt wurde (ὁ παλαιὸς ἡμῶν ἄνθρωπος συνεσταυρώθη), damit der Leib der Sünde (τὸ σῶμα τῆς ἁμαρτίας) vernichtet wird und wir nicht mehr der Sünde dienen. 7 Denn der Gestorbene ist von der Sünde freigesprochen (δεδικαίωται ἀπὸ τῆς ἁμαρτίας  – Wilckens: ist von der Sünde

c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38



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rechtens los und ledig). 8 Wenn wir aber mit Christus gestorben sind, glauben wir, dass wir auch mit ihm leben werden. 9 Wissen wir doch, dass Christus, auferweckt von den Toten, nicht mehr stirbt; der Tod beherrscht ihn nicht mehr. 10 Was er nämlich gestorben ist (oder: den [Tod, den] er gestorben ist: ὃ γὰρ ἀπέθανεν), ist er der Sünde gestorben ein für alle Mal. Was er aber lebt, lebt er Gott (oder: das [Leben, das] er lebt, lebt er Gott: ὃ δὲ ζῇ, ζῇ τῷ θεῷ). 11 So auch ihr, versteht euch (λογίζεσθε ἑαυτοὺς) als tot der Sünde (oder: für die Sünde), aber als Gott lebend (ζῶντας δὲ τῷ θεῷ) in Christus Jesus (Luther: haltet euch dafür / daß ihr der Sünde gestorben seyd / und lebet Gott / in Christo Jesu).

Hier ist wiederum Gal. 2,17–20 eine zentrale Parallelstelle, die deswegen erneut zur Interpretation hingezogen wird165 und auch noch einmal im Zusammenhang erinnert sei: 17 Wenn aber wir, die wir in Christus gerecht zu werden suchen, selbst als Sünder befunden wurden, ist dann Christus ein Diener der Sünde? Keineswegs! 18 Denn wenn ich nämlich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, erweise ich mich selbst als Übertreter. 19 Denn ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt. 20 Ich lebe, doch nun nicht Ich, sondern es lebt in mir Christus. Was ich jetzt im Fleisch lebe, lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat.

Im Kern geht es hier um die Frage: wer ist der Mensch, der lebt, was ist sein Leben in Wahrheit, und wer ist das Subjekt des wahren Lebens? Der Tod, von dem hier die Rede ist, verneint nicht einfach das Leben, sondern genauer gesagt den Menschen, der sich als Subjekt seines Lebens voraussetzt. Dass der Mensch der Sünde oder für die Sünde gestorben ist, heißt dann, er ist als Subjekt der Sünde gestorben. Denn der Mensch, der für sich lebt, ist eben der Sünder, während das wahre Subjekt des Lebens des Menschen, der mit Christus gestorben ist, die Gemeinschaft ist, die Christus darstellt, die Gemeinschaft des auferstandenen Christus oder auch: ihr Geist. Tot ist also das absolute Ich, wie der Glaubende bekennt: „ich lebe, doch nun nicht Ich“ – das alles Andere für sich, für seine Identität gebrauchende Ich. Durch diesen Tod hindurch aber, „im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich für mich dahingegeben hat“ (Gal. 2,20), lebt die Gemeinschaft Gottes in mir oder durch mich. Jenes absolute, für sich lebende Ich also ist eben das, das vom Urteil im Sinne des Gesetzes Gottes getroffen wurde, nicht nur seine Taten: Das Urteil des Gesetzes sprach das von der Sünde bestimmte, absolute Ich, das Subjekt der Sünde als solches an, so dass es den Tod als seine Wahrheit realisieren musste („ich bin durch das Gesetz […] gestorben“: Gal. 2,19) – eben das ist es, was die Taufe auf den Tod oder in den Tod Christi, als Mitgekreuzigtwerden des alten Menschen, vollzieht. Indem es den Tod als seine Wahrheit realisiert, ist der überhaupt (Gal. 2,20: „im Fleisch“, d. h. geschöpflich) lebende Mensch auf heilsame Weise von sich unterschieden: „Ich lebe, doch nun nicht Ich, sondern Christus lebt 165 

Vgl. oben S. 17–24, 83 f. u. ö.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

in mir“. Das heißt, ich bin von jenem absoluten Ich (dem Subjekt der Sünde, dem alten Menschen), dessen Tod ich realisiere, unterschieden. Das absolute Ich, welches der Verurteilung des Gesetzes unterliegt, ist gestorben („ich bin […] dem Gesetz gestorben“). Doch als Mitgekreuzigtsein mit Christus (diese Formulierung findet sich in 6,6 und Gal. 2,19), also indem Christus diesen Tod des Sünders geteilt hat, bedeutet dieses Gestorbensein das Geschenk neuen Lebens, das nun ein für Gott Leben ist (Verse 11 f.), Leben in seiner Gemeinschaft bzw. ein Leben seiner Gemeinschaft in mir. Im Verhältnis von Röm. 6 und Gal. 2 fällt auf, dass in der Passage des Galaterbriefes es der Glaube an die Hingabe des Sohnes ist, der das durchs Gesetz Gestorbensein als Mitgekreuzigtsein mit Christus realisiert, als neues, von ihm bestimmtes Leben. In Röm. 6,1–11 ist dagegen nur eher beiläufig und indirekt vom Glauben die Rede (in Vers 8 und 11) und nur implizit vom Urteil des Gesetzes. Das liegt daran, dass Paulus hier nicht primär auf die Kommunikation des Glaubens, sondern auf die Bedeutung der Taufe abzielt. Da aber auch hier natürlich die Rechtfertigung aus Glauben (nach Röm. 3,21 ff.) mitgedacht bleibt, stellt sich im Folgenden durchgängig die systematische Frage nach dem Zusammenhang von Taufe und Glauben. Fest steht: die Taufe nach Röm. 6 und der Glauben nach Gal. 2 vollziehen dieselbe Wahrheit.

Der Aufbau von Röm. 6,1–11 lässt sich so darstellen: Nach der Eingangsfrage, ob der Überbietungszusammenhang von Sünde und Rechtfertigung aus Gnade nicht ein Bleiben der Gerechtfertigten in der Sünde nahelegt (Verse 1–2), wird in drei Anläufen unsere Teilhabe an Tod und Auferstehung Christi expliziert, die die Bedeutung der Taufe (und des Glaubens) ist: in den Versen 3 und 4, die die Taufe entsprechend begründen, in den Versen 5–7 (wobei die Erläuterung in den Versen 6–7 den Schluss zieht, dass das Mitgekreuzigtsein bedeutet, frei von der Herrschaft der Sünde zu sein), sowie in den Versen 8–10 (wobei die Erläuterung in den Versen 9 f. vor allem das neue Leben betrifft). Vers 11 fasst das Gesagte als christliches Selbstverständnis, Selbstverständnis der Getauften zusammen. 1–2 Der Anschlusspunkt zum vorher Gesagten liegt darin, dass nicht nur die allgemeine Macht der Sünde Voraussetzung für die folgende Gnade Gottes in Christus zu sein scheint, sondern dass insbesondere ihr Mächtigerwerden durch das Gesetz – was nämlich die Selbsterkenntnis in der Herrschaft der Sünde bewirkt – eine Voraussetzung der umso mächtigeren Gnade ist. Doch wer daraus schließt, dass im Sinne der Theologie des Paulus das bewusste Bleiben in der Sünde die Gnade nur noch steigert, hat weder die Wahrheit der Sünde, noch das Urteil des Gesetzes, noch die Gnade verstanden – also auch nicht die Bedeutung Christi für uns, die Bedeutung des Christseins. Wer die Sünde für das gute Leben, für erstrebenswert hält, weiß nicht, was die Sünde ist – hat sich selbst (in ihr) nicht erkannt. Das Urteil Gottes im Sinnes des Gesetzes, welches die Gottes- und Menschenliebe als Wahrheit des Lebens fordert, offenbart den Tod, den Widerspruch des Lebens als Wahrheit der Sünde, seine letzte Getrenntheit und ihre Angst.



c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38

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Paulus greift mit dem in Vers 1 zitierten Missverständnis offenbar den schon in 3,7 f. besprochenen Einwand auf, der eben diese Konsequenz, das Bleiben in der Sünde, der Gnadentheologie des Paulus unterstellt. Die entsprechenden, fiktiven Gesprächspartner werden hier daran erinnert, was die Taufe, das Christsein bedeutet. In 6,15 wird die Frage wieder aufgegriffen.

3–5 An Christus glauben und getauft sein bedeutet, der Sünde gestorben zu sein (Vers 2 und 10). Dieses Gestorbensein, das die Wahrheit der Taufe ist, bezeichnet das wesentliche Selbstverständnis des Glaubenden (ihr Wissen um sich; vgl. auch Vers 11: λογίζεσθε ἑαυτοὺς). „Ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben“ (Gal. 2,19), in der Selbsterkenntnis als Sünder realisiere ich den Tod als meine Wahrheit – aber in der Gemeinschaft des Todes, den Christus geteilt hat. Deshalb lebe ich Gott, in Christus (Vers 10 f.), oder (was dasselbe ist) Christus lebt in mir (Gal. 2,20). Ein Bleiben in der Sünde ist damit ausgeschlossen. Die Verse 3–4 (zu denen man auch die Verse 5–10 insgesamt als Erläuterung verstehen könnte) stellen die erste ausgeführte christliche Tauftheologie dar, und zudem die einzige im Neuen Testament. Der Ursprung der christlichen Taufe166, deren Einsetzung dem Auferstandenen zugeschrieben wird (Mt. 28,19 f.)167, liegt als historisches Ereignis ebenso im Dunkeln wie die Offenbarung des auferstandenen Christus selber. Strittig ist, ob die Taufe auf den Tod Christi, als Teilhabe an seinem Tod, die auf die Teilhabe an seinem Leben, an seiner Gemeinschaft zielt, schon vor Paulus bekannt und christliches Gemeingut war.168 Doch im Sinne von Mk. und Lk. hat Jesus selbst die Hingabe seines ganzen Lebens als Taufe verstanden, die in den Tod mündet (vgl. Mk. 10,38 f. und Lk. 12,50) – vielleicht als Konsequenz der vorläufigen Taufe, die er von Johannes empfangen hatte.   Sicher ist, dass die Bedeutung der Taufe als Taufe in den Tod, als Mitsterben des alten Menschen, um mit Christus zu leben, nicht nur dem Ursprungskerygma der Auferstehung entspricht. Vielmehr entspricht sie auch präzise der Rechtfertigung aus dem Glauben, der die Erlösung durch Christus realisiert, den Gott am Kreuz als neues Leben stiftendes, seine Gemeinschaft schenkendes Hilasterion gegeben hat (vgl. oben zu 3,24 f.).169 Denn dass diese Hingabe des Sohnes, die die Gegenwart Gottes im Tod des Sünders bedeutet, dies auch für uns bedeutet – das impliziert, dass wir im Glauben diesen Tod als unsere Wahrheit realisieren.   Kirchlich offensichtlich allgemein reflektiert wurde diese Tauftheologie erst nach dem 4. Jahrhundert170, parallel zur Ausbildung der westlichen, augustinischen Erbsündenlehre: die Taufe als sakramentaler Vollzug der Befreiung vom peccatum originale.

Die Taufe nimmt in die Gemeinschaft Christi auf (in den Leib Christi  – vgl. 1. Kor. 12,13). Sie vollzieht das Urteil des Gesetzes, den Tod des Sünders an 166  Vgl. den immer noch hilfreichen Überblick bei W. Pannenberg, Systematische Theologie III, Göttingen 2015, S. 306–314. 167  Vgl. ferner im Rahmen des Zusatzes zum Markusevangeilum aus dem 2. Jahrhundert Mk. 16,16. 168  M. Wolter, Der Römerbrief 1, S. 371 verneint dies. 169  M. Wolter a. a. O., S. 372 sieht diesen Zusammenhang nicht. 170 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 24 f. (mit weiterer Literatur).

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

ihm  – sie bedeutet das Sterben des alten, für sich lebenden Ich, das unvermeidlich das Subjekt der Sünde ist. Doch die Taufe auf den Tod Christi vollzieht diesen Tod des alten Menschen eben als die Gemeinschaft Christi, der diesen Tod teilte – wobei das Mitbegrabensein betont, dass er nicht nur das Sterben, sondern eben auch die absolute Trennung des Toten teilte. Das Gestorbensein ist auch als Bedeutung der Taufe eine Wahrheit des Glaubens, des Sichverlassens. Die Taufe auf oder in Christus Jesus vollzieht im Akt des Untertauchens für den Glauben die Teilhabe an seinem Tod, oder umgekehrt: sein Teilen meiner Todeswahrheit. Sie vollzieht also für den Glauben die Wahrheit des Glaubens als Subjektwechsel (nicht ich, Christus lebt in mir) So bedeutet das Auftauchen das beginnende neue Leben, das eine Teilhabe am Leben Christi (an seiner Gemeinschaft) ist. Wie ist der Zusammenhang zwischen der Auferweckung Jesu und der durch Taufe und Glaube gegebenen Neuheit des Lebens zu verstehen („damit wie Christus auferweckt wurde von den Toten, so auch wir in der Neuheit des Lebens wandeln“)? Zuerst ist zu bemerken, dass Paulus an das Wissen um diesen Zusammenhang erinnert, das offensichtlich zum Glauben gehört. Es ist der Glauben, der die Taufe in den Tod Christi, das Zusammengewachsensein in der Gestalt seines Todes (Vers 5), als die Wahrheit realisiert, die auf ein der Auferstehung Christi entsprechendes neues Lebens zielt (vgl. auch Vers 11).

Die Neuheit des Lebens ist eine Neuheit, die aus dem Tod des alten Menschen entspringt  – wie eine neue Schöpfung des Lebenssubjekts, obwohl das Leben „im Fleisch“ (Gal. 2,20) dasselbe bleibt. Wenn Christus „durch die Herrlichkeit“, die ausstrahlende Gegenwart Gottes des Vaters auferweckt wurde in ein Leben in dieser Gegenwart, so entspricht dem die Neuheit des Lebens der Getauften („wie Christus […] so auch wir“). Die Neuheit des Lebens ist Ziel der Taufe in den Tod. Eine direkte Teilhabe der Getauften am Auferstehungsleben Jesu ist offenbar nicht gemeint. Aber das Zielen der Taufe in den Tod Christi beschränkt sich auch nicht darauf, dass wir erst künftig ein neues Leben empfangen, das seinem Auferstehungsleben entspricht – als ewiges Leben nach dem eigenen, leiblichen Tod.   Und die Neuheit des Lebens ist auch nicht eine, die erst noch, um sich zu vergegenwärtigen, von uns vollzogen werden müsste, so dass eine Aufforderung dazu mitzuhören wäre (wie dann in den Versen 11 oder 12 ff. die Getauften und Glaubenden aufgefordert werden, die Sünde nicht herrschen zu lassen). Denn es kann nicht der „alte Mensch“, der Mensch für sich sein, der die Neuheit des Lebens realisiert. Andererseits ist es aber auch nicht unmittelbar Christus oder der heilige Geist als Anderer.

Wie der tote Jesus vom Vater auferweckt wurde, so ist auch die Neuheit des Lebens der Getauften (und Glaubenden) ein Wirken Gottes. Es ist nicht ein Leben des alten Menschen für sich – sondern die Neuheit des Lebens ist die in der Todeswahrheit des Fürsichseins und seiner Sünde wie eine neue Schöpfung geschenkte Gemeinschaft Christi, die sich aber auch noch weiter vollzieht.



c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38

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„Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2. Kor. 5,17, vgl. Gal. 6,15).

Diese Neuheit des Lebens, über das Sünde und Tod nicht mehr herrschen, hat bereits begonnen, realisiert sich aber auch noch  – im aktuellen Sichverlassen und Lieben. Es ist nicht das Leben, was der Mensch selbst bestimmt oder hat – nicht ein Leben, was er aus sich, für sich, durch sich lebt. Es ist ein aus Gott, für Gott, durch Gott (den Geist seiner Gemeinschaft) Leben, was dann in Vers 10 f. „Gott leben“ genannt wird (vgl. Gal. 2,19). Zwar besteht die Neuheit dieses Lebens bereits jetzt darin, dass der Getaufte zu der Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen, die Christus darstellt, gehört (so lässt sich auch in 2. Kor. 5,17 das In-Christus-Sein als neue Kreatur verstehen). Andererseits werden wir erst der Gestalt seiner Auferstehung gleichen (Vers 5). Das heißt, das neue Leben ist als Leben in der ewigen Gemeinschaft Gottes noch verborgen; für unser zeitliches Leben ist es noch Zukunft. Es ist als solches, als ewiges nicht zeitlich gegenwärtig171 (so wie es – singulär – mit dem Auferstandenen zeitlich erschienen ist) – obwohl uns die Gemeinschaft Christi im Glauben bereits gewiss ist und uns bestimmt. In Gal. 2,20 drückt sich diese Differenzierung des Paulus vielleicht am Klarsten aus. Hier ist es wie gesagt der auferweckte Christus, der „in mir“ lebt – dass er in mir lebt, bezeichnet hier die Neuheit des Lebens. Wenn ich sagen kann, dass im Glauben an Christus, der für mich gestorben ist, nicht ich lebe (nicht der alte Mensch, der Mensch für sich), sondern Christus in mir, so bestimmt mich – im Michverlassen auf seine Hingabe als „Rechtfertigung zum Leben“ (Röm. 5,18) – das Leben Christi in der Gemeinschaft Gottes. Sie ist sozusagen das bestimmende Subjekt meines neuen Lebens. Das lebende „ich“ ist nicht Bestimmer, sondern in Liebe bestimmt – wie auch im Blick auf den Geist dieser Gemeinschaft. Das heißt auch, trotz dieser Gemeinschaft ist mein leiblich-zeitliches Leben mit dem Leben Christi in mir nicht identisch. Denn das Leben Christi ist Leben kraft Gottes Leben; seine Gemeinschaft ist ein Wirken Gottes und sie umfasst alle Menschen, ist also noch nicht vollendet, weder in mir noch im Allgemeinen. Vielleicht sind auch zwei verschiedene, aber nicht voneinander zu trennende Weisen zu unterscheiden, in denen Paulus versucht zu denken, wie das neue Leben des mit Christus Gekreuzigten durch das Leben Christi bestimmt wird.   Zum einen, wie hier in Röm. 6,5, wo von der Gleichgestalt des Todes und des künftigen Auferstehungslebens die Rede ist, wird die Unterschiedenheit des Lebens des Auferstandenen und des Glaubenden betont – auch wenn dieses Leben ein gemeinschaftliches ist 171 Diese Differenzierung findet sich im Kolosserbrief, einem späteren Text der paulinischen Schule, eingeebnet: „Mit ihm seid ihr begraben worden durch die Taufe, mit ihm seid ihr auch auferstanden durch den Glauben aus der Kraft Gottes, der ihn auferweckt hat von den Toten“ (Kol.2,12). Das heißt, wie bei Joh. 5,24 wird das neue, ewige Leben als durch Taufe (und Glauben) bereits gegenwärtiges verstanden.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

(Vers 8: „mit ihm leben“). Dem entspricht insbesondere auch dies, dass die Glaubenden ja trotz des Mitgestorbenseins noch als sterblicher Leib oder „im Fleisch“ (Gal. 2,20) leben. Zum anderen kann Paulus aber auch betonen, dass Christus, der uns schlechthin gegenüber ist, indem er uns durch seinen Tod das Leben in der gleichen Gottesgemeinschaft eröffnet, zugleich unser Leben in der Gottesgemeinschaft selber vollzieht, und zwar als Wirklichkeit seines Lebens. Dies betont Paulus, wenn er sagt: „Christus lebt in mir“ (Gal. 2,20). Insofern kann Christus eben auch selber die Gottesgemeinschaft darstellen – so wenn es 6,11 heißt, dass wir Gott leben „in Christus Jesus“ oder wenn von der Gemeinde als Leib Christi die Rede ist.

Im Blick auf die erstgenannte Redeweise begründet sich dann die Zukünftigkeit der Gleichheit der Auferstehung darin, dass Christus in der völligen Hingabe seines leiblichen Lebens auferweckt wurde, während uns diese völlige Hingabe und Auferweckung, eben die Ewigkeit Gottes als solche, noch bevorsteht. Die Bestimmung durch die Gemeinschaft Christi muss immer auch noch im Sichverlassen, das auf die Wahrheit der Taufe zurückkommt, aktualisiert werden. Was besagt das Ganze nun zum Verhältnis von Taufe und Glauben? Dieses Verhältnis wird hier zwar nicht reflektiert, wohl aber ist es klar impliziert. Die Taufe vollzieht an mir, was ich für mich im Glauben realisiere: eben das mit Christus Gestorben-Sein des alten Menschen sowie den Beginn des wahren Lebens aus dem Tod in der Gemeinschaft Christi.172 6–8 (und im Vorgriff 11) Paulus kommt auf die Ausgangsfrage zurück: Die Intention, in der Sünde zu bleiben, hätte gar nicht verstanden, was die Gnade und was der Glauben bedeutet. Taufe und Glauben und somit auch das Leben in der Gemeinschaft Christi beinhaltet notwendig ein bestimmtes Selbstverständnis, eine bestimmte „Lehre“ (so später in 6,17): Als Getaufte, im Glauben wissen wir, dass der alte Mensch mit Christus gekreuzigt wurde. Dieses Mitgekreuzigtsein zielt darauf, dass der „Leib der Sünde vernichtet wird“. Die Frage ist nun zuerst, was „Leib der Sünde“ bedeutet. Von da aus ist dann weiter zu fragen, ob der Tod des alten Menschen (für den Glauben in der Taufe) bedeutet, dass der Leib der Sünde vernichtet ist, oder ob und inwiefern hier bereits die Ermahnung (Paränese) anklingt, die dann in den Versen 12 ff. hervortritt – nämlich die Ermahnung, der in Taufe und Glauben gegebenen eigenen Wahrheit zu entsprechen und die Sünde nicht mehr zuzulassen. Wenn hier vom Leib die Rede ist, ist nicht die hellenistische Unterscheidung von Leib und Seele vorausgesetzt. Der lebendige Leib bezeichnet die geschöpfliche, irdische Existenz, die Wirklichkeit des „im Fleisch“ Lebens nach Gal. 2,20. Diese geschöpfliche Existenz ist für Paulus als sterbliche (vgl. die Rede vom sterblichen Leib gleich in Vers 12) allerdings unvermeidlich von der Wirklich172  Dass der Geist, die Gotteskindschaft, das In-Christus-Sein der auf Christus Getauften die Wahrheit des Glaubens ist, besagt auch Gal. 3,2.26–28.



c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38

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keit der Sünde als kollektiver Trennung von Gott gezeichnet – auch noch für den Glaubenden, der doch seine Wahrheit als Sünder im Tod Christi realisiert hat. Der „Leib der Sünde“ meint dann die jemeinige, geschöpfliche Existenz, sofern sie unter der Herrschaft der Sünde steht; dabei kann der Leib deshalb als Trägerwirklichkeit der Sünde erscheinen, weil es (wie gleich 6,12 ausführt) inbesondere die Begierden des sterblichen Leibes sind, die die Sünde in Anspruch oder als Anlass nimmt, also eine ursprünglich geschöpfliche Struktur der Selbstsorge. Was aber bedeutet das Vernichtetwerden des Leibes der Sünde? Entspricht ihm positiv, in der Neuheit des Lebens zu leben, was für die in der Taufe mit Christus Gestorbenen wiederum der Auferweckung Christi entspricht? Jedenfalls meint diese Vernichtung nicht den leiblichen Tod – sonst würde auch ihre Entsprechung, nämlich das der Sünde nicht mehr Dienen, keinen Sinn ergeben.

Es liegt zunächst nahe, dass die Vernichtung des Leibes der Sünde den Sinn oder Zweck des Mitgekreuzigtseins bezeichnet. Insofern hält Paulus erneut fest: Indem der alte Mensch, das personale Prinzip der Sünde, mit Christus gestorben ist, ist das von der Sünde Beherrschtsein vernichtet. Aber bedeutet dann nicht das Mitgekreuzigtsein und die Vernichtung des Leibes der Sünde nahezu dasselbe? Wieso fügt Paulus dem Ersteren das Zweite hinzu?   Zudem ist die Parallelität zu beachten: Das mit Christus Gekreuzigtsein bedeutet nach Vers 2, der Sünde nicht mehr zu leben, nach Vers 4 das Wandeln in der Neuheit des Lebens, nach Vers 6 die gegenwärtige Vernichtung des Leibes der Sünde und das der Sünde nicht Dienen, und nach Vers 8 das künftige mit Christus Leben.

Die Lösung liegt vielleicht in folgender Überlegung. Zwar realisiert der Glaube die Taufe als Mitgekreuzigtsein. Aber im sterblichen Leib ist die Sünde auch noch virulent (vgl. Vers 12), auch wenn sie die Existenz des Menschen nicht mehr beherrscht (d. h.: der sterbliche Leib ist nicht mehr Leib der Sünde). Doch der Tod des alten Menschen bedeutet im Leben des sterblichen Leibes, dass die Vernichtung des Leibes der Sünde nicht einfach Vergangenheit ist, sondern gegenwärtiges Geschehen am sterblichen Leib. Dem entspricht, dass der Tod des alten Menschen immer wieder im Sichverlassen und dem entsprechenden Selbstverständnis (vgl. Vers 11) zu aktualisieren ist. Dass wir uns als „tot der Sünde“ verstehen, daran sind wir im Glauben immer wieder zu erinnern oder darauf anzusprechen (so wie hier in der Predigt des Apostels).

Die Frage ist: welche Situation des Glaubenden, des Lebens im Glauben ist damit bezeichnet, dass er auf seine Taufe, auf das für die Sünde Totsein, durch das der Leib der Sünde vernichtet wird und durch das er der Sünde nicht mehr dient, anzusprechen ist? Was ist die Situation, dass die Erinnerung der Wahrheit der Taufe (dass er dem Gesetz und den Süchten der Selbstsorge nicht mehr unterliegt) notwendig ist?

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Paulus reflektiert diese Frage nicht; ihm fehlten auch die subjektivitätstheoretischen Begriffe und Unterscheidungen, mit denen wir dieser Frage nachgehen können.   Mein systematischer Versuch einer Antwort sieht so aus: Das adamitische Fürsichsein des Menschen, das in seiner Getrenntheit nicht die Sünde, aber sozusagen die Versuchung der Sünde ist  – dieses Fürsichsein stellt sich immer wieder her, solange wir leiblich leben.173 Im Blick auf den Glauben kann das den Zweifel bedeuten. Die Sünde aber, zu der das Fürsichsein die Versuchung ist, besteht eben wesentlich darin, die Negativität des Fürsichseins durch sich selbst zu überwinden  – indem ursprünglich geschöpflich-leibliche Strukturen der Selbsterhaltung und Selbstsorge zum Prinzip der (geistigen) Identität des Fürsichlebens werden.174   Wer also ist es genaugenommen, der darauf anzusprechen ist, glaubend (sich verlassend) die Nichtigkeit des „Leibes der Sünde“ zu aktualisieren – wer ist es, der an diese Nichtigkeit zu erinnern ist? Es kann weder der alte Mensch sein, der glaubend die Neuheit des Lebens realisiert, noch einfach Christus oder der heilige Geist als Anderer. Sondern darauf angesprochen ist der Christ, der im Moment des sich wiederherstellenden Fürsichseins seiner Wahrheit darin entspricht, dass er sich in der erneuten Selbsterkenntnis im Kreuz Christi erneut auf die Gemeinschaft Gottes verlässt und sich dem Geist der Liebe Gottes überantwortet.

Vers 7 bezieht das Mitgekreuzigtsein als neues Leben in Freiheit175 von der Sünde zurück auf das rechtliche Paradigma, in dem von der Rechtfertigung des Gottlosen die Rede war. Dabei gebraucht er einen Grundsatz rabbinischer Sünden- und Gesetzeslehre176: Wer gestorben ist, ist von der Gesetzesforderung bzw. dem entsprechenden Urteil frei, da der Tod bereits der Preis, die Strafe der Sünde ist – vielleicht auch, weil das Subjekt der Sünde, der „Leib der Sünde“ vernichtet ist. Von Bedeutung kann das (diese Freiheit von der Sünde) freilich nur sein, indem der Mensch von dieser Vernichtung, von diesem Vollzug der Wahrheit der Sünde zugleich unterschieden ist. Eben dies ist mit dem Gestorbensein Christi für mich gegeben – indem er meinen Tod, die Todeswahrheit des Sünders teilt und ich mich darauf verlasse (glaube), realisiere ich diesen Tod als eigene Wahrheit, als Wahrheit meiner Taufe. Eben das bedeutet meine Rechtfertigung im Glauben und für den Glauben. Das Subjekt der Sünde, der Mensch als von ihr beherrschter, ist vernichtet – dieser Tod aber bedeutet das neue Leben in der Gemeinschaft Christi, das als Leben in der endgültigen Freiheit vom Tod, in der Gleichheit der Ewigkeit, noch aussteht (Vers 8 wiederholt insofern Vers 5). Die Verse 9–10 sehen dieses Leben in der Gemeinschaft Christi noch einmal in seinem Tod und seiner Auferweckung selbst begründet. Christus lebt frei vom 173 Vgl. T. Kleffmann, Grundriß der Systematischen Theologie, S. 103–105 (zur Versuchung), S. 197–199 (zum simul iustus et peccator), S. 220–225 (zur Notwendigkeit christlicher Ethik); Kleine Summe der Theologie S. 124–128. 174  Vgl. etwas ausführlicher gleich S. 139 f. 175  Zur Diskussion um die Reichweite des Freiheitsbegriffs bei Paulus vgl. P.‑G. Klumbies, Gott und Freiheit nach Röm 7, S. 44–46. 176 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 17; M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 379 f.



c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38

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Tod; er lebt aus Gott, für Gott, in Gott, also als Moment des ewigen Lebens Gottes. Dass er „der Sünde gestorben“ ist, setzt nicht voraus, dass er zuvor Sünder war. Aber im sterblichen Leib war er dem Tod unterworfen, er war als Mensch der Versuchung der Sünde ausgesetzt, und er teilte in der Hingabe für uns am Kreuz die Wahrheit unserer Sünde. Der wirklichen Sünde gestorben sind wir in der Gleichgestalt seines Todes (Vers 2 und 5).

Die Konsequenz für das Selbstverständnis der sich auf Christus Verlassenenden zieht Vers 11. Damit fasst er zugleich die wiederholte (vgl. die Verse 3.6.9: wisst ihr nicht […], wir wissen […]) Erinnerung an das mit Taufe und Glauben ursprünglich gegebene Gottes- und Selbstverständnis zusammen: Versteht euch dem Tod und dem Leben Christi entsprechend, nämlich als tot der Sünde, aber Gott lebend. Doch unser aus, für und in Gott leben ist eben im Tod und Leben Christi, in der Liebe Gottes in ihm, begründet – es ist jetzt schon ein Gott leben in Christus, in der Gemeinschaft Christi, der unseren Tod (als Wahrheit der Sünde) geteilt hat, so dass wir, indem wir glaubend unsere Wahrheit in Christi Tod realisieren, in seiner Gemeinschaft leben. Das ist die Wahrheit der Taufe, des Christgewordenseins, auf die wir uns verlassen. Auf dieses entscheidende Selbst- und Gottesverständnis müssen die Glaubenden im Zweifel (im Moment des sich wieder herstellenden Fürsichseins) zurückkommen. Die begonnene Neuheit des Lebens, das in Christus gegebene Leben aus dem Tod, auf das die Taufe zielt, ist im Sichverlassen als Verstehen zu aktualisieren. Ohne dass das Sichverlassen Christus versteht, ohne dass der Sichverlassende sich selbst im Tod und Leben Christi versteht, verliert es sich. Was das Gott-leben in der Gemeinschaft Christi weiter bedeutet, wird insbesondere im 8. Kapitel weiter erläutert (vgl. etwa 8,5–11: es ist Gottes Geist der Gemeinschaft Christi, der in dem sichverlassenden Leben ist – und der sich in einem entsprechenden Denken oder Sinnen äußert). Zunächst (6,12 ff. und Kap. 7) geht es noch weiter um die Modi des Wechsels von altem und neuem Leben.

dd)  6,12–23: Die Freiheit von der Macht der Sünde bewährt sich in ihrer Versuchung 12 So soll die Sünde nicht in eurem sterblichen Leib herrschen, indem ihr seinen Begierden gehorcht (εἰς τὸ ὑπακούειν ταῖς ἐπιθυμίαις αὐτοῦ). 13 Und stellt nicht eure Glieder als Waffen der Ungerechtigkeit der Sünde zur Verfügung, sondern stellt euch Gott zur Verfügung, gleichsam als aus den Toten Lebende (ὡσεὶ ἐκ νεκρῶν ζῶντας), und eure Glieder Gott als Waffen der Gerechtigkeit. 14 Denn die Sünde wird nicht über euch herrschen. Denn ihr seid nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade. 15 Wie nun? Sollen wir sündigen, weil wir nicht unter dem Gesetz, sondern unter der Gnade sind? Keineswegs! 16 Wisst ihr nicht: wem ihr euch als Sklaven zum

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Gehorsam zur Verfügung stellt  – [dessen] Sklaven seid ihr, dem ihr gehorcht, entweder der Sünde zum Tode (εἰς θάνατον) oder des Gehorsams zur Gerechtigkeit (εἰς δικαιοσύνην)? 17 Aber Gott sei Dank, dass ihr Sklaven der Sünde wart, aber von Herzen gehorsam geworden seid der Gestalt der Lehre (εἰς […] τύπον διδαχῆς; Luther: dem Fürbilde der Lehre), der ihr übergeben worden seid (ὃν παρεδόθητε  – Luther: welchem ihr ergeben seyd; Wolter übersetzt: dem Kern der Lehre, der euch übergeben wurde). 18 Indem ihr aber von der Sünde befreit wurdet, seid ihr der Gerechtigkeit versklavt worden (ἐδουλώθητε τῇ δικαιοσύνῃ). 19 Menschlich rede ich wegen der Schwachheit eures Fleisches. Denn wie ihr eure Glieder als Sklaven der Unreinheit und Gesetzlosigkeit zur Verfügung gestellt habt zur Gesetzlosigkeit (εἰς τὴν ἀνομίαν; Wilckens: zum [Tun der] Ungesetzlichkeit), so stellt nun eure Glieder als Sklaven der Gerechtigkeit zur Verfügung zur Heiligung (εἰς ἁγιασμόν). 20 Als ihr nämlich Sklaven der Sünde wart, wart ihr Freie gegenüber der Gerechtigkeit (oder: frei von der Gerechtigkeit; ἐλεύθεροι ἦτε τῇ δικαιοσύνῃ). 21 Welche Frucht also hattet ihr damals? [Solche], derer ihr euch jetzt schämt, denn ihr Ziel (oder: ihre Folge – τέλος) [ist der] Tod. 22 Jetzt aber, befreit von der Sünde und Gott versklavt, habt ihr eure Frucht zur Heiligung, [das] Ziel (oder: die Folge) aber [ist] ewiges Leben. 23 Denn der Sold (der Lohn) der Sünde [ist der] Tod, die Gnadengabe (χάρισμα) Gottes aber ewiges Leben in Christus Jesus, unserm Herrn.

Um dem Missverständnis zu entgegnen, dass um der Gnade willen die Sünde wünschenwert wäre, hat Paulus an den Tod des alten, unter der Macht der Sünde lebenden Menschen als die Wahrheit der Taufe erinnert  – eine Wahrheit, die zugleich Wirklichkeit und Inhalt des Sichverlassens auf den Tod und die Auferweckung Christi ist. Nun bespricht er, wie sich die Wahrheit der Taufe, wie sich die im Sichverlassen bestimmende Christusgemeinschaft im zeitlichen Leben bewährt, sofern der Glaubende (Getaufte) der bleibenden Versuchung der Sünde ausgesetzt ist. Diese Versuchung wurde oben vorläufig als eine interpretiert, die in dem Fürsichsein des Menschen liegt, das sich im Leben des Glaubenden, als Notwendigkeit seiner Zeitlichkeit und Leiblichkeit, immer wieder einstellt. Das ist nun zu konkretisieren.

Die Passage thematisiert als Grundspannung des Lebens der Getauften das Verhältnis zwischen der Gottesgemeinschaft im Sichverlassen und der Versuchung des sich wiederherstellenden Fürsichsein, das der gegebenen Wahrheit des Sichverlassens entsprechen soll, so dass das (leiblich) wirkliche Leben immer wieder zum Medium der Gerechtigkeit, also Liebe wird. Zum einen also werden die Adressaten auf die Situation der Versuchung angesprochen – das im Mitsterben mit Christus begonnene Leben in der Gemeinschaft Christi bedeutet, ihr nicht zu folgen (Verse 12–13.19). Zum anderen betont Paulus, dass dies keine offene Entscheidung der Identität vor Gott ist, sondern dass das neue Leben, die Wirklichkeit der Gnade, das Hören auf die Wahrheit des Glaubens die Wirklichkeit der Glaubenden ist (Verse 14.17–18.20–22). Sich in der Versuchung zu bewähren, heißt nur, der Wahrheit des eigenen Lebens im Sichverlassen auf Christus

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zu entsprechen. Dazwischen (Verse 15–16) gibt Paulus eine anthropologische Begründung dafür, warum aus dem Unter-der-Gnade-Sein nicht Sünde folgen kann. 12–13 Die Aufforderung von Vers 12 schließt an Vers 11 an: Dem Sichverstehen darin, als das alte, für sich lebende Ich mit Christus gestorben zu sein und aus und in Gott, nämlich in der Christusgemeinschaft zu leben, entspricht, der bleibenden Versuchung der Sünde nicht zu folgen. Denn in diesem Sichverstehen vollzieht sich diese Gemeinschaft. Die Versuchung ist mit dem „sterblichen Leib“ gegeben. Der sterbliche Leib ist unsere geschöpfliche Existenz in der Zeit überhaupt, die ihrem Selbstbewusstsein, ihrem „Ich“ vorgegeben ist (vgl. auch das „im Fleisch Leben“ in Gal. 2,20). Sie ist entweder von der Sünde als Lebensprinzip bestimmt (vgl. das oben zum „Leib der Sünde“ Gesagte)177 oder von der Gemeinschaft Christi.   Dabei entspricht der Tatsache, dass der Mensch, dessen altes, absolutes Ich mit Christus gestorben ist, gleichwohl zeitlich leiblich lebt, dass sein der Sünde Gestorbensein zeitlebens zu bewähren ist – bis der sterbliche Leib ganz hingegeben ist.178

Zwar ist der sterbliche Leib nicht mehr als solcher unter der Macht der Sünde – er kann nun zum Medium der Liebe werden und ist im Begriff, es zu werden. Doch bedeuten seine Begierden auch nach der Taufe und nach der Rechtfertigung des Gottlosen im Sichverlassen auf Christus die Versuchung. Wie sind diese Begierden zu verstehen? Wenn hier zunächst an Hunger, Durst, Sexualität als Begehren zu denken ist, aber auch allgemeiner an alle Impulse der leiblichen Selbsterhaltung, dann ist klar, dass diese erst einmal zur Geschöpflichkeit gehören und Notwendigkeiten des geschöpflichen Daseins und Zusichkommens darstellen.   Dass Paulus gleichwohl von den Begierden des Leibes redet, denen zu gehorchen erneute Sünde wäre, lässt sich systematisch so interpretieren: Auszugehen ist von einer ursprünglich leiblich geschöpflichen Lebensstruktur der Selbsterhaltung und Selbstsorge. Die Sünde bedeutet dann, dass in dem Moment, in dem der Mensch die Getrenntheit des Fürsichseins realisiert und als er selbst nach dem Sinn (der Bestimmung) seines Selbstseins fragt oder fragen kann, er diesen Sinn (diese Bestimmung) nicht im Gottesverhältnis (in der Liebe Gottes) findet, sondern die ‚alte‘, geschöpfliche Struktur der Selbstsorge nun zu einer geistigen macht, die Dingen und Menschen ihre identitätsrelevante Bedeutung gibt: Dinge und Menschen begehrt und gebraucht er für seine Identität, die er aus sich, für sich, durch sich hat. Ist dies einmal das Prinzip seiner Identität, kann er sich nicht mehr selbst daraus befreien. Das Begehren ist dann auch nicht auf leibliche im Gegensatz zu geistigen Begierden beschränkt, sondern kann ebenso etwa das Begehren von Besitz, Macht, Anerkennung usf. umfassen.   Für die Glaubenden heißt das, dass dieses Prinzip zwar erkannt und im „Tod“ des alten Ich überwunden ist, aber doch die Begierden virulent bleiben  – nun wieder reduziert 177 

S. 134–136. C. Landmesser zeigt, dass für Paulus die bleibende Endlichkeit immer noch Wirkung der adamitischen Sünde ist und verweist dafür auf Röm. 8,9 (Der Vorrang des Lebens, S. 125). 178 

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auf die sozusagen natürlich nachwachsende Selbstsorge des (leiblichen) Daseins. Indem sie aber als unmittelbarer Impuls den Menschen als ganzen bestimmen wollen (er soll ihnen „gehorchen“), können sie der Bestimmung zur Hingabe oder Liebe und vielleicht auch schon dem Sichverlassen auf Gott widersprechen.179 Die Unterscheidung zwischen einer leiblich-geschöpflichen Selbstsorge und der erneuten Konkupiszenz ist aber nicht äußerlich (durch starre ethische Normen) festzulegen, sondern muss in jeder Lebenssituation neu im Geist der Liebe getroffen werden.

Entsprechend ist unter den „Gliedern“, die nicht der Sünde, sondern Gott dienen sollen, vermutlich entweder der lebendige Leib überhaupt in der Vielfalt seiner Gefühle, Bedürfnisse und Impulse zu verstehen – dafür spricht die Parallelität von Gliedern und Person („euch“) in Vers 13. Oder es ist der Leib gemeint, sofern er (Hände, Füße, aber auch Verstand, Sinne) Organ des Handelns ist – dafür spricht das Verständnis der Glieder als Werkzeuge oder Medien von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Waffen von Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit können sie genannt werden, weil Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, hingebende Liebe und rücksichtslose Selbstsorge, als zwei Lebensprinzipien gelten können, die im sich ausschließenden Gegensatz zueinander stehen und miteinander kämpfen.180

Stellt nicht eure Glieder der Sünde zur Verfügung, sondern stellt euch Gott zur Verfügung: Im ersten Fall wäre es eine Tat des fürsichseienden Subjekts, das leiblich reale Leben erneut zur Verkehrung zu bestimmen. Im zweiten Fall, in dem die Angesprochenen als die, die die Nichtigkeit des Fürsichseins realisiert haben, sich selbst Gott zur Verfügung stellen, ist es eine Tat des weiteren Sichverlassens, des Sich-von-Gott-bestimmen-Lassens. Dem folgen dann auch die „Glieder“: Das leiblich reale Leben wird Medium der Gerechtigkeit, also der Liebe Gottes. Dann stehen die Kräfte des geschöpflichen Lebens nicht mehr in der Funktion der Ungerechtigkeit, sondern der ganze Mensch lebt im Geist der Liebe Gottes und verwirklicht dadurch auch leiblich real, praktisch die göttliche Liebe der Gerechtigkeit. So zeigt und vollzieht sich das aus dem Tod des alten Menschen hervorgehende Leben, welches das Christsein ausmacht  – unser Leben in Christus oder Christi Leben in uns. 14 Die Mahnung an die getauften Christen, der Versuchung zur verkehrten Selbstsorge nicht nachzugeben und die Sünde nicht wieder ihr Leben bestimmen zu lassen, ist eigentlich eine Erinnerung an ihre eigene Wahrheit. Sie ist durchaus von der Forderung des Gesetzes an den alten Menschen zu unterscheiden: „ihr seid nicht unter dem Gesetz“.

179  Eine weiterführende Frage ist, welche Bedeutung der noch bevorstehende leibliche Tod und vielleicht auch seine verbleibende oder sich wiederherstellende Angst für die Begierden als Versuchung haben. 180  Zur Metaphorik der „Waffen“ vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 390.



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Dass der alte Mensch unter dem Gesetz Gottes war, heißt, dass er dessen Forderung (nämlich der Gemeinschaft oder Liebe) unterlag, ohne sie erfüllen zu können. Es brachte ihn zur Selbsterkenntnis in der Verkehrtheit des Lebens, ohne dass er sich davon befreien konnte. Den Zusammenhang zwischen dem der Sünde Gestorbensein, dem Mitgestorbensein des alten Menschen und der Freiheit vom Gesetz führt Kap. 7 weiter aus.

Die Rechtfertigung durch Christus im Glauben gilt. Die Freiheit von der Sünde und die Gnade der geschenkten Gemeinschaft ist mit der Taufe für das ganze Leben zugesagt und so auch bestimmend  – „die Sünde wird nicht über euch herrschen“. Die Mahnung zielt also nur darauf, im Moment der Versuchung sich selbst in der Gnade, in der Freiheit zu entsprechen, der eigenen Wahrheit in der Gemeinschaft Christi. Sie fordert nicht, wie das Gesetz, ein Anderssein, sondern lediglich, die Gnade des wahren Lebens nicht zu verlieren. Paulus geht hier aber nicht so weit, ausdrücklich auch die Möglichkeit eines partiellen Rückfalls in die alte Struktur der Selbstsorge zu bedenken, der mit der Notwendigkeit erneuter Selbsterkenntnis und Rechtfertigung verbunden wäre, um wieder im Glauben an die Identität in Christus anzuknüpfen.

15–19 Vers 15 greift Vers 1 auf – hier als den Einwand oder das Missverständnis, dass die Freiheit vom Gesetz die erneute Sünde nahelegen könnte. Zunächst (in Vers 16) gibt Paulus eine anthropologische Begründung dafür, warum aus dem Unter-der-Gnade-Sein nicht Sünde folgen kann  – ebenso wenig wie aus dem Unter-der-Macht-der-Sünde-Sein Gerechtigkeit folgen kann. Der Grund dafür ist, dass der Mensch so oder so seinem Lebens- oder Identitätsprinzip gehorsam ist – entweder ihn bestimmt die Macht der Sünde oder die in Christus geschenkte Gerechtigkeit, also Gottesgemeinschaft und Liebe (auch wenn in ihr die Versuchung bleibt). Dieser Grund gehört zum Wissen des Glaubens („wisst ihr nicht“), der ja den Übergang vom einen zum anderen Prinzip darstellt. Beginnend mit dieser Begründung, im Rückgriff auf die Situation der Versuchung nach Vers 13, parallel zur Gegenüberstellung von Adam und Christus (5,12 ff.) sowie als Konsequenz der Taufe als Mitgestorbensein zu einem neuen Leben (6,3 ff.), werden im Folgenden zwei sich ausschließende, den Menschen beherrschende Lebensprinzipien gegenübergestellt. So oder so ist der Mensch Sklave, d. h. sein Leben hat eine bestimmte, notwendige Richtung. Luther übersetzt passend für den sozialen Kontext seiner Zeit statt Sklave „Knecht“. Vielleicht wäre heute stattdessen die Übersetzung „Untergebener“ angemessen – was aber die Notwendigkeit des Bestimmtseins oder Gehorchens nicht so gut zur Geltung bringt. Auch an die Übersetzung „Gehorchender“ wäre zu denken.

Entweder der Mensch gehorcht als Sklave, d. h. unfrei und ohne Möglichkeit, sich selbst zur Freiheit zu bestimmen, der Sünde – ein Leben, dessen Wahrheit der Tod als letzte, allumfassende Getrenntheit realisiert. Oder der Mensch ist bestimmt in dem Gehorsam, der Gerechtigkeit vollzieht, also Gottesliebe und Nächstenliebe. Auch dies ist aber eben nicht eine Entscheidung des Menschen

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für sich oder konkret: des alten Menschen, sondern bedeutet, Sklave der Gerechtigkeit (Vers 18) oder „Gott versklavt“ (Vers 22) zu sein. In beiden Fällen ist der Mensch bestimmt (Sklave)  – nur die Bestimmung (Herrschaft) wechselt: statt Sünde nun Gott, und (im Blick auf die Konsequenz) statt Tod eben Gerechtigkeit und Leben in der Gottesgemeinschaft. Mit Glauben, Taufe und Rechtfertigung ist die Alternative entschieden (darauf ist gleich zurück zu kommen), nur eben im Blick auf die Versuchung, wie sie implizit in den Versen 12 f. und gleich in Vers 19 angesprochen wird, ist sie virulent.181 Sowohl das Leben in der Sünde folgt also einer inneren Notwendigkeit, als auch das Leben in der Gnade – nur dass in der Gnade zusätzlich die Versuchung entstehen kann, der inneren Notwendigkeit dieses Lebens nicht zu entsprechen. Den sehr unterschiedlichen Charakter beider Notwendigkeiten führt Paulus hier zunächst nicht aus. Sklaven „des Gehorsams zur Gerechtigkeit“ (Vers 16) oder Sklaven Gottes zu sein, bedeutet keine Fremdbestimmung, sondern ein von der Liebe Gottes oder ihrem Geist bestimmt sein. Sklave der Gerechtigkeit zu sein, bedeutet eben, frei von der Sünde zu sein.182 Der „Gehorsam zur Gerechtigkeit“ ist als Sich-Bestimmen-Lassen von Gott zu verstehen, das im Glauben und Lieben besteht. Darin vollzieht sich die Gerechtigkeit der Gemeinschaft.

Dahingegen begleitet die Sünde, solange ihr nicht durch die Forderung Gottes und die entsprechende Selbsterkenntnis widersprochen wird, vielleicht das Selbstbewusstsein von Freiheit. Doch in Wahrheit ist das entsprechende Leben vom Tod bestimmt (zur Dialektik der Freiheit sind gleich die Verse 20–22 zu vergleichen). Eine gewichtige Frage zum einen der Sündenlehre, zum anderen der Gnadenlehre, ist die Frage, wie es beide Male zu verstehen ist, dass sich der Mensch ursprünglich als ‚Sklave zum Gehorsam zur Verfügung stellt‘ (Vers 16; in den Versen 13 und 19 ist vom Zur-Verfügung-Stellen der Glieder die Rede). Im Fall der definitiven Sünde wäre das im strengen Sinn als Sündenfall zu verstehen, der mit Adam als Typos (5,12 ff.) vorgestellt ist. Wie aber wäre ein der Versuchung Nachgeben zu verstehen, wenn es im Kontext von Taufe und bestimmendem Glaube nicht als Wiederherstellung des alten Menschen schlechthin oder neuer Sündenfall zu verstehen ist? Vielleicht wäre insofern eine mehrfache, wider181  Zur Wirkungsgeschichte dieses Gedankens gehört die Behauptung der augustinischen Erbsündenlehre, dass der menschliche Wille nach dem Sündenfall das Gottesverhältnis betreffend unfrei ist, sich also nicht selbst zum Heil bestimmen kann. Dem folgt auch M. Luther, etwa in seiner Hauptschrift De servo arbitrio von 1525 – der Mensch ist ein Gefangener, ein Sklave entweder des Willens Gottes oder des Satans. Vgl. z. B. LDStA1, S. 296 f. (296,23 f.) oder S. 290–293. 182  P.‑G. Klumbies, Gott und Freiheit nach Röm 5–7, S. 52 redet von „Freiheit als […] Abhängigkeitsverhältnis im Rahmen eines Beziehungsgeschehens“.

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sprüchliche Identität des Gläubigen anzunehmen. Aber soweit denkt Paulus nicht. Wenn es in Vers 19 heißt, die Angeredeten hätten in der Vergangenheit (also als alte Menschen) ihre Glieder als Sklaven der Sünde zur Verfügung gestellt, so wird jedenfalls die Sünde als eigene (wenn auch vielleicht zugleich kollektive) Wirklichkeit betont, für die der Sünder verantwortlich ist – auch wenn damit nicht eine individuell ursprüngliche Freiheit zur Entscheidung zwischen Sünde und Gerechtigkeit verbunden ist.

Dass der Mensch sich ursprünglich als Sklave Gottes zur Verfügung stellt, also zum „Sklaven des Gehorsams zur Gerechtigkeit“ wird, geschieht eigentlich im Tod (Sterben) des alten Menschen, der seine Wahrheit im Kreuz erkennt, und im Bestimmtwerden durch die Gemeinschaft Christi im Sichverlassen. Die Situation aber, auf die die Paränese zieht, also dass sich der Mensch aktuell der Sünde ‚zum Gehorsam zur Verfügung stellen‘ könnte, ist konkret die Situation des von der Herrschaft der Sünde, des Fürsichlebens befreiten Christen, der im Moment des Fürsichseins der Versuchung ausgesetzt ist (so ja auch schon in Vers 13) – würde er ihr nachgeben, würde dies der ursprünglichen Tat der Sünde entsprechen183, also sozusagen der Tat Adams. Nachdem in Vers 16 die innere Notwendigkeit sowohl des alten Lebens in der Sünde als auch die innere Notwendigkeit des (durch Taufe und Glaube bestehenden) Lebens in der Gnade herausgestellt wurden, führt Paulus in den Versen 17 und 18 aus, was das für die bedeutet, die er auf ihre Taufe und ihren Glauben anspricht: Ein Wechsel hat stattgefunden und die Herrschaft der Sünde ist definitiv beendet. Sie sind frei von der Sünde und – zu ergänzen ist: durch Christus oder den Geist seiner Gemeinschaft  – zur Gerechtigkeit bestimmt. Dabei pointiert Paulus diese Bestimmtheit als einen Gehorsam gegenüber der verbindlichen Gestalt der Glaubenslehre. Die Angesprochenen entsprechen ihr von Herzen, also nicht als bloß äußeres Bekenntnis, sondern als inneres Bestimmtsein durch die Gemeinschaft, deren Geschenk Gegenstand dieser Lehre ist. So bestimmt die Lehre, ihre Wahrheit, das Denken und Wollen. Gleich, ob man übersetzt, dass die Christen wesentlich der Grundgestalt der Lehre übereignet wurden und ihr entsprechen, oder mit Wolter, dass die Lehre ihnen (wie das Evangelium) übergeben wurde184 – in jedem Fall ist im Zusammenhang gemeint, dass die Lehre des Evangeliums das Denken und Wollen der Gläubigen bestimmt.

Die Wahrheit des Glaubens und auch der Taufe, nämlich die Gemeinschaft Christi, vermittelt sich in einer konkreten Verkündigung, die als Lehre des Glaubens zu verstehen und zu denken ist. Der Glaube selber versteht und denkt. Es ist die Gemeinschaft Christi, die sich durch ihr Wort vermittelt, indem dies das Gericht des alten Menschen vollzieht und die Gemeinschaft zuspricht, auf 183  184 

So versteht es auch Gal. 2,18. Zur Begründung vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 397 f.

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die sich der Angesprochene verlässt – doch dies ist darin eben auch in seiner (systematischen) Bedeutung zu verstehen und zu denken. Das zielt nicht auf theologische Parteiungen, sondern im Gegenteil auf den Grundzusammenhang des in Christus begründeten Gottes-, Welt- und Menschenverständnisses, wie er etwa auch Gegenstand des Taufunterrichts und Taufcredos war185. Glauben ist nicht bloß ein unbestimmtes Gefühl  – vielmehr ist er als Leben aus dem Tod im Medium der konkreten Verkündigung, des konkreten Wortes vermittelt, welches auch zu verstehen und als Lehre zu reflektieren ist. Dass die Angesprochenen der Grundgestalt der Glaubenslehre übergeben worden sind, könnte dann heißen, dass sie – durch die Taufe – dem Geist, der sich in ihr vermittelt, überantwortet sind und so an Christus glauben.186 Paulus beansprucht durchaus nicht, diese Lehre zu erfinden, sondern an sie zu erinnern und sie zu bewahren (unbeschadet der Tatsache, dass ihr Verstehen und Verkündigen als Kommunikation der Gemeinschaft Gottes unter verschiedenen Menschen auch immer das Moment lebendig kreativer Entwicklung und Neubestimmung enthält).

Der Verweis auf die menschliche Redeweise, die in der Schwachheit des Fleisches begründet ist (Vers 19), ist nicht eindeutig zuzuordnen. Die meisten Exegeten, auch Wilckens und Wolter, verstehen es so, dass Paulus hier die vereinfachende Metapher von der doppelten Versklavung rechtfertigen will187  – wobei zu ergänzen wäre, dass der Schwachheit des Fleisches eine Schwachheit des Verstehens entspricht. Das Fleisch meint dann insofern hier die leibliche Existenz als die, die hinter der Wahrheit des Geistes zurückbleibt.   Zwar ist die Metapher von der parallelen Versklavung in der Tat insofern unpassend, als in Christus die Herrschaft der Sünde besiegt ist und sich der Charakter der inneren Notwendigkeit des Lebens wie gesagt ganz unterschiedlich darstellt: Die entsprechende „Versklavung“ bedeutet Freiheit von der Sünde in der Gemeinschaft Gottes – Leben statt Tod. Aber wieso sollte Paulus hier als Rechtfertigungsgrund einer nicht ganz passenden, vereinfachenden Metapher die Schwachheit des Fleisches nennen, wenn doch das Fleisch im Kontext eher das Leben der Sünde bezeichnet (7,5; 7,14.18; 8,3–9)? Es liegt näher, die Schwachheit des Fleisches mit den Begierden des sterblichen Leibes (6,12) zu assoziieren (vgl. auch 8,12 f.).

Vielleicht ist also eher dies gemeint: Paulus redet menschlich, der menschlichen Situation gemäß, indem er die Schwachheit des Fleisches thematisiert. Das heißt, dass er eben die definitive Wahrheit des Christseins (das durch Taufe und Glauben unter der Gnade und frei von der Sünde Sein) durch die Mahnung zur Selbstentsprechung im Moment der Versuchung, des erneuten Impulses zum Fürsichleben, ergänzt. 185 

Vgl. auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 35 f. Am Rande wäre auch noch im Anschluss an U. Wilckens, a. a. O., S. 36 f. zu erwägen, ob mit der Gestalt der Lehre auch Christus selbst als Inhalt des Glaubens bzw. der Lehre gemeint sein könnte. 187 Vgl. U. Wilckens, a. a. O., S. 37 f. mit Anm. 148; M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 399. 186 



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Diese Mahnung in Vers 19 entspricht weitgehend der Mahnung in Vers 13. Allerdings betont er die Vergangenheit des alten Fürsichlebens, so dass die Bewährung weniger als Konflikt erscheint. Der Skopus ist die Bewährung als Heiligung. Das leibliche Leben (die Glieder) vollzog früher Gesetzeslosigkeit, also ein in den Süchten verkehrter Selbstsorge gefangenes Leben. Dies geschah als eigenes Tun der Menschen (sie haben ihre Glieder „zur Verfügung gestellt“), und doch, wie hier zu ergänzen ist, unter der kollektiven, adamitischen Macht der Sünde notwendig.

Doch nun bedeutet die Bewährung der Christen, dass auch ihr leibliches Leben Medium der Heiligung wird  – also Medium des wahren Lebens in der Gemeinschaft Gottes. So entsprechen sie sich selbst, d. h. der Wahrheit von Taufe und Glauben. Das heißt nicht, dass erst das Tun der Gerechtigkeit heiligt. Wer getauft ist und sich auf Christus verlässt, ist berufener Heiliger (vgl. 1,7). Doch nur in der Selbstentsprechung darin im Moment der Versuchung bewährt sich diese Wahrheit des Lebens in seiner leiblich zeitlichen Wirklichkeit (vgl. auch 1. Thess. 4,3.7) – kraft der in die Herzen ausgegossenen Liebe Gottes (Röm. 5,5). So werden die Leiber zu Gliedern Christi, so wird der Leib zum Tempel des heiligen Geistes, zum Medium seiner Wirklichkeit (1. Kor. 6,15–19) – der Geist Gottes, also der Geist der Gemeinschaft Christi bestimmt das Leben zur Liebe.

20–22 Paulus fasst zusammen, was die nun als gegeben vorausgesetzte Selbstentsprechung oder Bewährung des christlichen Lebens im rückblickenden Kontrast zum Leben unter der Herrschaft der Sünde bedeutet. Damit differenziert er den Vergleich zwischen der inneren Notwendigkeit des Lebens in der Sünde und der inneren Notwendigkeit des Lebens in Gerechtigkeit und stellt ihn als eine Dialektik der Freiheit dar. Der alte Mensch war Sklave der Sünde, hielt sich aber für frei188 – jedenfalls, solange ihm nicht das Gesetz Gottes widerspach und ihn zur Selbsterkenntnis brachte. Er beanspruchte eine Selbstbestimmung frei von Gott. Doch diese Freiheit war in Wahrheit nichts als Freiheit von Gerechtigkeit – die Taten der entsprechenden Selbstbestimmung, die aber stets dem Prinzip und den Süchten des Fürsichlebens gehorchten, werden jetzt als Verkehrung erkannt: Ihre Konsequenz, ihre Wahrheit, ist der Tod, der Inbegriff von Unfreiheit. Die wahre Freiheit aber besteht darin, von der Sünde und vom Tod frei zu sein189 – was gerade nicht absolute, göttliche Selbstbestimmung bedeutet, sondern ein von der Gemeinschaft oder Liebe Gottes in Christus Bestimmt-Sein. In diesem Leben besteht die Heiligung, die in das ewige Leben mündet. 188  Die paradoxe Betonung der Freiheit unter der Sünde kann nur den Sinn haben, sich auf das Selbstverständnis des Sünders zu beziehen. Diesen Aspekt führte Augustinus aus – vgl. dazu T. Kleffmann, Erbsündenlehre, S. 78–94. 189  Das Evangelium macht frei – vgl. These 5 (sowie 12.18) in M. Luthers 1520 erschienener Hauptschrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ (DDStA 1, S. 282,31 ff.).

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Vers 23 fasst nun für den ganzen Abschnitt zusammen, worin die Notwendigkeit des Lebens unter der Macht der Sünde ihre Wahrheit findet und worin die göttliche Notwendigkeit des Lebens frei von Sünde, in der Gnade Gottes, ihre Wahrheit findet. Damit bringt er  – immer noch im Kontext der bleibenden Virulenz der Sünde als Versuchung – die Bedeutung des in Christus geschenkten Wechsels der Bestimmung des Lebens auf den Punkt. Die Konsequenz der Sünde, des allen Beziehungen zu Grunde liegenden menschlichen Umsichselbstkreisens, ist der Tod. Wohl dem Menschen, der ihn in der Taufe, im Glauben an Christus (in dem Gott ihn teilt), als Wechsel zum wahren Leben vorwegnimmt. Während aber der Tod das Leben des Menschen, der in Wahrheit für sich lebt, vernichtet, führt die Gnadengabe Gottes, eben die Wirklichkeit seiner Gemeinschaft, das Leben zu seiner Bestimmung als schließlich ewiges Leben, das in Christus, in Gott wirklich ist, also Leben seiner göttlichen Gemeinschaft ist. In Christus ist das ewige Leben schon jetzt wirklich, und die Gnadengabe Gottes besteht darin, dass wir glaubend und liebend an ihm als der ewigen Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen teilhaben – indem er in uns lebt (oder wir in ihm), und er so (statt der Selbstsorge) unser Herr ist. So leben wir auf die Vollendung des (wahren) Lebens in seiner Gemeinschaft hin. ee)  7,1–6: Der mit Christus Gestorbene ist frei vom Gesetz – die Neuheit des Geistes bestimmt ihn 1 Oder wisst ihr nicht, Brüder – ich rede doch zu Kennern des Gesetzes –, dass das Gesetz [nur] herrscht über den Menschen während der Zeit, in der er lebt? 2 Denn die verheiratete Frau ist solange der Mann lebt an das Gesetz gebunden (oder: die verheiratete Frau ist durch Gesetz [nur] an den lebenden Mann gebunden)190. Wenn aber der Mann stirbt, ist sie vom Gesetz des Mannes entbunden. 3 Folglich wird sie solange der Mann lebt Ehebrecherin genannt, wenn sie einem anderen Mann [zu eigen] wird. Wenn aber der Mann stirbt, ist sie frei von dem Gesetz, so dass sie keine Ehebrecherin ist, wenn sie einem anderen Mann [zu eigen] wird (Luther: wo sie bey einem andern Manne ist). 4 Daraus folgt, meine Brüder: Auch ihr wurdet dem Gesetz getötet durch den Leib Christi (διὰ τοῦ σώματος τοῦ Χριστοῦ), so dass ihr einem anderen [zugehörig] geworden seid, dem von den Toten Auferweckten, damit wir Gott Frucht bringen. 5 Denn als wir im Fleisch waren, wirkten die durch das Gesetz [hervorgerufenen] Leidenschaften der Sünden in unseren Gliedern (τὰ παθήματα … τὰ διὰ τοῦ νόμου ἐνηργεῖτο  – eine andere Übersetzungsmöglichkeit lautet: als wir im Fleisch waren, [waren] die durch das Gesetz wirksam gewordenen Leidenschaften der Sünden in unseren Gliedern), so dass [sie, oder: wir] dem Tod Frucht brachten. 6 Jetzt aber sind wir vom Gesetz entbunden, weil wir [dem] gestorben sind, in dem (oder: durch das) wir gefangen 190  τῷ ζῶντι ἀνδρὶ übersetze ich mit der ursprünglichen Lutherübersetzung, mit Wolter und anderen als temporalen Dativ (vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 412).



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waren, so dass wir dienen (oder: versklavt sind) in der Neuheit des Geistes (oder mit Luther: im newen Wesen des Geistes) und nicht in der Vergangenheit (eigentlich: Altheit; Luther: im alten Wesen) des Buchstabens (ἐν καινότητι πνεύματος καὶ οὐ παλαιότητι γράμματος).

Auch dieser Abschnitt hat noch (wie seit 5,12 ff.) den Tod des alten Menschen unter der Sünde, den als mit Christus Gestorbensein vollzogenen Wechsel zum Leben in der Freiheit seiner Gemeinschaft, zum Thema. Der Kontext ist weiterhin (vgl. 6,1 und 6,15) die Rückfrage, wieso die in Christus erwiesene Gnade, also das Geschenk seiner Gemeinschaft, als Freiheit vom Gesetz (das die Gemeinschaft vom Menschen fordert) nicht ein Bleiben in den Strukturen des Fürsichlebens bedeuten kann. Paulus vertieft den Zusammenhang, indem er nun parallel zu der seit 6,11 ff. erörterten, in der Taufe vollzogenen und in der Versuchung zu bewährenden Freiheit von der Macht (dem Lebensprinzip) der Sünde die Freiheit vom Gesetz erläutert. Dabei greift er das schon in 6,7 genannte Argument auf: Wer gestorben ist, ist von der Sünde freigesprochen. Die Taufe und der entsprechende Glauben bedeuten, dass das Ich unter der Sünde, der aus sich und für sich lebende Mensch, tot ist, indem er seine Wahrheit am Kreuz Jesu realisiert. Nachdem Paulus in Vers 1 den Grundsatz vorgestellt hat  – das Gesetz Gottes, konkret sein Widerspruch bzw. sein Urteil, gilt nur für den (für sich) lebenden Menschen –, erläutert er dies in den Versen 2–3 durch das Beispiel der gesetzlichen Verpflichtung der Ehe. Anschließend, in den Versen 4–6 überträgt er dies auf die Getauften und Glaubenden: Durch das Mitgestorbensein mit Christus, in der Gemeinschaft des ins ewige Leben Gottes Auferweckten, ist die Fremdbestimmung des Lebens, die die Forderung und das Urteil des Gesetzes bedeutet, überwunden. Die mit dem Vergleich der Ehe vorgestellte gesetzliche Verpflichtung und ihre Aufhebung durch den Tod ist allerdings nicht nur ein Beispiel, sondern zugleich ein Bild für die aus dem Tod hervorgehende neue Gemeinschaft. Zudem betont die Übertragung auf das christliche Leben, dass die Freiheit vom Gesetz dem Gesetz nicht widerspricht, sondern in seiner eigenen Logik liegt.

Die Passage gipfelt theologisch in der Gegenüberstellung des vergangenen Lebens im Fleisch und unter dem Buchstaben des Gesetzes zum gegenwärtigen Leben in der Freiheit und Gemeinschaft des Geistes. Entsprechende Gegenüberstellungen prägen den Text seit dem Adam-Christus-Verhältnis (5,12 ff., zuletzt in 6,19–23), nun aber erscheint als zugleich zusammenfassende und vorgreifende Pointe, dass das Gott-versklavt-Sein die Freiheit vom Buchstaben des Gesetzes und das Bestimmtsein vom Geist bedeutet. Das Leben im Fleisch und unter dem Gesetz wird dann in 7,7–25 ausgeführt, das Leben in der Gemeinschaft des Geistes in 8,1–17.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

1 Paulus appelliert zunächst mindestens an eine Grundkenntnis der Bedeutung des Gesetzes, wie sie vermutlich dem Bekenntniswissen im Zusammenhang der Taufe entspricht (vgl. schon 6,3.16 und ff.). Der Appell an die Kenntnis des Gesetzes muss also weder heißen, dass er hier (wie 2,17 ff.) insbesondere Judenchristen anspricht, noch ist das die Sünde verurteilende Gesetz Gottes hier streng auf die Tora zu begrenzen.191

Der Grundsatz entspricht 6,7 (wer gestorben ist, ist frei von der Sünde). Das heißt, die im Sinne von 6,7 explizierte Freiheit von der Sünde durch den Tod wird nun als Freiheit vom Gesetz expliziert. Die Frage ist, ob es zur Begründung einschlägiger Belege etwa aus rabbinischer Literatur bedarf192, oder ob der Zusammenhang nicht zur selbstverständlichen Grundlogik des Gesetzes gehört: So wie die Sünde kein Subjekt mehr hat, wenn der Sünder tot ist – das Prinzip der Sünde ist ja eine Verkehrung des Lebens, die im Sichabschließen seines Subjekts besteht  –, so hat dann das Gesetz keinen Adressaten mehr für seine Forderung. Das Herrschen des Gesetzes Gottes meint seine das Gottesverhältnis bestimmende Forderung an den Lebenden; im Tod des Sünders lässt sich von ihm nichts mehr fordern – mit dem Tod ist das definitive Urteil im Sinne des Gesetzes verbunden. Der Satz, dass das Gesetz über den Menschen nur herrscht, solange er lebt, schließt sicher nicht den Gedanken des jüngsten Gerichts aus, dass der tote, in der Zeit gewesene Sünder vor Gott im Sinne des Gesetzes verantwortlich gemacht wird. Auch dann aber gilt: Die das Leben in Wahrheit beherrschende Forderung ist zu Ende.   Freilich kann der Tod, der im positiven Sinn die Freiheit von Sünde und Gesetz bedeutet, nur der sein, der zugleich zur Gottesgemeinschaft bestimmt und die „Neuheit“ des Geistes (Vers 6) mit sich bringt.

2–3 Das alltagsrelevante Beispiel aus der Tora soll die Konsequenz des Grundsatzes verdeutlichen. Es verkompliziert den Gedanken aber zunächst, weil sich der Tod und die Freiheit vom Gesetz nicht auf dieselbe Person beziehen. Das Verbot des Ehebruchs bindet die Frau, solange der Mann lebt (oder, nach der anderen Übersetzungsmöglichkeit: es bindet die Frau nur an den lebenden Mann). Ist der Mann jedoch gestorben, ist ihre Bindung an das „Gesetz des Mannes“, also an das die Ehe betr. Gesetz, aufgehoben (oder: ihre gesetzesmäßige Bindung an den Mann ist aufgehoben). Die Frage ist, ob die augenscheinliche Komplikation, dass hier der Tod eines anderen Menschen vom Gesetz befreit, während in Taufe und Glauben ja der alte Mensch selbst stirbt und dadurch von Forderung und Urteil des Gesetzes frei wird, einen Sinn hat. Einen Hinweis darauf, dass dieser Sinn in einer konkreten Analogie zum Christwerden durch das Mitsterben mit Christus liegt, gibt Vers 3: Die Lebensbindung zu wechseln ist unmöglich, solange das herrschende 191 

192 

Vgl. dazu M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 410. Vgl. ebd.



c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38

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Lebensprinzip – der Mann bzw. im übertragenen Sinn: die Sünde – lebt. Das Gesetz hat insofern die Bedeutung, diese Unmöglichkeit bewusst zu machen, also die Bindung zu explizieren.193 Erst wenn das bindende und herrschende Lebensprinzip – also der ‚Mann‘ – tot ist, ist der Mensch frei und in der Lage, eine neue Lebensbindung einzugehen. Entscheidend ist dabei, dass nicht er selbst – im Bild die ‚Frau‘, im übertragenen Sinn: der Sünder – stirbt, sondern der Andere, der sie bindet. So wie die Frau frei wird, indem der Mann stirbt, wird der Mensch unter der Sünde frei, indem er nicht selbst den Tod als die Wahrheit der Sünde erleidet, sondern der Andere – das heißt nun aber: Christus, der den Tod als Wahrheit der Sünde teilt und so Freiheit von der Sünde schenkt und eine neue Lebensbestimmung ermöglicht. Das heißt, auch in der Übertragung des Beispiels oder der Analogie ist es so, dass die Freiheit von Sünde und Gesetz durch den Tod des Anderen erreicht wird194, den ich aber mitsterbe (d. h. im Bild vielleicht: indem mit dem Mann auch das alte Leben der Frau in der Ehe stirbt). 4–6 Die Übertragung des Beispiels auf die Getauften und durch Glauben Gerechtfertigten besagt: Der Mensch ist als das Subjekt, welches das Gesetz noch verurteilen kann, „getötet worden durch den Leib Christi“. Als der, dem das Gesetz Gottes das Beherrschtsein von der Sünde spiegelt (also die beherrschende Macht des Fürsichlebens), ist er tot.195 Aber dieser Tod ist eben ein Gestorbensein durch den Tod Christi, in dem Gott unseren Tod als Wahrheit der Sünde teilt, was eine neue Gemeinschaft mit ihm als dem ins Leben Gottes Auferweckten bedeutet. Wieso redet Paulus pointiert vom Leib Christi, durch den der alte Mensch getötet wurde? Gemeint ist ja primär die Selbsthingabe Christi (Gottes in ihm), durch die er unseren Tod teilt  – was Taufe und Glaube umgekehrt als unser Mitsterben und unsere Gemeinschaft mit dem ins Leben Gottes Auferweckten realisieren. Die Betonung des Leibes ist dabei vermutlich als Anspielung auf einen Sprachgebrauch zu verstehen, der zwar nicht hier, aber im 1. Korintherbrief expliziert wird. Dass das Getötetwerden durch den Leib Christi, d. h. durch seinen Tod, zur Zugehörigkeit zum Auferweckten führt  – das meint auch die Rede von dem einen Leib Christi, zu dem als viele Glieder die Getauften gehören (1. Kor. 12,12–14.27). Das Getötetsein durch den Leib Christi hätte also die Pointe, dass das Mitsterben als solches bereits die Zugehörigkeit zum lebenden, gegenwärtigen Christus bedeutet.

193  Die Möglichkeit der Übertretung des Gesetzes, wodurch die Frau Ehebrecherin genannt würde, passt allerdings nicht in diese Analogie. 194  So zu Recht M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 414 f. 195  In vergleichbarem Sinn sagt Paulus in Gal. 2,19, er sei „durchs Gesetz dem Gesetz gestorben“, betont dann aber, dass das Urteil des Gesetzes selber den Tod für die Selbsterkenntnis vollzieht.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Eben diese Zugehörigkeit, als Vergegenwärtigung des Leibes Christi, wird im Abendmahl des Herren gefeiert, in dem sich die „Gemeinschaft des Leibes Christi“ mitteilt (1. Kor. 10,16 f.; vgl. 11,27.29).

Dass diese Zugehörigkeit Gott Frucht bringt, greift das Ende des vorigen Abschnitts (6,21 f.) auf. Dort war davon die Rede, dass dem Sichbestimmenlassen durch die Gottesgemeinschaft als Frucht die Heiligung zukommt, während die Früchte des Lebens unter der Sünde sich im Tod, in der Nichtigkeit des Fürsichlebens konzentrierten. Während dort von der Frucht der zwei Lebensprinzipien für uns die Rede war, also von ihren Manifestationen oder Erfüllungen, die zum einen den Tod bedeuten, zum anderen ewiges Leben, ist hier (in den Versen 4 und 5) von der Frucht der zwei Lebensprinzipien für entweder Gott oder den Tod die Rede. Während das Leben in den Suchtstrukturen der Sünde (dazu gleich) dem Tod Frucht brachte, also die Herrschaft der Nichtigkeit vollzog, bringt die Zugehörigkeit zum auferweckten Christus Gott Frucht, d. h. es setzt sich darin die Gemeinschaft, das Leben Gottes durch. Gott Frucht bringen heißt, dass sich in unserem Sichverlassen und Lieben, indem wir aus seiner und für seine Gemeinschaft leben, diese Gemeinschaft durchsetzt (die der Sinn unseres Daseins, unseres göttlichen Gepflanztseins ist). Die Verse 4–6 lassen sich insgesamt auch so verstehen, dass Paulus hier erneut die Bedeutung des Wechsels von einen Lebensprinzip zum anderen – parallel zu 6,12–23 sowie insbesondere 6,20–23  – zusammenfasst, bevor dann beide Lebensprinzipien und ihr Gegensatz in 7,7–8,17 weiter ausgeführt werden. Die erneute Zusammenfassung ist so zugleich ein Ausblick auf die folgende Ausführung: Weil durch das Gesetz die Todesverfallenheit des von der Sünde versklavten Lebens realisiert wurde, ist das als Subjekt der Sünde und als Adressat der Gesetzesforderung Getötetsein nötig, um frei in der Gemeinschaft des Geistes zu leben. Das Sein oder Leben „im Fleisch“ kann Paulus, indem es das Leben vor Taufe und Glauben meint, als Leben unter der Sünde identifizieren – vergleichbar der Rede vom Fleischlichsein gleich 7,14 oder wenn vom Leben nach dem Fleisch, κατὰ σάρκα ζῆν, wie dann in 8,12 die Rede ist. Hier aber meint es genau genommen die leiblich sterbliche Existenz, sofern sie nicht nur den Versuchungen ihrer Begierden ausgesetzt ist (vgl. 6,12 ff. oder 6,19 die Schwachheit des Fleisches), sondern vor Taufe und Glauben faktisch der Lebensstruktur der Sünde unterliegt196: Die leibliche Struktur der Selbstsorge ist zu einer auch geistigen Struktur mutiert, zur Struktur des Fürsichlebens, welches das Ich absolut setzt. Insofern ist das „im Fleisch Sein“ der Gegensatz zum Bestimmtsein vom Geist der Gemeinschaft Christi oder zum „in Christus Sein“ (vgl. nur 8,1). Das Leben im Fleisch ist vor Taufe und Glaube bestimmt durch den Suchtcharakter der Sünden, dem der Mensch, obwohl er doch sein Ich absolut setzt, 196 

Vgl. auch Gal. 5,24.



c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38

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zugleich ausgesetzt ist, den er ‚erleiden‘ muss. Er ist in der Dialektik des Für-sichBegehrens und Gebrauchens gefangen, das doch nie erfüllt und erschöpft ist, sondern sich immer wieder herstellt. τὰ παθήματα wurde z. B. noch von Luther mit „sündliche Lüste“ übersetzt; den Begriff Leidenschaft gibt es erst seit Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts.197 Der griechische Begriff betont die Dialektik zwischen der Passivität des Erleidens des Begehrens, des ihm Ausgesetztseins, und der Aktivität des ihm Nachkommens.

Welche der zwei Übersetzungsversionen von Vers 5 auch bevorzugt wird  – in jeden Fall sagt Paulus, dass der Suchtcharakter des Lebens in der Sünde, die innere Unfreiheit dieser vielfältigen Weisen, im Für-sich-Begehren und Gebrauchen mit sich identisch zu sein, erst durch das Gesetz wirksam wurde. Diesen Gedanken trug Paulus schon in 5,20 vor und wird ihn gleich in 7,7 ff. noch vertiefen.198

Das Gesetz setzte die Sünde als verkehrte Lebensstruktur, als Sünde, als Unfreiheit, als Widerspruch gegen Gott und das wahre Leben in Kraft. Denn durch das Gesetz wird das Fürsichleben zum vor Gott für sich Leben. Erst durch den Widerspruch des Gesetzes Gottes, der dieses Leben als Verkehrtheit reflektiert (vgl. 3,20; 5,13), ist die Sünde für das Lebenssubjekt als beherrschendes Prinzip in Kraft. Erst durch das Gesetz realisiert der Mensch, dass ihn diese Lebensstruktur beherrscht – indem er zugleich von diesem Leben, das er erkennt, distanziert ist. Das Gesetz lässt den Sünder realisieren, dass dieses Leben nur die Wirklichkeit des Todes, der Nichtigkeit, der Getrenntheit mehrt. Es ist der Widerspruch Gottes, der die unausweichlich zum Tode führende Trennung bewusst macht. Der Tod ist die Wahrheit des für sich und durch sich lebenden Menschen.

Dagegen besteht die Freiheit vom Gesetz (und natürlich auch von der Sünde) darin, dass dieser Tod bereits durchlebt ist. Das Gesetz sprach eben den für sich und durch sich lebenden Menschen an  – aber in der Taufe, im Sichverlassen auf den Tod Christi, in dem Gott aus Liebe unsere Todeswahrheit teilt, ist der Angesprochene als der für sich und durch sich lebende (mit) gestorben. Er ist nicht mehr der für sich Lebende. Die Neuheit des Dienens besteht darin, dass der Geist das Leben bestimmt – die Gemeinschaft Christi als Wirklichkeit Gottes ist an die Stelle des absoluten Ich getreten. Dieses Bestimmtsein durch den Geist Gottes, der Leben aus dem Tod hervorbringt, ist eben das „Gott leben“ aus 6,10 f. Der Geist bewirkt ein Leben, was Gott Frucht bringt (statt dem Tod: 7,4 f.) – hier ist gleich weiter 8,10–13 zu vgl. 197 Eine einflussreiche positive Interpretation des Begriffs entfaltete Hamann (vgl. T. Kleffmann, Hamanns Begriff der Leidenschaft, in: B. Gajek (Hg.), Die Gegenwärtigkeit Johann Georg Hamanns, Frankfurt 2005, S. 161–178); im Anschluss an ihn konnten auch Hegel und Schelling Leidenschaften der Liebe von Leidenschaften der Selbstsucht unterscheiden. 198  Vgl. auch oben S. 125; ferner 1. Kor. 15,56: Die Kraft der Sünde ist das Gesetz.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Wie ist das Dienen in der ‚Altheit‘ oder Vergangenheit des Buchstabens zu verstehen? Der Buchstaben bezieht sich auf das geschichtlich gegebene Gesetz, dessen Anspruch dem (alten) Menschen äußerlich bleibt. Das heißt: Es reflektiert ihn, ändert ihn aber nicht. Die Gegenüberstellung seiner Altheit zur Neuheit des Geistes betont, dass es prinzipiell der Sphäre und Zeit des alten Menschen angehört. Es ist der äußerlich bleibende, göttliche Widerspruch, der den alten Menschen zur Selbsterkenntnis bringt, ohne die Sünde zu überwinden. In der Altheit des Buchstabens dienen heißt also, auch durch das Gesetz die Sphäre und die nur dem Tod zulaufende Zeit der Sünde nicht überwinden zu können. Doch die Sphäre und Zeit des alten Menschen, dem das Gesetz entspricht und widerspricht, ist mit der mit Christus geschehenen, eschatischen Kondeszendenz des Geistes, die das menschliche Leben zur Ewigkeit bestimmt, prinzipiell Vergangenheit. Dabei ist das Leben in der Neuheit des Geistes zwar auch ein Dienen, aber im Sinne nicht einer äußeren, sondern einer inneren Bestimmung, in der die Gemeinschaft Gottes das Wollen und Denken bestimmt.199 In 2. Kor. 3,6 heißt es ganz entsprechend, dass die Diener des neuen Bundes Diener des Geistes, nicht des Buchstabens sind – „der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig“. Das Gesetz Gottes erneuert den alten Menschen nicht, sondern kann ihm nur den Tod vergegenwärtigen.   In Röm. 2,29 hatte Paulus die Beschneidung des Herzens, die im Geist geschieht, von der Beschneidung im Buchstaben unterschieden. Während diese nur äußerlich das Gesetz erfüllt und daher als solche nicht zum Heil führt, meint jene die innere Erneuerung des Menschen durch den Geist der Gemeinschaft Christi, die Befreiung vom Gesetz der Sünde.

ff )  7,7–25: Vor Taufe und Glaube herrschte das Gesetz der Sünde in mir – das Gesetz Gottes widersprach dem zwar, aber erlöste mich nicht davon: Es realisierte den Tod als Wahrheit der Sünde und führte zu dem Selbstwiderspruch, das Gebotene zu erkennen, aber nicht leben zu können 7 Was sollen wir nun sagen? Ist das Gesetz Sünde? Keineswegs! Vielmehr hätte ich die Sünde nicht erkannt, wenn nicht durch das Gesetz. Denn von der Begierde hätte ich nicht gewusst, wenn nicht das Gesetz gesagt hätte: „Du sollst nicht begehren.“ 8 Indem aber die Sünde durch das Gebot die Gelegenheit ergriff, bewirkte sie in mir jede Begierde. Denn ohne Gesetz ist die Sünde tot. 9 Ich aber lebte einst ohne Gesetz; als jedoch das Gebot kam, lebte die Sünde auf, 10 ich aber starb, und es erwies sich mir: Das Gebot, das zum Leben [führen – oder: dienen sollte], dasselbe [führte] zum Tod (ἡ ἐντολὴ ἡ εἰς ζωήν, αὕτη εἰς θάνατον). 11 Denn indem die Sünde durch das Gebot die Gelegenheit ergriff, betrog sie mich (Wolter: die Sünde „verführte mich durch das Gebot“) und tötete [mich] durch es. 12 Folglich ist das Gesetz heilig und das Gebot ist heilig und gerecht und gut. 13 Wurde mir also das 199  Darauf lässt sich wiederum die Ez. 36,26 f. berichtete Verheißung eines neuen Geistes beziehen, den Gott „in euch“ geben wird, so dass sie von selbst in seinen Geboten leben.



c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38

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Gute zum Tode (Τὸ οὖν ἀγαθὸν ἐμοὶ ἐγένετο θάνατος;)? Keineswegs! Sondern die Sünde, damit die Sünde erschiene (oder: damit sie als Sünde erschiene), bewirkte mir durch das Gute den Tod, damit die Sünde über alle Maßen sündig werde (oder: sich als über alle Maßen sündig erweist) durch das Gebot. 14 Denn wir wissen200, dass das Gesetz geistlich (πνευματικός) ist, ich aber bin fleischlich (ἐγὼ δὲ σάρκινός εἰμι), verkauft unter die Sünde. 15 Denn was ich bewirke, weiß ich nicht (oder: begreife ich nicht). Denn nicht das, was ich will, tue ich, sondern das, was ich hasse, tue ich. 16 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, bestätige ich dem Gesetz, dass es gut ist. 17 Dann aber bewirke nicht ich es [was ich tue], sondern die in mir wohnende Sünde. 18 Ich weiß nämlich, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Denn das Wollen ist mir gegenwärtig (τὸ γὰρ θέλειν παράκειταί μοι  – Wolter: das Wollen ist mir möglich), das Bewirken des Guten aber nicht. 19 Denn ich tue nicht, was ich will, Gutes, sondern was ich nicht will, Böses, das tue ich. (Luther: Denn das gute das ich will / das thue ich nicht / sondern das böse / das ich nicht will / das thue ich) 20 Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, dann bewirke nicht ich es, sondern die in mir wohnende Sünde. 21 Ich finde also das Gesetz, dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse nahe liegt (τὸ κακὸν παράκειται  – Luther: anhanget, Wolter: dass mir [nur] das Böse als Möglichkeit gegeben ist). 22 Denn ich stimme dem Gesetz Gottes freudig zu (Luther: ich habe lust an Gottes Gesetz) dem inneren Menschen nach (κατὰ τὸν ἔσω ἄνθρωπον  – auch: was den inneren Menschen betrifft), 23 sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, was dem Gesetz meiner Vernunft (τῷ νόμῳ τοῦ νοός μου – Luther: dem Gesetz in meinem gemüte) widerstreitet und mich gefangen hält im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. 24 Ich elender Mensch! Wer wird mich aus diesem Todesleib (ἐκ τοῦ σώματος τοῦ θανάτου τούτου) retten? 25 Dank aber sei Gott durch Jesus Christus, unseren Herrn. – Also nun: als dasselbe Ich (oder: ich selbst) diene ich mit der Vernunft dem Gesetz Gottes, mit dem Fleische aber dem Gesetz der Sünde (αὐτὸς ἐγὼ τῷ μὲν νοῒ δουλεύω νόμῳ θεοῦ τῇ δὲ σαρκὶ νόμῳ ἁμαρτίας).

Der Gegensatz zwischen dem verkehrten Leben, in dem der Mensch im Fürsichleben gefangen ist, und dem wahren, bestimmungsgemäßen Leben in der Gemeinschaft Gottes wurde in 5,12–21 menschheitsgeschichtlich begründet. In 6,1–11 wurde er als ein in der Taufe geschehener Wechsel des jemeinigen Lebens erzählt. In 6,12–23 wurde seine Bedeutung auch nach dem Wechsel bestimmt, nämlich als bleibende Virulenz der Versuchung. In 7,1–6 schließlich hatte Paulus den Wechsel des Lebens und Lebenssubjekts noch einmal hinsichtlich der Frage aufgegriffen, ob das Gesetz Gottes im Leben der Getauften noch eine Bedeutung hat, wenn doch der alte Mensch (der Mensch für sich, als Adressat des Gesetzes) tot ist. Nun führt Paulus zur weiteren Konkretisierung im Anschluss an 7,5 f. zunächst im Rückblick die Bedeutung des Gesetzes Gottes für das Leben im Gesetz der Sünde breit aus, um dann ab 8,1 ff. die Freiheit davon, die Erlösung auszuführen. 200  Eine mögliche textkritische Variante: „ich weiß“: vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 85 f.; M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 440 Anm. 2.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Die Wirkungsgeschichte dieses Textes ist über fast die gesamte christliche Theologiegeschichte immens.201 Die erste Grundfrage dabei war und ist, ob die in 7,14 ff. beschriebene Selbstentzweiung oder der Selbstwiderspruch des Menschen, der durch das Gesetz das Gute erkennt, aber nicht tun kann, für den alten Menschen vor Taufe, Glauben bzw. Christusgemeinschaft gilt (so die heute überwiegende, aber auch schon in der Alten Kirche vertretene Auffassung202), oder ob sie für den Christen gilt, sofern sich die Sünde in ihm zeitlebens wiederherstellt und er deshalb erneut der Selbsterkenntnis durch das Gesetz und der Rechtfertigung bedarf. So etwa (in allerdings recht unterschiedlicher Weise) Origenes, der spätere Augustinus und auch Luther, der im Unterschied zu Paulus annimmt, dass sich auch im christlichen Leben trotz Taufe und Vergebung die Grundstruktur der Sünde auf der Basis des Fürsichseins immer wieder herstellt – dass der Konflikt also nicht nur an einer anfänglichen Schwäche des Glaubens liegt (so Origenes), sondern die bleibende Auseinandersetzung zwischen dem Fürsichleben überhaupt und dem Geist der Gemeinschaft Christi überhaupt bedeutet.

Auch wenn wahrscheinlich ist, dass Paulus hier das Leben vor Taufe und Glauben in den Blick nimmt, so schließt das allerdings nicht die systematische Möglichkeit aus, seine Analyse auch auf die Tatsache zu beziehen, dass auch Getaufte sich als von der Sünde, vom Fürsichleben beherrscht wiederfinden – und zwar eben dann, wenn sie sich durch die Konfrontation mit dem Anspruch (Gesetz) Gottes selbst erkennen. Das impliziert dann aber die Möglichkeit und Notwendigkeit, die im Sinne des Paulus alte Identität und die neue in Christus als im Gläubigen sich widerstreitende Identitäten zu denken.203 Eine zweite Grundfrage ist, wie das Ich, das wiederholt betonte ἐγὼ in diesem Text zu verstehen ist – als Ich des Paulus oder als allgemeinmenschliches Ich, als jüdisches (vor- oder nichtchristliches) Ich unter dem Gesetz oder eben (im Sinne der ersten Grundfrage) als christliches Ich. Vorab gesagt: wie auch in Gal. 2,16–20 ist hier das paulinische Ich zugleich als allgemeines zu verstehen – sonst wäre die Ausführung weitgehend irrelevant. Dieses allgemeine Ich aber ist hier konkreter das, welches sich mit dem Gesetz Gottes konfrontiert weiß, das ihm die Gefangenschaft in der Sünde zu erkennen gibt. Das heißt, als Ich des Sündenlebens ist es für Paulus adamitisch oder allgemeinmenschlich, als die Sünde erkennendes aber ist es eben ein Ich, dem das Gesetz Gottes (als Tora) verkündigt ist oder vielleicht auch ein Ich, das ein der Tora entsprechendes Gesetz mit der Vernunft realisiert (vgl. 7,23–25 mit 2,24 f.). 201  Zur Einführung vgl. G. Wenz, Sünde, Göttingen 2013, S. 43–50. Zur Wirkungs- und Auslegungsgeschichte U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 101–117; J. Schröter, Der Mensch zwischen Wollen und Tun, S. 199–207. 202  Ihre aktuelle Argumentation geht auf Überlegungen schon bei Bultmann und Kümmel zurück (vgl. J. Schröter, a. a. O., S. 201 f.). 203  Dazu weiter S. 160 f.



c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38

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Es ergibt sich die weitere Grundfrage: Wie verhält sich das die Macht der Sünde erkennende und so durch das Gesetz den Tod als seine Wahrheit realisierende Ich zum ‚gestorbenen‘, absoluten Ich des ohne das Gesetz ungebrochenen Sündenlebens?

Die Verse 7–11 bestimmen, stilisiert als biografischer Rückblick, die Bedeutung des Gesetzes für das Leben, das in der Struktur der Sünde befangen ist. Die Verse 12–13 ziehen die Schlussfolgerung: Das Gesetz ist heilig und gut, die Sünde lässt es aber als Medium erscheinen, das ihre Herrschaft offenbart und für das Ich in Kraft setzt – so dass durch das Gesetz die Todeswahrheit der Sünde realisiert wird. Die Verse 14–20 reden immer noch in der 1. Person, aber nicht mehr im ausdrücklichen Rückblick, sondern als systematische Analyse der durch das Gesetz gegebenen Selbstentzweiung des Menschen (man könnte auch von einem Selbstwiderspruch reden) unter der Sünde, der Entzweiung zwischen dem am Gesetz orientierten Willen oder Wollen und dem vom ‚fleischlichen‘ Fürsichselbstleben bestimmten Tun (das ein entsprechendes Wollen impliziert). Die Verse 21–24 und 25b fassen dies wiederum zusammen: Das Gesetz der Sünde in mir widerspricht dem Gesetz Gottes, das ich vernünftig einsehe – eine Entzweiung, die in den Ruf nach Erlösung einmündet. Unterbrochen ist diese Zusammenfassung in Vers 25a durch den unvermittelten Dank für die geschehene Erlösung, die dann in Kap. 8 als Theologie des Geistes entfaltet wird. 7 Die Getauften, mit Christus Gestorbenen, sich auf Christus Verlassenden, die in seinem Tod die Nichtigkeit ihres Fürsichlebens realisiert haben, sind frei vom Gesetz (Vers 6). Aber wieso ist es gut und gottgewollt, frei vom Gesetz zu sein? Der Sinn des Gesetzes ist doch göttlich und gut. Doch wenn erst das Gesetz zur Konsequenz des Todesurteils, zur Wahrheit des Todes führt, wenn erst das Gesetz das falsche Begehren als solches realisiert, das die Herrschaft der Sünde kennzeichnet (vgl. 7,5), dann scheinen Gesetz und Sünde als Unheilszusammenhang garnicht mehr unterschieden. Eben dieser Fehlinterpretation ist durch eine genaue, insbesondere 3,20 f. und 5,20 f. aufgreifende Analyse dessen zu widersprechen, wie sich die Sündenstruktur und das Wissen um das Gesetz im und für das Subjekt des verkehrten Lebens zueinander verhalten. Der genannten Fehlinterpretation entspricht eine andere mögliche Fehlinterpretation der paulinischen Auffassung von der Rechtfertigung der Gottlosen aus Gnade und durch Glaube, von der in 6,1 und 6,15 (vgl. auch 3,5–8) die Rede war: Es ist nicht so, dass die Freiheit vom Gesetz, die Taufe, Rechtfertigung und Glauben an Christus bedeuten, Freiheit zur Sünde wäre – dass aus ihr erneut Sünde oder gar mehr Sünde folgt.

Die Sünde impliziert nicht schon ihre Erkenntnis, das Bewusstsein einer Verkehrung. Im Gegenteil ist anzunehmen, dass mit ihr zunächst gerade das Selbstverständnis des guten Lebens verbunden ist. Jedenfalls ist schon nach Gen. 3 die das Gottesverhältnis ausblendende ausschließende Selbstbestimmung mit dem Moment der Lust verbunden, wie es ja auch der Befriedigung des Begehrens des Fürsichgebrauchens zuzuschreiben ist.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Inwiefern dies mit dem Betrug der Sünde als Selbstbetrug zusammenzudenken ist, der über den Widerspruch zum göttlichen Gebot hinwegtäuscht, ist im Zusammenhang von Vers 11 zu bedenken.

Die Sünde wird erst erkannt, indem ihr das Gesetz Gottes widerspricht und vom wirklichen, aber verkehrten Leben das geforderte wahre Leben unterscheidet. Wenn Paulus dabei in einer verkürzten, pauschalisierenden Gestalt aus der Tora (Ex. 20,17; Dtn. 5,21) das Verbot des verkehrten Begehrens aufruft, so entspricht das einer im jüdischen Hellenismus nicht unüblichen Interpretation der Tora, die bereits dahin tendiert, einen einheitlichen inneren Grund der Sünden und ihren Herrschaftscharakter herauszustellen.204 Das Verbot kennzeichnet „den Inhalt von Gottes Gebot an sich“ – das Begehren „als die Grundsünde, die dem Gesetz Gottes entgegensteht“.205

Erst durch das im Namen Gottes ausgesprochene Verbot des verkehrten Begehrens, das Menschen und Dinge zu Medien des Fürsichlebens macht, wird das verkehrte Begehren als solches, seine Verkehrtheit erkannt, nämlich als das, was der wahren, göttlichen Bestimmung des Menschen – zur Gemeinschaft – widerspricht. Insofern entspricht dem Verbot als Gebot die dann in 13,8 f. zitierte andere Zusammenfassung, den Nächsten zu lieben wie sich selbst. 8–10 Paulus sagt aber nicht nur, dass durch das Gesetz die Sünde erkannt wird. Sondern die Sünde gebraucht das Gebot (im Unterschied zur allgemeinen Bedeutung des Gesetzes ist hier nun das konkrete Gebot gemeint) als Mittel, das ihre Wirklichkeit steigert (sie lebt auf, kann sich als Sünde, als herrschendes Prinzip des Lebens beweisen) oder das sie überhaupt erst als Verkehrtheit wirklich werden lässt: Die Sünde bewirkt durch das Gebot die verkehrten Begierden. Das heißt: Erst durch das Aussprechen der Verkehrtheit kann sie sich als herrschendes Prinzip beweisen – indem nun die verkehrten Begierden das Ich, das sich des Gesetzes oder Gebotes bewusst ist, konfrontieren und sich darin (wie die Verse 14 ff. ausführen) die Sünde gegenüber dem erkennenden Ich durchsetzt, also aktualisiert. Die Sünde ist ja auch vor dem Hinzutreten des Gebotes und ihrem ‚Aufleben‘ wirklich – sonst könnte sie nicht das Gebot zum Anlass nehmen. Aber erst durch das Gebot treten die das Leben verkehrenden Begierden für das Ich in Kraft, indem sie ihm in seinem Bewusstsein des Gebotenen widersprechen. Die Frage ist, ob und inwieweit hier die vermutlich allgemeinmenschliche Beobachtung von Bedeutung ist, dass gerade das Verbotene lockt.206 Die Begründung dafür kann darin gesehen werden, dass das autoritative Setzen einer – an sich sinnvollen – Grenze des Verhaltens durch den Anderen (der die ältere Autorität darstellt), und sei es eben auch zum Schutz, erst die Möglichkeit der Grenzüberschreitung als Freiheitsmöglichkeit, Möglichkeit der Selbstbestimmung, bewusst macht. So ließe sich im Blick auf Gen. 3 sagen, dass hier dem vor dem Tod schützenden Verbot, die Grenze von Gut und Böse zu 204 

Diskussion und Belege bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 430 f. J. Schröter, Der Mensch zwischen Wollen und Tun, S. 211 f. 206  Schöne antike Belege bietet M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 433 f. 205 



c)  Das neue Leben aus der Rechtfertigung: 5,1–8,38

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überschreiten und selbst darüber zu richten, eben die Versuchung entspricht, dies zu tun und zu sein wie Gott.   Doch dass das Verbot die Sünde allererst provoziert, meint Paulus hier ja nicht. Vielmehr setzt er sie voraus. Hier entsteht in der Übertretung des Gebotes nicht die Sünde, sondern das Gebot offenbart dem es anerkennenden Ich die Sünde als herrschende Lebensstruktur.

Ohne das Gesetz waren Ich und Sünde ein Wollen und Leben. Erst das Gesetz bringt die Herrschaft der Sünde über das Ich, den Suchtcharakter des verkehrten Begehrens zur Geltung – es bewirkt den Widerspruch zwischen dem verkehrtem Begehren, dem ich nachgeben muss, und dem das Gesetz verstehenden Ich. Das Ich muss realisieren, dass es nur scheinbar sein Leben bestimmt. Die entsprechende Struktur des Fürsichlebens und Für-sich-Gebrauchens ist freilich auch vorher schon gegeben. Das ist aber nicht so zu verstehen, dass das entsprechende Leben ohne den Widerspruch des Gesetzes einfach ein selbstverständliches, sozusagen tierisches Nachsichselbstleben wäre  – dass also erst durch das Gesetz (und gleichursprünglich das damit gegebene Gottesverhältnis) der Mensch eine Alternative hat und dadurch auch erst zum Sünder werden kann. Wie gesagt: dass der Mensch zum Gottesverhältnis bestimmt ist und (in Gestalt Adams) zum Sünder geworden ist, also ein ursprüngliches Gottesverhältnis und auch das dazu gehörige Bewusstsein des von Gott Gebotenen verloren hat, setzt Paulus voraus. Offensichtlich ist er nicht der Auffassung, dass erst das Gesetz Gottes im Sinn der Tora den Menschen vor Gott und die Entscheidung der Sünde stellt (oder gar erst das sich entscheidende Ich realisiert). Das zeigt sich auch darin, dass seiner Auffassung nach der Widerspruch des Gesetzes, wie es Israel in der Geschichte durch die Tora gegeben ist, jedenfalls teilweise durch ein allgemeinmenschliches Bewusstsein des Gebotenen realisiert werden kann, das einer ursprünglichen, vernünftigen Gotteserkentnis auch bei den Heiden entspricht.207 (Ob und inwiefern auch die Verse 23.25 in diesem Sinn zu interpretieren sind, wird noch zu diskutieren sein.)

Wie ist dann aber das Leben ohne Gesetz („Ich lebte einst ohne Gesetz“) und das ‚Kommen‘ des Gebotes zu verstehen? Das erzählende Ich lässt sich hier zum einen biografisch, also auf die Lebensgeschichte des Individuums bezogen verstehen  – und zwar die Lebensgeschichte jedes Menschen betreffend. Zum anderen lässt es sich auch als kollektives Ich verstehen, das die allgemeine Geschichte erzählt (etwa im Sinn des Gedankens, dass die Menschheit früher in der Geschichte ohne Gesetz lebte). Die Bedeutung des allgemeinen, kollektiven Ich ist dabei die ursprüngliche. Dass die Sünde durch „Adam“ allgemeine Wirklichkeit geworden ist, heißt, dass die Menschheit mit der ursprünglichen Gemeinschaft auch das ursprüngliche Bewusstsein des Gebotenen verlor oder verleugnete. Erst als Israel durch Mose die Tora gegeben wurde (vgl. 5,13), kam es erneut zum Widerspruch zwischen dem verkehrten Begehren und dem Ich: 207  Vgl. 1,19 f. (die vernünftige Gotteserkenntnis der Heiden), 2,14 f.: das Gesetz ist ihnen – den Heiden – ins Herz geschrieben.

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2.  Allgemeine Sünde und allgemeines Heil: 1,18–8,39

Die Sünde wurde als Sünde ausgesprochen und bewusst – bei den Heiden kann dem ein vernünftiges Bewusstsein des Gesetzes teilweise entsprechen. In der individuellen Lebensgeschichte aber entspricht dem allgemeinen Auftreten des Gesetzes der Zeitpunkt, zu dem ein Mensch ursprünglich mit dem Gesetz, dem Anspruch Gottes konfrontiert wird.208

Dass die Sünde ohne das Gesetz tot ist, aber durch das Gebot auflebt (Vers 8 und 9), heißt also wie gesagt, dass sie erst durch das Gebot dem Ich ihre Wirklichkeit beweist; zuvor gab es keinen Widerspruch zwischem dem in Wahrheit verkehrten Leben und seinem Subjekt. Eben das aber, dass sich die Sünde dem Ich, welches das Gesetz Gottes versteht, als herrschendes Lebensprinzip beweist, offenbart ihm den Tod als Wahrheit seines Lebens vor Gott – die Getrenntheit von Gott, den Gegensatz der Gemeinschaft, die das wahre Leben ist. Als das Gesetz widersprach und „ich“ es verstand, erwies sich die Sünde darin, dass sie statt des Ich des „ich lebe“ das Leben bestimmt. Das aber bedeutet für es den Tod: „die Sünde lebte auf, ich aber starb“. Gerade, indem das Gesetz das wahre Leben fordert209, realisiert es den Tod als Wahrheit des wirklichen Lebens. Es bringt sein Subjekt (ich) zur Selbsterkenntnis: Ich bin in Wahrheit tot und machtlos, die Sünde (das verkehrte Begehren, die Süchte der Selbstsorge) beherrschen mich – ich bin von Gott getrennt und verurteilt. Vergleicht man das durch den Widerspruch des Gesetzes vermittelte Sterben des Ich mit der Schlüsselpassage Gal. 2,19 („ich bin durch das Gesetz dem Gesetz gestorben […] ich bin mit Christus gekreuzigt“), so ist festzuhalten, dass im Rückblick von 7,10–13 noch nicht vom Mitgekreuzigtsein mit Christus durch Glaube und Taufe die Rede ist, wohl aber von der Selbsterkenntnis, die den geistlichen Tod der Sünde realisiert. Diese Realisierung ist dann als ein Moment des Mitsterbens mit Christus in Taufe und Glauben zu verstehen, also Bedingung des neuen Lebens. Das Getötetsein, das noch nicht Mitgekreuzigtsein mit Christus ist, ist sozusagen die reine Entzweiung des Ich im Gegenüber zur Unmittelbarkeit des Lebens in der Sünde.

11–13 Das Gebot zielt auf das Leben: Es fordert, indem es dem verkehrten Begehren, dem Fürsichleben widerspricht, das wahre Leben, welches sich in der Liebe Gottes und der Menschen erfüllt. Insofern ist das Gesetz heilig, gerecht und gut, d. h. es ist ein Wirken des heiligen, gerechten und guten Gottes.210 So ist es auch nicht das Gesetz, das tötet, sondern die Sünde. Aber was bedeutet, dass dies durch das Gesetz oder Gebot geschieht? Dass die Sünde durch das Gebot die Gelegenheit ergriff und mich betrog, lässt sich zum einen auf die ursprüngliche Sünde „Adams“ beziehen – Gen. 3 klingt hier an. Insofern wäre 208  Es ist zu überlegen, ob auf der Ebene der Lebensgeschichte des Individuums dies nicht mit dem Ichbewusstsein überhaupt und seiner Fähigkeit zur Sünde bzw. seiner Teilhabe an einer kollektiven Lebensstruktur der Sünde zusammenfallen kann. 209  Vgl. Lev. 18,5: der Mensch, der es tut, wird dadurch leben – zitiert in Röm. 10,5. 210  Zur Gebräuchlichkeit dieser Trias und ihrer Bedeutung als dreifaches Gottesprädikat M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 439 f.



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das Ich menschheitlich-allgemein zu verstehen und eine ursprüngliche Gottesgemeinschaft vorausgesetzt. Der Betrug der Sünde lässt sich aber zum anderen auch auf die individuelle Aktualisierung der Sünde beziehen, die ihre allgemeine Macht bereits voraussetzt. Beide Möglichkeiten vereinen sich am Besten, wenn die individuelle Aktualisierung der Sünde als eine verstanden wird, die bestimmte Bedingungen des ursprünglichen Sündenfalls wiederholt  – nämlich eben die, die im Verhältnis zwischen Gebot und Sünde liegen. Die Sünde nimmt das Gebot als Gelegenheit, mich zu betrügen, so wie die Schlange, die die innere Stimme der Versuchung des Fürsichlebens mythisch vorstellt. Im Moment der Versuchung widerspricht sie dem Gebot Gottes und verspricht bei Übertretung die göttliche Autonomie gesteigerten Lebens. Dabei täuscht sie das Ich über die Wahrheit des Gebotes, nämlich über die Konsequenz der Übertretung, Leben und Tod betreffend.211 Es ließe sich auch sagen: das Ich täuscht sich selber, oder im Fall der bereits vorauszusetzenden Macht des Fürsichlebens: das Fürsichleben täuscht sein Ich. Dieser Betrug ist konstitutiv für die Sünde – das Ich täuscht sich (betrügt sich) in dem Moment, in dem es der Versuchung des Fürsichlebens, für sich Gebrauchens nachgibt, über den Tod als Wahrheit dessen. Das gilt auch, sofern nun nicht mehr eigentlich (wie im Fall „Adams“) von der Versuchung zur Sünde die Rede sein kann, sondern das Ich der Sünde gegen das Gesetz bzw. Gebot nachgeben muss, weil dies die Struktur seiner Identität ist – das Gesetz der Weise, wie der Mensch im Verhältnis zum Anderen mit sich identisch ist (dazu gleich die Verse 14 ff.).

Doch geht Paulus eben auch von der Wirklichkeit des Gesetzes aus, das gegen den Betrug der Sünde die Sünde als solche offenbart und damit die Wahrheit des Todes durchsetzt – als Wahrheit der Selbsterkenntnis in der Nichtigkeit und Getrenntheit, deren Endgültigkeit mit dem Ende des leiblichen Lebens kommt. Dass das Gesetz die Sünde als Sünde offenbart und den Tod als ihre Wahrheit für mich realisiert  – das ist die potenzierte Wirklichkeit der Sünde (ihr ‚Übermaß‘: Vers 13), der Selbstwiderspruch des Lebens überhaupt.

14 (und ff.) Dieser Vers lässt sich entweder als Konsequenz des Gesagten auffassen oder als Überschrift für die folgende Analyse der entscheidenden Selbstentzweiung des Menschen in der Sünde, die das Gesetz in Kraft setzt. Dabei fällt auf, dass Paulus hier und insgesamt in den Versen 14–23 ins Präsens wechselt, während er vorher die Vergangenheitsform gebrauchte. Vermutlich ist dies nur ein stilistisches Mittel. Es verdeutlicht, dass zunächst das Verhältnis von Sünde und Gesetz als dynamisches Geschehen erzählt wurde, in der sich Sünde und Todeswahrheit ursprünglich konstituieren – kollektiv adamitisch, aber zugleich auch immer wieder. Nun aber geht 211  J. Schröter, Der Mensch zwischen Wollen und Tun, S. 214–217 zeigt, dass es einen teilweise vergleichbaren Zusammenhang in der griechischen Tragödie gibt, der z. Zt. des Paulus etwa von Ovid und Seneca (sowie später von Epiktet) rezipiert wurde – der Betrug besteht hier in der Selbsttäuschung darüber, was wirklich zuträglich und gut ist.

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es um die Analyse der gegebenen Lebenswirklichkeit der Sünde für das Ich, welches sie durch das Gesetz erkennt.   Der Tempuswechsel konnte aber auch als ein Argument für das Verständnis verwandt werden, die Selbstentzweiung oder den Selbstwiderspruch, den das Ich erfährt, nicht als vorchristliche Situation, sondern als Problem des Christen zu verstehen.212   Wie oben schon angedeutet – die Weise, wie Paulus insgesamt die Rechtfertigung aus Glauben, die Taufe als Mitsterben des alten Menschen mit Christus denkt, zeigt, dass nach seinem Verständnis im entsprechenden Geist der Gemeinschaft Christi der hier geschilderte Selbstwiderspruch des Menschen, dessen Ich sich durch das Gesetz Gottes im Gesetz der Sünde gefangen erfährt, prinzipiell überwunden ist – auch wenn immer wieder zur Selbstentsprechung zu ermahnen ist, weil sich die Versuchung des Fürsichseins wieder herstellt. Paulus beschreibt also nicht wie etwa Luther eine zur Existenz des Glaubenden gehörige, bleibende Auseinandersetzung mit dem alten Menschen.   Entspricht also die römisch-katholische Sünden- und Rechtfertigungslehre Paulus besser als die lutherische – die Erbsünde ist mit der Taufe getilgt und es bleibt nur die Versuchung, die der Mensch mit Hilfe der Gnade jedoch bestehen kann und so an seiner endgültigen Rechtfertigung mitwirkt?   Hier sind zunächst eine hermeneutische und eine sachliche Überlegung in Anschlag zu bringen. Die hermeneutische Überlegung: anders als für Paulus ist für die nachfolgende Kirche der Verstehenskontext des Evangeliums immer schon vorausgesetzt. Das heißt, lebensgeschichtlich vom Gesetz und seiner Offenbarung der Sündenmacht ohne den weiteren oder engeren Zusammenhang mit der Verkündigung des Evangeliums und dem Getauftsein zu reden, hat für die nachfolgende Kirche keinen Sitz im Leben – für Paulus als frommen Juden vor seiner Bekehrung dagegen schon. Außerdem ist anzunehmen (das ist die sachliche Überlegung), dass sich die Erfahrung der Sünde in der Kirche in ihrer Geschichte auch verändert. In der Konsequenz ergibt sich, dass es sinnvoll möglich ist, den paulinischen Rückblick auf eine vorchristlich jüdische Selbsterkenntnis durch das Gesetz auch als christliche Selbsterkenntnis in der Macht der Sünde zu reformulieren. Die Analyse der vom Gesetz Gottes vermittelten Selbstentzweiung des Sünders lässt sich ohne weiteres systematisch so reformulieren, dass sie mit der Erfahrung der Macht der Sünde auch im christlichen Leben zusammengeht: Nicht nur bei Getauften ohne Glauben, sondern vor allem auch bei Menschen, die sich im Ganzen als an Christus Glaubende verstehen, finden sich Unglauben, Gottlosigkeit und ein Gefangensein in der Grundstruktur der Sünde. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass sich mit dem Fürsichsein auch die Versuchung, es festzuhalten, immer wieder herstellt. Das heißt, dass sich auch im Glaubenden, also einem Menschen, der seine herrschende Identität im Sichverlassen auf Gott findet, die Lebensstruktur der Sünde findet – wenn auch im Widerspruch zum mehr oder weniger durchgängigen Bewusstsein des Anspruchs Gottes und eben des Evangeliums Gottes. Sofern auch im Leben des Glaubenden immer wieder das Prinzip verkehrter Selbstsorge und Konkupiszenz der Identität in Christus widerspricht, muss ihn der Widerspruch Gottes (Luther: die Predigt des Gesetzes) auch immer wieder zur 212 Ein weiteres, gewichtiges Argument dafür ist, dass auch gemäß 8,23 der Geist im Menschen nur als Anfang zu verstehen ist, für den die Erlösung des Leibes, nach der hier in 7,24 gerufen wird, noch bevorsteht. Doch ist nicht zwingend, dass sich diese Erlösung auf eine verbleibende oder sich wiederherstellende Macht der Sündenstruktur bezieht. Sie könnte sich auch auf die erwartete Endgültigkeit der Erlösung beziehen, die auch die mit der sterblichen Existenz stets gegebene Versuchung einschließt. Oder der Ruf nach Erlösung fasst in dramatischer Zuspitzung einfach die Selbstentzweiung in der Selbsterkenntnis zusammen.



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Selbsterkenntnis bringen, und immer wieder bedarf er der Zusage des Evangeliums von der Rechtfertigung aus Glauben – um mit sich als Getaufter und Glaubender identisch zu sein. Im Glauben aber, im Sichverlassen, durch das ‚Christus in mir lebt‘, ist die Macht der Sünde überwunden und „die Liebe Gottes ausgegossen in unsere Herzen durch den heiligen Geist“ (5,5 – zum Bestimmtsein vom Geist vgl. weiter 8,1 ff.).

Nun weiter zu Vers 14. Das Gesetz ist geistlich – indem es von Gott ist, zielt es auf die Gemeinschaft mit ihm. Doch als Forderung dieser Gemeinschaft führt es den Sünder, indem es ihm widerspricht, nur zur Selbsterkenntnis. Die Selbsterkenntnis ist die göttliche, notwendige Voraussetzung dieser Gemeinschaft  – also die Voraussetzung dafür, dass der heilige Geist der in Christus Wirklichkeit gewordenen Gemeinschaft diese durch ihre Verkündigung (die Verkündigung der Rechtfertigung in Christus) und Glauben auch für uns Wirklichkeit werden lässt. „Ich aber bin fleischlich“  – das heißt, das Gesetz bringt seine geistliche Wahrheit gegen mein Fleischlichsein zur Geltung, indem es mich darin zur Selbsterkenntnis vor Gott bringt. Dabei ist das Fleischlichsein nicht zwingend gleichbedeutend mit dem unter die Sünde Verkauftsein. Es kann für sich genommen auch heißen, dass ich als leiblich geschöpflicher Mensch der Macht der Sünde ausgesetzt bin und unterliege.

Doch unter der Voraussetzung der (kollektiven, adamitischen) Macht der Sünde ist mein Leben faktisch unter die Sünde verkauft, ich gehöre ihr – ich kann mich ihr nicht entziehen, ihre Struktur bestimmt mein Leben, ich unterliege den entsprechenden Süchten des Fürmichlebens und -gebrauchens. Kurz: Die Sünde ist Gesetz meines Lebens (so dann Vers 23). Das aber realisiere ich, indem ich mit dem geistlichen Sinn des Gesetzes Gottes konfrontiert bin. Das heißt nun, ich bin zum einen der das Leben Lebende überhaupt, aber zum anderen in Distanz zu meinem Leben: Ich erkenne durch das Gesetz mein Leben als unfrei, als in Sünde und Tod gefangen. 15–17 Die Selbstentzweiung des in der Sünde gefangenen Menschen, die das Gesetz bewirkt (sonst wäre der Sünder mit sich eins), stellt sich weiter so dar: Das erkennende, denkende und als solches wollende Ich erkennt das Gesetz Gottes als gut an – und will es also auch tun. Paulus redet also von einer Lebenssituation, in der der Mensch Gott als Gott anerkennt – als Schöpfer und Gesetzgeber und auch Richter. Er unterwirft sich dem Anspruch Gottes, dem Urteil des Gesetzes.213 Doch ist gerade dieser Mensch in seiner Lebenswirklichkeit selbst zerspalten: Das Ich tut, was es hasst – im Moment des Bewusstseins der geistlichen Wahrheit des Gesetzes findet es sich von der Sünde fremdbestimmt. Sie widerspricht seinem Wollen und überwindet es durch ihr Begehren. Das heißt (ohne dass 213  Ob und inwiefern dies auf die ihm verkündigte, geschichtlich gegebene Tora beschränkt ist oder inwiefern es auch eine allgemeine Vernunft realisiert, ist noch einmal im Zusammenhang von Vers 23 zu erörtern.

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Paulus das so expliziert), das Wollen der Sünde (des suchtmäßigen Gebrauchens des Anderen für sich) überwindet das Wollen im Sinne des erkannten Gesetzes Gottes und bestimmt das praktische Leben. Vielleicht ist dabei noch einmal das Motiv des Betruges oder Selbstbetruges aus Vers 11 aufzugreifen. Das hieße dann: Obwohl ich im Wollen (nicht im Tun) das Gesetz als gut anerkenne, realisiere ich doch im Moment des dem Begehren Nachgebens nicht, dass dies in Wahrheit den Tod bewirkt – so ließe sich der Satz verstehen: „was ich bewirke, weiß ich nicht“, nämlich im Rückgriff auf Vers 13, die Sünde bewirkte den Tod.214

In negativer Entsprechung zu Gal. 2,19 f. („Christus lebt in mir“) heißt das: Nicht das Ich, das durchs Gesetz sein Lebensprinzip erkennt und verneint, ist das eigentliche, herrschende Subjekt seines Lebens oder Tuns, sondern die es bestimmende („in mir wohnende“) Sünde. Doch ist die Sünde keine andere Person, sondern eben das zwingende Lebensprinzip desselben Ich (seine Weise, mit sich identisch zu sein). Dieses Ich erkennt durch das Gesetz seine in der herrschenden Sünde begründete Ohnmacht, das Gesetz zu erfüllen (sein Lebensprimzip zu ändern), und doch ist es das Ich eben dieses Lebens, das die Sünde bestimmt. Ist im Sinne des Sprachgebrauchs von Gal. 2,19 f. schon in dieser Selbstentzweiung das alte Ich „durch das Gesetz gestorben“? Ja und nein. Ja, indem es seine Todeswahrheit erkennt. Nein, indem es weiter sündigt – davon befreit erst das mit Christus Gestorbensein, indem es im Sinne der Taufe und Begabung mit dem Geist der Gemeinschaft Christi eine Wiedergeburt bedeutet.

18–20 Die Verse 18–20 sagen dasselbe noch einmal. Das reflektierende „Ich“ erkennt vor Gott sich selbst, sein eigenes Leben unter der bleibenden Macht der Verkehrung – das Ich als Verzweiflung! Das Ich ist entzweit in das, was reflektiert oder erkennt, und das, was es reflektiert oder erkennt – das, in dem (in dessen Fleisch, d. h. Selbstsein, Lebenswirklichkeit) die Sünde wohnt und wirkt. Die Sünde als Prinzip meines mit mir Identischseins beherrscht mein Leben und bestimmt mein Handeln, obwohl ich die Verkehrung erkenne, den Anspruch Gottes anerkenne, also das Gute (ein Leben für die Liebe Gottes und der Menschen) will. Ebenso wie ich die Verkehrung erkenne, bin doch ich es, in dem die Sünde herrscht und der sie tut. Zum einen erkenne ich durch den Anspruch Gottes das unwahre Leben und will das wahre Leben, das Gott fordert, aber zum anderen muss ich das unwahre Leben leben. Es ließe sich auch von einem sich widersprechenden Wollen reden: Das Wollen im Moment der Selbsterkenntnis vor Gott widerspricht dem Wollen der Sünde in mir.215 Die ‚in mir 214  Eine andere Möglichkeit bietet M. Wolter an, wenn er statt ‚ich weiß es nicht‘ im Sinne von ‚ich heiße es nicht gut‘ übersetzt (Der Brief an die Römer 1, S. 446 f.). Damit ist aber die Übereinstimmung mit Vers 13 nicht beachtet (andererseits ist auch in den Versen 17 f. und 20 vom Bewirken die Rede). 215  P.‑G. Klumbies, Gott und Freiheit nach Röm 5–7, S. 54 redet dagegen von der Unmöglichkeit des guten Willens, sich durchzusetzen.



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wohnende‘ Sünde bezeichnet das Prinzip, in dem ich im Verhältnis zu den Dingen und Menschen mit mir identisch bin, nämlich indem ich sie für mich gebrauche. Im Moment der Selbsterkenntnis vor Gott erkenne ich zwar krisenhaft die Nichtigkeit dieses Wollens oder dieser Identität, z. B. die Nichtigkeit des Beherrschtseins von den begehrten oder verehrten Götzen, die mir Identität vermitteln. Ich erkenne vor Gott den Selbstwiderspruch meines (Für-mich-)Lebens, nämlich den Tod als seine Wahrheit. Doch ergibt sich daraus keine Alternative. Die Sünde bleibt das Prinzip meiner Identität  – jedenfalls so lange, bis aus dem Mitsterben mit Christus die Gemeinschaft Christi, das Sein in Christus oder Leben Christi in mir, als neue Identität hervorgeht.   Als ein Beispiel kann hier der reiche Jüngling gelten (Mt. 19,16–26par.): Durch die Forderung des wahren Lebens erkennt er sich selbst – er müsste den Reichtum als seinen Götzen, in dem er seine Identität findet, aufgeben und in der Hingabe nachfolgen. Doch indem er darin eben seine Identität findet, kann er es nicht.

21–23 Nun kommt es zu einer wichtigen begrifflichen Näherbestimmung der Sünde. Paulus verwendet den Begriff des Gesetzes nun auch für die Sünde. Das Gesetz Gottes widerspricht mir von außen – indem es mich mit dem Prinzip, der göttlichen Notwendigkeit des wahren Lebens konfrontiert, die ich aber verfehle, offenbart es das Gesetz der Sünde, also das Prinzip und die innere Notwendigkeit des unwahren Lebens. Die Rede vom Gesetz im Sinne von Notwendigkeit (insbesondere auch des Handelns) oder Prinzip findet sich sonst bei Paulus nicht. Die Bedeutung ist aber klar: Die Sünde ist das „Gesetz in meinen Gliedern“ (Vers 23), das widergöttliche Prinzip meines Lebens. Dieses Gesetz der Sünde finde ich in mir, indem das Gesetz Gottes es als gegensätzliche Notwendigkeit spiegelt. Dabei stimmt der „innere Mensch“ dem Gesetz Gottes zu, also eben das erkennende, vom Gesetz Gottes angesprochene und es auch in seinem geistlichen Sinn verstehende Ich. Doch die Selbsterkenntnis, die es bedeutet, zeigt das „andere Gesetz“ meines Lebens, das Gesetz der Sünde. Durch das Gesetz Gottes erkenne ich, der innere Mensch, mich als unfrei, ohnmächtig, gefangen in der verkehrten Struktur meines Lebens (vgl. oben zu 6,16–22). Alle Verhältnisse meines Lebens unterliegen dem Gesetz des Fürsichlebens; sie sind Funktionen meiner Identität, die das Gottesverhältnis ersetzen. Vom inneren Menschen redet Paulus auch 2. Kor. 4,16, und zwar im Blick auf eine Spannung der christlichen Existenz: Der äußere Mensch verfällt, aber der innere wird fortschreitend erneuert. Das heißt, die (liebende) Hingabe der zeitlich leiblichen Existenz bedeutet, dass der innere Mensch Teil an Christus, am ewigen Leben seiner Gemeinschaft gewinnt.216 Doch anders als dort ist hier in Röm. 7 der innere Mensch, der das geistliche Gesetz Gottes versteht (Vers 14), noch reduziert auf die Selbsterkenntnis im Moment des 216  Vgl. auch entsprechend Eph. 3,16: Der Apostel bittet für die Gemeinde, dass sie durch Gottes Geist stark werde am inneren Menschen. – Zur Wirkungsgeschichte der Rede vom inneren Menschen gehört nicht zuletzt M. Luthers Hauptschrift von 1520, „Von der Freiheit eines Chistenmenschen“, in der er einen neuen, inneren Menschen von dem leiblichen, alten, äußeren Menschen unterscheidet. Der innere Mensch ist durch den Glaube frei von Sünde, Tod und Gesetz, der äußere Mensch aber muss dazu gebracht werden, dem inneren zu ent-

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Gefangenseins. Im Grunde konstituiert hier die Selbsterkenntnis durch das Gesetz Gottes den inneren Menschen. Die Wahrheit seiner Innerlichkeit, die zugleich die Wahrheit des Gesetzes Gottes ist, bleibt ihm äußerlich.   Mit seiner Rede vom inneren Menschen, der entweder ohnmächtig, leer und von seinem wirklichen Leben unter der Sünde entzweit ist, oder aber in der Christusgemeinschaft erbaut wird, knüpft Paulus an eine schon auf Platon zurückgehende griechisch philosophische Redeweise und Diskussion der Zeit an – insbesondere auch, wenn diesem inneren Menschen das Gesetz der Vernunft zugeordnet erscheint. Zu der prominenten hellenistischen Frage, inwiefern der innere Mensch, der im Denken, Erkennen, in der Vernunfteinsicht bestimmte Mensch das äußere (leiblich sinnliche) Leben bestimmt oder bestimmen soll oder bestimmen kann217, trägt Paulus hier eine radikale These vor.

Es fragt sich, inwiefern Paulus hier das Gesetz Gottes mit dem „Gesetz meiner Vernunft“ gleichsetzen kann. Da die Näherbestimmung recht beiläufig erscheint und im Kontext vom Verständnis des Gesetzes Gottes bestimmt ist, das als Tora geschichtlich gegeben, ist die Grundbedeutung vermutlich diese, dass eben dieses verkündigte Gesetz Gottes „die Vernunft mit ihrem Wollen orientiert“218. Vielleicht ist der Skopus der Formulierung dann so zu verstehen: Das Gesetz Gottes als Gesetz meiner Vernunft ist die in ihrem geistlichen, einheitlichen Sinn verstandene Tora. Insofern meint Paulus mit der Vernunft (dem νοῦς) nicht das Denken oder Erkennen als autonome Instanz, sondern das im Verstehen bestimmte Denken oder Erkennen und auch Wollen. Indem ich das gegebene Gesetz Gottes in seinem Sinn und Widerspruch verstehe, ist es Gesetz meiner Vernunft.219 Es ist aber nicht auszuschließen, dass Paulus darüber hinaus an den in der hellenistischen Philosophie, etwa in der Stoa oder bei Cicero geläufigen Grundgedanken anknüpfen will, dass die menschliche Vernunft das wahre, göttliche (in der göttlichen Vernunft begründete) Gesetz erkennt. Schon in 2,14 f. hatte Paulus trotz der allgemeinen Sünde die Möglichkeit in den Blick genommen, dass Heiden von Natur aus tun und im Gewissen bedenken, was das Gesetz fordert. Das könnte hier bedeuten, dass das Gesetz der Vernunft insofern zwar auch das Gesetz Gottes ist, aber eben als das in einem bestimmten (vielleicht nicht: geistlichen) Sinn von der philosophischen Vernunft erkannte Gesetz, das mit dem Israel gegebenen Gesetz übereinstimmt. Fest steht aber, dass so oder so das Gesetz, auch wenn es „Gesetz meiner Vernunft“ ist, nicht von der Selbstentzweiung unter der Sünde befreit, sondern gerade Ausdruck dieser Selbstentzweiung ist. sprechen – durch Selbstdisziplin und indem der Mensch zum Knecht des Nächsten wird. Vgl. schon die Thesen 2 und 3 (DDStA 1, S. 280–283); These 20 zitiert Röm. 7,22 f. (ebd. S. 300 f.). 217 Vgl. die Belege bei Platon, Plotin, Seneca, und Philo bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 93, Anm.384.; M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 457–459, ferner U. Schnelle, Theologie des NT, S. 292 f. 218 So M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 461. 219  Vgl. entsprechend auch 1. Kor. 14,19: Im Kontext der Kritik der Zungenrede bezeichnet die Vernunft die klare Verständlichkeit der Rede und Kommunikation.



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Das könnte dann auch eine Kritik am Anspruch einer philosophisch vernünftigen Erkenntnis des Gesetzes implizieren. Denn wenn auch ihr Subjekt dem Gesetz der Sünde unterliegt, dann gibt es für es dieses Subjekt keine Perspektive für eine Befreiung. Für Paulus kann diese Perspektive nur mit der Kommunikation Gottes gegeben sein  – die Befreiung liegt darin, dass sich der geistliche Sinn des Gesetzes ohne das Gesetz, durch den Glauben an die in Christus geschenkte Gemeinschaft erfüllt.

24–25 Das Ich ist entzweit, indem es im Bewusstsein des Gesetzes Gottes seine Ohnmacht realisiert, die Verkehrtheit des Prinzips seiner eigenen Identität. Diese Entzweiung wird nun zum Ruf der Verzweiflung nach Erlösung. Es kann sich nicht selbst befreien, es kann sich nicht selbst ändern. „Leib des Todes“ meint wiederum nicht den Leib im Unterschied zur Seele oder zum menschlichem Geist, sondern das leiblich konkret kommunizierende Leben, das nicht nur als „sterblicher Leib“ (6,12) der Möglichkeit der Verkehrung ausgesetzt ist, sondern das ihr – ihrem Gesetz – als „Leib der Sünde“ (6,6) auch wirklich unterliegt. Durch das Gesetz weiß „ich“, dass die Wahrheit dieses Lebens der Tod ist, die Gottesferne. Die Antwort auf die Frage „Wer wird mich retten?“ ist freilich vorausgesetzt – zuletzt in 7,6: Wir sind „vom Gesetz entbunden, weil wir dem gestorben sind, in dem wir gefangen waren, so dass wir dienen im neuen Wesen des Geistes“. Wir sind mit Christus gestorben, der unsere Todeswahrheit teilte – so haben wir am Geist seiner Gemeinschaft teil. Er ist der Herr, d. h. in seiner Gemeinschaft finden wir das beginnende neue, befreite Leben – ihm verdanken wir es. Wie ist der Dank in Vers 25a zu verstehen? Dass Gott an dieser Stelle durch Christus gedankt wird, impliziert die Antwort auf die Frage von Vers 24 („wer wird mich retten“), also eben die Rettung durch Christus. Für sie wird gedankt.   Da jedoch die Zusammenfassung der Situation des sich durch das Gesetz erkennenden Sünders erst folgt, wirkt der Satz wie ein unvermittelter Einwurf. Aber als eben das ist er auch verstehbar  – als impulsiver Vorgriff auf die weitere Schilderung der Befreiung in Christus, die in 8,1 ff. einsetzt.220

Die Zusammenfassung in Vers 25b formuliert die Verzweiflung des sich durch das Gesetz selbst erkennenden, aber noch nicht im Glauben an Christus befreiten Sünders zugespitzt als Gegensatz von Vernunft und Fleisch. Dieser Gegensatz impliziert hier nicht zwingend eine andere Anthropologie als der paulinische Dual von Geist und Fleisch221, da sich ja der Dienst der Vernunft auf das (geistliche) Gesetz Gottes bezieht. 220  Jedenfalls ist es nicht zwingend, die zu diesem Einwurf nicht mehr recht passende, folgende Zusammenfassung in Vers 25b als sekundäre Randglosse zu verstehen (wie etwa U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 96 f. oder auch schon Bultmann und Käsemann; zuletzt etwa J. Schröter, Der Mensch zwischen Wollen und Tun, S. 207 f.) oder eine Umstellung der Verse vorzunehmen (also von einer frühen Vertauschung auszugehen). Textkritisch ist der Zusammenhang unproblematisch. Zur Diskussion vgl. auch M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 463 f. 221 Vgl. J. Schröter, a. a. O.

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Dass der Mensch unter dem Prinzip der Sünde gleichwohl mit der Vernunft dem Gesetz dient, soll nicht die Herrschaft der Sünde relativieren, als ob sie nur das Fleisch, nicht aber die Vernunft beträfe, und auch nicht einen Rest des Guten im Menschen behaupten. Sondern dieses mit der Vernunft dem Gesetz Gottes Dienen meint nichts anderes als die Selbsterkenntnis durch das Gesetz Gottes, welches es anerkennt, auch wenn der Mensch ihm nicht nachkommt. Entsprechend meint die Formulierung, dass ich „mit dem Fleisch dem Gesetz der Sünde“ diene, nicht, dass nur ein Teil des Menschen diesem Gesetz der Sünde unterliegt. Vielmehr ist das Fleisch der ganze Mensch in seinem realen Leben, der aber im Moment der Selbsterkenntnis von sich entzweit ist. Die Vernunft, die das Gesetz anerkennt, kann eben nur die Selbsterkenntnis unter dem Gesetz der Sünde realisieren. Obwohl sie die Krise des Sündenlebens bedeutet, dessen Selbsterkenntnis sie vollzieht, kann sie es nicht ändern. Die Gemeinschaft Gottes erreicht sie nicht. gg)  8,1–17: Der Geist Gottes macht die Glaubenden zu Kindern Gottes 1 Jetzt [gibt es] also keine Verurteilung für die, die in Christus Jesus sind (Luther: So ist nu nichts verdamliches an denen / die in Christo Jesu sind). 2 Denn das Gesetz des Geistes des Lebens in Christus Jesus (Luther: des Geistes / der da lebendig macht in Christo Jesu) hat dich vom Gesetz der Sünde und des Todes befreit. 3 Denn was dem Gesetz unmöglich ist (Τὸ γὰρ ἀδύνατον τοῦ νόμου), worin es schwach war durch das Fleisch, [das tat] Gott, der seinen eigenen Sohn sandte in Gleichgestalt des Fleisches der Sünde (ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας – Luther: in der gestalt des sündlichen Fleisches; Wolter: was die Machtlosigkeit des Gesetzes angeht […]: Gott sandte seinen Sohn) und wegen der Sünde, und verurteilte die Sünde im Fleisch, 4 damit die Rechtsforderung des Gesetzes (τὸ δικαίωμα τοῦ νόμου – Luther: die Gerechtigkeit vom Gesetz erfordert) erfüllt werde in uns, die wir nicht nach dem Fleisch (Wolter: vom Fleisch bestimmt) wandeln, sondern nach dem Geist. 5 Denn die, die nach dem Fleische sind (οἱ γὰρ κατὰ σάρκα ὄντες – Luther: die da fleischlich sind), trachten (oder: sinnen) nach dem, was des Fleisches ist (τὰ τῆς σαρκὸς φρονοῦσιν – Luther: die sind fleischlich gesinnet), die aber nach dem Geiste sind, nach dem, was des Geistes ist. 6 Denn das Trachten des Fleisches (τὸ γὰρ φρόνημα τῆς σαρκὸς – auch: das Denken des Fleisches, das fleischliche Denken oder Sinnen) ist Tod, aber das Trachten des Geistes (τὸ δὲ φρόνημα τοῦ πνεύματος) Leben und Friede. 7 Darum ist das Trachten des Fleisches Feindschaft gegen Gott, denn dem Gesetz Gottes gehorcht es nicht, und kann es auch nicht. 8 So können, die im Fleische sind, Gott nicht gefallen (θεῷ ἀρέσαι οὐ δύνανται). 9 Ihr aber seid nicht im Fleisch, sondern im Geist, da ja (Wilckens: wenn denn) Gottes Geist in euch wohnt. Wenn aber jemand den Geist Christi nicht hat, ist dieser nicht sein (oder: gehört dieser ihm nicht an). 10 Wenn aber Christus in euch ist, dann ist zwar der Leib wegen der Sünde tot, der Geist aber [ist] Leben wegen der Gerechtigkeit. 11 Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten



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auferweckt hat, in euch wohnt, dann wird der, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen (ζῳοποιήσει) durch seinen Geist, der in euch wohnt. 12 Dann also, Brüder, sind wir verpflichtet nicht dem Fleisch, um nach dem Fleisch zu leben. 13 Denn wenn ihr nach dem Fleisch lebt, müsst ihr sterben; wenn ihr aber durch den Geist die Taten (Wilckens: die Machenschaften) des Leibes tötet (εἰ δὲ πνεύματι τὰς πράξεις τοῦ σώματος θανατοῦτε), werdet ihr leben. 14 Denn alle, die vom Geist Gottes geführt werden, die sind Söhne Gottes (Luther: Denn welche der Geist Gottes treibet / die sind Gottes Kinder). 15 Denn ihr habt nicht einen Geist der Sklaverei empfangen, [der] wieder zur Furcht [führt] (Luther: daß ihr euch abermal fürchten müstet), sondern ihr habt einen Geist der Sohnschaft (Luther: einen kindlichen Geist) empfangen, durch den wir rufen: „Abba, Vater!“ 16 Der Geist selbst bezeugt unserem Geist (Wolter: bezeugt zusammen mit unserem Geist), dass wir Kinder Gottes sind. 17 Wenn aber Kinder, so auch Erben; und zwar Erben Gottes, aber als Miterben Christi, wenn wir denn [mit ihm] mitleiden, damit wir auch mitverherrlicht werden (εἴπερ συμπάσχομεν ἵνα καὶ συνδοξασθῶμεν).

Die, die sich selbst in ihrem tödlichen Fürsichleben erkennen, indem ihnen Gott durch die menschliche Predigt des die Liebe fordernden Gesetzes widerspricht, die dies nun aber im Kreuz Christi erkennen, wo Gott unsere Getrenntheit, unseren Tod geteilt hat – die sind „frei vom Gesetz der Sünde“ und frei vom Urteil des Gesetzes Gottes über sie, das ihnen den Tod als Wahrheit ihres Lebens offenbarte. In 7,5 f. hatte Paulus den Gegensatz oder vielmehr den Wechsel zwischen dem Nach-dem-Fleisch-Leben, das den Tod bedeutet, und dem Leben in der Neuheit des Geistes, frei von Sünde, Tod und Gesetz, zuerst auf den Punkt gebracht. In 7,7 ff. hatte er entfaltet, wie das Gesetz Gottes das Gesetz der Sünde im Menschen, seine Unfreiheit offenbart und ihn in eine Selbstentzweiung führt. Diese Schilderung des Widerspruchs zwischen der Erkenntnis des Guten und der realen Sucht eines unwahren Lebens gipfelte zum einen im Schrei nach Erlösung (7,24), zum anderen im Dank für die geschehene Erlösung (7,25a) – also für die in 7,6 behauptete Freiheit, die im Gestorbensein mit Christus, im Sichverlassen auf ihn, im Geist seiner Gemeinschaft gegeben ist. Eben dies wird nun entfaltet. Dies geschieht, indem Paulus den Begriff des Lebens mit dem Begriff des Geistes bestimmt. Es geht um das wahre Leben im Verhältnis zu Gott – Gott überwindet als Geist seiner Gemeinschaft den Tod des Fürsichlebens. Der Abschnitt lässt sich in 5 Teile untergliedern. In den Versen 1–4 erläutert Paulus die Erlösung: Der Freispruch vor dem Gesetz Gottes ist darin begründet, in Christus zu leben. Das heißt, indem Christus den Tod des Sünders teilte, das Urteil über die Sünde, den Tod, auf sich nahm, lebt der, der sich darauf verlässt, in seiner Gemeinschaft – seine Gemeinschaft bestimmt mein Leben. Der Geist der Gemeinschaft Christi ist es, der in mir lebt. In diesem Geist wird das Gesetz erfüllt. Der Mensch ist frei vom Gesetz der Sünde. In den Versen 5–8 pointiert Paulus noch einmal den Gegensatz des Lebens im Fleisch zum Leben im Geist.

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Beidemale entspricht das Leben (Denken, Wollen usf.) einer festen, seinsmäßigen Bestimmung des Menschen, wobei das Fürsichleben Gottesfeindschaft und Tod bedeutet, die Bestimmung vom Geist der Gemeinschaft Christi aber Frieden und wahres Leben. Entsprechend ist den Christen zum einen das Leben im Geist und seine ewige Zukunft zuzusprechen (Verse 9–11). Zum anderen aber bleibt die Versuchung des Lebens im Fleisch virulent – die Wirklichkeit des Geistes ist nie selbstverständlich (Verse 12–13). Seine begonnene Wirklichkeit aber bedeutet die Gewissheit, frei von Angst Kinder Gottes zu sein und Erben seiner ewigen Gemeinschaft (Verse 14–17). 1–2 Denen, die in Christus sind oder leben, kann das Gesetz Gottes, das vom Menschen das wahre Leben fordert, nicht widersprechen. Es kann sie nicht verurteilen, denn seine Forderung der Gemeinschaft Gottes und der Menschen ist mit dem Leben in Christus erfüllt oder beginnt sich zu erfüllen. Sein Adressat, der Mensch für sich, ist als solcher, als der ‚fleischlich‘ Fürsichselbstlebende, gestorben. Der Mensch ist von der Notwendigkeit des Fürsichlebens und von dem Tod als seiner Wahrheit, die der Widerspruch Gottes für den Sünder in Kraft setzte, befreit. Denn indem der Mensch sich darauf verlässt, dass dieser Tod, dieses Fürsichsein von Christus geteilt ist, bestimmt der Geist Gottes sein neues Leben. Dieses Leben bedeutet, an der Christusgemeinschaft teilgewinnen. Wie dann Vers 11 ausführen wird, ist der Geist des Lebens in Christus eben der Geist Gottes, der Jesus in sein ewiges Leben auferstehen ließ und der die ewige Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen (mit Jesus und von ihm aus mit uns) vollzieht.222   Ohne dass Paulus das hier erneut ausführt, ist es das Sichverlassen auf das Kreuz Christi, also darauf, dass hier Gott dem Sünder, dem in seinem Fürsichsein gefangenen Menschen seine Gemeinschaft schenkt, in dem sich die Gemeinschaft mit dem Auferstandenen vollzieht. Das impliziert, diesen Tod als eigenen zu realisieren  – insofern besteht die Rechtfertigung zugleich im Vollzug des Urteils und im Geschenk der Gerechtigkeit oder Gemeinschaft.

Paulus wechselt hier in Vers 2 von der 1. Person („ich“), die ab 7,7 die Einsamkeit des die Sünde Erkennenden darstellt, in die Anrede, den Zuspruch, der dem Befreitsein zur Gemeinschaft entspricht. Dieser Gemeinschaft entspricht weiter das „wir“ in Vers 4 und das „ihr“ in den Versen 9–11 (in den Versen 12–17 findet sich beides).

Der Geist des Lebens in Christus bedeutet, dass das Gesetz der Sünde, also die Selbstsorge als Suchtstruktur, die in Wahrheit Tod, Trennung von Gott, vom Sinn des Daseins, von sich selbst bedeutet, überwunden ist. In Christus sein oder leben bedeutet zugleich umgekehrt, dass (so dann Vers 10) Christus in „euch“ lebt – ein gegenseitiges Insein oder im Anderen Leben, das sich im Kom222 

Zur Rechtfertigung zum Leben vgl. auch schon 5,16–18.



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munizieren und (auf unserer Seite) Glauben vollzieht. Wie ein menschliches Liebesverhältnis bestimmt dieses im Anderen Leben zwar das Selbstverhältnis gegenseitig als Insein des Anderen, es setzt aber Asymmetrie oder Differenz zwischen uns als zeitlich lebenden Geschöpfen und Christus als am ewigen Leben Gottes teilhabendem Sohn voraus. Genauso redet Paulus in Vers 9 vom Geist (im Geist sein heißt, der Geist ist oder wohnt „in euch“). Denn das in Christus Leben, das zugleich ein Leben Christi in mir ist, besteht im Sichverlassen auf ihn, in dem der Geist Gottes wirklich ist. Der Geist Gottes ist die Gemeinschaft Gottes, die sich selbst im Sichverlassen auf sie vollzieht. Christus ist die Gemeinschaft, die, indem ich mich auf ihn verlasse, der Geist in mir vollzieht. So erfahre ich Gottes Geist in mir als wirklich, indem die Kommunikation Christi das Fürsichsein zur Gemeinschaft bestimmt. Zugleich ist zu sagen, es ist der Geist (Gottes), in dem wir sind oder leben, denn wir haben an seiner Wirklichkeit, die auch die Wahrheit der Schöpfung und Geschichte umfasst, nur Teil und wissen uns in ihr aufgehoben.

Dass hier vom Gesetz dieses Geistes die Rede ist, bedeutet gerade nicht, dass das Leben im Geist wieder eine gesetzlich verpflichtende, vielleicht verurteilende Bestimmung für den Menschen ist. Der Geist, der in Christus leben lässt, kann nur insofern Gesetz heißen, als er mit höherer Notwendigkeit und Kraft die Notwendigkeit und Kraft der Sünde (das „Gesetz der Sünde“) überwindet.223 3–4 Die Forderung des göttlichen Gesetzes des wahren Lebens  – dass der Mensch seine Bestimmung in der Liebe Gottes und des Nächsten findet (vgl. 13,8–10), die an den unter dem Gesetz der Sünde lebenden Menschen für sich ergeht, kann diesen nur zur Selbsterkenntnis bringen, ihn aber nicht erneuern. Denn die Notwendigkeit der Sünde besteht in der Sucht- und Zwangsstruktur des Fürsichlebens – also im Prinzip der Identität des alten Menschen, des Menschen für sich. Wenn es heißt, dass die Ohnmacht der göttlichen Forderung des wahren Lebens am „Fleisch“ liegt, so meint das hier nicht das geschöpfliche, leibliche Dasein als solches. Vielmehr ist Fleisch hier gleichbedeutend mit dem Nachdem-Fleisch-Sein (Vers 5) oder -Wandeln und seinem Sinnen: Die ursprünglich leibliche Struktur der Selbstsorge, dem Begehren zu folgen, ist zu einer geistigen Struktur geworden, zur Struktur der Lebensverhältnisse überhaupt. Dass nun aber die Forderung des wahren Lebens, die Forderung der Gemeinschaft erfüllt wird, schafft nicht diese Forderung  – der alte Mensch (der Mensch für sich unter der Sünde) kann ihr nicht nachkommen, da sie dem Prinzip seiner Iden223  U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 122 f. sieht das (im Widerspruch zu Käsemann und Bultmann) anders. Zwar nennt in der Tat Paulus in 7,14 das Gesetz geistlich, und im anschließenden Vers 3 ist in der Tat mit dem Gesetz die konkrete göttliche Vorschrift gemeint. Doch die These, es ginge hier um eine „Wende im Gesetz selber von seiner verurteilenden zu seiner diese Verurteilung aufhebenden Funktion“, scheint nicht plausibel. Die Tora in Vers 3 ist ja gerade die, die das Leben im Geist nicht zu geben vermag. Das Gesetz als Gesetz fordert zwar die Gemeinschaft, kann sie aber nicht geben – das tut der Geist, der etwa im Sinn von Ez. 11,19 f. ein neues Herz bedeutet, welches die Gebote von selbst erfüllt.

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tität widerspricht. Sondern das wahre Leben schafft Gott, indem er im (oder: als) „Sohn“ die Todeswahrheit des Lebens in der Sünde (nicht die schuldhafte Sünde selber)224 teilte, um sie zu überwinden. Dass der Sohn schon in seinem irdischen Leben das ‚Fleisch der Sünde‘ teilt, damit Gott seine Gemeinschaft erweist, heißt: Er teilte das leiblich reale Leben des Menschen, das – außer in seiner Person – faktisch dem Gesetz der Sünde unterliegt. Eben diese faktisch das reale (leibliche), allgemeine Leben beherrschende Sünde ist die Sünde im Fleisch, die Gott verurteilte. Doch verurteilte er sie im Tod des Sohnes am Kreuz eben so, dass sich darin das Geschenk der Gemeinschaft, welches das Kommen des Sohnes darstellt, vollendet und offenbart. Am Kreuz wird die Todeswahrheit der Sünde als Gericht vollzogen: Gott vollzieht sie an seinem Sohn, d. h. in trinitarischer Interpretation: an sich selbst, um sie für uns zu überwinden und seine Gemeinschaft zu schenken. Die Forderung des wahren Lebens wird nun „in uns“ erfüllt, indem das jeweils für sich lebende, von der Forderung des göttlichen Gesetzes angesprochene Ich in der Taufe und dem entsprechenden Sichverlassen mit Christus gestorben ist (6,2–11; 7,4–6.11–13) und uns nun der Geist des Auferstandenen, der Geist seiner ewigen Gemeinschaft bestimmt. Dabei impliziert der Geist „des Lebens in Christus“ (Vers 2), als Wirklichkeit primär des Glaubens, ein nach dem Geist Wandeln, also ein Leben im Sicheinsetzen für die Gemeinschaft Gottes und der Menschen.225 Die Verse 5–8 bringen wenig Neues und führen nur den Gegensatz zwischen dem wahren Leben und dem Leben, das in Wahrheit der Tod ist, etwas weiter aus. Von der Frage, inwiefern auch das mit Taufe und Glauben gegebene Nachdem-Geist-Sein noch mit der Virulenz des Gegenteils konfrontiert ist, sieht Paulus dabei ab. Das Nach-dem-Fleisch-Sein meint wie gesagt, dass die ursprünglich leibliche Struktur der Selbstsorge oder Selbsterhaltung zur Struktur des Fürsichlebens überhaupt geworden ist – als suchtmäßige Struktur des Für-sich-Begehrens und Gebrauchens des Anderen. Augustinus versteht dieses Sein „nach dem Fleisch“ bei Paulus treffend als „Nachsichselbstleben“ (secundum se ipsum vivere)  – für ihn eben die Wirklichkeit des peccatum originale.226

Dieses Nach-dem-Fleisch-Sein äußert sich nicht nur als entsprechendes „Wandeln“ (Vers 4), also als Lebenspraxis, sondern konstituiert sich grundlegend als ein Trachten (φρόνημα: eine Denkweise, eine Gesinnung) – ein Ausgerichtetsein im ganzen Denken und Wollen nach dem, was das Fleisch aufbaut, was also eben Medium des Fürsichlebens ist und insofern als Gegenstand des Für224 

Zur Diskussion über diese Frage vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 125. Gal. 5,25 kann Paulus dies auch ausdrücklich als Aufforderung der Selbstentsprechung formulieren: Wenn wir im Geist leben, lasst uns auch im Geist wandeln. 226  Vgl. De civitate Dei XIV,2–4. 225 

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sich-Begehrens und -gebrauchens das Denken, Wollen und Handeln bestimmt (der begehrte Reichtum z. B.).227 Als ein So-Sein, als feste Struktur impliziert es die Unfreiheit, die Unmöglichkeit, sich selbst zu ändern und die Forderung des wahren Lebens zu erfüllen (Vers 7: das Trachten des Fleisches gehorcht dieser Forderung nicht und kann dies auch nicht). Die Wahrheit dieses Lebens ist Tod und die „Feindschaft gegen Gott“: sich festhaltendes Fürsichsein, das dem Leben und wahren Leben widerspricht. Entweder, sofern der Mensch nicht das Gesetz Gottes erkennt (und dadurch im Sinne von 7,7 ff. und vor allem 7,22–25 mit sich entzweit ist), wird Gott nicht als Gott anerkannt. Oder er wird jedenfalls im Vollzug des „Trachtens des Fleisches“ fern gehalten, gehasst, da das Gericht seiner Wahrheit die eigene Identität verneinen würde.228 Dieses Leben widerspricht also schon dem 1. Gebot  – und von da aus dem göttlichen Anspruch an das Lebens insgesamt. Es gefällt Gott nicht229, weil es ihm, seinem Anspruch, seiner Liebe widerspricht. Wer dagegen „nach dem Geist“ ist oder (so Vers 9) „im Geist“ ist, indem durch das Sichverlassen auf Christus sich der Geist seiner Gemeinschaft in seinem und durch sein Leben vollzieht, der zielt in seinem Denken, Wollen und Handeln eben auf diese Gemeinschaft als göttliches und ewiges, den Tod des Fürsichseins überwindendes Leben230 und auf ihren Frieden, d. h. auf die Überwindung der Feindschaft für alle Menschen.231 9–11 Ähnlich wie etwa in 6,17 f. folgt auf die lehrmäßige Darstellung des Gegensatzes von Nach-dem-Fleisch-Sein (Sünde) und Nach-dem-Geist-Sein die Ansprache der Adressaten als Christen: Ihr seid im Geist. Getauftsein heißt im Geist sein. Diese Wirklichkeit des Geistes wird wie gesagt als gegenseitiges Insein des sich verlassenden Menschen und des Geistes Gottes näher bestimmt: Nicht mehr das alte, sich festhaltende Fürsichsein beherrscht das Leben (sei es nun, dass es wie in Gal. 2,19 als Ich des Fürsichseins überhaupt negiert ist, sei es, dass sich wie in 7,17.20 das Ich der Selbsterkenntnis von seinem eigenen Lebensprinzip entzweit fand), sondern der Geist Gottes wohnt in uns. Gedanklich konsequent wird dabei der Geist Gottes mit dem Geist Christi, ja mit Christus selber (Vers 10: Christus in euch) gleich gesetzt: Christus ist die Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen, die Leben aus dem Tod schafft, und der Geist Gottes und 227  Vgl.

ferner Gal. 5,19–23, wo Paulus den Werken des Fleisches die Früchte des Geistes gegenüberstellt. 228  M. Luther betont wiederholt, dass der natürliche Mensch (unter der Sünde) Gott nur hassen kann – vgl. etwa WA 42, S. 128,16–19; 132,40 ff.; 292,28 f. (Genesisvorlesung) und 40I, S. 365,7–10; 496,30 f., oder auch schon in der Disputatio contra scholasticam theologiam von 1517: Es ist unmöglich, dass der Mensch (homo errans) Gott liebt (WA 1, S. 224 f.). 229  Zum entsprechenden Sprachgebrauch der Septuaginta vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 485. 230 Die entsprechende Gegenüberstellung von Tod und Leben findet sich auch schon 5,17–21 und 6,23. 231  Vgl. auch schon 5,1: Christus, indem wir uns auf ihn verlassen, vermittelt Frieden mit Gott.

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zugleich Christi ist das Sichvollziehen dieser Gemeinschaft, die den Einzelnen in seinem Sichverlassen bestimmt. Der Geist oder Christus ersetzt nicht einfach die Person, das Subjekt, sondern bestimmt mein Selbstverhältnis im Glauben an Gott, ist also wesentlich und immer auch von mir unterschieden: Ich erfahre die Gegenwart des Geistes, er wohnt in mir, Christus ist Gegenstand des Sichverlassens usf. – d. h. Gottes Gemeinschaft ist als Leben Christi oder seines Geistes in mir für mich antizipiert, zugleich aber vollzieht sie sich als Wahrheit meines Lebens und des Lebens der Anderen im weiteren Sichverlassen und entsprechenden Kommunizieren, also im Lieben bzw. Handeln (‚Wandeln‘). Ich finde meine Identität in ihr, aber ich bin sie nicht. Sie ist die Wahrheit aller Menschen und auch der Schöpfung; ihre Vollendung steht aus.

Was aber bedeutet, der Leib (nicht: das Fleisch) sei wegen der Sünde tot (Vers 10)? Wolter kann zeigen, dass Paulus sich hier vielleicht an einen hellenistisch-philosophischen Sprachgebrauch anschließt (Philo, Epiktet), der den unausweichlichen Tod als Signum des Leibes versteht – was von Paulus aber im Sinne von Röm. 5,12 ff. als Folge der Sünde verstanden würde.232 Doch reicht das zur Erklärung nicht hin. Der Gedanke, dass das Mit-Christus-gestorben-Sein in der Taufe die Vernichtung des „Leibes der Sünde“ bedeutet (6,6), ist hinzuzunehmen.

Der Wechsel vom Tod zum Leben, den die Taufe darstellt, erscheint hier als eine gegenwärtige Spannung von Leib und Geist – wie anders in der in den Versen 12 f. angedeuteten Paränese. Wenn Christus in uns das absolute Fürsichsein ersetzt, indem „ich“ mich auf ihn verlasse, ist der „Leib tot wegen der Sünde“  – d. h. obgleich das leibliche Leben natürlich fortbesteht, fungiert der Leib in seiner ursprünglich geschöpflichen Struktur der Selbstsorge doch nicht mehr als Basis der verkehrten Selbstsorge, also eben des überhaupt Fürsichlebens und -begehrens, die das Leben vor Gott zum Selbstwiderspruch, zu einem Vollzug des Todes macht.233 Insofern ließe sich statt ‚der Leib ist tot wegen (διά) der Sünde‘ vielleicht auch übersetzen, er ist tot während, im Vollzug der Sünde. Weil die Selbstsorge ursprünglich eine Struktur des leiblichen Lebens ist, ist sozusagen der Leib die Basis des Nach-dem-Fleisch-Seins. Ein Problem der systematischen Interpretation liegt darin, dass Paulus nicht deutlich zwischen einer guten, zur Geschöpflichkeit gehörenden Selbstsorge des Leibes und der Sünde unterscheidet.

Im Kontext von Vers 11, der Geist werde die sterblichen Leiber lebendig machen, ist aber vielleicht noch ein weiterer Sinn der Formulierung anzunehmen. Derjenige, in dem Christus lebt, ist bereits den Tod des Sünders gestorben und hat 232 Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 488 f. – Vgl. auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 135 zu Platon, Phaed. 65d–66c (der Philosoph soll den Leib töten). 233  Eine andere, hier aber unwahrscheinliche Interpretationsmöglichkeit läge in dem Gedanken, dass die Sünde im real leiblichen Leben noch besteht und nach wir vor (auch für den Glaubenden, sofern er eben nicht vom Geist bestimmt ist) bedeutet, dass das entsprechende Leben in Wahrheit tot ist.

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so auch das Ende des leiblichen (notwendig immer wieder auf das Fürsichsein zurückkommenden) Lebens in der Zeit, vor dem der für sich lebende Mensch Angst hat, antizipiert. Der Geist Gottes aber, der Geist (der Selbstvollzug) seiner Gemeinschaft mit dem Menschen, die Kommunikation der Gemeinschaft Christi, „ist Leben wegen (oder: im Vollzug) der Gerechtigkeit“, also wegen meiner im Sichverlassen begonnenen Teilhabe an der Gemeinschaft Christi, die die Gerechtigkeit vollzieht. So schafft der Geist Gottes in mir Leben aus dem Tod. Dieses Leben ist im Glauben und Lieben jetzt schon wirklich  – und zwar so, dass es im eminentesten, göttlichen Sinn Zukunft hat: Indem ich mich darauf verlasse, dass im Kreuz Christi Gott meinen Tod geteilt hat, um mir in Christus seine Gemeinschaft zu schenken – eben das offenbart er durch seine Auferweckung von den Toten – kann ich mich auch darauf verlassen, dass der Geist, in dem ich mich verlasse, auch meinen Leib, unsere Leiber, d. h. unser ganzes, wesentlich gemeinsames Leben in ewiges Leben verwandeln, in seine ewige Gemeinschaft aufnehmen wird. Der Geist, in dem ich mich auf seine Gemeinschaft verlasse, ist der Geist, der sie auch durch unseren leiblichen Tod hindurch vollziehen wird. 12–13 Wenn die eine Seite des sich auf Christus Verlassens die gewisse Hoffnung auf die kommende Vollendung ist, so ist die andere Seite eine bestimmte Offenheit der Gegenwart: Wir sind frei vom Fleisch, nicht im Nach-demFleisch-Leben gebunden (verpflichtet). Wenn die Gemeinschaft Christi in uns lebt, ist „der Leib wegen der Sünde tot“ (Vers 10), d. h. die Identitätsstruktur des Fürsichlebens, der verkehrten Selbstsorge ist gebrochen. Doch ist Christus, die Gottesgemeinschaft, nicht schlechthin in mir lebendig. Die Versuchung des Nach-dem-Fleisch-Lebens ist (das impliziert die Anrede dieser Verse) virulent – eben weil (so die bereits mehrfach in Anschlag gebrachte234 systematische Ergänzung) es eine Notwendigkeit des leiblich zeitlichen Lebens ist, dass sich das Moment des Fürsichseins wieder herstellt, das seine Lebensverhältnisse bestimmen oder erfüllen muss. Die Virulenz der Versuchung bedeutet dann, dass der besagte Gegensatz zwischen dem Tod des Fürsichseins und dem wahrem Leben immer wieder neu zu realisieren ist, indem wir uns als Getaufte, als uns auf Christus Verlassende, selbst entsprechen. Das ist nicht selbstverständlich. Die Freiheit vom Fürsichleben ist immer wieder neu zu realisieren: Ich, wir entsprechen unserer göttlichen Wahrheit, wenn wir „durch den Geist“, indem wir uns durch die Gemeinschaft Gottes bestimmen lassen, „die Taten des Leibes“ töten235, d. h. dem erneuten Impuls nicht folgen, im Moment des Fürsichseins (und seinem Bedürfnis nach positiver Identität in den Lebensverhältnissen) Dinge und Menschen für uns zu gebrauchen. Das bedeutet freilich gerade nicht, 234 

Vgl. etwa oben S. 159–161. auch Gal. 5,19–25 (hier ist vom Kreuzigen des Fleisches die Rede); ferner Kol.

235  Vgl.

3,5–9.

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dass ich Täter des künftig ewigen Lebens in der Gottesgemeinschaft bin oder den Geist kontrolliere und in Kraft setze. Sondern indem ich mich im Moment des Fürsichseins auf die Gottesgemeinschaft in Christus verlasse, lasse ich ihren (Christi oder seines Geistes) Selbstvollzug in meinem Leben zu, statt dem Impuls des „Fleisches“ nachzugeben. Zu diesem sich verlassenden Zulassen des Geistes gehört (als Praxis des Sichverlassens), diese Alternative nicht nur in Lehre und Meditation zu reflektieren, sondern im Gebet vor Gott zu bringen.

14–15 Das begonnene Leben aus dem Tod, dessen Zukunft die Ewigkeit ist, besteht jetzt darin, dass der Geist Gottes uns – den ganzen Menschen in seiner immer auch leiblichen Kommunikation – führt. Das heißt, im Modus des Sichverlassens auf Christus bestimmt er mich zu den Entscheidungen der Nächstenliebe, widerspricht den Herausforderungen des gewöhnlichen Nach-demFleisch-Lebens, und führt in die Tiefe der Erkenntnis Gottes236 (seiner Wahrheit und Liebe). In diesem Geist sind wir Kinder Gottes. Kind Gottes zu sein bedeutet, dass Gott nicht mehr fern und fremd ist – es bedeutet, keine Furcht mehr zu haben vor dem Gericht Gottes nach dem Gesetz des Lebens, das mich verurteilt und mir nur den Tod offenbaren kann. Und auch nicht mehr Furcht vor der Fremdheit einer Welt, deren Sinn mir verschlossen ist. Kind Gottes zu sein heißt frei von der Sklaverei unter dem Gesetz des Fürsichlebens zu sein, weil mich im Moment der vernichtenden Selbsterkenntnis das Evangelium erreicht, dass Gott mich liebt und im Ganzen behütet. Kind Gottes zu sein heißt also, voll Vertrauen Gott als guten Vater anzureden und im Gebet anzurufen237 – und zwar eben so, wie Jesus es die Christen gelehrt hat. Das Kind Gottes ruft ihn an als den Vater, von dem es die Wahrheit des Lebens erwartet, also als den Schöpfer, als den, der den ewigen Sohn als unseren Bruder sendet, und als den im Geist gegenwärtigen. Im „Geist der (menschlichen) Sohnschaft“ oder Kindschaft ist Gott als Vater gegenwärtig. Mit der Anrede „Abba“, Vater238 spielt Paulus sicher auf Jesu Anrede Gottes als Vater an (Mk. 14,36 u. ö.), in dem sich der Geist der Sohn- oder Kindschaft ursprünglich manifestiert, vielleicht auch in Aufnahme eines wiederum daran anschließenden urchristlich gottesdienstlichen Gebetsrufes. Vielleicht liegt auch eine Anspielung auf den Anfang des „Vater unsers“ (Lk.11,2) vor.239   Dabei geht die Rede von Gott als Vater schon darauf zurück, dass sich die Israeliten im Bund als Söhne oder Kinder Gottes verstehen dürfen (vgl. nur Ex. 4,22 und hier Röm. 9,4). Unter der Bedingung der allgemeinen Sünde bedeutete die Verheißung des Geistes 236 

Vgl. 1. Kor. 2,10. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 137. 238  Vgl. auch Gal. 4,6. 239 Vgl. U. Wilckens, a. a. O.  – etwas anders M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 495 f. 237 Vgl.

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dann die Hoffnung auf Wiederherstellung der Kindschaft.240 Eben diese gemeinsame Kindschaft ist nun durch Taufe und Glaube an Christus für alle eröffnet.   Die Rede von der Sohnschaft steht aber zugleich auch in einem hellenistischen Bezug und ruft insofern das geläufige „Sohnesrecht der Adoption“ auf, also die nachträgliche Annahme als Kind.241 Auch die Heiden werden nun vom Geist der Sohnschaft ergriffen.

Vers 16 betont nicht nur eine göttliche Gewissheit der Kindschaft, sondern verdeutlicht die kommunikative Konkretheit des heiligen Geistes. Das Inwohnen (mich Führen, Bestimmen) des Geistes, auf den ich mich (in meinem Selbstverhältnis oder in meiner Selbsterfahrung) als mich bestimmende Kraft und Gegenwart beziehe, vermittelt sich durch eine wirkliche Kommunikation. Nicht nur vermittelt sich der Geist der Gemeinschaft Christi im Sichverlassen auf ihre Verkündigung (so dass der geglaubte, ewige Christus zugleich die mich bestimmende Gemeinschaft ist). Sondern auch das interne Geschehen der Gewissheit, in dem der Geist Gottes unsere Gotteskindschaft bezeugt, ist ein Kommunikationsgeschehen. Der Geist Gottes wird, auch indem er die Gemeinschaft Gottes in mir, durch meinen Glauben vollzieht, nicht mein Geist, sondern bleibt Geist Gottes. Aber er bedeutet, dass die Gemeinschaft Gottes mich ergreift. Er bestimmt mein Denken, Wollen, Fühlen im inneren Zusammenhang meines Selbst-Seins – eben so, dass ich Gott als Vater weiß und anrede. Seine Wirklichkeit ist, dass er meinen Geist (eben mein Denken, Wollen, Fühlen in seiner Einheit) ergreift, ihn in die Gewissheit versetzt, dass ich als Kind Gottes von ihm die Wahrheit meines Lebens als Geschenk empfange. Doch in diesem Bezeugen der Kindschaft bleibt er als Gegenwart Gottes zugleich von meinem Geist unterschieden. 17 Dass wir als Kinder Gottes auch seine Erben, Miterben Christi sind, bezieht sich wieder auf die dem Glauben wesentliche Zukunftshoffnung. Für Paulus besteht die Wahrheit des Lebens in der Zeit darin, in der Gemeinschaft Christi zu leiden. Was mit der Taufe und der entsprechenden Selbsterkenntnis am Kreuz Christi prinzipiell als Tod des alten Menschen vollzogen ist, verwirklicht sich also in der täglichen Hingabe des Fürsichseins für die menschliche Gemeinschaft Christi – als positive Seite des die Praxis des Leibes Tötens (Vers 13). Das mag zwar unfroh klingen, meint aber den täglichen Übergang in die ewige Gemeinschaft Gottes, die freilich in der Zeit noch unsichtbar ist. Was jetzt als Leiden oder Hingabe in der Gemeinschaft Christi erscheint, daraus wird sich in der Ewigkeit Gottes die Teilhabe an Christi Auferstehungsleben aufbauen; eben insofern sind wir Erben Christi.242 240 So

M. Wolter, ebd., S. 495. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 136 und M. Wolter a. a. O. 242  Das war auch schon der Kern der christlichen, dem Leiden einen Sinn gebenden Hoffnung nach 5,2–11. Vgl. ferner 2. Kor. 4,8–10; 13,4; Phil. 3,10. – Eine weitere Bestimmung des christlichen Erbeseins fand sich schon in 4,13–16 (vgl. Gal. 3,29)  – nämlich dass auch die Heidenchristen, indem sie die Gerechtigkeit aus Glauben gewinnen, Erben der Abrahamsverheißung sind. Zum Gedanken der Gotteskindschaft, auch verbunden mit dem Erbesein, findet 241 Vgl.

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hh)  8,18–27: In unserer Gotteskindschaft kommt die ganze Schöpfung an ihr erlösendes Ziel – doch in uns hat das Leben des Geistes erst begonnen. 18 Denn ich bin überzeugt (Λογίζομαι: ich behaupte, ich denke), dass nicht ins Gewicht fallen die Leiden der gegenwärtigen Zeit (τοῦ νῦν καιροῦ) gegenüber der künftigen Herrlichkeit, die an uns (εἰς ἡμᾶς) offenbar werden soll. 19 Denn die sehnsüchtige Erwartung der Schöpfung (Luther: das ängstliche harren der Creatur) erwartet die Offenbarung der Söhne Gottes. 20 Denn der Nichtigkeit (τῇ γὰρ ματαιότητι) wurde die Schöpfung unterworfen (Vulg: vanitati enim creatura subiecta est) – nicht freiwillig (Wolter: ohne eigene Schuld), sondern um dessentwillen (διὰ τὸν ὑποτάξαντα – auch: aufgrund dessen, oder: durch den), der [sie] unterworfen hat – auf Hoffnung hin. 21 Denn auch sie, die Schöpfung, wird befreit werden von der Sklaverei der Vergänglichkeit zur Freiheit (wörtlicher: hinein in die Freiheit) der Herrlichkeit der Kinder Gottes. 22 Denn wir wissen, dass die ganze Schöpfung zusammen seufzt und zusammen in Wehen liegt (Wolter: jammert in Schmerzen) bis jetzt (Luther: und ängstet sich noch immerdar). 23 Aber nicht nur [sie], sondern auch wir selbst, die wir die Erstlingsgabe (τὴν ἀπαρχὴν  – Wolter: Anfangsgabe) des Geistes haben, auch wir selbst seufzen in uns selbst in Erwartung der Sohnschaft, der Erlösung unseres Leibes. 24 Denn auf Hoffnung hin wurden wir errettet. Hoffnung aber, die man sieht, ist keine Hoffnung. Denn wer erhofft, was er sieht? 25 Wenn wir aber auf das, was wir nicht sehen, hoffen, warten wir mit Geduld. 26 Ebenso aber auch nimmt sich der Geist unserer Schwachheit an. Denn was wir beten sollen, wie es nötig ist (καθὸ δεῖ), wissen wir nicht; aber der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen (στεναγμοῖς ἀλαλήτοις – Wolter: mit wortlosen Klagen). 27 Der aber, der die Herzen erforscht, weiß, was das Sinnen (τὸ φρόνημα – auch: Denken, Trachten) des Geistes ist, denn der tritt Gott gemäß (κατὰ θεὸν) für Heilige ein (Luther: Denn er vertrit die Heiligen nach dem das Gott gefellet).

Indem wir uns auf Christus verlassen, in dem Gott unser Leben und unseren Tod teilt, wird uns seine Gemeinschaft geschenkt – ihr Geist hat begonnen, unser zeitliches Leben zu bestimmen. Doch die Vollendung der Gemeinschaft, in der die Dürftigkeit und Vergänglichkeit des jemeinigen Lebens überhaupt überwunden ist (Vers 11), steht aus. Wir wissen uns zwar als Kinder Gottes befreit und furchtlos auf dem Weg, aber in der Kommunikation des Lebens bedeutet die Christusgemeinschaft wesentlich die Nachfolge in seiner Hingabe (Vers 17). Doch dem Mitleiden mit Christus entspricht das Mitleben, die künftig offensichtliche Teilhabe am Auferstehungsleben (vgl. Vers 18). Zuerst (in den Versen 19–22) geht es Paulus nun darum, die universale, ja kosmische Bedeutung der noch kommenden Offenbarung der Christusgemeinschaft, die kosmische Bedeutung der endgültigen Erlösung herauszustellen. Dann (in den Versen 23–25) charakterisiert Paulus das Leben der sich auf Christus Verlassenden als Leben sich eine ausführliche Parallele im kurz zuvor geschriebenen Galaterbrief, die insbesondere die Freiheit in der Gotteskindschaft weiter betont – vgl. Gal. 3,26–4,7.



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in einer Zwischenzeit: Der Geist Gottes, der der Geist der Gemeinschaft Christi ist, leitet uns, aber das Ziel seines Bestimmens ist zunächst ein von uns erhofftes. Und schließlich (in den Versen 26 f.) konkretisiert Paulus, wie der Geist Gottes in uns schon jetzt zwischen uns und Gott vermittelt. 18–22 Die Leiden der jetzigen Zeit lassen sich zunächst grundsätzlich, wie eben im Zusammenhang von Vers 17 angedeutet, als Ausdruck der Hingabe oder des Sicheinsetzens des Fürsichseins etwa in der tätigen Liebe verstehen, die die Wahrheit des zeitlichen Lebens vollzieht. Gegenüber diesem aktiven Sinn des Leidens wird hier aber eher das Erleiden der relativen Schwäche, Bedürftigkeit und Endlichkeit des zeitlichen Lebens betont, wenn zum einen die Selbsthauptung des alten Menschen als nichtige Illusion erkannt ist, zum anderen aber die Vollendung der Christusgemeinschaft erst erhofft ist. Konkreter meinen die Leiden dann sicher die öffentliche, allgemeine Feindschaft und Verfolgung um des Bekenntnisses willen, die die ersten Gemeinden ja in der Tat erleiden mussten (vgl. auch unten die Verse 35 f.). Ob Paulus das „Leiden der gegenwärtigen Zeit“ insbesondere in diesem Sinn hier auch apokalyptisch verstanden hat, also so, dass es das nahende Ende dieser Welt kennzeichnet, muss offen bleiben.243

Jedenfalls wird die künftige Herrlichkeit das Leiden aufheben und es überwiegen. Die Doxa oder Herrlichkeit, die sich an uns (in der künftigen Gestalt unseres Lebens in der Gotteskindschaft) und für uns und für die Schöpfung insgesamt zeigen und uns endgültig erlösen wird (Vers 23), meint wie gesagt244 das Ausstrahlen der Gegenwart des ewigen Gottes, die uns (wie Christus – vgl. Vers 17) schließlich zur Gemeinschaft seines ewigen Lebens verwandeln wird. Freilich kann Paulus gleich in Vers 30 auch sagen, Gott habe bereits die, die er durch den Glauben an Christus gerechtfertigt hat, auch verherrlicht. Das lässt sich so zusammenbringen, dass im Sichverlassen zwar schon das Innewohnen Christi oder sein Geistes Modus der Verherrlichung (der bestimmenden Gegenwart Gottes) ist, dass diese Wahrheit aber in der Zeit, sofern hier der sterbliche Leib als Subjekt des Lebens erscheint, unsichtbar245 und erst künftig offenbar und damit auch vollendet ist. Heißt das, die künftige Herrlichkeit ist jetzt schon die verborgene Wahrheit des jetzigen Leidens?

243  U. Wilckens (Der Brief an die Römer 2, S. 148; dort auch frühjüdische und neutestamentliche Parallelen) interpretiert es so und bezieht dabei auch die „Wehen“ aus Vers 22 ein  – die Naherwartung des Paulus sei geprägt von jüdischer Apokalyptik; die Leiden der Gerechten seien „notwendig“ als Bedingung der bald einbrechenden Heilszeit, da der Widerspruch zwischen alter und neuer Welt nicht positiv überbrückbar sei. Für den Gedanken, dass das Leiden der Gerechten notwendig, aber kurz ist, gibt es auch abgesehen von der Apokalyptik Vorbilder in der jüdischen Theologie und neutestamentliche Parallelen – etwa Mk. 10,29 f. (vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 507 f.). 244  Vgl. oben S. 112 zu 5,2 und ff. 245  Vgl. auch die Interpretation bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 508 f.

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Mit uns Menschen erwartet die ganze Schöpfung, dass sich unsere Gotteskindschaft als Erlösung zur ewigen Gottesgemeinschaft vollendet. Paulus knüpft hier – wie die Formulierung „wir wissen“ in Vers 22 wahrscheinlich macht – an einen verbreiteten Gedanken an. In Frage kommt die hellenistisch-philosophisch bezeugte Auffassung, dass nicht nur der Mensch, sondern alles was ist, über den Terror der Vergänglichkeit klagt, an seiner Endlichkeit leidet – an der Notwendigkeit, zu vergehen.246 Paulus versteht das entsprechende Leiden und Klagen (Vers 22), wie es sich etwa im Schmerz der Tiere, aber auch mit dem Zerstörungsbild jedes geschöpflichen Vergehens (eines umstürzenden Baumes, eines verlöschenden Sterns) darstellt, als Sehnsucht nach der Erlösung in der ewigen Gottesgemeinschaft  – die aber wesentlich nur in Gestalt des menschlichen Geschöpfes erreicht werden kann, das stellvertretend dazu bestimmt ist. Entsprechend heißt es (Vers 21), die Schöpfung werde zur Freiheit der Gottesgegenwart der Menschen befreit.   Eine zum Stellvertretungsgedanken alternative, eher mythische Interpretation des Verhältnisses zwischen Schöpfung und Menschen liefe darauf hinaus, dass die Befreiung von der Endlichkeit dadurch eintritt, dass Gott die Schöpfung neu schafft, damit sie der schließlich in Ewigkeit offenbarten Herrlichkeit der menschlichen Gotteskinder als unvergänglicher Lebensraum entspricht.

Die Schöpfung wurde der Nichtigkeit unterworfen – was ihrer ursprünglichen Bestimmung widerspricht. Was in Vers 20 die Nichtigkeit bedeutet, ist zunächst von der schon angesprochenen Formulierung „Sklaverei der Vergänglichkeit“ in Vers 21 her zu verstehen, von der die Schöpfung insgesamt frei wird, indem sie an der begonnenen und künftig offenbaren Gottesgemeinschaft (Herrlichkeit) der Menschen teilhat. Mit der Unterwerfung unter die Nichtigkeit oder die „Sklaverei der Vergänglichkeit“ will Paulus vermutlich andeuten, dass Gott dies im Sinne des Fluchs von Gen. 3,14 ff. gegen die Schlange und die Menschen, also als Antwort auf die Sünde des Menschen, getan hat – dem entspricht die Trennung des Menschen vom Baum des Lebens (3,22–24). Das heißt, indirekt ist der Mensch, Adam in seiner Ursünde dafür verantwortlich – für den Verlust des ursprünglichen Verhältnis zwischen Gott, Mensch und Schöpfung.247 Schon in 5,12 hatte Paulus den notwendigen Tod der Menschen als Konsequenz der Sünde Adams verstanden. Wenn die Unterwerfung gleichwohl auf Hoffnung hin geschah, also verbunden mit der Hoffnung auf ihre Überwindung, so fragt sich, ob diese Hoffnung, die sich jetzt durch die begonnene Christusgemeinschaft konkretisiert hat (Vers 24), anders schon von An246 Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 513, Anm. 40 (z. B. auch zu Philo). Ob Paulus auch an eine verbreitete apokalyptische Erwartung der Zeitenwende anschließt, kann im Blick auf diese Stelle wie gesagt nicht entschieden werden – jedenfalls findet sich auch in der jüdischen Apokalyptik der Einbezug der ganzen Schöpfung (vgl. mit zahlreichen Belegen U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 149 f. 155 f.). 247  Vgl. (wiederum mit Parallelen z. B. aus 4. Esr. 7,11 f.) U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 154; M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 510 f.



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fang an gegeben ist. Vielleicht geht Paulus davon aus, dass der Heilsplan Gottes für die Menschheit (und so auch die Schöpfung insgesamt), den das Adam-Christus-Verhältnis impliziert (vgl. noch einmal 5,12–21), sich auch vor Christus und womöglich von Anfang an in der Verheißung der Befreiung äußert, die insofern Hoffnung bedeutet.

Die Frage ist, was auf diesem Hintergrund die Nichtigkeit, der die Schöpfung unterworfen ist, weiter bedeuten kann. Bedeutet es nur, dass die Kreatur der kommenden Nichtigkeit, eben dem Tod unterworfen ist? Was kann es heißen, dass dieser Tod Folge oder Strafe der Sünde ist? Ist denkbar, dass die Nichtigkeit die Wahrheit der Sünde bezeichnet, die der Tod vollstreckt – also zuerst die Trennung des Menschen von Gott? Ursprünglich lebte der Mensch zusammen mit der ganzen Schöpfung in der Gegenwart Gottes, so dass alles Wirkliche (für ihn, den Menschen) in dieser Gegenwart sein unvergängliches, erfülltes Sein hatte. In Gestalt des Menschen realisierten also auch Erde, Pflanzen und Tiere diese Gegenwart Gottes. Nun aber ist durch die Sünde des Menschen Gott auch der Erde, den Pflanzen, den Tieren fern. Die allgemeine Vergänglichkeit, der Tod, wie er uns erscheint, verwirklicht nur vollends diese Gottesferne aller Kreaturen. Und umgekehrt: Indem Gott in Christus die Menschen dazu befreit hat, Kinder Gottes zu sein, so dass seine Herrlichkeit uns verwandeln wird (Vers 18), wird auch die Schöpfung insgesamt, in der wir leben, nicht mehr von Gott getrennt sein. Wie lässt sich das heute systematisch verstehen  – also die (indirekt) in der menschlichen Sünde begründete Tatsache, dass die ganze Schöpfung von der Nichtigkeit gezeichnet ist, dass sie mit uns das Leiden der noch ausstehenden Gottesgemeinschaft teilt und nur in unserer menschlichen Gotteskindschaft erlöst werden kann? Zunächst ist hier ein Grundgedanke des christlichen Schöpfungsglaubens festzuhalten: Die Schöpfung, einschließlich des Menschen, hat einen göttlichen Sinn und ein Ziel. In der Gottesgemeinschaft des Menschen kommt die ganze Schöpfung zu ihrer Bestimmung; in uns erfüllt sich ihr Sinn, oder eben nicht. Das heißt in der weiteren Konsequenz vielleicht auch, dass wir die ganze Schöpfung, insbesondere alles Lebendige, wie einen Organismus ansehen könnten, dessen Selbstbewusstsein wir Menschen sind; unser Gottesverhältnis steht stellvertretend für das der ganzen Schöpfung. Das wiederum könnte einen Gedanken implizieren, den intuitiv menschliche Empathie realisiert: dass das Leiden jedes Lebendigen das Leiden des Lebendigen überhaupt ist.

Doch ist dann nach dem inneren Zusammenhang zu fragen zwischen der menschlichen Sünde und der Wahrnehmung, dass die ganze Schöpfung die Signatur der Nichtigkeit, des Todes und des Leidens daran trägt  – und insofern nach Paulus mit uns der Erlösung bedarf. Die Auskunft, dass Gott die Vergänglichkeit aller Kreaturen wegen der Sünde des Menschen als Strafe über die ganze Schöpfung verhängt habe, etwa um so (im geschöpflichen Zusammenhang) die

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Menschen mit dem Tod zu bestrafen, würde diese Frage nur mythisch reformulieren und nicht beantworten – insbesondere nicht unter der Voraussetzung der naturwissenschaftlichen Einsicht, dass die Vergänglichkeit, der leibliche Tod in der Zeit eine immanente Notwendigkeit des Daseins und Lebens (also theologisch: der Schöpfung) ist. Folgendes theologisches Verständnis schlage ich vor: Die Nichtigkeit ist ursprünglich die schuldhafte Trennung des sein Fürsichsein festhaltenden Menschen von Gott. Sie ist die Wahrheit des Lebens unter dem Gesetz der Sünde. Das Moment des menschlichen Fürsichseins ist eine geschöpfliche Notwendigkeit; es bedeutet, Gegenüber Gottes und zum Gottesverhältnis bestimmt zu sein. Das heißt, es ist ein geschöpflich notwendiges Moment der Negativität oder Nichtigkeit anzunehmen, dessen Bestimmung aber gerade die Überwindung oder Erfüllung im Gottesverhältnis ist.

Die Trennung von Gott als Sünde aber, in der der Mensch diese Negativität und ihre Bestimmung verleugnet und für sich lebt, macht die Nichtigkeit zur herrschenden Wahrheit. Eben diese Nichtigkeit, die entsprechende Leere des Lebens vollzieht der Tod, vor dem der Mensch in seiner wahren Getrenntheit Angst hat (und der vom leiblichen Vergehen als solchen, was auch ein Übergehen in Gottes Ewigkeit bedeuten kann, zu unterscheiden ist). Wirklichkeit Gottes (in dem Sinne, dass Gott die Kreatur ihr „unterworfen“ hat) ist die Nichtigkeit, indem sie eben wesentlich Getrenntheit von ihm ist – indem er ihr also nicht widerspricht. Im Blick auf die Schöpfung insgesamt heißt das zum einen: Durch die Sünde kommt auch die außermenschliche Schöpfung nicht in uns zu ihrer Bestimmung. Und zum anderen: die Schöpfung leidet unter dem der Sünde entsprechenden menschlichen Hochmut, mit dem der Mensch sie verantwortungslos beherrscht und für sich gebraucht. Doch sind Erde, Pflanzen, Tiere an sich nicht vor Gott getrennt – sie können in ihrer Vergänglichkeit nur für uns das Bild unserer Verlorenheit sein. Nur der Mensch kann als er selbst von Gott getrennt sein.248 23–25 Das allgemeine Warten auf die noch ausstehende Herrlichkeit, das uns das Leiden der Kreatur vor Augen stellt, schließt uns ein, obwohl wir doch durch die Rechtfertigung im Glauben an Christus (3,21–28), durch die Taufe und das Innewohnen des Geistes der Gemeinschaft Christi Kinder Gottes sind – wir sind es und zugleich erwarten wir, es zu sein. Erneut (wie in 5,2 ff.) expliziert Paulus den Glauben als Hoffnung: Die Gottesgemeinschaft ist im Glauben gewiss, aber als vorweggenommene, auch noch verborgene. Der mit Taufe und Glaube gegebene Geist der Gemeinschaft Christi bedeutet, dass diese sich wirklich kommuniziert, dass sie das Denken zur Gewissheit, zur Erkenntnis, zur Dankbarkeit bestimmt und das Wollen und Handeln zur Liebe. Seine Gegenwart oder Wirklichkeit ist die Vorwegnahme der eschatischen, vollendeten Gemeinschaft, also eben die Kraft der kommenden göttlichen Vollendung. Aber seine Gegenwart 248 Vgl.

T. Kleffmann, Grundriß der systematischen Theologie, S. 164–176.



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ist nicht unser Sein oder Besitz. Sie ist Anfang249, unvollendet. Die „Erlösung unseres Leibes“, also des Menschen insgesamt, des ganzen Lebens, steht aus.250 Allgemein sichtbar für Sinne und ihren Verstand sind immer noch Vergänglichkeit, Tod, Leiden, Feindschaft  – das Gerettetsein, die Gottesgemeinschaft als solche ist (wie Gott) unsichtbar. Nur im Glauben als Sichverlassen, als Hoffen in gewisser Geduld, wird die Gemeinschaft, die Gott einging, die Kraft des Geistes, erfahren. Was diese Erfahrung insbesondere in dem Moment bedeuten kann, in dem wir uns im Ausstehen der Erlöstheit und Vollendung reflektieren, entfalten die Verse 26–27: Dass der Geist Gottes in uns wohnt (Vers 9 und 11) und so von der Herrschaft der Sünde und des Todes befreit (Vers 2), dass er uns als Geist der Gemeinschaft führt und uns die Gewissheit gibt, Kinder Gottes zu sein (Vers 14 und 16) – das alles heißt nicht, dass er unsere Schwachheit verschwinden lässt oder dass unser Geist, also unser Denken, Wollen, Fühlen im Moment der Reflexion, von ihm nicht zu unterscheiden wäre. Denn diese „Schwachheit“ gehört zum Wesen des zeitlichen Lebens, das stets vom Fürsichsein des Einzelnen grundiert und so in allem Verstehen, auch im Verstehen des Glaubens, begrenzt und vorläufig bleibt. Der Geist Gottes ist für uns der Geist einer Gemeinschaft, die sich erst noch vollzieht. Unsere Schwäche bedeutet, dass die verkündigte und geglaubte Wahrheit des ewigen Gottes, des auferstandenen Christus, des ewigen Lebens im Geist gegenwärtig, aber als solche unsichtbar ist. Im leiblich realen Leben und seinem Wahrnehmen und Verstehen realisiert sich immer wieder der Mensch für sich, der Gott weder sieht noch versteht und doch allein im Sichverlassen auf seine Gemeinschaft Sinn findet. Das Sichverlassen darauf, dass sich diese Gemeinschaft durch ihren Geist vollzieht, schließt das Bewusstsein der Schwäche ein, dass jedes gegebene Moment der entsprechenden Selbsterkenntnis und der Erkenntnis Gottes vorläufig und begrenzt ist.

Diese „Schwäche“ ist aber auch die lebendige Spannung der Gotteskommunikation, des Gebetes – ja, es ist sozusagen Gottes eigene Spannung! Das heißt zunächst: Wenn wir aus der Gewissheit der Christusgemeinschaft reden und Gott im Sinne dieser Gemeinschaft anreden (beten), ist es nicht unser Geist, sondern Gottes Geist, der dieses Gespräch vermittelt. Wir stehen nicht als die Wissenden vor Gott, sondern immer auch als Hoffende, Fragende, sich Sehnende, vielleicht Zweifelnde – aber gerade auch in diesem Gebet der Hoffnung, des Zweifelns, des Klagens vermittelt der Geist Gottes zwischen uns und Gott, gerade hier wirkt er als Geist. „Der Geist selbst tritt für uns ein mit unaussprechlichem Seufzen“: Gerade wenn der Geist der Gemeinschaft Christi uns bestimmt, diese Gemeinschaft im Gebet zu kommunizieren, kann unsere Schwachheit bedeuten, dass 249  Zur Metapher der Anfangsgabe vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 517 f. sowie kurz („Beginn der Ernte“) in ders., Paulus, S. 167 f. (auch zu 1. Kor. 15,20–23; 2. Kor. 1,21 f.; 2. Kor. 5,5, dort: der Geist als Anzahlung). 250  Vgl. auch 1. Kor. 15,53; Phil. 3,20 f.

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wir selbst im Bewusstsein der auch noch ausstehenden Erlösung die Worte nicht finden (Vers 23: „wir seufzen in uns selbst in Erwartung der Sohnschaft“) oder verstummen. Dann tritt der Geist Gottes in uns für uns ein, indem er unsere Wahrheit in einer Weise vor Gott bringt, die wir nicht aussprechen können.251 Dass dies geschieht, ist für uns wiederum ein wesentlicher Modus des Glaubens. Die unaussprechliche Kommunikation hat eine Doppelbedeutung. Wir reden Gott an, wissen aber im Moment der „Schwäche“, dass wir ihn von uns aus nicht erreichen, also verstummen müssten. Doch wir können zu Gott reden, indem wir wissen, dass der Geist Gottes in uns für Gott unsere Worte übersetzt. Das heißt: der als Geist im Glauben gegenwärtige Gott übersetzt es sich selbst – er ist ja auch der Geist Christi, der Gemeinschaft von Vater und menschlichem Sohn. Dieses Übersetzen als solches aber ist für uns wiederum unaussprechlich. Gott kennt uns besser als wir selbst uns reflektieren könnten – Gott weiß, was uns Not tut, bevor wirs erbitten (Mt. 6,8). Gott ist der, der die Herzen erforscht252 – und findet dort seinen Geist, der unser Denken, Wollen usf. zum Glauben, zum Verstehen der Offenbarung im Ganzen, zur Dankbarkeit, zur Liebe bestimmt.

Es ist der Geist, der in uns auf die Kommunikation der Gemeinschaft sinnt und jetzt schon, vor ihrer Vollendung, für uns bei Gott eintritt und unsere zeitlichen Worte und selbst unser Verstummen in die ewige Gotteswahrheit übersetzt. Das aber heißt: Es ist Gott in uns, der sich durch die Verkündigung und den Glauben Christi vermittelnde Geist, der die Kommunikation zwischen uns und Gott vermittelt. Wer sich auf Christus verlässt, verlässt sich auch darauf, dass der Geist Gottes zwischen dem zeitlichen Leben und Kommunizieren und der Ewigkeit vermittelt. ii)  8,28–39: Nichts kann uns trennen von der Liebe Gottes in Christus 28 Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alles zum Guten verhilft (συνεργεῖ – wörtlich: mitwirkt; Wolter übersetzt aufgrund einer textkritisch möglichen Variante253: denen, die Gott liebt, verhilft Gott in allem zum Guten) – denen, die nach [Gottes] Ratschluss berufen sind. 29 Denn die er im voraus gewusst hat (ὅτι οὓς προέγνω – auch: erwählt hat), hat er auch vorher bestimmt (προώρισεν), dem Bilde seines Sohnes gleichgestaltet zu sein, so dass er Erstgeborener unter vielen Brüdern sei. 30 Die er aber vorher bestimmt hat, die hat er auch berufen; und die er berufen hat, die hat er auch gerechtfertigt (oder: gerecht gemacht); welche er aber gerechtfertigt (gerecht gemacht) hat, die hat er auch verherrlicht.

251  Wir können Gott in der Gewissheit anreden, dass der Geist vor Gott „unser Stöhnen, das wir […] in menschliche Worte fassen, für uns in solche Worte [übersetzt], die Gott in seiner Herrlichkeit entsprechen.“ U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 161. 252  Vgl. Ps. 17,3; 139,23 f. u. ö. – Weiteres bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 526. 253 Vgl. M. Wolter a. a. O., S. 505, Anm. 5.

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31 Was sollen wir nun dazu sagen? Wenn Gott für uns ist, wer gegen uns? 32 Er, der doch seinen eigenen Sohn nicht verschonte, sondern ihn für uns alle hingab, wie (πῶς) sollte er uns nicht auch mit ihm alles schenken (χαρίσεται)? 33 Wer wird Anklage erheben gegen Gottes Erwählte? Gott ist der, der rechtfertigt (θεὸς ὁ δικαιῶν; Luther: Gott ist hie / der da gerecht machet). 34 Wer wird verurteilen (τίς ὁ κατακρινῶν)? Christus Jesus [ist] der Gestorbene, mehr noch Auferweckte, der zur Rechten Gottes ist und der auch für uns eintritt. 35 Wer wird uns von der Liebe Christi trennen? Bedrängnis oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? 36 Wie geschrieben steht: „Deinetwegen werden wir den ganzen Tag getötet, wurden als Schlachtschafe angesehen.“254 37 Aber in all dem siegen wir überwältigend (ὑπερνικῶμεν – Luther: in dem allen vberwinden wir weit) durch den, der uns geliebt hat. 38 Denn ich bin überzeugt (Luther: Denn ich bin gewiß), dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte (ἀρχαὶ; Luther: weder Engel noch Fürstenthum / noch gewalt), weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, keine Gewalten (δυνάμεις), 39 weder Höhe noch Tiefe, noch irgendeine andere Kreatur uns trennen kann von der Liebe Gottes in Christus Jesus, unserem Herrn.

Mit der Gewissheit der unbedingten Gottesgemeinschaft trotz allem, was uns trennen will oder zu trennen scheint, fasst Paulus nicht nur die Kap. 5–8 (das neue Leben aus der Rechtfertigung), sondern die ganze Glaubenslehre seit 1,18 zusammen, einschließlich der Lehre der Rechtfertigung des Gottlosen. Im Kontext dessen, dass der Glaube an Christus das Bewusstsein der „Schwachheit“ einschließt, dass er also Hoffnung und Sehnsucht nach der letzten Offenbarung der Gotteskindschaft ist, nimmt Paulus in Vers 28a eine bekannte Glaubensweisheit auf: In der Gemeinschaft, zu der Gott Menschen berufen hat, wird letztlich alles, was uns widerfährt, zum Medium des Guten. Die Verse 28b–30 begründen dies von Gott, seinem Heilsplan her  – oder eigentlich: sie formulieren die Gewissheit der Berufung in die Gemeinschaft Gottes theologisch als göttliche Notwendigkeit dieser Gemeinschaft. Die Verse 31 f. reflektieren im Sinne von Vers 28a die Bedeutung des Berufenseins für die Zukunft, die Gott für uns vorsieht255  – also eben, dass er alles zum Medium des Guten macht. Die Verse 33 f. geben dieselbe Antwort im Sprachfeld von Gerechtigkeit und Gericht – also indem die Entscheidung über die Wahrheit des Lebens als Gericht verstanden wird: Nichts kann uns (im Namen Gottes, der göttlichen Wahrheit) verklagen, denn Gott, der uns in Christus gerechtfertigt und seine Gemeinschaft geschenkt hat, ist der Richter des Lebens. Die Verse 35 f. bestimmen näher, was, obwohl es das zeitliche Leben noch prägt, uns nicht mehr trennen (oder verklagen) kann. Und die Verse 37–39 schließlich steigern das Ganze zu einer hymnisch mitreißenden Zusammenfassung der Gewissheit des ganzen Evangeliums, der Liebe Gottes in Christus. 254 

Ps. 44,23. geschieht in Gestalt einer rhetorischen Frage. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 538 f. zeigt, dass die literarische Figur, die die Aussage des Gottesverhältnisses mit der rhetorischen Frage nach dem Muster ‚wer wird dies in Frage stellen‘ kombiniert, alttestamentlich geläufig ist (vgl. nur z. B. Jes. 50,8 f.). 255 Dies

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28–30 Denen, die Gott lieben, weil sie in seine Gemeinschaft berufen sind, gerät alles, was ihnen widerfährt, am Ende zum Guten: Freudvolles, aber auch Leidvolles und Schmerzhaftes – selbst der Tod. Die Schöpfung, die Welt ist Gottes; der ewige Gott ist der Herr aller Zeit – in seiner Gemeinschaft und Liebe, wenn sie (ihr göttlicher Geist) uns ergreift, sind wir überall geborgen. Paulus greift eine alttestamentlich verankerte Glaubenswahrheit auf („wir wissen“), die aber wiederum auch als hellenistisch-religiöse Weisheit anschlussfähig war, und die er jedenfalls als bekannt voraussetzt: Wer Gott liebt, dem wird Gott alles gut werden lassen.256 Doch wer liebt Gott?

Die, die Gott lieben, lieben ihn, indem sie sich auf Gottes mit Christus erwiesene, unverdiente Liebe verlassen und so als Gottes Kinder wissen. Sie lieben ihn, indem sie durch Verkündigung und Glauben in seine Gemeinschaft berufen sind. Gott zu lieben, ist also nicht als eigene Leistung gedacht, die der Mensch aus sich aufbringt. Die aus Gnade gerechtfertigen Sünder lieben Gott im heiligen Geist seiner geschenkten Gemeinschaft, indem die Gemeinschaft Christi in ihnen lebt. Dass mir, indem ich durch Gottes Liebe Gott liebe, alles zum Guten führt, ist in Gottes Heilsplan begründet – in seinem Gemeinschaftswillen, der unser ganzes Dasein und die Schöpfung insgesamt begründet und umgreift. Dass wir in Gottes Gemeinschaft berufen sind, ist kein willkürlicher Einfall, sondern hat in Gott selbst seinen Grund. Gott hat uns vorher gewusst: sozusagen als er „mich bildete im Mutterleib“ und schon mein Leben sah, bevor es begann (Ps. 139,13–16). So wie er Israel erwählt hat257, was sich im Bund zeigte, so hat er auch uns erwählt, was sich nun in unserem Glauben zeigt. Er hat uns dazu bestimmt, durch den Glauben an Christus der menschlich zeitlichen, aber in der Hingabe vollkommenen Gestalt seiner Gottesgemeinschaft und schließlich auch der Gestalt seines ewigen Auferstehungslebens gleich zu werden258, so dass Christus seinem zeitlichen Leben und seinem Auferstehungsleben nach der erste unter vielen gleichen Geschwistern ist – die in ihm (seiner Gottesgemeinschaft nach) verbunden sind. Dass wir dem Bild des Sohnes gleichgestaltet werden, versteht U. Wilckens so, dass es sich auf den Sohn als Bild Gottes259 bezieht.260 Das erscheint hier als unnötige Komplikation, 256 „Wer Gott liebt“, hieß insbesondere alttestamentlich nicht zuletzt: „wer sein Gesetz erfüllt“. Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 528 f. mit zahlreichen Belegen. Zum Zusammenhang von Gottesliebe und Gebot vgl. nur Dtn. 6,4.17 f., aber auch ein Beleg aus Platons Politeia findet sich (613a). 257 Zum entsprechenden Sprachgebrauch der Erwählung Israels vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 530. 258  Zur Gleichgestalt des irdischen und ewigen Bildes vgl. auch 1. Kor. 15,49 (wir haben das Bild des Irdischen getragen, so werden wir auch tragen das Bild des Himmlischen); Phil. 3,21. 259  Vgl. 2. Kor. 4,4 in Verbindung mit 2. Kor. 3,18, ferner mit Bezug auf den Präexistenten Kol. 1,15 f. 260 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 163.



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läuft aber am Ende auf denselben Sinn hinaus  – sofern nämlich Christus Bild Gottes heißt, indem er in seiner vollkommenen, gehorsamen Gemeinschaft mit Gott Gegenüber Gottes ist.

Es ist Gott, der uns zur Gemeinschaft Christi bestimmt, indem er uns durch menschliche Verkündigung beruft, aus Gnade rechtfertigt (was impliziert, dass in Taufe und Glaube der alte Mensch mit Christus gestorben ist) und verherrlicht. Dass er uns verherrlicht, heißt, dass er uns in seiner Gegenwart oder Gemeinschaft verwandelt und verewigt. Das ist zwar schon jetzt die Wahrheit des göttlichen Vorherwissens, Berufens, Bestimmens und Rechtfertigens, doch als Ewigkeit und vollendete Wahrheit des ganzen Lebens (und auch der ganzen Schöpfung) erst künftig offenbar (vgl. noch einmal die Verse 17 f.). Vertritt Paulus hier eine Lehre von der doppelten Prädestination, also der göttlichen Vorherbestimmung der Einen zur ewigen Gemeinschaft und der Anderen zur ewigen Verlorenheit?261 Paulus sagt, dass Gott uns seine Liebe, seine Gemeinschaft durch Christus und das menschliche Sichverlassen, als Rechtfertigung schenkt, und dass dies sein wesentlicher, schon mit der Schöpfung gegebener Willen ist. Heißt das, dass Gott Andere, die er nicht vorher bestimmt und beruft und rechtfertigt, nicht liebt? Für die systematische Frage ist daran zu erinnern, dass die Rechtfertigung eine Rechtfertigung des Gottlosen ist. Der Sichverlassene, sich berufen findende, war für sich genauso gottlos wie der Nichtglaubende. Die Rechtfertigung ist nur in Gottes Liebe begründet. Aber warum begründet Gottes Liebe nicht auch die Berufung, Rechtfertigung, Verherrlichung der Anderen?   Hier gibt es keine einfache theologische Antwort. Faktisch ist es jetzt so, dass die einen glauben, die anderen nicht, und dass zudem auch die Glaubenden immer zugleich noch Nichtglaubende sind. Dass Gott das wahre Leben schenkt, indem er die Menschen dazu in menschlicher Verkündigung beruft, indem er sie für den Glauben rechtfertigt und durch seinen Geist verherrlicht, lässt sich nicht im Sinne eines innerweltlich durchschaubaren, kausalen Bewirkens verstehen. Sichtbar ist nur der menschlich bedingte Modus dieses Wirkens. Ist es vielleicht so, dass die göttliche Bestimmung zur Gemeinschaft für alle Menschen gilt, aber die Sünde als allgemeine Macht dies teilweise verhindert? Damit ist zugleich die Frage nach Gottes wesentlicher Macht gestellt, die im Zusammenhang von 9,6–29, wo Paulus den Gedanken der göttlichen Prädestination zuspitzt, ausführlich zu diskutieren ist.

31–32 Wenn Gott sich uns von Ewigkeit her, schon mit unserer Schöpfung zugewandt hat, uns bestimmt, berufen und gerechtfertigt hat, um uns in seiner Gemeinschaft zu verherrlichen, dann kann uns nichts, was uns in der Welt begegnet und im zeitlichen Leben widerfährt, wirklich schaden. Mit Vers 31 greift Paulus den Glaubenssatz von Vers 28 in Gestalt einer rhetorischen Frage auf, nun aber sofort mit dem Fokus auf dem Evangelium: Statt zuerst von denen, 261 Vgl. E. Lohse, Rechenschaft vom Evangelium: Exegetische Studien zum Römerbrief, Berlin u. a. 2012, S. 43–53.

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die Gott lieben, ist zuerst von denen (von uns) die Rede, für die Gott ist – die er also zur Gemeinschaft bestimmte, aus Gnade (unverdient) rechtfertigte usf. In Vers 35a wird er dieselbe rhetorische Frage stellen, und zwar dann so, dass die Antwort weiter auf Christus konzentriert ist: Nichts „wird uns von der Liebe Christi trennen“.

Gott gab seinen Sohn „für uns alle“ hin.262 Das heißt  – um es mit einer über Paulus hinausgehenden, trinitarisch zu verstehenden Zuspitzung zu sagen – er gab sich selbst als Mensch hin, indem er im Mensch gewordenen Sohn unser Leben und unseren Tod als Wahrheit unserer Sünde teilte, um seine Liebe zu vollziehen. Das aber heißt, er wird mit dieser Gemeinschaft auch weiter uns alles schenken: eben die Erlösung des Lebens im Ganzen, in der überwunden ist, was uns in der Zeit von Gott und der in ihm begründeten menschlichen Gemeinschaft zu trennen scheint: Angst, Leid, Mangel, Gewalt, drohende widergöttliche Mächte usf.263 Er wird seine Liebe verwirklichen, die den Sinn der Schöpfung, der Zeit, und aller menschlichen Liebe umfasst. 33–34 Wird die Fraglichkeit des Lebens zwischen geschehener Berufung, Rechtfertigung, Verherrlichung zum einen und der Vollendung zum anderen in der Sprachform des Gerichts über das Leben ausgedrückt, so bedeutet das Gesagte: Wenn Gott uns trotz der Sünde zur Gemeinschaft erwählte und im Sohn (in seinem Tod als Urteil über die Sünde) die Versöhnung anbot, uns also, als wir Sünder waren, gerecht machte, dann kann uns nichts mehr verurteilen und damit vom göttlich wahren Leben abtrennen – weder unser eigenes Gewissen oder unsere Angst noch ein Anderer. Christus, der unseren Tod als Sünder teilte, lässt uns, die in Glauben und Taufe als im Fürsichleben Gefangene mit ihm gestorben und gerechtfertigt sind, an seiner Gottesgemeinschaft teilhaben. Als Fortsetzung des Rechtfertigungsgeschehens heißt das: in seiner Gemeinschaft mit uns (in der er oder der Geist seiner Gemeinschaft in uns lebt) tritt er jetzt (als der, der zugleich ewig zu Gott gehört) vor Gott für uns ein. Er aktualisiert sozusagen für jeden Lebensmoment unsere Rechtfertigung, so dass wir im zeitlichen, noch von Leid und Anfechtung geprägten Leben auf seine ewige Gemeinschaft zugehen.264 Nicht ganz auszuschließen ist, dass sich der Gedanke, dass Christus für uns eintritt, auch auf das Endgericht bezieht.265 Dies hätte dann die Bedeutung, dass eben der Christus, durch den wir aus Glauben gerechtfertigt sind, für Gott richtet.

35–37 Wenn Paulus nun nicht mehr vom Gericht über das Leben, sondern von den Lebensbeziehungen selber redet, sagt er doch dasselbe. Keine Angst, kein 262 

Vgl. 4,25; Gal. 2,20. Vgl. gleich die Verse 35.38 f. 264  Mit dem Anklang „Gott ist der, der rechtfertigt – wer wird verurteilen“ vergleicht Paulus den Christen mit dem leidenden Gottesknecht aus Jes. 50,4 ff. In 50,8 f. beruft sich dieser auf die Hilfe Gottes, der gerecht spricht, und fordert rhetorisch den Gegner auf, ihn vor Gericht zu verklagen. 265  M. Wolter, Der Brief an die Römer 1, S. 544 verneint dies. 263 

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Leiden kann uns mehr trennen von der Liebe Christi, die die Liebe Gottes ist (vgl. Vers 35 mit 39). Paulus denkt hier sicher im Besonderen wiederum an die Erfahrung des Verfolgtwerdens um Christi Willen266, weil die Herrschaft der Götter des alten Menschen sich von der Verkündigung des Evangeliums angegriffen findet und feindlich reagiert. Wenn Paulus in Vers 36 Ps. 44,23 zitiert, wo vom Leiden wegen des Bekenntnisses zum wahren Gott und seinem Bund die Rede ist, so versteht er nicht nur das Bekenntnis zu Gott als Bekenntnis zu Christus, sondern vermutlich auch das Leiden als Mitleiden mit Christus (vgl. Vers 17: auf das „mit ihm leiden“ folgt das „mitverherrlicht werden“).

Darin, in der Liebe Christi zu Gott und den Menschen nachzufolgen, gerade auch indem dies Hingabe und Leiden bedeutet, vollzieht sich seine Gemeinschaft. Christus, der sich hingegeben hat, weil er uns liebt, lebt in uns, indem wir uns auf ihn verlassen (vgl. Gal. 2,19 f.) und uns für seine Gemeinschaft einsetzen. Das mit ihm Leben ist zwar in der Zeit nicht gegenständlich sichtbar, doch der Sieg über den Tod und alle Sinnlosigkeit und Gewalt, die dem wahren Leben widerspricht, und auch einfach über den Mangel des vorläufigen Lebens, der uns immer wieder auf das ängstliche Fürsichsein zurückwirft, liegt jetzt schon in Christus, auf den wir uns verlassen. Dass nichts uns trennen kann von der Liebe Christi, ist die Wirklichkeit des Glaubens an ihn. 38–39 Der Hymnus der Gewissheit der Liebe Gottes kommt nun zu seinem Abschluss und Höhepunkt. Weder der Tod noch irgendetwas im zeitlichen Leben kann uns trennen – weder eine vergangene Schuld noch irgendetwas, was uns bevorsteht.267 Keine Macht kann uns trennen, keine menschlich politische und keine pseudoreligiös dämonische Macht – die Liebe Gottes ist mächtiger, die er uns in Christus bewiesen hat. Mit ihm hat er unser ganzes menschliches Leben und unseren Tod in sein ewiges Leben aufgenommen  – das ist unsere Zukunft, indem wir uns auf ihn verlassen. Die dualen Formulierungen bezeichnen zusammen das Ganze der geschöpflichen Wirklichkeit. Alles kann (im Zusammenhang der Sünde) zur dämonisch-widergöttlichen Macht werden268, aber alles bleibt Gottes Kreatur und der siegenden Liebe Gottes unterworfen, die für uns in Christus, der der Herr unseres Lebens ist, Wirklichkeit geworden ist.

266 

S. o. zu den Versen 18–22. Vgl. 1. Kor. 3,22: Leben und Tod, Gegenwärtiges und Zukünftiges. 268  Zu den Engeln vgl. 1. Kor. 6,3; 2. Kor.11,14; 12,7 – insgesamt dazu U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 176 f. Höhe und Tiefe lassen sich vielleicht in dem Sinn konkretisieren, dass uns weder weltlich Hohes, d. h. begeisterndes, noch weltlich Niedriges trennen kann. 267 

3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36 Es folgt ein langer Exkurs über die Bedeutung Israels in der von Christus neu entschiedenen Geschichte des menschlichen Gottesverhältnisses. Er schließt sich an den Gedanken der Vorherbestimmung und Erwählung der von der Liebe Gottes Ergriffenen in 8,28–30 an. Zugespitzt erörtert Paulus die Frage: Wenn zu dem Bund, zu dem Gott Israel erwählte, bereits auch das Wissen um die Gerechtigkeit aus Glauben und die Verheißung des Geistes gehörte, wieso widerspricht dann ein großer Teil Israels der in Christus geschehenen Erfüllung der Verheißung für alle Völker? Bedeutet dieser Widerspruch, dass der Bund mit Israel hinfällig ist?   Paulus knüpft hier noch einmal grundsätzlich an Überlegungen vom Anfang des 3. Kapitels und aus dem 4. Kapitel an. Dort hatte er im Blick auf die Frage, was die Kenntnis des Gesetzes Gottes für die Gottesgemeinschaft bedeutet, betont, dass Juden und Heiden unter der Macht der Sünde sind und deshalb auch die Juden nicht durch das Tun des Gesetzes vor Gott gerecht werden können, sondern nur durch die Gnade, die den Menschen verändert, indem sie im Glauben ergriffen wird.

Dieser Exkurs lässt sich in drei Teile gliedern. In 9,1–29 entfaltet Paulus das Problem: die Trennung der an Christus Glaubenden von der Mehrheit der Israeliten, obwohl Gott Israel vielfältig zum Bund bestimmt hat. Insgesamt scheint unbegreiflich, warum Gott seine Gnade schenkt oder nicht schenkt. In 9,30–10,21 fokussiert er die Trennung darin, dass die Völker im Glauben an den verkündigten Christus die Gerechtigkeit (Gemeinschaft) Gottes finden, die Mehrheit Israels aber, obwohl ihr dieser Weg offensteht, die darin verwirklichte Gerechtigkeit nicht erkennt. In 11,1–36 schließlich hält er fest, dass schon der an Christus glaubende ‚Rest‘ Israels zeigt, dass Gott es nicht aufgegeben hat. So besteht die gewisse Hoffnung, dass er an ganz Israel seine Heilsgeschichte vollenden wird. Auch über die Frage der heilsgeschichtlichen Bedeutung Israels hinaus finden sich in diesen drei Kapiteln systematisch bedeutsame Gedanken zur Heilsgeschichte und dem Wirken Gottes überhaupt, zum Verständnis der Gnade und auch zur Kommunikation Christi.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

a)  Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29 aa)  9,1–5: Der Schmerz der Trennung von Israel, das doch den Bund Gottes, das Gesetz Gottes, die Verheißung Gottes hat 1 Die Wahrheit sage ich in Christus, ich lüge nicht, mein Gewissen bezeugt es mir im heiligen Geist, 2 dass mich große Trauer [erfüllt] und unaufhörlicher Schmerz mein Herz. 3 Denn ich selbst wollte von Christus weg verflucht sein (ηὐχόμην γὰρ ἀνάθεμα εἶναι αὐτὸς ἐγὼ ἀπὸ τοῦ Χριστοῦ) für meine Brüder, meine Verwandten (oder: Abstammungsverwandten) nach dem Fleisch  – 4 welche [doch] Israeliten sind, denen die Sohnschaft (Luther: Kindschafft) und die Herrlichkeit und die Bundesschlüsse (αἱ διαθῆκαι – Luther: der Bund) und die Gesetzgebung (ἡ νομοθεσία – Luther: das Gesetz) und der Gottesdienst und die Verheißungen [gehören], 5 denen die Väter [gehören] und von denen der Christus in Hinsicht des Fleisches (τὸ κατὰ σάρκα) [stammt]. Der über allem ist, Gott, sei gepriesen in Ewigkeit. Amen. (Luther übersetzt: aus welchen Christus her kompt nach dem fleische, Der da ist Gott vber alles, gelobet in ewigkeit, Amen.)

Die Verse 1–5 sind eine persönliche Einleitung der Kap. 9–11. Der äußerste Nachdruck überrascht, mit dem Paulus zu Beginn seinen persönlichen Schmerz darüber versichert, dass die Mehrheit der Israeliten nicht in der soeben hymnisch besungenen, alles entscheidenden Liebe Gottes lebt, die dieser in Christus erwiesen hat.1 Als Grund der Trauer ist dies erst in den Versen 31 f. expliziert – statt die „Gerechtigkeit aus Glauben“ zu finden, wie Gott sie im Evangelium Christi jetzt offenbart hat (1,17), suchen sie sie im Tun des Gesetzes Gottes.

Doch auch schon Vers 3 ist als Hinweis2 auf den Grund des Schmerzes zu verstehen. Aus Liebe zu dem Volk seiner Abstammung, zu den „Brüdern“ der Abstammung nach, die aber zugleich die Brüder der gemeinsamen Gottesgeschichte sind (darauf weist die Bezeichnung „Israeliten“ hin), würde er deren Trennung von Christus auf sich nehmen. Also ist diese Trennung der Grund des Schmerzes. Der Abstammung nach sind die „Israeliten“ die Brüder des Paulus – ebenso wie Christus „dem Fleisch nach“ Jude war (vgl. 1,3) und wie Abraham als Stammvater der Juden „nach dem Fleisch“ gilt (vgl. 4,1). Es handelt sich aber nicht nur um eine Zugehörigkeit der Abstammung des Volkes nach. Schon allgemein gilt, hier aber im besonderen Maße: Die Abstammung als Zugehörigkeit zu einem Volk ist nicht in erster Linie eine biologische Bestimmung, sondern meint die Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Geschichte – die 1  Das ist nicht nur erneut ein Hinweis darauf, dass vermutlich eine wichtige Gruppe der Adressaten seines Briefes in Rom Judenchristen waren, sondern vielleicht auch – so jedenfalls versteht es U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 189 f. – ein Hinweis darauf, dass er dort mit dem Vorwurf gegen ihn rechnet, er würde seine Herkunft aus dem Judentum verraten. 2 Zur entsprechenden rhetorischen Figur vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 28.



a)  Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29

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hier wesentlich die Geschichte des Gottesverhältnisses ist. Für diese Geschichte und die Bestimmung, die sie für alle Zugehörigen bedeutet, steht hier der Name der Israeliten bzw. Israel, den (im jüdischen Selbstverständnis) Gott dem Stammvater Jakob gab, als er ihn segnete.3

Das Israelitsein entfaltet sich in der vielfältigen Geschichte des Bundes4, einschließlich der Verheißung eines letzten, neuen Bundes, in dem Gott das Gesetz ins Herz geben wird (Jer. 31,31–34). Eben diese Geschichte ist auch die Geschichte der Sohnschaft Israels5, also der behütenden Annahme und Erwählung durch Gott, sowie eine Geschichte, die von der Herrlichkeit Gottes, der Ausstrahlung seiner Nähe geprägt ist6 – etwa indem aus dieser Präsenz Gottes, vermittelt durch die Gestalt des Mose, das Gesetz hervorging, indem Gott das Volk begleitet, in der gottesdienstlichen Sorge um das Gottesverhältnis, und schließlich im Tempel und seinem Gottesdienst, in dem der Opferkult Sühne schafft. Und es ist eine Geschichte Gottes mit Israel, die in den Verheißungen über ihre eigenen Rahmenbedingungen hinausweist – wenn sie das endzeitliche Friedensreich, den endzeitlichen König und Sohn und Messias (vgl. etwa Jes. 9,1–6; Jes. 11), die endzeitliche Gabe des Geistes Gottes erwartet (Ez. 31,26 f.). Den äußersten Rahmen dieser (exklusiven) Geschichte, wie er sich nun durch das Evangelium herausgestellt hat, bilden zum einen die Erzväter, zum anderen der Jude Christus, in dem sich die Verheißungen – nun für alle Menschen – erfüllen (vgl. zu Vers 5 auch 15,8: Christus bestätigt die Verheißungen an die Väter). Damit ist die Exklusivität dieser Geschichte als Geschichte Israels überstiegen. Weil sich also für Paulus die göttliche Bestimmung dieser Geschichte, zu der auch er als Israelit gehört, in der Liebe Gottes erfüllt, die in Christus Jesus Wirklichkeit geworden ist (8,39), empfindet er die faktische Trennung Israels von Christus (und damit von sich) um so schmerzhafter – und zwar so, dass er sie selber stellvertretend übernehmen wollte: so wie Mose nach der Anbetung des Stierbildes um Vergebung für das Volk bittet, sonst möge Gott ihn aus dem Buch des Lebens streichen (Ex. 32,32 f.)7, oder eben wie Jesus, der als Sohn Gottes die Wahrheit der Sünde aller Menschen, den Tod auf sich nimmt.

Doch bleibt der Wunsch rhetorisch und bloß Ausdruck eines unauflöslichen Dilemmas  – denn die stellvertretende Übernahme der Getrenntheit als Aus3  Seine Bedeutung ist „Gott streitet [für uns]“; vgl. Gen. 32,28 f.; 35,10 ff. – Zur Bedeutung der Bezeichnung „Israeliten“ vgl. auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 187 f., M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 32. 4  Vgl. nur zum Abrahamsbund Gen. 15, zum Sinaibund Ex.19 f.24; zu Josua Jos.24, zum Bund mit David 2. Sam. 7. 5  Vgl. Ex. 4,22 (Israel ist mein erstgeborener Sohn); Hos. 11,1; Dtn. 14,1 f. 6  Vgl. oben zu 3,22–24  – ferner Ex. 16,10 (die Herrlichkeit des Herrn erschien in einer Wolke), Ex. 24,15–18 (die Herrlichkeit des Herrn ließ sich nieder auf dem Berg Sinai), Ex. 29,43 (das Heiligtum wird geheiligt durch meine Herrlichkeit) u. ö. (M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 34). 7  Der Hinweis findet sich ausgeführt bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 187.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

druck der Liebe ist ja bereits ein für alle Mal geschehen durch den, der diese Versöhnung allein schaffen kann (2. Kor. 5,19: Gott in Christus). Das fehlende Sichverlassen darauf ist es, wodurch die faktische Trennung Israels nun qualifiziert ist: Sie besteht in der Trennung von Christus. Für Paulus ist die Kindschaft Israels aber nicht nur durch die nun allen Menschen mit dem Glauben an Christus angebotene Kindschaft überboten, sondern sie war schon vor Christus durch die Macht der Sünde paralysiert. Dass „die Vorzüge, auf die Israel sich […] berufen kann, […] nicht zum Heil geführt haben“8, liegt an der Macht der Sünde auch über Israel. Das Gesetz kann zwar zur Selbsterkenntnis in der Sünde führen, verhilft aber nicht zu ihrer Überwindung. Vielmehr wird es selbst zum Medium der Sünde gemacht, wenn Gerechtigkeit „aus Werken“ beansprucht wird.9 Wenn also P.‑G. Klumbies der Auffassung widerspricht, dass Paulus hier bleibende Vorzüge meine10, so ist hinzuzufügen, dass eben wegen der Macht der Sünde auch über Israel allein das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen aus Glauben das Heil der Gottesgemeinschaft vermittelt.11 Es ist dieselbe Macht der Sünde, die schon vor Christus Bund und Kindschaft Israels paralysierte, und die nun als Ablehnung des Evangeliums auftritt.   Insofern ist die Zugehörigkeit des Paulus, aber auch Jesu, zu Israel als eine Herkunft „nach dem Fleisch“ von dem ursprünglich damit verbundenen Sinnzusammenhang der Geschichte des Gottesverhältnisses Israels entzweit. Die Zugehörigkeit zur Geschichte Israels hat sich sozusagen aufgeteilt: Auf der einen Seite hat sich die Geschichte des Gottesverhältnisses Israels zu einer Geschichte erweitert, die – stets vermittelt im Tod des alten Menschen – allen Völkern offensteht. Auf der anderen Seite steht die Herkunft „nach dem Fleisch“. Doch die bedeutet als solche für das Gottesverhältnis nichts.12 Entscheidend ist, dass Gott in Christus nun allen Menschen, Juden und Heiden, seine vergebende, erlösende Gemeinschaft eröffnet hat.

Die feierliche, sonst liturgische Schlussformel zum Ruhm Gottes13, der über allem ist, schließt das Bekenntnis der Trauer und Zerrissenheit des Paulus ab, der als Israelit zu Christus gehört, und übergibt sie Gott, der allein das Dilemma auflösen kann.

8  P.‑G. Klumbies, Israels Vorzüge und das Evangelium von der Gottesgerechtigkeit in Röm 9–11, Bethel 1985, S. 138. 9  Vgl. ebd., S. 146 f. zu 9,31 f. 10  P.‑G. Klumbies, Israels Vorzüge und das Evangelium von der Gottesgerechtigkeit in Röm 9–11, S. 138 f.142. 11  Vgl. ebd. S. 140 f. 12  Vgl. pointiert ebd. S. 144. 13 Sie bezieht sich sehr wahrscheinlich (anders als Luther übersetzte) auf Gott, nicht Christus. Zu den philologischen Argumenten vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 189 und (sehr ausführlich) M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 38–40. Wolter versteht sie als Eulogie, wie sie häufig Klagen abschließt (S. 41).

a)  Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29



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bb)  9,6–29: Gottes Wort hat Bestand. Aber dass Gottes Gnade die Einen ergreift und die Anderen nicht, ist unbegreiflich 6 Doch ist es nicht so, dass das Wort Gottes hinfällig geworden wäre (Luther: daß Gottes Wort darumb aus sey). Denn nicht alle aus Israel sind Israel (Luther: es sind nicht alle Israeliter / die von Israel sind). 7 Und nicht, weil sie Same Abrahams sind, sind alle Kinder (Wolter: [Und es ist] auch nicht [so], dass Abrahams Nachkommenschaft alle [diejenigen sind, die seine] Kinder [sind]), sondern: „In Isaak wird dir Same berufen werden“14 (freiere Übersetzung: (nur) was von Isaak (stammt), soll dein Same genannt werden.) 8 Das heißt: Nicht die Kinder des Fleisches sind Kinder Gottes, sondern die Kinder der Verheißung werden als Same gerechnet. 9 Denn das Wort der Verheißung ist dieses: „Um diese Zeit werde ich kommen, und Sara wird einen Sohn haben“.15 10 Aber nicht nur [Sara], sondern auch Rebekka, die von einem schwanger war, unserem Vater Isaak. 11 Denn als sie noch nicht geboren waren und noch nichts Gutes oder Böses getan hatten – damit Gottes Vorsatz der Erwählung bestehen bleibe (ἵνα ἡ κατ’ ἐκλογὴν πρόθεσις τοῦ θεοῦ μένῃ – Luther: auff daß der Fürsatz Gottes bestünde nach der Wahl; revidiert: damit der Ratschluss Gottes bestehen bliebe und seine freie Wahl), 12 nicht aufgrund von Werken, sondern aufgrund des Berufenden – wurde ihr gesagt: „Der Größere wird dem Kleineren dienen“16 (oder: Der Ältere wird dem Jüngeren dienen), 13 wie geschrieben steht: „Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehasst“.17 14 Was sollen wir nun sagen? Ist etwa Ungerechtigkeit bei Gott? Keinesfalls! 15 Denn zu Mose sagt er: „Ich werde mich erbarmen, wessen immer ich mich erbarme (Wolter: Mitleid haben, mit wem ich Mitleid habe), und barmherzig sein, wem immer ich barmherzig bin“18 (Luther: Welchem ich gnädig bin / dem bin ich gnädig / und welches ich mich erbarme / des erbarme ich mich). 16 Also [liegt es] nicht am Wollenden oder Laufenden, sondern am sich erbarmenden Gott (ἄρα οὖν οὐ τοῦ θέλοντος οὐδὲ τοῦ τρέχοντος ἀλλὰ τοῦ ἐλεῶντος θεοῦ). 17 Denn die Schrift sagt zum Pharao: „Eben dazu habe ich dich erweckt (ἐξήγειρά), damit ich an dir meine Macht erweise und damit mein Name auf der ganzen Erde verkündet werde“.19 18 Also denn: Wessen er will, erbarmt er sich, wen er will, verhärtet (σκληρύνει – Luther: verstockt) er. 19 Du wirst mir nun sagen: Was tadelt er dann noch (oder: Was macht er noch Vorwürfe – Luther: Was schuldiget er denn uns)? Denn wer hätte seinem Willen (τῷ γὰρ βουλήματι) widerstanden (oder: widerstehen können)? 20 O Mensch, wer bist du denn20, dass du Gott widersprichst (ἀνταποκρινόμενος τῷ θεῷ)? Wird denn das Gebilde zum Bildner sagen (ἐρεῖ τὸ πλάσμα τῷ πλάσαντι): Warum hast du mich so gemacht? 21 Oder hat nicht der Töpfer Freiheit (oder: Macht) über den Ton, aus derselben Masse das eine Gefäß (σκεῦος) zur Ehre (εἰς τιμὴν – auch: zu ehrenvollem Gebrauch), das andere zur Unehre zu machen? 14 

Gen. 21,12. Gen. 18,10. 16  Gen. 25.23. 17  Mal.  1,2 f. 18  Ex. 33,19. 19  Ex. 9,16. 20  Zur Textkritik vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 61, Anm. 2. 15 

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

22 Wenn aber Gott in dem Wollen, Zorn zu erweisen und seine Macht kundzutun, mit großer Geduld Gefäße des Zorns, die zum Untergang bestimmt sind, ertragen hat, 23 und um kund zu tun den Reichtum seiner Herrlichkeit über Gefäße des Erbarmens, die er zuvor zur Herrlichkeit bereitet hat [hier bricht die Satzkonstruktion ab]. 24 Die hat er auch berufen – uns, nicht nur aus Juden, sondern auch aus Heiden, 25 wie er auch in Hosea sagt: „Rufen werde ich das Nicht-mein-Volk ‚mein Volk‘, und die Nicht-Geliebte ‚Geliebte‘.“21 26 „Und es wird geschehen: An dem Ort, an dem ihnen gesagt war: ‚Ihr seid nicht mein Volk‘, dort werden sie gerufen werden ‚Söhne des lebendigen Gottes‘“.22 27 Jesaja aber schreit über Israel: „Wenn auch die Zahl der Söhne Israels wie der Sand des Meeres wäre – der Rest wird gerettet werden (Luther: so würde doch das ubrige selig werden). 28 Indem er nämlich das Wort vollendet und verkürzt, (Wolter: rasch ausführt), wird der Herr auf der Erde handeln (Wilckens: Ein Wort nämlich, vollendend und verkürzend, wird der Herr schaffen auf der Erde)“.23 29 Und wie Jesaja vorhergesagt (Wolter: zuvor gesagt) hat: „Wenn nicht der Herr Zebaoth uns Samen übrig gelassen hätte, wären wir wie Sodom geworden und Gomorra gleichgeworden“.24

Wieso lebt die Mehrheit Israels getrennt von der Christusgemeinschaft, also außerhalb der Liebe, die Gott in Christus erwiesen hat, obwohl doch die Geschichte Israels die Geschichte des Wortes Gottes ist, welche auf das Evangelium, auf den Erweis dieser Liebe zielt? Doch schließt das eben den Widerspruch durch das Gesetz, die Selbsterkenntnis in der radikalen Sünde, die die Gebrochenheit dieser Geschichte bedeutet, ein. Dass die Israeliten den Bund, das Gesetz, die Verheißungen haben (Vers 4), macht das Evangelium als Wort Gottes nicht hinfällig, durch das sich der geistliche Sinn des Gesetzes (7,14) und die Verheißung allererst erfüllt.

Zunächst, in den Versen 6–13 will Paulus zeigen, dass von Anfang an auch in Israel (in der Geschichte Israels) die eigens zur Gotteskindschaft Berufenen von denen zu unterscheiden sind, die nur abstammungsmäßig (‚dem Fleisch nach‘) in diese Geschichte gehören. Sodann (in den Versen 14–21) erörtert er in zwei Anläufen die sich daraus ergebende Theodizeefrage, nämlich die Frage nach der Gerechtigkeit von Gottes grundloser Erwählung und Berufung. Die Verse 22–26 schließen an den Gedanken der schöpferischen Freiheit Gottes an – seine Freiheit, sich zu offenbaren und in seine Gemeinschaft zu berufen, zeigt sich nun darin, dass Gott auch Heiden in die Kindschaft beruft. Darin erfüllt sich das verheißene Ziel seiner Offenbarungsgeschichte, an Juden und Heiden seine Herrlichkeit zu erweisen. In den Versen 27–29 schließlich kommt Paulus auf die Eingangsfrage zurück – durch das Wirken seines Wortes rettet Gott den Rest Israels – womit zugleich (im Rekurs auf frühere Entsprechungen in der Geschichte Israels) vielleicht doch auch eine Hoffnung für ganz Israel angedeutet ist. 21 

Hos. 2,25. Hos. 2,1. 23  Jes.  10,22 f. 24  Jes. 1,9. 22 



a)  Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29

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6 „Nicht alle aus Israel sind Israel“  – wer ist Israel? Israel versteht sich zum größeren Teil nicht im Evangelium von Christus – obwohl das Christusgeschehen (Kreuz und Auferstehung), indem es im Sichverlassen darauf die Sünder rechtfertigt und den Geist Gottes vermittelt, doch die Erfüllung der Verheißungen (und damit des Bundes und der Gotteskindschaft) bedeutet. Paulus erklärt das, indem er Israel als dasjenige, „aus“ dem Menschen sind, von denen unterscheidet, die Israel selbst darstellen, sozusagen in seinem göttlichen Sinn. Das Israel, „aus“ dem Menschen sind, sind die, die schon der Abstammung und Sprache nach zur laufenden Geschichte Israels gehören, also zu denen, die sich im Allgemeinen in der Geschichte des Wortes oder der Offenbarung Gottes an dieses Volk verstehen. Wenn diese aber nun zum größeren Teil nicht dem Evangelium als Wort Gottes folgen, fragt sich, ob das Wort Gottes hinfällig geworden ist. Das könnte heißen, dass entweder das frühere Wort Gottes, das die Geschichte Gottes mit Israel markiert, nicht mehr gilt – also insbesondere sowohl die Zusage des Bundes als auch die Verheißung der die Sünde endgültig überwindenden Erfüllung des Bundes. Oder es könnte heißen, dass das frühere Wort Gottes weiter gilt, aber deswegen das Evangelium als Wort Gottes für Israel überflüssig ist.25 Doch beides ist zu verneinen.26 Gerade das Evangelium als Wort Gottes erfüllt die Wahrheit des Bundes, der Kindschaft, der Verheißung Israels  – vermittelt eben durch die Selbsterkenntnis des Menschen unter der Sünde in dem Gericht, das Jesus am Kreuz darstellt. 7 ff. Paulus zeigt nun, dass die genannte Unterscheidung Israels nicht erst im Kontext des Evangeliums von Christus, sondern immer schon gilt. Die Israeliten oder Juden konnten noch nie beanspruchen, schon einfach als Angehörige ihres Volkes Gottes Kinder zu sein – obwohl sie alle zu der Sprach- und Geschichtsgemeinschaft gehören, in der das entsprechende Wort Gottes Wirklichkeit wurde. Noch nie galt Gottes Zuwendung zu Israel, die zugesagte Aufnahme in die Kindschaft, äußerlich für alle. Vielmehr war diese Aufnahme in die Kindschaft auch im Blick auf die Nachkommen Abrahams  – und das heißt dann wohl: immer – Ausdruck einer unbegreiflichen Erwählung und Berufung. „Aus Israel“ sind alle Juden der Abstammung nach, aber „Israel“ und damit Träger der geschichtlichen Kindschaft und Empfänger der Verheißung waren und sind nur die von Gott eigens dazu Berufenen. Das begründet Paulus durch zwei Interpretationen der Vätergeschichte der Genesis – in den Versen 7–9 und 10–13. 25 Zur Diskussion, ob das „Wort Gottes“ in Vers 6a die „bleibenden Vorzüge“ Israels bezeichnet oder vielmehr (so P.‑G. Klumbies) das Evangelium, vgl. ausführlich ders., Israels Vorzüge und das Evangelium von der Gottesgerechtigkeit in Röm 9–11, S. 140–142. Allerdings widerspricht einem exklusiven Verständnis von „Wort Gottes“ als Evangelium die Rede vom Wort in den Versen 9 und 28. 26  Diese Verneinung entspricht dem gegebenen Verständnis des Wortes Gottes überhaupt: Gottes Wort ist verlässlich. Vgl. etwa Jos. 21,45; Jes. 40,8; weitere Hinweise bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 45.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

7–9 Nicht alle, die von Abraham abstammen, sind schon dadurch Kinder der Verheißung an ihn, Erben des ihm versprochenen kommenden Heils, also solche, die Gott zur Kindschaft bestimmt. Abraham hatte ja nicht nur mit Sara den Sohn Isaak, sondern auch noch mit Hagar, der Ägypterin, den Sohn Ismael. Aber nur Isaak wurde von Gott als Erbe der Gotteskindschaft berufen. Sprachlich erscheint die Zuordnung zwischen „Samen“ und Kindsein in Vers 7 nicht spannungsfrei (Samen bzw. Nachkommen dem Fleisch nach sind zu unterscheiden von Samen bzw. Nachkommen, die als solche berufen werden), doch der Sinn ist nach Vers 8 klar.

Im Blick auf Israel gilt: Die, die in die Geschichte des Gottesverhältnisses Israels hineingeboren wurden, sind insofern (als „Kinder des Fleisches“) nicht auch schon „Kinder der Verheißung“ oder „Kinder Gottes“, in deren Kindschaft also Gott die Verheißung erfüllt. Das heißt wohl: So wie es in der Geschichte Israels Isaak (im Unterschied zu Ismael) und – so dann die Verse 10–13 – Jakob (im Unterschied zu Esau) gab, so gibt es jetzt Judenchristen und das andere, Christus ferne Israel. Die Zugehörigkeit zur geschichtlichen27 Heilsgemeinschaft Gottes ist nie selbstverständlich – weder dadurch, in das Volk Israel (als auserwähltes Volk) hineingeboren zu sein noch etwa dadurch, in das christliche Abendland hineingeboren zu sein. Ein solches Hineingeborensein begründet auch dann nicht die Zugehörigkeit, wenn angenommen wird, dass es durch Selbsttätigkeit (etwa Gesetzestreue) zu bestätigen ist. Es ist im Sinne des Paulus immer ein konkreter Akt der Berufung, in der sich die Gnade oder der Geist kommuniziert. Das impliziert die Selbsterkenntnis des Menschen unter der Macht der Sünde.   Im Blick auf das Christentum kann das konkreter die vielleicht pietistisch anmutende Frage bedeuten, ob schon eine selbstverständlich genommene Taufe und entsprechende Zugehörigkeit zur Kirche wirklich die Zugehörigkeit zur christlichen Gottesgemeinschaft bedeutet, also die Berufung in die Gotteskindschaft einschließt. Zwar ist der Sinn der Taufe eben dies, diese Zugehörigkeit als Unselbstverständlichkeit für den Glauben zu vollziehen (Röm. 6,6: als Mitgekreuzigtsein des alten Menschen). Durch die Praxis einer selbstverständlichen Säuglingstaufe wird dies aber möglicherweise konterkariert.

Dass nur Isaak, nicht aber Ismael Erbe der Gotteskindschaft ist oder die Verheißung geschichtlich weiterträgt, kann nun zunächst so verstanden werden: Abrahams Gerechtigkeit war Gerechtigkeit aus Glauben  – sie bestand darin, dass er der Verheißung vertraute.28 Wenn also auch Kind jener Verheißung und Kind Gottes29 nicht einfach ist, wer von Abraham abstammt, sondern derjenige, der dazu berufen ist, so könnte das (ohne dass dies hier von Paulus gesagt oder 27  Geschichtlich ist die Heilsgemeinschaft, da sie in einer konkreten, geschichtsbildenden Kommunikation begründet ist. 28  Vgl. Kap. 4 u. a. zu Gen. 15,6 und weiteren Passagen der Abrahamsüberlieferung. 29  Kind der Verheißung ist der, in dem als Kind Gottes sie sich zu erfüllen beginnt.

a)  Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29



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gar expliziert wird) im Sinne von Röm. 4 heißen: Nur die aus Israel sind Israel oder Kinder Gottes, die der Verheißung glauben. In Vers 10 nennt Paulus Isaak „unseren“ Vater, so wie schon in 4,11 f.16 Abraham als Vater aller Glaubenden erscheint – er beansprucht also das Erbe der Verheißung für sich als Judenchristen und für die römische Gemeinde bzw. für uns als Christen – d. h. nun erfüllt sich auch für die Heiden, indem sie zum Glauben an die Versöhnung in Christus berufen sind, jene Verheißung.

Aber es wäre dann weiter zu fragen: Glaube ist ja nicht eine Tat des Menschen, die er aus sich selbst hervorbringt und die dann die Liebe Gottes begründet, sondern eben Ausdruck der Berufung. Glaube als Sichverlassen auf die Verheißung Gottes ist Geistesgabe. Wieso erfährt sich der eine Mensch zur Gotteskindschaft berufen, vom Geist der Gottesgemeinschaft ergriffen, und der andere nicht? Die Geschichte von Isaak und Ismael kann das nicht begründen. Zwar gilt: Wer glaubt, ist berufen. Aber der Glaube begründet nicht die Berufung, sondern ist umgekehrt ein Sichverlassen auf die verheißene Zuwendung Gottes. Im Sichverlassen wird die Verheißung (oder Verkündigung) zur Berufung. Im Kontext der allgemeinen Macht der Sünde, die Paulus voraussetzt, erscheint das noch zugespitzt: Nicht einfach die Gotteskindschaft rein aus Gnade oder grundloser Liebe, sondern die Rechtfertigung als Rechtfertigung des Gottlosen schließt aus, dass dies aufgrund einer Leistung oder einer gegebenen, ihn positiv auszeichnenden, liebenswerten Qualität des Menschen geschieht.

So betont Paulus zunächst einfach die reine, unbegründete Faktizität der Berufung durch Gott – und die theologisch unbegreifliche, d. h. nicht aus einem Gottesverständnis ableitbare Faktizität, dass Andere (jedenfalls gegenwärtig) nicht berufen sind. 10–13 Die Härte dieser Feststellung verstärkt sich noch mit der zweiten Episode der Vätergeschichte, im Blick auf die nächste Generation (Gen. 25). Denn die Söhne von Isaak und Rebecca, Jakob und Esau, waren Zwillinge, und noch ungeboren wird der eine zur Kindschaft erwählt, der andere nicht: „Jakob habe ich geliebt, Esau aber habe ich gehasst“.30 Damit ist der Gedanke, dass es keinen in uns liegenden oder für uns ersichtlichen Grund dafür gibt, dass Gott in seine Gemeinschaft erwählt oder beruft – oder eben nicht erwählt und beruft – ausdrücklich auf die äußerste Spitze getrieben. Weder ist von einer pauschalen Erwählung eines geschichtlichen Volkes auszugehen noch ist eine Eigenschaft (wie Güte) oder ein Verdienst (Werke) ein Grund. Als Grund ist allein dies sagbar, dass Gott in seiner konkreten Zuwendung zum Menschen  – wenn er den einen ‚ruft‘ und den anderen nicht – eben nur sich selbst folgt: seinem aller menschlichen Geschichte vorausliegenden „Vorsatz“.

30 

Paulus zitiert Mal. 1,2 f. nach der Septuaginta.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Damit wird das göttliche Prinzip des menschlichen Gottesverhältnisses auf einer grundsätzlicheren Ebene bestimmt als dort, wo von der Rechtfertigung des Gottlosen aus Gnade die Rede war. Denn auch abgesehen von der allgemeinen Sünde gilt, dass die Gottesgemeinschaft ein freies, unverdientes Geschenk ist. Der Mensch kann sich nicht zum Gottesverhältnis bestimmen. Er kann prinzipiell, auch abgesehen von der Sünde, das Gottesverhältnis nur empfangen – und nicht nur deswegen, weil er unter der Macht der Sünde nicht in der Lage ist, sich dazu zu bestimmen.   Freilich geht es hier nicht nur darum, dies als theologische Wahrheit festzustellen. Vielmehr geht es sowohl schon im Zusammenhang der Genesis als auch bei Paulus – zwar nicht im Blick auf die Adressaten des Römerbriefes, aber doch im weiteren Kontext seiner Kommunikation des Evangeliums – um eine Verkündigung Gottes, die den Sinn hat, dass sich für den Menschen die Berufung ereignen kann. Die Verkündigung des Evangeliums will ihn zur Selbsterkenntnis vor Gott bringen und sagt ihm die in Christus geschenkte Gemeinschaft zu, damit sich die Berufung realisiert. Eben diese Selbsterkenntnis aber besagt nun: Ich kann nichts tun, um Gottes Offenbarung oder Liebe zu erringen. Gleichwohl bleibt es dabei, dass sich für die Tatsache der unterschiedlichen Berufung oder Nichtberufung keinen Gott bestimmenden Grund im Berufenen oder Nichtberufenen angeben lässt – auch nicht die Selbsterkenntnis und auch nicht die Sünde.

Auch über die Frage nach dem Heil Israels hinaus stellt sich die systematische Frage, ob nur festzuhalten ist, dass die verheißene Zuwendung Gottes schlechthin ein Geschenk ist (statt: unsere Möglichkeit), das wir nicht kausal ableiten können. Oder ist es notwendig, dann auch die doppelte Prädestination zu behaupten – also die (sich bei Paulus nur hier findende) Annahme, dass Gott vor der Zeit die Einen zur Gemeinschaft, die anderen zum Verlorensein, zum Tod bestimmt? Der Satz „Jakob habe ich geliebt, Esau aber gehasst“ bedeutet doch, dass Gott sich zur Nichtliebe entschieden hat – auch wenn das Hassen hier nicht affektiv, sondern als Verwerfen oder Zurückweisen zu verstehen ist.31

Es ist systematisch nicht notwendig, aus der Gottheit und Freiheit Gottes die Konsequenz der doppelten Prädestination zu ziehen. Dies wäre eine Theologie, in der sich die dogmatische Reflexion verselbständigt, anstatt zu wissen, wo sie vor Gott schweigen muss. Gottes schöpferische Liebe schließt einen ursprünglichen Hass Gottes aus. Gottes Liebe ist schöpferisch, indem sie Welt und Menschen um der Gemeinschaft willen schafft, und indem Gott den Menschen aus dem Tod seines Fürsichseins und Fürsichlebens, aus der Selbsterkenntnis in der Sünde, durch den Geist seiner Gemeinschaft neu schafft. Also ist nicht denkbar, dass er zugleich auch schafft, um zu verwerfen oder verloren gehen zu lassen, indem er seinen Geist verweigert. Die Sünde aber lässt Gott zu, da ihre Möglichkeit der Preis der Möglichkeit des Gottesverhältnisses ist. Das heißt: die ursprüngliche Sünde ist kontingent und nicht von Gott vorherbestimmt. 31 Vgl.

M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 58.

a)  Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29



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Freilich ist auch schon im Gedanken der doppelten Prädestination eine Asymmetrie festzustellen, die auch eine Asymmetrie zwischen Berufung und NichtBerufung bedeutet. Denn es lässt sich genau genommen auch hier nicht sagen, dass Gott die Gottesferne positiv bewirkt. Das Nicht-Berufensein ist nichts anderes als das menschliche Fürsichsein, das bleibende Fürsichleben, was also der Mensch selbst vollzieht, nicht Gott – auch wenn sich der Mensch nicht selbst daraus befreien kann. Allenfalls ließe sich sagen, dass Gott das sich festhaltende Fürsichsein als Nicht-Berufensein insoweit begründet, als er den Menschen sich selbst überlässt32 und seinem Fürsichleben nicht widerspricht. Nun ist aber nicht zu übersehen, dass Paulus den Unterschied zwischen Berufensein und Nichtberufensein in dem Sinne auf Gott zurückführt, dass er auch das Nichtberufensein als Wirken Gottes versteht – Gott beruft oder verhärtet, wie er will (vgl. gleich Vers 18), wobei es vielleicht aber einen Zweck im größeren Rahmen der Heilsgeschichte gibt, den wir nur nicht (gleich) verstehen (vgl. gleich Vers 17).   Auch wenn sich der Unterschied zwischen Berufensein und Nichtberufensein nicht theologisch konkret begründen lässt, so lässt er sich doch konkret beschreiben. Gottes Wahrheit und schöpferische Liebe wirkt konkret vor allem (wenn auch nicht nur) durch Menschen – er offenbart sich durch Jesus, die Apostel, Menschen der Kirche usf., deren Kommunizieren immer auch endlich, begrenzt und fehlbar ist. Insofern ist es immer auch diese Endlichkeit und Fehlbarkeit und menschliche Sünde, die Unzulänglichkeit menschlicher Liebe, die faktisch dafür verantwortlich ist, dass die Macht der Sünde nicht durch Gottes Geist überwunden wird – weil eben die Anderen nicht angesprochen werden, weil Menschen nicht die richtige Sprache finden, weil Christen keine Vorbilder sind usf. Es scheint kaum sinnvoll, das dann als Gottes Willen zu überhöhen.

14–18 Paulus selbst stellt die Frage, die sich aufdrängt: Ist Gott nicht ungerecht, wenn die Ungleichheit, mit der Gott beruft oder nicht beruft, mit der er Gnade erweist oder nicht erweist, willkürlich ist? Er ist doch Schöpfer aller Menschen – wenn er die einen zum Leben in der Gemeinschaft beruft und die anderen sich selbst und damit dem Tod überlässt, ohne ihr ‚Wollen und Laufen‘ zu berücksichtigen: ist dies nicht ganz ungerecht? Und konkreter sowohl im Blick auf Israel, aber auch im Blick auf die Kirche Christi gefragt: Widerspräche es nicht dem früheren Bund oder der in Christus zugesagten Versöhnung und Gemeinschaft, wenn doch von dieser allgemeinen Zusage zu abstrahieren wäre, weil allein der ewige Vorsatz, im Besonderen zu berufen oder nicht zu berufen, entscheidet? Im Grunde ist dies wie gesagt auch eine Gestalt der später sog. Theodizeefrage, die aber nicht die Allgegenwart und Güte des Schöpfers, sondern die Güte des Versöhners und Erlösers betrifft. Wie ist Gott theologisch zu rechtfertigen (Verse 14–18) – oder muss gar Gott selbst sich rechtfertigen (Verse 19–21)?

Paulus sucht die Antwort in Gottes Gottheit, wie sie sich offenbart (Vers 15 und 17 – und dann 22 f.). 32 

Vgl. erneut den Gedanken der damnatio bei Augustinus (s. o. S. 53, Anm. 10).

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Vers 16 zieht daraus eine erste theologische Konsequenz für die Gnade Gottes, bevor dann in Vers 17 die Gottesrede nach Ex. 9 den göttlichen Sinn auch der Verhärtung von Menschen erklärt. Vers 18 zieht ein Zwischenfazit – bevor in den Versen 19 ff. die Theodizeefrage erneut aufgegriffen wird: Wie kann Gott den Sünder, den er darin bestimmt, verantwortlich machen?

Für Paulus ist es keine Ungerechtigkeit, dass Gott die einen beruft und die anderen nicht, weil es Ausdruck seiner offenbaren Gottheit ist, dass seine Zuwendung nur in ihm selbst begründet ist. Dass Gott in seinem Wirken nur sich selbst folgt, macht seine Gottheit aus. So hat er sich in der Geschichte Israels offenbart. Menschliche Vorstellungen von Gerechtigkeit können nicht über Gott stehen; Gott ist ihnen nicht zu unterwerfen. Gottes Gerechtigkeit ist von menschlicher Gerechtigkeit unterschieden: Sie schafft, woran sie sich erweist (vgl. gleich 19–21). Das göttliche (gerechte) Tun hat seinen Grund in sich selbst, nicht im Anderen. Menschliche Gerechtigkeit, die Gerechtigkeit menschlichen Tuns dagegen bemisst sich an einem Gesetz und Maßstab, der ihm vorgegeben ist.33

Der Zweck des göttlichen Handelns überhaupt ist, dass er sich in seiner Gottheit, in seinem nur sich selbst Folgen und nur in sich Gründen, offenbart – dass sein entsprechender Name überall verkündet werde. Das impliziert einerseits für das menschliche Gottesverhältnis: unser Wollen und Streben in Bezug auf Gott ist bei aller menschlichen Vermittlung doch nicht in uns begründet, sondern in Gott, in seiner Gnade. Andererseits will Gott sich in seiner Gottheit eben offenbaren – was wesentlich (auch ohne schon von der Gott wesentlichen Liebe zu reden) auf unser Verstehen, auf unser Verhältnis zu ihm zielt. Entsprechend ist mit der Geschichte der Verstockung des Pharaos (nach Ex. 9,16) schon angedeutet, dass die Offenbarung Gottes in seiner Gottheit (der gemäß sein Wirken nur in ihm selbst begründet ist) einen Heilsplan impliziert. Zwar beruft er den einen und den anderen (hier: den Pharao) verhärtet er, überlässt er sich selbst – doch es könnte sein, dass erneut auch die Verhärtung dem Sinn des größeren Erbarmens folgt, so wie gemäß Ex. 9 die Verhärtung des Pharaos dem Ziel des Exodus des Volkes in die Freiheit diente. Freilich ist dieser Zusammenhang hier nur implizit gegeben.34 Implizit wird hier von Paulus die Exodusgeschichte umgekehrt: Wie einst der Pharao, scheint nun Israel verhärtet  – doch mit dem Sinn, dass Gott sich schließlich an allen Völkern als Herr offenbart (so jedenfalls dann in 11,25–32).   Doch auch wenn im Rückblick auf die Exodusgeschichte der Heilssinn der Verhärtung des Pharao (auf der Ebene mythischer Erzählung) verständlich sein mag – wie sollte die 33  Im Unterschied zu Gott kommen auch die Gründe und Motive des menschlichen Tuns, die dem Maßstab der Gerechtigkeit unterworfen sind, nicht rein aus dem Menschen selbst. 34  M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S 66 f. meint, die Tatsache, dass Paulus gerade nicht davon redet, sei zu respektieren.



a)  Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29

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gegenwärtige Verhärtung Israels der Berufung der Völker dienen? Darauf ist zurückzukommen.

Nur wenn Gott auch in dem, was uns unverständlich oder ungerecht erscheint, seine Heilsgeschichte verfolgt, die er verheißt und in deren Verheißung er sich wesentlich offenbart, kann auch im Sinne von 9,6 die Verlässlichkeit des Wortes Gottes (der zugesagten Gnade) behauptet werden. Die zugesagte Zuwendung gilt zwar nicht für jeden zu jeder Zeit. Nicht jeder ist im Sinn der Verheißung berufen. Aber die, die durch das Wort berufen sind, können sich darauf verlassen, dass auch das Nichtberufensein Anderer zum Heilsplan gehört, den Gott durchsetzen wird, um sich zu offenbaren – was vielleicht auch die spätere Berufung der Verhärteten einschließt. Gleichwohl bleibt das Problem der Willkür bestehen: Wenn auch Nichtberufensein zum Heilsplan gehört, dann scheint er nicht das Heil für alle zu umfassen.

19–21 Der Einwand der Theodizee aus Vers 14 wird nun in Gestalt einer direkten Einrede eines fiktiven Disputanten fortgeführt.35 Inhaltlich und der Form nach steht der Abschnitt einigermaßen parallel zu den Versen 14–18. Vers 19 nennt den Einwand, Vers 20 weist schon die Möglichkeit dieses Einwandes mit dem Hinweis auf Gottes Bestimmung als Schöpfer des Menschen ab, die dann in 20 f. mit zwei „vielfach aus biblischer Tradition bekannt[en]“ Gleichnissen36 illustriert wird. Dieselbe Frage nach der Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit Gottes hatte Paulus schon in 3,5–8 erörtert.

Der Einwand gegen den bisherigen Gedankengang wäre zugleich eine Anklage Gottes – falls Gott so wäre, wie Paulus behauptet. Wenn es keine Entscheidungsfreiheit für oder gegen Gott, das Leben im Gottesverhältnis, für oder gegen den Bund und das entsprechende Tun des Gesetzes gibt, wenn nur der Wille Gottes entscheidet und entweder das gute Leben Gnade Gottes oder das verkehrte Leben (die Sünde) Verhärtung durch Gott ist – dann ist der Mensch auch nicht für sich und sein Leben verantwortlich und es gibt keinen Grund für Gottes Zorn über die Sünde. Wenn das gottferne Leben des Menschen nur daran liegt, dass Gott sich ihm nicht zuwendet, dann wäre es ungerecht, das gottferne Leben wiederum mit weiterer Abwendung (Zorn) zu beantworten. Der Konsequenz oder stillschweigenden Voraussetzung des Einwandes, nämlich dass Gott seine Zuwendung doch nach dem selbstbestimmten Willen des Menschen richtet, folgt Paulus nicht. Aber er versucht auch nicht eine Rechtfertigung Gottes, eine Theodizee.

35 Nach M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 68 ist der Sprachgebrauch unpaulinisch – vielleicht stehen entsprechend argumentierende Texte philosophischer oder religiöser Herkunft im Hintergrund. 36  U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 201 f.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Und er greift auch nicht die früher entwickelten Ansätze auf, die Verantwortlichkeit des Menschen vor Gott, trotz der Unfreiheit in der Sünde, herauszustellen37 (vgl. 2,1 ff.: „du kannst dich nicht entschuldigen […]“ und 3,4–8: Gott ist nicht ungerecht, wenn er zürnt).

Vielmehr entgegnet Paulus dem Einwand wiederum mit dem Hinweis auf die Gottheit Gottes: Das Geschöpf verkennt sich, wenn es meint, seinem Schöpfer oder dem Tun seines Schöpfers widersprechen zu können, also ihm eine Verkehrtheit oder einen verkehrten Gebrauch seiner Schöpfung vorhalten zu können. Der Mensch versteht weder wer Gott ist noch wer er selbst ist („wer bist du denn“), wenn er dies tut. So wie Gottes Schaffen die Wahrheit seiner Geschöpfe setzt, so ist das, wozu er sie in ihrer geschichtlichen Wirklichkeit bestimmt, keinem ihm äußeren, bloß menschlichen Maßstab von Gerechtigkeit zu unterwerfen. So wie Gott ursprünglich Welt und Mensch schafft, so ist auch sein Berufen, seine Zuwendung schöpferisch. Gerade für das Evangelium hat dies entscheidende Bedeutung: Gott macht den Sünder gerecht, indem dieser „aus dem Glauben an Christus ist“ (3,26), und beginnt so die universale Heilsverheißung zu erfüllen. Die Gerechtigkeit des Menschen ist im schöpferischen Tun Gottes begründet – also ist umgekehrt Gott nicht einem Maßstab menschlicher Gerechtigkeit zu unterwerfen. Allerdings ist festzuhalten, dass Paulus diesen Gedanken der schaffenden Gerechtigkeit Gottes hier nicht expliziert – also auch nicht in dem entscheidenden Aspekt, dass Gott durch das Christusgeschehen gerecht macht, indem sich der Mensch, dem dies gesagt ist, darauf verlässt. Der Mensch ist dabei also durchaus nicht wie eine tote Tonmasse anzusehen, aus der etwas hergestellt wird.38 Vielmehr ist er als Hörender, Verstehender, sich Erkennender, sich Verlassender zu bedenken. Der Vergleich des Menschen mit dem Ton des Töpfers ist also insofern unterkomplex, als er dem Menschen als zum Hören, Verstehen und zum Geist der Gemeinschaft bestimmte imago dei nicht gerecht wird. Der Mensch ist nicht nur wie totes Material fremdbestimmt – gerade in der Verhärtung nicht, wenn diese im Lebensprinzip der Selbstbestimmung ohne Gott besteht. Und der Mensch kann als imago Dei auch nicht nur bloßes Instrument (Gefäß zur Ehre oder zur Unehre) für ein ihm (insbesondere im Fall der Verhärtung) äußerlichen Zweck sein. Die Analogie, dass Gott Menschen schöpferisch dazu bestimmt, unter der Macht der Sünde zu verbleiben, wie der Töpfer den Ton gestaltet, passt also nicht.39 37  Dafür würde es keine Rolle spielen, ob eher betont würde, dass die Unfreiheit in der Macht der Sünde liegt, oder ob betont würde, dass Gott verhärtet, d. h. nicht widerspricht. 38  M. Wolter, a. a. O. 2, S. 72 zeigt, wie Paulus hier Jes. 29,16 zitiert und Gen. 2,7 anklingen lässt – frappant ist auch der Anklang von Weish. 15,7 und Sir. 33,10–13. 39  In diesem Zusammenhang kann wie gesagt (S. 81, Anm. 62; S. 142, Anm. 181) die Argumentation M. Luthers in De servo arbitrio weiterführen, dass unser Wollen immer entweder vom Prinzip des verkehrten Fürsichlebens oder vom Geist der Gemeinschaft Gottes bestimmt ist und wir keinen Willen (freies Entscheidungsvermögen) über dem Willen haben. Die entsprechende innere Notwendigkeit bedeutet aber nicht, gezwungen zu sein. Und vor Gott verantwortlich, wenn er uns anspricht (wir uns in seinem Namen angesprochen finden) sind



a)  Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29

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Evtl. ließe sich (unter vorläufiger Absehung von Vers 22) noch vorbringen, dass das Bild der unterschiedlichen Tongefäße nicht spezifisch auf den Menschen unter der Sünde oder unter der Gnade zielt, sondern herausstellt, dass die Menschen so oder so, in der Sünde ebenso wie in der Liebe, aufs Ganze gesehen Diener des göttlichen Heilswirkens sind. Auch ‚Gefäße der Unehre‘, die dazu bestimmt sind, mit dem unvermeidlichen Mist des geschöpflichen, fehlbaren Lebens fertig zu werden, sind zum Funktionieren des Gesamthaushalts von Bedeutung.

Die theologische Reflexion, dass Gott Menschen überhaupt dazu bestimmt, in dem Sinne „Gefäße der Unehre“ oder sogar des „Zorns“ (Vers 22) zu sein, dass sie definitiv der Nichtigkeit verfallen, wird dem im Evangelium offenbarten, sich schon in der Schöpfung äußernden Gemeinschaftswillen Gottes nicht gerecht. Die Frage, wieso die Einen vor Gott und aus der Liebe Gottes leben und die Anderen nicht, ist mit der Annahme einer doppelten Bestimmung durch Gott nicht befriedigend zu beantworten. Hat Gott, auch wenn er als der ewige Schöpfer und das ewige Ziel die Wahrheit aller Wirklichkeit ist, sich in der Menschwerdung und im Leben des Geistes nicht auf die Ebene menschlicher Kommunikation, die immer auch ein Moment von Kontingenz (Unbestimmtheit) einschließt, eingelassen? Die innere Bestimmtheit des Lebens durch den Geist der Gemeinschaft Gottes, die dem Gesetz der Sünde widerspricht, bedeutet keine kausale Notwendigkeit, keinen äußeren Zwang.

Zudem ist auch schon die Frage zu differenzieren: Wir selber, die auf die Christusgemeinschaft Getauften und in sie Berufenen, sind immer beides – denn für uns selbst wir waren wir Gottlose und für uns selbst, sofern uns nicht der Geist der Gemeinschaft bestimmt bzw. Christus in uns lebt, sind wir es auch heute. Was bedeutet die Identität, die wir durch den Glauben in der Gemeinschaft Gottes finden, für die im Leben des Glaubenden noch verbleibende oder sich wiederherstellende Identität des Fürsichlebens? Darauf, dass es bei dem Gedanken der ewigen Erwählung nicht um eine statische Bestimmtheit der Individuen entweder zur Gemeinschaft oder Verlorenheit gehen kann, zielt auch Karl Barths Bemerkung zu 9,10–13. Die doppelte Prädestination sei nicht „Geheimnis […] dieses oder jenes Menschen“, sondern sie sei „tiefste Gemeinschaft“ der Menschen. Sie sei also nicht (wie bei den Reformatoren) auf „die psychologische Einheit des Individuums“ zu beziehen – „Paulus […] kann es nicht so meinen […] Wie sollte auch das zeitliche, das anschauliche […] Individuum ewiger Erwähltheit oder Verworfenheit überhaupt fähig sein?“ Die „Doppelheit in Gott bedeutet: […] ewige Überwindung […] des Gerichts durch die Gnade, des Hasses durch die Liebe, des Todes durch das Leben. Aber dieser Sieg ist uns in jedem Augenblick der Zeit verborgen.“40 Und doch ist genau „dieser Sieg“ Gegenstand des Glaubens.

wir auf jeden Fall. Vgl. WA 18, S. 634 f. (LDStA 1, S. 288–291. Zu Röm. 9 vgl. WA 18, S. 719 ff. (LDStA 1, S. 488–506); zu Ex. 9 WA 18, S. 705.708–714 (LDStA 1, S. 452 f.460–475). 40  K. Barth, Der Römerbrief, Neue Bearbeitung, München 1922, S. 332.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Der Abschnitt 22–29 ist sprachlich etwas konfus. Bevor Paulus in 9,30 ff. die Verhärtung Israels genauer bestimmt, und zwar im Kontext des Evangeliums von der Gerechtigkeit aus Glauben, beginnt er einen Gedanken über den Zweck der Vorherbestimmung zum Heil und Unheil (Verse 22 f.), führt ihn aber nicht richtig zu Ende. Statt dessen stellt er nun das Wunder heraus, dass Gott überhaupt zur Gemeinschaft beruft – zum einen die ursprünglich nicht zum Bund gehörigen Heiden (Verse 24–26), zum anderen aber auch den Rest Israels (Verse 27–29).41 An die Verheißung und Bedeutung dieses Rests knüpfen dann wieder die Verse 11,4 ff. an. 22–23 Der Zweck dessen, dass Gott beruft oder nicht beruft, Gefäße der Gnade oder Gefäße des Zorns bestimmt – und letztere gleichwohl eine Zeit lang erträgt, den Vollzug des Zorns also aufschiebt – der Zweck ist insgesamt, dass Gott sich offenbart: eben in seinem Zorn, seiner Macht, in der Gnade seiner Gemeinschaft (im Geschenk seiner Zuwendung). Ist das eine gleichgültige Aufzählung verschiedener Merkmale seiner Gottheit oder gibt es hier ein Gefälle? Als wer offenbart Gott sich am Ende? Gott offenbart sich nicht in unzusammenhängenden Äußerungen von Zorn, Macht und Gnade. Vielmehr impliziert der Glauben an das Geschenk der Christusgemeinschaft, dass diese Zielpunkt der Geschichte ist, in der Gott sich offenbart. Zudem erfährt in diesem Zielpunkt (nämlich in der Gotteskindschaft) die Schöpfung insgesamt ihre Bestimmung (8,19–23). Gott offenbart sich im Zusammenhang einer Geschichte, die zwar noch auf dem Wege ist, aber in Christus bereits in ihrem Ziel vorweggenommen und entschieden ist. Wenn Gott also jetzt (in Christus) jedenfalls für Bestimmte den „Reichtum seiner Herrlichkeit“ offenbart hat, wenn er also das Leben in seiner Gemeinschaft eröffnet und unerschöpflich seine liebende Nähe ausstrahlen lässt, dann diente und dient dem eben auch das Ertragen des verhärteten, verkehrten menschlichen Lebens. Denn dieses Ertragen bedeutet den Aufschub des Zorns, der die Nichtigkeit als Wahrheit des Lebens unter dem Gesetz der Sünde vollstreckt. Gott erträgt das verkehrte Leben in seiner kollektiven Verflochtenheit, weil das menschliche Leben überhaupt eben auch Voraussetzung dafür ist, dass er seine Gemeinschaft verwirklicht. Dass Gott sich offenbart, heißt, dass er sich in seiner Macht offenbart – sei es, dass er die wahre Nichtigkeit vollstreckt, sei es, dass er die Gnade seiner Gemeinschaft erweist, die ewiges Leben bedeutet.   Dienen darüber hinaus auch Offenbarungen Gottes in seinem Zorn oder in seiner Macht der Offenbarung der Gnade  – womöglich sogar der die Sünder (die er „zum Untergang bestimmt“) vernichtende Zorn?   Eine solche Funktion für die Heilsgeschichte könnte wie bei der Bedeutung des Pharaos für die Geschichte des Exodus ganz pragmatisch unmittelbar gedacht sein. Oder 41 Dabei bestehen die Verse 25–29 aus einer Verbindung und Adaption verschiedener Zitate aus Hosea und Jesaja.



a)  Gott schenkt seine Gnade, wem er will: 9,1–29

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aber sie kann so gedacht sein, dass der vernichtende Zorn über die Sünde der Andern den zur Gnade Bestimmten die notwendige Selbsterkenntnis in der eigenen Sünde vermittelt. Oder aber, der Tod des Sünders, mit dem Gott die Nichtigkeit seines Lebens vollstreckt, ist aufgeschoben, damit er selbst zur Selbsterkenntnis in diesem Tod kommt, die die Bedingung des Sichverlassens auf die Gnade ist. (Dann aber bedeutet die göttliche Bestimmung zur Vernichtung auch keine Determination.)   Grundsätzlich kann der Zorn des Gerichts zum einen die Bedeutung haben, die Nichtigkeit des Lebens in der Sünde real zu vollziehen, und zum anderen, unter Aufschub dessen, den Sünder zur Selbsterkenntnis in dieser Nichtigkeit zu bringen. Hier ist noch einmal 2,4 (im Zusammenhang von 2,4–10) zu vergleichen, wo vom doppelten Gericht am Tag des Zorns und der Offenbarung die Rede ist – aber auch davon, dass die Geduld Gottes die Umkehr des verhärteten Menschen ermöglicht.

Noch einmal: Braucht Gott, um den „Reichtum seiner Herrlichkeit“ zu offenbaren, auf der anderen Seite die „Gefäße des Zorns“? Ist die Existenz der Sünder deshalb von Gott gewollt oder gar notwendig? Ist es deshalb sein ewiger Plan, dass nur ein Teil der Menschen (oder im Blick auf Israel: ein Rest) zur Gnade seiner Gemeinschaft kommt? Oder erwägt Paulus noch eine andere List der göttlichen Vernunft und Gnade? In 11,25–36 versucht Paulus es so verstehen, dass die  – vorübergehende  – Verhärtung Israels der Berufung der Heiden dient, was die Erwartung eröffnet, dass Israel am Ende doch aufgenommen wird. Hier jedoch scheint es noch anders zu klingen: Die Gefäße des Zorns sind zum Untergang bestimmt. Dem scheint wie gesagt eine einfache theologische Logik zu Grunde zu liegen: Die Macht oder Gottheit Gottes bedeutet, dass das faktische Berufensein oder Nichtberufensein nur in ihm selbst gründet. Doch wäre dem nicht der Gedanke entgegenzuhalten, dass Gott nicht deshalb nicht beruft, weil er nicht alle berufen will, sondern deshalb, weil er aufgrund des Wesens seiner eigenen Schöpfung des Menschen nicht alle berufen kann? Denn Gott beruft, indem er menschlich den Menschen selbst auf seine Wahrheit anspricht. Er wirkt nicht auf uns, indem er uns kausal bestimmt, sondern als Geist der Verkündigung und des Glaubens. Kann das bedeuten, dass Gott seinen Plan universalen Heils nicht völlig durchsetzen kann, dass sein Geist an der faktischen menschlichen Sünde scheitert? Aber wie wäre dann noch seine Allgegenwart, seine Allmacht, seine alle Zeit umfassende Ewigkeit zu denken?

24–26 Der Gedanke zur doppelten Prädestination bricht ab, weil sich die wirkliche Dynamik des Sichoffenbarens Gottes, die Paulus im Zuge der Verse 22–23 klar geworden ist, als die höhere Wahrheit erweist. Gott will sich in seinem Zorn, in seiner Macht offenbaren, schiebt das aber auf, um sich in der Fülle der Gnade zu offenbaren. Eben der Eindruck dieser unerhörten Fülle der Gnade lässt die Reflexion der Prädestination, der Nicht-Erwählung in den Hintergrund treten. Das Wunderbare, die Zeitenwende liegt darin, dass Gott durch die Verkündigung der Versöhnung aller Menschen, indem Christus den Tod, der die Wahrheit der Gottesferne ist, auf sich genommen hat, nicht nur Juden, sondern auch Heiden in seine Gemeinschaft berufen hat. Für Juden und Heiden bedeutet das gleichermaßen die Befreiung vom Leben unter dem Gesetz der Sünde. Zugleich

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

aber knüpft Gott an die Verkündigung seines Bundes mit Israel an: Gerade die Universalität der Liebe Gottes, welche nun die Grenze des Bundes mit Israel überschreitet, versteht Paulus so, dass sie von Hosea als dem Propheten dieses Bundes selbst verheißen wurde.42 „An dem Ort“ der Erwählung, am Ort der Differenz zwischen dem zum Bund bestimmten Israel und den anderen Völkern, also aus der Mitte Israels heraus, in Jesus Christus, wird die Gotteskindschaft allen Menschen zugesagt. Die Entgrenzung des Bundes mit Israel kommt aus der Mitte seiner eigenen Wahrheit. Angesichts der göttlichen Dynamik dieser Entgrenzung und Universalität tritt die Frage der Prädestination für einen Moment in den Hintergrund. Doch auch wenn die Gnade der erlösenden Gemeinschaft nun allen Menschen verkündigt und zugesagt wird – den Völkern und ganz Israel – so heißt dies doch nicht, dass sich auch alle Menschen darauf verlassen. Gott hat berufen aus Juden und aus Heiden. Damit ist sogleich wieder die Frage gestellt, welche Rolle der Mehrheit Israels, das der Berufung in die neue Gemeinschaft des Geistes nicht folgt, im Rahmen der Offenbarungs- und Heilsgeschichte zukommt, die mit dem Israel gewährten Bund beginnt.

27–29 Um die Frage vorläufig zu beantworten (er greift sie wie gesagt im 11. Kapitel auf ), zitiert Paulus weiterhin bloß die Prophetie des alten Bundes selbst (Jes. 10,22 f. im Zusammenhang mit Hos. 2,1 und 1,9)43  – so bestätigt er die Gültigkeit des Wortes Gottes nach Vers 6. Jesajas Gerichts- und Verheißungswort über Israel versteht er als in die Gegenwart gesprochen: Nur ein Rest wird gerettet – eben die, die im Glauben an die in Christus geschehene Versöhnung Rechtfertigung finden – zusammen mit den berufenen Heiden. Die exilisch-nachexilisch geprägte geschichtstheologische Figur des heiligen Rests vereint eine Erfahrung des Zorngerichts Gottes über die allgemeine Sünde mit dem Glauben, dass die Erwählung Israels in Gestalt eines heiligen Restes der Gerechten bewahrt ist.44 Paulus greift den Gedanken des „Restes“ in 11,4 ff. wieder auf.

Das verheißene Wort, das nach Vers 28 Gott über die ganze Erde wirksam spricht, ist das Evangelium von der Versöhnung in Christus. Das Evangelium ist das nach den Versen 6–9 zur Kindschaft berufende Wort Gottes, indem es nun die Kindschaft zu vollenden begonnen hat. Es vollendet die Berufung in den Bund, eben indem es sie für den Rest Israels wiederherstellt und im Blick auf alle Völker entgrenzt. Das heißt, die Verkündigung des Evangeliums richtet sich an alle, auch wenn nicht alle glauben. Gott verkürzt sein Wirken, d. h. es bringt nun die Zeit der Entscheidung, die Zeitenwende. Das schließt das Gericht ein, 42  Freilich zitiert Paulus dies gegen den ursprünglichen Sinn von Hos. 2, wo sich die Wende zur Annahme zum Volk Gottes nicht auf die Heiden, sondern auf Israel bezieht. 43  Zur Zitierweise vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 206 f. 44  Zur Theologie des Restes vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 86–88, sowie ausführlich J. Hausmann, Israels Rest. Studien zum Selbstverständnis der nachexilischen Gemeinde. Stuttgart 1987.



b)  Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21 

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welches die Voraussetzung der Versöhnung ist, weil es zur Selbsterkenntnis vor Gott bringt.45 Wenn aber Gott durch Gericht und Evangelium jetzt einen Rest Israels in die neue Kindschaft berufen hat – heißt das, dass die Mehrheit wie Sodom und Gomorra (vgl. Gen. 18 f.) der Nichtigkeit verfällt, oder heißt es, dass durch den Rest auch ganz Israel gerettet (werden) wird? In 10,1 fleht Paulus darum. Aber wie wäre das zu denken?

b)  Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21 aa)  9,30–10,4: Israel verfehlt die Gerechtigkeit – die aus Glauben kommt 30 Was sollen wir nun sagen? Dass Heiden, die [die] Gerechtigkeit nicht erstrebten, Gerechtigkeit erlangt haben, und zwar [die] Gerechtigkeit aus Glauben (δικαιοσύνην δὲ τὴν ἐκ πίστεως). 31 Israel aber, das das Gesetz der Gerechtigkeit erstrebte (Wolter: das der Gesetzesgerechtigkeit nachjagte), ist zum Gesetz nicht hingelangt (oder: hat das Gesetz nicht erreicht). 32 Warum? Weil [es die Gerechtigkeit] nicht aus Glauben [suchte/sucht], sondern so, als [käme sie] aus Werken (ὅτι οὐκ ἐκ πίστεως ἀλλ’ ὡς ἐξ ἔργων· – Luther: Darumb / daß sie es nicht aus dem Glauben / sondern als aus den Wercken des Gesetzes suchen). Sie stießen sich am Stein des Anstoßes (oder: Stolperstein), 33 wie geschrieben steht: „Siehe, ich lege in Zion einen Stein des Anstoßes und einen Felsen des Ärgernisses (καὶ πέτραν σκανδάλου), und wer auf ihn vertraut, wird nicht zuschanden werden“.46 1 Brüder, der Wunsch (εὐδοκία) meines Herzens und das Flehen (oder: Gebet) zu Gott für sie [zielen] auf [ihre] Rettung (εἰς σωτηρίαν). 2 Denn ich bezeuge ihnen, dass sie Eifer für Gott (ζῆλον θεοῦ) haben, jedoch nicht entsprechend der Erkenntnis (οὐ κατ’ ἐπίγνωσιν; Luther: daß sie eivern umb Gott / aber mit unverstand). 3 Denn indem sie die Gerechtigkeit Gottes verkennen (ἀγνοοῦντες γὰρ τὴν τοῦ θεοῦ δικαιοσύνην; Luther: Denn sie erkennen die Gerechtigkeit nicht / die vor GOTT gilt) und ihre eigene aufzurichten suchen, haben sie sich der Gerechtigkeit Gottes nicht untergeordnet. 4 Denn des Gesetzes Ende (auch: Endziel – τέλος) ist Christus zur Gerechtigkeit für jeden, der glaubt (Luther: wer an den glaubet / der ist gerecht).

Lässt sich ein Grund dafür angeben, wenn „aus Heiden“ (9,24) viele in die Gemeinschaft Christi berufen werden, die Mehrheit Israels aber nicht? In den Versen 9,30–33 bedenkt Paulus das nicht mehr im Blick auf die schöpferische Freiheit Gottes in seiner Gnade, sondern auf der Ebene des konkreten menschlichen Gottesverhältnisses. Der Punkt der Entscheidung ist der „Stolperstein“, das unverdiente Geschenk der Versöhnung in Christus, das alle, die sich darauf 45  Inwiefern Paulus die entsprechende Entscheidung und Vollendung hier auch apokalyptisch denkt, als Parusie Christi, mag offenbleiben. 46  Jes. 28,16/8,14.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

verlassen, zur Rechtfertigung führt – Juden und Heiden. Es folgt in 10,1 ein persönlicher Einschub, der 9,1–3 entspricht: Paulus bekennt sein Gebet für Israels Rettung, also für seine abschließende Aufnahme in die Gottesgemeinschaft, die Christus bedeutet. Würde diese Rettung bedeuten, dass Gott die Verhärtung oder sogar den Vorsatz des (begrenzten) Nicht-Erwählens und Berufens (vgl. 9,11 f.) widerrufen würde? Oder würde die Rettung vielmehr bedeuten, dass nun die dem eigentlichen Vorsatz entsprechende Erwählung auch ganz Israels offenbar würde?

In den Versen 10,2–4 begründet Paulus sein Gebet für die Aufnahme Israels in die Gottesgemeinschaft Christi damit, dass Israel sich doch schon um eben den Gott dieser Gemeinschaft bemüht, auch wenn dies auf verkehrte Weise geschieht und Israel das Geschenk der Gerechtigkeit verkennt, das den Sinn des Bundes und des Gesetz vollendet. 30–32b Gott hat aus Juden und aus Heiden berufen (9,24). Aber wieso empfingen und empfangen die Nichtjuden die Gerechtigkeit, die ohne Werke des Gesetzes aus Glauben an Christus kommt (vgl. 3,28 und Kap. 4 zu Abrahams Gerechtigkeit), obwohl sie sie zuvor garnicht suchten47 – während Israel zwar die Gerechtigkeit als Wahrheit des Gesetzes verfolgte, aber in seiner Mehrheit diese Wahrheit bisher nicht fand (es ist „zum Gesetz nicht hingelangt“)? Die Wahrheit oder der Zielpunkt des Gesetzes ist die Gerechtigkeit, die aus Glauben kommt. Die Heiden strebten nicht nach der Gerechtigkeit vor Gott, weil sie das Gesetz jedenfalls nicht als das Gesetz des durch sein Wort offenbaren Gottes kannten (auch wenn die Gesetzesforderung „in ihr Herz geschrieben“ ist: vgl. 2,14–16).   Wenn sie nun die Gerechtigkeit aus Glauben an Christus erlangen, weil sie sich auf die auch ihnen gepredigte Versöhnung in Christus verlassen, dann ist freilich zu ergänzen: Dass Gott sie darin gerecht macht (3,26), setzt die Selbsterkenntnis im Gericht Gottes über die allgemeine, Heiden und Juden beherrschende Gottlosigkeit voraus. Mit dem Evangelium ist ihnen auch das Gericht bzw. das Gesetz Gottes gepredigt.

Von Israel ist insofern nur ein Rest gerettet (9,27), weil es in seiner Mehrheit „das Gesetz der Gerechtigkeit erstrebte“, also die Gerechtigkeit vor Gott durch das jemeinige Tun des Gesetzes, durch dem Gesetz entsprechende Werke, zu erreichen sucht – sie aber so nicht erreichen kann. Es verlässt sich nicht auf die geschenkte Rechtfertigung. Hier lässt sich noch einmal auf 2,17–29 zurückkommen (2,17: „Wenn du dich aber Jude nennst und verlässt dich auf das Gesetz und rühmst dich Gottes“; 2,23: „der du dich des Gesetzes rühmst“). Durch das Tun des Gesetzes scheint die Gotteskindschaft nur zu bestätigen zu sein, weil sie als mit Bund und Gesetz gegeben voraussetzt wird. Doch sofern Israel die Bundesgemeinschaft im Haben des Gesetzes sieht und in der Möglichkeit, es zu 47  M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 96 weist darauf hin, dass dies als Gegenbild zu Israels Trachten nach der Gerechtigkeit etwa in Jes. 51,1; Dtn. 16,20 formuliert ist.



b)  Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21 

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tun, statt durch das Gesetz zur Selbsterkenntnis in der Sünde (3,20), in der Gottlosigkeit des Fürsichseins, in der Unfähigkeit der geforderten Liebe zu kommen, verkennt es die Macht der Sünde und seine eigene Erlösungsbedürftigkeit.

Auch wenn Paulus das hier nicht auseinanderlegt, so hat doch das Verfehlen der Gerechtigkeit, die aus Glauben kommt, zwei Seiten, die zusammen gehören. Zum einen: Die Meinung, das Gesetz Gottes mehr oder weniger erfüllen zu können, verkennt die Macht der Sünde  – der Sünder kann es nicht erfüllen. Doch die Selbsterkenntnis in der radikalen Sünde, also in der Verkehrtheit nicht einfach der Taten, sondern des Subjekts aller Taten, ist die Bedingung dafür, sich auf das Geschenk der Gemeinschaft zu verlassen und die Gnade zu realisieren. Zum anderen: Die Macht der Sünde wird nicht nur verkannt, sondern das Selbstverständnis, das Gesetz durch sich selbst erfüllen, das von Gott Geforderte selbst leisten zu können, ist auch bereits Ausdruck der Sünde. Gerade indem Israel die Gerechtigkeit Gottes durch eigenes Tun zu erreichen meint, erfüllt es das Gesetz nicht. Das Gesetz fordert im Wesentlichen die Gemeinschaft Gottes und der Menschen – die Liebe, in der sich diese Gemeinschaft vollzieht (in der sie das Subjekt des Lebens ist, nicht der Mensch für sich). „Wer den Anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt“, wird Paulus in 13,8 sagen. Das Selbstverständnis aber, in dem ein Mensch denkt, das Geforderte durch Taten erreichen zu können, deren Subjekt er selbst (als Subjekt für sich) ist, schließt die ursprüngliche Gemeinschaft (ihren Geist) gerade aus. Ich erreiche die vom Gesetz geforderte Gemeinschaft, indem ich mich im Moment der erkannten Gottlosigkeit ganz auf ihr Geschenk verlasse sowie in der weiteren Hingabe (Liebe), die dem Sichverlassen entspricht.   Zwar zitiert Paulus gleich (10,5; vgl. 2,12 f.) Lev. 18,5: „Wer das Gesetz tut, wird dadurch leben“ – das Gesetz tun heißt aber paradoxerweise nicht, es durch sich selbst (als Akt der Selbstbestimmung) zu tun. Sondern das Gesetz tun, heißt zu lieben, indem ich mich ganz auf Gottes Liebe in Christus verlasse (und mich nicht in meinem Tun auf mich verlasse, d. h. festhalte und um meine Identität sorge).   Ausdrücklich das Handeln betreffende Gebote (etwa den Feiertag, die Speisen, das zwischenmenschliche Verhältnis betreffend) können nur äußerer Ausdruck der Gottesgemeinschaft oder Gotteskindschaft sein – abgesehen davon ist Gott ihr Tun bestenfalls (wenn ihr Selbstverständnis nicht der Gnade geradezu widerspricht) gleichgültig. Die Gotteskindschaft ist ein grundloses Geschenk, das wir (sowohl als Sünder als auch abgesehen von der Sünde) nur empfangen können.   Würde Israel sagen: wir haben die Gotteskindschaft doch mit Bund und Gesetz empfangen, und zwar durchaus in dem Bewusstsein, dass dies ein grundloses Geschenk ist (hier wäre noch einmal 9,4 f. zu vergleichen), dann hielte Paulus dagegen: Dieses Empfangenhaben und Geschenk ist nicht als abstammungsmäßig vererbte Selbstverständlichkeit vorauszusetzen (9,6: nicht alle aus Israel sind Israel), sondern unter der Bedingung der Macht der Sünde nur durch die Selbsterkenntnis in ihr und im Glauben an die Verheißung wirklich – die aber erfüllt sich in Christus. Das Selbstverständnis aber, sich durch das Tun der gebotenen Werke vor Gott selbst zu bestimmen, also das Gottesverhältnis selbst zu bestimmen (und sei es auch als Bestätigung des geschenkten Bundes), wiederholt gerade im Gottesbewusstsein die Grundstruktur der allgemein herrschenden Verkehrtheit. So ist Israel blind für die neue, allen Menschen geltenden Versöhnung in Christus.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

  Es gibt eine parallele innerchristliche Diskussion insbesondere im Kontext der Reformation und ihrem Widerspruch gegen eine semipelagianische Rechtfertigungslehre. Widersprochen wurde der Ansicht, zwar sei Gottes rechtfertigende Gnade in Christus vorgegeben – sie sei mit der Taufe eingegossen. Aber indem diese Gnade zum Guten instand setzt, müsse der Mensch sie zur vollen Rechtfertigung durch gute Werke bestätigen. Luther verstand dies als Werkgerechtigkeit, die mit dem Anspruch der Selbstbestimmung im Gottesverhältnis die Sünde nicht nur verkennt, sondern geradezu aktualisiert und Christus ersetzt. Auch nach der Taufe muss sich der Mensch in der Grundsünde erkennen und auf Christus verlassen.

32c–33 Der Grund dafür, dass die Mehrheit Israels die erstrebte Gerechtigkeit nicht erreichte, stellt sich am Verhältnis zu Christus, zur Verkündigung Christi dar. Er ist der Stein des Anstoßes, an dem sich nun die Frage von Berufung oder Nichtberufensein entscheidet  – und zwar als Entscheidungspunkt, den Gott selber setzt („ich lege […] einen Stein des Anstoßes“), weil er sich hier in seiner Zuwendung abschließend offenbart. Paulus zitiert hier in eigenartiger Verschränkung und Umstellung Jes. 28,16 und 8,14. Die ganz parallele Kombination in 1. Petr.2,6–8 macht es wahrscheinlich, dass sie urchristlich geprägt bereits vorlag.48

Es ist nicht so, dass Israel durch diesen Entscheidungspunkt als Stolperstein allererst zu Fall kommt (weil es sich nicht auf die Zuwendung Gottes in Christus verlässt). Schon zur Zeit Jesajas konnte Gott selber der Stein des Anstoßes Israels sein (Jes. 8,14). Entsprechend setzt Paulus die radikale Verkehrtheit aller Menschen, auch Israels voraus49 – auch wenn sich die Verkehrtheit Israels darin von der Verkehrtheit der Völker unterscheidet, dass sie wesentlich als Verkehrtheit eines ursprünglichen Gottesverhältnisses auftritt. Wenn diese Verkehrtheit nun am Verhältnis zu Christus, als Nicht-Vertrauen sichtbar wird, so bedeutet das aber zugleich, dass im Gepredigtsein Christi die Möglichkeit der Rettung liegt. Konkret ist Christus ein Anstoß für Israel, weil die Gerechtigkeit, die aus dem Glauben kommt (der nun der Glaube an das Geschenk der Gemeinschaft in Christus ist), dem Selbstverständnis einer Gerechtigkeit, die im Tun des Gesetzes liegt, widerspricht. Zudem könnte er ein Anstoß sein, weil die Exklusivität des Bundes überwunden ist, die Israel definierte: Auch den Heiden kommt die Gotteskindschaft allein aus Glauben zu. Doch dieser Anstoß ist von Gott in Zion gelegt und prophetisch verheißen – d. h. die Überwindung der Exklusivität gehört zum eschatischen Erfüllungssinn des Bundes Gottes mit Israel selber. Sie ereignet sich in der „Mitte Israels“ selber, eben in Jerusalem, wo Israel selbst die letzte Offenbarung Gottes erwartet.50 48 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 214 („urchristliche Testimonienkette“) und detailliert M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 100–102. 49  Vgl. zusammenfassend schon 3,9–10.19–20. 50 So U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 213. – Der Berg Zion gilt dabei als Inbegriff der Stadt Davids und kann (wie Hebr.12,22) mit Jerusalem gleichgesetzt werden.



b)  Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21 

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Ausdrücklich spricht Paulus einen solchen Anstoß der Überwindung der Exklusivität in 10,19 f. an („Ich werde euch eifersüchtig machen“), wo er ihn mit einem Gerichts- und vielleicht auch Heilssinn für Israel verbindet.

10,1–4 Paulus bekennt, dass er für Israels Rettung betet. Der Anlass dafür ist aber nicht nur, dass die Israeliten abstammungsmäßig seine Volksgenossen sind (vgl. 9,3). Vielmehr ist das Gebet um Rettung auch in der Empathie begründet, in der er weiß, dass ihre Lebenssorge um den einen Gott und Schöpfer kreist, um den Gott des Bundes und des Gesetzes. Sie haben Eifer für Gott – eben so wie Paulus selbst es auch vor seiner Christusvision mit seinem Gott Ernst meinte, bis dieser ihn durch die Offenbarung Christi dahin brachte, ihn ganz neu zu verstehen. Sieht Paulus sein vorchristliches Leben als Bild des verhärteten Israels? Ihre Lebenssorge ist zentriert im Gottesverhältnis – das ist die Auszeichnung ihrer kollektiven Geschichte – aber sie erkennen ihn nicht in seiner Gegenwart. Dass sie sich um Gott „nicht entsprechend der Erkenntnis“ bemühen, heißt nicht, dass ihnen die theologische oder philosophische Bildung fehlt. Sondern es heißt, dass sie ignorieren, wie Gott sich selbst auf neue, aber in der Schrift verheißene (1,2) Weise in Christus zu erkennen gibt  – sie verkennen seine Gerechtigkeit, durch die er die sich darauf verlassenden Sünder gerecht macht (3,26) und schließlich in seine eschatische Gemeinschaft holt. Vers 3 wiederholt und konkretisiert 9,32. Die Gerechtigkeit vor Gott durch eigene Tätigkeit, durch Selbstbestimmung erreichen wollen, widerspricht der im Evangelium verkündigten Gerechtigkeit Gottes, die durch das Sichverlassen darauf, dass Christus den Tod des Sünders teilt, das Leben in seiner Gemeinschaft schenkt. Dieser Widerspruch schließt wie gesagt das Fehlen der Selbsterkenntnis in der Sünde ein (also die durch das Gesetz Gottes vermittelte Selbsterkenntnis darin, dem Gesetz der Sünde zu unterliegen: 7,22 f.). Darauf ist gleich im Rahmen der Verse 5–7 zurückzukommen.

Vers 4 greift 9,31 auf. Indem Israel Gerechtigkeit durch menschliche Selbsttätigkeit, durch gesetzesmäßige Werke sucht, verkennt es den offenbarungsgeschichtlichen Sinn und Zielpunkt dessen, dass ihm das Gesetz gegeben wurde. Denn die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen, die das Gesetz vom Menschen fordert, verwirklicht sich im Glauben an Christus – und zwar nun potentiell für alle Menschen. Im Geschenk dieser Gemeinschaft ist das Gesetz aufgehoben, weil seine Forderung erfüllt ist. Die folgende Argumentation knüpft direkt an diesen Gedankengang an; man hätte auch den Abschnitt 9,30–10,13 oder sogar bis 10,21 zusammen betrachten können.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

bb)  10,5–13: Predigt, Glaube, Bekenntnis: Die rettende Gemeinschaft vermittelt sich im Gespräch des Glaubens 5 Denn Mose schreibt: „Der Mensch, der die Gerechtigkeit tut, die aus dem Gesetz [kommt], wird in ihr leben“51 (Wolter: Denn Mose beschreibt die Gerechtigkeit aus dem Gesetz: ‚Der Mensch, der sie getan hat, wird durch sie leben‘). 6 Aber die Gerechtigkeit aus Glauben spricht so52: „Sag nicht in deinem Herzen: Wer wird hinaufsteigen in den Himmel?“  – das heißt: um Christus herabzuholen, 7 oder: „Wer wird hinabsteigen in den Abgrund?“ – das heißt: um Christus von den Toten heraufzuholen. 8 Sondern wie sagt sie? „Nahe ist dir das Wort in deinem Munde und in deinem Herzen“ – das ist das Wort des Glaubens, das wir verkündigen. 9 Denn wenn du mit deinem Mund bekennst: Herr ist Jesus, und in deinem Herzen glaubst, dass Gott ihn von den Toten auferweckt hat, wirst du gerettet (ὅτι ἐὰν ὁμολογήσῃς ἐν τῷ στόματί σου κύριον Ἰησοῦν καὶ πιστεύσῃς ἐν τῇ καρδίᾳ σου ὅτι ὁ θεὸς αὐτὸν ἤγειρεν ἐκ νεκρῶν, σωθήσῃ· – Luther: Denn so du mit deinem Munde bekennest Jesum / daß er der HERR sey / und glaubest in deinem Hertzen / daß ihn GOTT von den Todten aufferwecket hat / so wirstu selig). 10 Denn mit dem Herzen glaubt man zur Gerechtigkeit, mit dem Mund aber bekennt man zur Rettung (oder: zum Heil; Luther: Denn so man von Hertzen glaubet / so wird man gerecht / und so man mit dem Munde bekennet / so wird man selig). 11 Denn es sagt die Schrift: „Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden“.53 12 Es ist nämlich kein Unterschied zwischen Jude und Grieche, denn es ist derselbe Herr aller – der reich ist für alle, die ihn anrufen. 13 Denn „jeder, der den Namen des Herrn anruft, wird gerettet werden“54.

Die Frage ist, wie sich Gottes Berufen und Nicht-Berufen (9,6 ff.) konkret darstellt in dem Selbstverständnis, das der Mensch Gott gegenüber hat. Nachdem Paulus in 9,30 ff. die Gerechtigkeit aus dem Sichverlassen auf Christus und das Prinzip der eigenen Gerechtigkeit gegenübergestellt hat, konkretisiert er diesen Gegensatz in zweierlei Hinsicht. Zum einen konkretisiert er ihn, indem er das verkehrte Streben nach Gerechtigkeit durch sich selbst aus der Perspektive des Glaubens an Christus reformuliert (5–7): Kein Mensch kann tun, was allein Gott kann – in Christus aus der Gottheit zum Sünder herabsteigen und Christus, der sich mit dem Sünder in der Todeswahrheit vereinte, aus diesem Tod ins Leben der göttlichen Gemeinschaft erwecken. Die Gerechtigkeit aus Glauben ist die Gerechtigkeit, die Gott schafft, indem Christus die tödliche Ferne überwindet – die geschenkte Gemeinschaft. Zum anderen nimmt Paulus diese Gegenüberstellung auf, um die konkrete, sprachliche Kommunikation des Glaubens zu pointieren, in der sich die Gerechtigkeit bzw. Rettung, Heil und 51  Lev. 18,5. Die Textkritik des Abschnitts stellt sich schwierig dar, ändert aber kaum etwas am Sinn. Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 224, Anm. 1003; anders M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 115. 52  Vgl. zum Folgenden: Dtn. 30,11–14, ferner 8,17; 9,4. 53  Jes. 28,16. 54  Joel 3,5.



b)  Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21 

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Seligkeit zwischen Gott und Mensch sowie zwischenmenschlich vermittelt (in den Versen 8–12). Dies geschieht wiederum mit einer Reihe von Zitaten des Alten Testaments, die erneut (wie schon in Röm. 4) zeigen sollen, dass schon der ursprüngliche Bund von der Rettung weiß, die im Vertrauen auf Gott liegt, und dass das „Wort des Glaubens“, von dem dort vielfältig die Rede ist, sich nun in der Verkündigung Christi vollendet.

Die Gerechtigkeit, die rettende Gemeinschaft Gottes kommt, indem Gott uns im menschlichen Gespräch Christus als seine Liebe mitteilt, auf die wir uns verlassen und auf die wir antworten. Mit der Kommunikation des Glaubens, in der die Anrede im Namen Christi, die Verkündigung des Wortes wiederum zum antwortenden Bekenntnis und zur Anrufung führt, beginnt das wahre, aus dem Tod gerettete Leben. In den Versen 14 ff. wird das dann wieder auf das Gottesverhältnis Israels bezogen: Auch Israel ist das Wort des Evangeliums gepredigt, aus dessen Glauben die Gerechtigkeit kommt – sofern es aber der Predigt des Wortes Christi nicht glaubt, fragt sich, warum.

5–7 Inwiefern Christus des Gesetzes Ende oder Ziel ist (Vers 4), wird erklärt, indem durch die neue Perspektive der Gerechtigkeit aus Glauben die alte Logik des Anspruchs auf Gerechtigkeit im Tun der Gesetzesforderung als eine enthüllt wird, die durch die Christusgemeinschaft ersetzt ist – und deren gegenwärtige Behauptung umgekehrt das menschliche Tun an die Stelle Christi setzt. Nicht die Behauptung aus Lev. 18 von der Gerechtigkeit, die im Tun des Gesetzes liegt, an sich steht im Gegensatz zum Evangelium von der Gerechtigkeit aus Glauben. Sondern der Widerspruch entsteht, wenn der Anspruch erhoben wird, die Gerechtigkeit wirklich leisten zu können – wenn also insbesondere angesichts der Gerechtigkeit, die im Glauben an Christus liegt, auf diesem Anspruch beharrt wird. Christus ist das Ende des Gesetzes, weil wie gesagt im Geschenk seiner Gemeinschaft das Geforderte erfüllt ist. Das Leben in der Gerechtigkeit, welches das Gesetz forderte (und zwar wegen der Sünde vergeblich forderte), bringt der Glauben an Christus. Der Mensch, der wirklich „die Gerechtigkeit tut“, ist der Mensch, in dem, indem er sich auf Christus verlässt, Christus lebt.

Die Logik des Gesetzes (seiner Gerechtigkeitsforderung) ist bestimmt von der Grundtatsache des vom Gesetz angesprochenen Menschen in seinem Fürsichsein unter der Sünde. Vom Gesetz angesprochen ist der Mensch für sich  – er soll das Geforderte tun, um Gerechtigkeit zu realisieren (zu erreichen oder zu bestätigen). Doch der Mensch für sich kann sich nicht selbst zur ursprünglichen Gemeinschaft, zum Geist bestimmen (vgl. 2,13). Er ist unter der Macht der Sünde, das Gesetz der Sünde hält ihn gefangen (7,7–23). So kann er durch das Gesetz Gottes nur verurteilt und zur Selbsterkenntnis in seiner Getrenntheit gebracht werden. In Gal. 3,10–14 betont Paulus in einer ganz ähnlichen Gegenüberstellung (und auch im Zitat von Lev. 18,5), dass durch das Tun des Gesetzes kein Mensch gerecht wird (also: die

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Gemeinschaft Gottes erreicht), weil es keiner wirklich tun kann – das ist der „Fluch“ des Gesetzes. Der Mensch für sich kann es nicht in seinem Gesamtsinn tun, auch wenn er seine Forderung kennt. Von diesem Fluch, der eigentlich der Fluch unseres Fürsichseins (und Gefangenseins im Fürsichleben) ist, erlöst Christus, weil er ihn teilt – so dass wir den Geist seiner Gemeinschaft durch den Glauben, indem wir uns darauf verlassen, empfangen.

In der Gerechtigkeit, also Gottesgemeinschaft, die im Sichverlassen auf ihr Geschenk beginnt, weiß der Mensch, dass er das, was geschenkt ist, nicht durch eigenes Tun erreichen kann. Das den Menschen aus seiner Gefangenschaft in sich befreiende Geschenk ist die Gemeinschaft Christi, welche Gottes Tat ist – indem er Christus zum Sünder sendet (hinabsteigen lässt) und ihn vom Tod des Sünders auferweckt (heraufholt in seine und unsere Lebensgegenwart). Weil sich die Gerechtigkeit der Gemeinschaft, auf die sich der Mensch verlässt, in ihrer Verkündigung kommuniziert, kann sie hier als selbst anredende personifiziert erscheinen. Ihr Widerspruch gegen die Logik der Gesetzesgerechtigkeit („sage nicht“) erscheint in Gestalt eines Zitats von (stark veränderten55) Passagen aus Dtn. 30,11–14. Doch wenn dort das Gegebensein, die Gegenwart des Gebotes Gottes verkündigt wird  – keiner muss es aus dem Himmel herab- oder vom Jenseits des Meeres herbeiholen  – so weiß die „Gerechtigkeit aus Glauben“ zu verkündigen, dass die rettende Gegenwart diejenige Christi ist, den Gott zum verlorenen Menschen, zum Sünder sandte und den er vom Tod des Sünders auferweckte.

Der Widerspruch der personifizierten Gerechtigkeit hat also weder nur den Sinn, den bereits Glaubenden an das Wesen seines Sichverlassens zu erinnern, dass er nicht durch eigenes Tun in den Himmel, in die Gemeinschaft Gottes steigt; er selbst kann sich die liebende Gegenwart Gottes nicht (durch das Tun des Gesetzes) vermitteln. Und der Widerspruch soll ihn auch nicht nur – gleichbedeutend – daran erinnern, dass er den Tod, der die Wahrheit des Fürsichseins und der Sünde vollzieht, nicht selbst überwinden kann. Die Auferweckung dessen, der unseren Tod teilt, in das Leben der göttlichen Gemeinschaft ist Gottes Tat schlechthin. Der Widerspruch zielt vielmehr insgesamt gegen den Anspruch, den Paulus mit der verbleibenden Mehrheit Israels verbindet: den Anspruch, Gerechtigkeit durch das eigene Tun des Gesetzes zu erreichen. Vielleicht ist das allerdings nicht nur als „bewußte Polemik“56 gegen die jüdische Bedeutung von Dtn. 30 zu verstehen, sondern auch (im Zusammenhang von Vers 8) mit dem positiv anknüpfenden Sinn, dass die Nähe des göttlichen Wortes, die schon das Gesetz darstellt (Dt. 30,14), erst im Wort von Christus zu einer rettenden wird.

8–10 Das „Wort des Glaubens“ verkündigt, worauf wir uns verlassen können. Es ist das Wort von Christus, die menschliche Verkündigung der in ihm geschenkten Gemeinschaft. Wer sich darauf verlässt, wird in dieser Gemeinschaft von der 55  56 

Dazu detailliert M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 121. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 225; vgl. M. Wolter, a. a. O., S. 119 f.

b)  Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21 



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Getrenntheit und ihrem Tod, von der Verlorenheit des Fürsichseins gerettet. Weil also aus dem Sichverlassen darauf die Gerechtigkeit (Gemeinschaft) kommt, verspricht die „Gerechtigkeit aus Glauben“ (Vers 6), dass das rettende Wort „nahe ist“. Das rettende Wort ist nahe, weil sich die Gerechtigkeit der Gemeinschaft selber im Wort vermittelt. „Nahe“ heißt dann: Die rettende Gemeinschaft muss ich nicht erst erringen oder erreichen, sondern sie ist da, indem ich das menschliche Wort des Anderen, das mich im Namen Christi auf seine Gemeinschaft hin anspricht, höre, verstehe, und, indem ich mich darauf verlasse, selbst spreche. Zwar war auch das Gesetz nahes Wort Gottes, aber paradoxer Weise behaftete es zugleich den angesprochenen Menschen (als Sünder) auf sich selber – so dass die Rettung für ihn fern ist. Das ist jetzt anders.

Dass das Wort im Herzen gegenwärtig ist, so wie ich im Herzen glaube, das heißt, es ist nicht bloß ein Gedanke, den ich höre und denke, sondern bestimmt die unverfügbare Mitte oder Wurzel dessen, was ich denke, will und fühle. Indem ich mich auf es verlasse, bedeutet es die Erfahrung des Geistes der göttlichen Gemeinschaft als ursprünglicher Lebenskraft. Eben das ist die Wirklichkeit des Evangeliums als Wort: Es erreicht mich in realer Kommunikation von außen in meinem gottfernen Fürsichsein und ist so, indem ich mich darauf verlasse, die Gemeinschaft Christi. Deswegen betont Luther das Wort als verbum externum, in dem sich Christus (die Gemeinschaft Christi) vermittelt. Wenn die Seele „das wort hatt / szo darff [bedarf ] sie auch keynesz andern dings mehr / sondern sie hat in dem wort / gnugde [Genüge]“.57 Wie im Glauben die Seele mit dem Wort Gottes vereinigt wird – alle seine Eigenschaften werden ihr „zu eigen“58 – so wird sie mit Christus vereinigt, indem sie ihm ihre Sünde oder Getrenntheit gibt und er ihr seine Gerechtigkeit.59

Dass das Wort im Munde gegenwärtig ist, nämlich im Bekennen des Glaubens, heißt: seine Wirklichkeit, indem sie die Gemeinschaft Christi im Herzen vermittelt, bedeutet unmittelbar auch, dass ich mich in ihr ausspreche – dass ich sie weiter kommuniziere. Wer verkündigt, bekennt; wer bekennt, dem wurde verkündigt – das ist die menschliche Kommunikation des Glaubens, in der sich Gott kommuniziert.

Der Skopus ist nicht, dass um gerettet, also in die Gottesgemeinschaft aufgenommen zu werden, das Bekenntnis noch zum Glauben hinzukommen müsste. Sondern der Skopus ist, dass in dem neuen Leben aus der Gemeinschaft Christi Glauben und Bekennen des Wortes, Verstehen und Reden, Denken und Leben nicht zu trennen sind. Das Leben, das mit dem Sichverlassen beginnt, ist Leben, in dem sich das geschöpflich wiederkehrende Moment des Fürsichseins nicht 57 

Von der Freiheit eines Christenmenschen, DDStA 1, S. 282,40 ff. (These 5). A. a. O., These 10, S. 288,18 ff. 59  Vgl. These 12, a. a. O., S. 290,13 ff. 58 

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

festhält, sondern Medium der Kommunikation Gottes und der Liebe wird  – indem es die Gemeinschaft empfängt und für ihre Kommunikation einsetzt. Gerechtigkeit (aus Glauben) und Rettung (durch Bekenntnis) werden nur scheinbar in Vers 10 aufgeteilt – Gerechtigkeit und Rettung bedeuten dasselbe. Zwar meint die Rettung im besonderen auch die Rettung im endzeitlichen Gericht (vgl. auch Vers 13) als letzte Gemeinschaft, doch diese Rettung ist ja wiederum nichts anderes als die zuletzt zugesprochene Gerechtigkeit  – Christus, der Retter (auch im künftigen Gericht) ist im Wort des Evangeliums anwesend.

Die zwei Formulierungen, welche den Inhalt des Glaubens und Bekennens nennen (Vers 9), bedeuten dasselbe. Sie rufen beide das urchristliche Kernkerygma auf: Herr (Kyrios) ist Jesus, d. h. er ist aus dem Tod des menschlichen Fürsichseins, der die Wahrheit der menschlichen Gottlosigkeit darstellt, in das göttliche Leben auferweckt und qualifiziert in dieser Gemeinschaft die Herrschaft Gottes über alle wahre Wirklichkeit.60 Deswegen wird gerettet, wer sich auf ihn verlässt und so seiner Gemeinschaft angehört. Eben dies besagt und konkretisiert auch das doppelte Zitat der Schrift in den Versen 11–12.61 Zum einen weist Paulus so noch einmal die Glaubensgerechtigkeit oder Rettung durch Glauben als ursprüngliche Einsicht schon des Bundes mit Israel aus  – wobei aber Gottes Herrsein, das sich an den Glaubenden erweist, nun durch Christus wahrgenommen wird. Die Rettung vollzieht sich im Glauben an Christus. Dem entspricht die Zufügung zum Zitat von Jes. 28,16, dass dieser Glaube jedem Menschen offensteht. Dies explizieren die Einführung in das zweite Zitat (und dann weiter die Verse 14 ff.): Sich auf Christus als den Kyrios zu verlassen und so gerettet zu sein, steht Juden und Griechen offen, d. h. Juden und allen anderen Menschen. Wie „kein Unterschied“ ist in der Gottlosigkeit, so ist auch in der Zuwendung des Herrn und in der Gerechtigkeit aus Glauben kein Unterschied (3,22–24). Die Anrufung des Herrn, also die Anrufung Gottes in Christus, erscheint als weitere Konkretion der Antwort auf das Wort, parallel zum Bekenntnis. Die Anrufung im Gebet impliziert auch das Bekenntnis, doch ist hier die Kommunikation des Glaubens als Gespräch mit Gott hervorgehoben, in dem der Sichverlassende für die Gemeinschaft dankt und um sie bittet. Christus, der Herr, wird sie (also: sich) allen schenken, die ihn darum bitten.62

60  Vgl. zu den beiden Formeln 1. Kor. 12,3 (niemand kann Jesus Herr nennen, außer durch den heiligen Geist); 1. Kor. 16,22; Phil. 2,11; 1. Thess. 4,14 – weitere Stellen bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 124 f. Es handelt sich wahrscheinlich um geprägte Formulierungen der Missionspredigt, vielleicht der Taufliturgie (vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 227) – jedenfalls um „gottesdienstlich“ gebräuchliche „Akklamation“ (M. Wolter ebd.). 61  Wie schon in in 9,33 wird Jes. 28,16 zitiert, sowie Joel 3,5. 62  Zum Reichtum Christi vgl. auch Eph. 3,8 f.



b)  Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21 

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Die Verse 14–15 knüpfen unmittelbar an den Zusammenhang von Anrufung, Bekenntnis, Glauben, Verkündigung an und wenden das Ganze in der Folge wieder auf die Frage nach dem Heil Israels.

cc)  10,14–21: Die Kommunikation des Glaubens (Sendung, Verkündigung, Hören, Verstehen, Glauben, Anrufen). Was bedeutet sie für Israel im Verhältnis zu den Völkern? 14 Wie können (oder: sollen) sie aber den anrufen, an den sie nicht glauben? Wie können sie aber [an den] glauben, den sie nicht gehört haben (Luther: von dem sie nichts gehört haben; Wolter: Wie können sie aber glauben, was sie nicht gehört haben)? Wie aber können sie hören ohne einen, der verkündet (πῶς δὲ ἀκούσωσιν χωρὶς κηρύσσοντος; Luther: Wie sollen sie aber hören ohn Prediger)? 15 Wie aber können sie verkünden, wenn sie nicht gesandt wurden? Wie geschrieben steht: „Wie lieblich (oder: rechtzeitig63) die Füße derer, die Gutes verkündigen (Wolter: frohbotschaften – οἱ πόδες τῶν εὐαγγελιζομένων [τὰ] ἀγαθά)“!64 16 Aber nicht alle haben dem Evangelium gehorcht. Jesaja sagt nämlich: „Herr, wer hat unserer Botschaft geglaubt? (Luther: wer glaubet unserm predigen?)“65 17 Folglich: der Glaube [kommt] vom Hören (oder besser: aus der zu hörenden Botschaft), das Hören (oder: die Botschaft) aber durch das Wort Christi (ἄρα ἡ πίστις ἐξ ἀκοῆς, ἡ δὲ ἀκοὴ διὰ ῥήματος Χριστοῦ – Luther: So kompt der Glaube aus der Predigt / das predigen aber durch das Wort Gottes66). 18 Aber, ich frage (wörtlich: sage): Haben sie [dieses Wort] etwa nicht gehört? O doch! „Auf die ganze Erde ist ihr Schall hinausgegangen und bis an die Grenzen der Welt (τῆς οἰκουμένης) ihre Worte“67. 19 Aber, ich frage: Hat Israel etwa nicht verstanden (oder: begriffen – μὴ Ἰσραὴλ οὐκ ἔγνω)? Als erster sagt Mose: „Ich werde euch eifersüchtig machen auf ein Nicht-Volk, auf ein unverständiges Volk werde ich euch wütend machen.“68 20 Jesaja aber wagt zu sagen: „Ich ließ mich finden von denen, die mich nicht suchten, ich wurde denen offenbar, die nicht nach mir fragten.“69 21 Zu Israel aber spricht er: „Den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt zu einem ungehorsamen und widersprechendem Volk.“70

In 10,8–13 hatte Paulus herausgestellt, dass sich die Christusgemeinschaft durch das Wort seiner Verkündigung, ihren Glauben und ihre weitere Kommunikation (Bekenntnis, Anrufung) vermittelt  – und zwar potentiell für alle Menschen (Juden und Heiden). In den Versen 14–15 wird zunächst der allgemeine Zusammenhang dieser Kommunikation des Wortes und des Glaubens weiter diffe63 Zu dieser Übersetzungsmöglichkeit vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 228 f. 64  Vgl. Jes. 52,7. 65  Jes. 53,1. 66  Luthers Übersetzung „Wort Gottes“ folgt einer weniger gut bezeugten Textvariante. 67  Vgl. Ps. 19,5 (18,5). 68  Dtn. 32,21. 69  Jes. 65,1. 70  Jes. 65,2.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

renziert. Dabei deuten allerdings die negativen Formulierungen (nicht glauben, nicht gehört, nicht gesandt) schon an, dass ab Vers 16 nach dem Scheitern der Kommunikation des Glaubens gefragt wird. Vermutlich schon hier, spätestens aber ab Vers 18 zielt das auf die Mehrheit Israels, deren Ablehnung Christi ja das Oberthema der Kap. 9–11 ist. 14–15 In der Anrufung Christi im Gebet setzt sich seine Gemeinschaft fort, vollzieht sie sich als Kommunikation. Die Anrufung erwächst aus dem Glauben, also dem Sichverlassen auf diese Gemeinschaft, die zuvor (dem, der sich in seiner Getrenntheit vor Gott erkennt) verkündigt ist. Sie ist das Sichverlassen als Antwort, die für die Gemeinschaft dankt und um ihre weitere Wirklichkeit bittet. Das heißt, die Worte der Anrufung und des Glaubens (Glauben als Bekenntnis) speisen sich aus dem Hören des Wortes von Christus (vgl. Vers 8 und Vers 17). Das Hören des Wortes aber setzt voraus, dass es schon in der Welt ist, ausgesprochen, indem ihrerseits glaubende, d. h. berufene und zur Kommunikation der Gemeinschaft Christi bestimmte (gesandte) Menschen es verkündigen. Das von Gott Gesandtsein zur Verkündigung bezieht sich auf die Gesandten (Apostel) in ihrer besonderen Berufung, aber auch allgemeiner auf die Bestimmung jedes in die Gemeinschaft Berufenen, sie weiter zu kommunizieren.

Zusammengefasst heißt das: Indem das Wort von Christus kommuniziert wird, vermittelt sich seine Gemeinschaft (oder: ihr Geist), also im Gespräch. Sie vermittelt sich zwischenmenschlich im Gespräch, indem sich Menschen auf ihre Verkündigung verlassen und sie weiter mitteilen. Das sehr freie Zitat von Jes. 52,7 in Vers 15 will vermutlich nicht nur die frohe Bedeutung der Verkündigung ausmalen. Vielmehr gestaltet Paulus71 es so, dass es die dort verheißene frohe Botschaft (nämlich von der Königsherrschaft Gottes) als im Wort von Christus erfüllt sieht – was zugleich heißt, dass sich die Königsherrschaft Gottes nun in Jesu Herrsein (Vers 10) und durch die entsprechende Verkündigung des Evangelium verwirklicht.72 Das sich bereits bei Jesaja selbst ankündigende, Menschen zur Verkündigung beauftragende (sendende) Wort Gottes kommt jetzt, mit der Verkündigung Christi, ans Ziel. 16–17 Nun wendet Paulus die Einsicht in den Kommunikationszusammenhang des Glaubens auf die konkrete Geschichte an, wie sie ihn hier interessiert. Nicht alle haben gehorcht  – und zwar gilt dies, wie hier das Prophetenzitat (Jes. 53,1) nahelegt, schon für die Verkündigung im ursprünglichen Bund (für die Verheißungen Gottes, aber auch für den Widerspruch im Namen Gottes, für die Gerichtsworte über die Sünde). Die Frage, warum das so ist, greift Paulus in den Versen 18 ff. auf. Zunächst ist noch einmal an 9,6 ff. zu erinnern: Ohne dass dies der Verlässlichkeit der Verheißung der Gottes71 

Zu Einzelheiten vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 130–132. Die Übersetzung „wie rechtzeitig die Füße […]“ passt dazu noch besser als die Übersetzung „wie lieblich“. 72 



b)  Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21 

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kindschaft widerspräche, ist festzuhalten, dass offensichtlich nicht alle „aus Israel“ dazu bestimmt sind.

Nie haben alle der Verkündigung geglaubt – vielleicht nicht einmal eine Mehrheit. Das setzt sich fort, indem nicht alle dem Evangelium gehorchen. Sprachlich erscheint hier im Griechischen wie im Deutschen hören und gehorchen (Vers 16) als Gleichklang. Glauben ist Gehorchen im Sinne von: dem Gehörten entsprechen.   Dieses ‚dem Gehörten Entsprechen‘ ließe sich freilich im Sinne einer lutherischen Systematisierung auffächern: Dem Hören des Gesetzes (bzw. seines Urteils) entspricht beim Sünder die Selbsterkenntnis im Tod seines Fürsichlebens (nicht: die Selbstbestimmung zur geforderten Gemeinschaft). Dem Hören des Evangeliums von der Rechtfertigung des Gottlosen entspricht das Sichverlassen, durch das Gott den Geist der Gemeinschaft Christi schenkt.

Aber auch wenn faktisch nicht alle der Verkündigung glauben, so ist aus dem Prophetenwort zusammenfassend festzuhalten, dass der Glauben aus der Verkündigung kommt  – das Wort Christi muss verkündigt werden, damit Menschen, die es hören, sich darauf verlassen und sich so die Christusgemeinschaft vermittelt. Diese Zusammenfassung ist von lutherischer Theologie gern als theologischer Spitzensatz zitiert worden: Der Glaube kommt aus dem Hören.73 Damit wird wiederum das verbum externum betont – die Auffassung, dass sich der Geist in der sinnlich äußeren Realität des zwischenmenschlichen Gespräches vermittelt.74   Allerdings muss die Übersetzung „der Glaube kommt aus dem Hören“ fraglich sein. Zwar bedeutet ἀκοὴ „Hören“ (und das Hören wird auch in Vers 18 weiter betont), aber es kann auch das Gehörte, die Botschaft bedeutet – und da eben letzteres in Vers 16 der Fall ist, ist auch hier in Vers 17 vielleicht eher zu übersetzen: der Glaube kommt aus der – zu hören gegebenen – Botschaft. Vielleicht trifft die freiere Übersetzung Luthers den Zusammenhang sachlich am Besten, nach der beide Male der Glaube aus dem Predigen kommt.

Wenn nun in Vers 17 sprachlich die zu hörende Botschaft und das Wort Christi differenziert werden, so bedeutet beides nicht (wie Wolter annimmt) bloß dasselbe. Wolter versteht das διὰ modal75 – mit dem Sinn, dass in der Botschaft sich das Wort Christi darstellt. Das ist zwar nicht falsch, gleichwohl ist nach der Differenz zu fragen, in der sich das Eine im Anderen darstellt. Will man nicht auf den einfachen Sinn zurückkommen, dass sich das Wort Christi im Hören vermittelt, so kommt hier zur Sprache, dass die menschliche Predigt von Christus ihren Gegenstand von sich selber unterscheidet, das Wort Christi als ursprüngliche Offenbarung  – vielleicht könnte man auch sagen: das Wort, sofern sich Christus (seine Gemeinschaft) selbst in ihm als Predigt vermittelt. 73  Klassisch ist hier der Titel von E. Bizer, Fides ex auditu, Eine Untersuchung über die Entdeckung der Gerechtigkeit Gottes durch Martin Luther, 1958. 74  Vgl. schon oben S. 215 f. 75  A. a. O. 2, S. 135.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

18–21 Dass die Mehrheit Israels die Botschaft nicht glaubte, heißt nicht, dass sie das Wort Christi nicht gehört haben – dass es Israel nicht gesagt wurde. Die Frage, ob Israel das Wort Christi nicht zu hören bekommen hat, ist theoretisch relevant, weil das Nichthören eine Entschuldigung bedeuten könnte – zwar nicht eine Entschuldigung der von Paulus als allgemein vorausgesetzten Sünde und ihres Verkennens, wohl aber eine Entschuldigung dafür, nicht das Geschenk der Befreiung von ihr im Sichverlassen auf das Wort Christi zu erfahren.   Die Frage ist deshalb von grundsätzlich systematischer und auch geschichtstheologischer Bedeutung, weil das Nicht-Hören-Können eben die Situation von Völkern und Kulturen jenseits des jeweils bekannten Weltkreises war.76 Freilich wäre die Frage des Nicht-Hören-Könnens hermeneutisch zu erweitern: Erfordert das Hören-Können nicht zusätzlich zur realen Begegnung und zur Sprachkenntnis oder sprachlichen Übersetzungsmöglichkeit auch eine gewisse Vergleichbarkeit der kulturellen Stufe des Selbst- und Weltverständnisses? Damit eröffnet sich das Feld der Theologie der Religionen.

Das Evangelium ist im ganzen bekannten Weltkreis verkündigt worden – bis an seine Grenzen, d. h. erst Recht und zuerst in seiner Mitte, in Jerusalem und danach in Rom. Die überall verkündigten Worte, von denen das Zitat von Ps. 19,5 redet, meinen dort aber die Rede der Schöpfung: Die Geschöpfe predigen überall von Gott. Das heißt dann, die Universalität dieser Rede der Schöpfung „ohne Worte, unhörbar“ (Ps. 19,4) erfüllt sich nun menschensprachlich in der Predigt von Christus, die überall laut wird. Doch wie nach 1,19 f. ursprünglich alle Menschen die Gottheit Gottes aus der Offenbarung der Geschöpfe kennen können, dies aber insbesondere die Heiden verfehlten (1,21 ff.), so ist es nun gerade Israel, das das universal ergehende Wort Gottes verfehlt.

Dass die Predigt von Christus überall laut wird – wie realistisch ist das zu dieser Zeit? Sicher ist dies schon damals nicht in dem Sinne wörtlich gemeint, dass jeder Mensch von der Predigt erreicht wird. Aber Paulus geht davon aus, dass sie doch in jedem bekannten Land, in jeder Kultur bereits im öffentlichen Gespräch ist (also in Juda allzumal). Dabei sind natürlich fließende Übergänge anzunehmen. In Spanien, wohin Paulus zur weiteren Verkündigung reisen will, wird es vermutlich in bestimmten Gegenden bereits christliche Verkündigung gegeben haben – jenseits der Grenzen des Limes, etwa in den dichten Wäldern Nordhessens dagegen nicht.

Auch wenn Israel die Verkündigung zwar gehört, aber nicht verstanden (in ihrer Bedeutung, ihrem Anspruch realisiert) hätte, wäre dies eine Entschuldigung. Die Antwort auf die rhetorische Frage, ob Israel das Evangelium nicht verstanden habe, deutet Paulus wiederum mit zwei bzw. drei Zitaten aus der Tora und der Prophetie an. 76  Das würde auch heute etwa im Blick auf mögliches selbstbewusstes Leben auf anderen Planeten im Kosmos gelten.



b)  Gerechtigkeit aus dem Gesetz oder Gerechtigkeit aus Glauben: 9,29–10,21 

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Da sie im Sinne des Paulus die Situation Israels sowohl im ursprünglichen Bund als auch in der Gegenwart skizzieren – genauer: weil sie diese Situation Israel vorhalten, so wie auch Paulus es jetzt tut – impliziert das bereits, dass Israels Erkennen oder Nichterkennen des Wortes Gottes sich schon im ursprünglichen Bund so verhält wie jetzt im Blick auf das Evangelium.   Worauf die Antwort hinausläuft, ist nicht ganz leicht zu verstehen. Die entsprechende Bedeutung der Zitate enthält Lücken, die versuchsweise zu ergänzen sind.

Fest steht: Dass das verkündigte Wort nicht geglaubt wird, ist nach Paulus hier nicht Irrtum oder äußeres Nichtverstehen, sondern Verkehrtheit. Der Kontext des Zitates nach Dtn. 32,21 ist, dass das Volk Israel, das Gott zum Bund bestimmt und erwählt hatte, zu falschen Göttern abgefallen ist. Gott erklärt in menschlichen Worten, wie er auf den Abfall reagieren will. Er will das Nicht-Volk, d. h. jetzt im Zitat des Paulus: die Heiden erwählen (vgl. ganz ähnlich 9,25 das Zitat Hoseas), um Israel eifersüchtig zu machen.77 Die, die um Gott eifern – aber verkehrt, indem sie die eigene Gerechtigkeit anstelle der geschenkten Gerechtigkeit Gottes festhalten (10,2 f.) – sollen durch die geschenkte Zuwendung Gottes zu den Heiden eifersüchtig gemacht werden. Geschieht das, um ihr Eifern auf den richtigen Weg zu bringen? – Auch im Griechischen ist das Eifern für Gott (10,2: ζῆλον θεοῦ ἔχουσιν) und Gottes Eifersüchtigmachen (10,19: παραζηλώσω) ein Gleichklang.

Das heißt, im Unterschied zu den Heiden, sofern sie von Haus aus „unverständig“ waren, die Rede von Gott garnicht verstanden (und die Gerechtigkeit Gottes garnicht erstrebten: 9,30), versteht Israel den Anspruch des Evangeliums, mit der Verkündigung Christi allen Menschen die Gerechtigkeit Gottes zuzusprechen. Liegt dann das Nicht-Glauben der Mehrheit Israels, also seine „Verhärtung“ (von der dann gleich wieder 11,7 reden wird), an der Kränkung, dass Gott nun auch den Heiden seine Gemeinschaft geschenkweise eröffnet?78 Eben dieses Skandalon des Evangeliums für Israel spricht das Zitat von Jes. 65,1 aus, das 9,30 aufgreift: dass Gott in Christus sich den Heiden, die sich doch zuvor nicht um ihn bemühten, als der offenbart, auf dessen Gemeinschaft sie sich verlassen können.   Der ursprüngliche Kontext des Zitates ist freilich, dass sich auch in der Situation von Israels Sünde Gott zum einen von Einigen in Israel grundlos finden ließ, und zum anderen Israel in seiner Mehrheit verurteilte (vgl. 65,1–8).

Oder soll Israel durch diese Kränkung, indem sie der Eigengerechtigkeit widerspricht, zu einem veränderten „Eifer für Gott“ (10,2) gereizt werden? Eine Andeutung liegt vielleicht schon in Vers 21 mit dem ergänzenden Zitat von Jes. 65,2, in dem Gott seine Haltung zu Israel angesichts seiner Sünde (seines Ungehorsams) weiter erläutert. Zum einen enthält dies den Widerspruch 77 Der Kontext des „Nicht-Volks“ in Dtn. 32,21 ist ein anderer und hat dort nur die Bedeutung von Gericht und Vergeltung. 78  Dass auch bei den Heiden viele nicht glauben, reflektiert Paulus hier nicht.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Gottes gegen Israels Ungehorsam damals wie auch heute – wenn es seine eigene Gerechtigkeit sucht, statt die Gerechtigkeit aus Glauben zu finden (10,3; vgl. 10,16). Zum anderen drückt es aus, dass Gott sich gleichwohl und auch gerade in diesem Widerspruch fortwährend um Israel bemüht („den ganzen Tag habe ich meine Hände ausgestreckt“). Zwar bedeutet das in der Gegenwart vermutlich, dass er ihm das Evangelium verkündigen lässt. Doch braucht das einen größeren Heilsplan, eine zusätzliche, hintergründige Heilslist nicht ausschließen, zu der auch vorübergehender Unglauben gehört. Die weitere Antwort auf diese Frage ist im Zusammenhang von 11,11 f. zu suchen.

c)  Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32 aa)  11,1–10: Der Rest Israels 1 So sage ich: Hat Gott etwa sein Volk verstoßen? Keinesfalls! Denn auch ich bin Israelit, aus dem Samen Abrahams, Stamm Benjamin. 2 Gott hat sein Volk nicht verstoßen, das er zuvor ausersehen (oder: erkannt) hat (τὸν λαὸν αὐτοῦ ὃν προέγνω). Oder wisst ihr nicht, was die Schrift im [Abschnitt über] Elija sagt, wie er bei Gott gegen Israel auftritt (oder mit Wilckens: wie er vor Gott Klage führt gegen Israel – Luther: Wie er tritt für Gott wider Israel)? 3 „Herr, deine Propheten haben sie getötet, deine Altäre niedergerissen, und ich bin allein übrig geblieben, und sie trachten nach meinem Leben“.79 4 Doch was sagt ihm die göttliche Antwort (Wolter: der Gottesspruch – χρηματισμός)? „Ich habe mir übriggelassen siebentausend Mann, die nicht das Knie gebeugt haben vor Baal“.80 5 So ist denn auch in dieser Zeit (ἐν τῷ νῦν καιρῷ) ein Rest gemäß der Gnadenwahl (oder: Auswahl der Gnade – κατ’ ἐκλογὴν χάριτος) geblieben. 6 Wenn aber durch Gnade, dann nicht mehr aus Werken, denn sonst wäre die Gnade nicht mehr Gnade. 7 Was [heißt das] nun? Was Israel erstrebt, das hat es nicht erlangt; die Auswahl aber (ἡ δὲ ἐκλογὴ) hat es erlangt; die übrigen jedoch wurden verhärtet (oder: verstockt), 8 wie geschrieben steht81: „Gott gab ihnen einen Betäubungsgeist (πνεῦμα κατανύξεως – Luther: einen erbitterten Geist), Augen des Nicht-Sehens und Ohren des NichtHörens (Luther: Augen / daß sie nicht sehen / und Ohren, daß sie nicht hören), bis zum heutigen Tag.“ 9 Und David sagt82: „Es werde ihnen ihr Tisch zur Schlinge und zum Netz und zum Ärgernis (oder: Falle – εἰς σκάνδαλον) und zur Vergeltung für sie; 10 verfinstert werden sollen ihre Augen des Nicht-Sehens (Wolter: ihre Augen sollen verfinstert werden, dass sie nicht sehen), und ihren Rücken beuge immerzu!“

Israel hat das Evangelium gehört und verstanden, aber die Mehrheit Israels verlässt sich nicht auf Jesus als den Herrn und verfehlt dadurch die in ihm 79 

1. Kö. 19,10 – vgl. 14. 1. Kö. 19,18. 81  Vgl. Dtn. 29,3; Jes. 29,10; Jes. 6,10. 82  Vgl. Ps. 68,23 f. 80 

c)  Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32



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geschenkte Gottesgemeinschaft. Indem es die Gerechtigkeit durch sich selbst, durch das eigene Tun erreichen will, verfehlt es die Gerechtigkeit, die aus dem Sichverlassen kommt. Das heißt aber nicht, dass die Erwählung Israels, dem Gott durch menschliche Mittler und Propheten den Bund, das Gesetz, den Gottesdienst, die Verheißungen und insgesamt sein Wort gegeben hat (vgl. 9,4–6), hinfällig ist (1–2b). Wie früher schon der Prophet die Feindschaft der herrschenden Mehrheit Israels gegen die Wahrheit Gottes und den wahren Gottesdienst feststellen musste, jedoch ein Rest bewahrt blieb (2c–3), so ist es auch jetzt. Das heißt, Gott hat jetzt eine Minderheit Israels zu seiner letztgültigen Gemeinschaft, die Christus bedeutet, bestimmt (5–7b). Damit bestätigt er, dass er „sein Volk“ nicht „verstoßen“ hat. Die Anderen aber hat er durch den Ungeist der Verschlossenheit in der Gefangenschaft der kollektiven Verkehrung belassen (7c–10). Die Verse 11–32 schließen (unterbrochen von einer Warnung an die Heidenchristen vor Hochmut) unmittelbar an und fragen nach dem göttlichen Sinn dieser Verhärtung.

1–2b Dass Gott sein Volk nicht verstoßen hat, zeigt schon die Existenz des Apostels selbst, der ja zu Israel gehört. Das Volk, das Gott zur Gemeinschaft bestimmt hat und zu dem auch Paulus gehört, ist zugleich durch die Abstammung (von „Abraham“), also als Lebensgemeinschaft überhaupt bestimmt, und eben als das Volk „Israel“ (vgl. Gen. 32,29) durch die gemeinsame Kultur und Sprache des Gottesverhältnisses.83   Dass Gott es zuvor bestimmt oder ausersehen hat, kann entweder nur betonen, dass Gott Menschen zum Gottesverhältnis bestimmt (dass die Kommunikation seines Wortes in ihm begründet ist). Die Bestimmung zum Gottesverhältnis ist verlässlich, weil sie in Gott, nicht den Menschen gründet. Oder aber Paulus will im präziseren Sinn wie in 8,29 f. sagen, dass die Bestimmung zum Bund oder zur Gemeinschaft in Gottes Ewigkeit liegt.

Aber wieso folgt aus der Berufung der Wenigen von Israel, dass Gott sich auch vom Volk insgesamt nicht abgewandt hat? Dass er Israel als Volk erwählt hat, dass er etwas mit ihm vorhat, dass er es zum Bund bestimmt hat, im Voraus gekannt und geliebt – verwirklicht sich das schon im Glauben der Wenigen? 2c–4 Paulus zeigt erneut, dass sich dieselbe Frage nicht erst im Blick auf die wenigen Judenchristen stellt, sondern auch schon für die Vergangenheit des Bundes. Dass Gott Israel nicht verstoßen hat, zeigt sich nicht nur jetzt in der Existenz des Apostels und anderer Judenchristen, sondern auch schon früher zeigte es sich darin, dass Gott trotz einer mehrheitlichen Gottlosigkeit Israels einen Rest (hier: Elia und die Zahl der Gottestreuen) bewahrte. Zwar hat das mehrheitliche Israel, wie ihm sein Prophet im Namen Gottes vorhält, den Bund verfehlt, indem es sich vom wahren Gottesdienst abwandte und (jedenfalls zu bestimmten Zeiten) einen anderen Gott anbetete  – also auf selbst eingesetzte 83 

Vgl. oben S. 190 f. und 195–197 zu 9,1–13.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Götzen vertraute und an ihnen sein Leben orientierte. Und nicht nur das, sondern den Widerspruch der Propheten hielt es nicht aus – es grenzte sie aus, brachte sie zum Verstummen, tötete sie. Der Prophet (Elia) jedoch, der in übertreibender Weise nun Israel im Ganzen verklagt, vernimmt als göttlichen Einspruch, Gott habe einen bedeutenden Rest dazu bestimmt, treu zu bleiben (vgl. schon 9,27 ff.) – was für Paulus offensichtlich auch einen Sinn für „sein Volk“ insgesamt, für den ursprünglichen Bund mit ihm hat. Lässt sich das heute auf die Krise der Kirche in Deutschland und Europa übertragen, in der zunehmend ebenfalls die Gläubigen wie ein übrig gelassener Rest erscheinen können?84 Wenn dieser Rest im Geist der Gemeinschaft Gottes lebt – kann das ein Hinweis darauf sein, dass Gott gleichwohl die Menschheit insgesamt zu seiner Gemeinschaft bestimmt hat? Aber wie setzt er seine Bestimmung des Menschen durch?   Auf die grundsätzliche Frage, wie der Zusammenhang zwischen Rest und Bestimmung aller zur Gemeinschaft zu denken ist und wie sich diese Bestimmung als Wirken Gottes konkretisiert, ist gleich zurückzukommen.

5–7 Auch für Israel geht Paulus davon aus, dass es der allgemeinen Macht der Sünde unterliegt – nur dass sie für Israel die Verfehlung des Bundes bedeutet. Doch wie im ursprünglichen Bund Gott trotzdem einen Rest der sich auf ihn Verlassenden bewahrte, so versteht Paulus auch die gegenwärtige Zeit, in der sich das Geschick Israels an der Verkündigung Christi entscheidet. In Christus erfüllt sich die Verheißung des eschatischen, nun universalen Bundes – aber aus Israel zeigt sich nur eine Minderheit in der Gnade Gottes dazu bestimmt, dem gehörten Evangelium zu glauben (10,16) und die in diesem Glauben liegende, geschenkte Gerechtigkeit zu erlangen (9,31–33). Das würde bedeuten, dass sie die Todeswahrheit der Sünde erkennen und mit Christus sterben (6,6–8), also gewiss sind, dass Christus, indem er den Tod als Wahrheit der Sünde teilt, bzw. seine Gemeinschaft in ihnen lebt (Gal. 2,19 f.). Wenn die Judenchristen Ergebnis der „Auswahl der Gnade“ sind (Vers 5 und 7), meint Gnade hier nicht nur das Christusgeschehen, sondern auch seine Vergegenwärtigung, also die Gnade des Sichkommunizierens seiner Gemeinschaft. Die Gnade, die Menschen zur Gemeinschaft bestimmt, ist die Zuwendung des Geistes seiner Gemeinschaft, indem sich Menschen auf sie verlassen.

Schon in der früheren Geschichte Israels aber gilt für den bewahrten Rest, was jetzt für die Judenchristen gilt: Die Annahme, sie seien der Rest derer, die durch sich selbst, durch die eigene fromme Anstrengung im ursprünglichen Gottesverhältnis blieben, ist ausgeschlossen. Ihre Bestimmung oder Bewahrung ist in Gottes Gnade begründet, deren menschliche Wirklichkeit Glauben ist  – wie 84 Vgl. T. Kleffmann, Überlegungen zur Krise des Christentums in Europa, in: B. Hofmann, I. Karle, T. Kleffmann, M. D. Krüger (Hg.), Welche Zukunft hat die Kirche, Tübingen 2022, S. 57–80.



c)  Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32

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überhaupt die Gerechtigkeit seit dem Väterbund allein in der grundlosen Zuwendung Gottes begründet war, der der Mensch vertraut. Das gilt nicht nur aufgrund der allgemeinen Sünde, sondern auch abgesehen von der Sünde – auch supralapsarisch ist es nicht denkbar, durch eigene Leistung (von Werken) die Gottesgemeinschaft zu erringen (vgl. 10,6 f.) oder auch nur zu erhalten. Das Selbstverständnis dagegen, durch gute Werke der gerechte, treue Rest zu sein, würde sich an Christus, am Geschenk der Gerechtigkeit stoßen (9,31 f.) und eine Variante des Gott gegenüber Verhärtetseins darstellen.

7–10 Anders als Vers 4 andeuten könnte („Baal“) liegt für Paulus die Verkehrung der Mehrheit Israels nicht primär darin, dass sie den wahren Gott durch Götzen als Lebensorientierung ersetzen. Die besondere Gestalt der Verkehrung liegt vielmehr darin, dass sie in ihrem Eifer für Gott Gerechtigkeit durch sich selbst suchen – die Gottesgemeinschaft (der Bund) wird als selbstverständlich vorausgesetzt und ist durch Werke zu bestätigen (vgl. schon 9,31 f.; 10,2 f.).85 In diesem Selbstverständnis wird zum einen die nun in Christus erwiesene Gnade, die geschenkte Gerechtigkeit (die Gottesgemeinschaft) verfehlt. Wie früher im Verhältnis von Mehrheit und Rest (ob dieses Verhältnis in der Geschichte Israels immer so gewesen ist, dazu sagt Paulus nichts), so hat auch jetzt nur eine Minderheit Israels die Gottesgemeinschaft aus Gnade erlangt

Zum anderen aber sieht Paulus das Verfehlen der in Christus erwiesenen Gnade wiederum in der mangelnden göttlichen Gnade der Kommunikation jener Gnade an: Das Denken der Mehrheit ist – von Gott – verhärtet. Ihr Geist, der das Leben jedes Einzelnen bestimmende Gemeingeist, ist nicht der Geist Gottes (d. h. nun der Geist seiner Gemeinschaft, die Christus bedeutet), sondern ein Geist der Nicht-Erkenntnis, der Unwahrheit.86 Dieser Betäubungsgeist ist ein kollektiv herrschendes Prinzip des Denkens und Lebens, in dem die gemeinsame Selbstverständlichkeit des faktischen, gerade auch des religiösen Lebens eine Wahrnehmung der Wahrheiten des Lebens verhindert: ein Verstehen der Sünde und damit der eigenen Wahrheit, ein Verstehen nicht nur des Anspruchs der Verkündigung Christi (vgl. 10,19), sondern ihrer Wahrheit, eine Wahrnehmung des neuen Lebens, das sich nun unter den Völkern ausbreitet, und vielleicht auch die neue Wahrnehmung der Schöpfung in dem Sinn, den Christus erschließt (vgl. 1. Kor. 8,6: durch Jesus Christus sind alle Dinge).87 85  Auf die christliche Parallele, wie sie im Fokus der reformatorischen Kritik lag, wurde schon hingewiesen. 86  Paulus zitiert hier in verändernder Weise Dtn. 29,3 und Jes. 29,10. Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 154 f.; etwas voraussetzungsreicher U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 238. 87  Allerdings kann Gott nach alttestamentlichem Verständnis in unterschiedlichen Kontexten auch unterschiedlich verkehrte Geister senden – vgl. z. B. außer Jes. 29,10 noch Ri. 9,23; Jes. 19,2 f.14; 1. Sam. 16,14–16; 1. Kö. 22,20–23; 2. Kö. 19,7. Vgl. dazu M. Welker, Gottes Geist, Neukirchen 1993, S. 87–100.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Aber wie ist das Wirken Gottes (im Verhältnis zur menschlichen Wirklichkeit der Sünde) zu denken, wenn Paulus sagt, dieser Betäubungsgeist sei von Gott gegeben? Vielleicht ist kein besonderes Wirken Gottes anzunehmen, sondern die von Gott getragene Wirklichkeit auch des selbstverständlichen, unwahren Lebens – von dem freizukommen das (um mit Karl Barth zu reden) göttliche Wunder ist.88 Der Zusammenhang der Verse 9–10 (also das Zitat von Ps. 68) ist schwer zu verstehen. Vielleicht ist der Tisch hier Inbegriff der Tischgemeinschaft und damit Symbol der Gemeinschaft überhaupt. Das hieße dann, dass sich die Verhärtung Israels gerade in seinem Gemeinschaftsleben konstituiert  – eben in seinem herrschenden Gemeingeist, etwa in der Selbstverständlichkeit herrschender religiöser Ansichten. Dabei erschiene freilich der verderbliche Zusammenhang in Gestalt des Fluches nicht nur vorhergesehen, sondern geradezu beschworen.   Eine entsprechende, aber konkretere Interpretation als Gleichnis schlägt M. Wolter vor: Der gedeckte Tisch stehe für die Erwartung, durch das Tun der Werke die Gerechtigkeit vor Gott zu erlangen oder in der Bundesgemeinschaft zu bleiben – dieser Tisch aber wird gleichsam zur Falle eines Klappnetzes, das das Unheil der Verhärtung vollzieht.89   Dass Gott „ihren Rücken beuge“, mag dann hier den Wunsch bedeuten, dass sein Gericht die verkehrte Selbstverständlichkeit des Denkens und Lebens brechen möge.90

Es stellt sich nun die Frage, was die Verhärtung der Mehrheit Israels bedeutet, wenn Gott doch sein Volk nicht verstoßen hat (11,1). Kann das Verfehlen der geschenkten Gerechtigkeit einen Sinn haben? Setzt Gott seinen auch den „Übrigen“ geltenden Heilswillen noch durch – und wenn ja, wie? Das werden die Verse 11 ff. erörtern. Zunächst aber ist die systematische Grundfrage zu reflektieren: Ist es theologisch notwendig oder auch nur möglich, die Verhärtung, den Unglauben, die Verkehrtheit  – und dann doch die allgemeine Sünde in ihrer Macht  – als Tat Gottes zu denken (auch abgesehen von der Frage, ob dies einen Sinn im göttlichen Heilsplan hätte)? Schon in 9,14 ff. diskutierte Paulus das auch als Frage der Gerechtigkeit Gottes: Wenn Gott retten will und kann (indem er Glauben weckt und seinen Geist sendet), wieso belässt er dann im Unglauben? Und mehr noch: Wenn Gott die Sünde wirkt (vgl. 9,14) und selbst den verkehrten Geist verhängt, ist die Sünde dann überhaupt Sünde, d. h. eine Verkehrung des Menschen? 88  K. Barth bezieht die Bestimmung der „Übrigen“, die verhärtet wurden, auf die Kirche – auch in der faktischen, menschlichen Kirche ist die Verhärtung das Selbstverständliche. Die „Übrigen“ sind nicht die Anderen, sind keine bestimmte „Quantität“, sondern „Alle sind die ‚Übrigen‘, sofern Gott nicht durch Gott erkannt wird“. Die „Übrigen“ sind alle, „wenn Gott nicht das Wunder tut.“ Der Römerbrief, a. a. O., S. 384. 89  Vgl. a. a. O. S. 156 f. Ein weiterer Interpretationsvorschlag im Blick auf die Kultusgemeinschaft des Sühnekultes findet sich bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 239. 90  Die Metaphorik schließt sich dann daran an, dass Fremdherrschaft über Israel wie etwa durch Babylon als Ausdruck des Gerichtes Gottes verstanden wurde.

c)  Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32



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Für mein Verständnis ist es theologisch nicht notwendig oder auch nur möglich, die Verhärtung, den Unglauben als Tat Gottes zu denken. Zwar gehört es für Paulus zur Gottheit Gottes, ihn als unbedingten Herrn der Geschichte zu denken. Und so scheint der Erwählung als Tat Gottes die Nichterwählung als seine Tat korrespondieren zu müssen. Doch ist (auch mit Paulus) festzuhalten, dass die Sünde, auch wenn sie allgemeine Macht ist, doch innere und äußere Tat des Menschen ist – auch wenn dieser nicht frei ist, sich von ihrem Lebensprinzip zu distanzieren und ein anderer Mensch zu werden, der aus der Gemeinschaft Gottes lebt. Die Verhärtung als Wirklichkeit der Grundsünde ist also nicht als Wirkung zu verstehen, deren Ursache Gott ist – als Wirken Gottes wie auf ein äußeres Objekt. Sondern die Verhärtung besteht darin, dass der Mensch seine Identität mit sich zum Gesetz aller Lebensverhältnisse gemacht hat. Alles was Bedeutung hat, hat sie für die Identität, die er durch sich hat. Seine Selbstsorge ist das Prinzip seiner Verhältnisse zu Menschen, Dingen, und zu seinem „Gott“ geworden. Gott trägt als Schöpfer auch das verkehrte Leben in jedem seiner Momente, doch er bewirkt nicht die Verkehrung. Sein Verhärten besteht allein darin, dass er den Menschen sich selbst überlässt und nicht – durch die Offenbarung der Nichtigkeit, durch menschliche Predigt von Gesetz und Evangelium – widerspricht. Warum tut er das nicht? Auch dafür ist von uns keine einfache Ursache anzugeben, die Gott selbst oder ein Affekt oder Plan in Gott wäre. Dass er durch die menschliche Predigt von Gesetz und Evangelium widerspricht und sich so der Geist seiner Gemeinschaft im Glauben vermittelt, lässt sich als konkretes Ereignis beschreiben, aber der Unterschied, dass und wie dies im Einzelfall geschieht oder nicht geschieht, lässt sich nicht sinnvoll von einem absoluten Plan Gottes her begründen.91 Von Gott her lässt es sich nur begründen, sofern er (als Geist) auf die Ebene menschlicher, bedingter Kommunikation kondeszendiert. Heißt das, dass Gottes Geist sich nur durch uns Menschen vermittelt und jedenfalls insofern in seiner zeitlichen Kommunikation auch bedingt ist durch unsere Endlichkeit und bleibende Sünde – auch wenn an einem allgemeinen, schon in der Schöpfung liegenden göttlichen Heilsplan festzuhalten ist? Auch wenn Gottes Wirklichkeit absolut ist und sich nicht darauf beschränkt, sich als Geist zu vermitteln, so gilt doch: Ebenso wie die menschliche Verhärtung nicht so zu verstehen ist, dass Gott ihre Ursache oder ihr Urheber ist, der auf den Menschen wie ein äußeres Objekt einwirkt, so ist auch die Wirklichkeit der Gemeinschaft Gottes (die den Tod des Menschen für sich voraussetzt), also die Tatsache, dass der Geist Gottes den sich Verlassenden bestimmt, kein Wirken Gottes auf einen äußeren Gegenstand, sondern eine Kommunikation, die in menschlichem Gespräch und Verstehen geschieht.

91 

Dieser Gedanke wurde schon oben auf S. 185 und 198 f. erörtert.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

bb)  11,11–24: Das Ziel Gottes bleibt, Israel zurück in die Heilsgeschichte zu holen. Die berufenen Heiden haben keinen Grund zum Hochmut 11 So sage (oder: frage) ich: Sind sie gestrauchelt, um zu fallen? Keineswegs! Sondern durch ihren Fehltritt [kam] das Heil (ἡ σωτηρία) zu den Heiden, um sie eifersüchtig zu machen (εἰς τὸ παραζηλῶσαι αὐτούς – Luther: auff das sie denen nacheivern solten). 12 Wenn aber ihr Fehltritt Reichtum der Welt und ihr Versagen Reichtum der Heiden [bedeutet], um wieviel mehr ihre Fülle (πόσῳ μᾶλλον τὸ πλήρωμα αὐτῶν)! 13 Euch aber, den Heiden, sage ich: Insofern ich nun Apostel der Heiden bin, preise ich meinen Dienst (Wolter: Auftrag), 14 ob ich wohl mein Fleisch (oder: mein Volk) eifersüchtig machen und einige von ihnen retten kann. 15 Denn wenn ihre Verwerfung (Wolter: ihr Verlust92) Versöhnung der Welt [bedeutet] (oder: wenn ihre Verwerfung – bzw. ihr Verlust – zur Versöhnung der Welt wurde), was [bedeutet dann] die Annahme anderes als Leben aus den Toten? 16 Wenn aber die Erstlingsgabe (Wolter: Anfangsgabe; Wilckens: der Erstlings­ teig) heilig ist, dann auch der [ganze] Teig; und wenn die Wurzel heilig ist, dann auch die Zweige. 17 Wenn aber einige von den Zweigen herausgebrochen wurden, du aber  – der du ein wilder Ölbaum warst  – unter ihnen eingepfropft wurdest und Teilhaber an der Fett spendenden Wurzel des Ölbaums wurdest (wörtlich: Teilhaber der Wurzel des Fetts des Ölbaums), 18 dann rühme dich nicht gegenüber den Zweigen. Wenn du dich aber rühmst, [bedenke]: Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel dich! 19 Du wirst nun sagen: Es wurden Zweige herausgebrochen, damit ich eingepfropft werde. 20 Richtig! Wegen des Unglaubens (τῇ ἀπιστίᾳ) wurden sie herausgebrochen, du aber stehst wegen des Glaubens. Sei nicht hochmütig (wörtlich: denke nicht hoch), sondern fürchte [dich] (oder mit Wilckens: Gott)! 21 Denn wenn Gott die natürlichen Zweige nicht verschont hat, wird er auch dich nicht verschonen. 22 Sieh nun Gottes Güte und Strenge: gegenüber den Gefallenen Strenge, aber dir gegenüber Gottes Güte, wenn du bei der Güte bleibst – sonst wirst auch du ausgehauen! 23 Jene aber, wenn sie nicht beim Unglauben bleiben, werden eingepfropft werden. Denn Gott hat die Macht, sie wieder einzupfropfen. 24 Denn wenn du aus dem von Natur aus wilden Ölbaum herausgehauen und gegen die Natur in den edlen Ölbaum eingepfropft wurdest, um wie viel mehr (Wolter: leichter) werden diese, die der Natur nach [zum edlen Ölbaum gehören], dem eigenen Ölbaum eingepfropft werden.

Wenn auf Gott zurückgeht, dass die Mehrheit Israels im Ungeist der Eigengerechtigkeit die jetzt geschenkte Gottesgemeinschaft oder Gerechtigkeit verfehlt (11,7–10), dann stellt sich die Frage nach dem göttlichen Sinn dessen. Einen solchen Heilssinn (und die Verankerung seiner eigenen Mission darin) behauptet Paulus in den Versen 11–15 – er hatte ihn etwas anders schon 10,19 kurz ins Spiel gebracht. In Vers 16 deutet Paulus zunächst eine Begründung für seine entsprechende Gewissheit an, dass das in Christus eröffnete Heil nicht nur die aktuellen Judenchristen erfasst, sondern sich auf ganz Israel erstreckt: Der Anfang der Rettung eines Teiles heiligt vorweg das Ganze. Außerdem führt Paulus 92 

Zur Begründung vgl. Der Brief an die Römer 2, S. 169 f.

c)  Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32



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die Metapher vom Olivenbaum (im Verhältnis von Wurzel und Zweigen) ein, mit dem in den Versen 17–24 die heilsgeschichtliche Beziehung zwischen Israel und den Heiden konkretisiert wird – verbunden mit der Warnung vor Hochmut gegenüber Israel, von dessen Vorgeschichte auch die Glaubenden unter den Heiden leben. 11–12 Erneut (parallel zu 11,1) verneint Paulus, dass Israels Verfehlen der angebotenen, geschenkten Gemeinschaft Gottes, indem es sich an Christus stößt und an der Eigengerechtigkeit festhält (9,32 f.), sein endgültiges Herausfallen aus dem Bund bedeutet. Nun aber verweist Paulus nicht nur wie in den Versen 4 ff. auf den durch Gnade bewahrten „Rest“, sondern versucht, den göttlichen Plan oder Sinn der Verhärtung Israels zu entschlüsseln. Dass das Ziel insgesamt auch die Rettung, Versöhnung ganz Israels ist, setzt Paulus scheinbar (in Spannung zu 9,6–29) voraus (auch wenn Vers 16 wie gesagt einen Begründungszusammenhang andeutet). Vielleicht ist der Grund auch, dass dies die größere Gnade und Liebe bedeutet, die er glaubt und erfährt. Nun sieht er einen geschichtlichen Zusammenhang, der auf dieses Ziel weist. Die Vergeblichkeit und Verkehrtheit von Israels Gotteseifer hat nicht die (göttliche) Bestimmung, dass sie auf Dauer der Gottesferne verfallen. Vielmehr macht Gott ihre Verhärtung zu einem Moment der universalen Heilsgeschichte, deren Heil sich noch einmal steigern wird, wenn sie schließlich auch Israel umfasst. Analog hatte Paulus schon in 5,20 die Vertiefung der Sünde durch ihre gottgegebene Erkenntnis verstanden – sie dient Gott dazu, seine noch mächtigere Gnade zu erweisen.

Durch Israels Verhärtung kam die Rettung zu den Völkern (Heiden) – um wiederum Israel zum Nacheifern zu reizen.93 Zwar kann hier die schließliche Rettung Israels als Zweck der Rettung der Heiden, also ihrer Aufnahme in die Gottesgemeinschaft erscheinen – so dass entsprechend erst die Verfehlung Israels die Rettung der Heiden motivieren würde. Doch kann Paulus das nicht so meinen. So wie Israels Verkehrung nicht (obwohl dies in den Versen 12, 15, 19 und 30 f. so klingen könnte) den göttlichen Sinn hat, statt Israel die Völker zu berufen, so ist auch die Berufung der Völker in die Gemeinschaft Gottes, die „Versöhnung der Welt“ (Vers 15), nicht nur ein Umweg, um Israel zurückzuholen. Dagegen spricht die von Paulus wiederholt zitierte prophetische Wahrheit, dass die Israel gegebene Verheißung der Vollendung die Völker einschließt. Die Berufung der ganzen Menschheit in die Gemeinschaft Gottes ist zuerst Selbstzweck. Es geht um Israel und die Völker, um die Menschheit insgesamt. Entsprechend kann Paulus später (in den Versen 30 f.) die Wechselseitigkeit des Ungehorsams der Einen, die das Heil der Anderen bedeutet, auf das Ziel zurückführen, alle vom Ungehorsam in das Erbarmen zu führen.

93 

Vgl. schon 10,19 und dann auch 11,30 f.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Dass die Menschheit sowohl in der Sünde als auch im Heil (in Adam und in Christus) im Grunde eins ist, hatte Paulus auch schon in 5,18 f. betont  – die Gottesgemeinschaft vermittelt sich im Glauben, egal ob ein Mensch von Haus aus Jude oder Heide ist (1,16; 3,22–24).

Aber wie ist der Zusammenhang zu verstehen? Paulus versucht das auch in der Apostelgeschichte gegebene „Bild“ der „Verkündigungsgeschichte“ Christi (Wolter) zu deuten, nämlich dass zuerst unter den Juden verkündigt wurde und erst nach deren überwiegender Ablehnung „mit sehr viel größerem Erfolg unter den Heiden“.94 Paulus scheint dies im Sinne einer göttlichen Pädagogik zu deuten, die freilich den Willen Gottes voraussetzt, allen seine Gemeinschaft zu eröffnen. Indem den Heiden die Verhärtung Israels als negatives Vorbild gepredigt wird, das vergeblich Gerechtigkeit durch Werke sucht, verstehen sie die Gnade Gottes. Und indem dann Israel die offensichtliche Gnade der Berufung der Heiden wahrnimmt, den Reichtum ihrer Erkenntnis und Liebe, wird sich auch Israel der eschatologisch universalen Gnade Gottes öffnen. So kommt das Heil zu allen. Die Berufung der Völker in die Gottesgemeinschaft ist also nur im Blick auf das verhärtete Israel ein Umweg Gottes (wie Paulus dann in den Versen 25–32 ausführt). Der kollektiven Verhärtung Israels muss wirksam von außen widersprochen werden  – eben durch das Vorbild der Völker, die offensichtlich zur Gnade des Gottes Israels finden, ohne die Werke des Gesetzes – das ist der Sinn der Berufung der Völker für Israel. Wenn aber schon die vorübergehende Verhärtung Israels einen relativen Heilssinn für die Völker hatte, so wird, wenn sich dasselbe Heil (das Geschenk der Gemeinschaft Gottes in Christus) auch für Israel im Ganzen erfüllt, dies auch noch einmal den „Reichtum der Völker“ steigern, d. h. ihren Reichtum wahren Lebens, ihre Gotteserkenntnis. Warum, bleibt offen – vielleicht, weil dann die Gemeinschaft mit ganz Israel und seiner Geschichte das Verstehen vertieft, oder weil die „Fülle“ Israels, die seine Umkehr bedeutet, mit der eschatischen Erfüllung des Schöpfungssinns und der Geschichte im Ganzen zusammenfällt. Was die Fülle Israels als Inbegriff seiner Rettung oder Umkehr bedeutet, ist im Zusammenhang mit Vers 15 zu bedenken.

13–15 Nun spricht Paulus direkt die an, zu denen er von Gott gesandt ist. Er weiß sich und seine Sendung zu den Heiden selber in den Zusammenhang der Heilsgeschichte einbezogen. Er erklärt den Heiden, denen das Evangelium von Christus gepredigt wurde und die im Glauben daran in die Gottesgemeinschaft hinein gerettet sind (1,1–7), seine Freude darüber, dass seine Sendung zu ihnen indirekt auch der Rettung Israels dient – wie es ja seiner Sehnsucht entspricht (9,2 f.; 10,1). Dieser Dienst liegt wie gesagt darin, durch das Vorbild der Heiden, die, indem sie offensichtlich von Gottes Gnade ergriffen sind, die verheißene 94 

M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 162 f.



c)  Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32

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letzte Vollendung des Bundes anzeigen, auch Israel in diese Gnade zu rufen – zur Rechtfertigung der Gottlosen im Glauben an Christus. Paulus hofft, durch seine Sendung zu den Heiden indirekt einige aus Israel zu retten und so zum göttlichen Ziel der Rettung aller beizutragen (vgl. dann die Verse 25 f.). Vers 15 variiert Vers 12 und spitzt ihn zu: Der Fülle des schließlich angenommenen Israels, die den bereits gegebenen Heilsreichtum bei den Völkern noch steigern wird, entspricht „Leben aus den Toten“. Wenn schon die Verwerfung oder der Verlust Israels, d. h. seine Verhärtung in der Gottesferne der Eigengerechtigkeit, irgendwie zur Versöhnung der Menschheit beitrug, so wird, wenn Gott ganz Israel aufnimmt, indem es zum Vertrauen auf die Gnade findet, dies das Heil noch einmal unermesslich steigern.

„Leben aus den Toten“ scheint auf den ersten Blick als Steigerung der Versöhnung (der Welt) gemeint. Aber lässt sich das Geschenk der Gemeinschaft, die im Sichverlassen auf Christus wirklich wird, steigern? Die Versöhnung als Rechtfertigung der Gottlosen bedeutet doch schon als solche ein Mitsterben mit Christus (Röm. 6,3 ff.; Gal. 2,19 f.), um mit ihm, in ihm zu leben – am ewigen Leben Teil zu gewinnen. Also ist vielleicht eher anzunehmen, dass die Annahme auch für Israel „Leben aus den Toten“ bedeutet, wie auch schon für die Heiden. Insofern stünde dies parallel zur Versöhnung der Welt (der Heiden). Die aber zugleich angedeutete Steigerung liegt darin, dass das Versöhnungsleben erst dann vollendet ist, wenn es alle, und gerade auch Israel umfasst. Vielleicht könnte also die spezifische Bedeutung des mit der Rettung Israels verbundenen Lebens aus den Toten im eschatologischen Aspekt liegen. Das Leben aus dem Tod hat mit der Versöhnung allererst begonnen, es ist noch nicht vollendet. Wenn Paulus nun sagt, Israels Annahme wird Leben aus den Toten sein, so könnte das andeuten, dass er sich die Vollendung der Versöhnung im Leben mit Christus (aus dem Tod der Sünde) nur als Leben zusammen mit Israel vorstellen kann, als Leben von Juden und Heiden mit Christus.

16 Paulus erwartet, dass von dem Heil, das Israel zum Teil bereits gegeben ist (den Judenchristen), eine Heilswirkung für ganz Israel ausgeht. Das zeigt er durch zwei Metaphern. Die erste begründet den Zusammenhang von der Gegenwart her und die zweite von der Vergangenheit, vom Anfang Israels her. Die erste Metapher vom Teig geht wahrscheinlich auf Num. 15,17–21 zurück. Wie das Opfer von der ersten Ernte für Jahwe den ganzen Teig des Jahres heiligt, so heiligen die an Christus glaubenden Juden (entsprechend der früheren Bedeutung des heiligen Rests) das ganze, noch verhärtete Israel. Eine Alternative wäre, als Erstlingsgabe Abraham bzw. die Erzväter zu verstehen (so Wilckens und Wolter)95. Das widerspräche aber 9,6–13, wo eine Bestimmung zur Gotteskindschaft bloß durch die Abstammung ausgeschlossen wird. Zudem ist in 16,5 von 95  U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 246; M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 173 f.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

einem Christen als „Erstlingsgabe der Provinz Asia für Christus“ die Rede. Es ist also wahrscheinlich, dass die Rede von der Erstlingsgabe auch hier auf eine weitere Verwirklichung der zuerst vereinzelten, im Glauben an Christus vermittelten Gottesgemeinschaft bei der Mehrheit zielt96 – ebenso wie in 8,23 die Erstlingsgabe des Geistes die Hoffnung auf Vollendung der Gemeinschaft begründet.

Was ist mit dieser Heiligung der Vielen durch den Glauben der Wenigen gemeint? Sicher soll damit gesagt sein, dass es göttlicher Sinn ist, durch die Heiligung, d. h. Gottesgemeinschaft zunächst Weniger auf das Heil Aller zu zielen, die mit ihnen in einem geschichtlichen Kommunikationzusammenhang stehen  – was dann bedeuten könnte, dass auch die Vielen sozusagen in der Perspektive von Gottes ewiger Gleichzeitigkeit, die der Glaube antizipiert, schon geheiligt sind, auch wenn sie aktuell der Sünde verfallen sind. Vielleicht liegt auch eine Logik der Stellvertretung zu Grunde. Die zunächst Wenigen vertreten in der Wahrheit ihres Glaubens die geschichtliche Gemeinschaft im Ganzen, zu der sie gehören und mit der sie sich identifizieren. Das könnte auch das Motiv des Sicheinsetzens für sie einschließen. Aber auch dann ist doch diese Wahrheit der Stellvertretung auch durch die Vielen zu realisieren.

Die zweite Metapher vom Ölbaum betont in Vers 16 zunächst ebenfalls den Zusammenhang, dass ein entscheidender Teil (die „Wurzel“) auch das Ganze heiligt.97 Die Frage ist, was die Wurzel hier bedeuten kann. Im Kontext der folgenden Verse kann sie nicht (im Blick auf die Judenchristen) Christus meinen, aber auch nicht Abraham als Vater bloß der Abstammung nach. Vielmehr lässt sich darunter eben die Gerechtigkeit aus Glauben verstehen, die die Geschichte der verheißenen Gottesgemeinschaft ausmacht98 – sie kam schon Abraham zu (Röm. 4) und war zu jeder Zeit die Wahrheit Israels. Dass die Wurzel die Zweige heiligt, bedeutete dann die Erwartung, dass ganz Israel, das doch um Gott eifert und nach seiner Gerechtigkeit fragt, von der Wahrheit der Gerechtigkeit aus Glauben antizipatorisch umfasst wird – auch wenn es aktuell nicht an Christus glaubt. 17–22 Die Konkretisierung der Metapher nun als Metapher vom Ölbaum könnte (so etwa U. Wilckens)99 auf Jer. 11,16 anspielen (Israel als Ölbaum Gottes, dessen Zweige Gott verdirbt, da Israel zu anderen Göttern abfiel). Diese konkreter ausgeführte Metapher oder Allegorie von der Wurzel und den Zweigen des Ölbaums problematisiert die metaphorischen Aussagen aus Vers 16. Denn wenn Zweige herausgebrochen werden, können sie zwar wieder eingepfropft werden, 96  Weiter zu diskutieren wäre die Frage, ob sich der Gedanke der Heiligung durch den Teil auch auf das Ganze der Menschheit beziehen ließe. 97  Zur Metapher von Wurzel und Zweigen als solche (abgesehen von der Konkretion des Ölbaums) vgl. die Parallelen auch in außerbiblischer Literatur bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 172 f. 98  Auch in den Versen 20 f. ist der Glauben das Kriterium der Zugehörigkeit. 99  A. a. O. 2, S. 246.



c)  Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32

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es gibt aber keinen kontinuierlichen Heilszusammenhang zwischen Wurzel und Zweigen, und sei er auch gegenwärtig verborgen und nur antizipiert. Was kann dann die Behauptung der Heiligung des Ganzen (der Zweige) durch den heiligen Teil noch bedeuten? Heiligt die Wurzel nur die nicht entfernten Zweige? So ist in der Tat Vers 16b von den Versen 17 ff. her zu verstehen. Doch ist das im größeren Rahmen der noch offenen Heilsgeschichte zu sehen. Die Wurzel, das Stehen im geschichtlichen Zusammenhang der Gerechtigkeit aus Glauben, heiligt auch die Zweige, die zusätzlich oder erneut eingepfropft wurden. Das heißt, ob diese Heiligung sich auch für die entfernten Zweige vollziehen wird, liegt bei Gott.

Die Wurzel, also die zunächst Israel präsente Geschichte der Verheißung, die der Glaube (zuerst Abrahams) realisiert, heiligt zuerst alle, die auch gegenwärtig glauben. Dass von den ursprünglichen Zweigen welche herausgebrochen werden, thematisiert die Wahrheit des Unglaubens. Der Unglauben Israels bedeutet: Gott hat sie – vorübergehend – aus dem Strom seiner Heilsgeschichte herausgelöst. Die nun (in Vers 17) direkt angesprochenen Heiden aber, indem sie der Predigt von Christus vertrauen, wurden in eine ihnen ursprünglich fremde Wurzel eingepfropft  – der Bund, die Geschichte seiner Verheißungen und des entsprechenden Glaubens war zuerst Israels Wahrheit. In die in Christus liegende, letzte Gottesgemeinschaft wurden die Völker hineingenommen (in Vers 15 war von der Versöhnung der Welt die Rede). Auch sie haben nun am wahren Leben im göttlichen Sinn als dem Fett des Ölbaums teil. Das geschah aber nicht aufgrund ihrer religiösen oder ethischen Leistung. Alle waren unter der Macht der Sünde, und die Heiden fragten nicht einmal nach der Gemeinschaft (Gerechtigkeit) Gottes (9,30). Dass sie aufgenommen wurden, geschah allein aus Gnade Gottes, aus seiner unverdienten Zuwendung, und es geschieht allein durch ihren Glauben (Vers 20). Wenn sich also die Juden nicht gegenüber den Heiden des ererbten Gottesverhältnisses und seines Gesetzes rühmen sollen (2,17 ff.) – was nämlich die im Glauben an die Verheißung liegende Wahrheit des Bundes gerade verkehrt (vgl. Kap. 4) –, so können sich auch nicht die Heiden den Juden gegenüber rühmen. Auch nicht den nicht an Christus glaubenden Juden (den ‚herausgebrochenen Zweigen‘) gegenüber können sie sich rühmen, denn der Unterschied ist nur darin begründet, dass sie sich auf das Geschenk der Gemeinschaft verlassen. „Nicht du trägst die Wurzel, sondern die Wurzel dich“ – das heißt, du bist ohne es zu verdienen in die zuerst israelitische, nun aber in Christus allen eröffnete und in seiner Gemeinschaft erfüllte Geschichte von Gottes Verheißungen und des Glaubens daran aufgenommen. Diese Zugehörigkeit zu der Gemeinschaft, die nun als Gemeinschaft in Christus offenbart ist, ist allein im Sichverlassen der sich selbst erkennenden Sünder auf Christus begründet – der Hochmut des sich Rühmens würde dem gerade widersprechen. Das Abgeschnittensein vieler

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

aus Israel von der eigenen Wurzel ist ja nicht darin begründet, dass ihnen das Geschenk Christi nicht gilt, sondern darin, dass sie sich nicht auf Christus verlassen. Die Ermahnung (Vers 20: sei nicht hochmütig, sondern fürchte dich) aber setzt voraus, dass jener Hochmut, der dem Glauben widerspricht, eine menschliche Möglichkeit ist. Die Gnade ist eben nicht eingegossen und nun eine feste Eigenschaft, sondern allein im aktuellen Sichverlassen wirklich. Der erneute, im Sich-Rühmen angekündigte Unglauben aber würde (ebenso wie für die nicht glaubenden Juden) das Herausfallen aus dem Strom der Heilsgeschichte bedeuten, das Gott mit seiner Ferne beantwortet. Die Strenge seines Gerichts bedeutet, dass er die Wahrheit des Unglaubens vollzieht. Damit will Paulus nicht Angst machen, sondern angesichts der Möglichkeit der Sünde daran erinnern, was sie bedeutet. Eine bloß ererbte, selbstverständliche, natürlich abstammungsmäßige Zugehörigkeit zum Heil gibt es schon für die Juden nicht, schon garnicht aber bei den Heiden. 23–24 Im Blick auf die Bestimmung ganz Israels formuliert Paulus zunächst nur die Möglichkeit: Wenn die von der eigenen Heilsgeschichte abgeschnittene Mehrheit, durch das Vorbild der Völker gereizt, doch zum Sichverlassen auf die in Christus nun geschenkte, letzte Gemeinschaft findet, wird sie wieder eingepflanzt  – was (wie schon in Vers 20) eine ursprüngliche Zugehörigkeit ganz Israels voraussetzt.100 Das liegt in der schöpferischen Macht Gottes, der die Sünder „gerecht macht aus dem Glauben an Jesus“ (3,26). Dabei scheint die erforderliche schöpferische Veränderung sogar geringer zu sein als bei den Heiden  – denn im Unterschied zu ihnen, die ihre hergebrachten Religionen unwiederbringlich hinter sich lassen, werden die Juden ihre eigene Wurzel, die Wahrheit ihrer eigenen Geschichte wiederfinden. Für Paulus scheint eben dies ihre Bestimmung zu sein. Auch hier stellt sich die Frage, ob dies zwei verschiedene Akte sind – das „beim Unglauben nicht bleiben“ und die erneute Aufnahme durch Gott – oder ob nicht vielmehr das Finden zum Glauben an die in Christus geschenkte Gemeinschaft selbst schon die Aufnahme ist. Denn Glauben ist ja als menschliche Wirklichkeit zugleich Wirklichkeit des Geistes. Insofern wäre statt „wenn sie nicht beim Unglauben bleiben“ besser zu übersetzen „indem sie nicht beim Unglauben bleiben“.

cc)  11,25–32: Gottes List der Heilsgeschichte wird auch ganz Israel retten 25 Denn ich will nicht, Brüder, dass ihr dieses Geheimnis nicht erkennt, damit ihr nicht vor euch selbst klug seid (Wolter: damit ihr nicht [nur] in Bezug auf euch selbst Bescheid wisst): Verstockung (oder: Verhärtung) ist Israel zum Teil widerfahren, bis die Fülle (oder: die volle Zahl) der Heiden hinzugekommen ist (εἰσέλθῃ). 26 Und 100 

Diese Voraussetzung entspricht 9,4 f., ihr widerspricht aber 9,6–13.

c)  Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32



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so wird ganz Israel gerettet werden, wie geschrieben steht: „Kommen wird aus Zion der Retter, er wird entfernen die Gottlosigkeiten (ἀποστρέψει ἀσεβείας) von Jakob. 27 Und das [ist – oder: wird sein] der Bund (Wolter: die Verfügung), der ihnen von mir [zukommt], wenn ich ihre Sünden wegnehme.“101 28 Hinsichtlich des Evangeliums [sind sie] euretwegen (oder: um euretwillen – δι’ ὑμᾶς) zwar [Gottes] Feinde, hinsichtlich der Erwählung aber sind sie Geliebte [Gottes] wegen der Väter (oder: um der Väter willen). 29 Unwiderruflich nämlich sind die Gnadengaben (τὰ χαρίσματα) und die Berufung (oder: der Ruf – ἡ κλῆσις) Gottes. 30 Denn wie ihr einst Gott ungehorsam wart, jetzt aber Erbarmen erfahren habt infolge ihres Ungehorsams, 31 so sind auch diese jetzt ungehorsam geworden wegen des euch erwiesenen Erbarmens, damit auch sie Erbarmen erfahren. 32 Denn Gott hat sie alle im Ungehorsam eingeschlossen (Wilckens: in das Gefängnis des Ungehorsams eingesperrt; Luther: Denn Gott hat alles beschlossen unter den Unglauben), damit er sich ihrer aller erbarme.

Wird wirklich ganz Israel zum Glauben an die in Christus geschenkte, letzte Gemeinschaft Gottes kommen und so gerettet werden? In den Versen 25–27 teilt Paulus den verborgenen, aber ihm prophetisch gewissen Heilsplan Gottes auch für ganz Israel mit, dessen Umwege im Verhältnis von Juden und Heiden er schon in den Versen 11–15 angedeutet hatte. Die Verse 28–29 begründen das Heil für ganz Israel zusätzlich in der Treue Gottes. Die Verse 30–32 schließlich fassen zusammen, dass im Horizont des absoluten Sichdurchsetzen Gottes und seines Ziels, sich aller zu erbarmen, zu schließen ist, dass er auch Sünde und Unglauben zum Instrument dieser Zuwendung macht. 25–27 Was bisher nur erst als Andeutung (in den Versen 11–12) oder mögliche Perspektive (23–24) erschien, wird nun als definitives Geheimnis (Mysterium) mitgeteilt – der Sinn, den die Verhärtung Israels gegenüber dem Evangelium von Christus für die göttliche Heilsgeschichte insgesamt hat. Das Wunder dieses an sich verborgenen, göttlichen Sinnzusammenhangs zu bedenken und sich darin eingeordnet finden, widerspricht dem Selbstverständnis, aus eigener Verstandeskraft klug zu sein und die eigene geschichtliche Rolle souverän zu überblicken. Das setzt die Mahnung an die hier angesprochenen Heidenchristen aus Vers 18 fort, sich nicht zu rühmen.102 Das Wort μυστήριον ist hier wahrscheinlich nicht in hellenistischer Tradition, sondern in der Tradition jüdischer Apokalyptik zu sehen – es geht um das Geheimnis der göttlich bestimmten Zukunft, welches dem Propheten oder zur Verkündigung Beauftragten offenbart wird.103 Die Frage ist, woher Paulus es kennt. Entweder Paulus selbst ist es – etwa als Antwort auf seine den Anfang des Exkurses markierende Fürbitte für Israel 9,1–3 – offenbar geworden: so z. B. U. Müller.104 Oder das Geheimnis ist für ihn die eindeutige Konsequenz der gleich zitierten alttestamentlichen Prophetie  – vielleicht auch in dem 101 

Vgl. Jes. 59,20 f.; Jes. 27,9. alternative Interpretation bietet M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 204: Paulus will die Einsicht oder Klugheit der Heidenchristen erweitern. 103 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 253 f. und M. Wolter, a. a. O. 2, S. 203. 104 Nach U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 254. 102  Eine

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Sinn, dass diese Einsicht als revelatio mediata gelten kann, als mittelbare Offenbarung, die auf die ursprünglich prophetische Offenbarung zurückgeht.

Gott hat den großen Teil Israels gegenüber Christus so lange verhärtet (vgl. schon 11,7 f.), bis die „Fülle der Heiden“ von der in ihm gestifteten, letzten Gottesgemeinschaft ergriffen ist (sein wird). Die Fülle der Heiden kann (im Sinn auch von Apg. 13,48) die von Gott im Voraus bestimmte Zahl der Aufgenommenen meinen.105 Dann stellt sich freilich die Anschlussfrage, wieso Gott nur einen Teil der Heiden durch Christus und den Geist seiner Gemeinschaft in diese Gemeinschaft aufnimmt – oder holt er die Rettung aller auch hier später nach? Im Blick auf Israel hatte Paulus diese Frage in 9,6–21 diskutiert und schließlich als unbotmäßig abgewiesen. Nun aber beantwortet er sie im Sinne einer Errettung ganz Israels – und wird in Vers 30 von Gottes Absicht reden, sich überhaupt aller zu erbarmen. Im Blick auf die Rede von der „Fülle“ vielleicht unwahrscheinlicher, aber systematisch nachvollziehbarer wäre dann die Annahme, dass die Fülle der Heiden analog zur Ganzheit Israels alle Völker in ihrer Gänze meint. Da Paulus aber nicht annehmen wird, dass vor der Errettung ganz Israels erst im Zuge der geschichtlichen Verkündigung alle anderen Menschen gerettet werden müssen, wäre das dann im Sinne einer abschließend-eschatischen Offenbarung zu verstehen, mit der schließlich auch ganz Israel gerettet wird.

Dass die Fülle der Heiden hinzukommen wird, meint mindestens dies, dass sich die Wahrheit des Evangeliums bei allen Völkern (wenn auch vielleicht nicht: bei allen Menschen) durchsetzt. In allen Völkern werden Menschen in die letzte Gemeinschaft Gottes aufgenommen. Ein Traditionshintergrund der Erwartung des Hinzukommens der Völker bzw. Heiden ist auch hier die prophetische Verheißung, dass sich in der Endzeit viele106 oder alle107 Völker in Zion als der Mitte des Bundes versammeln und so in sein Heil einbezogen werden. Das offenbare Geheimnis, von dem Paulus redet, betrifft jedenfalls die entsprechende prophetische Einsicht, dass das eschatische Heil Gottes nicht nur Israel, sondern alle Völker umfasst – was unter der aktuellen Voraussetzung der Verhärtung der Mehrheit Israels nun als der Bedingungszusammenhang erscheint, dass der Rettung ganz Israels, deren Verheißung hier zitiert wird, die Aufnahme der Völker vorhergeht. Die Grundlage dieser Offenbarungsgewissheit, die er angibt, ist für Paulus die prophetische Verheißung, dass der endzeitliche Retter (Heiland), der aus der Mitte Israels (Zion) kommt, ganz Israel von der Gottesferne befreien wird. Zwar ist in den zitierten Passagen aus Jesaja Gott der Retter Israels, doch ist für das Zitat anzunehmen, dass es Gott durch Christus ist108 – und zwar vermutlich, indem diese Wende ja noch aussteht, Christus nicht als der Gekommene, Gekreuzigte und Auferstandene, indem dieser jetzt verkündigt wird 105  So z. B. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 205. Etwa bei Augustinus oder in der mittelalterlichen Theologie (bei Anselm z. B.) finden sich umfangreiche Überlegungen über die Bedeutung dieser Zahl. 106  Vgl. Jes. 2,2 f.; Micha 4,2. 107  Vgl. Jes. 56,7; 60,3 u. ö. 108  Zwar gibt es keine Verbindung von Jesus und Zion (vgl. M. Wolter, Der Brief an die



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und durch den Glauben präsent ist, sondern erst der am (für Paulus) nahen Ende der Zeit wiederkommende Christus.109 Freilich ist der wiederkommende Christus derselbe wie der gekreuzigte und auferstandene und durch den Glauben gegenwärtige.

Indem der wiederkommende Christus, den „die Fülle der Heiden“ schon kennt, die Verhärtung Israels aufheben wird – nach Jes. 59,21 geschieht das durch die Begabung mit dem Geist Gottes110 – ist dies für ganz Israel der neue Bund. Wie der Zusammenhang zu verstehen sein könnte zwischen der Berufung der Völker, der Verhärtung Israels und der Rettung ganz Israels, seine innere Notwendigkeit, erklärt Paulus auch hier nicht (ich habe oben dazu einen Vorschlag gemacht). Vielleicht konfrontiert er einfach die Verheißung der Rettung Israels (als offenbartes Geheimnis) zum einen mit seiner Gewissheit der auch den Heiden eröffnete Christusgemeinschaft, zum anderen mit dem gegenwärtigen Nichtglauben der Mehrheit Israels, die sich an der Universalität und am Geschenk der Gemeinschaft stößt, und schließt daraus auf einen göttlichen Sinnzusammenhang zwischen der Berufung der Völker und der Verhärtung Israels – ohne ihn wirklich erklären zu können.

28–29 Gegenwärtig sind die Angehörigen Israels in ihrer Mehrheit zwar Feinde des Evangeliums Christi  – und damit Gottes. Sie stoßen sich an der Gnade Gottes, in der er seine Liebe offenbart – an der Verkündigung der in Christus auch den Völkern geschenkten, letzten Gemeinschaft. Und doch ist Paulus sich dessen gewiss, dass auch Israel im Ganzen von Gott geliebt ist. Ob nicht auch, wenn Gott in Christus Juden und Heiden, die gottlose Menschheit überhaupt rechtfertigen und aufnehmen will, eben diese Menschheit insgesamt von Gott geliebt ist, ist hier nicht sein Thema, ist aber anzunehmen.

Die Gewissheit, dass auch das gegenwärtig verhärtete Israel von Gott geliebt ist, begründet Paulus mit der Erwählung der Väter. Die Erwählung der Väter Israels (Abrahams, Isaaks und Jakobs) zum Gottesverhältnis ist als solche schon Ausdruck unverdienter Liebe.111 Diese Liebe aber, die die Erwählung bedeutet, schließt ganz Israel, also die Nachkommen mit ein112 – eben das ist ihre Verheißung. Im Kontext der Väterüberlieferungen wurde das wahre Leben, die Lebensfülle von vornherein gar nicht individualistisch als einem Menschen für sich zukommend gedacht, sondern als Leben der konkreten geschichtlichen Gemeinschaft, zu der der Einzelne gehört (zur Familie, zur Sippe, zum Volk).

Römer 2, S. 213), aber U. Wilckens weist darauf hin, dass schon in „rabbinischer Auslegung“ die Passagen messianisch interpretiert werden konnten (Der Brief an die Römer 2, S. 257). 109  Vgl. 1. Thess. 1,10. 110  Auch Jer. 31,33 klingt an. 111  Vgl. Dtn. 7,7 f. 112  Spricht das dafür, dass auch schon in Vers 16 mit der heiligenden „Erstlingsgabe“ die Väter Israels gemeint waren?

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Gottes Verheißung der Zukunft bezog sich auf die kollektive Lebensgemeinschaft. Der entsprechende Ruf in die Gemeinschaft, die entsprechenden Gnadengaben schon in der Geschichte Israels sind unwiderruflich – also etwa im Sinne von 9,4: die Kindschaft, die Herrlichkeit, der Bund, das Gesetz, die Verheißungen usf.113 Sie sind für Israel im Ganzen bestimmt, denn Gott ist in seiner Liebe treu, d. h. er bleibt im Verhältnis zu Israel, aber auch im Verhältnis zur Menschheit überhaupt, mit sich eins, also verlässlich. Wie auch immer es mit dem Gottesverhältnis (Israels) gegenwärtig aussieht – Gottes Wort ist nicht hinfällig (9,6), er wird seine Liebe zum Ziel bringen und seine in Christus erwiesene (geschenkte) Gemeinschaft auch an Israel vollziehen  – spätestens mit der Wiederkunft Christi. Dabei ist jedoch festzuhalten, dass dieses Geliebtsein durch Gott als die Zugehörigkeit zur ‚Wurzel des Ölbaums‘ durch den Glauben (an Christus) realisiert sein muss (11,20.23). Es bleibt die Frage, ob die Erwartung der Rettung ganz Israels nicht der Eindeutigkeit widerspricht, mit der Paulus in 9,6–29 die Treue und Erwählung Gottes gerade nicht auf alle Nachkommen Abrahams bezog, sondern nur auf Einige. Es scheint so, dass Paulus sein Denken dahingehend teils korrigiert, teils klarstellt, dass die göttliche Verhärtung vieler „aus Israel“ (9,6) nur eine vorläufige ist. Das hieße etwa, dass sich die Erwählung zwar im konkreten Geschichtsverlauf ausdifferenziert in Berufene und Nichtberufene, dass sie aber als Erwählung zur Gemeinschaft den Sinn der Geschichte Israels (und der Menschheit?) im Ganzen bezeichnet, der sich wiederum als Rettung Israels (und der Menschheit?) im Ganzen mit dem eschatischen Ende der Zeit vollzieht. Aber was ist dann mit den in der Geschichte gottlos Gebliebenen – bleiben sie verworfen oder gibt es eine Wiederherstellung Aller (ἀποκατάστασις πάντων)?

30–32 In erneuter direkter Ansprache der Römer als Heidenchristen fasst Paulus nun den paradoxen Rhythmus zwischen Erwählung und Verstockung im Verhältnis von Israel und Völkern zusammen. Für Juden und Heiden gilt, dass Gott den Ungehorsam durch seine unverdiente Zuwendung überwindet. Diese unverdiente Zuwendung vermittelt sich für die Völker durch den Ungehorsam Israels.114 Umgekehrt entzündet sich der weitere Ungehorsam Israels wie gesagt zum einen gerade an der Öffnung der Gottesgemeinschaft für die Heiden, zum anderen an ihrem Gnaden- oder Geschenkcharakter. Dies aber ist sozusagen eine List der Heilsgeschichte Gottes, sofern es zum Heilsziel gehört, auch Israel durch dieselbe Gnade vom Ungehorsam zu befreien. Also hat Gott alle, 113  Nach M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 219 sind die „Gnadengaben“ als „Sammelbegriff “ dafür zu verstehen. 114  Vgl. die Ausführungen oben (v. a. S. 229–231) zu 11,11 f.15: Durch die mehrheitliche Ablehnung Jesu und der Verkündigung des Evangeliums kam es zur Verkündigung an die Heiden. Dass sich das in Christus gegebene Geschenk der Gottesgemeinschaft als solches auf alle Menschen bezieht, reflektiert Paulus hier nicht.



c)  Zum Sinn der Heilsgeschichte gehört auch Israels Rettung: 11,1–32

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Juden und Heiden, „im Ungehorsam eingeschlossen, damit er sich ihrer aller erbarme“ – so wie ja schon nach 5,12 ff. alle Menschen ebenso in ihrer Gottlosigkeit im Grunde eins sind wie auch anders in der Rechtfertigung, die Christus bedeutet.115 Doch diese Gemeinschaft aller im Erbarmen Gottes muss sich auch noch vollziehen. Das heißt für die nichtjüdischen Christen: Ohne die Rettung auch Israels ist die in Christus geschenkte Gemeinschaft als auch zwischenmenschliche Gemeinschaft noch „unvollständig“.116 Ist dann aber nicht auch zu sagen: Überhaupt ohne die Gemeinschaft aller Menschen, die eine gemeinsame Geschichte haben, ist die Gemeinschaft des wahren Lebens in Christus unvollständig? Vers 32 kann aber auch noch eine allgemeinere soteriologische Bedeutung tragen. Luther notiert hier in einer Glosse zu seiner Übersetzung (im Druck von 1545): „Allgemeine barmhertzigkeit Gottes“ und nennt den Vers in einer Anmerkung einen „Hauptspruch / der alle Werck und menschliche Gerechtigkeit verdammet / und allein Gottes Barmhertzigkeit hebet / durch den Glauben zu erlangen.“

Das heißt, es gilt grundsätzlich für die gefallene Menschheit, dass, wie auch immer wir Menschen uns verhalten, der Ungehorsam oder Unglauben so lange eine  – göttliche  – Notwendigkeit ist, bis wir uns auf die Zuwendung Gottes verlassen. Doch der göttliche Sinn dieser Notwendigkeit ist, dass sich an ihr die Barmherzigkeit Gottes erweist  – so wie der göttliche Sinn des Nichts die Schöpfung, der göttliche Sinn des Todes die Auferstehung ist. Freilich kann das nicht heißen, dass Gott die Ursache des Ungehorsams ist oder den Menschen zum Sündenfall gezwungen hätte. Es ist unser Ungehorsam, unsere Gottesferne, wenn wir aus uns selbst, durch uns selbst und für uns selbst leben. Aber auch dieses Aussichselbstleben, Fürsichselbstleben, aus dem als Prinzip seiner Identität sich der Mensch nicht befreien kann (das Gesetz der Sünde nach 7,23.25), lebt noch von Gottes allgemeiner Schöpferkraft und damit vom Sinn des göttlichen Heilsziels insgesamt. Gott setzt nicht den Ungehorsam, die Sünde als Voraussetzung seiner Zuwendung, sondern seine Zuwendung macht sie zu ihrer Voraussetzung. Systematisch liegt die Irritation, die Sünde könnte als notwendige Voraussetzung der Barmherzigkeit erscheinen, nicht zuletzt an der mangelnden Unterscheidung des menschlichen Fürsichseins, das den Menschen als Geschöpf vollendet und supralapsarisch notwendige Voraussetzung der Gottesgemeinschaft ist – und der Sünde als der Verabsolutierung des Fürsichseins, welche alles, was begegnet, für die Identität gebraucht, die wir durch uns und für uns haben. 115 M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 224 meint, das „alle“ aus Vers 32 bezöge sich nicht auf die Menschheit, sondern auf die zuvor genannten, früher ungehorsamen Heidenchristen und die jetzt ungehorsamen Juden. Das ist nicht ausgeschlossen, widerspricht aber dem Sprachgebrauch von 10,4.11 f. 116  Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 266.

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

d)  Die unbegreifliche Heilsgeschichte: 11,33–36 33 O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich seine Gerichte (Wolter: Entscheidungen) und unergründlich seine Wege! 34 Denn „wer hat die Vernunft des Herrn (νοῦν κυρίου  – Luther: des HERRN sinn) erkannt“? Oder „wer ist sein Ratgeber geworden“? 35 Oder „wer hat ihm voraus [etwas] gegeben, so dass ihm erstattet werden müsste?“117 36 Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm hin (ἐξ αὐτοῦ καὶ δι’ αὐτοῦ καὶ εἰς αὐτὸν) ist alles. Ihm die Herrlichkeit (oder: Ehre – αὐτῷ ἡ δόξα) in Ewigkeiten, Amen.

Die Verse bilden einen schönen, poetischen Hymnus, der den großen Exkurs zur Heilsgeschichte abschließt. Kap. 12 zum wahren Leben der sich auf Christus Verlassenden schließt wieder an Kap. 8 an. Man könnte das Stück (mit Wilckens) in drei Strophen oder in 9 Verse gliedern.118 Strophe 1 besingt die für uns unerschöpfliche Tiefe Gottes in seinem Reichtum, seiner Weisheit, seiner Erkenntnis, also in drei Begriffen, von denen sich vielleicht annehmen lässt, dass sie in Strophe 2 in umgekehrter Reihenfolge durch drei rhetorische Fragen der Schrift aufgegriffen werden.119 Strophe 3 weiß die unerforschliche Tiefe Gottes in der Einzigkeit begründet, in der er alles was ist, alles Werden und allen geschichtlichen Sinn, umfasst. Das Staunen über die Unermesslichkeit von Gottes Reichtum, Weisheit und Erkenntnis (Vers 33a) wird also durch die Verse 34–35 theologisch reflektiert, zuvor aber schon in Vers 33b und c im Blick auf das in den Kapiteln 9–11 Gesagte konkretisiert: Zwar können wir uns darauf verlassen, dass Gott sich schließlich aller erbarmt (Vers 32). Doch wie dies geschieht, wie sich dies geschichtlich durchsetzt, versteht Paulus nicht – weil es sich menschlich nicht verstehen lässt. Gottes Entscheidungen (Gerichte) und Wege, wie sie uns erscheinen, können wir in ihren Gründen nicht begreifen. Die Gründe liegen in der für uns unausschöpflichen Tiefe Gottes.120 117 

Vgl. Jes. 40,13, Hiob 15,8; 41,3. 33 O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich seine Gerichte und unergründlich seine Wege! 34 Denn „wer hat die Vernunft des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber geworden? 35 Oder wer hat ihm voraus [etwas] gegeben, so dass ihm erstattet werden müsste?“ 36 Denn aus ihm und durch ihn und zu ihm hin ist alles. Ihm die Herrlichkeit in Ewigkeiten, Amen. (Vgl. a. a. O. 2, S. 269). 119  So U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 269  – M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 234 hält das für unwahrscheinlich, da es Paulus hier nicht auf die Unterscheidung der Einzelglieder ankäme. 120 Zur Unausschöpflichkeit und Unverstehbarkeit Gottes gibt es zahlreiche biblische Parallelen. Vgl. nur z. B. Weish. 9,10–18; Hiob 11,7 f.; Hiob 28; Jdt 8,14 – dazu U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 270, und M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 229–232. 118 



d)  Die unbegreifliche Heilsgeschichte: 11,33–36

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Das bezieht sich insbesondere auf die erfahrenen Erwählungen und Verhärtungen, die Paulus wie gesagt pauschal auf Gott in seiner absoluten Macht zurückführt. Ihre konkrete Logik im Sinn der göttlichen Verheißung ist nicht oder kaum zu durchschauen. Das gilt umso mehr, wenn der Unterschied zwischen Erwählung und Verhärtung ausdrücklich keinen Grund im Menschen hat, sondern daran liegt, dass Gott grundlos zu lieben und zu hassen scheint (9,13: Jakob habe ich geliebt, Esau habe ich gehasst).

Andererseits hatte Paulus doch eben die Erforschung der Entscheidungen Gottes im Blick auf das Verhältnis der Erwählung von Heiden und von Israel versucht und beansprucht, das Geheimnis mitzuteilen (11,25)! Doch war für ihn diese Kenntnis nicht nur Ausdruck seiner Gewissheit der Treue Gottes, sondern wesentlich in prophetischer Offenbarung begründet. Nun gesteht Paulus die Grenze seiner Einsicht. Nach diesen Bemerkungen darüber, wie sich die Selbsterkenntnis darin, das Handeln Gottes nicht erforschen zu können, auf die Kap. 9–11 zurückbezieht, komme ich auf den Zusammenhang der Verse 33a und 34–35 zurück. Sie besagen zusammen: Die (uns entzogene) Tiefe von Gottes Reichtum, Weisheit und Erkenntnis ist seine Gottheit selbst, indem Gottes Wirklichkeit, sein Denken und Handeln mit seiner Schöpfung, allein in sich begründet ist. Gottes Erkenntnis ist schlechthin schöpferisch. Sie wird durch keine ihm äußere Gegenständlichkeit bestimmt, in ihr ist alles geschaffen. So wird seine Vernunft von keinem Menschen nach Maßgabe menschlicher Vernunft erkannt oder erschlossen. Nur Gott erkennt Gott  – und wir erkennen ihn nur durch seinen Geist in uns. Zur weiteren Differenzierung lässt sich auch 1. Kor. 2,7–12 vergleichen. Die Weisheit Gottes, die sich auf die Bestimmung der Geschichte bezieht, ist ein Geheimnis, verborgen und unerkannt. Aber Gott offenbart es durch seinen Geist, der die Tiefe der Gottheit erforscht. Das heißt, nur in der Gemeinschaft seines Geistes beginnen wir, seine Weisheit zu verstehen.

Die Weisheit, in der Gott nicht nur schafft, sondern auch alles, was er schafft, zu einem Sinn und Weg bestimmt, ist für uns unergründlich – nicht wir sind seine Ratgeber, sondern nur er selbst, seine eigene Weisheit. Das ist die Weisheit, die immer vor Gott ist und war, als er schuf (Weish. 8,4; 9,9.13) und die als Liebling Gottes ewig vor ihm spielt (Spr. Sal. 8,22 ff.) – nun aber, als sein ewiger Logos, Fleisch geworden ist und sich als Mensch den Menschen in ihrem Sinn der Liebe erschlossen hat (Joh. 1,1–3.14).   Die Weisheit Gottes aber, die im „Wort vom Kreuz“ liegt – also darin, mit dem Sohn die Schwäche des Menschen, den Tod des Sünders zu teilen – ist für die Weisheit der Welt eine Verrücktheit (1. Kor. 1,18–25). Diese Weisheit der Liebe offenbart sich uns im Widerspruch zur Weisheit der Welt, also zu der Weisheit, die wir durch uns selbst im Verhältnis zur sichtbaren Welt haben.

Und schließlich die Tiefe des Reichtums, d. h. die absolute Souveränität seines Schenkens, das keiner verdient, und das eben deshalb unausschöpflich ist. Seine

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3.  Die Bedeutung Israels in Gottes universaler Heilsgeschichte: 9,1–11,36

Liebe ist schon bevor er sie in Christus als Sinn des Ganzen erwiesen und erfüllt hat (mit Christus schenkt er uns alles: 8,32.39) schlechthin schöpferisch: Sie hat den Kosmos, alles Leben und die Menschheit hervorgebracht, und schließlich erst Israel, dann die Völker zur Gemeinschaft bestimmt. Und in ihr liegt auch die Gnade, das verhärtete Israel wieder aufzunehmen, so wie er überhaupt den gottlosen Menschen beruft. Aber nichts und kein Mensch hätte ein Recht auf das Dasein oder auf eine Zuwendung oder Reaktion Gottes. Leben und wahres Leben kommen grundlos allein aus ihm und sind von uns nicht ausrechenbar. 36 Die 3. Strophe versteht die Unausschöpflichkeit des Reichtums und der Weisheit Gottes zusammenfassend in der Einzigkeit begründet, in der alles Wirkliche, vor allem aber jedes menschliche Leben, aus ihm ist (d. h.: er hat es werden lassen und lässt es werden), von ihm in seinem Dasein getragen ist und in ihm, in seiner Gemeinschaft seine Bestimmung findet. Eine Parallele dieses Gedankens, die ihn christologisch differenziert, findet sich 1. Kor. 8,4: Aus dem einen Gott, dem Vater, ist Alles, und wir sind zu ihm, und durch den einen Kyrios Jesus Christus ist Alles, und wir durch ihn.121 Das heißt auch: durch Christus sind wir zu Gott.

Gott und in ihm das Ziel seines Erbarmens (Vers 32) ist der Grund des Ganzen. Seine Gemeinschaft ist das Ziel von allem – nicht nur der Juden oder der Völker, also des menschheitlichen Lebens insgesamt, sondern das Ziel alles Lebens und alles Daseins (vgl. 8,19.22.32: die ganze Schöpfung seufzt mit dem Menschen unter der Gottesferne, sehnt sich nach ihrer Erlösung im Menschen). Die Kommentatoren weisen darauf hin, dass die Formel ‚aus ihm, durch ihn, zu ihm‘ bedeutende hellenistische Parallelen hat, die aus derselben Zeit wie der Römerbrief stammen. So knüpft etwa der römische Philosoph Seneca an das schon aristotelische Schema der vier (bzw. bei Seneca fünf ) Ursachen an, mit denen etwas bestimmt ist durch das, aus was es ist, durch was oder durch wen es ist, worin es ist, woraufhin und wozu es ist – und bezieht es auf Gott als der allumfassenden einen Ursache.122 Wenn Paulus hier entsprechende philosophische oder auch (wie jedenfalls der lukanische Paulus in Athen nach Apg. 17,28: in ihm leben wir, sind wir) literarische Ansätze aufgreift, die von einer umfassenden Bestimmtheit alles Seienden und auch des menschlichen Lebens durch die Gegenwart der Gottheit reden, so vermeidet er freilich einen pantheistischen Sinn, der Gottes umfassende Gegenwart statisch voraussetzt. Dass alles „aus ihm und durch ihn und zu ihm hin ist“ meint hier die Dynamik der Geschichte von der Schöpfung bis zum Eschaton, in der Gott in Christus seine Gemeinschaft als Sinn des Ganzen vermittelt. Alles, was ist, insbesondere aber der Mensch in seiner Geschichte, erfährt seine Bestimmung in der Bewegung von Gott und zu Gott, wie sie in Christus erschlossen ist.

121 

Vgl. ferner noch Eph. 4,6. Vgl. Epistulae morales 65,8.12, zitiert bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 235 (vgl. insgesamt 234–236 sowie U. Wilckens, Der Brief an die Römer 2, S. 272 f.). Auch Philo wäre zu vergleichen. 122 



d)  Die unbegreifliche Heilsgeschichte: 11,33–36

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Paulus schließt seinen Exkurs mit einer schon frühchristlich verbreiteten gottesdienstlichen Schlussformel (vgl. auch Gal. 1,5), die auch am Schluss des Vaterunser-Gebetes anklingt. Im Sichverlassen auf Gott wird alles der Kraft seiner Ewigkeit anbefohlen.

4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13 Nach dem Exkurs zur Bedeutung Israels in Gottes Geschichte mit der Menschheit geht es nun wieder um das christliche Leben in der Gegenwart  – unter der Voraussetzung, dass der alte, im Gesetz der Sünde befangene Mensch mit Christus gekreuzigt ist (6,6). In 12,1–15,13 erinnert Paulus die Christen an das Leben, das aus ihrer geschenkten Rechtfertigung, aus dem geschenkten Geist der Gottesgemeinschaft folgt. Die Grundbestimmung hatte er zwar schon in den Kapiteln 5–8 gegeben und im 6. Kapitel sowie in 8,1–17 insbesondere auch hinsichtlich des Gegensatzes zum unwahren Leben thematisiert. Jetzt aber zielt Paulus auf konkrete Lebensfragen der Gemeinde. Nach der Grundbestimmung des wahren Lebens in der Gemeinde in 12,1–21 bedenkt er das Verhältnis zur weltlichen Macht (13,1–7) und die göttliche Wahrheit der Liebe (13,8–14). Darauf folgt ein längerer Abschnitt, der zeigt, wie der gemeinsame Glauben der Gemeinde den Streit um die Lebensweise regulieren soll (14,1–15,13).

a)  Das wahre Leben erfüllt sich in der Gemeinschaft Gottes und der Menschen: 12,1–21 aa)  12,1–2: Das wahre Leben als Gottesdienst. Es unterscheidet sich vom gewöhnlichen Leben 1 Ich rufe euch nun auf, Brüder, durch die (oder: kraft der) Barmherzigkeit Gottes, eure Leiber als lebendiges, heiliges, Gott wohlgefälliges Opfer darzubringen: euer vernünftiger Gottesdienst (τὴν λογικὴν λατρείαν ὑμῶν). 2 Und lasst euch nicht dieser Weltzeit gleichförmig machen (μὴ συσχηματίζεσθε τῷ αἰῶνι τούτῳ – Luther: Und stellet euch nicht dieser Welt gleich), sondern lasst euch umwandeln (μεταμορφοῦσθε) durch die Erneuerung des Denkens (τῇ ἀνακαινώσει τοῦ νοὸς – Luther übersetzt: durch vernewerung ewers sinnes), so dass ihr einschätzen [könnt], was der Wille Gottes ist: das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene (τέλειον).

Kraft der Zuwendung Gottes, die ihn sendet, und im Namen der Zuwendung Gottes zu den Glaubenden und Getauften, die er anspricht, muss Paulus sie aufrufen, erinnern, ermahnen: zum Leben, das dem Sichverlassen auf Christus entspricht. Die Verse 1–2 bieten die These dessen, was nach Paulus dieses Leben

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

ist, welches aus der in Christus geschenkten Gottesgemeinschaft entspringt: Das wahre Leben liegt in der Hingabe. Was die Hingabe für Gott konkret bedeutet, sagt Paulus zunächst nicht – aber schon die Verse 3 ff. stellen klar, dass es um die Hingabe für die menschliche Gemeinschaft in Christus geht – für die Gemeinschaft Gottes, die sich in der menschlichen Gemeinschaft darstellt. Alles bis 15,13 Folgende führt dann diese These aus, d. h. es konkretisiert ihre Bedeutung. Die Grundlogik ist: Wenn der alte Mensch in seinem sich festhaltenden Fürsichsein ‚gestorben‘ ist, indem sich der Mensch auf die Gottesgemeinschaft in Christus verlässt, so entspricht dem ein Leben und Kommunizieren, in dem der Mensch sein sich schon im Zuge der Leiblichkeit des Lebens immer wieder herstellendes Fürsichsein einsetzt für diese Gemeinschaft. Sein sich immer wieder herstellendes Fürsichsein, das heißt: sich selbst, in dem Moment, in dem er auf seine Möglichkeit des Kommunizierens oder Sicheinsetzens reflektiert.   Diese Hingabe entspringt der in Christus geschenkten Gottesgemeinschaft (ihrem Geist), auf die sich der Mensch verlässt. Doch sofern sich eben das Fürsichsein wiederherstellt, ist dies kein Automatismus. Immer wieder muss sich der Mensch verlassen und die Gemeinschaft, auf die er sich verlässt, sein Verhältnis zu den anderen Menschen bestimmen lassen.

Notwendig ist diese Erinnerung, weil die immer noch mächtige Gewohnheit des Lebens ‚der Welt‘ diesem neuen Leben widerspricht – auch das wird sich in den weiteren Konkretisierungen zeigen. Im Einzelnen: Vers 1 enthält nicht nur eine Aussage über das wahre Leben, sondern auch eine Aussage über den wahren Gottesdienst. Dieser liegt nicht in einem religiös rituellen Reservat des Lebens, sondern besteht im ganzen besagten wahren Leben. Das wahre Leben, das im Glauben beginnt, besteht darin, den Leib Gott darzubringen – den Leib, d. h. die mir vom Schöpfer vorgegebene, geschenkte Möglichkeit, zu kommunizieren. Das ist der Sinn meines Leibes, meines Lebens  – und zugleich (im Unterschied zu gegenüber dem täglichen Leben verselbständigten Riten und Kulten) der eigentliche Gottesdienst. Versuche ich dagegen, dieses Leben für mich zu behalten, ist dies gerade das Wesen der Sünde. Indem ich in meinen Lebensverhältnissen die Anderen und auch die Dinge der Schöpfung für meine Identität gebrauche, bleibe ich für mich – was nach Joh. 12,25 den Tod bedeutet: Wer sein Leben liebt, verliert es; wer sein Leben auf dieser Welt haßt, wird es erhalten zum ewigen Leben.   Entgegen dem Schein der Weltflucht und Leibfeindlichkeit fasst Paulus das zeitlich leibliche Leben aber gerade in seinem positiv göttlichen Sinn auf, auch wenn dieser sich in seiner Hingabe zeigt, nicht seinem Festhalten liegt.1

1  Auch das ewige Leben kann Paulus nicht als unleiblich-geistiges, sondern nur als kommunizierendes (und insofern leibliches) denken; die Erlösung, auf die zu hoffen ist, ist eine Erlösung des Leibes (8,23). Doch entsprechen wir dem gerade in der Hingabe, im Leiden. Dazu gleich mehr.



a)  Das wahre Leben erfüllt sich in der Gemeinschaft Gottes und der Menschen

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Was bedeutet das  – den Leib Gott darzubringen? Die Hingabe beginnt im Glauben als Sichverlassen. Kommunizierend real aber kann sie sich nur auf das Verhältnis zu den anderen Menschen beziehen (mit dem Ziel, dass wir „ein Leib in Christus“ werden: vgl. gleich zu Vers 5). Der hinzugebende Leib ist das gegebene, empfangene Identischsein als Möglichkeit (und Notwendigkeit) weiteren Kommunizierens. Das bedeutet dann: Indem ich mich (eben das aktuelle Identischsein oder Fürsichsein) für die Anderen einsetze und so mein Leben in Liebe realisiere, lasse ich es in Gott oder zu Gott zurückfließen. Dies geschieht in der Dankbarkeit, mit der ich es schon als geschöpflich-leibliches Leben überhaupt und dann als wahres Leben aus der geschenkten, den Tod des Fürsichseins überwindenden Rechtfertigung (Taufe) von ihm empfange. Darin lebt der heilige Geist der in Christus gestifteten Gemeinschaft in mir. In der Sprache des Opferkultes gesagt heißt das: Das Opfer geschieht nicht um zu versöhnen  – das ist in der Hingabe Christi am Kreuz ein für alle mal geschehen  – sondern als Lobopfer. Lebendig ist es, weil es die Erfüllung des wirklichen Lebens ist. Wohlgefällig ist es, indem sich in ihm die Gemeinschaft in Christus (oder: die Gemeinschaft des Geistes) weiter kommunikativ aufbaut. Und heilig ist es, weil es aus dieser Gemeinschaft kommt. Indirekt spricht Paulus damit auch die Freiheit von allen kultischen Verpflichtungen zu – gegenüber den Verpflichtungen der heidnischen Opferkulte, ferner vielleicht auch gegenüber dem Jerusalemer Tempelkult, und vielleicht auch gegenüber beginnenden rituellen Verpflichtungen des Gottesdienstes der Gemeinde.   Wie die Rede vom vernünftigen oder logosmäßigen Gottesdienst oder Kult zeigt, knüpft Paulus dabei an zeitgenössische hellenistisch-philosophische (stoische) Kultkritik an. Die Kommentatoren können auf verwandte Formulierungen wiederum etwa bei Seneca und vor allem bei Philo verweisen, auf den sich Paulus im Römerbrief ja wiederholt zu beziehen scheint. Zusammengefasst gibt es hier die Ansicht, dass vernünftige, logosgemäße (der göttlichen Ordnung des Kosmos gemäße) Gottesverehrung nicht in den vielfältigen Opferkulten besteht, sondern in einem logosmäßigen Denken und Handeln. Insbesondere schon Philo verbindet die philosophische Opferkritik mit der alttestamentlich prophetischen: Der wahre Gottesdienst ist nicht der förmliche Opferkult, sondern besteht darin, sich selbst darzubringen bzw. ist das Tun der Gerechtigkeit.2

Auch für Paulus umfasst das wahre, vernünftige, göttlich aufgeklärte Feiern der Gottesgemeinschaft das ganze Leben (nicht nur eine vom profanen Leben abgegrenzte Heiligkeit des Kultes) und den Sinn der Schöpfung überhaupt  – aber eben als Liebe und Hingabe, die der Selbsthingabe des Sohnes Gottes für uns am Kreuz entspricht und im Sichverlassen auf diese Gemeinschaft im Sinne des Mitgestorbenseins des alten Menschen begründet ist.

2  Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 5 f., mit Belegen; ferner ausführlich mit weiteren Parallelen M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 253–255.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

2 Die Erinnerung an das wahre Leben der Christen rechnet mit einem mächtigen Widerstand. Sie ist ein Aufruf, dem immer noch mächtigen, bleibenden Anpassungsdruck an die kollektive Lebensweise ‚dieser Weltzeit‘ nicht nachzugeben – passt euch nicht wieder an das ‚Schema‘ dieser Welt an, an die in der jetzigen Menschenwelt gewöhnliche Lebensstruktur!3 Dieser allgemeine Anpassungsdruck lässt sich als die Wirklichkeit der Grundsünde verstehen: die „Verschlossenheit des Menschen in der Sorge um sich selbst“4, das Verehren geschaffener Götzen, das Gebrauchen von Menschen und Dingen für die Identität, die der Mensch durch sich hat – dies als zunächst allgemeine, herrschende Struktur, die sich ständig zwischenmenschlich verbreiten will, indem sie Anerkennung, Einstimmung (entsprechende Werte, Perspektiven, ein entsprechendes Selbstverständnis) fordert, und der die Verkündigung widersprechen muss. Doch geht es nicht nur um den Anpassungsdruck der alten Weltzeit als des allgemeinen gesellschaftlichen Raumes, in der die Gemeinde lebt. Paulus geht implizit auch davon aus, dass in den an Christus Glaubenden diese alte Lebensstruktur immer noch mehr oder weniger virulent ist. Zwar ist sie durch Glauben und Taufe, also durch Selbsterkenntnis, Mitsterben und Rechtfertigung im Prinzip überwunden, doch bleibt offenbar auch ein Rest des alten Denkens, das der Anfälligkeit für jenen Anpassungsdruck entgegenkommt. Insofern bedeutet Christsein, dass sich diese Überwindung auch weiter (prozesshaft) realisiert: Es bedeutet, sich weiter verändern (umwandeln) lassen vom heiligen Geist der Gemeinschaft. Und zwar muss dieses Sichverändernlassen primär im Denken geschehen  – Denken nicht im Sinne bloßer Theorie verstanden, sondern als jemeiniges, existenziell konkretes (die Lebensvollzüge bestimmendes) Selbstverständnis, Verständnis des Lebens, Gottes, der Welt usf. νοῦς kann natürlich auch Vernunft bedeuten, wäre dann aber hier nicht im Sinne eines Vermögens, sondern als konkrete, lebensbestimmende Denkweise zu verstehen. Man könnte wohl auch sagen, dass die Erneuerung des Denkens weiter auf eine Vernunft des Glaubens zielt, die das Gottesverhältnis in Christus als Wahrheit des Ganzen zu denken versucht.

Das neue Denken bedeutet vor allem, dass das eigene und gemeinsame Leben im Sinn des Willens Gottes gedacht wird – von Gott und auf Gott hin – und dass die Liebe als das Gute und ihm Gefallende realisiert wird, in dem unser Leben (unser Leib) seinen Sinn erfüllt. Wenn die Sünde bedeutet, im Zwang des Fürsichgebrauchens der Menschen und Dinge den Leib zu entehren (1,24), so erfüllt sich seine Bestimmung darin, ihn für die Gottes3  Zum sog. Zwei-Äonenschema im Hintergrund, das mit dem Beginn einer neuen Weltzeit rechnet, vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 256. 4 W. Joest, Dogmatik 2, Der Weg Gottes mit dem Menschen, Göttingen 1996, S. 400; vgl. T. Kleffmann, Kleine Summe der Theologie, § 7–8, S. 35–45.

a)  Das wahre Leben erfüllt sich in der Gemeinschaft Gottes und der Menschen



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gemeinschaft einzusetzen. Wenn die Sünde die quasi kultische Verehrung der Geschöpfe bedeutet (1,25), so besteht in dieser Hingabe die wahre Verehrung des Schöpfers. Und wenn die Sünde bedeutet, dass die Menschen in verkehrtem Denken verhärtet sind (1,28), so ist nun in der geschenkten Gemeinschaft das Denken zu erneuern.

bb)  12,3–8: Die Gemeinde – ein Leib, viele Glieder 3 Denn ich sage kraft der (oder: durch die) mir gegebene Gnade jedem unter euch, nicht über das hinaus zu sinnen, worauf zu sinnen nötig ist, sondern darauf zu sinnen, besonnen (Wolter: bescheidenen Sinnes) zu sein (μὴ ὑπερφρονεῖν παρ’ ὃ δεῖ φρονεῖν ἀλλὰ φρονεῖν εἰς τὸ σωφρονεῖν – Luther: daß niemand weiter von ihm [sich] halte / denn sichs gebühret zu halten / sondern daß er von ihm [sich] mässiglich halte), jeder wie Gott das Maß des Glaubens zugeteilt hat. 4 Denn wie wir in einem Leibe viele Glieder haben, die Glieder aber nicht alle dieselbe Aufgabe haben (ἔχει πρᾶξιν  – Luther: nicht einerley geschäfft haben), 5 so sind wir, die Vielen, ein Leib in Christus, aber im Verhältnis zueinander Glieder. 6 Wir haben aber unterschiedliche Gnadengaben (χαρίσματα) [je] nach der uns gegebenen Gnade: sei es Prophetie, [so] in Entsprechung zum Glauben (κατὰ τὴν ἀναλογίαν τῆς πίστεως), 7 sei es Dienst, [so] im Diensttun (εἴτε διακονίαν ἐν τῇ διακονίᾳ – Luther: Hat jemand ein Ampt / so warte er des Ampts), sei es als Lehrer, [so] in der Lehre, 8 sei es als Ermahnender (εἴτε ὁ παρακαλῶν), [so] in der Ermahnung (Wilckens: sei es als Seelsorge, (dann) in der Seelsorge); der Spendende [tue es] in Einfalt, der Vorstehende [tue es] mit Einsatz, der Barmherzigkeit Übende [tue es] in Fröhlichkeit.

Vers 3 entspricht Vers 1 und leitet die erste, das Zusammenleben in der Gemeinde betreffende Konkretion des Lebens als eines vernünftigen Gottesdienstes ein. Das erneuerte Denken betrifft zuerst das richtige Verhältnis der Glieder der Gemeinde zueinander. Dem Anpassungsdruck des kollektiven alten Lebens nicht nachzugeben, sich zur Freiheit der Hingabe erneuern zu lassen – was bedeutet das für das Verhältnis zu den anderen Gemeindegliedern? Wie schon in Vers 1 verbindet Paulus die Mahnung, die nun einsetzt, ausdrücklich mit der göttlichen Autorität seines Apostelamtes – kraft der ihn zum Apostel berufenden Gnade ist sie wahr, und kraft dieser Gnade weiß er, dass sie erforderlich ist.5

Dass jeder in der Gemeinde im Glauben an Christus die Rechtfertigung, den Geist Gottes als neue Bestimmung des Leben erfährt, kann gerade nicht heißen, dass sich einer über den anderen erhebt oder für sich eine höhere Stellung oder höheres Ansehen in der Gemeinde anstrebt  – oder die eigene Aufgabe in der Gemeinde für höher erachtet als die der Anderen. Es liegt hier ein komplexes griechisches Wortspiel mit Tradition vor: φρονεῖν heißt auf etwas sinnen, etwas halten von, denken; ὑπερφρονεῖν heißt überheblich gesinnt sein, und σωφρονεῖν ist das der philosophischen Tugend der Besonnenheit entsprechende Verb. 5 

Auf die entsprechende Vollmacht beruft Paulus sich auch in 2. Kor. 13,10.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Das Wortspiel kommt auch in hellenistisch stoischer Literatur vor6, der einschlägige Hintergrund des Wortfeldes reicht aber weiter bis zu Plutarch, Plato und Aristoteles. So liegt nach der Nikomachischen Ethik des Aristoteles die erstrebenswerte, die jeweilige Tugend markierende Besonnenheit im Halten der μεσότης, der Mitte, des richtigen Maßes.7

Wenn nun aber Paulus an dieses Ideal der Besonnenheit anknüpft, so findet die im christlichen Sinn wahre Besonnenheit ihr Maß im Glauben, der die Wahrheit des Lebens in der Gemeinschaft Christi erkennt. Die wahre Besonnenheit findet ihr Maß nicht, indem das Subjekt es vernünftig ausmittelt, sondern indem es sich verlässt auf die Gemeinschaft Christi, die aus dem Tod des Fürsichseins befreit und dem zwischenmenschlichen Verhältnis seinen Sinn gibt (es zu ihrem Medium macht). Über diese Gemeinschaft hinaus auf etwas für sich sinnen, wäre nicht nur überflüssig und unbesonnen, sondern bereits Verirrung. Sich aus dieser Gemeinschaft heraus im Verhältnis zu den Anderen in der Gemeinde erheben (sich für besser oder ausgezeichnet halten) – das wäre schon ein Rückfall in die Strukturen des alten Lebens, von denen Vers 2 redete.8 Besonnenheit im Umgang mit den Unterschieden der Gemeindeglieder findet ihr Maß im Glauben. Wenn es heißt, Gott habe das Maß des Glaubens verschieden zugeteilt, so ist damit nicht etwa die Intensität des Glaubens (etwa im Gegensatz zum Zweifel) gemeint. Vielmehr meint Paulus, dass Gott die unterschiedlichen Aufgaben (von denen ab Vers 4 die Rede ist), die unterschiedlichen Begabungen entsprechen, im Modus des Glaubens zugeteilt hat. Die unterschiedlichen göttlichen Begabungen und Aufgaben empfangen ihren Sinn allein aus dem gemeinsamen Glauben, der die Gemeinschaft in Christus realisiert, für die sich weiter einzusetzen die Bestimmung des Lebens ist. 4–5 Um den Sinn der Unterschiedlichkeit der Gemeindeglieder und ihrer Aufgaben zu erläutern, gebraucht Paulus das Bild vom einen Leib, dessen viele Glieder verschiedene, aber gleich nötige und wichtige Funktionen haben. Das praktische Problem, das ihn dazu herausfordert, liegt wie gesagt darin, dass offensichtlich der Anpassungsdruck der Umwelt oder auch eine verbliebene Virulenz der alten Lebensstruktur dazu führt, dass es in der Gemeinde zu Eitelkeiten im vermeintlichen Besitz der Begabungen und entsprechenden Ämter kam – also eben zu besagtem Sinnen darauf, sich hervorzuheben, statt sich für die Gottesgemeinschaft einzusetzen. Darin dokumentiert sich die alte Struktur, durch Abgrenzung mit sich identisch zu sein.   Sehr viel konkreter zeigt sich das vergleichbare Hauptproblem auch in der Gemeinde in Korinth; dazu sind im (etwa ein Jahr zuvor geschriebenen9) 1. Korintherbrief die Kap. 3 und 4 zu vergleichen. In 1. Kor. 12,4–31gebrauchte Paulus ebenfalls, aber viel ausführlicher, das Bild vom Leib und den Gliedern: Wenn es einen Geist, einen Kyrios und einen 6  Zum Beleg vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 10, Anm. 48; vgl. insgesamt S. 10 f. und M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 262 f. 7 Vgl. Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, hg. von R. Nickel, etwa II,6 f. 8  Zur Wirkungsgeschichte dieses Ansatzes gehört gehört die reformatorische Theologie des Amtes mit der Betonung des Priestertums aller Gläubigen. 9  Nach U. Schnelle, Einleitung in das Neue Testament, Göttingen 21996: 55 in Ephesus.



a)  Das wahre Leben erfüllt sich in der Gemeinschaft Gottes und der Menschen

251

Gott gibt, aber viele Gaben, Ämter und Vermögen, so ist die Einheit zu denken als der eine Leib Christi, der aus unterschiedlichen Gliedern besteht, die zusammenwirken müssen.

Das Bild vom gegliederten Leib steht bekanntlich in einer alten und breiten philosophische Tradition, wobei allerdings mit dem einheitlichen Leib das organisierte Gemeinwesen, der Staat gemeint ist.10 Für Paulus aber ist die Einheit des gegliederten Leibes nicht nur eine Metapher für eine Lebensgemeinschaft analog zu Staat oder Volk. Für Paulus ist Christus, Gottes Gemeinschaft mit dem Menschen, der Leib als das wahre Lebenssubjekt, an dem wir als Einzelne im Glauben (im Sichverlassen auf ihn) und in der Hingabe der Liebe teilhaben. Das wahre Lebenssubjekt ist unsere Einheit ‚in Christus‘ oder Christus selbst (so 1. Kor. 12,27: ihr seid der Leib Christi und jeder von euch ein Glied). Indem wir an ihm teilhaben oder teilgewinnen, sind wir in ihm vereint. Diese gegliederte, ein Kommunikationsgeschehen darstellende Einheit extra nos, in Gott, ist die Wahrheit der Gemeinde, der Kirche und jedes ihrer Glieder. Die Kirche ist eine Gemeinschaft, die als Leib Christi jetzt unsichtbar ist, die aber sichtbar ist und sein soll in unserem Glauben und unserer Liebe. Durch Glaube und Liebe, durch die Hingabe des jemeinigen Leibes als vernünftiger Gottesdienst, erweisen wir uns als ihre lebendigen Glieder. Also eine Gemeinschaft, die nicht wir als Einzelne herstellen, etwa durch Herrschaft oder menschliche Organisation, sondern die der geglaubte (ihre Vollendung als Gegenstand des Glaubens antizipierende) und darin ‚in mir lebende‘ (Gal. 2,19 f.) Christus vollzieht und darstellt.11 Der gottesdienstlich konzentrierte Vollzug dieser Gemeinschaft ist auch die Bedeutung der Abendmahlsfeier nach 1. Kor. 10,16 f.: „Das Brot, das wir brechen, ist das nicht die Gemeinschaft des Leibes Christi? Denn ein Brot ist es; so sind wir viele ein Leib, weil wir alle an einem Brot teilhaben“. Die Kommunion begeht die vereinende Teilhabe am Leib Christi, an der Gemeinschaft seines Lebens, das unseren Tod, unser getrenntes Fürsichsein überwindet.

Im Verhältnis der Christen untereinander, als Glieder, bedeutet das: Es gibt zwar verschiedene Begabungen und entsprechende Aufgaben für die Gemeinschaft; diese sind jedoch alle gleich würdig und nötig. Das Wesentliche ist die Gemeinschaft in Christus, die sich im Zusammenspiel der unterschiedlichen Begabungen und Aufgaben lebendig vollzieht. 6–8 Nun geht Paulus verschiedene Charismen und Aufgaben in der Gemeinde durch, die sich vermutlich auch schon in der römischen Gemeinde ausgebildet hatten (was aber nicht heißt, dass Paulus damit eine feste Struktur genau ab10 Vgl. Platon, Politeia 462c–d; Aristoteles, Politik 1302b34–1303a1 (zitiert bei M. Wolter, Der Römerbrief 2, S. 267); oder aus der Zeit des Paulus Livius, Ab urbe condita 2,32,9–10. 11  Eine zusammenfassende Mahnung zur Einheit in Christus findet sich auch 15,5 f.

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bilden will12). Er ermahnt sie, den Sinn ihrer Gnade zu erfüllen, der im Leben der Gemeinschaft liegt.13 Die unterschiedlichen „Gnadengaben“, Charismen, schenkt Gott in derselben Gnade, in der er überhaupt durch Christus bzw. seine Verkündigung und seinen Geist in die Gemeinschaft beruft. Das Charisma meint die Berufung in eine bestimmte Funktion für die Gemeinschaft – der freilich auch eine Befähigung oder Begabung dafür entspricht. Die Gnadengaben lassen sich als Überformung des geschenkten geschöpflichen Lebens – also leiblich-geistiger Begabungen – durch das Geschenk der Rechtfertigung in Christus denken: Durch letztere (also auch: durch den Geist der Gemeinschaft), werden die geschöpflichen Begabungen dazu befreit, auf ihre Weise der Gemeinschaft Gottes zu dienen.

Zunächst werden vier relativ klar umgrenzte Aufgaben in der Gemeinde genannt, dann drei christlich habituelle Tätigkeiten, von denen mindestens zwei weniger bestimmte Ämter zu beschreiben scheinen als vielmehr allgemein typisch christliche Weisen des Handelns.14 Die Gabe der Prophetie zielt auf „inspirierte Predigt“15. Sie ist herausgehoben, da Paulus betont, dass sie in Entsprechung des Glaubens zu üben ist. Aber ist nicht jede Aufgabe dem Glauben gemäß zu üben? In Vers 3 hatte Paulus jeden in der Gemeinde ermahnt, sich an das Maß des im Glauben gegebenen göttlichen Sinns zu halten. Vielleicht zielt die Betonung darauf, dass sich die Predigt, die ja als solche auf Glauben zielt, nicht als besonders wunderbare Prophetie verselbständigen, sich nicht mit göttlichem Expertenwissen brüsten, sich nicht als Wahrheitsinstanz prinzipiell der Gemeinde gegenüber stellen, sondern einfach dem gemeinsamen Glauben kritisch dienen soll. Nach 1. Kor. 14,3 f. soll prophetische Rede zur Auferbauung, Ermahnung und Tröstung der Gemeinde dienen  – also dem gemeinschaftlichen Glaubensverstehen, der Selbsterkenntnis in der verbliebenen Getrenntheit, der Gewissheit künftiger Vollendung.

Die Gabe des Dienstes, der Diakonie betrifft wahrscheinlich in erster Linie die Aufgabe, im Namen der Gemeinde karitativ tätig zu sein, also Versorgungsleistungen für Bedürftige zu sammeln und zu verteilen.16 12 

Vgl. dazu M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 270 f. Die in 1. Kor. 12, 28–30 genannte Liste der Dienste oder Ämter unterscheidet sich: Gott hat Apostel, Propheten, Lehrer, Wundertäter, Heiler, Zungenredner eingesetzt (zum Verhältnis und zur Charakterisierung ist ganz Kap. 14 zu vergleichen). Die charismatischen Exzentriker (Wundertäter, Zungenredner) werden im Römerbrief nicht genannt. 14  Damit bilden sie den Übergang zu den alle Gemeindeglieder betreffenden Ermahnungen in den Versen 9 ff. 15 U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 14. 16  Vgl. auch 16,1, wo von Phoebe im Dienst der Gemeinde von Kenchreä die Rede ist. Zum Beispiel in der Apg. 6,1 f. ist von der Versorgung u. a. der Witwen die Rede. 13 



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Weniger wahrscheinlich ist, dass Dienst hier Oberbegriff für den Dienst an der Gemeinde überhaupt ist, wozu auch die gleich genannte Gemeindeleitung, Seelsorge und der Unterricht gehörten.

Die Dopplung des Ausdrucks (‚wenn dein Charisma Dienst ist, dann tue Dienst‘) lässt sich hier vielleicht so verstehen, dass die förmliche Aufgabe des Dienstes auch wirklich in der Wahrheit des Dienstes geschehen soll. Ihre Wahrheit ist die Hingabe als vernünftiger Gottesdienst (Vers 1). Sie geschieht im Namen Christi, nicht in eigenem Namen und nicht zur Selbsterhebung des Gebenden über den Nehmenden. Das Charisma und die Aufgabe des Lehrers in der jungen christlichen Gemeinde entspricht vielleicht am ehesten dem Amt des „Schriftgelehrten in der Synagoge“17 und bedeutet damit die Aufgabe der verständigen Auslegung der Schrift im Licht des Evangeliums, aber auch seine freie lehrmäßige Diskussion18 – etwa im Gottesdienst oder auch in gottesdienstlichen Versammlungen in den Häusern.19 Das vierte genannte Charisma, die Tätigkeit als Ermahnender oder Seelsorger, ist schwieriger zu greifen. Als eigenes, abgesondertes Amt ist es kaum vorzustellen. Dieses Charisma scheint also eher ein Aspekt der Prophetie bzw. Predigt oder auch Lehre zu sein oder es ist, wie später, personell damit verbunden. Vielleicht bezieht es sich auch auf die nicht förmliche Aufgabe der individuellen geschwisterlichen Ermahnung. Bei den folgenden drei Weisen christlichen Dienstes im weiteren Sinn erinnert Paulus noch konkreter kritisch als bei den zuvor genannten Charismen an die Mitte des neuen Lebens: Das Schenken soll wirklich einfach Ausdruck der Liebe, des Sich-Identifizierens mit den anderen Kindern Gottes sein – und nicht im Kalkül etwa der zu erwartenden Dankbarkeit, sittlichen Anerkennung oder gar göttlichen Belohnung geschehen. Und wer in der Gemeinde eine Leitungsaufgabe übernimmt  – hier ist nicht spezifisch das Amt der Gemeindeleitung überhaupt gemeint20, wie es später dem Presbyter (vgl. 1. Tim. 5,17) oder dem 17 U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 15. – Vgl. 15,4: „was uns zuvor geschrieben ist, ist uns zur Lehre geschrieben“ – dazu unten. 18 Der jüdische Schriftgelehrte studierte und lehrte die Tora in Synagoge und Synagogenschulen, während der Rabbi eher in freier Diskussion hervortrat. Dabei ist der Übergang zwischen Lehre und Verkündigung fließend. Auch Paulus selbst trat im Zuge seiner Misson als „Lehrer“ des Evangeliums auf bzw. wird so genannt: Apg. 13,1; 18,11; 19,8–10. Seine Aufgabe ist insofern die theologische Darlegung des Glaubenszusammenhangs als Auslegung der Schrift. Da er sich im hellenistischen Bildungsraum bewegt, kann dabei die Gestalt des Schriftgelehrten oder Rabbi mit Momenten der Tradition der Philosophenschulen verschmelzen. Vgl. C. Clauẞen, Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Göttingen 2002; S. Luther, Art. Lehrer, in: Das wissenschaftliche Bibellexikon im Internet (www.wibilex.de), 2008. 19  Vgl. 1. Kor. 14,26: „Wenn ihr zusammenkommt, so hat ein jeder einen Psalm, er hat eine Lehre, er hat eine Offenbarung, er hat eine Zungenrede, er hat eine Auslegung – lasst es alles geschehen zur Erbauung.“ 20  Vgl. auch M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 274 mit weiteren Literaturverweisen.

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Episkopos (vgl. 1. Tim. 3,17) zugeordnet ist – tue es im Sich-Einsetzen für die Gemeinde, nicht für sich, um sich zu erhöhen. Alle Handlungen der Nächstenliebe und Zuwendung aber, also die auch grenzüberschreitende Hingabe des Eigenen (im Schenken, aber auch im Vergeben, Fürsorgen usw.), sind nur wahr, indem sie fröhlich21, d. h. aus freier Lust und Liebe (Luther), aus der Freiheit des aus Gnade Gerechtfertigten und in die Gemeinschaft Gottes Aufgenommenen, geschieht – und nicht aus religiöser, kirchlicher Pflicht. cc)  12,9–21: Konkretionen der Liebe 9 Die Liebe [sei] ungeheuchelt. [Seid] solche, die das Böse verabscheuen, dem Guten anhängen, 10 die in der Bruderliebe (τῇ φιλαδελφίᾳ) einander innig zugetan sind, die in der Ehre einander zuvorkommen (Wolter: an Ehre einander den Vorzug geben), 11 im Eifer nicht zögerlich sind (Luther: Seyd nicht träge / was ihr thun solt), im Geist glühen (oder: brennen), dem Herrn dienen, 12 in der Hoffnung sich freuen, in der Bedrängnis standhalten, beharrlich im Gebet sind, 13 in den Nöten (oder: Bedürfnissen) der Heiligen Gemeinschaft erweisen (ταῖς χρείαις τῶν ἁγίων κοινωνοῦντες), die Gastfreundschaft pflegen (Luther: Herberget gern).22 14 Segnet eure23 Verfolger; segnet, und verflucht nicht. 15 Freut euch mit den Fröhlichen, weint mit den Weinenden (wörtlich: sich freuen mit denen, die sich freuen, weinen mit denen, die weinen). 16 Seid solche, die untereinander auf dasselbe sinnen (oder: sinnt auf Einmütigkeit untereinander), die nicht nach den hohen Dingen sinnen, sondern die sich zusammen für die niedrigen einspannen lassen (τοῖς ταπεινοῖς συναπαγόμενοι). Seid nicht solche, die sich selbst für klug halten. 17 [Seid] solche, die niemandem Böses mit Bösem vergelten, die auf das Gute allen Menschen gegenüber bedacht sind (Wolter: die auf das bedacht sind, was gut ist im Urteil aller Menschen), 18 die, soweit es an euch liegt (εἰ δυνατὸν τὸ ἐξ ὑμῶν), Frieden halten mit allen Menschen, 19 sich nicht selbst rächen, Geliebte, sondern: Gebt Raum dem Zorn, denn es steht geschrieben: „Mein ist die Rache, ich werde vergelten“24, spricht der Herr. 20 Vielmehr: „Wenn dein Feind hungert, speise ihn; wenn ihn dürstet, tränke ihn. Denn indem du das tust, häufst du feurige Kohlen auf sein Haupt.“25 21 Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse in dem Guten (oder: durch das Gute).

In Kap. 12 erinnert Paulus an das wahre Leben in der Hingabe, die dem Sichverlassen auf Christus entspringt und entspricht. Die Verse 1–2 hatten die Grundbestimmung dieses Lebens gegeben – die Gemeinschaft, die in Christus 21  Weitere biblische Belege zur Bedeutung der Fröhlichkeit bietet M. Wolter, a. a. O. 2, S. 275. 22 Die Verse 9b–13 und 16–19a erscheinen im Nominal- oder Partizipialstil. Es ließe sich also wörtlicher übersetzen: „[Seid] Verabscheuende des Bösen, Anhänger des Guten, in der Bruderliebe einander Zugetane, in der Ehre einander Zuvorkommende, im Eifer nicht Zögernde“ usw. 23  Zur Textkritik vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 277, Anm. 2. Evtl. ist das „eure“ analog zu Mt. 5,44 ergänzt. 24  Dtn. 32,35. 25  Prov.  25,21 f.



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besteht, vollzieht sich, was das zeitliche Kommunizieren angeht, in der Hingabe für sie, also für Gott und die Nächsten. So lassen sich die Glaubenden, statt dem Anpassungsdruck der in der Sünde befangenen Welt nachzugeben, von der Gottesgemeinschaft im Denken und Wollen umwandeln. Die Verse 3–8 hatten entwickelt, was das für das Gemeindeleben, insbesondere für die besonderen Gemeindedienste bedeutet. Nun erinnert Paulus (wie übergangsweise auch schon Vers 8) an die Konkretionen der Liebe im Leben aller Glaubenden. Er greift dabei auch auf schon vorchristlich gängige, teilweise vielleicht auch bereits urchristlich geprägte Kategorien des guten Handelns zurück, die mindestens in einem Fall auch auf ein Jesuswort zurückgehen.26 Vers 9 (und hier insbesondere der Eingang: „die Liebe sei ungeheuchelt“) lässt sich als Überschrift oder Zusammenfassung dieser Erinnerung verstehen – die Erinnerung an die Wahrheit des Lebens, die immer wieder zu vergegenwärtigen ist. Allerdings gehören zu den folgenden Konkretionen nicht nur Bestimmungen des zwischenmenschlichen Lebens als solche, sondern auch der zugrunde liegende Geist, die zugrunde liegende Hoffnung. Die Konkretionen selbst lassen sich vor allem nach sprachlichen Merkmalen in die Verse 10–13, 14 f., 16 und 17–21 gliedern. Die Folge ist aber recht unsystematisch; allenfalls lässt sich festhalten, dass es zunächst eher um allgemeine und das Gemeindeleben betreffende (Vers 10.13, aber auch 16) Konkretionen geht, später dagegen (in den Versen 14.17–21 um das problematische Verhältnis zu den Menschen außerhalb der Gemeinde. 9 Die Liebe (also eben die Hingabe der Leiber als Gottesdienst nach Vers 1) ist die Wahrheit der Lebenskommunikation derer, die sich auf Christus verlassen. Sie ist das christlich verstandene Gute27, das sich vom Bösen abwendet. Sie strömt aus der Gewissheit der Liebe Gottes (die in Christus ist: 8,39), aus dem Selbstbewusstsein, in und aus der Liebe Gottes zu leben. Im Sich-Identifizieren mit dem anderen Menschen, im tätigen Sich-Einsetzen für ihn im Namen Gottes, verwirklicht sich dann die Gemeinschaft Christi, auf die ich mich verlasse. Geheuchelt aber ist die Liebe, wenn sie sich zu einer Äußerlichkeit, zur äußerlichen Pflicht verkehrt, ohne dass der Mensch in der entsprechenden Gemeinschaft (die Christus darstellt) seine Identität findet. In der geheuchelten Liebe bleibt er doch mit sich allein und für sich. Also: Seid solche, die ihrem Sichverlassen auf Christus in Liebe entsprechen. 10 Zuerst äußert sich die Liebe als gegenseitige, geschwisterliche Liebe, also im Verhältnis zum anderen Gemeindeglied.28 Sie erstreckt sich anders aber 26  Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 280. Ob Paulus sich hier „an ein Schema […] gemeindekatechetischer Mahnungen“ hält, „[…] das im Urchristentum […] verbreitet gewesen ist“, ist kaum mit Sicherheit zu sagen: vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 18 f. 27  Vgl. auch schon 5,5; 8,35–39; ferner 1. Kor. 13; Gal. 5,14; 2. Kor. 6,6. 28  Zur weiteren Konkretion im Verhältnis von Starken und Schwachen im Glauben sind Kap. 14 und 15 zu vergleichen.

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auch auf die Gegner (vgl. gleich die Verse 14.17–21). Die gegenseitige, geschwisterliche Liebe kommuniziert die gleiche Gemeinschaft in Christus. Sie beginnt damit, den anderen in dieser Gemeinschaft anzuerkennen, zu respektieren, als geliebtes Gotteskind zu ehren. Und sie bedeutet eben – wie in den Versen 3–8 ausgeführt – dass sich trotz der Unterschiedenheit der Charismen keiner über den anderen erhebt.29 11 Wenn ihr Impuls (ebenso wie auch der Impuls der Gottesliebe) einschläft (das hieße: im Eifer zögerlich sein), ist zu fragen, ob dies nicht bedeutet, dass sich wiederum die gewöhnliche, auf einer unterschwelligen Identitätsebene verbliebene oder sich wiederherstellende Struktur der Selbstsorge als Gleichgültigkeit dem Anderen gegenüber geltend macht, als Trägheit des Sichgenügens. Davon ist aber der Umstand zu unterscheiden, dass das wiederkehrende Moment des Fürsichseins, der Reflexion der Kommunikation, eine geschöpfliche Notwendigkeit ist, die gerade Bedingung der Liebe ist.

Menschen- und Gottesliebe ist wie ein Brennen im Geist der Gemeinschaft Gottes, in dem sich das eigene Leben erfüllt, weil es sich verzehrt oder einsetzt.30 Deswegen dienen wir durch sie dem Herren, denn er stellt diese Gemeinschaft Gottes mit den Menschen dar. Es ist diese Gemeinschaft, auf die ich mich verlasse, die mich zur Liebe bestimmt, indem sie in mir lebt (Gal. 2,19 f.). 12 Doch unter der Bedingung der offenen Zukunft des leiblichen Lebens, der noch andauernden Umwandlung des Denkens (Vers 2), müssen Glaube und Liebe immer auch Hoffnung sein. Zugespitzt gilt das für die Bedrängnis etwa im zwischenmenschlichen Angefeindetwerden, in der Angst des leiblichen Lebens oder auch im Moment des Nichtverstehens Gottes. Insofern muss sich der Glaube, aber auch das glaubende Lieben in Hoffnung auf die erst kommende Vollendung der Gemeinschaft richten31, auch wenn die Hoffnung insbesondere als freudige Hoffnung, die des Kommenden gewiss ist, es vorwegnimmt. In der in diesem Sinn freudigen Hoffnung halten die Glaubenden die gegenwärtige Bedrängnis aus, so wie umgekehrt das Aushalten die Hoffnung bestärkt (vgl. schon 5,1–5). Eifer, Hoffnung, Standhaftigkeit aber vermitteln sich im Gebet: Darin, Gott anzureden, vermittelt sich der Geist seiner gegenwärtigen und kommenden Gemeinschaft. Wenn Paulus an die Wahrheit des Geistes erinnert, an die Wahrheit freudiger Hoffnung und des Gebetes, so ist das keine Forderung, die die Angesprochenen im Sinne einer bestimmten Entscheidung, eines bestimmten Handelns erfüllen könnten. Geist, Freude, Hoffnung kann man sich nicht geben. Vielmehr erinnert Paulus an den Grund, durch den 29  Zum freundschaftsethischen Hintergrund der Zeit vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 283 f. 30  Zu Geist und Feuer vgl. auch Apg. 2,3. 31 Vgl. 15,13: der Gott der Hoffnung erfülle euch mit Freude im Glauben; ferner 1. Thess. 5,16; Phil. 3,1; 4,4.

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sich die Liebe bewährt. Und dieser Grund muss Gegenstand einer Glaubenspraxis sein, die insbesondere vom Gebet bestimmt ist. Indem im Gebet Gott auch auf das Leiden, die Bedrängnis, das Nichtverstehen angesprochen wird, kann sich sein Geist auch in der Krise vermitteln.

13 Die Bedrängnisse sind aber immer auch die Nöte der jeweils anderen Gemeindeglieder. Daher ist die erste Konkretion der geschwisterlichen Liebe, mit Gemeindegliedern oder überhaupt anderen Christen nicht nur im Glauben, Hoffen und Beten Gemeinschaft zu zeigen, sondern, wenn sie es brauchen, auch materiell das Eigene zu teilen32, statt sich damit abzugrenzen.33 Die, die an Christus glauben, nennt Paulus Heilige (vgl. auch 1,7; 8,27; 16,2.15), weil sie in der Nähe oder Gemeinschaft Gottes leben – was nicht ausschließt, dass sie sich ständig mit der Macht der alten Lebensstruktur auseinandersetzen müssen.   In anderen Zusammenhängen kann Paulus auch hervorheben, dass im besonderen Apostel und Prediger, die sich den Lebensunterhalt wegen ihres Amtes nicht selbst verdienen können, der Unterstützung durch die Gemeinde bedürfen.34

Insbesondere die Gastfreundschaft erscheint dann als ein schöner und anerkannter Ausdruck der christlichen Liebe – der darüber hinaus schon im Kontext des Wanderlebens des Jüngerkreises und der späteren Wandermission (auch des Paulus selbst) ein wichtiger Ausdruck der neuen menschlichen Gemeinschaft war. 14 Paulus weitet den Blick auf das Verhältnis zur außerchristlichen, allgemeinen Gesellschaft (die Verse 17–21 führen diese Perspektive fort). Der Aufruf, die Verfolger zu segnen, setzt die Situation der Christenverfolgungen, des Angefeindetwerdens voraus, die Paulus selbst gut kannte.35 Hier Böses mit Bösem zu vergelten und die Verfolger zu verfluchen, würde eben nicht das Böse im Guten überwinden (so Vers 17 und 21), sondern bloß ein gewöhnliches Verhaltensprinzip der menschlichen Gesellschaft fortsetzen, das natürlich-vernünftig, aber auch (außerchristlich) als göttlich gefordert und sanktioniert erscheinen kann: die Gerechtigkeit des Ausgleichs, der die Logik der Identität durch gegenseitige Abgrenzung zu Grunde liegt. Das Böse ist aber nur im Geist der göttlichen Vergebung und Liebe zu überwinden. Die Verfolger segnen, heißt, ihnen im Namen Gottes eben diese Vergebung und Liebe zuzusprechen. Paulus zitiert hier offensichtlich ein Jesuswort, das in verschiedenen Varianten überliefert ist (vgl. Mt. 5,43 f., Lk.6,27, 1. Petr.3,8 f.; Did. 1,3)36. Dass er es (wie auch 1. Petr. und 32 

Das entsprechende Gemeindeideal stellt Apg. 2,44 ff. vor. hier knüpft Paulus wohl auch an ein heidnisch populäres, freundschaftsethisches Ideal an – vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 288. 34 Vgl. z. B. Phil. 4,10–18. Paulus kann aber auch betonen, dass er für seinen Lebensunterhalt selbst arbeitet: 1. Thess. 2,9. 35  Vgl. nur 1. Kor. 4,12 f.: „Wir werden beschimpft und segnen; wir werden verfolgt und bestehen“. 36  Zur Diskussion der Zuordnung vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 290 f. 33  Auch

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Did.) nicht ausdrücklich auf Jesus zurückführt, lässt sich entweder so erklären, dass es bereits zur allgemeinen Gemeindelehre geworden war37, oder damit, dass es ganz selbstverständlich auf den Kyrios zurückgeführt wurde und dieser daher nicht extra genannt werden musste.   Jedenfalls verkündigte schon Jesus das kommende Reich Gottes so, dass es für die sich darauf Verlassenden eine Gotteskindschaft (vgl. Mt. 5,45) bedeutet, die dazu befreit, die Feinde zu lieben und die Verfolger zu segnen, statt sie zu hassen.

15 Die Gemeinschaft, in der Alle Glieder am einen Leib Christi sind (12,4 f.), bedeutet nicht nur gegenseitiges Mitleiden, sondern auch Mitfreuen.38 Sie vollzieht sich also in Momenten des Sich-Identifizierens, des gegenseitigen Sichim-Anderen-Wiederfindens insbesondere dann, wenn Menschen in Freude und Leiden die Grenzen des vermeintlich Selbstverständlichen erfahren. Freilich setzen diese Momente des Sich-Identifizierens das Selbstleben, gerade indem sie es als Fürsichsein oder Fürsichleben aufheben, auch voraus. Dass sich das Sich-Identifizieren nicht nur auf das Leid des Anderen, sondern auch auf seine Freude bezieht, widerspricht dem Vorwurf Nietzsches gegenüber dem christlichen Mitleid, dass dies eine Selbstüberhebung über den Schwachen, einen verborgenen Egoismus darstelle oder aber die Selbstrechtfertigung dessen, der es mit sich selbst nicht aushalte.39 In Reaktion darauf hatte insbesondere schon Albert Schweitzer in seiner christlich motivierten Ethik die Zusammengehörigkeit von Mitleid und Mitfreude betont.40

Dass sich das wahre Leben darin vollzieht, sich für zentrale Momente mit dem Anderen zu identifizieren, gilt nicht nur für das Verhältnis der Gemeindeglieder. Auch wenn in dem nachfolgenden Vers 16 wie in den Versen 10 und 13 und ebenso wie in der Parallele 1. Kor. 12,26 f. der Skopus auf dem Binnenverhältnis der Gemeinde liegt, folgt doch aus Vers 14 („segnet eure Verfolger“), dass Paulus das wahre Mit-Leben der Christen auch auf Menschen außerhalb ihrer Gemeinde bezieht – jedenfalls, so ist wohl zu ergänzen, sofern ihre Freude und ihr Leid Ausdruck ursprünglicher Lebendigkeit und nicht Ausdruck der Sünde sind. 16 Die Momente des Sich-Identifizierens mit dem Anderen sind zwar als solche nicht festzuhalten, doch werden sie – zunächst innergemeindlich – umfasst vom Ziel der konkreten Einmütigkeit. Mit vier Bestimmungen ermahnt Paulus zum einmütigen Sinnen, d. h. zum einmütigen Wollen, Denken, Streben. Dabei greift er noch einmal den Ansatz von Vers 2 f. auf, wo 37 

So U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 22. Vgl. auch die Parallele 1. Kor. 12,26 f. 39 Vgl. etwa Morgenröte A. 80, KSA 3, S. 78; Menschliches Allzumenschliches II, KSA 2, A. 499, S. 320, wo Mitfreude und Mitleiden als Alternative erscheinen; Also sprach Zara­ thustra II (Von den Mitleidigen), KSA 4, S. 115,29 ff. – Interessant ist, dass Nietzsche dabei auf eben die antike Freundschaftsethik rekurriert, an die auch Paulus offensichtlich – sie durch den Gedanken der Gemeinschaft in Christus überbietend – anknüpft: Zu dieser Anknüpfung vgl. erneut M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 292 f. 40  Vgl. Kultur und Ethik. Kulturphilosophie. Zweiter Teil, München 1923, S. 239.241. 38 



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er das uneitle Sinnen für die in Christus gegebene Gemeinschaft als grundlegende Konkretion des sich einsetzenden Lebens als Gottesdienst betonte. Hier in Vers 16 formuliert er dasselbe etwas grundsätzlicher, nicht wie in den Versen 3–8 im Blick auf die verschiedenen Aufgaben in der Gemeinde.

Die Einmütigkeit konkretisiert sich vor allem darin, sich in der Gemeinde gemeinsam für das einzusetzen, was wirklich Not tut, statt das ‚Hohe‘ zu tun, um darin für sich oder vielleicht auch für die Kirche41 Anerkennung zu finden. Ein vorzügliches Beispiel aber für das ‚Hohe‘, das nicht um der Anerkennung willen anzustreben, nicht als mich auszeichnende Eigenschaft zu reflektieren ist, ist die Klugheit. Die Reflexion (das Selbstverständnis), in ausgezeichneter Weise zu denken, verfehlt die Wahrheit des Denkens, die in der Gemeinschaft Christi liegt. Das rechte Sinnen auf das, was Not tut für die Gemeinschaft in Christus, schließt dagegen auch die niedrig erscheinende Praxis der Gemeinschaft ein, z. B. die Versorgung der Schwachen, Krankenpflege, Sterbebegleitung. Es liegt im Geist der Liebe. Entsprechend wäre sogar die hohe Gabe der Predigt oder Erkenntnis Gottes und der Welt nichts ohne die Liebe (so 1. Kor. 13,2 ff.). 17 Die Verse 17–21 lassen sich wie gesagt an Vers 14 anknüpfen. Die Vergeltung des zwischenmenschlich Bösen mit Bösem, also die Vergeltung einer letztlich in der Grundsünde des menschlichen Umsichselbstkreisens wurzelnden Feindseligkeit mit einer ausgleichenden Feindseligkeit oder ausgleichenden Strafe, mag zwar eine gesellschaftlich notwendige Funktion staatlicher Ordnung und Gewalt angesichts der allgemeinen zwischenmenschlichen Bosheit sein (vgl. 13,4), wäre aber als persönliche Reaktion der sich auf Christus Verlassenden ein Rückfall in das Lebensprinzip des wesentlich für sich lebenden Menschen. Das Sich-Verlassen, in dem der Mensch seine Identität in Christus findet, in der Gemeinschaft Gottes, bedeutet im Verhältnis zum anderen Menschen, die Gerechtigkeit des Ausgleichs aufgeben zu können und aufzugeben, um in dieser Hingabe der Gemeinschaft zu dienen – denn mit ihr, in der Gemeinschaft Christi, ist ihm alles, was das wahre Leben bedeuten kann, bereits geschenkt. So ist auch dem, der mir Böses tut, mit Gutem zu begegnen.42 Was das positiv bedeutet, führen die Vers 18 und 20 weiter aus. 18 Das Gute, auf das für alle Menschen zu sinnen ist, beginnt damit, alle Möglichkeit zu einem friedlichen Zusammenleben mit ihnen zu nutzen  – auf der Basis der Teilhabe an der allgemeingesellschaftlich organisierten Arbeit, Versorgung, Kultur, öffentlichen Ordnung (dazu 13,1–7) usf. Vielleicht ist damit 41  Vgl. hier K. Barths naheliegende, weitere Aktualisierung, die Kirche solle sich nicht zur Überhöhung gesellschaftlicher Ideale und Werte vereinnahmen lassen, um Anerkennung zu finden: Der Römerbrief S. 447. 42  Die Parallelen in 1. Thess. 5,15 und 1. Petr. 3,9 sprechen dafür, dass Paulus eine geprägte, verbreitete Formulierung aufgreift  – die aber auch bereits frühjüdische und hellenistischethische Einsichten anklingen lässt (M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 296 verweist z. B. auf Belege im zeitgenössischen Roman „Josef und Asemet“).

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aber auch schon ein Frieden gemeint, der sich aus dem Frieden mit Gott ergibt. Dass der Gott des Friedens (vgl. 15,33; 16,20 u. ö.), der durch Christus den Frieden mit ihm geschenkt hat (5,1), die Christen im Verhältnis zu allen Menschen „zum Frieden berufen“ hat (1. Kor. 7,15), kann dann wiederum auch bedeuten, dass sie zum Rechtsverzicht, zum Verzicht auf Vergeltung oder Aufrechnung frei sein sollen. Vielleicht ist die Konkretion des Guten allen Menschen gegenüber eben dies, dass sich darin der menschliche Frieden andeutet, der im Frieden Gottes wurzelt. Freilich deutet Paulus auch eine Grenze an („soweit es an euch liegt“): Zum Frieden gehört auch der Andere. Es könnte also sein, dass sich trotz eines christlichen Rechtsverzichts, trotz der christlichen Feindesliebe im Außenverhältnis kein Frieden einstellt. Bedeutet das, dass in diesem Fall dann auch Christen dem Streit nicht auszuweichen haben, also dass etwa die Möglichkeit der Nothilfe für Bedrohte oder auch der Selbstverteidigung mit der gebotenen Liebe vereinbar ist?

Vielleicht impliziert die Nennung der Grenze auch, dass in der Gesellschaft über die Wahrheit des Lebens um des Lebens und der Wahrheit willen zu streiten ist. Die Auseinandersetzung, der Widerspruch ist hier dem scheinbar friedlichen Nebeneinanderherleben vorzuziehen. Menschlicher Frieden kann nicht bedeuten, vom Frieden Gottes nicht mehr zu reden. Frieden kann nicht bedeuten, dem unwahren Leben, der Sünde, der Lüge nicht zu widersprechen.43 19 In einer Konfliktsituation für alle auf das Gute sinnen und Frieden zu halten heißt zuerst, auf Vergeltung zu verzichten (so schon Vers 17). Die im Geliebtsein von Gott begründete Freiheit davon, sich in der Situation der Anfeindung durch Aufrechnung, Vergeltung oder Rache zu behaupten44, bedeutet freilich nicht, dass es kein Gericht geben wird. Aber dieses Gericht, welches das wirkliche Leben an seiner Bestimmung zum wahren Leben, zur Liebe beurteilt, liegt bei Gott. Gott wird die Wahrheit durchsetzen. Gottes Zorn und Rache im künftigen Gericht  – Paulus zitiert Dtn. 32,3545, vgl. auch Röm. 2,5–10  – umfasst nicht nur das Urteil über die Sünde (ihre offenbare Wahrheit), sondern auch einen gerechten Ausgleich (Vergeltung).46 Im Blick auf solche Vorstellungen hat Nietzsche eine subtile Übertragung des menschlichen Rachegefühls auf Gott diagnostiziert, eine Verlagerung der Rache auf das Ende der Zeit – durch denjenigen, der nicht in der Lage ist, sein Rachegefühl in der Gegenwart auszuleben, aber weit davon entfernt ist, es zu überwinden. In diesem Sinn paraphrasiert 43 Vgl. Calvin zur Stelle: Brief an die Römer, CStA 5.2, S. 651, z. T. zitiert bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 24. 44  Diese Begründung reflektiert Paulus hier nicht. Die nur im Gericht Gottes begründete Forderung, auf Rache oder Vergeltung zu verzichten, findet sich auch schon in Lev. 19,18. Dazu M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 299. 45 Dazu U. Wilckens, a. a. O. 3, S. 25 und M. Wolter, a. a. O. 2, S. 300. 46  Vgl. auch unten S. 269 zu 13,4.

a)  Das wahre Leben erfüllt sich in der Gemeinschaft Gottes und der Menschen



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Nietzsche in der „Genealogie der Moral“ Röm. 12,17–21.47 Und der Exeget M. Wolter scheint dem mit der Beobachtung zu entsprechen: „Paulus fordert seine Leser mit keinen Wort dazu auf, ihren Peinigern zu vergeben“.48

Auch systematisch theologisch lässt sich fragen: Widerspricht die Annahme von Gottes künftigem Zorn nicht Gottes Vergebung? Und vergibt nicht der Christ dem Feind, ohne ihn statt dessen dem Zorn Gottes zu empfehlen? Zunächst ist zu konstatieren, dass Nietzsche Paulus nicht wirklich verstanden hat – und auch die Beobachtung Wolters führt in die Irre. Denn der Gedanke des kommenden Gerichts ist nicht zu trennen von der Aufforderung, die Verfolger zu segnen, statt Vergeltung zu üben für alle auf das Gute zu sinnen und sich dem Feind zuzuwenden (vgl. die Verse 14.17.20). Vor allem aber kommt es im Kontext gerade auf die Antizipation des Gerichtes Gottes in der Gegenwart an. Diese Antizipation liegt zum einen darin, dass Vergebung bei dem, dem vergeben wird, zur Selbsterkenntnis führen kann. Analog wie im Glauben (als Sichidentifizieren in der Todeswahrheit des Kreuzes, als Mitgestorbensein mit Christus) hat das Gericht insofern das Ziel des Heils (dazu im nächsten Vers). Gottes Vergebung in Christus widerspricht nicht dem Gericht, da sie durch das Sichverlassen darauf wirklich wird, welches das Gericht vorwegnimmt. Zum anderen wird Paulus gleich (13,1–7) auf eine Antizipation des Gerichts durch die weltliche Rechtsordnung verweisen.

Gleichwohl ist auch festzuhalten, dass die Möglichkeit der Versöhnung und Vergebung für Paulus nicht der Notwendigkeit eines gerechten Ausgleichs widerspricht. Sicher ist dies aber gerade nicht im Sinne einer Vergeltung durch eine nun noch hinzuzufügende Lieblosigkeit zu verstehen – jedenfalls im Blick auf den Menschen sagen das die Verse 17 und 21 ausdrücklich. Die Frage ist, ob der gerechte Ausgleich von der Selbsterkenntnis im Gericht (also der offenbaren Wahrheit des jeweiligen Lebens in der Ewigkeit Gottes) überhaupt zu unterscheiden ist. Die dem Gericht entsprechende Selbsterkenntnis des Menschen kann nämlich nur eine Selbsterkenntnis im Verhältnis zu den Anderen sein, also eine Selbsterkenntnis im Gelingen oder Versagen der Liebe. Selbsterkenntnis im Versagen der Liebe aber realisiert die Nichtigkeit. 20 Die menschliche Alternative (ἀλλ’) zur Vergeltung des Bösen mit Bösem stellt sich in einem Zitat von Prov. 25,21 f. dar. Doch ist auch dieses Schriftzitat im Kontext der nun in Christus erfüllten, geschenkten Gottesgemeinschaft zu verstehen. Die Alternative liegt (wie in Vers 14 im Anklang von Mt. 5,44) darin, dem Feind mit Taten der Liebe zu begegnen. Sie ist Ausdruck des neuen Lebens aus dem Geist der Liebe Gottes, das sich denen eröffnet, die mit Christus als alte Menschen gestorben sind. Wie aber ist nun die angekündigte Folge dieses Handelns zu verstehen? ‚Feurige Kohlen auf dem Haupt sammeln‘ ist eine Metapher für das Gericht Gottes.49 Doch schon der Alternativcharakter deutet darauf hin, dass dieses Gericht hier eine positive, pädagogische Bedeutung hat. 47 

KSA 5, S. 280,13–22. M. Wolter, a. a. O. 2, S. 300. 49  Belege bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 302. 48 

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Zudem liegt hier ja dieses Gericht im Handeln des angesprochenen Menschen, der seine Verfolger segnet und das Gute auch für sie sucht. Deshalb ist die Annahme von M. Wolter, der die Bedeutung des Satzes (mit Stendahl, aber auch einigen älteren Auslegern) auf Gottes „Straf- und Vernichtungshandeln“ beschränkt sieht50, nicht überzeugend.

Vielmehr ist das Anhäufen feuriger Kohlen durch unverdiente Zuwendung wie gesagt als Antizipation des göttlichen Gerichtes durch Selbsterkenntnis zu verstehen, wie sie auch menschliche Predigt bewirken kann. Die feurigen Kohlen sind also eine Metapher dafür, dass das Gericht Gottes jetzt schon das Gewissen bestimmt.51 Ist dies das eigentliche Ziel der Liebestat oder nur eine mitlaufende, das Gute erweiternde Möglichkeit dessen, dass der Kreislauf der Vergeltung unterbrochen wird, was auch an sich schon das Gute ist? Zur Eröffnung einer neuen Lebensmöglichkeit des Anderen wird die Liebestat nur, wenn diesem durch die nicht zu erwartende, dem allgemeinen Lebensgesetz widersprechende Reaktion des zu Christus gehörigen Widerparts ein neuer Horizont aufgeht, der ihm sein eigenes Lebensgesetz spiegelt und ihn so zur Selbsterkenntnis bringt – und zwar zu einer Selbsterkenntnis, die das Gericht Gottes antizipiert. So lautet die in der Theologiegeschichte zu Recht überwiegende Auslegung der Stelle.52

Sofern eine solche Antizipation im Sinne der Taufe auf den Tod des alten Menschen in der Christusgemeinschaft hinausläuft, hat das im Sinne von Vers 19 erwartete Endgericht jedenfalls keine entscheidende Bedeutung mehr. 21 Lass dich nicht vom Bösen überwinden, indem du es mit Gleichem vergiltst und so in das vorchristliche Gesetz des Lebens zurückfällst, sondern überwinde kraft der in dir lebendigen Gottesgemeinschaft die Feindschaft der Anderen, indem du liebst – das ist die Zusammenfassung. Auch mit dem Satz „Lass dich nicht vom Bösen besiegen, sondern besiege das Böse in dem Guten“ kann Paulus an außerchristliche, philosophische Einsichten (z. B. bei Seneca) anschließen.53 Aber auch wenn er die christologische, den Sinn dieser Einsicht neu bestimmende oder ursprünglich aufklärende Pointe hier nicht expliziert, bilden doch die in den Kapiteln 3–8 gegebenen Grundbestimmungen des Glaubens an Christus zweifellos den Hintergrund – also die Gemeinschaft Christi oder des Geistes, durch den die Liebe Gottes den Menschen bestimmt (vgl. nur 5,5).

50 M. Wolter,

Der Brief an die Römer 2, S. 301 f. Vgl. auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 26. 52 Vgl. schon bei Augustinus, Expositio quarumdam propositionum ex epistola ad Romanos, PL 35, 2083; weitere Belege für dieses Verständnis bei U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 26, Anm. 126, und bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 302, Anm. 103 (z. B. bei Origines, Thomas von Aquin, Luther, Calvin). 53  Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 304. 51 



b)  Der göttliche Sinn weltlicher Regierungsgewalt – auch für Christen: 13,1–7

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b)  Der göttliche Sinn weltlicher Regierungsgewalt – auch für Christen: 13,1–7 1 Jede Menschenseele (Πᾶσα ψυχὴ) soll sich den übergeordneten Gewalten unterordnen (Luther: Jederman sey unterthan der Obrigkeit / die gewalt uber ihn hat). Denn es gibt keine [Regierungs]gewalt (ἐξουσία) außer von Gott; und die, die es gibt, sind von Gott eingesetzt. 2 So dass, wer sich der [Regierungs]gewalt (Luther: Oberkeit) widersetzt, der widerstrebt Gottes Ordnung (τῇ τοῦ θεοῦ διαταγῇ  – auch: Anordnung); die aber widerstreben, werden sich selbst Verurteilung (κρίμα) zuziehen. 3 Denn die Herrschenden sind zu fürchten (wörtlich: die Herrschenden sind Furcht; Wolter: die Herrschenden sind ein Schrecken) nicht für das gute Werk, sondern für das schlechte (oder: böse). Willst du die [Regierungs]gewalt nicht fürchten? So tue das Gute, und du wirst von ihr Lob erhalten. 4 Denn sie ist Gottes Dienerin dir zum Guten. Wenn du aber das Schlechte (oder: das Böse) tust, fürchte dich! Denn nicht umsonst trägt sie das Schwert. Denn sie ist Gottes Dienerin als Rächerin (oder: Vergelterin) zum Zorn[gericht] (ἔκδικος εἰς ὀργὴν – Luther: eine Rächerin zur straffe; auch: vergeltend zum [Erweis] des Zorns) für den, der das Schlechte (oder: das Böse) tut. 5 Darum ist es notwendig, sich unterzuordnen, nicht nur wegen des Zorns (Luther: nicht allein umb der Straffe willen), sondern auch wegen des Gewissens. 6 Deshalb zahlt ihr ja auch Steuern (Wolter: Darum entrichtet auch Tribute!). Bedienstete Gottes (λειτουργοὶ γὰρ θεοῦ) nämlich sind es, die eben darauf bestehen. 7 Gebt allen, was ihr schuldig seid (τὰς ὀφειλάς): wem Steuern, die Steuer; wem Zoll, den Zoll; wem Furcht, die Furcht; wem Ehre, die Ehre.

Zwar geht es (wie zuvor insbesondere in 12,14 und 12,17–21) auch in dieser Passage darum zu bestimmen, wie die, die sich auf Christus verlassen, im Verhältnis zur Gesellschaft außerhalb der christlichen Gemeinschaft leben sollen. Gleichwohl fällt sofort auf, dass nun, mit dieser kompakten Ermahnung zum theologisch begründeten Gehorsam gegenüber der weltlichen Regierungsgewalt, eine andere, nicht spezifisch christliche Perspektive eingenommen wird, die auch in einer inhaltlichen Spannung zur bisherigen Bestimmung des christlichen Lebens steht. Wurden zuvor die Christen als Christen angesprochen, so ist nun zunächst (Vers 1–3a) in der 3. Person von allen Menschen und ihrer göttlichen Gehorsamspflicht gegenüber der weltlichen (sozusagen: staatlichen)54 Regierungsgewalt die Rede. Diese allgemeinmenschliche Perspektive gilt mindestens bis Vers 5 (das „du“ in den Versen 3 f. ist stilistisch fiktiv). Erst ab Vers 6 wird wieder konkret die Gemeinde angesprochen – allerdings wiederum so, dass potentiell sich auch alle anderen Glieder der Gesellschaft angesprochen finden könnten. 54  Vom Staat zu reden, ist genau genommen anachronistisch, da vom Staat im geläufigen Sinn erst (grob gesagt) ab dem 17. Jahrhundert die Rede sein kann. Nur unter dem Vorbehalt dieser Differenz kann im Folgenden von der weltlichen Gewalt (ἐξουσία) als Staat die Rede sein.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Dabei ergeben sich drei eng zusammenhängende, massive Interpretationsprobleme. Erstens scheint Paulus mindestens in den Versen 1–5 völlig abzusehen von der neuen Bestimmung des Lebens zur Liebe durch den Geist Christi. Deutlich wird das etwa, wenn in den Versen 3–5 das verkehrte Handeln nicht als randständige Versuchung verstanden wird, durch die der Christ dem Geist seines Lebens widerspricht, sondern als gewöhnliche Möglichkeit und Wirklichkeit vorausgesetzt und die Furcht vor dem strafenden Gericht als entscheidendes Motiv des Handelns eingeschärft wird. Dem entspricht zweitens das Problem, dass die Aufgabe, gutes und böses Handeln zu beurteilen und zu sanktionieren, ohne Differenzierung der faktischen weltlichen Herrschaftsmacht zugeschrieben wird. Weder die Möglichkeit von Fehlurteilen, Machtmissbrauch und systemischem Unrecht kommt in Betracht, noch wird der Begriff von Gut und Böse in diesem Zusammenhang theologisch (vom Gottesverhältnis her) qualifiziert (wie etwa in den Versen 8 ff. durch den Begriff der Liebe). Das faktische Urteilen und Strafen der weltlichen Herrschaftsmacht wird unkritisch, ohne weitere Differenzierung auf Gott zurückgeführt. Es liegt also insofern weder ein theologisch (oder gar vom christlichen Glauben her) bestimmter Begriff der Sünde noch der Gerechtigkeit vor. Allerdings hatte Paulus auch bisher im Zusammenhang etwa des Begriffs des Guten (zuletzt 12,2.9.17) an ein nicht spezifisch christliches, hellenistisches, aber auch interkulturell gängiges Verständnis von Gut und Böse angeknüpft – wobei freilich stets mitgesetzt war, dass seine Einsicht durch das Sichverlassen auf die in Christus gestiftete Gottesgemeinschaft überboten ist.

Die Forderung des Gehorsams scheint unkritisch, da sie kein konkretes inhaltliches Kriterium für das rechte weltlich-staatliche Regieren und Urteilen vorbringt und einfach voraussetzt, dass es dem Guten dient und das Böse straft. Insofern scheint auch der geforderte Gehorsam unbedingt. Dies bestätigt die Spannung zum Verständnis der Liebe als Inbegriff alles gebotenen Handelns. Dass sowohl die Herrschaft der „übergeordneten Gewalten“ als auch der Gehorsam unter ein Handeln aus Liebe zu subsumieren ist, wird jedenfalls nicht ausgeführt. Sprechen die genannten Beobachtungen dafür, dass Paulus hier einen ihm vorliegenden paränetischen Text verwendet, vielleicht sogar einen vorchristlichen Text, einen Text des hellenistischen Judentums?55 Für die erstgenannte Möglichkeit spricht die nicht nur inhaltliche, sondern auch sprachlich-begriffliche Entsprechung in 1. Petr.2,13–17. Der Vergleich von Röm. 13,1–7 mit 1. Petr. 2,13–17 (und ferner Tit. 3,1; 1. Tim. 2,2) – nach M. Wolter ist auch eine „literarische Abhängigkeit“ den letzteren Textes vom Römerbrief nicht ganz auszuschließen56  – ergibt mindestens dies, dass die Ermahnung zum Gehorsam gegenüber der politischen Ordnungsmacht, die Böses straft und Gutes lohnt, im frühen Christentum verbreitet war. Allerdings werden in 1. Petr. eindeutig die Christen 55 

So U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 30 f. im Anschluss u. a. an Dibelius. Der Brief an die Römer 2, S. 309.

56 M. Wolter,



b)  Der göttliche Sinn weltlicher Regierungsgewalt – auch für Christen: 13,1–7

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auch als solche angesprochen: Sie handeln als die Freien gut, d. h. der menschlichen Ordnung entsprechend, nicht indem sie aus Furcht vor Strafe den Impuls zur Übertretung unterdrücken. Heißt das, dass Paulus, unkritischer als dann später 1. Petr., vorchristliche Formulierungen aufgreift? Auch in diesem Fall versuchte Paulus freilich, diesen Ansatz theologisch zu integrieren. Diesen Versuch gilt es nachzuvollziehen.

Drittens ist es nicht nur wegen der schon genannten Interpretationsprobleme, sondern auch deshalb schwierig, hier systematisch theologisch das auch gegenwärtig Relevante von der geschichtlich überholten Gestalt theologischer Lehre zu unterscheiden, weil zwar auch heute das Recht eine wesentliche Funktion des staatlich organisierten Gemeinwesens ist  – indem es das menschliche Leben schützt, eine damals wie heute gottgewollt zu nennende Funktion. Staatliche Herrschaft ist jedoch heute prinzipiell anders konstituiert oder jedenfalls in ihrer Konstitution legitimiert als zur Zeit des Paulus. Zwar verweist die dem Text zugrunde liegende, vor allem alttestamentliche Annahme, dass dem Herrscher die Herrschaft nicht durch seine eigene Überlegenheit und Macht zukommt, sondern er von Gott eingesetzt wird (vgl. Dan. 2,21 und 2. Sam. 12,7 f.)57, bereits auf die zentrale Funktion des Rechtes – nämlich sofern es eben das (göttliche) Recht ist, das die Herrschaft des menschlichen Herrschers allererst von Gott her begründet.   Doch die Annahme einer göttlichen Begründung der politischen Herrschaft überhaupt (ohne dass ihre Rechtsfunktion auch als Kriterium in Betracht kommt), widerspricht dem Ideal des Rechtsstaates, wie es sich in der Tradition der Aufklärung seit dem 17. Jahrhundert und als Ideal des demokratischen Rechtsstaates im 19. Jahrhundert herauszubilden begann und auch im evangelischen und römisch katholischen Christentum heute allgemein anerkannt ist. Denn hier wird staatliche Herrschaft als Selbstorganisation des Gemeinwesens Gleichberechtigter verstanden, die sich die Gestalt einer Rechtsordnung gibt. Wenn aber die Herrschaft wesentlich Funktion des Rechtes ist, ist sie auch am Recht zu messen – und dieses Messen ist (in Gestalt der Gewaltenteilung) wesentliches Strukturelement der Herrschaft und des Rechtes selber. Der demokratische Rechtsstaat institutionalisiert selber schon die Kritik staatlichen Handelns.

Nun ist zu sehen, inwieweit diese Interpretationsprobleme aufzulösen sind. 1 Jeder Mensch soll der politischen Ordnung in ihrer Herrschaftsmacht (Gewalt) gehorsam sein – nicht einfach, weil sie dies fordert, sondern weil sie von Gott eingesetzt ist. Das heißt, wenn sie Gehorsam verlangt, ist dies als in göttlicher Anordnung begründet zu verstehen (so gleich Vers 2). Damit ist für die, die sich und die Welt im Gottesverhältnis verstehen, die Gehorsamsforderung absolut legitimiert. Worauf bezieht sich die göttliche Einsetzung – hat Gott die Träger der Herrschaftsmacht in dieses Amt eingesetzt oder hat er die Funktion (das Amt) der Herrschaftsmacht als solche eingesetzt? Ausdrücklich differenziert Paulus hier nicht zwischen Person und Amt (Funktion), doch liegt der Ton eher auf der ἐξουσία als Funktion. Auf diese Frage ist zurückzukommen. 57 M. Wolter, a. a. O., S. 311 f. zeigt aber, dass auch in der griechischen und römischen Welt der Gedanke einer göttlichen Einsetzung möglich und gängig war.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Ist die göttliche Einsetzung der realen politischen Herrschaftsmacht als für sich identifizierbarer geschichtlicher Akt von der göttlichen Anordnung des Gehorsams ihr gegenüber zu unterscheiden oder besteht die Einsetzung wesentlich in dieser Anordnung oder Ordnung? Bei Paulus ist beides nicht zu unterscheiden. Das göttliche Angeordnetsein des Gehorsams setzt die Einsetzung der Herrschaftsmacht unmittelbar voraus. Paulus scheint auch hier, wenn er von der Einsetzung der politischen Gewalt redet, Gott in dem Sinne als Herrn der faktischen Geschichte zu verstehen, dass sein Handeln als zwar unverfügbarer, aber doch identifizierbarer Faktor der Menschheitsgeschichte gilt – identifizierbar als derjenige Faktor, der letztlich herrschend ist. Während es aber z. B. bei der Verstockung des Pharao (9,17 f.) um ein irreguläres, besonderes Beherrschen der Geschichte ging, ist hier von einer regulär allgemeinen Herrschaft Gottes die Rede – durch die Gewalt, die im allgemeinen Sinne des Rechts herrscht. Mindestens bis zum 18. Jahrhundert gehört dies zum selbstverständlichen christlichen Geschichtsverständnis: Gott herrscht in der realen Geschichte und durch ihre realen Mächte, auch wenn dies im Einzelnen in seinem Sinn nicht immer verstehbar ist und den individuellen Intentionen der Handelnden widersprechen kann. Aber auch etwa noch Hegels Auffassung von der geschichtlichen Notwendigkeit der sich entwickelnden Vernunft, des sich entwickelnden absoluten Geistes versucht die Wahrheit dieses Glaubens zu denken. Dabei liegt von Anfang an die entscheidende Herausforderung dieses Gottesverständnisses darin, die Wirklichkeit der Sünde zu integrieren. Beherrscht Gott auch die geschichtlich reale Blindheit und Bosheit?

Ist Gott der Herr der realen Geschichte? Hier stellt sich erneut (wie auch in der sog. Theodizeefrage) die grundsätzliche Frage, wie Gottes Wirklichkeit zu erfahren und zu denken ist. Meines Erachtens ist von einer Herrschaft Gottes in der Geschichte sinnvoll nur so zu reden, dass Gott als Schöpfer und als Geist, also durch die Kommunikation seiner Gemeinschaft, alle Wirklichkeit zu seinem Heilsziel bestimmt – alle Wirklichkeit außer der Sünde.58 Das heißt: Er herrscht nicht durch äußeren Zwang, seine Herrschaft ist keine Notwendigkeit des Faktischen, und die realen Mächte der menschlichen Geschichte sind nicht einfach mit seinem Wirken zu identifizieren. Aber jedes Moment ursprünglicher Lebendigkeit und jede existenzielle Erkenntnis oder Reflexion des Menschen ist der Bestimmung nach Medium der Wahrheit Gottes. Das heißt, es ist Medium des Werdens oder Erkennens seines absoluten Gegenübers und kann dann auch Medium des Ereignisses (der Offenbarung) seiner Gemeinschaft werden, die Grund und Ziel aller Wirklichkeit ist.59 Doch kann sich der Mensch dieser Wahrheit auch entziehen – und er tut es auch. Wegen der Macht der Sünde heißt das Gesagte also nicht, dass die Herrschaft oder Wahrheit Gottes in Ereignissen oder Mächten der faktischen Ge58 Vgl.

T. Kleffmann, Kleine Summe der Theologie, S. 181–183 zur Allmacht. Frage der Offenbarung und ihrer Notwendigkeit vgl. T. Kleffmann, Grundriß der Systematischen Theologie, S. 57 ff. 66 ff.; Kleine Summe der Theologie, etwa die § 2–4. 26 (S. 6–19. 185–191). 59  Zur



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schichte eindeutig identifizierbar wäre – außer in den Ereignissen, in deren Verkündigung sich der Geist seiner Gemeinschaft kommuniziert. Gott ist der allgegenwärtige Grund der Welt, wie sie uns erscheint, und damit auch unseres Lebens, und er wirkt in der menschlichen Geschichte durch Verkündigung und Glauben als der, der Gemeinschaft fordert und verheißt, und als Geist seiner Gemeinschaft mit dem Menschen, die in Christus erschienen ist, als Geist seiner Liebe.   Dass Gott durch Verkündigung und Glauben wirkt, schließt also auch das Gesetz Gottes ein, das den Menschen in seinem Fürsichsein reflektiert und die Gemeinschaft mit Gott und dem anderen Menschen fordert. Auch wenn etwa die Verbote des Dekaloges nur die Außenseite der Verkehrtheit des Lebens spiegeln – indem das Gesetz Gottes als Widerspruch laut wird (gepredigt wird) und das Gewissen weckt, wirkt Gott die Selbsterkenntnis.

Die weitere Frage ist nun, ob die konkrete Wirklichkeit einer staatlichen Ordnung und insbesondere Rechtsordnung, sofern sie insbesondere der 2. Tafel des Dekalogs entspricht, theologisch ebenfalls als Wirken Gottes oder aber nur als gottgewollt anzusehen ist. Von der Rechtsordnung ist explizit erst mit der „Verurteilung“ in Vers 2 und der Unterscheidung guter von bösen Handlungen in Vers 3 die Rede. Insgesamt geht es Paulus um die weltliche Regierungsgewalt überhaupt, die die Organisation des Gemeinwesens insgesamt umfasst, also auch die Verwaltung öffentlicher Angelegenheiten (etwa die allgemeine Versorgung betreffend). Doch die Institution des Rechts bezeichnet die zentrale Funktion menschlicher Regierungsgewalt.

Von einem Wirken Gottes könnte entsprechend dem oben Gesagten wohl nur insofern die Rede sein, als das Sichverlassen auf Gott die Rechtsordnung (also: Gesetzgebung, Rechtsprechung und Exekutive) bestimmt  – sei es, dass sich dieses Sichverlassen im Sinne des usus politicus legis ganz vom Anspruch des Gesetzes Gottes, der Forderung der Gemeinschaft bestimmen lässt, sei es, dass es bereits aus dem Geist der Gemeinschaft selber lebt. Ansonsten, in ihrer bloßen Faktizität (wie auch immer diese begründet erscheint, z. B. naturrechtlich oder rein gesellschaftlich funktional), ist die menschliche Rechtsordnung zwar gottgewollt, da sie das geschöpfliche und insbesondere menschliche Leben unter der Bedingung der Sünde schützt, aber doch genauso wenig ein Wirken Gottes wie ihr Gegenteil, der Verstoß gegen das Gesetz. Eine Alternative wäre, die staatliche Ordnung und Rechtsordnung etwa als „Schöpfungsordnung“60 dem Schöpferwirken Gottes zuzuordnen. Insofern wäre sie (wie etwa die allgemeine Notwendigkeit der Ernährung oder der Fortpflanzung und Familie) als natürlich (schöpfungsmäßig) notwendige Funktion des menschlichen Lebens anzunehmen, die kraft des göttlichen Werdenlassens besteht. Aber ist sie nicht als menschliche Wirklichkeit von Gottes Schöpferwirken auch prinzipiell zu unterscheiden? Widerspricht ihrer Annahme als Schöpfungsordnung nicht die historische Kontingenz, die sich auch in jeder 60  Eine entsprechende Lehre von den Schöpfungsordnungen Gottes wurde im 20. Jahrhundert von lutherischen Theologen wie P. Althaus, W. Elert, aber auch D. Bonhoeffer vertreten.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

menschlichen Rechtsordnung zeigt, einschließlich der Möglichkeit, sie zu pervertieren und zu übertreten?

Sowohl in der individuellen als auch in der kollektiven Geschichte ist der Kampf zwischen Selbsterkenntnis, Glauben, Liebe zum einen und der Macht der Sünde, den Lebenslügen des menschlichen Umsichselbstkreisens zum anderen überall real. Das heißt im Blick auf die staatliche Organisation des Gemeinwesens, dass zwar insbesondere seine Funktion des Rechts (einschließlich seiner auch gewaltsamen Durchsetzung) im christlichen Glauben zu bejahen ist, sofern sie das menschliche Leben und Leben überhaupt vor den offensichtlich lebensfeindlichen Auswirkungen der Sünde schützt. Darin entspricht sie dem göttlichen Gesetz, das sich im Liebesgebot zusammenfasst. Insofern ist die Forderung des Gehorsams gegenüber der politischen Herrschaftsmacht als Gehorsam gegenüber dem göttlichen Gesetz oder eben in der Notwendigkeit der Liebe begründet. Die ‚Einsetzung‘ der Regierungsgewalten durch Gott (die Identifikation ihres Wirkens mit einer Ordnung Gottes) bedeutet dann, dass sie als Funktionen des göttlichen Gesetzes zu verstehen sind. Aber der faktische Staat ist wie gesagt auch an dieser Funktion zu messen. Auch seine Rechtsordnung unterliegt der Möglichkeit der Perversion des Rechts ins Unrecht und der Möglichkeit, dass seine Funktionäre im Amt versagen oder es im Sinne der Sünde okkupieren.   Es ist also eine politische Ordnung vorzuziehen, die die Kritik an ihr mittels des Kriteriums des Rechts (seiner schützenden Funktion) selber institutionalisiert. Auch die Staatsgewalt muss dem Recht, also der Rechtssprechung unterliegen. Das impliziert insbesondere Gewaltenteilung, also die Trennung von Regierung, Rechtssprechung und Polizei.

2–5 Wer sich der politischen Herrschaftsmacht und insbesondere ihrer Sanktionierung guter und böser Werke, also dem Recht (der Durchsetzung des Rechts) widersetzt, widersetzt sich Gottes Ordnung oder Anordnung. Das Urteil, welches die staatliche Rechtsordnung über das Handeln spricht, muss als Urteil im Namen Gottes gelten. Paulus versteht es also als Urteil im Sinne des Gesetzes Gottes. Wenn dieses Urteil gemäß Vers 4 als Rache oder Vergeltung aus Zorn erscheint, so ist (entsprechend dem bereits zu 2,25 f. und 12,19 Gesagten) dies keineswegs als Gegensatz zur Gerechtigkeit zu verstehen.61 Vielmehr meint ἔκδικος das gerechte Vergelten, welches die Wahrheit des Verkehrten offenbart und vollzieht.

Die entsprechende (staatliche) Herrschaft ist – wir ergänzen: als Amt, das von der Person des Herrschenden zu unterscheiden ist62  – Dienerin Gottes (θεοῦ 61  Vgl. R. Miggelbrink, Der zornige Gott. Die Bedeutung einer anstößigen biblischen Tradition, Darmstadt 2002, S. 97–101 (ohne Rekurs auf Röm. 13,4). 62  Paulus kann hier die zu erweisende Furcht sowohl den Herrschenden als auch ihrer Gewalt als solcher zuschreiben. Die – in der lutherischen Theologie stark ausgebaute – Unter-



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διάκονός). Gott setzt sie ein, damit durch sie das Böse bestraft, das Gute belohnt wird.63 Dass sie dem (in den Versen 3–4) fiktiv Angesprochenen zu Gute handelt, also ihm zu Gute gute und verkehrte Handlungen unterscheidet und sanktioniert, ist so zu verstehen, dass ihr Wirken der Allgemeinheit, also der menschlichen Gesellschaft und damit eben auch den Einzelnen, zu Gute kommt. Darin dient sie – ob sie es weiß oder nicht – Gott.64 Wenn das Strafen der verkehrten Tat (für das pointiert das Schwert, d. h. der Vollzug der Todesstrafe steht65) als Ausdruck des Gerichtes Gottes gilt, so stellt sich vielleicht die Frage, ob das staatliche Richten als Vorwegnahme des göttlichen Endgerichts66 zu verstehen ist (das würde sich dann evtl. auch auf 12,19 beziehen lassen). Doch ist das schon deswegen nicht denkbar, da das Endgericht auch das Ende aller menschlichen Möglichkeiten voraussetzt und völlige Gerechtigkeit impliziert. Beides ist beim staatlichen Richten nicht gegeben – zum einen schließt das menschliche Richten in der Zeit keineswegs die Zuwendung des Gerichteten zur göttlichen Gnade aus, zum anderen richtet es offensichtlich weder jedes menschliche Unrecht noch die Sünde in ihrem eigentlichen Umfang.

Die staatliche Gewalt und Rechtsordnung fordert Gehorsam – nach Paulus ist diese Forderung als Forderung Gottes zu verstehen. Die staatliche Ordnung setzt sich bzw. ihr Recht aber auch dann durch, wenn es am Gehorsam mangelt. Was bedeuten diese beiden Aspekte (die Forderung zum einen, die Durchsetzung zum anderen) für den angesprochenen Menschen? Nachdem Paulus in den ersten beiden Versen die Forderung begründet hatte, sozusagen die Achtung vor weltlichem Gesetz und weltlicher Regierung im Bewusstsein der göttlichen Anordnung angemahnt hatte, hebt er nun (in den Versen 3 und 4) die Furcht vor der Durchsetzung, vor Vergeltung oder Strafe als subjektive Begründung des Handelns hervor, oder auch die Erwartung des Lobs des Guten. Sofern die Furcht nur die Furcht vor der Strafwirklichkeit als solcher ist, ist es freilich gleichgültig, ob das Gericht bloß als weltliches Gericht oder zugleich auch als Gericht Gottes zu verstehen ist. Die Furcht vor der Strafe oder die Erwartung des Lobes sind unabhängig davon, ob das entsprechende Handeln der weltlichen Gewalt im Dienst Gottes geschieht. Offensichtlich ist hier die Begründung und Perspektive des Sollens keine christliche. Mit Vers 5 verknüpft Paulus den Gedankengang aber wieder mit dem Horizont der Gottes- und Selbsterkenntnis. Es ist notwendig, sich unterzuordnen, nicht nur wegen der Furcht vor Strafe, sondern auch wegen des Gewissens. Der vernünftigen Erkenntnis, dass die weltliche Regierungsgewalt zum Guten aller scheidung von Amt und Person findet sich zwar nicht explizit bei Paulus, ist aber (wie oben zu Vers 1 schon vermutet) im Begriff der eingesetzten Gewalt vielleicht doch angelegt. 63  Es handelt sich also nicht um zwei Begründungen der Gehorsamspflicht, sondern nur um eine (gegen M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 309). 64  Dass die Staatsgewalt Gottes Dienerin ist, heisst nach M. Luther: „die gewalt ist von natur der art, das man got damit dienen kann“. WA 11, S. 257,31 f. (Von weltlicher Oberkeit). 65  Dieser Sprachgebrauch ist mindestens bis ins 19. Jahrhundert hinein üblich. 66  Vgl. auch oben zu Röm. 2,5 f.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Menschen wirkt, sowie der für Paulus damit verbundenen Erkenntnis, dass Gott sie anordnet, dass ihr Gericht (die gerechte Vergeltung schlechter Werke) zugleich als Gericht Gottes gelten muss, entspricht ein innerer Grund der Unterordnung, der im Gewissen liegt. Die genannte Erkenntnis weiß an sich schon um die Notwendigkeit, Folge zu leisten. Ihr Wissen und die entsprechende Forderung des Gewissens, Folge zu leisten, gilt also auch dann, wenn zufällig eine schlechte Tat nicht durch staatliches Handeln geahndet wird. Wie die Parallelität von Gerichtsfurcht und Gewissen zeigt, sind freilich auch in Vers 5 noch nicht die sich auf Christus Verlassenden, die „berufenen Heiligen in Rom“ (1,7), als solche angesprochen. Denn diese sind Menschen, die für die Sünde tot sind (6,2.11) und die die Gerechtigkeit Gottes als Rechtfertigung aus Glauben erfahren. Durch den Geist Gottes bestimmt sie die im Kreuz erwiesene Liebe Gottes dazu, selbst zu lieben. Insofern müssen sie nicht nur das Gericht nicht fürchten, sondern kann auch ihr Gewissen als kritische Instanz ruhen. Andererseits (wie wiederum gleich 13,8–10 zeigt) sind auch Christen im Moment des sich wiederherstellenden Fürsichseins und seiner Versuchung immer wieder an die Liebe als Sinn des Gesetzes zu erinnern, dessen Erfüllung nun offensteht Doch diese Erinnerung oder Ermahnung ist doch eindeutig von der in Vers 5 anklingenden Heteronomie der Gerichtsfurcht und des schlechtens Gewissens unterschieden.

Angesprochen sind hier vielmehr alle Menschen (Vers 1), also alle Mitglieder der staatlich organisierten, zur Zeit des Paulus religiös vielfältigen Gesellschaft. Auch wenn sie das Gesetz Gottes nicht als solches (nicht als die Tora) kennen, bezeugt ihnen nach Auffassung des Paulus ihr Gewissen die ins Herz geschriebene Forderung des Gesetzes (vgl. 2,15 f.). Das heißt, das Gewissen, ein Bewusstsein von Gut und Böse, kommt jedem Menschen zu. Die Frage ist allerdings, wie weit sich diese allgemeine Präsenz von Gewissen und Gesetz auch auf das Gottesverhältnis und die eigentliche Bestimmung des menschlichen Lebens erstrecken kann. Während Paulus bisher die Unfreiheit der von Adam her bestimmten Menschheit unter der Macht und dem Gesetz der Sünde herausstellte, das Gesetz Gottes in seinen geistlichen Sinn (7,14) zu erfüllen67, bejaht er hier, im Blick auf die staatliche Rechtsordnung, die Erfüllbarkeit der im Gewissen realisierten Forderung. Offensichtlich betrifft das staatliche Gesetz, der usus politicus legis, also nur eine Außenseite des vom Gesetz Gottes Geforderten, nicht die Bestimmung des Lebens zur Gemeinschaft selber. Freilich fällt auf, dass der Ausdruck des Gesetzes hier vermieden wird, obwohl doch die staatliche Gewalt Gott durch die Unterscheidung guter und böser Taten dient. Paulus geht also implizit von einer Übereinstimmung des staatlichen Rechts mit dem Gesetz Gottes im jüdischen und christlichen Sinn aus – jedenfalls was die pragmatisch mögliche Funktion angeht, gute und böse Taten zu sanktionieren. Und er geht davon aus, dass das entsprechende Recht (oder eben: Gesetz) als kritische Wirklichkeit des Gewissens mehr oder weniger deutlich allen Menschen bewusst ist. Damit scheint er von der Vielfältigkeit 67 

Vgl. aber 2,14.



b)  Der göttliche Sinn weltlicher Regierungsgewalt – auch für Christen: 13,1–7

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der geschichtlich gewordenen, auf verschiedenen kulturellen und religiösen Traditionen beruhenden Bestimmungen menschlichen Rechts- oder Gerechtigkeitsbewusstseins (Gewissens) zu abstrahieren. Andererseits hat Paulus die Rechtsordnung des römischen Reiches vor Augen, die Religionen und Kulturen übergreift und in Grundzügen der 2. Tafel dem Dekalog entspricht. Zugleich griff er mit der Ansicht, dass der Mensch auch von Natur aus das Werk des Gesetzes tun kann, da er sich selbst Gesetz ist (2,14), vermutlich die philosophische (stoische) Reflexion der Möglichkeit einer solchen, tendenziell menschlich allgemeinen Rechtsordnung auf – eine philosophische Reflexion, die überdies auch selber den Gedanken des einen Gottes mit dem allgemeinen Gesetz und Logos der Welt verbinden konnte.68 In der Neuzeit wurde dieser philosophische Gedanken eines allgemeinmenschlichen Gesetzes z. B. mit der kantischen Formulierung des kategorischen Imperatives als des Gesetzes der allgemeinen praktischen Vernunft weitergedacht.   Für die Frage nach der Reichweite der weltlichen Rechtsordnung im theologischen Horizont heißt das: Die ihr wesentliche (wenn auch von ihr stets nur unvollkommen erfüllte) Funktion, auf der Basis der Gleichheit den Einen vor den Übergriffen des Anderen zu schützen, lässt sich mit dem Gesetz Gottes identifizieren – aber nur, sofern dieses das feststellbare Böse verbietet, nicht sofern es in seinem geistlichen Sinn mit der Gottes- und Menschenliebe das wahre Leben fordert.

In den Versen 1–5 greift Paulus eher allgemeine Formulierungen für die notwendige Autorität der weltlichen (Regierungs-)Gewalt auf, welche die Gemeinde nur abstrakt mitmeinen, aber nicht auch als solche ansprechen. Gleichwohl macht er ihr damit die Notwendigkeit bewusst, die staatliche Rechtsordnung als gottgewollte Funktion zum Guten zu bejahen69 – auch wenn es überflüssig ist, jedenfalls von solchen, die der Geist und die Liebe Gottes bestimmt, eigens noch die Einhaltung der staatlichen, den Dekalog entsprechenden Gesetze zu fordern. Luther hat das in seiner 1523 erschienen Schrift „Von weltlicher Oberkeit“ klar differenziert.   itzt hab ichs gesagt, das die Christen unternander und bey sich und fur sich selbs keyns rechten noch schwerds dürffen, Denn es ist yhn keyn nott noch nütz. Aber weyl eyn rechter Christen auff erden nicht yhm selbs sondern seynem nehisten lebt und dienet, ßo thutt er von art sehns geystes auch das, des er nichts bedarff, sondern das seynem nehisten nutz und nott ist. Nu aber das schwerd eyn groß nodlicher nutz ist aller wellt, das frid erhalten, sund gestrafft […] werde, ßo gibt er sich auffs aller willigst unter das schwerds regiment […].70   Freilich rechnet Luther dann auch deutlicher als Paulus mit der Möglichkeit, dass Christen nicht mit sich identisch sind und in die Struktur des alten Lebens zurückfallen, also als ‚alte Menschen‘ handeln.

68  Der Gedanken des Gottes, der in seiner Liebe das menschliche Leben und den menschlichen Tod teilt, bleibt dem freilich fremd. 69  Allerdings ist zu konstatieren: Die Notwendigkeit des Folgeleistens ist für Paulus in der Göttlichkeit des gerechten Vergeltens begründet, nicht ausdrücklich als Notwendigkeit der bewahrenden Funktion des Vergeltens. 70  WA 11, S. 253,21–28 (Von weltlicher Oberkeit).

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6 Jetzt erst verknüpft Paulus die für alle geltende Notwendigkeit, der staatlichen Gewalt Folge zu leisten, mit der konkreten Situation der Gemeinde. Jedenfalls spricht er sie nun ausdrücklich an. Dass er dies nicht im Blick auf das Halten der Strafgesetze tut, sondern im Blick auf die Steuern, bestätigt: Der Skopus des ganzen Abschnitts ist die notwendige Bejahung der staatlichen Gewalt (insbesondere als Rechtsordnung) überhaupt. Auch wenn man nicht mit dem Gesetz in Konflikt kommt, geschieht diese Bejahung faktisch schon durch das Zahlen der Steuern (oder umfassender: der Abgaben), die die staatliche Ordnung insgesamt finanzieren. Ihren Grund findet diese Bejahung aber in der Einsicht, dass jede Ausübung eines staatlichen Amtes Dienst für Gott ist – nicht nur insbesondere die gerechte Vergeltung schlechter Werke am Nächsten (Vers 3 f.), also Gericht, Strafverfolgung, Strafvollzug, sondern auch die Finanzverwaltung, die für das Funktionieren des Ganzen notwendig ist. So sind selbst die ungeliebten Steuereintreiber als Bedienstete Gottes anzusehen. Auch wenn sie sich selber nicht so verstehen, dienen sie Gott – wie alle anderen Funktionäre der systemischen staatlichen Ordnung. Es war wiederum erst Luther, der dieses „Bedienstete Gottes“-Sein eindeutig auf den „Gottesdienst“ bezog, das Gemeinte also von der gottesdienstlichen Feier als zentralem Gemeinschaftsereignis her verstand. Dagegen ist bei Paulus eine kultische Konnotation zwar nicht ausgeschlossen71, aber doch wohl eher einfach an ein Gott-Dienen gedacht.72 Luther konnte den Sinn des Gott-Dienens dann theologisch konsequent auf alle notwendigen Funktionen der arbeitsteiligen Gesellschaft beziehen, auch über die staatliche Organisation hinaus. Nach Luther ist „das schwerd und die gewallt als eyn sonderlicher gottis dienst“ anzusehen ebenso wie Ehestand, Ackern, Handwerk, „die auch Gott eyngesetzt hatt“.73 Deshalb seien gerade die Christen, obwohl sie unter sich weder Recht noch Schwert (die Durchsetzung des Rechts durch staatliche Gewalt) brauchen, geeignet und verpflichtet, weltliche Ämter zu übernehmen. Sie tun dies jedoch nicht für sich, sondern als Liebesdienst74 – „fur dich selbs bleybstu an dem Euangelio“ im Sinne des Rechtsverzichts der Bergpredigt.75

7 Paulus schließt seine kleine Theologie des Staates ab, indem er mit Anklang an das Jesuswort in Mk. 12,17 par. („so gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“) festhält: Was die Staatsgewalt, also die weltliche Ordnung des menschlichen Gemeinwesens von den Einzelnen als Pflicht und Schuldigkeit fordert, ist zwar (wie der Kontext der folgenden Verse 8–10 verdeutlicht) von der eigentlichen Bestimmung des Lebens zur Liebe, zur Gottes- und Menschengemeinschaft, zu unterscheiden, gleichwohl aber ist diese Pflicht und Schuldigkeit göttlich begründet. Das bezieht sich sowohl auf die Pflicht der Beteiligung 71  Immerhin ist hier von den λειτουργοὶ die Rede – aber doch ganz parallel zum διάκονός in Vers 4. 72  Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 322 f. 73  WA 11, S. 258,1–5. 74  A. a. O., S. 253,21–29. 254,30 ff. 257,16–23. 75  Ebd. S. 255,5 ff.

b)  Der göttliche Sinn weltlicher Regierungsgewalt – auch für Christen: 13,1–7



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durch Steuern und Abgaben, als auch auf die praktische Anerkennung der staatlichen Ämter oder Autoritäten („Furcht“, „Ehre“ erweisen)  – die Teilhabe durch die eigene Übernahme von Ämtern erwähnt Paulus nicht. Scheinbar unterscheidet sich die Aufforderung des Paulus, im Sinne der staatlichen Ordnung das jeweils Schuldige zu geben, von dem in Mk. 12,17 par. mitgeteilten Jesuswort dadurch, dass die Schuldigkeit dem Kaiser gegenüber nicht eindeutig von der Schuldigkeit Gott gegenüber unterschieden wird.76   Nun ist es zwar in der Tat so, dass Paulus auch die Schuldigkeiten gegenüber der staatlichen Ordnung als besondere Schuldigkeit gegenüber Gott versteht. Doch ist nicht nur die staatliche Autorität strengstens von Gott, der sie in ihre Funktion einsetzt, unterschieden. Sondern auch das menschliche Verhalten betreffend setzt Paulus eine Mk. 12,17 entsprechende Unterscheidung voraus – indem er nämlich im unmittelbaren Fortgang des Textes (13,8 ff.) den staatsbürgerlichen Pflichten die Schuldigkeit der Liebe als Bestimmung des Lebens in der Christusgemeinschaft gegenüber stellt.

Eine systematische Interpretation des Abschnittes im Gesamtkontext des Römerbriefes sowie im Blick auf die völlig veränderten Bedingungen von Kirche und Staat muss (den o. g. Interpretationsproblemen entsprechend) den Grundgedanken differenzieren und bestimmte Aspekte nachtragen. Die Notwendigkeit einer staatlichen Rechtsordnung lässt sich faktisch auch naturrechtlich oder rein vernünftig begründen. Das geschieht etwa indem deren Prinzip des gemeinschaftlich organisierten Schutzes vor Übergriffen des jeweils Anderen wie z. B. im Deutschen Grundgesetz auf die gleiche Menschenwürde zurückgeführt wird, auf das Recht jedes Menschen, frei sein Leben zu entfalten. Auch wenn dieses Prinzip einfach als notwendige Funktion der menschlichen Gesellschaft verstanden wird, ist der Grundsatz der Gleichheit vorausgesetzt.77

Eine solche an der Menschenwürde und Gleichheit orientierte Begründung der Rechtsordnung scheint die heute, in der Tradition der Aufklärung, überwiegend maßgebliche. Wie ist sie theologisch einzuordnen? Die Funktion einer staatlichen Rechtsordnung als solche, gleich wie sie begründet wird, entspricht als gemeinschaftliches menschliches Handeln der göttlichen Schöpfung und Erhaltung. Kann man in diesem Sinne und zugleich mit Paulus sagen, Gott handele durch die staatlichen Ämter als seine Instrumente, kraft einer göttlichen Notwendigkeit ihres Tuns  – so wie er anders durch menschliche Verkündigung den Geist seiner Liebe wirkt? Vielleicht ist vorsichtiger zu sagen: Im menschlichen Handeln verwirklicht sich hier (wie auch in anderen Erhaltungsfunktionen menschlichen Lebens – Luther nennt im gleichen Kontext Essen, Trinken und „ehelich werden“)78 die göttliche Vernunft 76 

Vgl. auch die Unterscheidung in 1. Petr. 2,17: Fürchtet Gott und ehrt den Kaiser. konnten und können nicht im Sinne der aufgeklärten Vernunft reflektierte Rechtsordnungen auch bestimmte Gruppen wie z. B. Frauen oder Sklaven von der Gleichheit ausschließen. Sie widersprechen damit nicht nur der Vernunft, sondern auch dem Christentum. 78  WA 11, S. 257,19–23. 77 Freilich

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und Notwendigkeit der Erhaltung des menschlichen Lebens, die auch immer Bedingung seiner Neuschöpfung in der Gemeinschaft Gottes ist. Dazu kommt Folgendes: Auch wenn sich die staatliche (Rechts-)Ordnung philosophisch naturrechtlich oder in der Annahme gleicher Menschenwürde oder im Sinne des Gesetzes der reinen praktischen Vernunft Kants begründet versteht, so lässt sich das Prinzip des gleichen Rechts christlich als ein äußerer Ausdruck der theologisch gedachten Gleichheit interpretieren und bejahen, die darin liegt, dass alle Menschen als Geschöpfe und Gegenüber Gottes zur Gemeinschaft Gottes bestimmt sind – was sich zwischenmenschlich in der Liebe erfüllt. Daraus folgt insgesamt: Christen haben sich an der staatlichen Ordnung aktiv und kritisch zu beteiligen, auch wenn sie als die, die im Sichverlassen auf die Gottesgemeinschaft vom Geist dieser Gemeinschaft bestimmt sind, unter sich keine Rechtsordnung brauchen79 und für sich auf das Recht verzichten können. Doch können sie ihr Eintreten für die Funktion der Rechtordnung insgesamt unter ein Handeln aus Liebe subsumieren. Da aber das Handeln im Namen der staatlichen Rechtsordnung (etwa als Richter oder Polizist) in Spannung zum individuell gebotenen Handeln aus Liebe treten kann, sofern dieses den Rechtsverzicht bedeuten kann, kam es in der Folge der Argumentation Luthers wie gesagt zur deutlichen Unterscheidung von Amt und Privatperson.

Die Durchsetzung der staatlichen Rechtsordnung durch Strafverfolgung, Rechtsprechung und Strafvollzug ist aber nicht unmittelbar als göttliches Gericht der Sünde zu identifizieren. Einem gegenwärtigen Gericht Gottes, also abgesehen vom jüngsten, absoluten Gericht, ist die (etwa durch menschliche Predigt im Namen Gottes vermittelte) Selbsterkenntnis vor Gott konstitutiv. Das Gericht der Sünde impliziert also, dass es auch als Gericht Gottes bewusst ist. Weiter ist zu betonen, dass staatliches Recht und Gericht nur die grobe Außenseite dessen betreffen können, was christlich Sünde heißt, und auch darin vielfältig unvollkommen sind. Ihre Kompetenz erstreckt sich nur auf solche Taten, die offensichtlich den Gesetzen der Gesellschaft widersprechen  – und nicht direkt auf den Menschen selbst, nicht auf die Wahrheit oder Unwahrheit seines Lebens, nicht auf den Geist, der ihn bestimmt, nicht auf Glauben, Denken, Lieben usf. „Das welltlich regiment hatt gesetz, die sich nicht weytter strecken denn uber leyb und gütt und was eußerlich ist auff erden.“80 Sofern aber selbst diese Gerechtigkeit des ‚weltlichen Regiments‘ unvollkommen und kontingent ist, und da außerdem ihre Amtsträger nicht nur der Möglichkeit des Irrtums unterworfen sondern auch der Versuchung zur Korruption ausgesetzt sind, ist wie gesagt diejenige Staatsform vorzuziehen, die selbst die Möglichkeit 79 

80 

Vgl. a. a. O., S. 250,10 ff.; 252,3 f. M. Luther, a. a. O., S. 262,7 f. (vgl. ff.).



c)  Konzentration des Lebens im Horizont der kommenden Ewigkeit: 13,8–14

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der Kritik rechtlich und im Zuge der Gewaltenteilung institutionalisiert: der demokratische Rechtsstaat. Indem darüber hinaus schließlich auch die (von Paulus nicht reflektierte) Möglichkeit besteht, dass der Staat als solcher, in seiner Grundfunktion des Rechtes, pervertiert, kann auch der Widerstand legitim und auch für Christen geboten sein.81

c)  Konzentration des Lebens im Horizont der kommenden Ewigkeit: 13,8–14 aa)  13,8–10: Die Liebe erfüllt das Gesetz 8 Ihr sollt niemandem etwas schulden, außer einander zu lieben. Denn wer den anderen liebt, hat das Gesetz erfüllt. 9 Denn das „du sollst nicht ehebrechen“, „du sollst nicht töten“, „du sollst nicht stehlen“, „du sollst nicht begehren“82 und was es an anderen Geboten [gibt], ist in diesem Wort zusammengefasst: „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“.83 10 Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist die Erfüllung (πλήρωμα) des Gesetzes die Liebe.

Schon ab Vers 6 hatte Paulus die Gemeinde als solche angesprochen: Ihre Glieder erweisen den Amtsträgern der staatlichen Ordnung (und insbesondere Rechtsordnung) den schuldigen Gehorsam. Diesen Gehorsam sind sie auch dem Gewissen nach schuldig, weil die gerechte Vergeltung böser Werke durch die staatliche Rechtsordnung von Gott eingesetzt ist. Diese Schuldigkeit bleibt aber dem christlichen Verhältnis zu Gott und den Menschen äußerlich. Ohne nach der Lebenswahrheit des Subjekts des Handelns zu fragen, fordert sie von allen Menschen die Einhaltung einer bestimmten (der Gesellschaft zu Gute kommenden) Norm des Handelns.

8 Nun dagegen redet Paulus von einer Schuldigkeit, die nicht wie das Gesetz im usus politicus äußerlich, also durch bestimmte Unterlassungen oder Taten (wie das Zahlen von Steuern) als solche, zu erfüllen ist: die Schuldigkeit, einander zu lieben. Damit kommt er auf den Kern des dem Glauben entsprechenden Lebens zurück. Der Begriff des Schuldig- oder Verpflichtetseins unterliegt der Logik des Gesetzes (die als solche eine Logik des Menschen für sich ist)  – diese Logik des Gesetzes wird aber hier, indem das Lieben das Schuldige ist, zugleich überschritten.

81  Vgl. bei M. Luther a. a. O., S. 246,23 ff., 247,12 ff., 267,1 ff., 277,3 f.28. Für Luther kommt hier als Kriterium etwa in Betracht, dass der Fürst die Religionsfreiheit verwehrt (der Staat also totalitär wird) oder einen Eroberungskrieg befiehlt. 82  Vgl. Ex. 20,13–17; Dtn. 5,17–21. 83  Lev. 19,18; Mk. 12,31.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Oft wurde die Formulierung so verstanden, dass von den konkret erfüllbaren Schuldigkeiten das Lieben in dem Sinne unterschieden wird, dass es eine Schuldigkeit bleibt, also eine unendliche Schuldigkeit ist.84 Diese Interpretation ist nicht zwingend, aber mindestens als Implikation möglich. Unendlich kann diese Schuldigkeit genannt werden, sozusagen als Schuldigkeit des Lebens, da sie in der Tatsache des Fürsichseins und seines Anderen überhaupt besteht: Jedes Moment des Fürsichseins erfüllt seine göttliche Bestimmung im Sichverlassen auf Gott und im Füreinanderdasein. Das Lieben besteht nicht in bestimmten abzuleistenden Handlungen als solchen, sondern im Sicheinsetzen.85 Jedes Moment des Fürsichseins ist im Verhältnis zum Anderen das Sicheinsetzen für den Anderen schuldig – und zwar ist es das nicht nur Gott schuldig, sondern zugleich dem Sichverlassen auf Christus, seiner eigenen Wahrheit, die es in der Gemeinschaft Christi findet. Die Gemeinschaft Christi mit mir lebt sich als menschliche Gemeinschaft aus.

Es gehört zum Wesen des sich auf Christus Verlassens, zu diesem Lieben befreit zu sein und es anzufangen. Dabei kennt es diese Schuldigkeit nicht als heteronome Pflicht, sondern als Wahrheit des eigenen Lebens. Für Christen bedeutet dieses Lieben, dass sie sich selbst entsprechen, denn als Menschen unter der Macht der Sünde, des Fürsichbegehrens sind sie gestorben (6,3–11), Christus lebt in ihnen (Gal. 2,19 f.), sie sind also durch den Geist der Gemeinschaft Gottes als viele Glieder zu einem Leib getauft (1. Kor. 12,13). Als gegenseitiges Lieben wird diese Liebe zuerst in der Gemeinde real, auch wenn sie als Nächstenliebe (Vers 9 f.) auf jeden Menschen zielt, der begegnet. Dass dieses Lieben das Gesetz Gottes (die Tora) erfüllt (und dewegen notwendig ist), impliziert hier den geistlichen Sinn des Gesetzes (vgl. 7,14). Das Gesetz fordert insgesamt ein Lieben, das der vom Gesetz angesprochene Mensch für sich, der alte Mensch unter der Macht der Sünde, auch dann nicht erfüllen kann, wenn er das Gesetz und seine Forderung des Guten erkennt – er erkennt eben so nur seine Ohnmacht im Gesetz der Sünde (7,14–25; 3,19 f.). Das Gesetz erfüllt der, der nicht mehr als Mensch für sich unter dem Gesetz bzw. seinem Gericht steht, sondern, indem er sich glaubend auf Christus verlässt, bereits gerechtfertigt ist. Das Lieben, welches das Gesetz fordert, wird durch den Geist der Gemeinschaft Christi erfüllt. Deshalb kann Paulus das in der Nächstenliebe (bzw. darin, dass Einer des Anderen Last trägt) erfüllte Gesetz auch Gesetz Christi nennen (vgl. Gal. 5,14; 6,2). Denn in der Gemeinschaft Christi leben bedeutet, dass der „Glauben durch Liebe wirkt“ (Gal. 5,6).

Damit wird aber auch die staatliche Rechtsordnung und der nach 13,1–7 ihr gegenüber gebotene Gehorsam noch einmal in einem neuen Licht gesehen. 84  Vgl. z. B. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 67, oder schon 1742 J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti, S. 607: Debitum immortale. Cant. VIII.7 fin. Anders M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 331. 85  Vgl. 1. Kor. 13,3: Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe […] und hätte die Liebe nicht […].



c)  Konzentration des Lebens im Horizont der kommenden Ewigkeit: 13,8–14

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Zwar handelt die staatliche Rechtsordnung, ihr Gesetz und ihr Richten, im Auftrage Gottes. Ihre Gesetze entsprechen insbesondere dem das zwischenmenschliche Verhältnis betreffenden Gesetz Gottes, dessen Gebote gleich in Vers 9 zitiert werden. Doch heißt das nicht, dass das Gesetz Gottes im entsprechenden äußeren Tun und Lassen auch erfüllt wird. Wenn aber umgekehrt die Gemeinde das Lieben realisiert, auf das das Gesetz Gottes insgesamt zielt, dann schließt das den schuldigen Gehorsam gegenüber der staatlichen Rechtsordnung in ihrer allgemeinen Schutzfunktion ohnehin ein. Dem kann wie gezeigt eine theologische Reflexion der Funktion der staatlichen Rechtsordnung entsprechen, die ihre Unterstützung spezifisch christlich zu motivieren vermag: Die Teilhabe an ihr ist dann nicht einfach in der göttlichen Anordnung begründet, sondern in der Einsicht, dass sich auch ihre Schutzfunktion als Ausdruck allgemeiner Liebe verstehen lässt.86

9–10 Vers 9 führt Vers 8 aus. Alle Gebote werden von dem Wort zusammengefasst, das zur Nächstenliebe auffordert (vgl. auch Gal. 5,14). Dabei zählt Paulus explizit aber nur das zwischenmenschliche Verhältnis betreffende Gebote auf87; er redet nicht vom Gesetz der sog. 1. Tafel, welches das Gottesverhältnis betrifft. Das scheint zunächst darin begründet, dass es im gesamten Kontext des 12. und 13. Kapitels eben um das Leben im zwischenmenschlichen Verhältnis geht. Systematisch aber setzt die Möglichkeit, von dem gebotenen Gottesverhältnis nicht mehr zu reden, voraus, dass das Gebot der Gottesliebe88 bereits im Sichverlassen auf Christus (als Mitgestorbensein des die Gemeinschaft verfehlenden alten Menschen mit Christus) erfüllt wird.89 Dass aber so „die Liebe Gottes in unsere Herzen ausgegossen ist“ (5,5; vgl. 8,39), begründet allererst die Ermahnung oder Erinnerung daran, dass dem auch im zwischenmenschlichen Verhältnis durch Nächstenliebe zu entsprechen ist.

Mit dem Gebot der Nächstenliebe, das Paulus als einheitlichen Sinn der das zwischenmenschliche Verhältnis betreffenden Gebote versteht, zitiert er Lev. 19,18. Dort wird es jedoch noch nicht explizit herausgehoben, sondern nur implizit, indem es am Ende der Reihe der Gebote des zwischenmenschlichen Verhältnisses steht. Dagegen versteht es schon das Jesuswort nach Mt. 22,34–40 par wenn auch nicht ausdrücklich als Zusammenfassung, so doch als das zusammen mit dem Gebot der Gottesliebe höchste 86 Vgl.

noch einmal bei M. Luther WA 11, S. 253,33 ff. (Von weltlicher Oberkeit).  – Außerdem lässt sich im Anschluss an solche Überlegungen heute die Gleichheit oder gleiche Würde der Menschen, die vernünftiger Grundsatz der Rechtsordnung (und philosophischen Ethik) ist, theologisch als Ausdruck der Einheit der Menschheit verstehen, die sich aber erst in der Liebe (im Sicheinsetzen) erfüllt. 87 Paulus zitiert die 2. Tafel ohne das 8. Gebot nach der Septuaginta-Fassung von Dtn. 5,17 f. und vereint (wie z. B. Philo) systematisierend das 9. und 10. Gebot zum Verbot des Begehrens: vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 69. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 333: die Reihe will „nur eine exemplarische Auswahl sein“. 88  So fasst jedenfalls Mk. 12,30 (mit Dtn. 6,4 f.) die 1. Tafel zusammen. 89  Vgl. auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 70. Er weist allerdings auch darauf hin, dass im gesamten Urchristentum stets nur die 2. Tafel zitiert wird (S. 69 f.).

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Gebot. Jesus und Paulus greifen damit eine ältere Entwicklung auf und führen sie weiter, die schon in „hellenistisch-jüdischer Tradition“90 steht.   Worin liegt die Logik dieser Entwicklung? Wenn die Zusammenfassung oder Konzentation des Gebotenen in der hellenistisch-philosophischen (vernünftigen) Frage nach dem einheitlichen Sinn der Gebote motiviert war, so lag die jüdische Antwort vermutlich in der geforderten oder erwarteten und mit dem Bund erinnerten Gemeinschaft Gottes und der Menschen, die nun als Grund und Ziel der Gebote erscheint – und als solche wirklich unendlich mehr ist als das Einhalten des Katalogs von Verboten von Übergriffen.

Das heißt für Paulus: Indem sich die Gottesliebe im Glauben an Christus, in der Gemeinschaft Christi erfüllt, steht auch die Menschenliebe offen. Sie ist möglich, da sie als Gemeinschaft in Christus wirklich ist. In diesem Sinn erfüllt die Liebe das Gesetz. Wie ist dabei die der Nächstenliebe entsprechende Selbstliebe zu verstehen? Sie ist hier m. E. nicht als zur Nächstenliebe paralleler Lebensvollzug zu verstehen – etwa als Prozess des Sichfindens oder der Selbstbestimmung, der parallel zum Sicheinsetzen für den Anderen läuft. Die Formulierung „wie dich selbst“ kann zunächst verdeutlichen, dass Liebe als Sicheinsetzen nicht Selbstverneinung oder Selbstaufgabe bedeutet, sondern dass die Reflexion, das Aufsichzurückkommen immer wieder die schöpfungsmäßige Voraussetzung der weiteren Liebe ist. Das schließt ein, dass zur geschöpflichen Voraussetzung des Liebens auch die Sorge um die eigene leibliche Wohlfahrt gehört.   Darüber hinaus kann die Formulierung auch bedeuten, dass die Nächstenliebe als solche Selbstliebe bedeutet. Das aus der Gemeinschaft Leben, das zum Sicheinsetzen für den Anderen führt, bedeutet ein sich im Andern (in der Gemeinschaft) Finden. Das Selbst oder Fürsichsein wird in der Nächstenliebe nicht verneint, sondern es findet seine Bestimmung wie im Sichgeliebtwissen so im Lieben. In der Reflexion bedeutet das: Ich bejahe mich als geliebt und liebend. Ich kann meiner selbst als geliebtes Geschöpf und gerechtfertigter Sünder gewiss sein; doch indem sich mein Selbstverhältnis konkret darin ausspricht, dass Christus oder der Geist seiner Gemeinschaft in mir lebt (vgl. Gal. 2,19 f.), weiß ich mein Leben vom Leben dieser Gemeinschaft (der Liebe Gottes) bestimmt, die mein Leben im Lieben erfüllt.

In Vers 10 fasst Paulus das in den Versen 8 f. Gesagte als Lehre von der Liebe zusammen. Was in Vers 8 verbal, als das Gesetz erfüllende Lebensweise ausgedrückt ist (wer liebt, hat das Gesetz erfüllt), erscheint nun als etwas, was an sich wesentlich ist, nämlich als Wesen der Liebe. Die Liebe hält nicht nur insgesamt die Verbote des Gesetzes ein  – sie tut dem Nächsten nichts Böses. Sondern die Liebe, als Sichvollziehen der Gemeinschaft, indem der Eine sich für den Anderen einsetzt, erfüllt den geistlichen Sinn des Gesetzes – was in der mit Christus geschenkten Gottesgemeinschaft begründet ist, die den Tod des alten Menschen impliziert.

90 Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 69 f.; M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 333 f. – Zu Mt. 22, 34 ff. vgl. G. Theiẞen/​A .  Merz, Der historische Jesus, Göttingen 32001 S. 340–343.

c)  Konzentration des Lebens im Horizont der kommenden Ewigkeit: 13,8–14



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In diesem Sinn enthalten die Verse 8–10 ein entscheidendes Argument für die reformatorische Frage nach dem sog. tertius usus legis oder usus legis in renatis, also nach der Bedeutung des Gesetzes für die Christen, sofern sie in der Gemeinschaft Christi ‚wiedergeboren‘ sind. Wer mit Christus „durch das Gesetz dem Gesetz“ (Gal. 2,19) gestorben ist, die Todeswahrheit des festgehaltenen Fürsichseins und damit den usus theologicus des Gesetzes realisiert, erfüllt darin von selbst das Geforderte, die Gebote der Liebe, und bedarf nicht mehr des äußeren Katalogs der Verbote.91 Freilich ist dann auch zu bedenken, dass der Geist der Gemeinschaft auch immer wieder das Moment des Fürsichseins voraussetzt, in dem der Mensch daran zu erinnern oder zu ermahnen ist, sich selbst (seinem Glauben) in Liebe zu entsprechen. Die Glaubenden sind nie nur Glaubende, mit Christus Gestorbene und in seiner Gemeinschaft Widergeborene – und bedürfen insofern immer weiter und immer wieder der Selbsterkenntnis vor Gott (im Sinne des usus theologicus legis).

bb)  13,11–14: Leben im Horizont der nahen Ewigkeit 11 Und dieses [tut] im Wissen um die Zeit (εἰδότες τὸν καιρόν; K. Barth übersetzt: in Erkenntnis des Augenblicks), dass die Stunde für euch schon da ist, vom Schlaf aufzustehen; denn jetzt ist die Errettung (das Heil: ἡ σωτηρία) uns näher als damals, als wir zum Glauben gekommen sind. 12 Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber ist nahe gekommen. Lasst uns also ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. 13 Wie am Tage lasst uns in guter Haltung (εὐσχημόνως) wandeln, nicht mit Fress- und Trinkgelagen, nicht mit [sexuellen] Ausschweifungen und Orgien, nicht mit Streit und Eifersucht. 14 Zieht vielmehr den Herrn Jesus Christus an und tragt nicht Sorge für das Fleisch was die Begierden angeht (εἰς ἐπιθυμίας).

Zum Abschluss der Ermahnung zur Wahrheit der Liebe, bevor Paulus in 14,1 ff. (in einer gewissen Anknüpfung an die Gemeindetheologie in 12,9–21) ausführt, was die Liebe für das immer wieder auch problematische Zusammenleben der Gemeinde bedeutet, soll die Erinnerung an das nahe bevorstehende endgültige Heil, also an die kommende Ewigkeit Gottes, in der die endgültige Gemeinschaft liegt, zum definitiven Durchbruch des Lebens aus der Liebe Gottes motivieren – ein Leben, das im Horizont der Ewigkeit Gottes wahr ist. Diese Motivation richtet sich gegen die Trägheit der Liebe, die in der offensichtlichen Beharrlichkeit der Strukturen des alten Fürsichlebens, des verkehrten Für-sich-Begehrens und -gebrauchens begründet ist. Schwer einzuordnen ist freilich die Sprache, sofern sie als Metaphorik der ursprünglichen Bekehrung erscheinen kann (vom Schlaf aufstehen92, die Werke der Finsternis ablegen, Christus anziehen) – wenn diese Wende doch mit dem Glauben und der Erwartung der näher gerückten Errettung (und mit der Taufe als Mitgestorbensein mit Christus) vorausgesetzt ist. Deshalb vermuten 91  92 

Vgl. auch Augustinus, In ep. Ion. ad Parthos tract. VII,8: Dilige et quod vis fac. Vgl. dazu ausführlich M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 339.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Wilckens und andere, dass Paulus sich hier auf ein Tauflied und andere Tauftexte bezieht.93 Das würde das Problem aber nur verschieben: Warum erinnert Paulus bereits Getaufte in dem Sinne an das Wesen der Taufe, dass er sie zum erneuten Vollzug jedenfalls dessen auffordert, was sie vom Glauben aus als Neubegründung des Lebens bedeutet? Der Grund liegt vielleicht darin, dass die Aufforderung hier nur das Verhalten des Glaubenden in seinem leiblich realen Leben betrifft: Im erneuten Moment der Versuchung der Begierden oder des Fürsichseins ist die Neubestimmung des Lebens immer wieder zu ratifizieren – und so der eigenen Wahrheit in Christus zu entsprechen. Andererseits ist die Notwendigkeit gerade dieser Aufforderung vielleicht garnicht von der Ebene des Glaubens zu trennen – vielleicht wird sie gerade dadurch verstärkt, dass der Glauben selbst sozusagen wieder einschlafen kann.94 Als weiterer Grund lässt sich noch vermuten, dass sich für die Gegenwart des Glaubenden, wenn er in der Zeit zwischen Taufe und endgültiger Gemeinschaft mit den immer noch virulenten Strukturen des alten Fürsichlebens kämpft, die vergangene Wende des mit Christus Gestorbenseins und sich auf seine Gemeinschaft Verlassens in der erwarteten Endgültigkeit der Erlösung (der ‚nahe Tag‘) sozusagen spiegelt. Das gilt insbesondere, sofern die endgültige Errettung wie auch die Taufe ein Moment des Gerichts enthält. Was zur Erkenntnis der Gegenwart führt, um in ihr immer wieder die Entscheidung zur Liebe zu fällen, ist also zugleich die Wahrheit der Taufe und die Wahrheit der kommenden Ewigkeit.

Eine weitere, systematische Frage ist, wie das Heranrücken des Heils, das Paulus mit einem nahenden Tag vergleicht, zu verstehen ist. Ist es ein Näherrücken in der allgemeinen, gemeinsamen (objektiven) Geschichte oder in der individuellen Lebenszeit? 11–12 Wir sind zum Glauben gekommen. Wir verlassen uns, indem wir den Tod als Wahrheit des Fürsichseins und Fürsichlebens realisiert haben (in der Taufe) und auch jetzt noch realisieren, auf die darin geschenkte Gemeinschaft Christi. Zugleich aber steht dem geschöpflich ‚im Fleisch lebenden‘ Glaubenden (Gal. 2,20), dessen Fürsichsein sich als Notwendigkeit der Leiblichkeit immer wieder herstellt, die endgültige Rettung, das definitive Leben in Gottes ewiger Gemeinschaft, in der Zeit noch bevor. Zwar wird, so ist zu ergänzen, im Moment des Sichverlassens auf Christus (d. h. hier: auf die Auferweckung des gekreuzigten Menschen in das ewige Leben Gottes) die ewige Gottesgemeinschaft im zeitlichen Leben vorweggenommen. Es ist ja Christus, der in mir lebt, oder in dem ich lebe. Die (ewige) Gemeinschaft Gottes vergegenwärtigt sich, indem sie von uns kommuniziert und reflektiert wird – aber eben nicht im Modus des Habens und Besitzens, sondern im Modus des Sichverlassens auf sie und im Modus der Hoffnung auf das noch nicht Sichtbare, auf die Erlösung des zeitlich lebenden Leibes (8,23 f.). 93 U. Wilckens,

Der Brief an die Römer 3, S. 75 f. Was hieße das? Wie wäre das Verhältnis des schlafenden Glaubens und des wachen, aktuellen Lebenssubjekts zu denken? 94 

c)  Konzentration des Lebens im Horizont der kommenden Ewigkeit: 13,8–14



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Das Sichverlassen (der Glauben) weiß aber auch, dass die Ewigkeit Gottes (d. h. für den Glaubenden: die ewige Gemeinschaft Gottes) in der Zeit kommt, indem nämlich die Zeit des Lebens abläuft – individuell und als Weltzeit. Dieses zeitliche Kommen der Ewigkeit, welches die Zeit (das zeitliche Leben) beendet, also das Kommen des endgültigen, das je eigene, leiblich-zeitliche Leben überhaupt umfassenden (vgl. 8,11.23: die Erlösung des Leibes) Heils denkt Paulus als Tun Gottes.95 Kann schon das Ablaufen der Zeit selber, indem es in der Gschöpflichkeit begründet ist, als Tun Gottes gedacht werden? Paulus versteht das Kommen des endgültigen Heils jedenfalls als Ende der allgemeinen, wesentlich gemeinsamen Geschichte. Weil aber das Tun Gottes unverfügbar ist, fehlt eine weitere Reflexion darüber, wie nahe der „Tag“ ist.

Dabei ist vorauszusetzen, dass Paulus diesen „Tag“, die letzte Errettung im Anschluss etwa an die Apokalypse Daniels so versteht, dass sein Eintreten auch das Gericht umfasst  – so wie ja auch die schon Wirklichkeit gewordene Gemeinschaft am Kreuz bzw. in Taufe und Glauben das Moment des Gerichts, der Selbsterkenntnis impliziert bzw. es vorwegnimmt.96 Eben diese Spannung zwischen vorweggenommenem und kommendem Gericht, durch das sich das im Glauben gegebene Heil der Christusgemeinschaft vollendet, begründet hier die abschließende Mahnung zum wahren Leben. Im Bewusstsein, dass das ewige Heil, das im Sichverlassen (bzw. als Wahrheit der Taufe) schon gegenwärtig ist, zugleich als Wahrheit des jemeinigen und gemeinsamen Lebens insgesamt bevorsteht, werden die anstehenden Entscheidungen des Lebens auf seine schon entschiedene, ewige Wahrheit fokussiert. Diese Wahrheit wieder zu vergessen, ist eine Gefahr des Lebens der Glaubenden, die immer dann besteht, wenn der Glaube zu einer menschlichen Selbstverständlichkeit wird, zum „Gläubig-Sein“.97 Dann ist es, als wären die Gläubigen wieder eingeschlafen.98 Die Schlafenden, Träumenden aber realisieren nicht die wirkliche Nacht, die Unwahrheit des Lebens. Das heißt im zwischenmenschlichen Verhältnis (das hier primär im Blick ist): Aus der lichten Freiheit, die das Sichfinden im Andern, das Gemeinschaftsleben bedeutet, sinken sie auf sich zurück und drohen, der allgemeinen Gewohnheit der Süchte, die die Wahrheit des Fürsichseins verleugnen, zu erliegen  – also eben dem, wofür sie sich im Moment der wachen Selbsterkenntnis des Glaubens schämen (vgl. 6,21). Beides, die verkehrende Selbstverständlichkeit des Glaubens und eine wiederkehrende, der Liebe widersprechende Tendenz des für sich Gebrauchens des Anderen, bedeutet zugleich, dem Anpassungsdruck der gesellschaftlichen Umwelt zu unterliegen, von der es in der Einleitung zu dieser gesamten (12,1–15,13 umfassenden) Erinnerung an das wahre 95 

Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 75. Vgl. 5,9: „wir werden durch ihn bewahrt werden vor dem Zorn, nachdem wir jetzt durch sein Blut gerecht wurden“. 97  Vgl. K. Barth, Der Römerbrief, S. 481–483 (Zitat auf S. 483). 98  Vgl. auch Eph. 5,14: „Wach auf, der du schläfst, und steh auf von den Toten, und Christus wird dich erleuchten.“ 96 

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Leben oder Ermahnung zum wahren Leben hieß, die Angesprochenen sollten sich ihr nicht gleich machen lassen, sondern ihr Denken erneuern (12,2).

Eben diese immer wieder notwendige Erneuerung geschieht im „Wissen um den Kairos“ – das freilich zum lebendigen Glauben gehört. Gegen den erneuten Schlaf steht das zum Glauben gehörige „Wissen um den Kairos“. Die kritische Wahrheit der Gegenwart ist zu erinnern  – welche zugleich die Wahrheit des (zurückliegenden) Mit-Christus-Gestorbenseins und die Wahrheit der (bevorstehenden) definitiven Ewigkeit der Gottesgemeinschaft ist. Indem die Glaubenden auf sie angesprochen werden, ist diese Erinnerung aber gleichwohl nicht ein Akt des Glaubenden für sich, sondern geschieht durch die erneute Kommunikation Christi, des Geistes seiner Gemeinschaft. Durch sie, durch ihr Licht als Wahrheit der Gegenwart, ist das Nächste im Sinn der Liebe zu entscheiden. Die „Waffen des Lichts“ sind Verkündigung bzw. Hören der Verkündigung, Denken, tätige Nächstenliebe als Möglichkeiten des Lebens im Geist des zum Menschen gekommenen Gottes – die Möglichkeiten des Lebens, das für die Wahrheit und Liebe Gottes durchsichtig ist. Diese Möglichkeiten stehen den Getauften, den Glaubenden zur Verfügung. Indem das Wissen um die Wahrheit der Gegenwart dem erneuten Einschlafen widerspricht, sind sie erneut zu ergreifen. 13–1499 Das bedeutet, auch in einem allgemeinmenschlich verifizierbaren, vernünftigen Sinn100 sittlich gut zu leben, also insbesondere das Übermaß darin, den leiblichen Begierden zu folgen, zu meiden. Die Metaphorik des Übermasses kommt eigentlich aus der griechischen Philosophie und Literatur, deren populären Sprachgebrauch Paulus hier aufgreift. Theologisch wäre das Kriterium des Maßes zu bestimmen: indem das leibliche Leben, sofern es einschließlich seiner Bedürfnisse im göttlichen Sinn steht, von der Sucht der Begierden unterschieden wird, die auch dann letztlich geistig (Selbstsucht) ist, wenn es sich um leibliche Begierden handelt.

Wenn beispielsweise Saufen oder Sexsucht, indem dies der Zerstreuung der Leere dient und dadurch halt- und lieblos ist, die dunkle Seite des Weltlebens kennzeichnen, so sollen dagegen die, die um die göttliche Wahrheit der Liebe wissen und die Gegenwart im Licht der kommenden Ewigkeit sehen, schon jetzt aus dieser ewigen Gottesgemeinschaft leben. Gelage und Promiskuität stehen zwar für eine wesentlich gemeinschaftliche Zerstreuung, für ein gemeinschaftliches Fliehen der eigenen Wahrheit, für eine gemeinschaftliche Leere 99  Es ist erstaunlich, dass Augustinus, als er am 15. August 386, wie er schreibt, in jenem Mailänder Garten unter einem Feigenbaum eine Kinderstimme hörte, die ihn aufforderte zu lesen, ausgerechnet an diesen Versen (Röm. 13,13 f.), als er das Buch aufs Geratewohl aufschlug, den entscheidenden Durchbruch zu einem neuen Leben, die Überwindung des Zweifels erfahren konnte. Denn sie setzen die Bedeutung des Glaubens an Christus, wie er in den Kapiteln 3–8 entfaltet wird, doch nur voraus. Vgl. Conf. VIII,12,29. 100  Paulus knüpft (wie in Gal. 5,19–21) an auch hellenistisch gebräuchliche Lasterkataloge an – vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 342 f.



d)  Was aus der Christusgemeinschaft für den Streit um die religiösen Regeln folgt 283

und Sinnlosigkeit, bedeuten aber gleichwohl ein für sich Gebrauchen des Anderen, das den geschöpflichen Sinn von Essen, Trinken und geschlechtlichem Begehren missbraucht, statt sie als Medium der Gottes- und Menschenliebe zu bewähren. Streit und Eifersucht, Identität durch Abgrenzung und Feindschaft sind dann nur die Kehrseite jener verkehrten Gemeinschaftlichkeit.

„Wie am Tage“ sollen wir im Verhältnis zu den anderen Menschen und im Verhältnis zur Schöpfung insgesamt so leben, wie Jesus Christus in seiner Gottesgemeinschaft lebte. Das tun wir nicht einfach durch Nachahmung, sondern indem er durch unseren Glauben und unser Mitgestorbensein als der Auferweckte in uns lebt – d. h. die in ihm Wirklichkeit gewordene Gottesgemeinschaft bestimmt die Reflexion unseres Kommunizierens (er ist als ihre Identität jetzt und in der kommenden Ewigkeit gewusst), und sie bestimmt das Kommunizieren selbst zur Liebe. Christus anziehen oder sich mit Christus bekleiden101 heißt dann, dass durch das mit Christus Gestorbensein des alten Menschen, das Glaube und Taufe bedeuten, die Gemeinschaft Christi auch die jemeinige, nach außen wirkende Kommunikationsgestalt bestimmt – und zwar so, dass die Gemeinde in ihr, in ihrer Freiheit von der verkehrten Selbstsorge102, vereint ist.103 Dieses Bestimmtsein schließt freilich notwendig  – wie auch das In-Christus-Sein oder das Leben Christi in mir – die Unterscheidung zwischen Christus und dem sich auf ihn verlassenden, ihn ‚anziehenden‘ Menschen ein, für den Christus ja eben der Gegenstand des Sichverlassens, das Bild des wahren Lebens, das vorweggenommene Ziel der ewigen Gemeinschaft ist.

d)  Was aus der Christusgemeinschaft für den theologischen Streit um die Bedeutung religiöser Regeln (und somit für das Verhältnis zwischen Starken und Schwachen im Glauben) folgt: 14,1–15,2 aa)  14,1–12: Keiner soll den anderen verurteilen  1 Den Schwachen im Glauben nehmt an, ohne über unterschiedliche Positionen zu streiten (εἰς διακρίσεις διαλογισμῶν). 2 Der eine glaubt, alles essen zu dürfen, der Schwache aber isst Gemüse. 3 Wer isst, verachte nicht den, der nicht isst; wer aber nicht isst, verurteile nicht den, der isst, denn Gott hat ihn angenommen. 4 Wer bist du, dass du einen fremden Haussklaven verurteilst? Durch den eigenen Herrn steht oder fällt er. Er wird aber stehen bleiben, denn der Herr bewirkt, dass 101  Zum vielfältigen alttestamentlichen und antiken Hintergrund dieser Metaphorik vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 343 f. 102  Cura carnis nec vetatur hoc loco ut mala, nec ut bona laudatur; sed ut medium quiddam, & tamen quadammodo suspectum, in ordinem redigitur, & munitur contra pericula. J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti, S. 608. 103  Durch die Taufe Christus angezogen haben schließt ein, dass alle einer in Christus sind, dass alle Gottes Kinder in Christus sind: vgl. Gal. 3,26–28 – ferner Kol. 3,9 f.; Eph. 4,22–24.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

er steht. 5 Der eine beurteilt einen Tag [für höher] als den anderen, der andere beurteilt jeden Tag [gleich]. Jeder soll in seinem eigenen Denken ganz sicher sein (ἐν τῷ ἰδίῳ νοῒ πληροφορείσθω). 6 Wer auf den Tag achtet, achtet [auf ihn] für den Herrn. Und wer isst, isst für den Herrn, denn er dankt Gott. Und wer nicht isst, isst für den Herrn nicht und dankt Gott. 7 Denn keiner von uns lebt für sich selbst und keiner stirbt für sich selbst. 8 Denn wenn wir leben, leben wir für den Herrn, und wenn wir sterben, sterben wir für den Herrn (Luther: Leben wir / so leben wir dem HERRN / Sterben wir / so sterben wir dem Herrn). Ob wir nun leben oder sterben, sind wir des Herrn (oder: gehören wir dem Herrn). 9 Denn dazu ist Christus gestorben und lebendig geworden, dass er über Tote und Lebende Herr sei. 10 Du aber, was verurteilst du deinen Bruder? Oder auch du, was verachtest du deinen Bruder? Denn alle werden wir doch vor den Richterstuhl Gottes stehen. 11 Denn es steht geschrieben: „[So wahr] ich lebe, spricht der Herr: Mir wird sich jedes Knie beugen und jede Zunge wird Gott lobpreisen (oder: bekennen)“.104 12 Also wird jeder von uns über sich selbst Gott105 Rechenschaft ablegen (oder: Antwort geben – λόγον δώσει). Der Abschnitt 14,1–15,2 gehört eigentlich zusammen und wird nur der Übersichtlichkeit halber nacheinander in zwei Teilen interpretiert. Der folgende Überblick bezieht sich jedoch auf den ganzen Zusammenhang.

Paulus knüpft nun konkret an die Bedeutung der Liebe nach 13,8–10 an, indem er (wie ganz pauschal schon in 12,9–21) fragt, wie sie sich im Leben der Gemeinde auswirkt. Konkret stellt sich die Frage angesichts der unterschiedlichen Stärke des Glaubens, die sich als unterschiedliche Freiheit der Glaubenden auswirkt. Die Stärke und Schwäche im Glauben bemisst sich hier in der Freiheit gegenüber älteren, tradierten religiösen Geboten. Sie betreffen zwar gar nicht das zwischenmenschliche Verhältnis, sondern die Reinheit der Dinge (Speisen) und eine heilige Ordnung der Zeit (den Festkalender), doch markieren sie traditionell die Zugehörigkeit zur Gemeinde der Glaubenden. Die Freiheit ihnen gegenüber folgt aus der in Christus geschenkten Gottesgemeinschaft. Für Paulus ist diese Freiheit umfassend106, denn in der Zugehörigkeit zu Christus und der Liebe, die ihr entspricht, ist alles, was das Gesetz fordert, erfüllt; wer liebt, hat das Gesetz erfüllt (13,8). Aber in der Gemeinde gab es Gruppen, die in ihrer Auffassung jener neuen Gottesgemeinschaft diese Freiheit gegenüber den Speise- und Festtagsregeln nicht ebenso umfassend realisierten. Ihr Sichverlassen auf Christus ist in dem Sinne schwächer, als es das Leben darin nicht von allen äußerlichen Geboten frei weiß. Paulus geht jedoch nicht davon aus, dass für die „Schwachen im Glauben“ die Christusgemeinschaft als solche beeinträchtigt ist – sie ist nur nicht in demselben Sinn im Denken und Handeln realisiert. Deshalb sollen sich die Starken und Schwachen an das Entscheidende des Glaubens 104 

Jes. 45,23. wichtigen Handschriften fehlt „Gott“. Zur Textkritik M. Wolter, Der Brief an die Römer 3, S. 350 Anm. 12. 106  Hier ist dann besonders Vers 14 zu vgl. 105  In



d)  Was aus der Christusgemeinschaft für den Streit um die religiösen Regeln folgt 285

erinnern, dass Christus der gemeinsame Herr ist, und sich nicht einander verurteilen. Es kommt darauf an, sich so oder so von Christus bestimmt zu wissen (Vers 6). Keiner in der Gemeinde lebt für sich oder stirbt für sich, sondern alle leben und sterben mit Christus und auf Christus hin (Verse 7–9) – in diesem Tod und Leben sind die Unterschiede aufgehoben. Sofern aber gleichwohl die theologische Auseinandersetzung besteht und offen ist, ist als Begründung des Nicht-einander-Verurteilens auf das ausstehende Urteil Gottes über alle zu verweisen (Verse 10–12). In 14,13–15,3 entfaltet Paulus, was das gemeinsame Leben in der Gemeinschaft Christi angesichts des besagten Konflikts positiv bedeutet  – und zwar insbesondere für die Starken, d. h. Freien. Zwar ist die Freiheit begründet, aber sie ist vom Anderen nicht wiederum gesetzlich zu fordern, sondern muss von ihm im Glauben selbst realisiert werden. Sofern dies nicht der Fall ist, fordert die Liebe vom Freien, dass er den weniger Freien keinen Anstoß gibt und sie nicht provoziert. 1–4 Es geht um unterschiedliche Glaubensüberzeugungen  – man könnte auch sagen: um unterschiedliche theologische Positionen – in folgender Frage: Welche Bedeutung haben insbesondere die überlieferten Speise- oder Reinheitsgebote und Festtagsgebote, die die das Gottesverhältnis betreffenden Gebote des Dekalogs als Lebensregeln konkretisieren, für diejenigen, die sich auf die mit Christus geschenkte Rechtfertigung, Versöhnung und Liebe Gottes verlassen? Wie der Vergleich mit 1. Kor. 8 und 10,23 ff. zeigt, könnte der konkrete Anlass darin liegen, dass es eine Gruppe gab, die es wegen der Möglichkeit, im Kontext der heidnischen Mehrheitsgesellschaft unbewusst Götzenopferfleisch zu essen, überhaupt vermied, Fleisch zu essen. Eine für die systematische Beurteilung entscheidende Frage ist dann, ob es sich für sie dabei sozusagen um eine Regel der Pietät handelt, oder ob sich für sie damit eine Einschränkung der Gerechtigkeit oder Versöhntheit mit Gott verbindet. Eben diese Frage spricht Paulus – vermutlich um des Friedens willen – nur indirekt an.   Nach 1. Kor. 8,7 f. (vgl. 10,25–29) ist das Entscheidende, dass Heidenchristen das Götzenopferfleisch nicht gegen ihr Gewissen essen. Ausdruck der Schwäche des Glaubens ist dort also das unnötig schlechte Gewissen.

Die Starken im Glauben wie Paulus selbst (vgl. 15,1) realisieren zwar – das ist ihre Stärke – dass die Rechtfertigung und Gemeinschaft in Christus die Freiheit vom Gesetz überhaupt bedeutet, also die Freiheit von der Forderung, Werke des Gesetzes zur Rechtfertigung zu tun, und damit auch die Freiheit von allen Reinheits-, Speise- und Festtagsgeboten. Diese Freiheit besteht im Blick auf die Rechtfertigung vor Gott – denn der Glaube an Christus bedeutet, dass der alte, für sich lebende, von der Forderung angesprochene Mensch gestorben ist und ein Leben beginnt, das die Christusgemeinschaft (ihr Geist und ihre Liebe) bestimmt (dazu sind gleich die Verse 7–9 zu vergleichen: „keiner von uns lebt für sich selbst“). Das schließt aber nicht aus, dass etwa die Speise- und Festtagsregeln in Freiheit, nämlich hier insbesondere aus Liebe zu den Schwachen,

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

einzuhalten sind. Die Gemeinschaft der Gemeinde ist durch Glauben und Liebe Gemeinschaft in Christus  – ein theologischer Streit, wenn er dieser Gemeinschaft widerspricht und den Anderen verurteilt und ausgrenzt, stellt dann eher ein allzumenschliches Rechthabenwollen als einen Fortschritt in der göttlichen Wahrheit dar. Wer sich mit seiner theologischen Wahrheit über den Anderen erhebt, hat sie schon verloren – also der, der die Gemeinschaft in Christus vergisst oder ihr im Streit widerspricht. In der Frage, wie in evangelischer Freiheit mit kirchlichen Gesetzen und Zeremonien umzugehen ist, die schnell als verdienstliche Werke verstanden werden, wird Röm. 14,1 von Luther in „Von den guten Werken“ von 1520 zitiert.107   Luther interpretiert den Zusammenhang so, dass zwar ein Christ frei ist, „vnnd er doch / weil die andern noch nit gleuben / mit yhn tregt vnd helt / des er nit schuldig ist. Vnd das thut er aber ausz freyheit / dan er gewisz ist / es gefalle got also wol“. Die Schwachen im Glauben – also hier die, die sich zwar im Sinne der Reformation dem Evangelium öffnen, die Freiheit von kirchlichen Lebensvorschriften jedoch noch nicht wirklich realisiert haben – seien nicht zu verachten, da eher ihre ungebildeten theologischen Meister Schuld tragen. Man müsse mit ihnen umgehen, wie mit Kranken „vnnd zulassen / das sie etlichen werckenn / ein weil lang / umb yres gewissens willen / noch anhangen vnnd treibenn als die nottigen tzur selickeit / szo lang sie den glaubenn recht fassen“ (d. h. so lange sie nur den Glauben im Kern recht fassen).108

Dass es im Bewusstsein der gemeinsamen Zugehörigkeit zu Christus unmöglich ist, den Anderen zu verurteilen, gilt dann aber für beide Seiten. Auch die, die sich um das Einhalten jener Gebote sorgen, sollen sich nicht über die Freien entrüsten. Beide Gruppen haben zu bedenken, dass auch die Anderen, indem sie an Christus (an die mit ihm allein aus Gnade geschehene Rechtfertigung und Versöhnung) glauben, an seiner Gemeinschaft teilhaben (Vers 3). Christus ist der Herr, nicht der, der theologisch Recht hat oder zu haben meint. Die im Glauben, als Mitgestorbensein des alten, für sich lebenden Menschen wirkliche Zugehörigkeit zu Christus entscheidet über die Wahrheit des Lebens (ob ein Mensch „steht oder fällt“)  – und diese Entscheidung ist gewiss: In seiner Gemeinschaft ist das Leben wahr („der Herr bewirkt, dass er steht“). Wer zu seiner Gemeinschaft gehört, egal ob er „isst“ oder „nicht isst“, über den kann kein anderer, angemaßter „Herr“ der Kirche urteilen (Vers 4). Das heißt für die Freiheit der Starken: Sie ist nicht eine äußere Liberalität, ein bloßer Libertinismus, für den alles erlaubt scheint, sondern ihre Freiheit vom Gesetz liegt gerade in der Christusgemeinschaft, die definitiv in Liebe verbindet. Zugleich aber müssen auch die Schwachen im Glauben, die sich um die Observanz tradierter Gebote und Regeln der Frömmigkeit sorgen und dabei womöglich gar nicht schwach, sondern (wie etwa die christlichen Gestalten 107  108 

Von den Guten Werckenn, 1520, DDStA 1, S. 128,9 ff. Ebd. S. 128,24–130,5.



d)  Was aus der Christusgemeinschaft für den Streit um die religiösen Regeln folgt 287

klösterlicher Askese) im Sinne der Kirche stark geben, anerkennen, dass die alles entscheidende Gottesgemeinschaft eben nicht an der Observanz hängt. Das mag heute dann auch analog für ethisch rigorose109 Lebensentwürfe im Rahmen der Kirche gelten, wenn sie beanspruchen, allein das wahre, sinnvolle Leben zu gewähren.

5–6 Zum einen zeigt Paulus nun den weiteren Rahmen der Fragestellung an: Derselbe Konflikt bezieht sich auch z. B. auf die Festtagsgebote. Zum anderen sieht er seine praktische Lösung darin, dass sich jeder der Parteien nicht auf den Unterschied zum Anderen, sondern auf das Denken seines Glaubens – den Zusammenhang von Christusgemeinschaft und Lebensführung betreffend  – konzentriert. Jeder soll darin ganz überzeugt sein.110 Das heißt zunächst insbesondere im Blick auf die Schwachen im Glauben, dass sie keinesfalls gegen ihr Gewissen handeln sollen, auch wenn das schlechte Gewissen vielleicht im Verständnis derer, die wie Paulus zu den Starken gehören, unnötig ist. Darüber hinaus enthält die Forderung, sich im entsprechenden Glaubensdenken sicher zu sein, vielleicht aber auch ein implizites kritisches Moment: Das Gewissen ist zu bilden, jeder soll sich prüfen, ob die von ihm vertretene Lebensführung gewiss aus der im Sichverlassen gegebenen Christusgemeinschaft folgt – ob er „für den Herrn“ isst oder nicht isst.111 Im Blick auf die genannten Konfliktfelder kann die besagte Lösung z. B. Folgendes bedeuten: Zwar ist für den Starken im Glauben wie etwa Paulus anzunehmen, dass als Lebenszeit in der Gemeinschaft Christi (und auf sie zu) nicht nur etwa dem Sabbat, sondern jedem Tag die volle und höchste Bedeutung zukommt.112 Doch entscheidend ist (darauf muss die Bildung des Gewissens hinauslaufen), egal ob ich nun den Feiertag besonders heilige oder ob ich jeden Tag als Zeit der Christusgemeinschaft geheiligt finde, darin eben dieser Gemeinschaft spezifisch Raum zu geben. Und ebenso erfährt das sorglose Essen seine Wahrheit darin, es dem Herrn zu tun, d. h. dankbar für das darin gegebene geschöpfliche Leben, das seinen Sinn in dieser Gemeinschaft zu erfüllen begonnen hat113 – ebenso wie die Observanz gerechtfertigt ist, indem sie den Herren ehren will, also Ausdruck seiner Gemeinschaft und Antwort auf seine Gnade ist. 109 Entsprechende

lebensreformerische Tendenzen hatte schon K. Barth, Der Römerbrief, S. 491, im Blick. 110  Entsprechend hatte er den Konflikt in 1. Kor. 8,7 auf die Frage des Gewissens fokussiert. 111 Wenn also K. Barth übersetzt „Jeder soll seiner eigenen Überzeugung froh sein“ (a. a. O., S. 494), so wäre zu ergänzen: wenn er das, was er aus Überzeugung tut, für den Herrn tut. 112  Hier ist noch einmal M. Luther in „Von den Guten Werckenn“ von 1520 zum Feiertagsgebot zu vgl.: Indem die geistliche Feier, in der „wir allein got in vns wirckenn lassen“, jederzeit möglich ist, sind alle Tage Feiertage – gleichwohl ist auch die leibliche Feier nötig. DDStA 1, S. 186,14 ff. (188,13 f.). 113  Nach M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 360 bezieht sich das genannte Gott Danken auf den Dank, der zum „jüdischen Tischsegen“ gehört.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Dabei ist freilich wiederum mitgesetzt, dass die fromme Observanz, das Nichtessen und strenge Einhalten der Festzeiten, die allein entscheidende Gottesgemeinschaft in Christus nicht steigert.

7–9 Paulus bestimmt das Dem-Herrn-Leben, das sowohl die Starken wie die Schwachen im Glauben auszeichnet, durch den Gegensatz zum Für-sich-Leben näher. Zugleich bestimmt er damit, was es heißt, dass Christus der Herr ist, indem er für uns „gestorben und lebendig geworden“ ist. Dem Herrn, also Christus leben ist so zu verstehen wie in Gal. 2,19 f. das Gott Leben, also für Gott leben – es bedeutet, dass ich als für mich lebender Mensch, indem ich mich auf Christus verlasse, mit ihm gestorben bin und Christus (Gott in seiner Gemeinschaft mit dem Menschen) in mir lebt. Das Für-sich-Leben ist im Sichverlassen auf das Kreuz Christi gestorben. Das Dem-Herrn-Leben bedeutet für die „Starken“ oder Freien (die, die „essen“), dass sie sich nicht als solche, in hochmütigem Selbstbewusstsein über die Schwachen erheben. Und es bedeutet ebenso im Blick auf die „Schwachen“ (die, die „nicht essen“), dass sie sich nicht im selbstgerechten Selbstbewusstsein der gebotenen Observanz von den Freien abgrenzen und sie verachten. Dieses Nicht-für-sich-, sondern in der Gemeinschaft Christi Leben, weil der Sichverlassende schon mit Christus gestorben ist, gilt dann auch für das Sterben als letzte Hingabe des Lebens „im Fleisch“, in der sich die Gemeinschaft Christi endgültig verwirklichen wird. – Das Für-sich-Sterben ist die Wahrheit des Für-sich-Lebens, das die Sünde kennzeichnet. Aber für den Herrn leben und sterben, d. h. sich seiner Gemeinschaft hingeben, heißt zugleich, sich (die Wahrheit seines Lebens) in seiner ewigen Gemeinschaft finden.

10–12 Nun zieht Paulus die Konsequenz für den Konflikt, die der Konzentration auf die Christusgemeinschaft entspricht. Wie in Vers 4 weist er in direkter Anrede das gegenseitige Verurteilen und Verachten zurück: Weder ist der Bruder (d. h. hier: der Andere, mit dem ein Mensch die Gottesgemeinschaft in Christus teilt), der sich frei weiß, vom Observanten zu verurteilen, noch ist der Bruder, der darum besorgt ist, sein Leben nach den tradierten Regeln einzurichten, vom Freien zu verachten – das hieße, sich abzugrenzen und darin das gemeinsame Für-den-Herrn-Leben zu sistieren. Im Entscheidenden soll nicht der Streit, sondern die in Christus gegebene Gemeinschaft das Verhältnis bestimmen. Deshalb lässt Paulus den Streit in der ganzen Passage auch offen, obwohl er sich zugleich als Freier zu erkennen gibt (und dies in Vers 14 auch kurz begründen wird). Doch nimmt er an, dass Christus selber, die Wahrheit der Gemeinschaft in ihm, letztlich auch über den Konflikt entscheiden wird. Wenn er nämlich beide Konfliktparteien darauf verweist, dass schließlich Gott (im letzten Gericht, wenn jeder sein Leben verantworten muss) entscheiden wird, dann ist Christus an der Stelle Gottes als Richter zu denken – Christus, der der gemeinsame Herr ist und in dem den Streitenden als Sichverlassenden gemeinsam die Gemeinschaft



d)  Was aus der Christusgemeinschaft für den Streit um die religiösen Regeln folgt 289

Gottes geschenkt ist. Die Wahrheit des Lebens vor Gott ist die Wahrheit des Lebens in der Gemeinschaft Christi. Im Blick auf das Gericht zitiert Paulus Jes. 45,23 – eben diese Stelle wird von ihm auch in Phil. 2,10 f. zitiert, und zwar so, dass sich alle vor dem Namen Jesu beugen und ihn als Herrn bekennen werden.114

Freilich bedeutet das letzte Urteil Gottes nicht, dass Christus Zensuren für theologische Positionen verteilt. Sondern, wie Vers 5 und gleich die Verse 14, 20 und vor allem 22–23 zeigen, denkt Paulus wie in 1. Kor. 8 als Kriterium des göttlichen Urteils die Frage, inwiefern ein Mensch nach den Möglichkeiten seines Glaubens, wie sie sich in seinem individuellen Gewissen konstituieren, in seinem Leben Christus Raum gelassen hat. Zwar kann kein theologischer Lehrer beanspruchen, das entsprechende Urteil vorwegzunehmen. Gleichwohl ist dieses Kriterium im theologischen Denken Christi zu antizipieren115 und darin auch in der Gemeinde zu kommunizieren. Eben dies geschieht hier.

bb)  14,13–15,2: Statt dem Anderen Anstoß zu geben, ist um der Gemeinschaft Christi Willen im Ausüben der Freiheit Zurückhaltung zu üben 13 Lasst uns also einander nicht mehr verurteilen; sondern richtet vielmehr euer Urteilen darauf, dem Bruder nicht Anstoß oder Ärgernis (oder: Veranlassung zum Fall  – σκάνδαλον) zu geben.  14  Ich weiß und bin im Herrn Jesus davon überzeugt (Luther: Ich weiß und bins gewiss), dass nichts von sich aus (oder: an sich) unrein ist, außer für den, der etwas für unrein hält, dem ist es unrein. 15 Denn wenn dein Bruder wegen einer Speise betrübt wird, wandelst du nicht mehr nach der Liebe (oder: der Liebe entsprechend). Richte nicht durch deine Speise den zugrunde, für den Christus gestorben ist.  16  Es soll doch nicht euer Gutes verlästert werden!  17  Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude im heiligen Geist. 18 Denn wer darin dem Christus dient, ist Gott wohlgefällig und bei den Menschen geachtet. 19 So lasst uns nun dem nachstreben, was dem Frieden und dem gegenseitigen Aufbau (oder: Erbauung – τῆς οἰκοδομῆς) [dient]. 20 Zerstöre nicht wegen einer Speise das Werk Gottes! Es ist zwar alles rein, doch schlecht ist es für den Menschen, der mit Anstoß isst (Luther: der es isset mit einem anstoss seines Gewissens). 21 Es ist gut, kein Fleisch zu essen und auch keinen Wein zu trinken und nichts sonst, woran dein Bruder Anstoß nimmt (Wolter: wodurch dein Bruder stolpert). 22 Den Glauben, den du hast (oder: die Überzeugung – πίστιν ἔχεις), habe bei dir selbst (Wolter: behalte für dich) vor Gott. Selig, wer sich nicht selbst verurteilt in dem, was er für richtig hält. 23 Wer aber zweifelt, wenn er isst, ist gerichtet, weil [es] nicht aus Glauben [geschieht]. Alles aber, was nicht aus Glauben [geschieht], ist Sünde. 114  Ob der Philipperbrief älter als der Römerbrief ist oder umgekehrt, ist umstritten; wahrscheinlicher ist ersteres. 115  Vgl. Gal. 6,4 f.

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4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

15,1 Wir aber, die Starken, sind verpflichtet, die Schwächen derer zu tragen, die nicht stark sind, und nicht uns selbst zu gefallen. 2 Jeder von uns soll dem Nächsten gefallen, zum Guten, auf Erbauung hin.

13–15 Gerade auch im Konflikt um die Frage, ob und inwiefern die, die im Sichverlassen auf Christus zu seiner Gemeinschaft gehören, frei von den älteren Geboten und Regeln sind, die das Leben im Gottesverhältnis orientieren sollten – gerade in diesem Konflikt soll diese Gemeinschaft das Verhältnis der Parteien bestimmen, unabhängig davon, wie der Konflikt theologisch zu entscheiden wäre. Die Gemeinschaft in Christus verwirklicht sich zuerst darin, auch den anderen – trotz des Konfliktes – darin anzuerkennen. Der (gemeinsamen) Zugehörigkeit zu Christus entspricht, dass auch im Konflikt die Liebe das Verhalten zueinander bestimmt (Vers 15) – was keine ethische Forderung ist, sondern eine Erinnerung an die Wirklichkeit der Gemeinschaft in Christus. Denn diese wird neben der Kommunikation des Glaubens zwischenmenschlich primär in der Liebe wirklich.116 Das heißt für den Freieren (denjenigen, den ja nichts anderes als das Bewusstsein dieser Gemeinschaft freier macht), in der Situation jenes Konflikts nicht das Gewissen der Unfreieren zu belasten (Vers 13: Ärgernis geben; Vers 15: ihn betrüben, ihn zugrunde richten; vgl. Vers 20.22 f.), die sich noch jenen älteren Geboten des Gottesverhältnisses verpflichtet fühlen. Eine solche Belastung des Gewissens könnte vor allem darin liegen, dass durch das offensive Zurschaustellen und Vertreten der Freiheit im Gemeindekontext (z. B. beim gemeinsamen Mahl) die Anderen entweder ihrerseits zur Verurteilung der Freien und damit zur Verneinung der Gemeinschaft in Christus provoziert werden oder dass sie dazu verführt werden, gegen ihr Gewissen selbst zu „essen“. Könnte darüber hinaus das ‚Zugrunderichten des Bruders‘ auch darin liegen, dass die Manifestation der Freiheit, indem sie schon implizit eine Kritik am gesetzlichen Verhalten der Anderen bedeutet, ebenso implizit auch ihren Glauben, ihre Zugehörigkeit zu Christus theologisch in Frage stellt und sie entsprechend in ihrem Glauben verunsichert? Das ist vermutlich nicht gemeint, da Paulus diese Zugehörigkeit voraussetzt.   Abgesehen davon muss die theologische Auseinandersetzung in dieser Frage (im Unterschied zu provokantem Verhalten) erlaubt sein und ist auch um der Verständigung willen geboten.

In dieser Situation sollen die Starken um der Gemeinschaft in Christus, um ihres Aufbaus willen (vgl. Vers 19) Rücksicht nehmen und auf eine aggressive Manifestation ihrer Freiheit verzichten (vgl. auch 15,1 f.).

116  Das impliziert, dass es eine grundlegende Kommunikation des Glaubens gibt, aus der Liebe und auch die Notwendigkeit ihrer lehrmäßig theologischen Reflexion folgt  – aber so, dass die Liebe den Konflikt um die Lehre bestimmen soll und nicht umgekehrt die lehrmäßige Position das Verhalten zum Anderen bestimmt.

d)  Was aus der Christusgemeinschaft für den Streit um die religiösen Regeln folgt 291



Wie gesagt gibt Paulus sich aber auch als einer zu erkennen, der selbst „im Herrn Jesus“ (Vers 14), also in der Gemeinschaft Christi gewiss ist, dass keine Speise an sich, also als geschöpfliche Gabe, unrein oder unheilig ist. Die Einsicht, dass nichts Äußeres den Menschen verunreinigen kann, findet sich schon in dem Jesuswort Mk. 7,15. Die Sünde kommt von innen, aus dem Herzen (vgl. 7,2–23; Mt. 15,11) – was Mk. ausdrücklich so versteht, dass alle Speisen rein sind (Mk. 7,19). Die Frage ist, ob sich Röm. 14,14 und Mk. 7,15 auf eine gleiche Jesusüberlieferung beziehen. Fest steht, dass schon Jesus die Frage der Reinheit auf das Innere des Menschen konzentrierte – etwa in dem Sinne, dass sich Sünde und Heiligkeit nicht an der Einhaltung von Speisegeboten entscheiden, sondern an der Wirklichkeit des Reiches Gottes, also daran, wie ein Mensch zur kommenden Gottesherrschaft steht. Selbst wenn man den Rekurs auf eine gleiche Jesusüberlieferung nicht vermuten möchte (was aber auch nicht unwahrscheinlich scheint), so wäre es doch eben der Geist dieser Gottesherrschaft, der auch Paulus zu derselben Konsequenz führt.

Auf der Grundlage des Glaubens an Christus als den Herrn heißt das: Alle Dinge sind von dem einen Gott und durch den einen Herrn Christus geschaffen (so 1. Kor. 8,6 – ebenfalls im Kontext der Frage des „Essens“), als Medium seiner Güte. Also bedeutet die Gemeinschaft, die in Christus geschenkt ist, auch die Freiheit, alle gesunde Speise und überhaupt alles geeignete Geschöpfliche im Sinne dieser Gemeinschaft zu genießen. Die Gemeinschaft mit Christus, „durch“ den (und auf seine Gemeinschaft hin) die Dinge geschaffen sind, erschließt neu und ursprünglich ihren Sinn. Sofern jedoch jemand noch in seinem Gewissen befangen ist und er etwas im Namen Gottes für unrein, unheilig hält, würde er sich wirklich schaden, wenn er dagegen verstieße. Es würde ihm deswegen schaden, weil es ihn an seinem Heil, an der Wirklichkeit seiner Rechtfertigung und Gemeinschaft mit Gott in Christus zweifeln ließe oder sie für ihn einschränken würde. Die Freiheit etwa von den Speisegeboten ist nicht durch einen Verstoß gegen das Gewissen, sondern nur in ihrer Wurzel, im gewissensbildenden Verständnis der Zugehörigkeit zu Christus zu realisieren. Darauf ist im Zusammenhang der Verse 22 f. ausführlicher zurückzukommen. 16–21 Das Gute, das es von beiden Parteien, aber insbesondere von den Freien, d. h. Stärkeren im Glauben zu schützen gilt117, ist eben die Gemeinschaft, die im gemeinsamen Glauben liegt – die gemeinschaftliche Wahrheit des Lebens, die als praktisches Füreinanderdasein im Glauben begründet ist. Diese Gemeinschaft würde verlästert, wenn ihre Angehörigen sie im Streit um periphere Fragen (Essen und Trinken) praktisch konterkarierten. In den Augen der heidnischen oder jüdischen Umwelt würde die Gemeinde sich nicht mehr von anderen Gruppen mit ihren gewöhnlichen Streitigkeiten unterscheiden. 117 Zum

S. 380.

zeitgenössischen Sprachgebrauch vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2,

292

4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Das im Glauben an Christus vermittelte, gemeinschaftliche Leben ist das bereits vom irdischen Jesus verkündigte Reich oder die Herrschaft Gottes  – genauer: es ist Modus des kommenden, endgültigen Heils.118 Es besteht nicht im Ausleben der je eigenen Freiheit (Essen und Trinken insofern allgemeiner als Inbegriff unmittelbaren menschlichen Selbstvollzugs verstanden), sondern darin, dass durch Christus Gott das Leben gemeinschaftlich bestimmt. Es ist „Gerechtigkeit und Friede119 und Freude im heiligen Geist“. Das Reich Gottes bedeutet, sich im Glauben an Christus, der unser Fürsichsein, unsere Getrenntheit, unseren Tod teilt, von Gott ohne Werke des Gesetzes gerechtfertigt, in seine Gemeinschaft aufgenommen zu wissen (3,21–28) – was wiederum den Impuls zur Gerechtigkeit der Liebe begründet. Zugleich bedeutet das Reich Gottes den inneren Frieden, sich auf dem bestimmungsgemäßen göttlichen Lebensweg zu wissen, sowie den Frieden mit dem anderen Menschen, der in der wesentlichen Gemeinsamkeit dieses Weges liegt. Und schließlich bedeutet das Reich Gottes das Lebensgefühl des göttlichen Sinns, der mich und die Anderen und die ganze Welt umfasst – das Selbstgefühl darin, dass der heilige Geist (der Gemeinschaft) Gottes das Leben leitet. Indem das Reich Gottes in diesem Sinn angefangen hat, kann insbesondere der Starke oder Freie den Geschwistern zuliebe, für den Aufbau der Gemeinde im Füreinanderdasein120 (Vers 19), getrost auf die Manifestation seiner Freiheit verzichten (Vers 21)121  – jedenfalls in der Situation, in der die Freiheit den Schwachen provoziert, weil er sie (noch) nicht versteht. Andererseits ist auch diesem zu verstehen aufgegeben, dass das Reich Gottes sich nicht an gesetzlichen Regelungen des Essens und Trinkens entscheidet.

Christus zu dienen (Vers 18) bedeutet insofern, durch das Füreinanderdasein eben die (in der Ewigkeit Gottes geborgene) Gemeinschaft, die Christus darstellt und die das Reich Gottes bedeutet, zwischenmenschlich Wirklichkeit werden zu lassen. Diese Gemeinschaft mit den Anderen, ihr Frieden und ihre reale Verbindlichkeit, ist als gemeinsames dem Herrn Leben (Vers 8) oder in Christus Leben das Werk Gottes (Vers 20). Würde dagegen der im Glauben an Christus Freie diese Freiheit gegen die Anderen (etwa ihnen zum Anstoß) durchsetzen, widerspräche dies dem Werke Gottes und wäre eine Verkehrung der Freiheit. 22–23 Paulus spricht nun den im Glauben an Christus Starken oder Freien auf seinen Glauben an und fokussiert die Auseinandersetzung auf die Frage, ob die Freiheit von den älteren Geboten des Gottesverhältnisses in dem Sinne 118  Vgl. bei Paulus noch 1. Thess. 2,12; 1. Kor. 4,20 („das Reich Gottes steht nicht in Worten, sondern in Kraft“); 6,9 f. (zur Frage, wer das Reich Gottes erben wird); 15,50 („Fleisch und Blut können das Reich Gottes nicht ererben“). 119  Vgl. Ps. 71,7; 84,10 f. – weitere Stellen bei M. Wolter, a. a. O. 2, S. 381. 120  Vgl. auch 1. Thess. 5,10 f.: Dem mit Christus Leben entspricht, dass einer den Anderen erbaut. Weitere Parallelenstellen bei M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 385. 121  Vgl. auch 1. Kor. 8,13.



d)  Was aus der Christusgemeinschaft für den Streit um die religiösen Regeln folgt 293

notwendig aus dem Glauben folgt, dass sie für die Gemeinde als normativ zu behaupten ist. Das ist nicht der Fall. Vielmehr ist es für den Freien richtig, sich im Ausleben der Freiheit zurückzuhalten (21 f.), auch wenn sein Glauben diese Freiheit bedeutet. Paulus begründet das, indem er seine schon in den Versen 5, 14 und 20 angedeutete Überlegung zu der Frage auf den Punkt bringt, welche Bedeutung das noch an jene Gebote und insbesondere ihre konkreten Lebensregeln gebundene Gewissen für das Gottesverhältnis, die Gottesgemeinschaft dessen hat, der im Glauben an Christus davon frei sein könnte. Wie gesagt: Der im Glauben an Christus Freie soll diese Freiheit vor allem dann nicht in der Gemeindeöffentlichkeit ausspielen, wenn er damit den Anderen, der sich der Freiheit nicht sicher ist, verführen könnte, ihm zu folgen und damit gegen sein Gewissen zu handeln. Zwar ist der Glauben an Christus zu kommunizieren und auch theologisch zu reflektieren, zu lehren, zu diskutieren. Das gilt auch für seine wesentliche Freiheit vom Gesetz, die ja im mit Christus Mitgestorbensein des für sich lebenden Menschen begründet ist. Aber wenn die Praxis dieser Freiheit, indem sie vom Anderen nicht schon in ihrem Grund verstanden wird und gewiss ist, ihn dazu verführt, gegen sein Gewissen zu handeln und so sich selbst zu verurteilen, dann zweifelt er nicht nur an der Richtigkeit des Essens, sondern dadurch auch an seinem Heil, seiner Rechtfertigung. In dieser Situation soll der Starke um der Liebe willen seine Gewissheit der Freiheit als Konsequenz des Glaubens an Christus für sich behalten. Es reicht zunächst, dass sie ihm vor Gott gewiss ist  – die Liebe als Konsequenz des Glaubens ist wichtiger als das Ausleben der Freiheit. Wenn der, der zwar an die in Christus geschenkte Gemeinschaft glaubt, aber sich zugleich noch von den älteren, das Leben regelnden Geboten des Gottesverhältnisses gebunden findet, gegen diese verstößt, verurteilt er sich selbst. Das heißt sein Gewissen reflektiert ihn als Subjekt dieser – womöglich verkehrten – Tat, im Widerspruch zum Sichverlassen auf Christus oder sich in der Christusgemeinschaft Finden. Das kann sich im Zweifel an der Rechtfertigung oder Christusgemeinschaft äußern. Die in Christus geschenkte Gottesgemeinschaft ist insofern real in Frage gestellt oder sistiert. Indem das Handeln gegen den Buchstaben jener Gebote für ihn verkehrt ist, stellt es (bzw. die entsprechende Freiheit) eine wirkliche Verkehrung dar, weil dieses Handeln und seine Reflexion den Menschen in seinem alten Fürsichsein wiederherstellt. Indem er an seiner Gemeinschaft in Christus zweifelt, weil er meint, Gott zu widersprechen, hat er sie in diesem Moment verloren. Die in Christus geschenkte Gottesgemenschaft ist eben wesentlich für mich, im Glauben. Das potentielle sich selbst Verurteilen aus Vers 22 bezieht sich also in erster Linie auf die Unfreien  – indirekt womöglich aber auch auf die Freien: nämlich dann, wenn sie sich verurteilen müssen, indem sich auch bei ihnen das Fürsichsein dem Glauben entgegenstellt – weil sie über die liebevolle Rücksicht ein für sich Ausleben der Freiheit stellen.

294

4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Auch wenn es durchaus allgemein wahr und göttlich ist, dass das Sichverlassen auf Christus Freiheit bedeutet, so gibt es doch kein irrtümliches Gewissen. Andererseits schließt das einmal gegebene Sich-Verurteilen die Möglichkeit der erneuten, vertieften Selbsterkenntnis im Fürsichsein und des erneuten Glaubens an die Vergebung in Christus, oder auch die Möglichkeit einer erneuten, Freiheit eröffnenden Glaubenserkenntnis nicht aus. Die Lebenswirklichkeit des Glaubens – und damit auch der Zusammenhang von Glaube und Freiheit – ist eben nicht schon durch ein einmaliges Bekenntnis der Glaubenslehre entschieden. Vielmehr ist nicht nur das Glaubensverstehen ein sich bildendes, sondern auch seine im Gewissen vermittelte Lebenswirklichkeit ist eine sich bildende. Es ist ein auf den Geist der in Christus geschenkten Gottesgemeinschaft zurückzuführender Prozess, dass diese Gottesgemeinschaft fortschreitend das Denken und Leben bestimmt. Und doch ist jeder Lebensmoment in diesem Prozess unmittelbar zu Gott und als solcher im entsprechenden Glaubensbewusstsein und Gewissen entschieden. Vielleicht sind die Verse 22 f. so aber auch etwas überinterpretiert. Denn im Fokus liegt hier nicht der Glaubenszweifel, sondern das Sichverurteilen im Handeln.   Eine systematisch weiterführende Frage ist, wie die Schwäche im Glauben zu verstehen ist. Wenn das Gewissen des an Christus Glaubenden gleichwohl noch durch das ältere Gesetz (das ja als solches den Menschen für sich als Täter seines Lebens anspricht) oder die älteren Regeln der Heiligkeit gebunden ist, ließe sich zunächst annehmen, dass das Verhältnis des Christusglaubens zur Lebenspraxis insofern noch nicht geklärt ist, dass also der Glauben an Christus noch nicht Kommunikation und Reflexion des Lebens insgesamt bestimmt – was faktisch bedeutet, dass die Gottesgemeinschaft mit Christus auf einen bestimmten, wenn auch zentralen Bereich des bewussten Lebens eingeschränkt ist. Eben diese eingeschränkte Wirklichkeit des Glaubens wird (so die über Paulus hinausgehende These) als Unglauben realisiert, wenn das schlechte Gewissen das Subjekt für sich als Täter oder Nichttäter des Gesetzes reflektiert.

Die Verse 6 f. hatten aber auch die Möglichkeit angedeutet, das förmliche Einhalten der älteren Gesetze und Regeln so zu verstehen, das darin die Christusgemeinschaft nur spezifisch gestaltet ist ( für den Herrn nicht essen und auf Festtage achten). Die Frage ist aber, ob sich diese Auffassung, wenn sie zu Ende gedacht ist, eigentlich noch auf Schwache im Glauben beziehen kann. Denn als Gestaltung der Christusgemeinschaft wäre das Nichtessen nicht gesetzlich notwendig. Entscheidend ist, dass sowohl beim ‚Essen‘ als auch beim ‚Nichtessen‘ der Glaube an die in Christus geschenkte Gemeinschaft das Gewissen bestimmt. Das heißt, es wird dann, wenn es für den Herrn geschieht, nicht jenen Regeln gemäß gelebt, um vor Gott gerecht zu werden oder im Zweifel an der eigenen Rechtfertigung, sondern weil es laut dem Gewissen (bzw. in der Formulierung von Vers 22: im Urteilen über sich selbst) im Sinne des wahren Lebens in der geschenkten Gemeinschaft Gottes richtig ist.122 Umgekehrt aber wäre sowohl 122  Ein

Werk ist genau dann gut, wenn der Mensch „sein hertz in der zuuorsicht“ findet,



e)  Ausweitung der Frage

295

die Nichtobservanz als auch die Observanz Sünde, sofern sie im Zweifel an der eigenen Gottesgemeinschaft vollzogen werden – eben alles, „was nicht aus Glauben“ geschieht. Aber kann denn die für sich, ohne Rücksicht auf die Gemeinschaft mit dem Schwachen ausgelebte Freiheit „aus Glauben“ geschehen?

15,1–2 Aus der Perspektive der Freien im Glauben („wir“) wird die Konsequenz, die diese Überlegungen für sie haben, zusammengefasst: Die Liebe bestimmt das wahre Ausleben der Freiheit. Dann erheben sich nicht die Freien über die Unfreien, sondern nehmen auf sie liebevolle Rücksicht. Die Schwächen der an der Freiheit Zweifelnden zu tragen, heißt, sich nicht im Besserwissen der Glaubenswahrheit von ihnen abzugrenzen, sondern ihr Einverständnis zu suchen. Das Ziel ist das gegenseitige Einverständnis – und insgesamt ein Fortschritt der Gemeinschaft („Erbauung“), die für die Unfreieren wohl auch einen Fortschritt der in Christus begründeten Freiheit umfasst.

e)  Ausweitung der Frage. Der Sinn der Geschichte beginnt sich in der Einmütigkeit derer zu erfüllen, die Christus glauben und nachfolgen: 15,3–15,13 aa)  15,3–7: Es gilt, Christus nachzufolgen und der in ihm gegebenen Gemeinschaft zu entsprechen 3 Denn auch der Christus hat nicht sich selbst gefallen, sondern wie geschrieben steht: „Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen.“123 4 Denn was auch immer zuvor geschrieben wurde, wurde zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch die Geduld und durch den Zuspruch (oder: Trost) der Schriften Hoffnung haben. 5 Der Gott der Geduld und des Zuspruchs (des Trostes) aber gebe euch, untereinander auf ein und dasselbe bedacht zu sein (oder: zu sinnen), Christus Jesus gemäß (oder: wie es Christus Jesus entspricht), 6 damit ihr einmütig mit einem Munde Gott verherrlicht (oder: preist), den Vater unseres Herrn Jesus Christus.   7 Darum nehmt einander an, wie auch der Christus euch angenommen hat zur Herrlichkeit Gottes (εἰς δόξαν τοῦ θεοῦ).

Der Abschnitt lässt sich auch im Zusammenhang mit 15,1–2 bzw. 14,13 ff. verstehen – nämlich sofern es immer noch um die Einmütigkeit und das Für-denAnderen-Dasein geht, das nun in Christusbeziehung begründet wird. Oder er lässt sich als Beginn des Schlussabschnitts verstehen, der die Frage nach dem „das es gote gefalle / […] Das leret sanct Paul Ro.xiiij. alles was nit ausz odder im glauben geschicht / das ist sunde.“ M. Luther, Von den guten Werken (1520), DDStA 1, S. 110,26–32. 123  Ps. 68,10.

296

4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Christus entsprechenden Verhalten in der Gemeinde ausweitet zu einer Betrachtung des sich in Christus erfüllenden Sinns der Menschheitsgeschichte. 3 Wer Christus dient (14,18 f.), indem er, als in seiner Gemeinschaft Freier, Rücksicht auf die weniger Freien nimmt und sie in ihrer Schwäche annimmt und auffängt (15,1 f.), entspricht nicht nur der eigenen Zugehörigkeit zur Gemeinschaft Christi, an die er glaubt (so verstehe ich die Formulierung „Christus Jesus gemäß“ oder „wie es Christus Jesus entspricht“ in Vers 5), sondern er folgt zugleich dem irdischen Jesus Christus nach. Von dieser Nachfolge redet Paulus in Vers 3. Die Wahrheit des Lebens Jesu ist die Hingabe für uns, in der sich Gottes Hingabe für uns vollzog und offenbarte – das Teilen unserer Schwäche, also unseres Fürsichseins, unserer Angst, unseres Todes. Der irdische Jesus Christus lebte nicht für sich selbst, wie es der Grundsünde der Menschheit entspräche, es ging ihm nicht um sich, sondern er lebte für das Reich Gottes unter uns, für die kommende Gemeinschaft seiner Liebe. Das Zitat von Ps. 68,10 („Die Schmähungen derer, die dich schmähen, sind auf mich gefallen“) steht dabei für den göttlichen Sinn der im Kreuz zusammengefassten Hingabe Jesu insgesamt, für sein Leiden im Namen der Liebe Gottes – hier in der Zuspitzung, dass Christus die Feindschaft der Menschen gegen Gott auf sich nahm, um sie im Namen der Liebe Gottes zu überwinden. Weil er nicht sich selbst gefiel, sondern Gott in seiner Liebe diente und so als Gerechter der Ungerechtigkeit, dem Fürsichleben der Menschen widersprach, musste er Verfolgung leiden. Zugleich bedeutet dieses Zitat aber auch schon implizit, was dann Vers 4 ausspricht  – dass bereits die heiligen Schriften Israels von diesem Sinn der Hingabe im Namen Gottes reden.124

4 Dieser kleine Exkurs zur Bedeutung der heiligen Schriften125 (also für uns: des Alten Testamentes) wirkt auf den ersten Blick unmotiviert und erschließt sich erst im Zusammenhang der Verse 8–13, die die Erfüllung der Väterverheißungen in der universalen Predigt Christi sehen. Im Kontext der angemahnten Hingabe (Verse 1 und 2) und der inneren Notwendigkeit, unter der Bedingung der allgemeinen Sünde auch das Leiden um der Wahrheit Gottes willen anzunehmen, stellt er heraus: Gott schenkte und schenkt in der gesamten Geschichte mit seinem Volk und nun der ganzen Menschheit durch den (in den Schriften überlieferten) Zuspruch des Sinns der Hingabe und die dadurch schon jetzt bewirkte Geduld die Hoffnung auf die kommende oder endgültige Überwindung.126 Da dies die Grundwahrheit der Geschichte Gottes 124 

Vgl. auch K. Barth, Der Römerbrief, S. 509 f. Vgl. auch schon oben zu 4,23–25 (im Blick auf den Glauben Abrahams, von dem für uns geschrieben wurde); ähnlich 1. Kor. 9,19 – vgl. auch 1. Kor. 10,11. 126  Vgl. auch oben zu 5,1–5 (dort mit der Begründung der Hoffnung, dass durch Christus die Liebe Gottes durch den heiligen Geist in die Herzen ausgegossen wurde); 8,24 f.; und in christologischer Konzentration 2. Kor. 1,3–7. 125 



e)  Ausweitung der Frage

297

mit den Menschen ist, kann und soll die Überlieferung der Schriften sie auch gegenwärtig vermitteln („zu unserer Belehrung“). Doch zielt diese Geschichte und die Überlieferung ihrer Wahrheit auf die Gemeinschaft in Christus – ihren Zusammenhang vermittelt Gott, indem nun Christus als Ziel des Zuspruchs, als Grund der Hoffnung offenbart ist, und der Geist seiner Gemeinschaft als Grund der Geduld. So verkündigen die Schriften den göttlichen Sinn einer, in Christus konzentrierten Geschichte, in der auch die Gegenwart steht und die auch noch die Zukunft umfasst. 5–7 Dass Gott in diesem Sinn durch seinen Zuspruch und die dadurch bewirkte Geduld die Hoffnung auf die Vollendung schenkt, hat nun auch eine Auswirkung auf das Verhältnis der Glaubenden untereinander. Es geschieht wesentlich im Modus der Einmütigkeit oder menschlichen Gemeinschaft – und sofern diese noch nicht oder aktuell nicht gegeben ist, müssen das Sichverlassen auf Christus, die Geduld und die Hoffnung noch ihre Entsprechung in dieser Einmütigkeit finden. Vers 5 lässt sich sowohl als Segenswunsch verstehen als auch als Ermahnung. Gott segne die Glaubenden mit der Einmütigkeit127, die die Gemeinschaft über das Rechthaben stellt (vgl. noch einmal Vers 1 f.) – in ihr folgen sie dem wahren Leben Jesu nach und entsprechen ihrer Zugehörigkeit zum ewigen Christus. Diese Entsprechung ist nicht Tat des Menschen für sich, sondern Gottes Gabe. Sie ist getragen vom Geist seiner Gemeinschaft. Der Geist Gottes, in dem er schon früher Zuspruch, Geduld und Hoffnung schenkte und nun auch die Adressaten in Christus angenommen hat (Vers 7), lässt sie auch einander annehmen. Die Einmütigkeit erfüllt ihren Sinn vor allem darin, Gott einmütig, also mit einem Munde zu verherrlichen, und zwar als Vater Jesu Christi. Christus hat in seiner im Namen Gottes geschehenen Liebe zu uns Gott verherrlicht, damit wir Gott als seinen Vater verherrlichen. Gott zu verherrlichen heißt, ihn zu erkennen in der allumfassenden Weise, in der er als Schöpfer alles begründet, und in dem allumfassenden Heil, in dem er seine Gemeinschaft in Christus kommuniziert – und ihm in dieser Erkenntnis zu antworten. Zwar verherrlicht in diesem Sinn jedes Bekenntnis zu Christus, jede Verkündigung seiner Gemeinschaft, jede Tat im Namen seiner Liebe Gott als seinen Vater. Doch die einmütige Verherrlichung bedeutet oder zeigt, dass der eine Herr, der eine Geist seiner Kommunikation in Christus die Menschen bestimmt. Eine solche einmütige Verherrlichung mit einem Munde äußert und vollzieht sich paradigmatisch im gemeinsamen Gottesdienst: Durch das gemeinsame Bekenntnis, das gemeinsame Gebet und die Feier des Herrenmahls wird Gott als Vater Jesu Christi (Paulus greift hier evtl. eine liturgische Formel

127  Vgl. auch oben 12,16; ferner 2. Kor. 13,11 und vor allem (was die Gemeinschaft in Christus und ihre Entsprechung angeht) Phil. 2,2–8.

298

4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

auf )128 verherrlicht – denn in dieser Gemeinsamkeit erscheint der heilige Geist (der Geist der Gemeinschaft Gottes mit dem Menschen).

Vers 7 lässt sich auch als Beginn des folgenden Schlusses verstehen, denn er fasst den ganzen Abschnitt, der mit 14,1 begann129, vorläufig in der Ermahnung zusammen, im Streit um die im Glauben gegebene Freiheit Christus zu entsprechen: Wie Christus alle Menschen (Juden und Heiden) angenommen hat, letztlich indem er ihren Tod als Inbegriff ihres Fürsichseins teilte, so sollen auch die angesprochenen Gemeindeglieder einander in ihren Unterschieden annehmen. Denn indem sie zu Christus gehören, sind sie in ihm eins. So verwirklicht sich die Einmütigkeit des Gottesdienstes auch im Gemeindeleben. bb)  Fortsetzung und Schluss: Christus erfüllt die Verheißungen für Juden und alle Völker, so dass alle Gott verherrlichen: 15,8–13 8 Ich sage nämlich, dass Christus zum Diener der Beschneidung geworden ist um der Wahrheit (Wilckens: Verlässlichkeit) Gottes willen, um die Verheißungen an die Väter zu bestätigen,  9  dass die Heiden130 aber Gott verherrlichen (oder: rühmen) wegen des Erbarmens, wie geschrieben steht: „Darum werde ich dich preisen unter den Völkern (Heiden) und deinem Namen singen.“131 10 Und weiter heißt es: „Jubelt, [ihr] Heiden, mit seinem Volk.“132  11 Und weiter: „Preist, alle Heiden, den Herrn, und lobpreisen sollen ihn alle Völker.“133 12 Und weiter sagt Jesaja: „Es wird sein der Wurzelspross Isais, der sich erhebt, um über die Heiden zu herrschen, auf ihn werden die Heiden hoffen.“134 13  Der Gott der Hoffnung aber erfülle euch mit aller Freude und Frieden im Glauben, damit ihr an Hoffnung überreich werdet durch die Kraft des heiligen Geistes.

Der Abschnitt ist vom vorigen nicht gut zu trennen, obwohl die ab 14,1 bestimmende Ermahnung zu Einmütigkeit, die der Christusgemeinschaft entspricht, nun ganz in den Hintergrund gerückt ist. Doch die in den Versen 3 ff. eher nur angedeutete Einsicht, dass sich in der Hingabe Christi die Verheißung der Schriften erfüllt und dass sich die entsprechende Erfüllung des Sinns der Geschichte durch unser Sichverlassen auf Christus, in unserer Hingabe weiter vergegenwärtigt, klärt sich nun. Von der begonnenen Erfüllung der Verheißung in Christus her kommt es zu einem vergewissernden, freudigen Rückblick auf diese Verheißung  – nämlich dass auch alle Völker Gott verherrlichen werden. Da dieser Rückblick zugleich 128 

So M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 403 f. Also hier d) und e). 130  Zur syntaktischen Alternative vgl. M. Wolter, a. a. O. 2, S. 405 f. 131  Ps. 17,50. 132  Dtn. 32,43. 133  Ps. 116,1. 134  Jes. 11,10. 129 

e)  Ausweitung der Frage



299

ein Ausblick auf das ist, was gerade (nicht zuletzt durch das Apostolat des Paulus) geschieht, endet er mit einem erneuten (vgl. zuvor Vers 5) Zuspruch des göttlichen Segens: nun des Segens der Freude, der die Hoffnung auf Vollendung „überreich“ werden lässt. 8–12 Christi Hingabe (sein Dienst) erfüllte die Verheißungen für die Juden. Das zielt hier ausdrücklich zwar nur auf die Verheißung, dass die ganze Menschheit Gott erkennen und verherrlichen wird – setzt aber voraus, dass Christus die Verheißungen auch für die Juden erfüllt, indem seine Hingabe die abschließend (eschatisch) versöhnende Hingabe oder Liebe Gottes selbst darstellt. Diese versöhnende Liebe Gottes, der heilige Geist seiner Gemeinschaft, ist Inbegriff der „Verheißungen an die Väter“135.

Eben darin stellt Christus zugleich das Erbarmen Gottes dar, weswegen nun auch die Heiden beginnen, Gott zu verherrlichen. Er stellt das Erbarmen für Juden und Heiden dar, indem er (am Kreuz) die Getrenntheit und den Tod des Sünders, das Fürsichsein des Menschen überhaupt teilt, um ihm die Rechtfertigung (Gemeinschaft) aus Glauben zu eröffnen. In diesem Erbarmen verwirklicht Gott seine Herrschaft (Vers 12)136, die in den Israel gegebenen Schriften für alle Völker verheißen ist. Christus vollzieht also die „Wahrheit Gottes“ (Vers 8), indem sich die überlieferten göttlichen Verheißungen (Ps. 17,50; Ps. 116,1; Dtn. 32,43; Jes. 11,10) in ihm und durch ihn erfüllen – in diesem Sinn kann Paulus die Verheißung, dass die Heiden Gott verherrlichen werden, als gegenwärtige Wahrheit zitieren. Die Wahrheit Gottes ist insofern die Wahrheit seiner Verheißung. Dieser Verwirklichung des Erbarmens Gottes, so dass alle Völker Gott verherrlichen (also die Gnade seiner Gegenwart kommunizieren), dient auch Paulus (vgl. gleich Vers 16).

Wie verhält sich die „Wahrheit Gottes“ zu seinem „Erbarmen“ – wie erklärt sich der Unterschied zwischen der Hingabe Christi für die Juden um der Wahrheit Gottes willen und der Verherrlichung Gottes durch die Völker um seines Erbarmens willen? Vers 8 und 9 sind trotz der Verbindung von Wahrheit und Erbarmen nicht parallel aufgebaut. Zum einen geschieht die Hingabe Christi für die Juden, damit sich die Wahrheit Gottes erfüllt, also Gott sich in seinem geschichtlichen Verhältnis zu den Menschen, wie es sich in den Schriften (vgl. auch noch einmal Vers 4) ausdrückt, selber entspricht (dazu gleich). Zum anderen loben die Völker Gott für sein Erbarmen – es geht also um eine menschliche Entsprechung gegenüber Gott. Doch ist beides nicht zu trennen.

Christus stellt nicht nur das Erbarmen Gottes für alle Menschen dar, das auch die Heiden Gott verherrlichen lässt, sondern indem Christus die Wahrheit Gottes für die Juden darstellt oder vollzieht, vollzieht er dasselbe Erbarmen Gottes.137 135 

Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 408 f. entsprechenden Verhältnis von Juden und Heiden (Völkern) vgl. auch 1,16 f.; 3,29 f.; 10,12 f. 137  So hieß es auch in 11,30 f., dass die Juden jetzt Erbarmen finden (und zwar vermittelt über die Verstockung angesichts des Erbarmens gegenüber den Heiden). 136 Zum

300

4.  Das tägliche Leben der Christen: 12,1–15,13

Dass die Hingabe Christi für die Juden die Wahrheit Gottes vollzieht, heißt dabei im Blick auf den Menschen: In ihm vollzieht und erfüllt Gott die die Geschichte Israels prägenden Verheißungen seiner (schließlich alle Völker ergreifenden) Herrschaft und Gemeinschaft für das bereits geschichtlich gegebene Gottesverständnis Israels (als seine Bestätigung). Im Blick auf Gott heißt es: Eben darin vollzieht und erfüllt Gott seine Identität oder Selbstübereinstimmung für uns, seine Identität in der Geschichte seiner Offenbarungen, die zuerst die Geschichte Israels bestimmte. Diese Rede von der Wahrheit Gottes lässt sich aber systematisch noch ausziehen. Gott selbst vollzieht seine Wahrheit für uns, indem er im Verhältnis zu uns, in unserer Geschichte und schließlich in seiner Gemeinschaft mit uns, sich selbst, sein Leben vollzieht – beginnend mit der Schöpfung, dann insbesondere in der Bundesgeschichte Israels (vgl. 9,4 ff.,) sowie in jeglicher Offenbarung, und schließlich durch die in Christus vollzogene Versöhnung der „Welt“ (2. Kor. 5,19), also indem er sich, wie es die Offenbarung des Auferstandenen bedeutet, mit dem einsamen, leidenden Menschen am Kreuz identifiziert.

Der Unterschied besteht also darin, dass Gott den Heiden zuerst durch sein Erbarmen begegnet, in dem er jetzt – in Christus und durch seine Gegenwart in Verkündigung und Geist  – auch zu ihnen kommt, während für die Juden, die schon in der Geschichte des Gottesverhältnisses, mit seinen Verheißungen und seiner Hoffnung lebten, dasselbe Erbarmen zugleich die Wahrheit dieser Verheißungen und Hoffnung (also dieser Geschichte insgesamt) bestätigt. So weiß es der Jude Paulus als seinen Dienst, durch seine Predigt den Völkern den ihnen in den heiligen Schriften der Juden verheißenen Jubel zu eröffnen, mit dem sie, befreit von Sinnlosigkeit, Verlorenheit und Tod, Gott im Geist seiner Gemeinschaft verherrlichen – zusammen mit den Juden (Vers 10). Denn Jesus ist der verheißene Spross Isais, der Messias oder Christus, auf den die Völker hoffen (Vers 12).138 13 Ein erneuter, aber im Vergleich zu Vers 5 umfassenderer Segen schließt den 1,18 begonnenen theologischen Korpus des Briefes an die Römer ab. Er spricht die Hoffnung auf Vollendung zu. Von der Begründung dieser Hoffnung war die ganze Zeit die Rede. Die Hoffnung auf Versöhnung und Erlösung, die zu schenken in der Geschichte des Verhältnisses Gottes zu den Menschen durchgängig sein Wesen bezeichnete („der Gott der Hoffnung“), hat sich in Christus zu erfüllen begonnen. Deswegen ist der Segen, den Paulus zuspricht, nun wirklich in Kraft und greifbar. Im Glauben an Christus, der unseren Tod teilte und den Gott in der Gemeinschaft seines ewigen Lebens offenbarte, sind wir (die als Leser mit angesprochen sind) gerechtfertigt und angenommen, als für sich lebende 138  M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 413 gibt zahlreiche weitere Belege für Schriftstellen, die die Bedeutung der messianischen Herrschaft für die Völker oder Heiden betonen.

e)  Ausweitung der Frage



301

Sünder gestorben – so dass der verheißene erlöste Jubel, der Frieden mit Gott139 und dadurch mit den anderen Menschen, mit der Schöpfung, mit sich selbst, beginnt. Die Gemeinschaft Christi vollzieht sich als heiliger Geist Gottes und bestimmt das Denken, Wollen, Handeln oder hat es zu bestimmen begonnen. Das bedeutet, dass die Angesprochenen in ihr unterwegs sind, auf ihre Vollendung hin.140 Deswegen ist ihr Glauben, das Sichverlassen auf die Gemeinschaft Christi, immer auch ein Hoffen – aber nicht als Hoffnung auf etwas nur Gewünschtes oder Mögliches, aber Irreales, sondern eben als gewisses, sich im Leben jener Freude und jenes Friedens selbst verstärkendes Unterwegssein in dieser Gemeinschaft.

139  140 

Vgl. auch oben zu 5,1. Vgl. auch oben zu 8,23 (der Geist als Erstlingsgabe).

5.  Der Apostel und seine Leser: 15,14–16,27 a)  Paulus reflektiert seine Aufgabe. Christus wirkt durch ihn: 15,14–21 14 Ich bin aber überzeugt, meine Brüder, ich persönlich im Blick auf euch, dass auch ihr selbst voll guter Gesinnung seid, erfüllt von aller Erkenntnis und fähig, euch auch gegenseitig zurechtzuweisen.  15  Ich habe euch, teilweise, recht kühn geschrieben (Wolter: Ich habe euch mitunter ziemlich dreist geschrieben) als einer, der euch erinnert kraft der Gnade, die mir von Gott gegeben wurde (διὰ τὴν χάριν τὴν δοθεῖσάν μοι), 16 um ein Diener (λειτουργὸν) Christi Jesu unter den Heiden zu sein, der das Evangelium Gottes priesterlich ausrichtet (ἱερουργοῦντα τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ – Wolter: der die Verkündigung des Evangeliums Gottes als heilige Handlung betreibt), damit die Weihegabe (oder: Opfergabe) der Heiden wohlgefällig werde (Luther: auff daß die Heiden ein Opffer werden / Gott angenehme), geheiligt durch den heiligen Geist.  17  Ich habe also den Ruhm in Christus Jesus vor Gott (oder: bei dem, was Gott betrifft). 18 Denn ich erkühne mich nicht, von etwas zu reden, was nicht Christus durch mich gewirkt hat zum Gehorsam der Heiden (oder: um die Heiden zum Gehorsam zu führen) – mit Wort und Tat (oder: Werk), 19 durch die Kraft von Zeichen und Wundern, durch die Kraft des Geistes1. So habe ich von Jerusalem aus und ringsum bis Illyrien das Evangelium Christi erfüllt (πεπληρωκέναι τὸ εὐαγγέλιον – Wilckens: vollstreckt; Luther: alles mit dem Evangelio Christi erfüllet), 20 wobei es aber Ehrensache ist (οὕτως δὲ φιλοτιμούμενον; Wilckens: jedoch so, dass mein Ehrgeiz dahin geht; Wolter: ich habe es mir jedoch zum Prinzip gemacht), das Evangelium nicht dort zu verkündigen (εὐαγγελίζεσθαι), wo Christus [schon] genannt wurde, damit ich nicht auf fremdem Fundament aufbaue, 21 sondern wie geschrieben steht: „Denen nicht von ihm verkündet wurde, die werden sehen, und die nicht gehört haben, werden verstehen.“2

Nach Abschluss seiner Darstellung des Evangeliums als Kraft Gottes zur Rettung jedes Menschen, der sich darauf verlässt (1,16), und nach den auch ermahnenden Erörterungen des entsprechenden Lebens reflektiert Paulus noch einmal im Rückblick den Anspruch, den er mit seinem Brief verbindet, nämlich auch kritisch an eben die Grundbestimmungen des Glaubens und entsprechenden Lebens zu erinnern. Dies geschieht in Aufnahme des sog. Präskripts (1,1–7), wo er diesen Anspruch bloß voraussetzte: seine Berufung durch Christus, als Gesandter das Evangelium Gottes zu predigen und den Glauben unter den Völkern 1  2 

Die Ergänzung „des Geistes Gottes“ ist textkritisch unwahrscheinlich. Jes. 52,15.

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5.  Der Apostel und seine Leser: 15,14–16,27

Wirklichkeit werden zu lassen. Am Schluss führt er diese Begründung seines Anspruchs vielleicht auch deswegen ausführlicher biografisch ins Feld, um einen Übergang zur Ankündigung seiner aktuellen missionarischen Reisepläne zu schaffen, die auch einen Besuch in Rom sinnvoll erscheinen lassen (15,22 ff.). Ich folge hier in meiner Darstellung der geläufigen Einteilung. Der Text ließe sich aber auch anders unterteilen: In 15,14–19b reflektiert Paulus seinen Anspruch und seine Autorität – als Autor des Briefes und als Apostel überhaupt. In 19c–33 skizziert er von da aus sein bisheriges und sein geplantes Verkündigungsprojekt unter den Völkern.

14–15 (16) Paulus hat die Gemeinde in Rom durchaus „kühn“ angesprochen (Vers 15) – eindeutig und mitunter in herausfordernd klarer Abgrenzung hatte er die Rechtfertigung aus Glauben, ohne Werke des Gesetzes betont, das Gestorbensein des alten, für sich lebenden Menschen mit Christus, und im Blick auf konkrete Lebenssituationen ermahnt, im Moment der wiederkehrenden Versuchung des Fürsichseins die Christus entsprechende Gemeinschaft auch Wirklichkeit werden zu lassen. Ob und inwiefern er dabei auf ihm konkret bekannte Verirrungen anspielte, ist nicht genau zu sagen. Die Verse 14 und 15 beziehen sich nicht nur, wie etwa Wolter meint, auf die „ethische Erkenntnis“. Zwar stehen die Ausdrücke der „Gesinnung“ und des Zurechtweisens sonst vor allem in ethischem Kontext3, doch die Erkenntnis, die Paul bei den Römern voraussetzt, und sein Erinnern bezieht sich doch auf den gesamten Umfang seiner Berufung als „Diener Christi“ (Vers 16), also auch auf die Glaubenslehre.

Diesen starken, kritisch-autoritativen Anspruch relativiert Paulus hier zum einen ein wenig, zum anderen begründet er ihn noch einmal ausführlich mit seiner bestimmten göttlichen Berufung, den Völkern das Evangelium zu vermitteln. Letzteres geschieht in den Versen 15 und 16 – in den Versen 17 f. wird er diese Begründung durch die Behauptung seiner dieser Berufung entsprechenden Gemeinschaft mit Christus bekräftigen.

Paulus relativiert den kritisch-autoritativen Anspruch, indem er erneut (wie schon z. B. 8,9.15; 14,6) zu erkennen gibt, dass er von der Zugehörigkeit zu Christus bei den Adressaten ausgeht, so dass sie sich die kritisch-konstruktive (aufbauende) Begleitung (Episkopé) auf der Grundlage des Geistes seiner Gemeinschaft auch gegenseitig geben können. Auch seine kritisch bestimmte Lehre und Ermahnung zum wahren Leben war als Erinnerung an das gedacht, was den Adressaten als an Christus Glaubenden an sich oder im Kern schon bewusst ist. Der Grund dafür, dass diese Erinnerung authentisch ist, liegt aber eben in der besonderen Zuwendung Gottes („kraft der mir von Gott gegebenen Gnade“), mit der er ihn zu seiner Aufgabe berief. 16 Die besondere Zuwendung Gottes bedeutet, dass sich in seinem Erinnern die Gemeinschaft Christi selber vermittelt. 3 

Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 421 f.



a)  Paulus reflektiert seine Aufgabe. Christus wirkt durch ihn: 15,14–21

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Entsprechend kann der Beweis dieser Authentizität und damit Autorität für die Adressaten letztlich nur im mit Pauli Verkündigung oder Lehre gegebenen Ereignis des entsprechenden Geistes, der entsprechenden Gemeinschaft liegen.4

Paulus ist von Gott berufen, den Völkern gleichwie ein Priester zu sein, der für sie als Liturg Christi das Evangelium gottesdienstlich vollzieht – eben dazu gehört im weiteren Sinn auch die Aufgabe, eine schon bestehende Gemeinde im genannten Sinne zu erinnern. Am Anfang des Briefes hatte er sich als Sklave Christi, ausgesondert zur Predigt des Evangeliums, vorgestellt (1,1) und auch dort in gottesdienstlichem Vokabular von seinem Dienst am Evangelium geredet (1,9).

Für Heiden das Evangelium priesterlich ausrichten oder gottesdienstlich vollziehen, heißt, durch seine Verkündigung die Gemeinschaft Christi in ihrem Glauben und Leben (vgl. 12,1: das „Opfer der Leiber“, das Leben in Hingabe als Gottesdienst) Wirklichkeit werden zu lassen. Damit werden sie Gott dargebracht  – dieser Ausdruck, der dem Gedanken der priesterlichen Verwirklichung des Evangeliums entspricht, ist mehr als eine Metapher. Er bedeutet, dass Paulus die Kommunikation des Evangeliums so versteht, dass die versöhnende Kommunikation zwischen Gott und Mensch, das Heil der Hingabe, indem es nun in Christus konzentriert ist, die Völker einbezieht. Durch Verkündigung, Glauben und Leben werden die Heiden geheiligt durch den Geist der Gemeinschaft Christi, „in das Eigentum Gottes“ übereignet (Wolter)5 und von Gott angenommen. Dabei vollzieht diese ‚wohlgefällige‘ Annahme, also ihre Rechtfertigung aus Gnade, nur für sie als Glaubende, was in Christi Kommen und Kreuzestod vollzogen ist. Ihre Hingabe in Glauben und Leben, hier durch Paulus als Medium der Gemeinschaft Christi vermittelt, setzt ja Christi Hingabe für sie voraus. So werden sie geheiligt, d. h. in ihrem Denken, Wollen und Leben von der Gemeinschaft Gottes bestimmt – eben durch den Geist Gottes, der sie als Gottes Kommunikation vollzieht. 17–19b Der Ruhm, also die menschliche Anerkennung, die Paulus im Blick auf die Fragen des Gottesverhältnisses6 zukommt und die er auch in Anspruch nimmt, kommt ihm nicht in seinem Fürsichsein zu, sondern ihm in seiner Gemeinschaft mit Christus  – indem Paulus in ihm lebt7 und dieser in Paulus (Gal. 2,20), indem er also durch ihn wirkt (was immer auch ein Moment der kommunikativen Differenz einschließt, in der Christus Gegenstand des Sichverlassens ist). Es ist Christus selber, der seine Gemeinschaft vollziehende Geist 4  In diesem Sinn redet Paulus in 1. Kor. 2,4 f. davon, dass seine Verkündigung mit dem Erweis des Geistes und der Kraft Gottes geschieht. 5  A. a. O. 2, S. 426. 6  Zum Sprachgebrauch von τὰ πρὸς τὸν θεόν, wie er sich auch in Hebr. 2,17 findet, vgl. M. Wolter Der Brief an die Römer 2, S. 427 f. 7  Vgl. 12,5 und Gal. 3,26.28: durch das Sichverlassen auf Christus sind alle in ihm einer.

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5.  Der Apostel und seine Leser: 15,14–16,27

Gottes, der durch die Glaubenskommunikation des Paulus bewirkt, dass die Völker das Gericht über den alten, für sich lebenden Menschen verstehen, dass sie mit Christus sterben und neu in der Freiheit seiner Gemeinschaft, ihres göttlichen Geistes zu leben beginnen.8 Paulus betont hier (wie selten – vgl. noch 2. Kor. 12,12), dass die Christusgemeinschaft nicht nur dadurch wirkt, dass er sie verkündigt, sondern auch durch die sichtbare Tat, durch „Zeichen und Wunder“9 – in allem aber durch die Kraft des Geistes Gottes. Das Sich-Kommunizieren der göttlichen Gemeinschaft kann auf eine die Grenzen des Verstandes überschreitende Weise auch das Leben als leibliches und die Dinge umfassen.

19c–21 So wie Paulus schon bisher im weiten Umkreis der bekannten Welt den Völkern das Evangelium eröffnet und insoweit seine Berufung zum Diener Christi (zum Mittler seiner Gemeinschaft) erfüllt hat, so will er dies demnächst im fernen Westen fortsetzen (dazu 15,23 ff.). Eine präzise Angabe des geographischen Umfangs seiner bisherigen Mission ist nicht zu entnehmen, zumal Jerusalem kaum ihren geographischen Ausgangspunkt, sondern eher den geistigen oder geschichtlichen Ursprung, die geistige Mitte bezeichnet.10

Wenn Paulus herausstellt, das Evangelium grundsätzlich nicht dort verkündigen zu wollen, wo Christus schon bekannt wird, also Gemeinden Christi schon grundgelegt sind11, so mag dies vor allem12 darin begründet sein, dass er eben seine besondere Aufgabe und sein Charisma in der Erstverkündigung sieht. Das Zitat von Jes. 52,15, wo von der Verkündigung des leidenden Gottesknechts gegenüber den Heiden und ihrem Verstehen die Rede ist, deutet vielleicht an, dass er gerade bei der Erstverkündigung unter den Heiden mit einem gottgegebenen, ursprünglichen Verstehen rechnet, dem er zu dienen hat. Zugleich gibt er den Römern wie schon in Vers 14 zu verstehen, dass er sie grundsätzlich in ihrem bereits gegebenen Glauben respektiert und nur an seine Wahrheit kritisch erinnert hat.

8 

Vom Gehorsam des Glaubens redete Paulus auch in 1,5. und Tat sowie Zeichen und Wunder sind geläufige Formeln (vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 430). Wort und Tat bezeichnet hier das ganze vom Wirken Gottes bestimmte Leben eines Menschen; konkrete Zeichen und Wunder des Paulus sind literarisch nicht zu identifizieren. 10  Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 119 f. 11 Zum entsprechenden Sprachgebrauch des Grund- oder Fundamentlegens vgl. auch 1. Kor. 3,4–23. 12  Auch das allgemein sittliche Motiv, sich nicht mit dem Werk anderer rühmen zu wollen, könnte eine Rolle spielen – wobei aber so oder so der erfolgreiche Prediger sich nur „des Herrn“ rühmen kann: vgl. 2. Kor. 10,16 f.  – M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 433 vermutet zudem, dass Paulus Konflikte zwischen einer ‚fremden‘ gemeindegründenden Theologie und seiner eigenen Predigt oder Lehre vermeiden will. 9 Wort



b)  Reise- und Besuchspläne sowie ein Aufruf, Fürbitte zu halten: 15,22–33

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b)  Reise- und Besuchspläne sowie ein Aufruf, Fürbitte zu halten: 15,22–33 22 Daher bin ich auch die vielen Male gehindert worden, zu euch zu kommen.  23  Jetzt aber habe ich keinen Raum (Wolter: kein Betätigungsfeld) mehr in diesen Ländern, habe aber seit vielen Jahren das Verlangen, zu euch zu kommen,  24  sobald ich nach Spanien reise. Ich hoffe nämlich, euch auf der Durchreise zu sehen und von euch dorthin geleitet zu werden, wenn ich euch zuvor einigermaßen genossen habe (Luther: zuvor mich ein wenig mit euch ergetze).   25 Jetzt aber reise ich nach Jerusalem, um den Heiligen zu dienen.  26  Denn Makedonien und Achaia haben beschlossen, eine Sammlung (κοινωνίαν τινὰ  – wörtlich: eine Gemeinschaft; Wilckens: eine Gemeinschaftsaktion) für die Armen unter den Heiligen in Jerusalem durchzuführen. 27 Sie haben es nämlich beschlossen und sind es ihnen auch schuldig. Denn wenn die Heiden an ihren geistlichen [Gütern] Gemeinschaft erlangt haben (ἐκοινώνησαν), dann sind sie auch schuldig, ihnen mit fleischlichen [Gütern] zu dienen.  28  Wenn ich dies also beendet und ihnen diese Frucht versiegelt habe, will ich über euch nach Spanien ziehen. 29 Ich weiß aber, wenn ich zu euch komme, werde ich mit der Fülle des Segens Christi kommen.   30 Ich rufe euch aber auf, Brüder, bei unserem Herrn Jesus Christus und bei der Liebe des Geistes (Wolter: um unseres Herrn Jesus Christus … willen), mir mit den Gebeten für mich zu Gott beizustehen, 31 damit ich vor den Ungehorsamen in Judäa errettet (oder: bewahrt) werde und mein Dienst für Jerusalem den Heiligen wohlgefällig (oder: willkommen) sei, 32 damit ich, so Gott will, mit Freude zu euch komme und mich mit euch zusammen erholen kann. 33 Der Gott des Friedens sei mit euch allen. Amen.

Paulus wollte schon lange die Gemeinde in Rom besuchen (vgl. auch schon 1,9–15). Zwar hat er sie nicht durch seine Verkündigung begründet, doch kennt er viele ihrer Mitglieder namentlich und intensiv, ist mit ihnen lebensgeschichtlich nicht zuletzt durch gemeinsame Missionsarbeit verbunden (vgl. 16,3–15). Außerdem ist er gewiss, dass er sie, auch wenn der Geist der Gemeinschaft Christi schon in ihr lebendig ist, durch den Segen Christi (Vers 29), also die geistigen Güter der Christusgemeinschaft, weiter bereichern kann. Freilich hat er dabei auch etwas zu erwarten. Da sein Auftrag, den nichtjüdischen Völkern das Evangelium zu eröffnen, im Osten erfüllt ist (15,19) – wachsen müssen die Gemeinden nun selbst – und somit ein bisheriger, im göttlichen Auftrag liegender Hinderungsgrund entfällt, kann der Besuchswunsch wohl bald erfüllt werden. Doch weiß der Apostel sein Leben und Wirken insgesamt unter der Bestimmung seiner Berufung. Auch wenn er die Gemeinschaft der römischen Christen genießen (Vers 24), sich in ihr erholen will (Vers 32) – dafür, etwas für sich zu begehren und nicht auch zugleich für die Gemeinschaft des wahren Lebens, für die Gemeinschaft Christi, gibt es keinen Raum. So soll auch der Besuch in Rom der apostolischen Aufgabe dienen, diese Gemeinschaft der Menschheit zu eröffnen, nun im Westen,

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5.  Der Apostel und seine Leser: 15,14–16,27

in „Spanien“.13 Paulus erwartet neben persönlichem Geleit vermutlich auch logistische Unterstützung im weiteren Sinn. Abgesehen davon, dass die gemeinsame Zugehörigkeit zu Christus das Entscheidende ist, sieht Paulus sein Verhältnis zur Gemeinde in Rom in einer gewissen Asymmetrie, die dem asymmetrischen Verhältnis von Geben und Nehmen im Verhältnis zwischen der Jerusalemer Gemeinde und den heidenchristlichen Gemeinden (gemäß der Verse 26 f. – dazu gleich) entspricht. So wie die heidenchristlichen Gemeinden jenen, die ihnen die (zunächst Israel eigene) Geschichte des Gottesverhältnisses allererst eröffnet haben, dafür materielle Unterstützung schuldig sind, so sieht Paulus das Verhältnis der römischen Gemeinde zu ihm selbst: Wenn er sie durch Predigt im geistlichen Leben stärken (so schon 1,11–15) und ihnen die Fülle des Segens Christi mitbringen (Vers 29) will, so erwartet er im Gegenzug von ihnen primär praktische Unterstützung.

Vor einer Romreise ist ein weiterer Dienst notwendig – ein Dienst für die Jerusalemer Gemeinde, der aber im Grunde ein besonderer Dienst an der Gemeinschaft zwischen Judenchristen und Heidenchristen ist. Paulus will die lange zuvor auf dem sog. Apostelkonvent beschlossene, von den heidenchristlichen Gemeinden für die Jerusalemer Urgemeinde14 bestimmte und nun eingesammelte Kollekte übergeben. Auf die historischen Umstände braucht hier nicht eingegangen zu werden.15 Immerhin sei der biografisch bedeutsame Zusammenhang erwähnt, dass Paulus mit den beiden damit verbundenen Befürchtungen, wegen derer er zur Fürbitte auffordert (in den Versen 30 f.), auf Umstände verweist, die tatsächlich dann zu seiner Verhaftung, zu seiner Verbringung nach Rom und letztlich zu seiner dortigen Hinrichtung geführt haben könnten. Die eine Befürchtung richtet sich auf eine direkte Anfeindung durch „nichtchristliche Juden in Judäa“16 (vgl. schon 11,30–32).17 Die andere, die von der ersten vielleicht nicht ganz zu trennen ist (sofern auch sie eine mögliche jüdische Abgrenzung im Blick hat), liegt in der Frage, ob seine Überbringung der heidenchristlichen Unterstützung von der Jerusalemer Gemeinde wirklich angenommen werden wird. Täte sie das – entgegen der Vereinbarung auf dem Apostelkonzil – nicht, würde dies die Gemeinschaft der Judenchristen mit den Heidenchristen in Frage stellen.18 13  Nach M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 439 f. steht Spanien hier im weiteren Sinne für den Rand der bekannten Welt im Westen. 14  Paulus nennt sie in Vers 25 und 31 die Heiligen; ansonsten kann er aber auch die christliche Gemeinde überhaupt als die Heiligen bezeichnen (vgl. 1,7; 12,13; 16,2.15), also als die in Glauben und Taufe vom Geist der Gottesgemeinschaft Bestimmten. 15  Vgl. (etwa zu der Frage, warum Paulus hier von einem Beschluss der Gemeinden in Makedonien und Achaia redet) M. Wolter, a. a. O. 2, S. 443 f. Von Paulus ist noch Gal. 2,9 f., 1. Kor. 16,1–4 und 2. Kor. 8 f. zu vgl. 16  Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 449 f. 17 Er nennt sie die „Ungehorsamen“, weil sie der Verkündigung des Evangeliums von Christus als definitiver Erfüllung der Offenbarungsgeschichte Gottes nicht folgen. 18  Vgl. U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 129 f.; ferner M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 451 f. – Dies ist womöglich im Zusammenhang mit dem sog. antiochenischen Konflikt mit Petrus über die Frage der Tischgemeinschaft zwischen Juden- und Heidenchristen zu sehen (vgl. Gal. 2,11–14): vgl. M. Wolter, Paulus, S. 44–51, besonders 50.

b)  Reise- und Besuchspläne sowie ein Aufruf, Fürbitte zu halten: 15,22–33



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Von Bedeutung für das Kirchenverständnis ist, wie Paulus die Motivation der Sammlung versteht. Schon sprachlich drückt sich aus, dass sie Audruck der Gemeinschaft sein soll (so die Verse 26 f.).19 Dabei lassen sich drei Ebenen des Verhältnisses von Gebenden und Nehmenden unterscheiden. Zugrunde liegt die allgemeinere Bedeutung, dass die Gemeinschaft in Christus, wie sie sich als Gemeinschaft des Gottesdienstes und den Glaubens zeigt, auch eine Gemeinschaft tätiger Liebe ist, in der die Bedürftigen versorgt und auch die Güter des leiblichen Lebens entsprechend geteilt werden. Im Besonderen bedeutet das für Paulus auch, dass der geistliche Dienst für die Gemeinde – wie auch sein eigener Predigt- und Lehrauftrag – eine leibliche Versorgung durch die Gemeinde verdient.20 Die dritte Ebene, die hier hervortritt, verbindet diese beiden Bedeutungen: Das Verhältnis der judenchristlichen Gemeinde zu den heidenchristlichen Gemeinden entspricht dem Verhältnis zwischen dem geistlichen Amt oder Dienst und der zur Versorgung verpflichteten Gemeinde. Denn die Judenchristen sind als solche wie Priester und Lehrer für die Heidenchristen, da diese an der Offenbarungsgeschichte, an der Erfüllung der Verheißungen21 Gemeinschaft gewonnen haben, kurz: an den geistlichen Gütern, die zuerst den Juden zukamen und die diese zuerst vermitteln. Zwar betont Paulus, dass die Einbeziehung der Heiden Gottes Gnade ist und dass auch seine eigene Predigt unter den Völkern als Christi Wirken durch ihn zu verstehen ist (vgl. noch einmal 15,9–12 und 18 f.). Gleichwohl ist diese Gnade eben menschlich, durch Juden in ihrer älteren Offenbarungsgeschichte vermittelt. Die Heidenchristen dagegen haben als solche für Paulus an geistlichen Gütern offenbar nichts nennenswertes in die Gemeinschaft einzubringen. Dass Paulus angesichts jener Befürchtungen die römische Gemeinde zur Fürbitte für sich aufruft (und ihr insofern doch, als Gemeinde Christi überhaupt, priesterliche Kompetenz zuschreibt), ist in der Gemeinschaft begründet, die Jesus Christus als gemeinsamer Herr bedeutet22; die Fürbitte ist eine Forderung der Liebe, die der Geist dieser Gemeinschaft freisetzt. Die Bitte möge Gott bewegen, das Befürchtete nicht eintreten zu lassen, also die menschliche Feindschaft zu überwinden und die Gemeinschaft des heiligen Geistes fortschreiten zu lassen. Der Schlusssegen greift die Formulierungen in Vers 5 und 13 abschließend auf, mit dem Amen definitiv besiegelt. So wie die Gemeinschaft Gottes in Christus Geduld und Eintracht sowie Hoffnung gewährt, so gewährt Gott schließlich durch dieses Mit-Sein Frieden – nicht zuletzt den Frieden zwischen Judenchristen und Heidenchristen. 19 

Vgl. auch den Sprachgebrauch in 2. Kor. 8,4 und 9,13. Vgl. 1. Kor. 9,4–14 – Paulus beruft sich dabei auf Regelungen zum Tempeldienst Israels und das Jesuswort nach Lk. 10,7. Vgl. ferner Phil. 4,15 f. und Gal. 6,6. 21  Hier ist an 11,17–24 zu erinnern. 22  Zu parallelen Texten vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 448. 20 

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5.  Der Apostel und seine Leser: 15,14–16,27

Dabei ist der Segen nicht nur ein subjektiver Wunsch, sondern indem der Zuspruch vom Zugesprochenen (von der in der Christusgemeinschaft begründeten Geduld, Eintracht, Hoffnung, von dem in der Christusgemeinschaft begründeten Frieden) bereits getragen ist, beginnt das Zugesprochene im Zuspruch weiter zu wirken.

Das, was Paulus mit seinem Brief sagen wollte, ist nun gesagt.

c)  Empfehlung und Grüße: 16,1–16 1 Ich empfehle euch nun unsere Schwester Phöbe, die Diakonin der Gemeinde (οὖσαν διάκονον τῆς ἐκκλησίας) in Kenchreä ist, 2 dass ihr sie im Herrn aufnehmt, wie es sich für die Heiligen gebührt, und ihr in jeder Angelegenheit beisteht, in der sie euch braucht. Denn auch sie ist vielen Beistand gewesen, auch mir selbst.   3 Grüßt Prisca und Aquila, meine Mitarbeiter in Christus Jesus, 4 die für mein Leben ihren eigenen Hals hingehalten haben, denen nicht nur ich dankbar bin, sondern auch alle Gemeinden der Heiden,  5  und die Gemeinde in ihrem Haus. Grüßt meinen geliebten Epänetus, der die Erstlingsgabe Asiens für Christus ist. 6 Grüßt Maria, die sich viel für euch abgemüht hat. 7 Grüßt Andronikus und Junia, meine Stammverwandten und meine Mitgefangenen, die unter den Aposteln hochangesehen und sogar vor mir Christen geworden sind (Luther: vor mir gewesen in Christo – πρὸ ἐμοῦ γέγοναν ἐν Χριστῷ). 8 Grüßt meinen im Herrn geliebten Ampliatus. 9 Grüßt Urbanus, unseren Mitarbeiter in Christus, und meinen geliebten Stachys. 10 Grüßt Apelles, den in Christus bewährten. Grüßt die, die zu denen [aus dem Haus] des Aristobul gehören. 11 Grüßt Herodion, meinen Stammverwandten. Grüßt die, die zu denen [aus dem Haus] des Narzissus gehören, die im Herrn sind. 12 Grüßt Tryphäna und Tryphosa, die sich im Herrn abmühen. Grüßt Persis, die geliebte, die sich viel im Herrn abgemüht hat. 13 Grüßt Rufus, den im Herrn Erwählten, und seine Mutter, [die] auch meine [ist]. 14 Grüßt Asynkritus, Phlegon, Hermes, Patrobas, Hermas und die Brüder bei ihnen.  15  Grüßt Philologus und Julia, Nereus und seine Schwester und Olympas sowie alle Heiligen bei ihnen.  16  Grüßt einander mit dem heiligen Kuss. Es grüßen euch alle Gemeinden Christi. Die Empfehlung für Phöbe, die Überbringerin des Briefes, und die zahlreichen Grüße sind eine Fundgrube für den Versuch, Konkretes zu den frühen christlichen Gemeinden zu erfahren – vor allem, wenn der Text im Kontext der Apg. gelesen wird.23 Ich beschränke meine Darstellung aber auf Beobachtungen, die die Missionstätigkeit des Paulus und sein Verhältnis zur römischen Gemeinde betreffen, sowie auf Beobachtungen, die für die Theologie der Gemeinde oder Kirche von Bedeutung sein können.

Die Gemeinde in Rom organisierte sich offensichtlich zu dieser Zeit in einer Vielzahl von Hausgemeinden. Zugleich ist eine intensive Kommunikation zwischen diesen Hausgemeinden anzunehmen – man kannte sich, wusste voneinander, so dass die Gemeinden eine christliche Öffentlichkeit bildeten. Paulus 23 

Vgl. nur z. B. Apg. 18 zu Prisca und Aquila.



c)  Empfehlung und Grüße: 16,1–16

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selbst konnte offenbar auf intensive persönliche Beziehungen zu wichtigen Gliedern der römischen Gemeinde zurückgreifen, auch wenn er andere, die er grüßt, anscheinend nur vom Hörensagen kennt. Jedenfalls sind weder die real mögliche Mobilität und noch auch die nachrichtliche Vernetzung zu dieser Zeit im römischen Reich zu unterschätzen. Allerdings gibt es auch Hinweise darauf, dass sich der Stand der Kenntnisse über die römischen Gemeinde, über die Paulus verfügt, auf eine schon weiter zurückliegende Zeit bezieht.24

Wie die von Paulus genannten Namen (und die Hinweise auf die „Stammverwandten“) zeigen, gehörten der Gemeinde neben einer Mehrzahl von Heiden (Römern oder auch Griechen, das lässt sich den Namen nicht immer eindeutig entnehmen) auch eine Reihe von Juden an, zudem Sklaven oder Freigelassene.25 Im Vergleich zum zeitgeschichtlich Üblichen auffällig ist die tragende Rolle auch von Frauen. Sie setzen sich für die Gemeinde ein und übernehmen wesentliche Aufgaben. Auch wenn die in den Versen 1–2 genannte Phöbe kein förmliches Diakonenamt innehatte – schon deshalb nicht, weil es ein solches, fest definiertes Amt damals noch nicht gab – und auch wenn „Beistand“ (προστάτις in Vers 2) nicht im Sinne eines Leitungsamtes zu übersetzen ist, so erscheint Phöbe doch nicht nur als in Christus gleiches Gemeindeglied, sondern als ein solches, das Verantwortung für die Gemeinde trägt.26   Zu Vers 7 wird diskutiert, wie es zu verstehen ist, wenn neben Andronikus auch seine Frau Junia Apostel genannt wird – wenn denn die Übersetzung, sie seien unter den Aposteln (und nicht: bei den Aposteln) angesehen, überhaupt richtig ist. Auch wenn wohl der Ansicht zu widersprechen ist, Junia würde zu einem fest definierten, herausgehobenen Kreis von Aposteln gerechnet (es gab zu dieser Zeit einen solchen Kreis nicht) – so können doch wahrscheinlich Mann und Frau Apostel genannt werden, weil sie offensichtlich beide berufen waren, Missionare Christi zu sein (Wolter: „Wandermissionare“).27

Entscheidend ist, dass das Im-Herrn-Sein die Gemeinschaft begründet. Im Herrn sind die Gemeindeglieder aufzunehmen (Vers 2), die Mitarbeiter sind Mitarbeiter in Christus (Vers 3 und 9), sie sind im Herrn geliebt (Vers 8), in Christus bewährt (Vers 10), im Herrn mühen sie sich (Vers 12), im Herrn sind sie erwählt (Vers 13) – überhaupt sind die Gemeindeglieder die, die im Herrn sind (Vers 11).

Das heißt, die Gottesgemeinschaft in Christus, oder: die allein im Glauben an seine Gemeinschaft gegebene Rechtfertigung vor Gott, impliziert das Mitgestorbensein des alten Menschen mit den ihm wesentlichen natürlichen und gesellschaftlichen Abgrenzungen – das Leben in dieser Gemeinschaft hat diese 24  So ist es wahrscheinlich, dass die in Vers 10 f. genannten Aristobul und Narcissus, wenn denn ihre gängige historische Verifizierung richtig ist, zur Abfassungszeit bereits tot waren – vgl. dazu M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 479. 25  Vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 467. 26  Vgl. M. Wolter, a. a. O. 2, S. 462. 27  Zur Diskussion vgl. M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 475–477.

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5.  Der Apostel und seine Leser: 15,14–16,27

Abgrenzungen überschritten und beginnt auch, die ihnen entsprechenden Strukturen ungleicher Teilhabe am gemeinsamen Leben in Frage zu stellen. Das gemeinsame Leben ist nun wesentlich durch die Liebe und den Einsatz bestimmt, die diese Gemeinschaft bei allen freisetzt. Als Metapher für diese Gemeinschaft erscheint die Familie, also die Zusammengehörigkeit der Geschwister und die Fürsorge zwischen Eltern und Kindern. Während aber die natürliche Familie (ihre Gemeinschaft) zugleich den Unterschied der Familienzugehörigkeit begründet, können hier alle Glieder der Gemeinde als Brüder oder Schwestern angesprochen werden, und die Mutter des Einen ist zugleich Mutter des Anderen (vgl. Vers 13), d. h. das fürsorgliche Verhältnis zur „Mutter“ ist entgrenzt. Entsprechend überschreitet Paulus in Vers 16 die Ebene der konkreten Grüße an einzelne Gemeindeglieder, indem er die ganze angesprochene Gemeinde oder Kirche auffordert, sich im Sinn dieser Gemeinschaft zu begegnen, d. h. zu grüßen. Der Kuss, mit dem sich alle einander begrüßen sollen, ist im kulturgeschichtlichen Kontext der Kuss, in dem sich die Gemeinschaft der Familie in der Begegnung dokumentiert (vgl. auch 1. Kor. 16,20).28 Heilig ist er, weil diese Gemeinschaft, die sich in ihm ausdrückt, nun die Gemeinschaft Christi ist. Wenn aber ein Gemeindeglied im Namen dieser Gemeinschaft grüßt oder begegnet, so grüßen oder begegnen „alle Gemeinden Christi“ – nicht numerisch real, sondern weil alle zusammen ihre Einheit in Christus haben. In jeder einzelnen Kommunikation des Evangeliums begegnet seine Gemeinschaft.

e)  Warnung vor Spaltern und falscher Lehre. Am Ende wird alles gut: 16,17–20 17 Ich ermahne euch aber, Brüder, achtzuhaben auf die, die Zwistigkeiten und Ärgernisse anrichten entgegen der Lehre (Wolter: in Abweichung von der Lehre), die ihr gelernt habt. Und haltet euch von ihnen fern! 18 Denn solche Leute dienen nicht unserem Herrn Christus, sondern dem eigenen Bauch, und mit schönen Reden und wohlklingenden Worten (διὰ τῆς χρηστολογίας καὶ εὐλογίας) täuschen sie die Herzen der Arglosen.  19  Euer Gehorsam ist ja bei allen bekannt (wörtlicher: zu allen gelangt). Darum freue ich mich auch an euch, möchte aber, dass ihr weise seid zum Guten, unfehlbar jedoch im Blick auf das Böse. 20 Der Gott des Friedens aber wird in Kürze den Satan unter eure Füßen zertreten. Die Gnade unseres Herrn Jesus sei mit euch.

Die Verse 17–20a scheinen auf den ersten Blick hier, zwischen den Grüßen an die Gemeinde und dem abschließenden Segensgruß, unpassend. Unvermittelt warten sie nach den Grüßen mit einer erneuten Ermahnung oder eher Warnung auf, die mit dem Ausblick auf die bevorstehende endgültige Überwindung durch 28 

Vgl. dazu M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 481 f.



e)  Warnung vor Spaltern und falscher Lehre. Am Ende wird alles gut: 16,17–20

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Gott schließt. Auch in ihrem ernsten Ton scheinen die Verse die freundlichen Grüße des Paulus von den ebenso freundlich entspannten Grüßen der Mitarbeiter zu trennen. – Mit Gewissheit ist dieser Umstand nicht zu klären, aber der Vergleich mit 1. Kor. 16,20–24 legt nahe, dass eine abschließende Abwehr antichristlicher Mächte vor dem letzten Segensgruß gebräuchlich war – und von Paulus hier breiter ausgeführt wurde.29 Zwar bleibt die Warnung vor denen, die durch ihre Reden die Gemeinde zertrennen, indem sie in Wahrheit dem Evangelium widersprechen, ganz unkonkret und allgemein. Doch zeigt gerade diese Allgemeinheit sowie der Hinweis auf Satan als allgemeiner Macht des Gottwidrigen30 schlechthin (Vers 20) an, dass Paulus abschließend eine ganz grundsätzliche Bedrohung des begonnenen Heils in den Blick rücken will. Das mag die prominente Stellung der Warnung begründen. Die vermeintlichen Christen, vor deren verführenden Reden Paulus warnt, stellen die Orientierung an der Lehrgestalt des Glaubens in Frage, relativieren gut und böse und spalten so die Gemeinde.31 Paulus versteht sie als in Wahrheit alte Menschen, die nur sich selbst, d. h. ihrer eigenen, leiblichen Wohlfahrt dienen.32 Was Paulus hier in den Blick nimmt, ist also die Gefahr einer inneren Perversion der Kirche im Zug der verbliebenen oder sich wiederherstellenden Macht der Sünde. Eben diese sich wiederherstellende Macht der Sünde oder sogar ihr sich wiederherstellendes Gesetz (vgl. oben zu 7,23; 8,2) machte immer wieder in der Kirchengeschichte Reformationen nötig. Das Wahrheitskriterium ist das Evangelium, das Paulus hier wie in 6,17 als konkrete Lehre pointiert. Insbesondere um den Gegensatz zwischen dem Evangelium und jenen gefälligen, christlich zu sein beanspruchenden Reden zu realisieren, ist das Evangelium als Lehre zu verstehen (zu lernen) und festzuhalten. Nur die wahre Lehre des Evangeliums, indem sich die Gemeinschaft Christi in ihm vermittelt, stiftet die Gemeinschaft der Gemeinde – während jene schönen Reden die Gemeinschaft zerrütten. Das Verstehen und Festhalten (Gehorsam) spricht Paulus den Römern zwar zu, aber eben doch nicht so selbstverständlich, dass er sie nicht vor jener Gefahr warnen und zur Unterscheidung der Lehre ermahnen müsste (Vers 19).

29  So auch U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 139 f. (mit Referat der entsprechenden Diskussion). 30  Bei Paulus erscheint er auch als „Gott dieser Welt“, der verhindert, dass die Ungläubigen das „Licht des Evangeliums von der Herrlichkeit Christi“ sehen (2. Kor. 4,3 f.), also als allgemeine, personale Macht der Verblendung und Sünde. 31 Ob sich das hier mehr auf die Lehre des Evangeliums selbst oder auf falsche Konsequenzen, das Gemeindeleben betreffend, bezieht, kann offen bleiben. 32 M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 490 zeigt, dass die Redeweise „dem eigenen Bauch dienen“ zeitgenössisch stereotyp ist.

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5.  Der Apostel und seine Leser: 15,14–16,27

Paulus hält dieser Gefahr eine grundlegende Gewissheit (oder: gewisse Hoffnung) entgegen, die den weiteren Glaubensgehorsam dazu motiviert, jetzt schon dem zu entsprechen, was Gott bald vollendet – eben indem der Glauben das Verkehrte erkennt und die Geister unterscheidet (vgl. auch 13,12). Gott ist der Gott des allumfassenden Friedens (vgl. schon 15,33), in dem er alle Macht der Sünde und des Bösen überwinden wird. Der erfüllte Frieden seiner Gemeinschaft bedeutet zugleich Frieden der Glaubenden mit sich und untereinander (also Gemeinschaft der Gemeinde) und mit der Schöpfung. Das kann unbeschadet der Frage gelten, wann und wie diese Überwindung geschieht.33 Natürlich konnte Paulus unsere Kenntnis der nachfolgenden Kirchengeschichte mit der Fülle der Perversionen und Reformationen nicht vorwegnehmen. Für ihn stand die letzte Überwindung kurz bevor. Doch die Qualifikation der Gegenwart als Zwischenzeit, die sowohl vom geschehenen Geschenk der Gemeinschaft als auch von ihrer kommenden Vollendung und Ewigkeit bereits bestimmt ist, gilt auch dann, wenn diese Zwischenzeit länger dauert.

Im Grunde ist diese gewisse Hoffnung die Gewissheit der Gemeinschaft Christi selber. Jesus seinerseits war sich im Bewusstsein des Reiches Gottes und seiner Berufung gewiss, dass der Satan gestürzt ist: „Ich sah den Satan vom Himmel fallen wie einen Blitz“ (Lk. 10,18). Auch diese Gewissheit (oder Offenbarung) ist freilich als Antizipation der Überwindung der letzten, umfassenden Getrenntheit zu verstehen, die sein Tod bedeutete – also als Antizipation der Auferstehung. Mindestens der Segensgruß, der die vorläufig das Ende des Briefes ankündigenden Segenswünsche in 15,5.15 und 33 abschließend aufgreift, ist wahrscheinlich, wie üblich, von Paulus selbst geschrieben worde.34 Alles, was nun noch bevorsteht, übergibt Paulus der weiterwirkenden Gnade Christi.

f )  Grüße der Mitarbeiter und eine (nicht von Paulus stammende) Schlussdoxologie: 16,21–27 21 Es grüßt35 euch Timotheus, mein Mitarbeiter, und Lucius und Jason und Sosipater, meine Stammesverwandten.  22  Ich, Tertius, grüße euch, der den Brief im Herrn geschrieben hat. 23 Es grüßt euch Gaius, mein Gastgeber und der der ganzen Gemeinde. Es grüßt euch Erastus, der Stadtkämmerer, und Quartus, der Bruder. 25 Dem aber, der vermag (oder: der die Macht hat) euch zu stärken nach meinem Evangelium und der Botschaft Jesu Christi, nach der Offenbarung des Geheimnisses, das ewige Zeiten verschwiegen war (κατὰ ἀποκάλυψιν μυστηρίου χρόνοις 33  „Paulus knüpft hier an die frühjüdische Erwartung der eschatischen Entmachtung und Vernichtung des Satans […] an, mit der Gott den Beginn seiner Heilszeit einleitet“ – so (mit Belegen) M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 491. 34  So M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 485 mit Verweis u. a. auf 1. Kor. 16,21, Kol. 4,18. 35  Zur Textkritik M. Wolter a. a. O. 2, S. 495 Anm. 1.



f )  Grüße der Mitarbeiter und eine (nicht von Paulus stammende) Schlussdoxologie  315

αἰωνίοις σεσιγημένου), 26  jetzt aber offenbar gemacht und durch prophetische Schriften nach Anordnung des ewigen Gottes zum Gehorsam des Glaubens für alle Völker kundgetan wurde, 27 dem allein weisen Gott – durch Jesus Christus – ihm [sei] die Ehre (oder: Herrlichkeit) in Ewigkeit. Amen (Luther: Demselbigen GOTT / der allein weise ist / sey Ehr / durch Jesum Christ in Ewigkeit / Amen).

Bei den Grüßen der sieben Mitarbeiter handelt es sich um einen Nachtrag (Paulus hatte sie wohl „vergessen“).36 Die Doxologie – eine liturgische Form, Gott die Doxa, die Herrlichkeit oder Ehre zuzusprechen – ist nach weitgehend einhelliger Auffassung der Exegeten nicht der ursprüngliche Schluss des Römerbriefes und höchstwahrscheinlich auch nicht von Paulus verfasst.37 Eine Vermutung ist, dass es um den im 2. Jahrhundert redaktionell eingefügten Schluss einer Version des Römerbriefes handelt, bei der die Kap. 15 und 16 fehlten. Außerdem ist denkbar, dass er zudem wegen seiner liturgischen Funktion als Abschluss der Lesung im Gottesdienst eingefügt wurde.38

Anerkannt und gepriesen wird die Herrlichkeit des Gottes, der durch das von Paulus hier gelehrte Evangelium stärkt – die ewige Herrlichkeit, die Gott selbst durch den im Evangelium verkündigten Jesus Christus, durch seine Gemeinschaft als Bestimmung der Menschheitsgeschichte, verwirklicht. Von besonderer theologischer Bedeutung ist vielleicht nur die knappe Geschichtstheologie, die sich hier (wie in Kol. 1,16–28 und Eph. 3,2–11) im sog. „Revelationsschema“ zeigt.39 Die Gemeinschaft Christi, die jetzt der ganzen Menschheit offenbart wird, damit sie ihrer Bestimmung im Glauben entspricht, ist schon immer das Geheimnis – eben die wahre Bestimmung – der Schöpfung und Geschichte gewesen. Dass es „ewige Zeiten verschwiegen“ war, heißt nur, dass es die ganze Zeit bisher verborgen war – und dass nur Gott es offenbaren und zur bestimmten Zeit seine Wahrheit verwirklichen konnte. Dass der Offenbarung die Kundgabe durch prophetische Schriften entspricht, ist schwer zu verstehen. Wenn nicht die vorwegnehmende Offenbarung durch die prophetische Ankündigung im Sinne von 1,2 gemeint ist, kann sich dies nur auf den entstehenden christlichen „Kanon heiliger Schriften“ beziehen.40

Im selbstmächtigen Vollzug des Sinns der Geschichte erweist sich Gott als allein weise. Das heißt, die Weisheit seiner Bestimmung der Geschichte ist – so auch schon 11,33–36, auch im Zusammenhang einer Verherrlichung Gottes – menschlicher Weisheit zunächst verborgen. Sie ist von menschlicher Weisheit 36 M. Wolter, a. a. O. 2, S. 495; zu den Personen und ihren Bedeutungen oder Funktionen vgl. S. 496–502. 37  Vgl. dazu U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 147 f. 38  So M. Wolter, Der Brief an die Römer 2, S. 505.511. 39  Vgl. dazu M. Wolter, a. a. O. 2, S. 507 f. (auch zu frühjüdischen Parallelen). 40  So U. Wilckens, Der Brief an die Römer 3, S. 150.

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5.  Der Apostel und seine Leser: 15,14–16,27

nicht auszurechnen, sondern muss sich offenbaren. Nach 1. Kor. 1,18–2,8 gilt das insbesondere für das Kreuz Christi als Inbegriff der Weisheit Gottes. Entgegen der Weisheit der Welt erweist Gott seine Macht und Weisheit, indem er mit dem eine Gemeinschaft eingeht, was im menschlichen Verständnis schwach und nichtig ist – mit dem gekreuzigten Christus.

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Personenregister (ohne Jesus, Paulus, Wilckens, Wolter, sowie ohne Herausgebernamen) Abraham 31, 72 f., 85 f., 95, 97–99, 101–107, 112, 119, 123, 190, 196 f., 237, 296 Andronikus 311 Althaus, Paul 5, 267 Aquila 28 Aristoteles 51, 70, 250, 251 Arndt, Johann 4 Augustinus 3, 53, 60, 66, 73, 81, 122, 131, 142, 154, 170, 199, 262, 279, 282 Barth, Karl V, 5, 9, 113, 120, 203, 226, 259, 279, 281, 287, 296 Becker, Jürgen 25–28 Bengel, Johann Albrecht 276, 283 Bizer, Ernst 219 Bonhoeffer, Dietrich 71, 267 Brunner, Emil 5 Bucer, Martin 4 Bugenhagen, Johannes 4 Bultmann, Rudolf 6, 13, 73, 120, 165 Calvin, Johannes 4, 260, 262 Cicero 164 Claudius 28 Claußen, Carsten 253 Dalferth, Ingolf U. 8 David 35, 36, 38 Diogenes Laertius 70 Dunn, James D. G. 13, 15, 16 Eckstein, Hans-Joachim 13 Elert, Werner 267 Elia 223 f. Empedokles 51 Epiktet 172

Erasmus von Rotterdam 81 Esau 196 f., 241 Franke, August Herrmann 4 Gabler, Johann Philipp 5 Gamaliel 25 Gese, Hartmut 14 Härle, Wilfried 115 Hamann, Johann Georg 151 Hausmann, Jutta 206 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 266 Hellbohm, David 110 Isaak 104, 196–198, 237 Ismael 196 f. Jakob 191, 196–198, 237, 241 Jakobus 27 Janowski, Bernd 14, 89 f. Joest, Wilfried 248 Josef 38 Jüngel, Eberhard 120, 123 Junia 311 Käsemann, Ernst 165 Kant, Immanuel 271 Karrer, Martin 37 Kleffmann, Tom 4, 5, 6, 11, 13, 19, 20, 36, 53, 55, 91, 99, 106, 119, 121 f., 124, 136, 145, 151, 180, 224, 248, 266 Klumbies, Paul-Gerhardt VI, 5, 8, 86, 88, 90, 94, 95, 127, 136, 142, 162, 192, 195 Landmesser, Christof 13, 14, 16, 17, 87, 127, 139

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Personenregister

Lichtenberger, Hermann 15 Livius 251 Lohse, Eduard 185 Luther, Martin 3, 4, 7, 8, 9, 19, 23, 41, 44, 45, 47, 48, 53, 54, 57, 63, 67, 68, 73, 81, 99, 106, 121, 141, 142, 145, 154, 160, 163 f., 171, 202 f., 210, 215, 219, 239, 262, 269, 271–274, 275, 277, 286, 287, 294 f. Luther, Susanne 253 Melanchton, Philipp 4, 9, 99 Merklein, Helmut 14 Miggelbrink, Ralf 268 Mose 36, 123, 125 Nero 27 Nietzsche, Friedrich 258, 260 f. Origines 3, 9, 73, 154, 262 Ovid 159 Pannenberg, Wolfhart 56, 131 Parmenides 51 Pelagius 16, 81 Petrus 27 Philon (Philo) 50, 66, 70, 118, 164, 172, 178, 242, 247, 277 Phöbe 28, 310 f. Platon 50, 51, 164, 172, 184, 250, 251 Plotin 164 Plutarch 250

Prisca 28 Rebecca 197 Rehfeld, Emanuel L. 19 Ringleben, Joachim VI, 8 Sanders, Ed P. 13, 14, 16 Sara 107 Schleiermacher, Friedrich 8 Schmidt, Martin 4 Schnelle, Udo 16, 23, 25, 27, 28, 29, 89, 164, 250 Schröter, Jens 13, 15, 16, 154, 156, 159, 165 Schweitzer, Albert 13, 16, 258 Seneca 159, 164, 242, 247, 262 Solon, Dennis T. 90 Spener, Philip J. 4 Stendahl, Krister 13, 15, 262 Stuhlmacher, Peter 8, 14 Tertius 28 Thiessen, Jacob 13 Thomas von Aquin 9, 262 Tillich, Paul 55 Wallmann, Johannes 4 Welker, Michael 225 Wenz, Gunter 154 Wesley, John 4 Wrede, William 13, 16 Wyrwa, Dietmar 3

Sachregister Die Belege stellen eine Auswahl dar. Das gilt im besonderen Maß für zentrale Begriffe wie z. B. Christus, Gemeinschaft, Glaube, Gott, Leben, Mensch. Abendmahl 150, 251 Adam (und Christus), adamitisch 118–126, 143, 154, 179 Allgegenwart 205 Allmacht 205 Amt, Ämter (Aufgaben) 250–253, 268, 272 f., 309 – Amt vs. Privatperson 274 Angst 61–63, 121, 127 f., 180 Anrufung 216 f. Apokalyptik 177 Apostel, Apostolat 35 f., 218, 223, 230, 249, 299, 304 f., 307, 311 Askese 113, 287 Auferstehung (Auferweckung), Auferstandener, Auferstehungsleben 22, 38, 90, 108, 131–134, 175, 214, 314 Aufklärung 273 Autonomie 159 Begabung 250–252 Begierde, Begehren (s. a. Für-sich-Begehren) 22 f., 53–55, 122, 125, 135, 139, 144, 151, 155–157, 161 f., 282 f. Bekehrung 26 Bekenntnis, Bekennen 187, 213, 215 Berufung 26, 35 f., 183–185, 195–199, 202, 204–206, 212, 218, 252, 304 Beschneidung 27, 68 f., 71–75, 97 f., 101–103 – des Herzens 69, 72–77, 152 Besonnenheit 249 f. Bewährung 113, 138 f., 145 Blut 90 das Böse 257, 262, 269 f. Buchstaben 147 f., 152

Bund 14, 36 f., 42–44, 60, 68 f., 71, 73–75, 77 f., 81, 92, 95, 98, 101 f., 189, 191, 195, 199, 206, 208, 210, 216, 218, 221, 223 f., 229, 231, 236–238 Charismen 40, 251–253 Christus (s. a. Jesus/Christus, Kyrios, Leib Christi, Mitsterben) 7, 17 f., 37, 85, 88–91, 102, 106, 108, 111, 113, 115–119, 133 f., 136 f. 146, 169, 171 f., 186 f., 191, 204, 207, 210, 212–214, 216, 236, 251, 283, 287, 297, 299 f., 305 – anziehen 283 – Bild Gottes 126, 184 f. – Christus ist Herr 285, 287 f. – Gehorsam 127 f. – Im-Herrn-Sein 311 – Jesus ist Herr 108, 216 – Leben 133 – Leib Christi 134, 149 f., 251, 258 – Sohn 37 f., 47, 108, 170, 174, 184, 186 – Teilhabe 13, 16 f., 19 – Tod 79, 88, 136 – Wiederkunft 49, 237 f. dämonisch 187 Dank, Dankbarkeit 52, 247 Dekalog (s. a. Gesetz) 56, 271 Denken 52, 143, 164, 170, 225, 248 f., 259 Dienst (Diakonie) 252 f., 272, 309 Ehe 147 f. Einmütigkeit 258 f., 297 Einsamkeit 168 Empathie 179 Entsündigung s. Sühne

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Sachregister

Episkopé, Episkopos 254, 304 Erbarmen s. Gott Erben Christi 175 Erbsünde (Grundsünde, Ursünde, s. a. Sünde) 60, 69, 79, 118, 120, 122 f., 131, 160, 170, 210, 227, 248, 259, 296 Erde 103 Erhaltung 273 Erkenntnis Gottes 174, 259 Erlösung, Erlösungsbedürftigkeit 85–88, 94, 102, 120 f., 125 f., 153, 165, 167, 176, 178 f., 181 f., 186, 209, 280 f. Ermahnung s. Paränese Erwählung (s. a. Israel) 184, 191, 195, 197, 203, 206, 208, 223, 227, 237 f., 241 Eschatisch, Eschatologie, eschatologisch (s. a. Ewigkeit, ewiges Leben) 62, 236–238 Evangelium 4, 7, 36 f., 40, 42 f., 45, 47, 64, 83, 85, 87, 143, 160 f., 174, 191 f., 194 f., 206, 213, 215, 219–221, 224, 236, 305, 313 Evolution 51 Ewigkeit, s. a. ewiges Leben 174, 182, 205, 279, 281 f., 314 – kommende 280–282 Exegese (und Systematik) 5–8 Exil 37 Familie 312 Feiertag 287 Feindesliebe 260 f. Feindschaft (gegen Gott) 171, 237 Fleisch 12, 15, 21–23, 83, 134 f., 144, 161 f., 165–168, 170 f., 196 Für-sich-Begehren 16, 18, 23, 55 f., 58, 67, 70, 151 Für-sich-selbst-Leben, Fürsichleben 21, 23, 65, 107, 121, 132, 136, 144, 150 f., 154–159, 163, 169 f., 173, 180, 199, 279 f., 288 Fürsichsein 24, 81,100, 108, 113, 115, 132, 136, 138 f., 143, 154, 173, 180 f., 199, 213–215, 246 f., 276, 278–280, 293, 299 Furcht (Gottes) 82, 269 f. Frauen 311 Freiheit 80 f., 136, 141–144, 147–149, 151, 155 f., 168, 174, 201, 284–286, 290, 292–295

– Dialektik der Freiheit 145 Fremdheit 174 Freude 292, 299 Friede 109–111, 114, 168, 171, 260, 292, 301, 314 Fürbitte 309 Garten Eden 121 Gastfreundschaft 257 Gebet 174, 181 f., 208, 218, 256 f. Gebot 80, 124, 156, 158 f., 209, 277, 279, 284 f., 290, 292 f. – Sinn 278 Gehorsam, gehorchen 127 f., 141–143, 219, 264–266, 269 Geist 38, 41, 63, 69, 74 f., 81, 84, 93, 109, 114 f., 151, 161 f., 166–177, 180–182, 196, 205, 215, 219, 225–227, 241, 248, 252, 256 f., 267, 292, 297, 305 f. – Betäubungsgeist 225 f. – Geister unterscheiden 314 – Nach-dem-Geist-Sein 171 – Ungeist 223 Geistesgaben 188 Gemeinde 134, 249, 251–255, 257 f., 263, 272, 276 f., 283–286, 290, 292 f., 298, 308–312 – Leitung 253, 311 Gemeinschaft, Gemeinschaft Gottes 12, 15, 41, 49, 73, 88, 99–101, 105, 107, 112, 126, 150, 161, 167–170, 172, 177, 180–186, 198, 203, 206, 209, 211, 214 f., 225, 227, 229, 239, 242, 246, 251 f., 276, 280, 294, 296, 312 – Christi 36, 81, 109, 114–116, 129, 131 f., 134, 137, 139, 143, 147, 175, 204, 247, 250, 255 f., 259, 278, 283–288, 290–293, 296 f., 301, 305, 315 Gerechtigkeit 43, 56, 58 f., 72, 74, 82 f., 85–87, 93, 99–102, 105, 138, 140–143, 173, 189, 202, 207–216, 221, 223 f., 226, 268, 285, 292 – coram mundo/coram Deo 99 – Gerechtigkeit des Ausgleichs 257, 259 – Gehorsam zur Gerechtigkeit 141–143 – Gottes 4, 12, 15, 31, 42–45, 47–49, 80 f., 86 f., 91 – Göttlich/menschlich 200



Sachregister

– aus Glauben 14, 63, 86 f., 94, 97, 100 f., 103 f., 107 f., 196, 232, 234 – schaffende 202 – staatlich 274 Gericht 37, 43, 47–49, 58–65, 67, 80 f., 124 f., 174, 183, 205, 234, 260–262, 264, 269 f., 272, 274, 280, 289 – Endgericht, jüngster Tag 58, 62, 64, 117, 148, 186, 206 f., 216, 262, 280 f., 288 Geschichte 6 f., 36, 118, 157, 190, 204, 230, 238 f., 242, 266–268, 281, 315 – Menschheitsgeschichte 296 f. – Unheilsgeschichte 125 Gesetz (Gottes) 7, 11–16, 18, 31, 37, 43, 52, 56, 58 f., 62, 65 f., 69–71, 80, 82–84, 88, 92, 94, 105, 119, 123–125, 127, 136, 140 f., 147–161, 164, 166, 168 f., 191 f., 208 f., 211, 213–215, 219, 238, 267 f., 270 f., 276–279 – Buchstaben 147 f., 152 – geistlich, Gesetz des Geistes 161, 165, 169 – des Glaubens 93 f. – Logik 213 – tertius usus legis 279 – usus politicus 275 – Vernunft 164 f. Gesetz der Sünde 12, 18, 22, 64, 82, 116, 152–155, 161, 163, 167–170, 180 Gespräch 212 f., 218, 220, 227 Gewissen 52, 56, 65–67, 269 f., 285, 287, 290 f., 293 f. Gewissheit 175, 183, 187 Glaube (Sichverlassen) 12, 17, 20, 24, 41 f., 63, 72 f., 85–88, 90, 97–99, 101–107, 111–115, 130, 132, 134, 136 f., 140, 143 f., 169, 172 f., 175, 180, 182 f., 187, 197 f., 203, 208 f., 212–215, 217–219, 232 f., 246 f., 250, 252, 276, 280–283, 290–295, 314 – als Verstehen 137 f. – Gehorsam des Glaubens 39 – Gesetz des Glaubens 93 – Gläubig-Sein 281 – Glaubensdenken 287, 294 – Glaubenspraxis 257 – Lehre 143

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– Stärke und Schwäche 284, 294 – Wissen des Glaubens 141 Gleichheit 271, 273 f. Glück 100 f. Gnade 31, 63, 81, 85, 87, 90 f., 97, 100, 102, 104, 111, 126, 128, 130, 141–143, 189, 200, 204 f., 224 f., 230–234 – billige 71 Gnadengaben (s. a. Charismen) 252 Götter, Götzen 52 f., 55, 58, 70 Gott (s. a. Herrlichkeit, Liebe Gottes, Trinität, Wort Gottes) 45, 51, 53, 70, 94, 108, 161, 171, 181–185, 198–201, 203–205, 210 f., 214, 216, 221–223, 226 f., 240–242, 247, 267, 269, 273, 281, 296 f., 299 f. – Barmherzigkeit 239 – Bewusstsein des Göttlichen 67, 94 – christologische Selbstbestimmung 95 – Dynamis, Kraft 38, 41 f., 51 – der einzige 94 f., 240 – Erbarmen 242, 299 f. – Ewigkeit 134, 175 – Freiheit 194, 198 – des Friedens 260 – Gegenwart 89–91, 111 f., 115, 131, 174, 179 – Gemeinschaftwillen 80, 86, 184, 203, 230 – Gleichzeitigkeit 232 – Gottheit 107, 198–201, 241 – Leben 150, 300 – Heiligkeit 70 – Herr der Geschichte 227, 266 f. – Königsherrschaft 218, 299 f. – Langmut 62 – Macht 185, 204 – Pädagogik 230 – göttlicher Plan 227, 229 – Reichtum 241 f. – Unsichtbarkeiten 51 – Tiefe 240, 241 f. – Treue 78 f., 235, 238 – Vater 174 – Wahrheit 50, 299 f. – Weisheit 241, 315 f. – Wesen 106 – Widerspruch 151 f.

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Sachregister

Gottesdienst 191, 223, 245–247, 251, 253, 272, 297 f., 305 Gotteserkenntnis, Gottesbewusstsein 50–52, 58, 69 f., 230, 241 Gotteskindschaft, Kinder Gottes 37, 112, 168, 174–176, 178 f., 192, 194–197, 206, 209 Gottesverhältnis 157, 198, 211, 223 Gottlosigkeit, Gottlose 31, 48, 50, 52, 55, 58 f., 65, 67, 99, 110, 115 f., 121 f., 124, 185, 203 Grundsünde s. Erbsünde das Gute 255, 259 f., 264, 269 f. Habgier 56 Heiden (Völker) 56, 58 f., 62, 65, 67, 69, 73 f., 94, 102, 104 f., 157 f., 194, 197, 201, 204 f., 208, 221, 229–231, 233 f., 236–238, 299 f., 305 f. , 309 Heiligkeit, Heilige 39, 257, 291 Heiligung, heiligen 16, 145, 150, 232 f., 305 Heilserfahrung 104 Heilsgeschichte, Heilsziel 36, 38, 42, 76, 86, 97 f., 102–109, 118 f., 189, 199, 201, 204, 206, 222, 228–230, 233–235, 238–240, 266 – Geheimnis 235 Heilsplan 43, 183 f., 200 f., 205, 222, 235 Heilssinn 228, 230 Heimat 103 Herrlichkeit, verherrlichen 87, 112 f., 132, 177, 185, 191, 297 f., 300 Herz 53, 65, 69, 75, 143, 215 Hilasterion 89–91, 131 Hingabe 108, 114, 127 f., 131, 134, 175, 177, 246–249, 255, 259, 288, 296 Hochmut 180, 233 f. Hören 219 f. Hoffnung 106, 110, 112–114, 116, 175, 178–180, 256, 280, 296 f., 299–301, 314 Ich 132 f., 154–163 – absolut 129 f., 139 – Entzweiung 158 – als Verzweiflung 162 Identität, Identischsein 21, 111–113, 117, 123, 136, 139, 141, 143, 154, 159, 162 f., 165, 169, 172 f., 203, 227, 247, 283

– Gesetz der Identität 123 Imago Dei 202 Interpretation (s. a. Verstehen) 6, 8 Israel 92, 95, 98, 100 f., 103 f., 189–198, 201 f., 204–211, 213, 218–224, 226, 228–238, 300 – Erwählung Israels 78, 191 (s. a. Erwählung) – Geschichte 77, 192 Jesuswort 257 f., 272 f., 277, 291 Juden 42, 62, 65, 67–71, 73–80, 97, 101 f., 105, 234 f., 238, 299 f., 309 Judenchristen 101 f., 224, 309 Jungfrauengeburt 38 Kairos 85, 95, 282 Kirche (s. a. Gemeinde, Amt, Heiligkeit) 6, 160, 196, 224, 251, 259, 286 f., 309, 312 f. Kirchengeschiche 70, 313 f. Klugheit 259 Konkupiszenz 54, 59, 125, 140, 160 Knecht, Knecht Christi 35, 141 Kreationismus 51 Kreatur, neue 19, 132 f. Kreuz, Tod Jesu 41–43, 48, 89–91, 95, 108, 113, 127, 137, 296, 299, 316 Kultkritik 247 Kyrios 37 f., 216 Leben 56, 106, 119, 119, 121, 126 f., 129–131, 133, 138, 140, 142 f., 145–147, 151, 156–159, 162, 167–171, 173, 177, 181, 186 f., 203 f., 215, 242, 245–247, 251, 256, 259, 274, 281, 292, 294, 312 – aus den Toten 231 – Endlichkeit 177 – dem Herrn leben 288, 292 – ewiges 63, 121, 128, 133, 146, 150, 173, 181, 204 – in, mit Christus 168 f., 187 – im Fleisch leben 21 f., 147, 150 – im/unter dem Gesetz leben 88 – Lebensprinzip 150, 158, 162 f., 202, 227 – Lebenssorge 211 – leiblich 145, 246 – neues, Neuheit 64, 132 f., 135



Sachregister

– – – – –

Rechtfertigung des Lebens 120 Schuldigkeit des Lebens 276 Selbstwiderspruch des Lebens 125 Verkehrung, verkehrt 53, 70 wahres, Wahrheit 42, 62 f., 69 f., 113, 125, 128, 141, 158, 186, 213, 230, 246, 260, 271, 279, 281 f., 286 f., 289 Lebensgeschichte 157 Lehre, Lehrer 40, 134, 143 f., 253, 304, 313 Leib, Leiblichkeit (s. a. Christus, Leib Christi) 54 f., 70, 135, 139 f., 145, 170, 172 f., 181, 246 f., 250, 280–282 – Leib der Sünde 22, 134–136, 165 – Leib des Todes 165 Leiden 112–114, 175, 177–180, 186 f., 258, 296 Leidenschaft 48, 54 f., 151 Leistung 99 f., 117 Liebe 55, 72, 83, 94, 109, 113, 115, 145, 169, 177, 209, 247, 251, 253, 255–257, 259, 262, 264, 273 f., 276–279, 282 f., 285 f., 290, 293, 295, 309 – Gottes 110 f., 115 f., 127 f., 140, 142, 145, 184 f., 187, 198, 206, 237, 242, 255, 277–279, 296, 299 Lüge, Lügner, Verleugnung 54 f., 79, 82, 124 Lust 151, 155 Mensch 66, 129, 139, 180, 202, 274 – alter Mensch 72 – Bild Gottes 126 – innerer Mensch 163 f. – Menschheit 118–122, 229 f., 237, 239, 296, 299 – Sklave 141 – wahrer Mensch 91 Menschenwürde 273 f. Menschwerdung (Gottes) 203 Mitleid, Mitfreude 258 Mitsterben oder Mitgekreuzigtsein (mit Christus) 16 f., 21 f., 24, 48 f., 71, 88, 90, 103, 106, 129–132, 134–136, 147–149, 151, 158, 163, 165, 170, 246 f., 282, 288, 311 Monogenismus 120 Monotheismus 50, 52 Mythos, mythisch 118, 120 f., 159, 180

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Nachfolge 296 f. Nächstenliebe 156, 174, 276–278, 282 Natur 65 f. Naturrecht 273 Neuschöpfung 132 f. New perspective/Neue Perspektive 13 ff. Nichts, das Nichtige, Nichtigkeit 52, 98, 100, 106, 108, 124, 127, 163, 178–180, 204 f. Observanz 286–288, 295 Offenbarung, Offenbarsein, sich offenbaren 38 f., 42 f., 49–51, 62, 85 f., 105 f., 108, 195, 199 f., 204 f., 210, 219, 235 f., 300, 315 Offenbarungsgeschichte 194, 206 Opfer, Selbstopfer 14, 90, 108, 116, 247 Paränese (Mahnung) 22–24, 115, 143, 281, 304 Person 123 Pfingsten 95 Pflicht (Schuldigkeit) 272, 275 f. Philosophie, philosophisch 50 f., 56, 66, 70, 164 f., 178, 247, 251, 262, 271, 278, 282 Polytheismus 50–53 Prädestination 185, 198 f., 203–206 Präexistenz 38 Predigt s. Verkündigung Presbyter 253 Priester 305 Prophetie, Propheten 36, 206, 219, 223 f., 235 f., 252 Qumran 79 Rache 260 Rechtfertigung, Rechtfertigungslehre 4, 12–19, 26, 31 f., 43, 63, 64, 71–73, 81, 84–88, 92, 94, 99–101, 104, 110 f., 123–125, 128, 131, 136, 141, 160, 183, 185 f., 197 f., 208, 231, 247, 249, 252, 285, 291, 293 f., 299 – Rechtfertigung des Lebens 120, 127 – römisch-katholische, lutherische Rechtfertigungslehre 160 – semipelagianisch 210

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Sachregister

Rechtsordnung, Recht 265–268, 270 f., 274, 276 f. Rechtsstaat 265 Rechtsverzicht 260, 272, 274 Reformation, Reformationszeit, reformatorisch 4, 50, 123, 210, 313 f. Regel, goldene 66 Reich Gottes (Gottesherrschaft) 59, 95, 258, 291 f., 296 Reinheit 291 Religionen (s. a. Theologie der Religionen) 235 Religionsgeschichte 52 Rest, heiliger 79, 194, 204, 207 f., 224 f. Rühmen, Sich-Rühmen 92 f., 110–112, 117, 233 f., 305 Säuglingstaufe 196 Satan 313 f. Scham, sich schämen 281 Schlange 159, 178 Schöpfung (Äußerung Gottes), Schöpfungssinn 50, 55, 60, 95, 106, 111, 178–180, 184, 202, 204, 242, 247, 273, 291, 300, 315 – Neuschöpfung 178, 198 – Organismus 179 – Rede 220 Schöpfungsordnung 267 Schrift, Schriften (Bibel) 77, 103, 107 f., 296 f., 299, 315 Schuld (s. a. Pflicht) 82 Schwachheit 181–183 Segnen, Segen 257 f., 261 f., 297, 299 f., 307, 309 f. Seelsorger 253 Selbstbestimmung 83, 145, 155 f., 202, 209 f. Selbstbewusstsein 66, 112 f., 117 Selbstentfremdung 55 Selbstentzweiung 155, 160–162, 164–166 Selbsterhaltung 136, 139 Selbsterkenntnis 12, 18, 57, 59, 62 f., 70 f., 82 f., 99, 115, 128, 130 f., 152, 154, 158–166, 198, 205, 207, 209, 261 f., 274, 281, 294 Selbstgerechtigkeit 58–62, 68–71, 92, 288 Selbstliebe 278

Selbstoffenbarung s. Offenbarung Selbstsicherheit 82 Selbstsorge 135 f., 139 f., 145, 150, 160, 169 f., 172, 227, 256, 283 Selbstverhältnis 11 f., 16 f., 20, 23, 169, 172, 175, 278 Selbstverständnis der Glaubenden 131, 134, 137–139, 141, 212 Seligkeit 114 Sexualität 54 f. Sicheinsetzen 113, 115 f., 246, 256, 276, 278 Sinn 55 f., 111, 113, 115, 139, 174, 179, 181, 233, 239–242, 248, 250, 278, 283, 287, 291 f., 296 f., 315 Sinndeutung 8 Speisegebote 291 Sprache 7 Staat 251, 259, 263–277 – demokratischer Rechtsstaat 275 Stellvertretung 178, 191, 232 Sterben 288 Stoa 50 f., 66, 164 Strafe 55 f., 179, 269 Subjekt, Subjektivität (s. a. Fürsichsein, Identität) 11 f., 15–20, 79, 82–84, 122 f., 129, 133, 162, 209, 251 Sucht, Süchte 54 f., 59, 81, 122, 125, 145, 150 f., 157, 281 f. Sühne, Sühnetod 14, 37, 88–92, 191 Sühnopfer (s. a. Opfer) 79, 89 Sünde, Sünder (das verkehrte Leben; s. a. Erbsünde, Gesetz der Sünde) 11, 15, 36, 43–45, 47, 49, 61 f., 65, 69–72, 76–78, 80 f., 83, 99 f., 108, 118–125, 129–131, 135, 139, 141–143, 148–158, 162, 169 f., 172, 179 f., 185, 198, 239, 246, 248 f., 260, 266, 269, 274, 288, 291 – adamitisch 105 – Allgemeinheit 79, 81, 94, 104, 118 f., 122 – Betrug, Selbstbetrug 159, 162 – Gemeinschaftlichkeit 119 – Macht der Sünde 81–83, 90, 98, 103 f., 116, 121–123, 125, 130, 141, 145, 155, 160 f., 192, 197, 199, 209, 213, 224, 226, 268, 313 – Nach-dem-Fleisch-Sein 171–174



Sachregister

– Notwendigkeit 81 – Todeseinsamkeit 91 – Totalität 79, 103 Sündenfall 118, 120 f., 124, 127, 142 f., 158 f., 178, 239 Synagoge 28 Taufe 24, 73, 103, 113, 115, 128–132, 134–138, 141, 154, 171 f., 196, 210, 280 – Johannestaufe 131 – Taufunterricht und Taufcredo 144 Tempel 111 Theodizee 199–201, 266 Theologie 289 – natürliche 50 – reformatorische 5, 123 – der Religionen 119, 220 – Streit 285 f. Tier 178–180 Tod, Todesbewusstsein, Todeswahrheit (s. a. Kreuz) 12, 14–19, 21 f., 24, 49, 56, 60 f., 64, 79, 82 f., 85–88, 90 f., 98, 106–108, 110, 116, 118–122, 124–132, 134–137, 139, 143, 146–149, 151, 155, 158 f., 162 f., 165, 168, 171–173, 178–180, 184, 187 Tora 13, 27, 65 f., 69, 72, 92, 104, 148, 156 f., 164, 276 Trinität, trinitarisch 91, 170, 186 Umkehr 60–64, 69, 71, 73 f. Unglaube 226 f., 233, 239 Unreinheit, unrein 54, 291 Unsterblichkeit 118, 120 Vater unser 174 Verantwortlichkeit 51 f., 58, 65–67, 201 f. Vergänglichkeit 178, 181 Vergebung 101, 116, 261 Vergeltung 259–262, 268 Verheißung 101–107, 179, 191, 195–197, 201, 233, 238, 296, 298, 300 Verkündigung (Predigt) 36, 40, 49, 58, 62,

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143 f., 187, 198, 205, 213–215, 218–220, 224, 252, 259, 267, 282, 305 – Verkündigungsgeschichte Christi 230 Vernunft, vernünftig 50 f., 66, 155, 164–166, 205, 241, 247 f., 269, 273, 282 Versöhnung, Versöhnungsfest (Jom Kippur) 89 f., 110, 116, 192, 199, 206 f., 229, 231 – Versöhnung der Welt 231, 300 Verstehen 6 f., 220 f., 225, 230 Verstockung (Verhärtung) 60, 199–202, 205, 208, 221, 225–227, 229 f., 235, 237 f., 241 Versuchung 136–145, 157, 159 f., 168, 173, 280 Verzweiflung 162, 165 Volk 190, 223, 237 Völker s. Heiden Vollendung 181, 280 f., 297, 300 f. Vollmacht 38 Vorherwissen 184 Vorverständnis 6, 9 Wahrheit (Gottes) 299 Weisheit 70, 241, 315 Welt, Weltzeit 248 Wiederherstellung aller 238 Wille (freier Wille) 202 Wirkungsgeschichte 6 f., 9 Wollen 161–164, 170, 202 Wort, Worte Gottes 77 f., 80, 101, 108, 144, 194 f., 201, 206, 214–17, 219–221, 238 – verbum externum 215, 219 Zeit 107, 152, 280 f., 284 – Zwischenzeit 314 Zeitenwende 205f. Zerstreuung 282 Zion 210, 236 Zorn (Gottes) 48f., 61f., 105, 117, 201, 203–205, 260f. Zukunft, Zukunft Gottes 102, 107, 173 Zweifel 136f., 293–295